Historische Zeit im Narrativ: Maksim Gor`kijs »Das Leben des Klim Samgin« und Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« 9783839450062

"Historical time" as an analytical term for literary historical reflection - Gor`kij and Musil analysed on the

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Historische Zeit im Narrativ: Maksim Gor`kijs »Das Leben des Klim Samgin« und Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«
 9783839450062

Table of contents :
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Inhalt
Danksagung
Siglenverzeichnis und allgemeine Hinweise
1. Einleitung
2. Theorie
2.1 Philosophische Grundlegung: Die Geschichte als Zone des Bruchs und die vermittelnde Funktion der historischen Zeit
2.2 Narratologische Grundlegung: Die historische Zeit in der Fabelkomposition einer Erzählung
2.2.1 Fabelkomposition und chronotopische Analyse
2.2.2 Die historische Zeit als Sonderfall der erzählerischen Zeitgestaltung
2.2.2.1 Denkinstrumente der historischen Zeit
2.2.2.2 Die innovative Historiografie der Annales-Schule und dieMentalitätsgeschichte als Sonderfälle
2.2.2.3 Historische Zeit und das Romangenre
2.3 Zwischenfazit
3. Reflexion
3.1 Die Orientierung am »Geistig-Typischen« und die Ablösung der politischen Geschichte in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«
3.1.1 Entstehungsgeschichte des Romans und das Selbstverständnis des Autors
3.1.2 Verzicht auf Muster der Geschichtserzählung = Verzicht auf Erzählung?
3.1.3 Geschichtskritik in der Nachfolge Nietzsches
3.1.4 Beeinflussung durch den Historismus und Tendenz zur Abstraktion
3.1.5 Geistige Realität als Gegenstand der Romanerzählung
3.1.6 Repräsentation der Kollektivität und das Geschichtsbewusstsein
3.2 Epischer Auftrag, groteske Realität und Zweifel am Wortin Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«
3.2.1 Die Reflexion des Historischen in der Entstehungsgeschichte des Romansund in der Rezeption
3.2.2 Geschichtserzähler im Roman
3.2.2.1 Altrussische Epengesänge und die groteske Wirklichkeit
3.2.2.2 Die antiquarische Idylle der Vergangenheit
3.2.3 »Die Anekdote, ein Ziegel der russischen Geschichte und der Aphorismus, in dem unsere Weisheit konzentriert ist«
3.2.3.1 Die Anekdote
3.2.3.2 Der Aphorismus
3.2.4 »Geh durch den Staub«
3.3 Zwischenfazit
4. Narration
4.1 Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«: »… im Abstraktenereignet sich heute das Wesentlichere«
4.1.1 Zeitdiagnose als Romaneinstieg
4.1.1.1 Das erste Kapitel: Orientierungslosigkeit im Horizontder kollektiven Zeit
4.1.1.2 Die Qualitäten der Zeit und Ulrichs Opposition
4.1.1.3 Generationenerzählung und private Verhältnisse
4.1.2 Ulrich und die Anfänge der Parallelaktion:Gedankenproduktion als Movens des Sujets
4.1.2.1 Von der Hofburg zum Salon:Die kollektive Zeit als Zeit der Ideenpraxis
4.1.2.2 Die Ereignishaftigkeit des Gedanken
4.1.2.3 Der denkende Protagonist im Horizont derabstrakten historischen Zeit
4.1.3 Das doppelte Sujet
4.1.3.1 Das Sujet der Parallelaktion:»Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen«
4.1.3.2 Das Sujet des Protagonisten:»Ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird«
4.1.4 Stilllegung der historischen Zeit und alternatives Handlungskonzeptfür die Romanfortsetzung
4.1.4.1 »Die Parallelaktion erregt Aufruhr« – zwischen Massenszene und Einzelerkenntnis
4.1.4.2 Drei Verbrechen – oder doch das vierte?
4.1.4.3 Traum und Transformation der Handlungsstruktur
4.1.5 Zwischenfazit: Historische Zeit im Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«
4.2 Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«: »Sein ganzes Leben lang hatte diese verdammte phantastische Wirklichkeit ihn gehindert, sich selbst zu finden…«
4.2.1 Kultur als Lebenswirklichkeit – die abstrakte historische Zeitin den ersten Kapiteln des Romans
4.2.1.1 Die Namensgebung und das Essay
4.2.1.2 Die Gebote der Väter: Selbstaufopferung im Dienste des Volkes
4.2.1.3 Das Erfinden des Selbst
4.2.1.4 Samgins Jugendfreunde: Kulturbegriff und Liebessemantik
4.2.2 Marxismus und Décadence – die Entstehung der russischen Revolution als Sujet der geistigen Suche
4.2.2.1 Der Raum der Geschichte
4.2.2.2 Kultur in der Krise: Marxismus und Décadance
4.2.2.3 Die Notwendigkeit der Revolution
4.2.3 Das doppelte Sujet
4.2.3.1 Russische Revolution:Der Intellekt und die Motivation zum Handeln
4.2.3.2 Leben in Erwartung der Revolution
4.2.4 »Er wird für eine kurze Zeit befreit« – der Protagonist im Geschehender ersten russischen Revolution
4.2.4.1 Masse und Führer
4.2.4.2 »Ich bin vielleicht der nüchternste Mensch in Russland«
4.2.4.3 Der Verstand zwischen Moral und Schönheit
4.2.5 Zwischenfazit: Historische Zeit im Roman »Klim Samgin«
5. Fazit und Forschungsausblick
6. Literaturverzeichnis
6.1 Primärquellen
6.2 Sekundärquellen

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Elena Hamidy Historische Zeit im Narrativ

Lettre

Meinen Eltern

Elena Hamidy, geb. Petrova 1981, forscht zu slavischen Gegenwartsliteraturen aus literatursoziologischer Perspektive und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie hat Germanistik an der Universität Samara und Slavistik und Kulturwissenschaft im Studiengang »Osteuropastudien« an der Universität Regensburg studiert. Während ihrer Promotion an der Universität Gießen war sie Mitglied des »International Graduate Centre for the Study of Culture«.

Elena Hamidy

Historische Zeit im Narrativ Maksim Gor’kijs »Das Leben des Klim Samgin« und Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«

Dissertationsschrift zur Erlangung des Grades der Doktorin der Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Fachbereich 05 »Sprache, Literatur, Kultur« (2017).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb. de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Nicholas Roerich, »Verdammte Stadt«, Photo courtesy of MacDougall Auctions (Ausschnitt) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5006-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5006-2 https://doi.org/10.14361/9783839450062 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung ................................................................................... 9 Siglenverzeichnis und allgemeine Hinweise ................................................... 11 1.

Einleitung................................................................................ 13

Theorie .................................................................................. 19 Philosophische Grundlegung: Die Geschichte als Zone des Bruchs und die vermittelnde Funktion der historischen Zeit .................................... 25 2.2 Narratologische Grundlegung: Die historische Zeit in der Fabelkomposition einer Erzählung ........................................................................... 34 2.2.1 Fabelkomposition und chronotopische Analyse................................................. 35 2.2.2 Die historische Zeit als Sonderfall der erzählerischen Zeitgestaltung .................... 46 2.2.2.1 Denkinstrumente der historischen Zeit ................................................. 47 2.2.2.2 Die innovative Historiografie der Annales-Schule und die Mentalitätsgeschichte als Sonderfälle.................................................. 50 2.2.2.3 Historische Zeit und das Romangenre.................................................. 53 2.3 Zwischenfazit....................................................................................................... 70

2. 2.1

Reflexion ............................................................................... 73 Die Orientierung am »Geistig-Typischen« und die Ablösung der politischen Geschichte in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« ........................................................ 74 3.1.1 Entstehungsgeschichte des Romans und das Selbstverständnis des Autors............. 75 3.1.2 Verzicht auf Muster der Geschichtserzählung = Verzicht auf Erzählung? ................. 79 3.1.3 Geschichtskritik in der Nachfolge Nietzsches ................................................... 84 3.1.4 Beeinflussung durch den Historismus und Tendenz zur Abstraktion ...................... 86 3.1.5 Geistige Realität als Gegenstand der Romanerzählung........................................ 89 3.1.6 Repräsentation der Kollektivität und das Geschichtsbewusstsein ......................... 93 3.2 Epischer Auftrag, groteske Realität und Zweifel am Wort in Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin« ........................................................................... 98 3. 3.1

3.2.1 Die Reflexion des Historischen in der Entstehungsgeschichte des Romans und in der Rezeption ................................................................................... 99 3.2.2 Geschichtserzähler im Roman ....................................................................... 110 3.2.2.1 Altrussische Epengesänge und die groteske Wirklichkeit .......................... 111 3.2.2.2 Die antiquarische Idylle der Vergangenheit ........................................... 118 3.2.3 »Die Anekdote, ein Ziegel der russischen Geschichte und der Aphorismus, in dem unsere Weisheit konzentriert ist« ..................................................................124 3.2.3.1 Die Anekdote ................................................................................. 125 3.2.3.2 Der Aphorismus ............................................................................. 130 3.2.4 »Geh durch den Staub« .............................................................................. 134 3.3 Zwischenfazit......................................................................................................142 Narration ...............................................................................145 Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«: »… im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere« ................................................................... 147 4.1.1 Zeitdiagnose als Romaneinstieg.....................................................................149 4.1.1.1 Das erste Kapitel: Orientierungslosigkeit im Horizont der kollektiven Zeit ......................................................................... 150 4.1.1.2 Die Qualitäten der Zeit und Ulrichs Opposition ...................................... 154 4.1.1.3 Generationenerzählung und private Verhältnisse.................................... 167 4.1.2 Ulrich und die Anfänge der Parallelaktion: Gedankenproduktion als Movens des Sujets .....................................................173 4.1.2.1 Von der Hofburg zum Salon: Die kollektive Zeit als Zeit der Ideenpraxis ............................................ 174 4.1.2.2 Die Ereignishaftigkeit des Gedanken ................................................... 181 4.1.2.3 Der denkende Protagonist im Horizont der abstrakten historischen Zeit ............................................................. 189 4.1.3 Das doppelte Sujet ..................................................................................... 196 4.1.3.1 Das Sujet der Parallelaktion: »Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen« ............................................ 197 4.1.3.2 Das Sujet des Protagonisten: »Ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird« ............................................ 220 4.1.4 Stilllegung der historischen Zeit und alternatives Handlungskonzept für die Romanfortsetzung............................................................................ 243 4.1.4.1 »Die Parallelaktion erregt Aufruhr« – zwischen Massenszene und Einzelerkenntnis............................................................................. 244 4.1.4.2 Drei Verbrechen – oder doch das vierte? ..............................................251 4.1.4.3 Traum und Transformation der Handlungsstruktur ................................ 257 4.1.5 Zwischenfazit: Historische Zeit im Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« .......... 259 4.2 Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«: »Sein ganzes Leben lang hatte diese verdammte phantastische Wirklichkeit ihn gehindert, sich selbst zu finden…« ............... 265 4. 4.1

4.2.1 Kultur als Lebenswirklichkeit – die abstrakte historische Zeit in den ersten Kapiteln des Romans ............................................................... 266 4.2.1.1 Die Namensgebung und das Essay .................................................... 266 4.2.1.2 Die Gebote der Väter: Selbstaufopferung im Dienste des Volkes ............... 270 4.2.1.3 Das Erfinden des Selbst ................................................................... 273 4.2.1.4 Samgins Jugendfreunde: Kulturbegriff und Liebessemantik .................... 280 4.2.2 Marxismus und Décadence – die Entstehung der russischen Revolution als Sujet der geistigen Suche ................................................................................... 293 4.2.2.1 Der Raum der Geschichte ................................................................. 294 4.2.2.2 Kultur in der Krise: Marxismus und Décadance ..................................... 301 4.2.2.3 Die Notwendigkeit der Revolution .......................................................314 4.2.3 Das doppelte Sujet ...................................................................................... 317 4.2.3.1 Russische Revolution: Der Intellekt und die Motivation zum Handeln ....................................... 320 4.2.3.2 Leben in Erwartung der Revolution..................................................... 344 4.2.4 »Er wird für eine kurze Zeit befreit« – der Protagonist im Geschehen der ersten russischen Revolution .................................................................. 366 4.2.4.1 Masse und Führer ........................................................................... 369 4.2.4.2 »Ich bin vielleicht der nüchternste Mensch in Russland« ........................ 374 4.2.4.3 Der Verstand zwischen Moral und Schönheit ........................................ 382 4.2.5 Zwischenfazit: Historische Zeit im Roman »Klim Samgin«.................................. 395 5.

Fazit und Forschungsausblick ......................................................... 403

6. Literaturverzeichnis .................................................................... 411 6.1 Primärquellen ..................................................................................................... 411 6.2 Sekundärquellen .................................................................................................. 412

Danksagung

Die vorliegende Studie stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die ich 2016 an der Universität Gießen eingereicht habe. Zu ihrer Entstehung haben viele Menschen beigetragen, denen ich an dieser Stelle danken möchte. An erster Stelle möchte ich meine große Dankbarkeit und Anerkennung meinem Erstgutachter, Prof. Dr. Reinhard Ibler vom Institut für Slavistik an der Universität Gießen aussprechen, der diese Arbeit von Anfang an mit viel Aufmerksamkeit und Verständnis für die ungewöhnlichen Wege, die ich darin gehen musste, betreut hat. PD Dr. Walter Fanta vom Musil-Institut Klagenfurt, der die Arbeit mitbegutachtet hat, danke ich für die Beteiligung an meinem Promotionsverfahren, für den langjährigen Gedankenaustausch über Musil und seinen Roman sowie allgemein für die Anregung zur Promotion, ohne die ich kaum auf die Idee gekommen wäre, meinen germanistischen und slavistischen Hintergrund in einer Arbeit zu Musils Roman produktiv miteinander zu verbinden. Dem Gießener International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) danke ich für finanzielle und ideelle Förderung, die für den Erfolg des Vorhabens entscheidend war. Prof. Dr. Joachim Jacob vom Institut für Germanistik der Universität Gießen bin ich für die Beteiligung an meinem Promotionsverfahren sowie für die Möglichkeit dankbar, in seinem Promotionskolloquium die zentralen Thesen und die Arbeitsbeispiele zur Diskussion zu stellen; an die sachliche und freundliche Atmosphäre des Kolloquiums, bei der auch die Kritik nicht zu kurz kam, werde ich lange zurückdenken. Prof. Dr. Armin Knigge danke ich für sein ständiges Interesse an meiner Arbeit, produktive Rückmeldung zu mehreren Kapiteln und dem Text im Ganzen sowie für die Ermunterungen, mit Gorʹkij weiter zu machen, auch wenn es nicht immer einfach war. Den Teilnehmenden des Kolloquiums am Institut für Slavistik der Universität Gießen danke ich dafür, dass sie die Arbeit in ihrem Entstehen aus der slavistischen Perspektive wahrgenommen und mit ihren kritischen Anmerkungen ihren Fortschritt gefördert haben. Bei der Erstellung der Endfassung haben mich Kolleginnen und Kollegen sowie Freunde aktiv unterstützt. Der größte Dank gebührt Dr. Katharina Bauer, die unter allen wohl die meisten Teile aufmerksam gelesen und mir geholfen hat, die sprachlichen und stilistischen Unebenheiten darin auszubügeln. Dr. Thomas Edeling danke ich für die Durchsicht einzelner Kapitel, aber auch für die schönen Ausflüge, die mich vom Schreibtisch an viele unerwartete Orte geführt haben. Alex Cifci, Dr. Diana Hitzke, Katrin Esmatullah, Katrin Werner, Elke

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Historische Zeit im Narrativ

Steiner-Hamidy und Rudaba Badakshi haben einzelne Kapitel der Arbeit gelesen und zur sprachlichen Elaborierung sowie zur Verständlichkeit des Textes beigetragen. An dieser Stelle sei wiederholt dem Gießener GCSC gedankt, das mir einen Lektoratszuschuss für die Bearbeitung des Manuskripts vor der Abgabe der Dissertation gewährt hat. Dr. Corinna Dziudzia und Regine Leitenstern danke ich für den produktiven Gedankenaustausch und besonders für die vielen anregenden Zuggespräche auf dem Weg nach Gießen und zurück. Meinem Ehemann Ali Hamidy und meinen Töchtern Eva und Alina danke ich für ihre Liebe, Geduld und für die Bereitschaft, ihre Bedürfnisse angesichts des Arbeitsaufwands der promovierenden Ehefrau und Mutter zurückzustellen und mich aktiv in allen Phasen der Promotion zu unterstützen. Gewidmet sei die Arbeit den Menschen, denen ich in meinem Leben das Meiste und das Beste zu verdanken habe – meinen Eltern.

Siglenverzeichnis und allgemeine Hinweise1

Chr

Michail Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman.

EuR

Michail Bachtin: Epos und Roman.

KS

Maksim Gorʹkij: Klim Samgin. Deutschsprachige Ausgabe.

MoE

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften.

POČK Klim Samgin. Erste Rezeption durch Leser und Literaturkritik (russ. »Первые отклики читателей и критики«). RV

Michail Bachtin: Bildungsroman und seine Bedeutung in der Geschichte des Realismus (russ. »Роман воспитания и его значение в истории реализма«).

TIP

Klim Samgin. Zur Entstehungsgeschichte des Werks (russ. »К творческой истории произведения«).

ŽKS

MaksimGorʹkij: ŽiznʹKlimaSamgina(russ.»Жизнь Клима Самгина«).Russischsprachige Ausgabe.

ZuE

Paul Ricœur: Zeit und Erzählung.

Г-25

Maksim Gorʹkij: Gesammelte Werke (russ. »собрание сочинений «). In 25 Bänden. Russischsprachige Ausgabe.

Г-30

Maksim Gorʹkij: Gesammelte Werke (russ. »собрание сочинений «). In 30 Bänden. Russischsprachige Ausgabe.

  Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin« wird auf Deutsch in der Übersetzung von Hans Ruoff (Sigle KS) zitiert, Zitatabweichungen werden ausgewiesen. Russischsprachige Zitate aus Bachtins und Gorʹkijs Werken sowie aus der Forschungsliteratur werden zwecks besserer Lesbarkeit in meiner Übersetzung ins Deutsche wiedergegeben. Robert Musils Werke werden durchgehend nach der Klagenfurter Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften zitiert. 1

Für genaue Quellenangaben siehe das Literaturverzeichnis.

1. Einleitung

Auf dem Bild von Nikolaj Rerich »Verdammte Stadt«, das auf dem Umschlag dieses Buchs abgebildet ist, sieht man eine Stadt, um die herum sich eine hypertrophierte Schlange windet. Noch steht die Stadt, noch leuchten ihre Türme vor dem düsteren Hintergrund der Berge und das Wasser im See scheint klar, aber die Stadt ist dem Untergang geweiht. Die Stimmung des Bildes ist die Vorahnung der Katastrophe; Gorʹkij wollte das Bild 1915 bei einer Ausstellung von Rerichs Vorkriegsbildern kaufen, Rerich hat ihm das Bild aber vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Freundschaft zum Geschenk gemacht. Zu diesem Anlass bezeichnete Gorʹkij den Maler als einen »großen Intuitivisten«, vermutlich weil Rerich im Bild exakt die Stimmung vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges einfing, welcher der bestehenden Ordnung in Europa ein Ende bereitete.1 Diese Stimmung analysierte Gorʹkij in seinem letzten, unabgeschlossenen Roman »Klim Samgin«, den er in der Emigration mit der Absicht verfasste, zur Aufklärung der kulturellen Ursachen der russischen Revolution von 1917 beizutragen. Eine kritische Perspektive auf das Österreich am Vorabend vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges präsentierte auch Robert Musil in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« und stellte dabei ähnlich wie Gorʹkij die »Imponderabilien des sogenannten öffentlichen Geistes« (MoE/B2/230) in den Vordergrund, die zum Zusammenbruch des Imperiums geführt haben. Diese ungewöhnliche Perspektive auf das Entstehen der epochalen Einschnitte zu erläutern und ihre narrative Umsetzung in der Gestalt der historischen Zeit beider Romane analytisch zu durchleuchten, stellt das zentrale Anliegen dieser Studie dar. Die Geschichte des Vergleichs zwischen beiden Romanen geht auf die Publikation von Ernst Fischers Essay »Robert Musil« zurück, das Musils Werk aus der Perspektive der marxistischen Literaturkritik betrachtete und somit dem osteuropäischen Lesepublikum vorstellte.2 Bereits 1965 ist die erste Dissertation von Marianne Girod entstanden, die Musils Roman im Zeichen der nächsten literarischen Verwandtschaft zu »Klim 1

2

Zur Episode der Schenkung sowie zur Freundschaft zwischen Gorʹkij und Rerich vgl. Беликов, П.Ф.: »Рерих и Горький«, in: Минц, 3.Г. (Hg.), Труды по русской и славянской филологии. XIII: Горьковский сборник, Тарту: Изд.-во Тартуского гос. ун-та 1968, S. 251-265. Fischer, Ernst: »Robert Musil«, in: Fischer, Ernst, Von Grillparzer zu Kafka: Sechs Essays, Wien: Globus 1962, S. 231-278.

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Historische Zeit im Narrativ

Samgin als Typ der Weltliteratur« interpretiert hat. Die Verfasserin sah im »Klim Samgin«3 das ideologische Korrektiv zum »Mann ohne Eigenschaften« mit seiner Tendenz, »der Dekadenz auf allen Gebieten des Lebens ein[en] zu große[n] Platz«4 einzuräumen. Zudem hatte sie eine sehr klare Vorstellung davon, was Geschichte ist und wie sie zu verlaufen hat, wodurch die zahlreichen Ambivalenzen in Gorʹkijs Roman in den Hintergrund gedrängt wurden.5 Fischers Argumentation, auf die Girod massiv Bezug nimmt, spielte in der Rezeption von Musils Roman keine besonders große Rolle; Gorʹkijs Roman hingegen wurde nach der Veröffentlichung des ersten Bandes Ende der 1920er Jahre bis in die 1990er Jahre in solchen Begriffen ausgelegt. Diese Schieflage prägte nicht nur die Rezeption von »Klim Samgin«, der kaum in seiner Komplexität als ein Werk der europäischen Moderne wahrgenommen wurde, sondern gilt insgesamt für Gorʹkijs Werk und Persönlichkeit und wird von der aktuellen Forschung schmerzlich beklagt. Durch die posthume Kanonisierung Gorʹkijs als »Erfinder« des sozialistischen Realismus entstanden Lakunen in der Erforschung seiner Biografie und seiner Werke; dazu kamen nach der politischen Wende zahlreiche Versuche, Gorʹkij als sowjetischen Literaturpapst von seinem Thron zu stürzen.6 Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Befreiung von Gorʹkijs Roman aus der Falle der ideologisch voreingenommenen Interpretationen durch den Vergleich mit Musils »Mann ohne Eigenschaften«. Dabei soll, dem Ansatz von Helene Imendörffer folgend, die »neuere bzw. westliche Erzähltheorie für die Erschließung« des »Klim Samgin« produktiv genutzt werden.7 Auf die Zugehörigkeit von Gorʹkijs Roman zur literarischen Moderne wies 1971 L.F. Kiseleva indirekt hin, als sie Musils Kritik des »primitiv Epischen« auf »Klim Samgin«

3

4 5

6

7

Das erste Buch des »Klim Samgin« wurde 1929 auf Deutsch in Übersetzung von Rudolf Selke veröffentlicht. Zur Kritik dieser Übersetzung und Analyse der ersten Rezeption in Deutschland vgl. Рассказов, А.В.: »О некоторых особенностях перевода романа А.М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹ (1 ч.) в Германии (Веймарской республике) и откликах на него немецкой критики«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), М. Горький и вопросы литературных жанров. Межвузовский сборник, Горький: Изд.-во ГГУ 1978, S. 101-114. Girod, Marianne: Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin« als Typ der Weltliteratur. Dissertation, Berlin 1965, S. 189. Interessant ist auch die flüchtige Anmerkung der Verfasserin über ein Experiment mit den Lesern, »die der Geistessphäre eines Musils nahestehen« und durch die Lektüre von Gorʹkijs Roman ein besseres Verständnis »für die proletarische Revolution« gewonnen haben sollen (ebd., S. 191). Vgl. dazu: Спиридонова, Л.А.: М. Горький: Диалог с историей, Москва: Наследие, Наука 1994, S. 3-6; Келдыш, В.А.: »О ценностных ориентирах в творчестве М. Горького«, in: Известия РАН. Серия литературы и языка 52 (1993), S. 20-25; Муромский, В.П.: »Все дальше от канона. Новые труды о Горьком«, in: Русская литература (1997), S. 250-256; Imendörffer, Helene: »Eine Dekanonisierung. Die russische Gorʹkij-Rezeption seit 1987«, in: Cheaure, E. (Hg.), Kunstmarkt und Kanonbildung. Tendenzen in der russischen Kultur heute, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2000, S. 67-86; Белова, Т.Д.: »Горьковедение рубежа XX–XXI веков«, in: Прохоров, Д.В. (Hg.), Труды педагогического института Саратовского государственного университета им. Н. Г. Чернышевского, Саратов: Изд.-во СГУ 2006, S. 232-240; Белоусова, Е.Г.: »Своеобразие художественного мира ›Жизни Клима Самгина‹: к вопросу об ›антитетично-подвижном‹ способе формотворения М. Горького«, in: Вестник Челябинского государственного университета (2007), S. 18-27, hier S. 18-19. Imendörffer: Eine Dekanonisierung, S. 84

1. Einleitung

übertrug. Das Charakteristische von Gorʹkijs Roman sah Kiseleva in einem Bruch mit dem klassischen Roman und in den formalen Experimenten, weshalb sie »Klim Samgin« in die Reihe von solchen Werken der klassischen Moderne wie Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« oder Thomas Manns »Doktor Faustus« einordnete.8 Einen weiteren Versuch, beide Romane in einen Zusammenhang zu bringen, unternahm in seinem vergleichenden Überblick über den Roman der literarischen Moderne Wladimir Zatonskij, der von der Ähnlichkeit zwischen Ulrich und Klim Samgin als Protagonisten »ohne Eigenschaften« sprach, ohne sich jedoch in die Implikationen dieses Vergleichs zu vertiefen.9 Hingegen wertete Philippe Chardin, der Gorʹkijs »Klim Samgin« in die Reihe der bedeutendsten Werke der literarischen Moderne aufnahm, den Vergleich als eine aus ideologiekritischer Sicht besonders günstige Konstellation, da sich die Werke »sozialistischer« Kunst in seinen Augen mit derselben Problematik befassten, jedoch unter vollkommen anderen ideologischen Entstehungsbedingungen.10 Chardin verglich »das unglückliche Bewusstsein« im »Klim Samgin« und im »Mann ohne Eigenschaften« mit Romanen von Marcel Proust, Thomas Mann, Hermann Broch u.a., die alle auf eine eigene Art und Weise das Interesse an der Geistesgeschichte vertreten.11 Die Parallelen zwischen »Klim Samgin« und »Mann ohne Eigenschaften« fallen besonders zahlreich in dem Kapitel aus, in dem Chardin die Situation der »politischen und historischen Schwerelosigkeit« in Romanen des »unglücklichen Bewusstseins« zu beschreiben versucht12 – ein brisanter und in vielerlei Hinsicht zutreffender Befund. In der vorliegenden Studie wird die von Chardin diagnostizierte Schwerelosigkeit als Symptom der narrativen Loslösung beider Romane vom Paradigma der politischen Geschichte aufgefasst. Chardins Ansatz stieß bezüglich der Interpretation des Protagonisten auf Widerspruch seitens des deutschen Gorʹkij-Forschers Armin Knigge, der Chardins Betrachtungsweise der Figur als einer psycho-physischen Einheit zu Recht kritisierte. Knigge zufolge stellt der Protagonist eine Instanz dar, die »verschiedene Funktionen im Dienst des Autors übernehmen kann«.13 Hiefür wäre laut Knigge ein Vergleich mit anderen Romanen hilfreich, darunter auch mit dem »Mann ohne Eigenschaften«. Die vergleichende Perspektive könnte in Gorʹkijs Roman zur Aufklärung des intrikaten Verhältnisses zwischen Samgin und dem Erzähler beitragen, das ein zentrales Problem für das Verständnis des Textes darstellt. Insgesamt werfen die besprochenen Ansätze zum Vergleich beider Romane mehr offene Fragen auf als sie beantworten können. Ein zusätzliches Rätsel bieten einige

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9 10 11 12 13

Киселева, Л.Ф.: »Внутренняя организация произведения (›Жизнь Клима Самгина‹ М. Горького – ›Доктор Фаустус‹ Т. Манна)«, in: Мясников, А.С. (Hg.), Проблемы художественной формы социалистического реализма, Москва: Наука 1971, S. 98-170, hier S. 98-99. Затонский, Д.В.: Искусство романа и ХХ век, Москва: Художественная литература 1973, S. 310. Chardin, Philippe: Le roman de la conscience malheureuse. Svevo, Proust, Mann, Musil, Martin du Gard, Broch, Roth, Aragon, Genéve: Droz 1982, S. 42. Ebd., S. 11. Ebd., S. 135-160. Knigge, Armin: »Der Autor und sein Held. Maxim Gorʹkijs ›Žiznʹ Klima Samgina‹ im Kontext des modernen europäischen Romans«, in: Zeitschrift für Slawistik (1988), S. 140-154, hier S. 148.

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Historische Zeit im Narrativ

Parallelen in der Entstehungsgeschichte beider Werke, wobei man die gegenseitige Beeinflussung beider Autoren ausschließen kann. So geht die Anlage beider Werke auf die Auseinandersetzung der Schriftsteller mit dem zeitgenössischen Gedankengut in den 1910er Jahren zurück, und auch die Ausführungsphase fängt ungefähr zur gleichen Zeit um 1925/26 an. »Das Geistig-Typische« in Form des »perennierenden ideologischen Substrats« will Musil in seinem Roman bloßlegen,14 dessen Dynamik in den Ausbruch des Ersten Weltkrieges mündete. Ein ähnliches Interesse an den Ursachen kollektiver Katastrophen legt Gorʹkij an den Tag, wenn er seine Absicht äußert, einen Roman über Menschen zu schreiben, »die sich erfinden«15 und seinen Protagonisten in einer »phantastischen Wirklichkeit« (KS/B2/1094) Orientierung suchen lässt, die sich immer weiter auf das Ereigniss der Revolution hin bewegt. Die Arbeit an den Romanen erstreckt sich über mehrere Jahre, in deren Verlauf die Publikation sukzessive in einzelnen Teilen, im Fall von Gorʹkijs Roman sogar (parallel zur Veröffentlichung in Buchform) in Zeitschriften erfolgt. Der am Anfang beider Romane definierte zeitliche Rahmen legt ihr Finale auf ein bedeutsames politisches Ereignis – den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution – fest. Der Bogen bleibt in beiden Romanen durch mehrere Jahre hinweg erhalten, wird jedoch nicht bis zum Ende ausgeführt, da der Tod der Autoren die Arbeit an den Romanen vorzeitig beendet. Das ausgebliebene Ende lässt Raum für Spekulationen. Beide Romane gelten als herausgehobene, elitäre Werke16 und sind samt ihren nicht autorisierten Teilen im Umfang (in Seiten oder Lesestunden) durchaus vergleichbar. Die gesellschaftliche Wende um 1914/18 in Europa, die mit Kriegen und Revolutionen eingetreten ist, trägt die Signatur einer ambivalenten Zeitperspektive, in der die gerade noch verschwundene Realität des Habsburger- und Zarenreiches zugleich in der lebendigen Erinnerung der Autoren Musil und Gorʹkij liegt, durch die immensen Veränderungen jedoch von der Gegenwart getrennt und aus der »historischen Distanz« erscheint. Diese zeitliche Spannung prägt den zeitlichen Horizont der Romane, die sich zwischen Gegenwarts- und dem historischen Roman bewegen. Diese Schwankungen in Bezug auf die zeitliche Perspektive führen zwar zu Unterschieden, was die proklamierten Absichten der Verfasser betrifft: so distanzieren sich Musil und der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« mehrfach von der Absicht, eine »reale Erklärung realer Tatsachen«17 zu liefern und »ein Historienbild zu malen« (MoE/B1/269), während Gorʹkij in seinem Schreibprozess wesentlich mehr Wert auf Detailtreue im Einzelnen legt. Doch gestaltet sich die Referenz auf die Vergangenheit, die den common sense des Adjektivs »historisch« prägt, in beiden Romanen wesentlich komplexer. Sie verläuft nicht geradlinig, indem die Erzählung auf das Bekannte verweist. Vielmehr bietet sie ein Spiel mit

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Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14. Vgl. Gorʹkijs Brief an Stefan Zweig: »Zur Zeit schreibe ich über die russischen Menschen, die wie niemand sonst ihr Leben zu erfinden verstehen, ja, sich selbst erfinden.« (Brief an Stefan Zweig. Gorʹkij, Unveröffentlichtes Material und Abhandlungen zu »Klim Samgin«, S. 41). Laut Jürgen Rühle liegt »Klim Samgin« »wie ein Granitblock unbewältigt inmitten der Sowjetliteratur« (Rühle, Jürgen: Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus in der Epoche Lenins und Stalins, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1988, S. 30). Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14.

1. Einleitung

den Zeichen der verschollenen Realität, das die Indikations- und Imitationsverhältnisse invertiert,18 um aus ihnen eine unikale fiktive Realität der Romane zu erschaffen. Es findet eine Verdrängung der politischen Geschichte an den Rand der Romanerzählungen statt, alternative Merkmale kollektiver Prozesse rücken in den Vordergrund, mit deren Darstellung der erhebliche Aufwand verbunden ist, die zeitliche Dynamik des Kollektiven auf der Ebene der Geistesgeschichte zu erzählen, für die es damals noch keine etablierten Verfahren gab und die von beiden Autoren experimentell erschlossen wurde. Es wäre daher schwierig, beide Romane dem Genre des Geschichtsromans zuzuordnen; der Begriff »Zeitroman« scheint eher zuzutreffen, muss aber wegen seiner Weitläufigkeit im Kontext der Zeitexperimente in und nach der literarischen Moderne präzisiert werden. Wenn in beiden Romanen die Zeit ein zentrales erzählerisches Problem darstellt, so beziehen sich beide Autoren auf eine spezifische Zeitdimension, die in der vorliegenden Studie in Anlehnung an die Theorien von Michail Bachtin und Paul Ricœur als »historische Zeit« definiert wird. Die historische Zeit operiert laut Paul Ricœur in der Bruchzone der menschlichen Erfahrung und macht die kollektive Dimension des Geschehens mithilfe von narrativen Operationen intelligibel. In der vorliegenden Studie werden diese narrativen Gestaltungsmechanismen erforscht und die Ähnlichkeiten in den Verfahren, aber auch in der Gestalt, welche die historische Zeit in den Romanen von Musil und Gorʹkij annimmt, aufgespürt. Die Studie gliedert sich in drei große Teile: »Theorie«, »Reflexion« und »Narration«. Im Kapitel »Theorie« wird der Begriff der historischen Zeit anhand der Theorien von Michail Bachtin und Paul Ricœur definiert. Eine solche systematische Aufarbeitung, die die historische Zeit aus dem Kontext beider Theorien zum Verhältnis zwischen Zeit und Erzählung rekonstruiert, fehlt bisher sowohl für Ricœur als auch für Bachtin. Sie wird im Kontext der interdisziplinären Debatte zwischen der Literaturwissenschaft und der Historiografie als eine Denkalternative vorgestellt, die zur Aufklärung der Schnittmengen zwischen dem literarischen und historiografischen Erzählen beitragen könnte. Im Kapitel »Reflexion« gehe ich auf die Kritik der Erzählung im Allgemeinen und der Geschichtserzählung im Besonderen ein, die beiden Romanen auf metareflexiver Ebene eingeschrieben ist. Da die Behandlung dieser Ebene in der Forschung zu Gorʹkijs und Musils Romanen im Kontext dieser Arbeit eine programmatische Bedeutung hat, sind in das Kapitel die Forschungsüberblicke und -diskussion integriert. Mit der Entscheidung, die narrative Komposition davon getrennt in einem eigenen Kapitel zu analysieren, beuge ich der pauschalen Übertragung der Thesen von der Ebene der Reflexion auf die Ebene der Narration vor. Ein zusätzlicher Vorteil des Begriffs der historischen Zeit liegt darin, dass seine Anwendung für die Kritik des Erzählens und des Geschichtsbewusstseins im Medium der Literatur sensibilisiert und ihre Notwendigkeit in den Narrativen herausstellt, die kollektiv signifikantes Geschehen erhellen. Besonders in Bezug auf Robert Musils »Der

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Die Zerlegung der Referenzproblematik in die Triade Indikation-Imitation-Inversion hat zunächst in Bezug auf Musils Roman Alexander Honold unternommen: Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg, München: Fink 1995, 40ff. Zur problematischen Identifikation bekannter Ereignisse, Personen und Zitate in Gorʹkijs Roman vgl. das Kapitel 5.2.3.1.

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Historische Zeit im Narrativ

Mann ohne Eigenschaften« gelten längst die Thesen von der Absage im Hinblick auf das Erzählen und auf den geschichtlichen Sinn, – eine problematische, aber auch signifikante Forschungsdebatte, auf die in der vorliegenden Studie ausführlich eingegangen wird und die auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Erzählen und dem Geschichtsbewusstsein in Musils Roman hinweist. Aber auch in Gorʹkijs Roman wird das Erzählen im Medium des Wortes einer kontinuierlichen Kritik unterzogen und im Motiv des Staubs mit der Problematik der Geschichtsreflexion verschränkt. Diese Ebene blieb in der Gorʹkij-Forschung bisher weitgehend unentdeckt und wird hier zum ersten Mal untersucht. Wenn in beiden Romanen die Problematik des Erzählens eng mit der Reflexion der Geschichtserzählung verknüpft wird, so geschieht es nicht im Zeichen einer kompletten Demontage der Erzählform, sondern zugunsten der Profilierung einer anderen, alternativen Form des Geschichtsbewusstseins. Sie lässt sich grob im Zeichen des Rollentauschs beschreiben, bei dem statt des Adels oder politischer Akteure vor allem Intellektuelle auf die Bühne des Geschehens treten. Das Wesen der historischen Zeit spiegelt sich nicht mehr in solchen Ereignissen wie Kriegen, Eroberungen, dynastischen Umstürzen oder Reformen wider, sondern wird durch die Konversation, Salondiskussion, Zeitung sowie durch die Stilistik der Architektur, der Bekleidung, der Kunst reflektiert. Im Gegensatz zur politischen Geschichte könnte diese Art der Geistesgeschichte, die im Kapitel »Narration« ausführlich analysiert wird, fast gespenstisch wirken, wäre die flüchtige Materie der kollektiven Vorstellungen, Träume und der Geschmäcker in beiden Romanen nicht in ihrer gegenständlichen Form von Wohnungseinrichtung, Landschaftsbildern, Verhaltensmustern und biografischen Details so greifbar nahe. Der Habitus des intellektuellen Standes als einer sozialen Gruppe, die sich und ihre Lebenswelt erfindet und dadurch erst begreift, stellt in beiden Romanen den Gegenstand der kritischen Betrachtung dar. Beachtet man die Unterschiede in der Prägung der Autoren durch den deutschösterreichischen und russischen Kulturkreis und insbesondere in ihrer Einstellung zur Politik, so entsteht der Eindruck, dass die Problematisierung des kulturellen Feldes im »Mann ohne Eigenschaften« und »Klim Samgin« die kulturellen und historischen Grenzen übersteigt und sich als übergeordnete Frage nach dem selbstvernichtenden Potenzial der Kultur stellt, die gerade in ihrem äußersten Reichtum dem Niedergang geweiht ist. Dieser Befund wird in beiden Romanen nicht irrational im Zeichen einer bösen Prophezeihung umgesetzt; dem chaotischen Zustand der Kultur wird in beiden Fällen ein nüchterner und rationaler Blick des Beobachters entgegengestellt, der in seiner Biografie und seinem Bewusstsein die Peripetien des kollektiven Schicksals spiegelt, um sich von ihnen zu befreien.

2. Theorie

Der Status literarischer Beschäftigung mit der Vergangenheit wird in der interdisziplinären Debatte zwischen Historiografie und Literaturwissenschaft kontrovers verhandelt. Es wurde zwar eine Einigung darüber erzielt, dass die Schnittmengen zwischen der Historiografie und Literatur in der Erzählung als einem Medium der Vermittlung liegen.1 Trotzdem wird die Diskussion negativ von der Opposition zwischen der »Fiktion« und den »Fakten« beeinflusst, wodurch die literarische Beschäftigung mit der Vergangenheit als frei, unverbindlich und letztlich bloß fiktiv angesehen wird. Den Anstoß zur Entwicklung der interdisziplinären Diskussion gab im Jahre 1973 die Publikation von Hayden Whites »Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe«. White unterlief das Paradigma der Trennung zwischen Literatur und Historiografie, indem er darauf hinwies, dass die Historiografie des XIX. Jahrhunderts in ihren rhetorischen Verfahren auf den literarischen Mustern der Sinnbildung wie Tragödie, Komödie, Satire und Romanze basiert.2 Whites Untersuchung

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Vgl. Ansgar und Vera Nünning: »Die Erkenntnis, daß Erzählungen nicht bloß eine literarische Form oder ein Ausdrucksmedium, sondern ein phänomenologischer und kognitiver Modus der Selbstund Welterkenntnis sind, wird sowohl von Jerome Bruner und anderen narrativen Psychologen als auch von Repräsentanten der ›narrativistischen‹ Schule von Historikern und Geschichtstheoretikern (z.B. Artur Danto, Lionel Gossman, Louis Mink, Hayden White) geteilt.« (Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: »Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie«, in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wiss. Verl. Trier 2002, S. 1-22, hier S. 2.) Vgl. auch Forschungsüberblicke in: Jaeger, Stephan: »Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft«, in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wiss. Verl. Trier 2002, S. 237-265; Rüth, Axel: Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung, Berlin, New York: de Gruyter 2005, insbes. Kapitel »Historiografie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf« (S. 1-15) und »Geschichte und Erzählung in der Theorie« (S. 16-52); Breyer, Thiemo/Creutz, Daniel: »Einleitung«, in: Breyer, Thiemo/Creutz, Daniel (Hg.), Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin: de Gruyter 2010, S. 1-18. White, Hayden: Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe, Baltimore, Md.: Johns Hopkins Univ. 1973.

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Historische Zeit im Narrativ

sowie seine spätere pointierte These »Auch Klio dichtet«3 regten die interdisziplinäre Diskussion an, trugen jedoch zu einer kontraproduktiven Verhärtung der Opposition zwischen der Literaturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft bei. Laut Birgit Aschmann, die eine Einordnung der Debatte in die postmoderne Denkpraxis unternahm, sind »die international heftige[n] Abstoßungsreaktionen […] Indikator genug dafür, dass offenbar ein sensibler Nerv berührt ist«.4 Whites zentrale These weist der Klio lediglich einen Platz neben der Kalliope, den ihr bereits Hesiod einräumte; um nachvollziehen zu können, warum sie zu einem berüchtigten Präzedenzfall für die interdisziplinäre Diskussion werden sollte, muss man Differenzen berücksichtigen, die sich in Bezug auf das Verständnis der Erzählung ergaben und die der Historiker Egon Flaig treffend als »neuralgische Stelle« bezeichnete: Für die Geschichte als Wissenschaft ist es von kardinaler Bedeutung, ob eine Erzählung wahr ist oder nicht. Für Literaturwissenschaften ist das unwichtig. Hier verläuft die Kluft.5 Die Kluft, von der Flaig spricht, wird von ihm als Gegensatz zwischen »wahr« und »nicht wahr« definiert, um den seiner Meinung nach kein Historiker in seiner Untersuchung herum kommen kann. Stellt das Phänomen des Erzählens also den zentralen Bezugspunkt beider Disziplinen dar, erscheint es dennoch fraglich, ob die Narratologie, die primär anhand literarischer, als »frei« und »spielerisch« geltender und an keine Wahrheitskriterien im Sinne historiografischer Methodologie gebundener Erzählungen entwickelt wurde, zum Verständnis der historiografischen Erzählpraxis beitragen kann. Eine solch scharfe Abgrenzung der Historiografie von der Literatur war jedoch, wie Lionel Gossmann in seiner Monografie »Between History and Literature« offenlegt, im XVIII. und auch noch im XIX. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich: »As late as the eighteenth century, and probably beyond, history was still a literary genre«.6 Für 3 4

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White, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart: Klett-Cotta 1986. Aschmann, Birgit: »Moderne versus Postmoderne. Gedanken zur Debatte über vergangene, gegenwärtige und künftige Forschungsansätze«, in: Elvert, Jürgen/Krauss, Susanne (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2003, S. 256-275, hier S. 257. Flaig, Egon: »Erleichterte Erkenntnis. Wie man narratistisch den realen Ballast abwirft und die Wissenschaft loskriegt«, in: Breyer, Thiemo/Creutz, Daniel (Hg.), Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin: de Gruyter 2010, S. 73-92, hier S. 76. Gossman, Lionel: Between history and literature, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1990, S. 3. Vgl. insbesondere Gossmans detaillierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Koexistenz der Historiografie und Literatur von der Antike bis ins XIX. Jahrhundert im Aufsatz »History and Literature: Reproduction or Signification« (S. 227-256). Eberhard Lämmert lieferte eine ganze Reihe interessanter Beobachtungen zur gegenseitigen Abgrenzung der literarischen und historiografischen Erzählung im Zuge der Bildung des Kollektivsingulars »Geschichte« im XIX. Jahrhundert, wobei Lämmert von einem direkten Zusammenhang zwischen dem Wandel des Geschichtsbewusstseins und der Poetologie des modernen Romans ausging (vgl. Lämmert, Eberhard: »Zum Wandel der Geschichtserfahrung im Reflex der Romantheorie«, in: Ritter, Alexander (Hg.), Zeitgestaltung in der Erzählkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, S. 322-336, hier S. 322). Einen Überblick über das Verhältnis zwischen Literatur und Historiografie im 19. Jahrhundert lieferte in ihrer Monografie Gabriele Sieweke und hob dabei die »gegenseitige Bereicherung

2. Theorie

die Erkundung der Schnittmengen zwischen der Literatur und der Historiografie erscheint es also weniger dienlich, aus der historiografischen Perspektive die Methoden literaturwissenschaftlicher Narratologie radikal in Frage zu stellen oder der Historiografie Literarizität aus dem Grund zu bescheinigen, weil sie mit Erzählungen operiert. Es lässt sich vermuten, dass die Geschichtserzählung als Nachvollzug kollektiv signifikanter Ereignisse und Vorgänge einen Sonderfall des Erzählens darstellt, der sich quer durch die wissenschaftliche und literarische Erzählpraxis zieht und für dessen analytische Erkundung interne Kriterien nicht genügen. Für die weitere Aufklärung des Phänomens sind im Prozess der interdisziplinären Erweiterung des narratologischen Instrumentars Denkalternativen essenziell, die zur Schlichtung der existierenden strengen Dichotomie »wahr vs. unwahr«7 und »Geschichte vs. Literatur« und zur weiteren Differenzierung der Problematik führen können. In der vorliegenden Studie stelle ich durch die strukturierte Definition und analytische Anwendung des Begriffs »historische Zeit«, den ich den Theorien von Michail Bachtin und Paul Ricœur entlehne, eine Denkalternative zur Diskussion, bei welcher die Überschneidungen zwischen den historiografischen und literarischen Erzählungen als Ergebnis der gemeinsamen Anknüpfung an die Struktur der menschlichen Zeiterfahrung verstanden werden. Ausgehend von der These, dass Zeitwahrnehmung durch Erzählungen ermöglicht und gesteuert wird, weisen Bachtin und Ricœur der historischen Zeit eine besondere Stellung in der Struktur der menschlichen Zeiterfahrung zu.

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von Geschichte und Fiktion« hervor. Sie schreibt von »der Tendenz des historischen Romans vor allem in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, mit akribischer Faktengenauigkeit und exakter Rekonstruktion eines historischen Milieus in Konkurrenz zur Fach Historiografie zu treten«, aber auch von »der zunehmenden Literarisierung der Historiografie um die Mitte des Jahrhunderts«. Laut Sieweke formulierten so prominente Historiker wie Carlyle und Macaulay »in ihren theoretischen Aufsätzen bereits Gedanken, die den historistischen Glauben an eine ›objektive‹ Rekonstruierbarkeit der ›Fakten‹ in Frage stellen, die narrative Ebene der Historiografie (…) in den Vordergrund rücken und damit eine erkenntnistheoretische Nähe zwischen Historiker und Romancier implizieren« (Sieweke, Gabriele: Der Romancier als Historiker. Untersuchungen zum Verhältnis von Literatur und Geschichte in der englischen Historiographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Lang 1994, S. 4). Versuche, eine Opposition zwischen Wahrheit und Fiktion als Unterscheidungskriterium einzusetzen, gehören zum Repertoire interdisziplinärer Arbeiten in diesem Bereich, obwohl sie zur einseitigen Einschränkung des Untersuchungshorizontes zugunsten der Historiografie führen. So verwendet Angelika Epple in ihrer Untersuchung der Geschlechtergeschichte in den autobiografischen Erzählungen des späten 18. Jahrhunderts das Wahrheitskriterium als Unterscheidungsmerkmal der historischen Erzählung und macht den Hinweis, dass es sich dabei nicht um einen »überzeitlichen«, sondern um einen Wahrheitsbegriff im Sinne des »historiografischen Paktes« zwischen dem Schreibenden und Lesenden handelt. Den Inhalt dieses Paktes sieht sie darin, »dass die Vergangenheit als tatsächliche und nicht bloß als wahrscheinliche (annehmbare) in der Erzählung vorgestellt wurde«. Obwohl es der Verfasserin dadurch gut gelingt, sich mit den Beispielen autobiografischer Erzählung auseinanderzusetzen, muss sie bei dieser Vorgehensweise auf die Analyse literarischer Erzählungen von Anfang an verzichten, da »es methodisch äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die Deutung und Konstruktion dessen, was als tatsächliche Erfahrung verstanden wird, von anderen Elementen der literarischen Erzählung zu isolieren« (Epple, Angelika: Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln: Böhlau 2003, S. 19-20).

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Historische Zeit im Narrativ

Beide thematisieren den fundamentalen Erfahrungsbruch zwischen der Alltagswelt des Individuums und der Dimension des gemeinschaftlichen, öffentlichen, sozialen und kollektiven Lebens und definieren die historische Zeit als eine kompensierende Struktur, die in der Zone des Bruchs vermittelt. Die Art und Weise, auf welche diese Leistung von literarischen Narrativen erbracht werden kann, beschäftigte insbesondere Michail Bachtin, der bereits in den 1930er Jahren Geschichte als eine Form des Erzählens betrachtete. In einer Reihe von Aufsätzen machte er den Zugang zur »öffentlichen Zeit«, die als subjektlose Zeit »des inneren Aspekts« entbehrt (Chr/151), zum zentralen Dilemma der menschlichen Zeitwahrnehmung und fasste die historische Zeit als eine spezifische, an die Leistung von Narrativen gebundene Form der Zeiterfahrung auf. »Die historische Zeit« ist in Bachtins Schriften so gegenwärtig, dass das Thesaurus-Projekt, welches 1997 das kleine Wörterbuch seiner Grundbegriffe herausgab, sie in sein Begriffskorpus aufnahm.8 Leider verwendete Bachtin diesen Begriff, ohne ihn explizit zu definieren; daher musste sein Verständnis der historischen Zeit im vorliegenden Kapitel anhand ausgewählter Aufsätze rekonstruiert werden. Eine solche Rekonstruktion war deshalb möglich, weil Bachtin – hier schließe ich mich der Meinung von A.G. Zarubin an – alle anderen von ihm erwähnten Zeitformen in Bezug zur historischen Zeit setzte und ihre zeitliche Dynamik an ihr maß.9 Die historische Zeit wird bei Bachtin als Zeitform verstanden, welche der Diskrepanz der menschlichen Zeiterfahrung zwischen der subjektiven und kollektiven Zeit sowie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entgegensteuert. Damit nimmt er wichtige Erkenntnisse vorweg, die Paul Ricœur in »Zeit und Erzählung« in Form von drei Aporien des Zeitdenkens formulierte. In dieser Hinsicht ist es merkwürdig, dass Ricœur Bachtins Chronotopos-Aufsatz lediglich am Rande erwähnt. Das wurde von Dirk Göttsche bemängelt: »Keine zureichende Würdigung findet bei Ricœur Michail Bachtins Studie Formen der Zeit im Roman und hier insbesondere das Konzept des Chronotopos«.10 Dabei lassen sich Ricœurs und Bachtins Ausführungen zur historischen Zeit produktiv miteinander verbinden. Die Voraussetzung dafür bildet die prinzipielle Übereinkunft darüber, dass die Erzählung durch das Phänomen der Zeitlichkeit aufzuschließen ist. Außerdem vertreten Bachtin und Ricœur eine ähnliche Sicht auf die Zeit als Erfahrungskategorie, die durch hohe Divergenz gekennzeichnet ist. In diesem diffusen Bereich der menschlichen Erkenntnis existiert nicht nur die lineare physikalische Zeit, sondern

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Тамарченко, Н.Д.: »Словник ›бахтинского тезауруса‹«, in: Тамарченко, Н.Д. (Hg.), Бахтинский тезаурус. Материалы и исследования, Москва: РГГУ 1997, S. 8-14, hier S. 10. Vgl. Зарубин, А.Г.: »Динамическая и статическая концепции времени в художественном творчестве«, in: Еремеев, А.Ф. (Hg.), М.М. Бахтин: Эстетическое наследие и современность, Саранск: Изд-во Мордов. ун-та 1992, S. 260-263, hier S. 260. Maria Langleben wies auf den Grad hin, in dem Bachtins Philosophie durch sein System der Zeitbegriffe geprägt wird: »Together, Bachtin’s temporal notions present a consistent substructure of his philosophy« (Langleben, Maria: »M. Bachtins Notions of Time and Textanalysis«, in: Russian Literature XXVI (1989), S. 167-190, hier S. 167). Göttsche, Dirk: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München: Fink 2001, S. 41.

2. Theorie

werden durch die Verfahren narrativer Modellierung unterschiedliche Zeitformen und Qualitäten geformt. Wie Monika Fludernik bemerkte, beinhaltet Ricœurs Zeitverständnis eine Loslösung vom naturwissenschaftlichen und linearen Zeitbegriff und eine Vertiefung in Richtung der Psychologie der Zeitwahrnehmung: Instead of a continuous uniform band of time stretching from one point to another, a spatial coordinate that extends into infinity, time – like post-Einsteinian space – becomes warped, discontinuous, three-dimensional.11 Das Gleiche gilt für Bachtins Betrachtungsweise der Zeitformen. So spricht Gary Saul Morson in Bezug auf Bachtins Theorie von der prinzipiellen »Heterozeitlichkeit« der Welt nach Bachtin, in der unterschiedliche Zeitformen miteinander kollidieren: The world is »heterochronous«. By this, Bakhtin intends a number of related ideas. First, at every given moment different social activities are governed by different senses of time and by multiple fields of possible action. Second, there are always multiple senses of time that can be applied to the same situation […].12 Die Existenz unterschiedlicher Formen der Zeiterfahrung, in deren Kontext die historische Zeit nur eine von vielen Möglichkeiten darstellt, ist durch die Existenz unterschiedlicher Erzählgenres dokumentiert, die für Bachtin diverse Modalitäten reflektieren, Zeitverläufe zu simulieren und zu semantisieren. Für die Auswertung dieser kulturellen Bestände ist es von prinzipieller Bedeutung, dass die Erzählung sowohl für Bachtin als auch für Ricœur einen zusätzlichen Spielraum eröffnet, welcher für die abstrakte und logisch geordnete philosophische Betrachtungsweise verschlossen bleibt. Besonders die historische Zeit in ihrer vermittelnden Funktion lässt sich kategorisch kaum fassen. Ihre Untersuchung setzt voraus, dass sich die Philosophie und insbesondere die Phänomenologie auf das Phänomen der Erzählung einlassen. Andererseits bemängelt Ricœur, dass das methodologische Instrumentarium der Narratologie in ihrer strukturalistischen Ausprägung auf die Vorstellung der Zeit als reiner Linearität eingeschränkt ist und einer methodologischen Erweiterung bedarf. Wie ich im vorliegenden Kapitel argumentiere, beinhalten Bachtins und Ricœurs Theorieentwürfe hierfür konkrete Vorschläge. Mit der Einführung des Begriffs der »historischen Zeit« eröffnen Bachtin und Ricœur eine prinzipiell neue Ebene in der Diskussion um Vermittlung von Geschichte in narrativen Formaten. Statt von der Vermittlung einer bestimmten Informationsmenge (Daten, Ereignissen etc.) sprechen sie von dem Zugang zur kollektiven Zeiterfahrung. Das birgt einige Vorteile für die Vertiefung der interdisziplinären Diskussion zwischen Historiografie und Literaturwissenschaft, an die Paul Ricœurs dreibändiges Werk »Zeit und Erzählung« explizit anschloss. Im Gegensatz zu White,

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Fludernik, Monika: »Chronology, time, tense and experientiality in narrative«, in: Language and Literature 12 (2003), S. 117-134, hier S. 120. Morson, Gary S.: »Bakhtin, Genres, and Temporality«, in: Emerson, Caryl (Hg.), Critical essays on Mikhail Bakhtin, New York: Hall 1999, S. 171-189, hier S. 183.

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Historische Zeit im Narrativ

welcher der Historiografie den Status einer Wissenschaft absprach,13 nutzte Ricœur die Verschiebung des Blickwinkels, um von den Gemeinsamkeiten zwischen Historiografie und Literatur zu sprechen, die er in der Korrelation der menschlichen Zeiterfahrung mit der Erzählung sah. Dies befürwortete auch Hayden White als einen »beträchtlichen Fortschritt« im Kontext der interdisziplinären Debatte: Ricœur hebt die Unterscheidung zwischen literarischer Fiktion und Historiografie nicht etwa auf, wie es mir vorgeworfen wird, aber er verwischt die Trennlinie zwischen ihnen, indem er betont, daß beide zur Kategorie des symbolischen Diskurses gehören und daß sie einen »fundamentalen Referenten« gemeinsam haben. […] Ricœurs Insistieren auf dem Geschichte und Literatur gemeinsamen »fundamentalen Referenten« stellt einen beträchtlichen Fortschritt gegenüber vorangegangenen Diskussionen über die Beziehung zwischen Geschichte und Literatur dar, da in diesen Diskussionen immer von einem Gegensatz zwischen »faktischem« und »fiktionalem« Diskurs ausgegangen worden ist.14 Beide Ansätze sind darüber hinaus dadurch eng miteinander verbunden, als Ricœur Whites »Metahistory« die Kategorie des emplotment entleiht, sie aber wesentlich enger auf die Erzählanalyse bezieht. Er lässt sich weder auf die Unterarten des emplotment noch auf das tropologische System von White ein. Er spricht Whites Analysen eine besondere Qualität zu – allerdings gerade aus dem Grund, weil sie sich wenig an der Tropologie orientierten, die ihm »schwächer zu sein scheint« (ZuE/B1/245). Das Attraktive an Whites Begriffssystem sind für Ricœur nicht die Klassifizierungsmöglichkeiten, sondern die Systemdynamik, die sich durch die Kombinationsmöglichkeiten eröffnet, weshalb er Whites Theorie als »dynamischen Strukturalismus« bezeichnet, der »völlig plausibel« sei (ZuE/B1/245). Auch bei seiner Verwendung der Kategorie des emplotment tendiert Ricœur dazu, Whites provokante Argumente zu entschärfen. So besagt eine These Whites, dass historiografische Erzählungen im Unterschied zu komplexen Peripetien, die zum Vorrat literarischer Erzählungen gehören, stärker zum Einsatz konventioneller Formen des emplotment tendieren, da die Geschichte für den Historiker nicht Selbstzweck ist.15 Diese These von White versucht Ricœur in einem neutralen Licht umzuwerten: […] als Schriftsteller wendet sich der Historiker an ein Publikum, das die traditionellen Formen der Erzählkunst erkennen kann. Es handelt sich nicht um Klassen, die auf einer apriorischen Einteilung beruhen, sondern um die Formen eines kulturellen Erbes. (ZuE/B1/253-254) Diese moderate Deutung erlaubt es, die unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen der literarischen und historiografischen Erzählungen zu berücksichtigen. Leider erlaubt es der Fokus der vorliegenden Arbeit nicht, die Konfigurierung der historischen Zeit in

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Vgl. bei White: »[…] history is not a science, or is at best a protoscience with specifically determinable nonscientific elements in its constitution […]« (White: Metahistory, S. 21). White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verl. 1990, S. 182-183. White: Metahistory, S. 8.

2. Theorie

historiografischen Narrativen zu untersuchen; eine solche Untersuchung wäre aber in erzähltheoretischer Hinsicht zumindest denkbar.

2.1

Philosophische Grundlegung: Die Geschichte als Zone des Bruchs und die vermittelnde Funktion der historischen Zeit

Historische Zeit wird von Bachtin und Ricœur als eine Form angesehen, deren Aufgabe in der Kompensierung von Brüchen in der Zeitwahrnehmung liegt. Beide Theoretiker weisen auf Einschränkungen hin, Zeit rein spekulativ und abstrakt zu denken, doch werden diese Schwierigkeiten nur bei Ricœur systematisch in Form der drei Aporien des Zeitdenkens benannt. Ricœur betrachtet die zentralen Ansätze der europäischen Zeitphilosophie als Stationen auf dem Weg zu einem immer stärker differenzierten Zeitbegriff. Für diese »immer genauere phänomenologische Analyse« soll die spekulative Philosophie einen »immer höheren Preis« in Form von Aporien zahlen (ZuE/B3/42), die für die Zeitphilosophie unlösbar bleiben. Zunächst unterscheidet Ricœur in der Zeitphilosophie zwei Möglichkeiten, sich dem Problem der Zeit zu nähern: die psychologische oder phänomenologische Sicht auf die Zeit als Phänomen des Bewusstseins und die »objektive«, »kosmologische« oder »physikalische« Sicht auf die Zeit als Phänomen der Außenwelt. Um die Polarität beider Herangehensweisen an die Zeitproblematik darzustellen, setzt Ricœur zunächst die Zeitauffassung von Augustinus der von Aristoteles, die »psychologische« der »kosmologischen« Zeit entgegen. Die Dialektik der Wahrnehmung zwischen der intentio und der distentio animi bei Augustinus und die aristotelische Herleitung der Zeit aus dem Prinzip der Bewegung stellen nach Ricœur zwei polare Möglichkeiten dar, die Zeit zu denken: »die Zeit der Seele und die Zeit der Welt« (ZuE/B3/19). Diese zwei Zugänge zum Problem der Zeit bestehen aber nicht bloß parallel nebeneinander, sondern verdecken sich gegenseitig – eine Feststellung, die Ricœur in der darauffolgenden Auseinandersetzung mit Husserl und Kant vertieft. Die Ausschaltung der objektiven Zeit zugunsten des inneren Zeitbewusstseins bei Husserl entspricht nach Ricœur der genau gegenläufigen Tendenz bei Kant, die Zeit als eine objektive Größe der Natur einzuverleiben. »Jedes der beiden Systeme […] kann sein Gebiet nur unter der Bedingung erschließen, daß es das des anderen verbirgt.« (ZuE/B3/95) Dieses gegenseitige Verbergen der »Zeit der Seele« und der »Zeit der Welt« oder der »psychologischen« und »kosmologischen« Zeit bezeichnet Ricœur als erste Aporie des Zeitdenkens. Die erste Aporie des Zeitdenkens thematisiert also die Existenz von zwei unterschiedlichen Sichtweisen auf das Phänomen der Zeit, die sich nicht kombinieren lassen. Für die eine bedeutet Zeit ein subjektives, bewusstseinsinternes Phänomen der Wahrnehmung, für die andere bleibt die Zeit als »objektive« Größe hinter dem Horizont des Bewusstseins. So selbstverständlich die Zugänglichkeit der Zeit aus der phänomenologischen Sicht erscheint, so problematisch ist der Zugang zu ihr, wenn man die Zeit außerhalb der menschlichen Seele denkt. Um die Zeit außerhalb der »erlebten« Zeit wahrzunehmen, bedarf es einer vermittelnden Form – der historischen Zeit:

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Historische Zeit im Narrativ

Meine These ist nun, daß die besondere Weise, in der die Geschichte auf die Aporien der Phänomenologie antwortet, in der Ausarbeitung einer dritten Zeit – der eigentlich historischen Zeit – besteht, die zwischen der erlebten und der kosmischen Zeit vermittelt. (ZuE/B3/159) Die historische Zeit stellt also eine Zeitform dar, die eine qualitativ andere Ebene für die Zeitbetrachtung als die Philosophie eröffnet. Ricœur bezeichnet diese Lösung als »praktische« und entwickelt somit – wie Inga Römer treffend formuliert – »in einem methodischen Sprung ganz neu orientierte Aporetiken der Zeit, die der prinzipiellen theoretischen Aporizität durch praktische Antworten begegnen sollen«.16 Dabei wählt Ricœur laut Römer die »voie longue« im Gegensatz zur »voie courte« Heideggers, der »stillschweigend davon aus[geht], dass es ihm selbst möglich sei, ohne Berücksichtigung der erkenntnistheoretischen Probleme direkt die ontologische Struktur des Daseins beschreiben zu können«.17 Für Ricœur ist ein solch kurzer Weg undenkbar, da sich die Reflexion über das Dasein immer im Medium der Sprache realisiert.18 Deshalb schlägt Ricœur den langen Weg über die Hermeneutik ein, den Römer als den »bescheideneren Weg« bezeichnet.19 Jedoch übernimmt Ricœur von Heidegger die Idee, dass Geschichtlichkeit ein vermittelndes Bindeglied zwischen dem Sein zum Tode und der Weltzeit darstellt. Ausgehend davon wirft Ricœur die Frage nach der Geschichte als einer Zone des Bruchs auf:

16 17 18

19

Römer, Inga: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, Dordrecht: Springer 2010, S. 252. Zum provokativen Charakter dieser Lösung für die Philosophie vgl. ebd., S. 290-292. Ebd., S. 247. In seiner jüngsten Untersuchung hat Stefan Scharfenberg die erste Aporie Ricœurs einer Kritik unterzogen und auf die Notwendigkeit einer Korrektur an seinem Begriff der historischen Zeit hingewiesen. Scharfenberg hält Ricœurs Behauptung, beide Seiten der Aporie würden sich verbergen, für »vage« und die erste Aporie des Zeitdenkens für fragwürdig, da er darin eine Neuauflage der Subjekt-Objekt-Dichotomie erkennt, die laut Scharfenberg bereits mit Kant und spätestens mit Heidegger aus der Zeitphilosophie eliminiert wird (Scharfenberg, Stefan: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit. Zu Paul Ricœurs »Zeit und Erzählung«, Würzburg: Königshausen&Neumann 2011, S. 39). Besonders in der Philosophie Heideggers sei laut Scharfenberg die Nivellierung von der Subjekt-Objekt-Dichotomie in der existentialen Struktur des In-der-Welt-sein unumgänglich für das Verständnis der Zeitlichkeit (ebd., S. 96-97). Deshalb unternimmt Scharfenberg den Versuch einer Korrektur an Ricœurs Theorie, indem er die Problematik der Gegenwart nach Heidegger in den Mittelpunkt stellt und die erste Aporie als permanente Ekstatik der Gegenwart umdeutet. In der Konsequenz versteht er die historische Zeit nicht als Gegenstand der Konfiguration durch historiografisches Erzählen, sondern bezieht es auf die Dimension der symbolischen Präfiguration der sozialen Umwelt. Bei seiner Kritik argumentiert Scharfenberg konzeptimmanent und geht an einer wichtigen Besonderheit von Ricœurs Denken vorbei, in dem eine Metaebene für die unterschiedlichen philosophischen Zeitkonzepte etabliert wird. Ricœur betont die Produktivität einzelner philosophischer Ansätze, stellt aber durch den Vergleich ihre blinden Flecken zur Schau. So bezieht sich die Subjekt-Objekt-Dichotomie, die von Scharfenberg bei Ricœur so stark bemängelt wird, nicht auf die Strukturen des Daseins, sondern sie erklärt die Existenz von unterschiedlichen Denkweisen über die Zeit und von zahlreichen Möglichkeiten, den Zugang zur Zeit durch Erzählungen zu gestalten. Ebd., S. 248.

2. Theorie

[…] wir [können] uns zunächst fragen, ob nicht das Gebäude der Geschichte genau an der Bruchstelle zwischen der phänomenologischen Zeit und der astronomischen, physikalischen und biologischen Zeit errichtet wird – kurz, ob nicht die Geschichte in sich selbst eine Zone des Bruchs darstellt. (ZuE/B3/155) Diese Hypothese Ricœurs hat eine herausragende Bedeutung für die Definition der historischen Zeit und folglich für die vorliegende Arbeit. Der Bruch in der Zeiterfahrung wird in Erzählungen überwunden, indem die erlebte Zeit wieder in die Zeit, deren Ablauf außerhalb der menschlichen Psyche vermutet wird, eingeschrieben wird; im Prozess dieser Wiedereinschreibung wird eine spezifische Zeitqualität – die historische Zeit – geformt. Im Unterschied zu Ricœurs sorgfältiger philosophischer Herleitung definiert Bachtin seinen Zeitbegriff nur flüchtig, indem er auf das Kantsche Verständnis der Zeit als Erkenntnisform hinweist. Jedoch geht Bachtin ähnlich wie Ricœur davon aus, dass im Prozess der narrativen Vermittlung unterschiedliche Zeitqualitäten, darunter auch die spezifische Form der historischen Zeit, entstehen. In diesem Sinne relativiert er den Kantschen Zeitbegriff, wenn er die Zeit nicht als eine einheitliche und vorgegebene Erkenntnisform im Singular, sondern im Plural »als Formen der realen Wirklichkeit selbst« (Chr/8, Fußnote, m. H.) sieht.20 Wie Wolfram Eilenberger bemerkte, verbirgt sich hinter dieser relativ knappen Formulierung ein provokanter Gedankengang, der eine Pluralität der Zeitauffassungen behauptet: Je nach historischer Epoche und Entwicklungsstand, so ließe sich dieser Gedanke reformulieren, herrschen in einer Kultur und/oder in einzelnen ideologischen Sphären gewisse dominante Beschreibungsmuster vor, die eine raumzeitliche Ordnung und damit den in und mit diesen Ordnungen lebenden Menschen auch ein raum-zeitlich bedingtes Selbstverständnis vorgeben oder zumindest prägen. […] Diese Muster werden nun in der künstlerischen Gestaltung der in diesem Zeitraum gestalteten literarischen Werk-Welten in verschiedener Weise angeeignet und gegebenenfalls auch verfremdet.21

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21

Vgl. zu Bachtins Kant-Lektüre sowie zur Einordnung seiner Zeitkonzeption in die europäische philosophische Tradition bei Микешина, Л.А.: »Значение идей Бахтина для современной эпистемологии«, in: Философия науки. Вып 5: Философия науки в поисках новых путей (1999), S. 205-224, hier S. 213ff. Ein ausführlicher und kritischer Kommentar zu Bachtins Kant-Lektüre im Chronotopos-Aufsatz vgl. bei Eilenberger, Wolfram: Das Werden des Menschen im Wort. Eine Studie zur Kulturphilosophie Michail M. Bachtins, Zürich: Chronos 2009, S. 194-196. Eine konsequente Aufarbeitung der philosophischen Quellen von Bachtins Romantheorie, die neben einem detaillierten Kommentar zur Beeinflussung durch den Neo-Kanianismus Bachtins Lektüre von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Henri Bergson, Ernst Cassirer etc. berücksichtigt, vgl. bei Brandist, Craig: The Bakhtin circle. Philosophy, culture and politics, London: Pluto 2002, S. 105-132. Eilenberger: Das Werden des Menschen im Wort, S. 190.

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Historische Zeit im Narrativ

Bachtin schreibt sich in die russische Tradition der historischen Poetik ein,22 indem er die Geschichte erzählender Genres als Prozess der »Aneignung« von einzelnen Aspekten der Zeit betrachtet: Die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes sowie des – in ihnen zutage tretenden – realen historischen Menschen war ein komplizierter, diskontinuierlich verlaufender Prozeß. Angeeignet wurden immer wieder einzelne Aspekte von Zeit und Raum, die auf der jeweiligen Entwicklungsstufe der Menschheit zugänglich waren, und es bildeten sich gleichzeitig die entsprechenden genrebezogenen Methoden zur Widerspiegelung und künstlerischen Aufbereitung dieser angeeigneten Realitätsaspekte heraus. (Chr/7) Im Prozess des Wandels literarischer Formen werden also laut Bachtin unterschiedliche Aspekte der »realen historischen Zeit und des realen historischen Raums«23 ruckartig angeeignet; dokumentiert werden die Etappen dieses Prozesses im Vorrat der Erzählgenres, die für Bachtin, wie Gary Saul Morson zu Recht betont, nicht bloß Konvention, sondern Formen der Erkenntnis sind: Bakhtin’s several writings on temporality all proceed from the view that genres themselves are forms of thought that have made valuable discoveries about time, society, and human agency. Except in the case of the simplest genres, those discoveries have remained either untranscribed into formal philosophy or are largely indescribable.24 Die unterschiedlichen Formen der Erkenntnis und der Zeiterfahrung, die durch Erzählgenres zur Verfügung gestellt werden, sind für Bachtin – ähnlich wie für Ricœur – nicht in einem abstrakten Zeitbegriff zu bündeln. Ähnlich wie Ricœurs erste Aporie des Zeitdenkens spricht Bachtin von der Aufspaltung der Zeiterfahrung in zwei inkompatible Perspektiven auf die Zeit, bindet sie jedoch noch enger als Ricœur an das Phänomen der narrativen Komposition, da er sie von Anfang an nicht als Ergebnis der rein spekulativen Betrachtung, sondern als zwei Arten der Sujets versteht: Obwohl die Zeit, abstrakt gesehen, einheitlich blieb, unterlag sie doch in bezug auf das Sujet einer Zweiteilung. Die Sujets des privaten Lebens konnten auf das Leben des gesellschaftlichen Ganzen (des Staates, der Nation) nicht ausgedehnt, nicht übertragen werden; die historischen Sujets (Ereignisse) unterschieden sich nun in spezifischer Weise von den Sujets des privaten Lebens (Liebe, Ehe) […]. (Chr/142, H.i.O.)

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Vgl. Бак, Д.П.: »Эстетика Бахтина в контексте генезиса идей исторической поэтики«, in: Исупов, К.Г. (Hg.), Бахтинология: исследования, переводы, публикации, Санкт-Петербург: Алетейя 1995, S. 179-188, hier S. 179-182 und Осовский, О.Е.: »Роман в контексте исторической поэтики«, in: Куюнжич Д./Махлин В.Л. (Hg.), Бахтинский сборник, Москва: Прометей 1991, S. 312-343, hier 325ff. Bachtins Verständnis des »Realistischen« ist laut Anna Matzov durch seinen »biografischen Chronotop« bedingt, womit sie wahrscheinlich den Kontext der 30er Jahre in der Sowjetunion meint, als sich die Konzeption des Realismus in der Literaturkritik und -theorie durchsetzt (Matzov, Anna: »The Idea of Time in the Works of Bachtin«, in: Russian Literature XXVI (1989), S. 209-217, hier S. 215-216). Morson: Bakhtin, Genres, and Temporality, S. 176.

2. Theorie

Die Differenz zwischen der öffentlichen und privaten Zeit entsteht also erst durch Erzählungen, in welchen Ereignisse unterschiedlichen Ranges zu isolierten Reihen verkettet werden. Die Inkompatibilität dieser Reihen beruht auf der Divergenz ihrer Wertmaßstäbe, wobei die Unterscheidungslinien durch den Sprachgebrauch und symbolische Denkstrukturen fixiert werden: Die individuellen Lebensläufe, der Lebensverlauf der Gruppen und der des gesellschaftlich-staatlichen Ganzen fließen nicht zusammen, sondern sie divergieren, stören einander in ihrem Gang, werden mit verschiedenen Wertmaßstäben gemessen. Alle diese Reihen haben ihre eigene Entwicklungslogik und ihre eigenen Sujets, verwenden die uralten Motive auf eigene Weise und verleihen diesen einen neuen Sinngehalt. (Chr/149) Ereignisse des individuellen Lebens werden also laut Bachtin durch den »inneren Aspekt der Zeit« (Chr/151), durch den Zugang zu ihr über die Ebene des Alltags erzählbar. Die semantische Schließung dieser Reihe bewirkt aber, dass »der Lebenslauf der Gruppen und des gesellschaftlich-staatlichen Ganzen« von der Ebene des individuellen und privaten Alltags abgekoppelt wird und für die subjektive Erfahrung unzugänglich bleibt: Parallel zu diesen individuellen Lebensreihen bildet sich über ihnen – jedoch außerhalb von ihnen – die Reihe der historischen Zeit heraus, in der das Leben der Nation, des Staates, der Menschheit abläuft. Wie auch immer die allgemeinideologischen und die literarischen Konzeptionen sowie die konkreten Formen beschaffen sein mögen, in denen diese Zeit und die sich in ihr vollziehenden Ereignisse wahrgenommen werden – nie verschmilzt sie mit den individuellen Lebensreihen; sie wird mit anderen Wertmaßstäben gemessen, andere Ereignisse nehmen in ihr ihren Lauf, sie entbehrt des inneren Aspekts, es gibt keinen Blickpunkt, von dem aus sie sich von innen her wahrnehmen ließe. Wie man sich auch immer ihren Einfluß aus das individuelle Leben denken und ihn darstellen mag, ihre Ereignisse und ebenso auch ihre Sujets sind in jedem Fall andere als die des individuellen Lebens. (Chr/151, H.i.O.) Als »Leben der Nation, des Staates, der Menschheit« bleibt die kollektive Zeit subjektlos; spätestens hier wird die Ähnlichkeit von Bachtins theoretischem Konstrukt zu Ricœurs erster Aporie des Zeitdenkens deutlich. Beide Theoretiker stellen die subjektive oder phänomenologische Zeit, die Zeit des Bewusstseins oder »de[n] innere[n] Aspekt« der Zeit einer veräußerten, objektivierten und deshalb nicht unmittelbar zugänglichen Zeit gegenüber. Doch macht Bachtin auch auf ein Phänomen aufmerksam, welches in unserer Kultur so selbstverständlich ist, dass es in der interdisziplinären Diskussion zwischen der Historiografie und Literaturwissenschaft kaum berücksichtigt wurde. Ricœur streift es in einer beiläufigen Bemerkung, dass der Gegenstand der Historiografie einen »sozietären« Charakter hat (ZuE/B1/291).25 Dabei unterscheidet sich der Anspruch, die öffentliche, gesellschaftliche, soziale oder anders definierte kollektive Lebensdimension zu 25

Ricœur definiert die mythische Zeit als »Zeit der Gesellschaften«: »Die wichtigste Funktion dieser ›großen Zeit‹ besteht darin, die Zeit der Gesellschaften – und der Menschen, die in Gesellschaften leben – mit der kosmischen Zeit in Einklang zu bringen« (ZuE/B3/166).

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Historische Zeit im Narrativ

reflektieren, gravierend von der Aufgabe der Darstellung des privaten Lebens und des individuellen Bewusstseins. Daher nutze ich Bachtins Ansatz, um Ricœurs Verständnis der ersten Aporie und der historischen Zeit zu präzisieren. Die Ebene der Zeit, die für die subjektive Zeiterfahrung unerreichbar ist, kann zwar als objektive, biologische oder kosmologische Zeit verstanden werden, ihr wesentliches Element stellt jedoch auch die soziale Zeit dar, welche die Kapazitäten der individuellen Wahrnehmung übersteigt. Wenn Geschichte also eine Zone des Bruchs darstellt, so steht der subjektiven Zeiterfahrung zunächst die soziale Zeit entgegen, die eine hohe Relevanz für das Leben des Individuums hat, jedoch durch die Erzählung zunächst zugänglich gemacht werden muss. Dass die historische Zeit zwischen der individuellen Zeiterfahrung und der kollektiven Zeit vermittelt, macht Bachtin deutlich, wenn er das Adjektiv »historisch« bei seiner Beschreibung der präreflexiven Zeiteinheit in Anführungszeichen setzt und in den Klammern kommentiert: Individuelle Lebensreihen haben sich noch nicht herausgelöst, es gibt keine privaten Angelegenheiten, keine Ereignisse privaten Lebens. Das Leben ist eins, und es ist durch und durch »historisch« (um diese spätere Kategorie hier anzuwenden): Essen, Trinken, sexuelle Vereinigung, Geburt und Tod sind hier keine Momente des privaten Alltags, sondern eine gemeinsame Angelegenheit, sie sind »historisch«, sind untrennbar verbunden mit der gesellschaftlichen Arbeit, mit dem Kampf der Naturgewalten und mit dem Krieg, und sie finden in ein und denselben Kategorienbildern Ausdruck und Darstellung. (Chr/142-143) Der Begriff »historisch« wird von Bachtin an dieser Stelle mit großer Präzision eingesetzt. Er merkt ausdrücklich an, dass er hier eine »spätere« Kategorie anwendet, welche der Polarität der Zeiterfahrung entspricht und deren Verwendung für die Beschreibung der präreflexiven Einheit der folkloristischen Zeit paradox ist, jedoch den einzigen Weg darstellt, diese Einheit in Worte zu fassen. Dem Historischen kommt in dieser Wortverwendung eine vermittelnde Funktion zwischen den »Momenten des privaten Alltags« und den Dimensionen der »gesellschaftlichen Arbeit«, des »Kampf[es] der Naturgewalten« und »des Krieg[es]« zu, in denen die Dynamik der kollektiven Zeit zum Ausdruck kommt. Diese Funktion der Vermittlung ist für Bachtin nur in der narrativen Praxis möglich. Er hebt hervor, dass erst die Einschaltung des Individuellen als Instanz der Reflexion das abstrakte Denken über die Zeit ermöglicht. Seinerseits kann das abstrakte Denken die Unterscheidungen nur verfestigen, indem es Maßstäbe für die Messung unterschiedlicher Zeitqualitäten einführt: […] die Zeit der persönlichen, alltäglichen, familiären Ereignisse [wird] individualisiert und [teilt] sich von der Zeit des kollektiven historischen Lebens des historischen Ganzen ab, in denen unterschiedliche Maßstäbe auftauchten, um die Ereignisse des privaten Lebens und die Ereignisse der Geschichte (die sich nun auf verschiedenen Ebenen befanden) zu messen. (Chr/142, H.i.O.) Die Differenz der Maßstäbe, bei der die »persönlichen, alltäglichen, familiären Ereignisse« auf die Skala des individuellen Lebens verlagert werden, wird zum einen durch

2. Theorie

den Sprachgebrauch und zum anderen durch prototypische Erzählmuster gefestigt; die Verknüpfung zwischen den Reihen der individuellen Zeit des Lebens/des Alltags und der kollektiven Zeit ist nur punktuell in Form der historischen Sujets möglich. Der Begriff der Reihe, den Bachtin für die Beschreibung der Struktur der Zeitwahrnehmung einsetzt, beinhaltet den Aspekt der zeitlichen Dynamik: Die Reihen »fließen« laut Bachtin, haben einen »Verlauf«, einen »Gang«, eine »eigene Entwicklungslogik« etc. Also handelt es sich bei dem »Lebenslauf der Gruppen« nicht um die Registrierung der Elemente sozialer Wirklichkeit in ihrem statischen Zustand, sondern um den Nachvollzug der zeitlichen Dynamik des Kollektiven in Form des kollektiven Wandels. Diese Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung, denn die synchrone Sicht auf die Gesellschaft erfordert andere Darstellungsmodalitäten als die Diachronie, die in erster Linie mit Vorstellungen der Veränderung, des Vorgangs, des Wandels verbunden ist. Diesen Wandel zu erzählen und auf diesem Wege erfahrbar zu machen, verstehe ich im Anschluss an Bachtin als die zentrale Funktion der historischen Zeit. Damit macht sich innerhalb der Vermittlungsstruktur der historischen Zeit eine doppelte Vermittlung bemerkbar: Zum einen geht es um die Verschränkung der Reihen der subjektiven Erfahrung und der kollektiven Zeit, zum anderen vermittelt die historische Zeit in ihrer Dynamik zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Diese zweite Ebene der Vermittlung deutet auch Ricœur mit seiner zweiten Aporie des Zeitdenkens, der Aporie der Ganzheit oder Totalität an. Er betont ausdrücklich, dass das spekulative Denken für eine detailliertere und exaktere Sicht auf das Phänomen der Zeit mit dem Preis der höheren Widersprüchlichkeit bezahlen muss, und nimmt dafür Heideggers Begründung der Ganzheit der Zeit aus der »Struktur der Sorge«, seine Einheit von drei Zeitekstasen (Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart) und seine Hierarchie von Stufen der Zeitigung (Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit und Innerzeitigkeit) als Beispiel. Die Beobachtung der Ganzheit der Zeit bei Heidegger führt Ricœur zur Erkenntnis, dass es durch die Ableitung der Geschichtlichkeit und Innerzeitigkeit aus der radikalen Zeitlichkeit zu einer starken Dispersion des Zeitbegriffs kommt (ZuE/B3/108). Je mehr man versucht, sich der Ganzheit der Zeit zu nähern, desto stärker wird diese Dispersion. »Doch woher wissen wir, daß die Zeitlichkeit versammelt, trotz der Macht der Dispersion, die sie unterminiert?« (ZuE/B3/408) – diese Frage trifft den Kern der zweiten Aporie Ricœurs: Ursache dieser zweiten Aporie ist die Aufspaltung in drei Zeitekstasen: Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart, trotz der Tatsache, daß wir den Begriff der Zeit zwangsläufig als einen Kollektivsingular denken. Immer sagen wir: die Zeit. (ZuE/B3/400, H.i.O.) Die zweite Aporie der Zeitlichkeit hat gegenüber der ersten eine übergeordnete Stellung: »Die zweite Aporie der Zeit umschließt Ricœur zufolge die erste, indem sie nicht nur die Problematik von gerichteter und geordneter Zeit hervorhebt, sondern die Einheit der Ekstasen oder Zeitpunkte überhaupt in Frage stellt.«26 Auch die historische Zeit kann diese Aporie nicht ganz auflösen, sondern ihr nur die Struktur der »unvollkommenen Vermittlung« entgegensetzen (ZuE/B3/413).

26

Römer: Das Zeitdenken, S. 277.

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Historische Zeit im Narrativ

Diese »unvollkommene Vermittlung« lässt sich als eine doppelte Vermittlung ansehen, die nicht nur die subjektive Zeiterfahrung mit der kollektiven Zeit innerhalb einer Erzählung verschränkt, sondern auch die Bewegung der Zeit im Verlauf der Erzählung zu einer Art dynamischer Einheit modelliert, die sich in die Ebenen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft aufspaltet. Als praktische Lösung der zweiten Aporie verleiht die historische Zeit der kollektiven Zeit die Eigenschaft der Dynamik. Der dynamische Ablauf, bei dem die Vergangenheit und Zukunft mit der Gegenwart verknüpft werden, bietet auch für Bachtin ein zentrales Merkmal der Erzählung im Allgemeinen und der historischen Zeit im Besonderen: »Dort, wo keine Zeit abläuft, gibt es auch kein Moment der Zeit in der vollen und grundlegenden Bedeutung dieses Wortes.« (Chr/74) Diese Eigenschaft der zeitlichen Dynamik bezeichnet Bachtin mit dem Begriff »Zeit-Ganzheit« (Chr/74). Ohne diese Zeit-Ganzheit ist keine Erzählung möglich, doch kann sie laut Bachtin in unterschiedliche Richtungen verlaufen (darauf gehe ich unten im Kapitel 3.2.2.3. »Historische Zeit und das Romangenre« ausführlicher ein). Als eine doppelte Vermittlungsstruktur, die eine narrative Antwort auf die erste und die zweite Aporie Ricœurs bietet, lässt sich die historische Zeit im Anschluss an Bachtin als eine lineare und zukunftsgerichtete Struktur beschreiben, die auf narrativen Verfahren basiert und ohne sie nicht existieren kann. Die Grenzen der historischen Zeit und der Narrativität markiert Ricœur anhand der dritten Aporie des Zeitdenkens, welche die »Unerforschlichkeit« der Zeit thematisiert. Demnach wird die Zeit immer automatisch vorausgesetzt, bevor das Denken anfängt, deshalb kann die Zeit rational kaum erforscht werden: Die Aporie taucht im Moment auf, wo sich die Zeit, die sich jedem Versuch, sie zu konstituieren entzieht, als einer konstituierenden Ordnung zugehörig erweist, die von der Arbeit der Konstitution immer schon vorausgesetzt wird. Und genau dies drückt das Wort »unerforschlich« aus […]. (ZuE/B3/417) Diese letzte Aporie ist unlösbar und markiert auch die Wirkungsgrenzen der narrativen Mechanismen. Dem jüngsten Argument von Natalie Moser zufolge stellt sich die »Undarstellbarkeit« der Zeit in Ricœurs dritter Aporie »nicht aufgrund fehlender Darstellungsmöglichkeiten, sondern aufgrund einer unbegrenzte[n] Vielfalt von Möglichkeiten« ein.27 Folgt man Jürg Zbinden, der durch das Heranziehen anderer Werke von Ricœur den fundamentalen Krisengedanken rekonstruierte, welcher sich bei Ricœur u.a. hinter den Aporien des Zeitdenkens und der narrativen Lösung verbirgt und sich laut Zbinden »bei aller Komplexität« auf »ein einfaches Schema von ›Krise-Rettung‹« zurückführen lässt,28 so muss man feststellen, dass Erzählungen lediglich eine praktische Lösung für die erste und eine partielle Lösung für die zweite Aporie anbieten können. Die dritte Aporie bedeutet aber eine Krise, aus der es keine Rettung mehr gibt: 27 28

Moser, Natalie: Die Erzählung als Bild der Zeit. Wilhelm Raabes narrativ inszenierte Bilddiskurse, Paderborn: Fink 2015, S. 69. Zbinden, Jürg: »Krise und Mimesis. Zur Rekonstruktion und Kritik von Paul Ricœurs Begrifflichkeit in ›Zeit und Erzählung‹«, in: Stückrath, Jörn/Zbinden, Jürg (Hg.), Metageschichte – Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden: Nomos 1997, S. 180-198, hier S. 198.

2. Theorie

die Vielfalt der Zeitzugänge, die durch die erzählerische Gestaltung eröffnet werden, können nicht durch den Kollektivsingular »die Zeit« totalisiert werden. Von der gleichen Vorstellung, dass der Erschließung der Zeit sowohl auf dem spekulativen als auch auf dem narrativen Wege Grenzen gesetzt sind, geht Michail Bachtin aus. Auf die Schwierigkeiten, die Zeit als einen Sammelbegriff zu verwenden, in dem alle Formen der Zeiterfahrung totalisiert werden könnten, weist Bachtin bei seiner Definition der »folkloristischen Zeit« hin. Sie wird von Bachtin als eine Einheit der Zeiterfahrung beschrieben, die als »starkes und differenziertes Gefühl für die Zeit« nur auf der »Basis der kollektiven Landarbeit« entstehen konnte (Chr/139) und sich im modernen Sprachgebrauch lediglich indirekt beschreiben lässt, wenn man hinter die gegenwärtigen Differenzierungen zurücktritt: Die Zeit ist durch eine allgemeine Tendenz nach vorn (im Arbeitsakt, in der Bewegung, im Handeln) charakterisiert. Diese Zeit ist eine zutiefst räumliche und konkrete Zeit. Sie ist nicht vom Boden und von der Natur losgelöst. Sie ist – wie auch das ganze Leben des Menschen – durch und durch äußerlich. Das agrarische Leben der Menschen und das Leben der Natur (der Erde) werden mit ein und denselben Maßstäben gemessen und nach ein und denselben Ereignissen dimensioniert, haben die gleichen Intervalle, sind voneinander nicht zu trennen und in einem einzigen (unteilbaren) Akt der Arbeit und des Bewußtseins gegeben. Das menschliche Leben und die Natur werden in ein und denselben Kategorien erfaßt. […] Diese Zeit ist dicht, unumkehrbar (innerhalb des Zyklus), realistisch. Diese Zeit ist eine durch und durch einheitliche Zeit. (Chr/142, m.H.) Bachtins Charakteristik der folkloristischen Zeit gehört zu den eindrucksvollsten Stellen des Chronotopos-Aufsatzes. Sie variiert ein reiches Repertoire an Ausdrücken für Einheitlichkeit (vgl. Hervorgehobenes) und endet in einer Tautologie: Die Formulierung »eine durch und durch einheitliche Zeit« markiert die Stelle, an der die Gedankengänge in einem unlösbaren Dilemma enden. Die Zeit der Folklore ist als eine absolute Einheit mehr als die Summe späterer Erscheinungen, in die sie sich aufgeteilt hat, sie ist jedoch für das moderne Bewusstsein nur vor dem Hintergrund dieser Spaltung wahrnehmbar. In der Folge spricht Bachtin diese epistemologische Schwierigkeit ausdrücklich an: »Diese durchgängige Einheit erschließt sich vor dem Hintergrund der späteren Zeitauffassungen in der Literatur (und allgemein in der Ideologie).« (Chr/142) Im Weiteren hebt er hervor: Natürlich haben wir die Folklorezeit vor dem Hintergrund unseres eigenen Zeitbewußtseins charakterisiert. […] Mit dieser Zeit arbeiteten und lebten die Menschen, doch konnte man sich ihrer freilich nicht bewußt werden und sie nicht in einem abstrakten Erkenntnisvorgang herausstellen. (Chr/143) Es sei noch einmal unterstrichen: Die hier untersuchte Nachbarschaft war dem urzeitlichen Menschen nicht in einem abstrakten Denken oder Betrachten gegeben, sondern im Leben selbst, in der kollektiven Auseinandersetzung mit der Natur, im kollektiven Konsum der Früchte der Arbeit und in der kollektiven Sorge um das Wachstum und die Erneuerung des gesellschaftlichen Ganzen. (Chr/145)

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Historische Zeit im Narrativ

Die Folklore-Zeit wird somit als eine präreflexive Einheit beschrieben, die dem abstrakten Denken vorausgeht, aus deren Untergang das abstrakte Denken ja erst entsteht, die aber dadurch begrifflich ungreifbar bleibt. Als blinder Fleck kann sie nur da erahnt werden, wo Erkenntnis aufhört. Die Präreflexivität der Folklore-Zeit verdeutlicht gut die Aporie von der »Unerforschlichkeit« der Zeit, die sich dem Denken entzieht und daher hinter dem Horizont der Zeitphilosophie liegt. Dem könnte man mit Ricœurs Frage entgegnen: »Doch woher wissen wir, daß die Zeitlichkeit versammelt, trotz der Macht der Dispersion, die sie unterminiert?« (ZuE/B3/408) Dabei ist es interessant, dass auch Ricœur in »Zeit und Erzählung« flüchtig an die Existenz einer verlorenen Einheit der »mythischen Zeit« appelliert, in der man eine nicht ausgewiesene Anleihe Ricœurs bei Bachtin vermuten könnte. Diese Zeiteinheit wird von Ricœur der historischen Zeit direkt entgegenstellt: Im Gegensatz zu der historischen Zeit als einem Versuch, die Pole der zerrissenen Zeiterfahrung mühsam zusammenzuflicken, geht die mythische Zeit hinter jegliche Art von Unterscheidung zwischen den Ebenen der Zeiterfahrung und bietet eine fundamentale Voraussetzung für ihre Existenz. So bietet die historische Zeit laut Ricœur […] in vieler Hinsicht bloß de[n] Schatten, der von einer sehr viel bedeutungsschwereren Entität, zu der der Name der Einführung und erst recht der der Invention nicht mehr passen will, auf das Gebiet der historischen Praxis geworfen wird: diese Entität wird bloß global und oberflächlich bezeichnet, wenn man sie die mythische Zeit nennt. (ZuE/B3/166, H.i.O.) Die Begriffe der Einführung und Invention werden von Ricœur für unpassend erklärt, weil die mythische Zeit dem Begriff der Innovation mit seiner zeitlichen Komponente vorausläuft; sie geht der zeitlichen Ausdehnung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voraus und transzendiert – ähnlich wie die folkloristische Zeit bei Bachtin – die reflexiven Erfahrungsstrukturen. Deshalb liegt sie hinter dem Horizont unseres Zeitverständnisses und markiert genau die Stelle, an der Zeit sich dem spekulativen Zugang verweigert. Folgerichtig werden im Begriff der mythischen Zeit die ersten zwei Aporien des Zeitdenkens mit ihrer Dispersion des Zeitbegriffs außer Kraft gesetzt. Deshalb heißt es in Ricœurs Beschreibung der mythischen Zeit, dass »man hinter die Zersplitterung in endliche, historische und kosmische Zeit zurückgehen [muss] – eine Zersplitterung, die bereits vollzogen ist, wenn unsere Meditation anhebt […]« (ZuE/B3/166). Vor dem Hintergrund dieser verlorenen Zeiteinheit bietet die historische Zeit lediglich einen Ersatz: In der Zone des Bruchs bringt sie lediglich eine temporäre Horizonterweiterung der subjektiven Zeiterfahrung hervor, die auf die Zeitabläufe außerhalb der menschlichen Psyche gerichtet ist.

2.2

Narratologische Grundlegung: Die historische Zeit in der Fabelkomposition einer Erzählung

Auf welche Eigenschaften oder Elemente der Narrative stützt sich die historische Zeit bei ihrer Vermittlung in der Zone des Bruchs zwischen der subjektiven Zeiterfahrung und der kollektiven Zeit? Und wie lässt sie sich analytisch erforschen? Die Antwort auf

2. Theorie

diese Fragen setzt sich aus zwei Aspekten zusammen. Zum einen muss geklärt werden, inwieweit das narratologische Instrumentarium für die Analyse der historischen Zeit geeignet ist. Diesen Schritt führe ich im vorliegenden Kapitel anhand von Ricœurs und Bachtins Thesen zum Zusammenhang zwischen der Zeit und der Fabel/dem Sujet einer Erzählung aus. Dabei bennenne ich nach Ricœur die wichtigen Kritikpunkte am Instrumentarium der strukturalistischen Narratologie und skizziere anhand von Bachtins Schema der chronotopischen Analyse einige Wege für die Behebung dieser methodologischen Desiderate. Zum anderen systematisiere ich die Angaben zur historischen Zeit, die Ricœur und Bachtin an unterschiedlichen Stellen machen, um den Begriff der historischen Zeit in seinem Zusammenhang mit dem Phänomen der Erzählung strukturiert zu beschreiben.

2.2.1

Fabelkomposition und chronotopische Analyse

Die grundlegende Eigenschaft von Erzählungen, Zeitlichkeit zum Ausdruck zu bringen, wird von Ricœur im dynamischen Charakter der Fabelkomposition begründet. In Anlehnung an die »Poetik« von Aristoteles erarbeitet Ricœur das Modell der »dissonanten Konsonanz« und bezeichnet es als »ein Gegenstück zur distentio animi« (ZuE/B1/71-72) des Hl.Augustinus. Die Überwindung der Zerrissenheit der menschlichen Zeiterfahrung durch die Ausdehnung der menschlichen Seele korreliert laut Ricœur mit »der schöpferischen Nachahmung der lebendigen Zeiterfahrung vermittels der Fabel« (ZuE/B1/54), die er mithilfe des aristotelischen Begriffspaars »mimēsismythos« beschreibt. Dabei zieht es Ricœur vor, statt von der »Fabel« als einem Element des erzählenden Textes von der »Fabelkomposition« als einer Tätigkeit zu sprechen, die »ein Hervortreiben des Intelligiblen aus dem Akzidentellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen« ermöglicht (ZuE/B1/71) und durch Vermittlung zwischen den Elementen einer Erzählung eine Totalität zeitlicher Natur bildet. Diese Fähigkeit des aristotelischen mythos differenziert Ricœur anhand der Zerlegung der Problematik der mimēsis in das Modell der dreifachen mimēsis mit der Trias Präfiguration-Konfiguration-Refiguration.29 In ihrem Mittelpunkt steht die Entstehung und Entfaltung einer Erzählung als dynamischer Zusammenhang, bei dem drei Prozesse im zeitlichen Nacheinander ablaufen: die Präfiguration (mimēsis I), 29

Das Modell der dreifachen mimēsis geht bei Ricœur über die Problematik der Zeitlichkeit hinaus und bietet die Möglichkeit einer Differenzierung von Text-Kontext-Beziehungen und ihrer Verankerung in der mimetischen Tätigkeit sowie dem kulturellen Wissen und Handeln. Ricœur weist in dieser Hinsicht darauf hin, dass das literarische Werk in seiner Wirkung nicht nur, wie Aristoteles in seiner Poetik hervorhebt, »Lust am Verstehen und am Empfinden von Furcht und Mitleid« fördert, sondern »eine Welt entfaltet, die der Leser sich aneignet. Es ist dies eine kulturelle Welt« (ZuE/B1/85-86, H.i.O.). Die Zeitlichkeit bietet dabei ein wesentliches Merkmal dieser Welt, ihr Verhältnis zu der Welt des Lesers ist aber Bestandteil einer breiteren Problematik: »Die Hauptachse einer Theorie der Referenz nach dem Werk verläuft durch das Verhältnis zwischen Dichtung und Kultur« (ZuE/B1/86). Als Beispiel einer Anwendung von Ricœurs Modell vgl. Jonas Grentlein »Narrative Referenz: Ereignishaftigkeit und Erzählung« (Grenthlein, Jonas: »›Narrative Referenz‹. Erfahrungshaftigkeit und Erzählung«, in: Breyer, Thiemo/Creutz, Daniel (Hg.), Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin: de Gruyter 2010, S. 21-39, hier S. 21-39).

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Historische Zeit im Narrativ

die Konfiguration (mimēsis II), die Refiguration (mimēsis III). Für diese Prozesse verwendet Ricœur auch die Bezeichnung »Stufen«. Die erste Stufe betrifft das Vorverständnis über die Elemente der Erzählung, die der Autor seiner Lebensumwelt entlehnt, indem er bei seinem Publikum »eine Vertrautheit mit Begriffen wie Handelnder, Ziel, Mittel, Umstand, Hilfe, Feindseligkeit, Kooperation, Konflikt, Erfolg, Mißerfolg usw.« voraussetzt (ZuE/B1/92). Mimēsis I greift aber auch auf die symbolischen Ressourcen der Kultur, insbesondere auf die kulturell überlieferte Typologie und auf die »symbolischen Ressourcen des Praktischen«, d.h. auf die Zeichen, Regeln und Normen des Handelns zurück (ZuE/B1/93-94). Die »zeitlichen Kennzeichen« der Erzählung betrachtet Ricœur als einen besonderen Aspekt der Präfiguration und spricht von einer »pränarrativen Struktur der Zeiterfahrung«, die aus der existentiellen Konstante der menschlichen Erfahrung hervorgeht, zeitlebens in Geschichten verwickelt zu sein (ZuE/B1/98). Mimēsis II betrifft die innere poetische Ebene, auf der die unterschiedlichen Elemente der mimēsis I zu einer Erzählung komponiert oder konfiguriert werden. Die führende Rolle in diesem Prozess übernimmt bei Ricœur die Fabel, die nach Ricœur eine vermittelnde Funktion hat. Erstens macht sie aus den Ereignissen oder Vorfällen eine ganzheitliche Geschichte, zweitens verbindet sie heterogene Faktoren wie »Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, Umstände, unerwartete Resultate usw.« miteinander und drittens vermittelt sie »ihre eigenen Zeitmerkmale« (ZuE/B1/105-106). In den Mittelpunkt der mimetischen Tätigkeit stellt Ricœur also die Fabelkomposition und versteht sie vor allem als »Synthese des Heterogenen«, in deren Ablauf aus einer Vielzahl heterogener Elemente eine zeitliche Simulation entsteht. Mimēsis III bezeichnet den Akt des Lesens, in Ricœurs Terminologie der Refiguration, durch welche ein Leser den Text in die eigene Handlungswelt übersetzt. Dieser Faktor ist zentral für die Wirkung der Erzählungen und wird im dritten Band von »Zeit und Erzählung« im Kapitel zur »Welt des Textes und Welt des Lesers« zu einer Theorie der Lektüre ausgebaut. Im Hinblick darauf formuliert Ricœur außerdem im dritten Band von »Zeit und Erzählung« seinen »Entwurf einer Hermeneutik des historischen Bewußtseins«. Indem sich die Fabel über die drei Stufen der mimēsis entfaltet, greift sie auf die Ebene der mimēsis I auf die symbolischen Ressourcen einer Kultur zurück und konfiguriert sie auf der Ebene der mimēsis II zu einer Erzählung als einer »Synthese des Heterogenen«. Ihre Leistung sieht Ricœur aber nicht bloß durch die erzählerische Konfiguration hergestellt, sondern durch den Prozess der Refiguration bedingt, wenn der Leser mit seinem Bedürfnis nach Konsonanz in einem wie auch immer fragmentarischen Erzähltext nach Handlungsabläufen sucht. Ricœurs Modell der dreifachen mimēsis benennt somit die Stufen von der Produktion zur Rezeption einer Erzählung; ihr wesentlicher Beitrag im Kontext der vorliegenden Arbeit besteht in ihrem besonderen Verständnis für die Erzählung als einem dynamischen Prozess der Weltinterpretation. Darin wird Erzählungen besonders auf der zweiten Stufe der Konfiguration eine interne zeitliche Dynamik zugesprochen, die Ricœur mit dem Begriff der »(Fabel-)Komposition« bezeichnet. Dieses Verfahren der Komposition betrachte ich in meiner Romanalyse als einen Prozess, der von der Formierung einer prinzipiellen Übereinkunft über die Grundeigenschaften der fiktiven Welt

2. Theorie

im Prozess der narrativen Selektion zu der Entfaltung der internen zeitlichen Dynamik der Erzählung und ihrem Nachvollzug durch den Leser führt. Eine solche Perspektive auf die Erzählung als ein dynamisches Gebilde, das entsteht und sich entwickelt, erfordert eine Erweiterung der herkömmlichen erzähltheoretischen Analyseverfahren, wie ich anhand von Ricœurs Kritik strukturalistischer Narratologie darstelle. Das dynamische Zeitverständnis wird, wie Ricœur in einer umfangreichen Kritik der strukturalistischen Ansätze zur Fabelanalyse moniert, von den taxonomisch ausgerichteten Ansätzen der zeitgenössischen Literaturwissenschaft weitgehend ausgeblendet. Aus einer Vielzahl der strukturalistischen Fabelkonzepte greift Ricœur drei Ansätze heraus: Wladimir Propps Morphologie des Märchens, Claude Bremonds Logik der Erzählung und Algirdas Julien Greimas narrative Semiotik.30 Ricœurs Kritik richtet sich gegen die Tendenz zur Entchronologisierung der Erzählung. Ihre Ursache sieht er in der Logifizierung der Erzählung, die im Strukturalismus und insbesondere von Propp, Brémond und Greimas durch die Übertragung der linguistischen und textlinguistischen Methoden auf die erzählende Texte vorangetrieben wurde.31 Diese Übertragung deutet Ricœur im Zeichen der Notwendigkeit, einen neuen Zugang zu literarischen Texten zu etablieren, die »schon in Netzen einer Symbolbildung befangen sind« (ZuE/B2/57). Im Kontext herkömmlicher Interpretationspraktiken, darunter auch der hermeneutischen Vorgehensweise, bietet die »neue Rationalität« strukturalistischer Konzepte die Möglichkeit, Tiefenstrukturen literarischer Erzählungen zu untersuchen. Doch läuft die Betrachtung der Tiefenstruktur laut Ricœur auf die Etablierung von logifizierenden Modellen hinaus, welche die Vielfalt von Erzählungen auf Keimstrukturen reduzieren. Diesen zentralen Kritikpunkt formuliert Ricœur in seiner Auseinandersetzung mit der Handlungsanalyse von Wladimir Propp. In Propps Klassifikation der Funktionen des Märchens erkennt er ein Mittel dafür, Märchen der wissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen: […] die Fragmentierung nach Funktionen, die Gattungsbestimmung der Funktionen und ihre Anordnung auf einer einzigen Achse sind Operationen, die den kulturellen Ausgangsgegenstand in einen Gegenstand der Wissenschaft verwandeln. (ZuE/B2/67) Durch die strukturalistische Analyse wird also der Text als Gegenstand wissenschaftlicher Praxis konstruiert: Aus einem Märchen als »kulturellem Alltagsgegenstand« wird ein »Produkt der analytischen Rationalität«. Bei dieser Verwandlung tritt an die Stelle eines bestimmten Märchens ein Modell, in dem laut Ricœur die Individualität einer Märchenerzählung verlorengeht: »Das von Propp rekonstruierte Ur-Märchen ist kein Märchen; als solches wird es von niemandem und niemandem erzählt.« (ZuE/B2/67) 30

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Dadurch setzt sich Ricœur unterschwellig gegen die erzähltheoretischen Konzepte ab, die die Spezifik der Erzählung primär im Akt des Erzählens sehen und die Dimension der Handlung als einen sekundären Aspekt betrachten. Zur breiten und engen Definition des Narrativen vgl. Nünning/Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen, S. 5-10; Überblick über unterschiedliche Narrativitätskonzepte vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, Berlin: de Gruyter 2008, S. 1-7. Wie N. Panʹkov betonte, kritisierte auch Bachtin den »abstrakten Objektivismus« der strukturalistischen Modelle in seinem Buch »Marksizm i filosofija jazyka«, das unter dem Namen von V. Vološinov erschienen ist (vgl. Паньков, Н.А.: »М. М. Бахтин и теория романа«, in: Вопросы литературы (2007), S. 252-315, hier S. 274).

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Historische Zeit im Narrativ

Diese Kritik vertieft Ricœur bei seiner Auseinandersetzung mit der Grammatik der Erzählung von Claude Bremond. Bremonds Inventar der narrativen Funktionen und Rollen macht die Fabelkomposition laut Ricœur zur bloßen »Rollenkombinatorik«. Im Gegensatz dazu besteht Ricœur darauf, dass »eine wie immer verzweigte Nomenklatur noch keine erzählte Geschichte [ergibt]« (ZuE/B2/76). Doch woraus ergibt sie sich, oder anders formuliert: Worin sieht Ricœur das Entscheidende für das Verständnis einer Erzählung? Am deutlichsten tritt es bei seiner Betrachtung des Aktantenmodells von Algirdas Julien Greimas hervor, das Ricœur als einen Versuch versteht, »ein streng zeitloses Modell zu konstruieren und die unaufhebbar diachronischen Aspekte der Erzählung […] durch die Einführung von geeigneten Transformationsregeln abzuleiten« (ZuE/B2/78). Die Achronie des Aktantenmodells äußert sich laut Ricœur in der Einführung von formalisierten Transformationsformen wie Prüfung, Suche und Kampf. Diese Lösung besticht zwar durch ihre Eleganz, stellt jedoch einige Elemente der Tiefenstruktur in den Vorder- und die individuelle zeitliche Dynamik in den Hintergrund der Betrachtung (ZuE/B2/80ff.). Dabei bezweifelt Ricœur grundsätzlich, ob die Spezifik eines literarischen Textes durch die Realisierung einer Tiefenstruktur erkannt werden kann: Wie vielfältig sind Wege, auf denen die Fabel »Krise« und »Auflösung« einander zuordnet! Und wie vielgestaltig sind die Arten, den Helden (oder den Antihelden) durch den Verlauf der Fabel zu verändern! Ist es überhaupt gewiß, daß sich jede Erzählung auf diese topologische Matrix projizieren lässt, die zwei Programme, eine polemische Beziehung und eine Wertübertragung umfaßt? Unsere frühere Untersuchung der Metamorphosen der Fabel läßt uns daran zweifeln. (ZuE/B2/102) Die Spitze von Ricœurs Kritik richtet sich also gegen die hohe Verallgemeinerungsebene der strukturalistischen Modelle, die für ihn insoweit an Erkenntnis einbüßen, als durch den Schwerpunkt auf Taxonomie und Modellbildung die Individualität einer Erzählung überblendet wird. Dabei schwindet aus dem Fokus der wissenschaftlichen Textanalyse exakt das, worin Ricœur das Wesen der Fabelkomposition erblickt – die Synthese von heterogenen Elementen zu einer Handlung. Im Gegensatz dazu will Ricœur »den Primat der fabelkomponierenden Tätigkeit gegenüber jeder Art von statischer Struktur, von zeitlosen Paradigmen, von überzeitlichen Varianten« verteidigen (ZuE/B1/57). Die Entstehung zeitlicher Totalität innerhalb von Erzählungen lässt sich laut Ricœur nicht anhand der kombinatorischen Möglichkeiten semiotischer Modelle oder anhand der Untersuchung der achronischen Tiefenstrukturen begreifen. Ricœur weist dabei auf den Umstand hin, dass die strukturalistische Modellbildung als »neue Rationalität« auf der Praxis der Textlektüre und -interpretation traditioneller Natur beruht. Diese Praxis ist im alltäglichen Umgang mit Erzählungen verankert und stellt eine grundlegende kulturelle Kompetenz dar, auf der auch die wissenschaftliche Textanalyse basiert. Deshalb ist die letztere als eine Art sekundärer Textlektüre immer interpretationsabhängig, auch wenn sie objektive wissenschaftliche Modelle produziert. Dieser zweite Kritikpunkt an der strukturalistischen Narratologie stellt ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit in Frage. Die hermeneutische Basis seiner Theorie tritt deutlich zum Vorschein, wenn Ricœur sich fragt,

2. Theorie

[…] ob die sogenannte Oberflächengrammatik nicht reicher an narrativen Potenzialitäten ist als die Tiefengrammatik und ob die wachsende Anreicherung des Modells im Laufe des semiotischen Fortgangs nicht auf unserer Kompetenz, eine Geschichte nachzuvollziehen, und auf der Vertrautheit mit der narrativen Tradition beruht, die wir erworben haben. (ZuE/B2/95) Damit plädiert Ricœur zum einen für eine Beschäftigung mit der sogenannten »Oberflächengrammatik« der Erzählung, die aus seiner Sicht weit ergiebiger als die Tiefenstruktur ist, und zum anderen für eine Interpretation der Erzähltexte, die schwerpunktmäßig auf der Dimension der kulturellen Kompetenz und der traditionellen Praktiken der Textauslegung beruhen soll. In seinen Romananalysen liefert Ricœur solche Versuche einer individuellen Annäherung an die Romanfabeln. Er hebt besonders hervor, dass, obgleich die Fiktionen die komplexe und aporetische Struktur der menschlichen Erfahrung thematisieren, diese fiktionalen Zeiterfahrungen sich keinem Oberbegriff unterordnen lassen, »nicht totalisierbar« sind (ZuE/B3/202). Ihren eigenständigen Wert erhalten die Phantasievariationen über die Zeit für Ricœur insbesondere dadurch, dass sie über die Grenzen der phänomenologischen Betrachtung hinausgehen, also sich nicht nur darauf beschränken, »die Themen der Phänomenologie zu illustrieren oder zu konkretisieren«, sondern »das ganze Feld der existentiellen Möglichkeiten aufzeigen«, denen sich die Phänomenologie durch ihre Reduktionsmethode versperrt (ZuE/B3/221). Drei Romane – »Mrs. Dalloway« von Virginia Woolf, »Zauberberg« von Thomas Mann und »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« von Marcel Proust – bieten für Ricœur drei unterschiedliche Versuche, sich dem Problem der Zeiterfahrung in der Erzählung zu nähern, da »jede fiktive Zeiterfahrung […] uns ihre eigene Welt vor Augen [führt], und jede dieser Welten ist singulär, unvergleichlich, einzigartig« (ZuE/B3/202). Laut Ricoeur wird innerhalb von jeder literarischen Erzählung eine eigene Herangehensweise an das Problem der Zeit entwickelt, wobei sie »variable Antworten für ein und dieselbe Aporie anzubieten hat, dabei aber zugleich die Problemstellung variiert« (ZuE/B3/208). Diese Variabilität, die Ricœur der erzählenden Literatur bescheinigt, ist aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive insoweit nachteilig, als er die Romane grosso modo als literarische Fiktionen behandelt und über die strukturellen Momente hinwegsieht, die in jedem literarischen Werk durch literarische Tradition und Genreschemata vorgegeben sind. Außerdem befindet sich Ricœur in »Zeit und Erzählung« trotz seiner Kritik der strukturalistischen Logifizierung auf halbem Weg zwischen den Ansätzen strukturalistischer Textanalyse und hermeneutischer Textauslegung,32 wenn er in seinem Modell der dreifachen mimēsis den Versuch einer Modellbildung unternimmt. Diese innere Diskrepanz von Ricœurs Ansatz resultiert m.E. aus dem Wechsel zwischen der hohen Theoretisierungsebene der Zeitphilosophie und dem analytischen Ansatz in »Zeit und Erzählung«. Der Link dazwischen ist in Ricœurs Theorieentwurf kaum vorhanden und

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Vgl. den kritischen Kommentar zu Ricœurs Versuchen, Hermeneutik mit der strukturalistischen Narratologie zu verbinden, bei Petterson, Bo: »Narratology and Hermeneutics: Forging the Missing Link«, in: Heinen, Sandra/Sommer, Roy (Hg.), Narratology in the age of cross-disciplinary narrative research, Berlin, New York: de Gruyter 2009, S. 11-34, hier 12-14, 17.

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Historische Zeit im Narrativ

muss in der vorliegenden Untersuchung erst gesucht werden, wobei die Frage prinzipiell offen bleibt, inwieweit die Modellbildung der Analyse der konkreten Texte dienlich ist. Ein gesundes Maß hierfür lässt sich allgemein wohl kaum festlegen: Jede Untersuchung, auch die vorliegende, stellt in dieser Hinsicht eine Gratwanderung dar. Diesbezüglich kann Bachtins Betrachtung des Chronotopos im Spannungsfeld zwischen den Konventionen des Genres und ihrer individuellen Auslegung durch den Autor der Erzählung eine sinnvolle Ergänzung zu Ricœurs Theorie bieten. Ähnlich wie Ricœur sieht Bachtin in der Zeitlichkeit mehr als die chronologische Anordnung von Ereignissen. Dabei muss sich Bachtin nicht erst wie Ricœur in »Zeit und Erzählung« von Gérard Genettes Kategoriensystem distanzieren, da es zu Bachtins Lebzeiten noch nicht existierte. Das Gleiche gilt für die strukturalistische Unterscheidung zwischen »histoire« und »discourse« oder »plot« und »story«, die für die Etablierung von Genettes Kategorien der Zeitanalyse eine so wichtige Rolle spielen. In seiner Argumentation scheint Bachtin keinen besonderen Wert auf die Differenzierung zwischen »Fabel« und »Sujet« zu legen, obwohl er sie aus dem Kontext des russischen Formalismus kennt.33 Bei seiner Distanzierung von der Literaturtheorie formalistischer Prägung spielt – wie Michael Holquist treffend formuliert hat – Bachtins Zeitbegriff eine große Rolle: Bakhtin differs from the Formalists in not accepting […] a distinction between »conventional« and »real« time. In his Neo-Kantian view, time in real life is no less organized by convention than it is in literary text.34 Im Vergleich zu den Kategorien der Formalisten, die sich an der chronologischen Ordnung der Ereignisse und ihrer Präsentation in der Erzählung orientieren, eröffnet Bachtins Kategorie des Chronotopos den Weg zur qualitativen Auswertung der Zeitform einer Erzählung. In Bachtins Theorie, die in der Bachtinforschung mehrfach als ein Begriffssystem hermeneutischer Provenienz, das zwischen Philologie und Philosophie angesiedelt ist,35 betrachtet wurde, bildet die Kategorie des Chronotopos, ähnlich wie 33

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Zur Bachtins Kritik der formalistischen Begriffe vgl. Жилко, Б.: »Заметки о бахтинской концепции ›большого времени‹«, in: Максимовская, Л.М. (Hg.), Невельский сборник. Статьи и воспоминания. Выпуск 1, Санкт-Петербург: Акрополь 1996, S. 89-95, hier S. 93 (das Genre); Bruhn, Jørgen/Lundquist, Jan: »Introduction: A Novelness of Bakhtin?«, in: Bruhn, Jørgen (Hg.), The novelness of Bakhtin. Perspectives and possibilities, Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2001, S. 11-50, hier S. 21 (»Verfremdung«); Просцевичус, В.Э.: »О категориях ›сюжет‹ и ›фабула‹ в поэтике Бахтина«, in: Исупов, К.Г. (Hg.), М. М. Бахтин и философская культура ХХ века. Проблемы бахтинологии, Санкт-Петербург: РГПУ им. Герцена 1991, S. 95-98 (fabula/sujet). O.E. Osowskij betrachtete die Unterschiede in der Anknüpfung an Weselowskijs historische Poetik seitens Bachtins und der Formalisten (vgl. Осовский: Роман в контексте исторической поэтики, S. 322-324). N.D. Tamarčenko wies darauf, dass Bachtins Verwendung der Begriffe »fabula« und »sujet« im Sinne eines »Motivkomplexes« auf Weselowskijs historische Poetik zurückgeht (vgl. Тамарченко, Н.Д.: »Поэтика Бахтина и современная рецепция его творчества«, in: Вопросы литературы (2011), S. 291-340). Ich betrachte Bachtins Sujetbegriff ausschließlich im Zusammenhang mit seinem Verständnis der Zeit als narrativer Kategorie. Holquist, Michael: Dialogism. Bakhtin and his world, London: Routledge 2000, S. 115. Zu hermeneutischen Zügen von Bachtins Theorie vgl. Кормилов, С.И.: »Особенности литературоведческой терминологии М. М. Бахтина и строение литературно-художественного произведения«, in: Javornik, Miha (Hg.), Bahtin in humanisticne vede. Zbornik prispevkov z mednarodnega simpozija v Ljubljani, 19. – 21. oktober 1995, Ljubljana: Znanstveni Institut Filo-

2. Theorie

bei Ricœur die Fabelkomposition, den Grundstein für das Verständnis der Prozesse der Zeitmodellierung und der Narrativität zugleich. Die Nähe zwischen Ricœurs Fabelkomposition und Bachtins Chronotopos hat als erster Dirk Göttsche bemerkt: [es] ist prinzipiell deutlich, daß die Chronotopoi als motivische Temporalstrukturen des Erzählens die Grenze zwischen den Zeitstrukturen im Erzählen und der thematisch-motivischen Schicht des Erzählwerks überschreiten und gerade in dieser Überschreitung ihre Bedeutung sowohl für die Fabelkomposition (im Sinne Ricoeurs) als auch für die Zeitreflexion im Roman gewinnen.36 Damit weist Göttsche auf eine systemische Funktion des Chronotopos hin, zwischen unterschiedlichen Elementen und Ebenen der Erzählung zu vermitteln und sie zu einheitlichen Abläufen zusammenzuschließen. Für eine solch breite Auslegung des Chronotopos liegen in der Bachtinforschung weitere Beispiele vor. So wird der Chronotopos in der Untersuchung von Michael Holquist als eine Methode verstanden, das Verhältnis zwischen Kunst und Realität zu bezeichnen: »[…] the chronotope provides a means to explore the complex, indirect, and always mediated relation between art and life.« 37 Tzvetan Todorov erweitert Bachtins C hronotopos-Begriff bis hin zu »organization of the world«38 . Jay Ladin definiert Chronotopos als Treffpunkt der inneren Zusammenhänge eines narrativen Textes: »[…] the cronotope represents the meeting point of tremendous forces.«39 Bachtin wendet den Begriff des Chronotopos sowohl auf die Selektion und Festlegung der Eigenschaften der fiktiven Welt einer Erzählung als auch auf ihren inneren Zusammenhang an. Mit Ricœur gelesen erfasst er dabei die Stufen der Prä- und Konfiguration und schließt die dritte Stufe der mimēsis – die Entfaltung der Erzählung in die Welt des Lesers – mit ein. Somit korreliert der Chronotopos bei Bachtin mit Ricœurs Verständnis der Fabelkonfiguration40 als dynamischem Prozess, der von der narrativen Selektion der wesentlichen Charakteristika der fiktiven Welt über ihre Konfiguration zu einer dynamischen Gestalt der Zeit im erzählenden Text zu seiner Entfaltung in die Welt des Lesers verläuft.

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zofske Fakultete 1997, S. 57-71, hier S. 52-66; Бонецкая, Н.К.: »М. Бахтин и идеи герменевтики«, in: Исупов, К.Г. (Hg.), Бахтинология: исследования, переводы, публикации, Санкт-Петербург: Алетей я 1995, S. 32-42. Göttsche: Zeit im Roman, S. 41. Holquist: Dialogism, S. 111. Todorov, Tzvetan: Mikhail Bakhtin. The dialogical principle, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984, S. 83. Ladin, Jay: »Fleshing Out the Chronotope«, in: Emerson, Caryl (Hg.), Critical essays on Mikhail Bakhtin, New York: Hall 1999, S. 212-236, hier S. 230. Auch Markiewicz sieht den Chronotopos vor allem auf den Handlungsverlauf ausgerichtet: »Bachtins anderwärts sehr einfallsreiche Analysen gebrauchen jedoch die Begriffe Zeit und Raum – sieht man genauer hin – nur im metonymischen Sinne: Im Grunde genommen sprechen sie vom Handlungsverlauf und den gesellschaftlich kulturellen Eigenschaften des Milieus, in dem sich die Handlung abspielt.« (Markiewicz, Henryk: »Bachtins polyphone Romantheorie«, in: Hilbert, HansGünter (Hg.), Roman und Gesellschaft. Internationales Michail-Bachtin-Colloquium, Jena: Friedrich Schiller Universität 1984, S. 20-24, hier S. 23)

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Historische Zeit im Narrativ

Michael Holquist sieht den Chronotopos als eine Einheit von Fabel und Sujet der literarischen Erzählung an: »Chronotope is the indissoluble combination of these two elements.«41 Diese Definition, die von Bachtins eigener Definition des Chronotopos als Einheit von Zeit und Raum des literarischen Werks abweicht, hat eine gewisse Logik im Kontext seiner Ausführungen, da er den Chronotopos – ähnlich wie Ricœur die Fabelkomposition – als Grundlage für die Entfaltung des Sujets versteht: Fragen wir nach der Bedeutung der hier behandelten Chronotopoi, so fällt vor allem ihre Relevanz für das Sujet ins Auge. Sie sind die Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse des Romans. Im Chronotopos werden die Knoten des Sujets geschürzt und gelöst. Man kann ohne weiteres sagen, daß ihnen eine erstrangige sujetbildende Bedeutung zukommt. (Chr/187, H.i.O.) Ohne Zeit und Raum sind also – wie auch Zoran Konstantinović hervorhob – »die Entwicklung des Sujets undenkbar, die Handlung im Roman unmöglich«.42 Durch seinen synthetischen Charakter verbindet der Chronotopos die Elemente einer Erzählung miteinander und erfüllt somit exakt die gleiche Funktion, die bei Ricœur der Fabelkomposition zukommt. Versteht Ricœur die Fabelkomposition als Hauptmerkmal aller Narrative, so sieht Bachtin, wie Darko Suvin thematisierte, den Chronotopos als »differentia generica« aller narrativen Texte an.43 Ricœurs Modell der dreifachen mimēsis kann dabei helfen, unterschiedliche Ebenen der Anwendung der Kategorie des Chronotopos auseinanderzuhalten, was bei Bachtins Argumentationsweise nicht immer einfach ist. In dieser Hinsicht äußerte u.a. Tanja Dembski prinzipielle Bedenken: Zum einen lassen sich laut Dembski durch das Prisma des Chronotopos […] die Vielfalt und Heterogenität der raumzeitlichen Momente eines Gesamttextes, deren interaktive Relation sowie den Zusammenhang von Temporalität und individueller Wahrnehmung erfassen, doch zum anderen erscheint […] seine Anwendbarkeit in der konkreten Textanalyse erheblich einschränkt, denn er läßt sich auf jedes beliebige (produktions-, rezeptionsästhetische oder werkimmanente) literarische Phänomen beziehen, das einen prozessualen oder räumlichen Charakter aufweist.44 Mit Ricœurs Stufenmodell könnte man die Begriffsanwendung des Chronotopos bei Bachtin auf den Ebenen der Prä-, Kon- und Refiguration differenzieren und somit Klarheit darüber schaffen, um welche Aspekte der Fabelkomposition es im konkreten Fall 41 42

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Holquist: Dialogism, S. 113. Konstantinović, Zoran: »Bachtins Begriff des ›Chronotopos‹«, in: Hilbert, Hans-Günter (Hg.), Roman und Gesellschaft. Internationales Michail-Bachtin-Colloquium, Jena: Friedrich Schiller Universität 1984, S. 109-116, hier S. 109. Suvin, Darko: »On Metaphoricity and Narrativity in Fiction: The C hronotope as the Differentia Generica«, in: SubStance 48 (1986), S. 51-67, hier S. 51-67. Dembski, Tanja: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 189-190.

2. Theorie

geht. Dabei bekommt der Begriff des Chronotopos eine analytische Dimension, die ihm in der Bachtinforschung unter anderem von Maria Langleben zugewiesen wurde: To all evidence, chronotope is a text-analytic notion, devised and intended for the analysis of literary art. Unlike all above discussed Bachtin’s notions, chronotope does not need to be reinterpreted for the TA [text analysis] – it already belongs there.45 In seiner Untersuchung von Bachtins Terminologie plädiert auch Sergej Kormilov für die Verwendung des Begriffs im Sinne einer analytischen Herangehensweise: Man könnte sagen, dass »Chronotopos« nicht so sehr eine real existierende Erscheinung wie ein verallgemeinernder Begriff ist, der für eine bestimmte Analysemethode steht.46 Einen Hinweis darauf, dass Bachtin in späteren Jahren zu dieser Betrachtungsweise tendierte, geben die Schlussbemerkungen zum Chronotopos-Aufsatz aus dem Jahr 1973, die er anlässlich der Erstpublikation des bereits in den 1930er Jahren geschriebenen Textes verfasste. Im Rückblick bezeichnet Bachtin sein Verfahren als »chronotopische Analyse« und markiert die Grenzen ihrer Anwendung. (Chr/195ff.) Um den Chronotopos jedoch im Sinne der chronotopischen Analyse anzuwenden, bedarf es einer weiteren Differenzierung: »Bakhtin’s concept of the chronotope is a powerful but underdeveloped critical tool.«47 Geht man dabei von Bachtins allgemeiner Definition des Chronotopos als Einheit von Zeit und Raum im literarischen Werk aus, beinhaltet sie noch keine methodologische Komponente. Will man diesen Begriff dahingehend erweitern, dass man alle Merkmale der von Bachtin beschriebenen Chronotopoi zu einer Definition zusammenfügt, so wird diese Definition noch breiter und noch weniger konkret.48 Diesen Schwierigkeiten steuere ich entgegen, indem ich von einer Anzahl variabler Parameter der Textanalyse ausgehe. Anhand dieser Parameter wird die narrative Gestaltung der historischen Zeit untersucht: Sie liegen bei Bachtin jedoch nicht in Form eines fertigen Modells vor, sondern müssen erst erarbeitet werden.

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Langleben: M. Bachtins Notions of Time and Textanalysis, S. 187. Кормилов: Особенности литературоведческой терминологии, S. 67-68. Vgl. dazu auch: »Der Chronotopos ist keine ›ontologische‹, sondern eher eine gnoseologische Kategorie. Es wird ein Komplex von variierenden Merkmalen genommen, um hauptsächlich typologische Analysen unter einem bestimmten Blickwinkel durchzuführen.« (Кормилов, С.И.: »Металингвистическая классификация типов прозаического слова М. Бахтина и состав литературнохудожественного произведения«, in: Исупов, К.Г. (Hg.), Бахтинология: Исследования, переводы, публикации, Санкт-Петербург: Алетейя 1995, S. 189-205, hier S. 199) Ladin: Fleshing Out the Chronotope, S. 230. Vgl. auch bei Markiewicz: »Die Universalität dieser Kategorie mindert ihre Verwendbarkeit: Sie bedeutet einfach eine Verbindung aller prozessualen und räumlichen Aspekte eines beliebigen Gegenstandes der literarischen Forschung.« (Markiewicz: Bachtins polyphone Romantheorie, S. 23) In dieser Hinsicht unterscheidet sich meine Vorgehensweise von dem umfassenden Schema der chronotopischen Raumanalyse, die Jay Ladin in seinem Aufsatz anbietet (Ladin: Fleshing Out the Chronotope, S. 212-236). Ladin sieht Chronotopoi als Textelemente an, deren Vorhandensein er von der Mikroebene des Wortes bis hin zur Makroebene des Textes untersucht. Dadurch wird für Ladin das Problem der Verschachtelung der Chronotopoi ineinander zum zentralen Problem.

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Historische Zeit im Narrativ

Bachtins Chronotopos-Aufsatz liefert einige Hinweise darauf, wie die chronotopische Analyse konkret aussehen könnte. Zum Abschluss des vorliegenden Kapitels gehe ich auf die einzelnen Parameter ein, die Bachtin bei seiner Analyse der Abenteuer-Zeit des antiken griechischen Romans präsentiert.49 Den Schwerpunkt legt Bachtin auf die Problematik der Zeit im Chronotopos: Wir werden uns im folgenden ganz auf das Problem der Zeit (als der ausschlaggebenden Komponente im Chronotopos) und auf all das (und nur das) konzentrieren, was in direkter und unmittelbarer Beziehung zu diesem Problem steht. (Chr/9) Es geht demnach also um alle wesentlichen Merkmale, die sich »direkt und unmittelbar« auf die Präsentation der Zeit in der Erzählung auswirken und an dieser Stelle des Chronotopos-Aufsatzes konsequent aufbereitet werden. Das Fragment beinhaltet ein analytisches Schema, das die Grundlage der chronotopischen Analyse bietet und bei der Beschreibung der Abenteuer-Zeit voll entfaltet wird. Dadurch kann sich Bachtin bei der Analyse weiterer Chronotopoi auf ihre exklusiven Merkmale konzentrieren; ich betrachte sie des Weiteren im Detail, wobei für mich die Spezifik der Abenteuer-Zeit nicht vordergründig wichtig ist. Im Mittelpunkt von Bachtins Untersuchung der Abenteuer-Zeit steht das Sujet als Gesamtheit von Elementen und Motiven, die in mehreren antiken Romanen Verbreitung finden. Als solche wesentlichen Momente gelten typische Eigenschaften der Protagonisten (schön und keusch), Ereignisse und Handlungen (Begegnung, Trennung, retardierende Hindernisse) zusammen mit ihrer Motivierung (zufällig, unerwartet, plötzlich) sowie das Ende der Erzählung (glückliche Eheschließung). Bei seiner Lektüre tendiert Bachtin dazu, diese Parameter des antiken Romans in ihrer Qualiät auszuwerten, und greift hierfür mehrere Zitate und konkrete Situationen aus »Leukippe und Kleitophon« auf. In dieser Hinsicht hob Jay Ladin zu Recht hervor: Chronotopes are so closely connected to the characters, images, and events through which they are manifested that any abstract labeling system is doomed to leave out too many important variations.50 Der Raum ist im Schema der chronotopischen Analyse insoweit wichtig, als er die Zeit als eine abstrakte Kategorie der menschlichen Wahrnehmung zum Ausdruck bringen kann: […] in der Literatur [ist] die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chronotopos. (Chr/8)51 Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. 49

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Wie Michael Holquist hervorhebt: »Bakhtin (who trained as a scholar of Greek and Latin literature) is perhaps at his clearest in discussing the type of plot typical of the ancient romance.« (Holquist: Dialogism, S. 109) Ladin: Fleshing Out the Chronotope, S. 230. Diese These entlehnt Bachtin dem berühmten Aufsatz von Gotthold Ephraim Lessing (Chr/189).

2. Theorie

Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. (Chr/7) Folgt man diesen Ausführungen, so muss man anerkennen, dass das wichtigste Moment des Chronotopos nicht bloß in der Anwesenheit beider – der zeitlichen und der räumlichen – Komponenten besteht, sondern in ihrer Verbindung, Verschränkung und Verschmelzung. Die Zeit gewinnt im Raum konkret-anschauliche Form, der Raum gewinnt an zeitlicher Dynamik und unterliegt dadurch Veränderungen. Durch den Chronotopos-Begriff lassen sich also vermutlich nicht alle, sondern lediglich die Aspekte des Raums analysieren, die in einem Zusammenhang mit der Zeitform stehen; diese ausgewählten Aspekte werden von Bachtin im Zusammenhang mit weiteren textinternen Elementen wie dem Sujet oder den Figuren betrachtet, woraus sich erst die Gesamtheit der Zeitform eines Textes ergibt. In seiner Analyse der Abenteuer-Zeit wird der Raum von Bachtin hauptsächlich als Schauplatz der Handlung betrachtet: es ist ein breiter und geografisch stark variierender Raum, den Bachtin als »fremde Welt« bezeichnet, da in ihm »niemals das Bild der heimatlichen Welt aufleuchtet, aus der der Autor stammt und die seinem Blick als Ausgangspunkt dient« (Chr/25-26). In der Abenteuer-Zeit fällt die biografische Zeit der Protagonisten leer aus, da die Protagonisten unverändert bleiben und »die Heirat am Schluß des Romans sich nahtlos an das Aufflammen der Liebe zu Beginn des Romans an[schließt]« (Chr/12). Bei seiner Vorgehensweise bündelt Bachtin also einzelne Elemente der Erzählung wie typische Ereignisse und Handlungen, Motivation und Eigenschaften der Figuren, ihre biografische Zeit, Interaktion mit dem Raum als Hintergrund der Handlung sowie das Ende der Erzählung in einem analytischen Schema und wertet sie qualitativ aus. Dabei bietet ihm das Romangenre, wie Gary Saul Morson thematisierte, »ein Feld von Möglichkeiten«: That sense [of development] is given not expositionally but concretely, in the very chronotope, that is the field of possible actions, in which particular stories are told. It is this field that interests Bakhtin […].52 Bachtin legt besonderes Augenmerk auf die Eigenschaften der fiktiven Welt und des Sujets und betrachtet sie im Kontext des Genreschemas: Wie werden die gleichen Momente in anderen Romanen interpretiert, inwieweit gleicht/unterscheidet sich der konkrete Roman (von) einem anderen Erzählmuster? So ist es für die Analyse der AbenteuerZeit unerheblich, welche konkreten Peripetien Leukippe und Kleitophon erleben, hingegen bietet das wiederkehrende Schema ihrer Herbeiführung (zufällig oder logisch erschließbar) und ihrer Konsequenzen (verändern sie die Protagonisten oder nicht, hinterlassen sie Spuren im Raum oder nicht) Kriterien, nach denen die Zeitlichkeit einer Erzählung ausgewertet wird. Allgemein ist die Abenteuer-Zeit laut Bachtin in ihrer besonderen Qualität äußerlich-technisch organisiert: Ereignisse werden durch Angaben »plötzlich« und »gerade«

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Morson: Bakhtin, Genres, and Temporality, S. 181.

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Historische Zeit im Narrativ

eingeleitet, »ihre Logik besteht in der zufälligen Kongruenz« und »in einer zufälligen Inkongruenz« (Chr/15). Am Beispiel von »Leukippe und Kleitophon« charakterisiert Bachtin die Abenteuer-Zeit als »Zeit des Zufalls«, in der Ereignisse durch die Einmischung irrationaler Kräfte ins menschliche Leben herbeigeführt werden, die jedoch nicht »zu Tagen und Stunden des menschlichen Lebens« wird, da sie keinen ernst zu nehmenden Einfluss auf die Protagonisten nimmt und keine physische oder geistige Spur hinterlässt (Chr/18). Die Verbindung zwischen der Zeit und dem Raum ist auch »technisch« und »abstrakt«, was sich als »Umkehrbarkeit der Momente der Zeitreihe und deren Austauschbarkeit im Raum« äußert (Chr/24). Das Fehlen des Konkreten und Lokalen, das zur Abstraktion und Schematisierung führt, macht den Chronotopos der »fremden Welt, in der die Zeit des Abenteuers herrscht« (Chr/12) zum »abstraktesten« von allen großen Romanchronotopoi (Chr/35). Er zeichnet sich auch durch Statik aus: Welt und Mensch verändern sich in der Zeit nicht, haben »einen absolut fertigen und unverrückbaren Charakter« (Chr/35). Diese Beschreibung bietet das Ergebnis von Bachtins chronotopischer Analyse des Abenteuer-Romans. Sie wird anhand der Analyse separater Erzählelemente gewonnen und zu einer umfassenden Beschreibung verdichtet. Auf diese Weise verfahre ich in meiner Analyse der historischen Zeit in Musils und Gorʹkijs Romanen und berücksichtige dabei außerdem Bachtins und Ricœurs Angaben über die Spezifik der historischen Zeit im Narrativ, auf die ich im nächsten Abschnitt ausführlicher eingehe.

2.2.2

Die historische Zeit als Sonderfall der erzählerischen Zeitgestaltung

Denkt man sich die historische Zeit als Ergebnis der Wirkung von Erzählverfahren, so stellt sich die Frage nach spezifischen narrativen Ressourcen, die Übertragungen und Wiedereinschreibungen zwischen der subjektiven Zeiterfahrung und der kollektiven Zeit ermöglichen. Im vorliegenden Kapitel zeige ich einige Wege auf, die sich für die narratologische Analyse der historischen Zeit in literarischen Erzählungen anbieten. Zunächst verfolge ich zwei Beobachtungen der Funktionsweise historiografischer Narrative, die Ricœur in »Zeit und Erzählung« an zwei verschiedenen Stellen entwickelt. Zum einen beschreibt er den spezifischen Fall der historischen Zeit im Narrativ anhand ausgewählter Denkinstrumente historiografischer Erzählpraxis. Zum anderen betrachtet er die historiografische Erzählpraxis der Annales-Schule und der Geschichte der Mentalitäten. Obwohl Ricœur bei seiner Präsentation der Denkinstrumente der historischen Zeit vor allem die Historiografie im Sinn hat,53 verknüpft er seine Definition der Denkinstrumente kaum mit der Problematik des Erzählens in der Historiografie. Das erschwert das Verständnis der historischen Zeit massiv. So ist der Zusammenhang zwischen den Denkinstrumenten der historischen Zeit und dem Phänomen der Narrativität nicht ganz klar, wohingegen seine Kritik an der historiografischen Erzählweise, die eng auf die Verfahren der Fabelkomposition bezogen ist, die historische Zeit kaum

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Daran anschließend sah Angelika Epple historische Zeit als Priorität der historischen Erzählung an und schloß literarische Erzählungen explizit aus, vgl. Epple: Empfindsame Geschichtsschreibung, S. 21-26. In der vorliegenden Studie wird die historische Zeit hingegen als gemeinsame Ressource historiografischer und literarischer Narrative betrachtet.

2. Theorie

berücksichtigt. Dabei wäre es wichtig zu verstehen, inwieweit der Kalender, die Generationenfolge und die Spur als Denkinstrumente überhaupt mit der Erzählung zu tun haben und wie sich die Erzählweise der Annales-Schule zu der historischen Zeit verhält. Im weiteren Schritt verbinde ich Ricœurs Betrachtungen der historiografischen Erzählverfahren mit den Angaben, die Bachtin über die Realisierung der historischen Zeit in der Literatur macht, um damit die Verwendung von traditionellen Elementen der Erzählung wie dem Ereignis, den Figuren, der Perspektivierung und der Fabel/dem Sujet und dem Raum im Sonderfall der historischen Zeit zu beschreiben.

2.2.2.1

Denkinstrumente der historischen Zeit

Ricœur hebt hervor, dass sich der besondere epistemologische Status der historischen Zeit daraus ergibt, dass sie »in keinem Zusammenhang zu [...] der Erinnerung, der Erwartung und der Umsicht einzelner Akteure« steht, »sich nicht mehr auf die lebendige Gegenwart des subjektiven Bewußtseins« bezieht und somit reines Produkt der Erzählverfahren ist: »Ihre Struktur ist genau proportional zu den Verfahren und Entitäten, mit denen die Geschichtswissenschaft arbeitet.« (ZuE/B1/266) In der historiografischen Erzählpraxis wird die historische Zeit mithilfe spezifischer Denkinstrumente konstruiert: dem Kalender, der Idee einer Generationenfolge und dem Rekurs auf Archive, Dokumente und Spuren. Für Ricœur funktionieren sie als Bindeglieder zwischen der erlebten und der universellen Zeit und konstituieren zugleich die historische Zeit, indem sie »die narrativen Strukturen auf das Universum […] übertragen« (ZuE/B3/165, H.i.O.). Die Erfindung der historischen Zeit wird mit der Einführung der kalendarischen Zeit markiert. Sie ermöglicht das Ordnen der Ereignisse auf einer linearen Zeitachse in Form einer Chronik und fixiert die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Geschehensmomenten. Die Zeit des Kalenders oder der Chronik »kosmologisiert die erlebte Zeit und humanisiert die kosmische Zeit« (ZuE/B3/173). Doch muss der Chronist, bevor er Ereignisse ordnen und in eine Erzählung verwandeln kann, zunächst überhaupt solche auswählen, die er für erzählwürdig erachtet. So werden einige Ereignisse zum Gegenstand der Chronik, während die anderen nicht schriftlich fixiert werden. Dieses Verfahren der Selektion lässt sich als erste Stufe der Fabelkomposition begreifen, bei der aus der tendenziell unbegrenzten Anzahl der Faktoren und Elemente diejenigen ausgewählt werden, die auf der zweiten mimēsis -Stufe zu einem sinnvollen Ganzen konfiguriert werden. Das Denkinstrument des Kalenders lässt sich also der Stufe der mimēsis I zuordnen. Dabei liegt seine Spezifik, die ihn zum Instrument der historischen Zeit und keiner anderen Zeitform macht, darin, dass sich die Selektion des Erzählwürdigen in diesem Fall auf das kollektiv Signifikante bezieht und die Chronik zu einem Abbildungsversuch der kollektiven Zeit macht, bei dem die für die Existenz der Gemeinschaft wichtigen Begebenheiten fixiert und dafür andere ausgelassen werden. Ein weiteres Denkinstrument der historischen Zeit bietet die Idee von der Generationenfolge, welche die historische Zeit einerseits »biologisch untermauert«, ihr andererseits aber auch die soziologische Komponente der Beziehung zwischen Zeitgenossen, Vorgängern und Nachfolgern hinzufügt. Das Denkinstrument der Generationenfolge erlaubt eine Übertragung von der Vorstellung einer individuellen

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Historische Zeit im Narrativ

biologischen Verbindung zwischen Großeltern, Eltern und Kindern auf die kollektive Zeit und bringt die Struktur der zeitlichen Verkettung in Form von Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern hervor, die sich zueinander de facto in keinem Verhältnis der biologischen Abfolge befinden, aber eine gewisse Kontinuität vortäuschen. Ob diese Kontinuität als Ergebnis der Übertragung von politischen, kulturellen oder religiösen Traditionen interpretiert wird, spielt für ihr Grundverständnis keine besondere Rolle. Zusätzlich bringt die Generationenfolge auf der synchronen Ebene die Vorstellung von der Generation als einer kollektiven Einheit hervor, deren Bestandteile – Zeitgenossen – einerseits als lebende und handelnde Figuren und andererseits weniger individuell und mehr als Repräsentanten eines idealtypischen Verhaltens gedacht werden. Dieser Vorgang der Typisierung im Dienste der Herausbildung des Kollektivums »Generation« wird nach Ricœur durch die Vorstellung von der relativen Homogenität der Erfahrungen in Form einer »präreflexive[n] Teilhabe an einem gemeinsamen Schicksal« geregelt. Der Übergang zwischen der Perspektive der individuellen und alltäglichen Zeiterfahrung und der Dimension der kollektiven Zeit, der dadurch ermöglicht wird, bedeutet aber auch eine verkürzte Vorstellung von den Zeitgenossen, die aus dieser Perspektive an Individualität einbüßen und vorrangig als Akteure sozialer Prozesse verstanden werden: Tatsächlich begegnen uns unsere bloßen Zeitgenossen oder »Nebenmenschen« nur in typifizierten Rollen, die ihnen von Institutionen zugewiesen werden. Die Welt der Nebenmenschen, wie auch die Vorwelt, ist eine Galerie von Figuren, die niemals wirkliche Personen sind und es auch nie werden. (ZuE/B3/181) Der Übergang zwischen der individuellen und sozialen Zeit bringt also bedeutende Veränderungen in Bezug auf das Verständnis der Handelnden mit sich, die durch die Zuweisung von typisierten Rollen oder – wie Ricœur an einer anderen Stelle schreibt – durch »Gleichsetzung von mitweltlicher Gleichzeitigkeit, Anonymität und idealtypischem Verstehen« (ZuE/B3/181) zu den handelnden Instanzen einer Erzählung werden, in der es um weitaus mehr als um einen individuellen Lebensentwurf geht. Daher büßt innerhalb der Historiografie der individuelle Tod an Bedeutung ein: Denn für die Geschichte gibt es nur Rollen, und diese bleiben nie unbesetzt, sondern werden jeweils neuen Schauspielern zugewiesen; der Tod als das Ende des jeweiligen Lebens wird in der Geschichte nur nebenher behandelt, zum höheren Ruhm der Entitäten, deren Dauer über Leichen geht: Volk, Nation, Staat, Klasse, Zivilisation. (ZuE/B3/184) In der zitierten Passage wird die historiografische Erzählung ausdrücklich als eine Erzählung beschrieben, die mit Entitäten anderer Größenordnungen operiert, als es das Leben des einzelnen Menschen ist. Folgerichtig kann auch der Tod eines Einzelnen nur dann paradigmatisch für die Geschichtsschreibung sein, wenn er »zum höheren Ruhm« solcher Entitäten wie Volk, Nation, Staat, Klasse, Zivilisation beiträgt. Dass solche Entitäten in der historiografischen Erzählpraxis zu Quasi-Figuren stilisiert werden, spricht Ricœur in seiner Analyse historiografischer Erzählungen an, sieht sie aber offensichtlich in keiner Verbindung zum Denkinstrument der Generationenfolge.

2. Theorie

Diese fehlende Verbindung stelle ich her, indem ich den Begriff der Generationenfolge analytisch verwende, um die Positionierung individualisierter Figuren an der Schwelle zwischen der biologischen oder privaten Zeiterfahrung und der kollektiven Zeit zu untersuchen. Dabei zeige ich, dass die Generationenfolge in beiden Romanen nicht als eine biologische Abfolge, sondern als die Frage nach der ideologischen Kontinuität zwischen Eltern und Kindern umgedeutet wird. Insbesondere der Sinn der postulierten Durchbrechung der Generationenfolge in beiden Romanen erschließt sich vor dem Hintergrund von Ricœurs Theorie als eine Invariante der Beziehung zu den Vorfahren und Nachfolgern, die Ricœur auf der symbolischen Ebene als Beziehung zu dem idealtypisch Anderen versteht: Vorfahren und Nachfolger nämlich sind andere, die ein opakes Symbolsystem überzieht, und deren Gestalt sich anschickt, die Stelle eines Anderen, ganz Anderen zu besetzen, als die Sterblichen es sind. (ZuE/B3/185, H.i.O.) Ricœur spricht in diesem Zusammenhang vom Bild »einer unsterblichen Menschheit«, in dem man die Abwesenheit von Toten und die Ungeborenen »durch die Gestalt der Vorfahren als der Ikone des Unvordenklichen, und die der Nachfolger als der Ikone der Hoffnung [ausgleicht]« (ZuE/B3/185). Eine solche Vorstellung wird in beiden Romanen dekonstruiert: das »Unvordenkliche« erscheint in einer kritischen Distanz und die »Ikone der Hoffnung« in einer unerreichbaren Weite. Spätestens im Denkinstrument der Generationenfolge tritt der sozietäre Charakter der Denkinstrumente klar zutage. Und doch sieht es so aus, als würde Ricœur diesen sozietären Charakter nicht bemerken. Hier zeigt sich m.E. der Nachteil des großen argumentativen Bogens, den Ricœur von der Betrachtung der Zeitphilosophie bis hin zu der Ebene der Erzählverfahren spannt. Nichtdestotrotz zeichnet sich diese Problematik am Rande von Ricœurs Ausführungen zu den Denkinstrumenten der historischen Zeit immer wieder ab, zum Beispiel, wenn Ricœur die Generationenfolge durch eine Antinomie zwischen dem Schicksal und dem Geschick untermauert, die in Heideggers Ausführungen zur Problematik des Mitseins enthalten ist.54 In diesem Kontext schreibt Ricœur explizit von der »öffentlichen Zeit der Geschichte«, die er »der privaten Zeit des individuellen Schicksals« gegenüberstellt (ZuE/B3/181). Im Unterschied zu den Denkinstrumenten des Kalenders und der Generationenfolge reflektiert das Denkinstrument der Spur eine andere Dimension der vermittelnden Struktur der historischen Zeit – die zeitliche Dynamik zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die wichtigste Eigenschaft der Spur ist mit dem folgenden Satz treffend bezeichnet: »Die Spur ist Zeichen und Wirkung in eins.« (ZuE/B3/193) Damit meint Ricœur die komplexe Struktur der Spur, die in sich zwei unterschiedliche Beziehungen vereint: die Signifikanzbeziehung und die Kausalitätsbeziehung. Die Signifikanzbeziehung spielt auf den zeichenhaften Charakter der Spur an, die Kausalitätsbeziehung ergibt sich aus der Materialität, der Dinglichkeit der Spur. Ricœur veranschaulicht die Signifikanzbeziehung einer Spur durch den Gedanken »eines Spuren hinterlassenden Vorübergehens« (ZuE/B3/193), was man insoweit erweitern könnte, als die Signifikanzbeziehung aus der Richtung der Bewegung resultiert, die man zum Beispiel einem Fuß54

Die Auseinandersetzung mit der Kategorie des Mitseins vgl. ZuE/B3/120ff.

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Historische Zeit im Narrativ

abdruck entnehmen kann. Dabei kann die Kausalbeziehung aus dem Charakter der Materie (der Erde, dem Sand oder Lehm) und der Größe und Form des Abdruckes abgeleitet werden. Die doppelte Zugehörigkeit der Spur zu den zwei sich überkreuzenden Bezugssystemen wirkt sich auf die Zeitbezüge innerhalb der historischen Zeit aus: Im primär Geschichtlichen bleibt stets die Beziehung auf Zukunft und Gegenwart bewahrt. Im sekundär Geschichtlichen wird diese fundamentale Struktur der Zeitlichkeit aus den Augen verloren und wir stellen uns unlösbare Fragen, die die »Vergangenheit« als solche betreffen. (ZuE/B3/195) »Die Dialektik von Zeigen und Verhüllen«, die der Spur eigen ist, macht die Vergangenheit zu einem Quasi-Gegenstand, in dem sein zeitlicher Charakter zugleich angelegt und verborgen ist. Laut Ricœur ist sich der Historiker dessen nicht bewusst, wenn er einen – wenn auch methodisch normierten – Gebrauch von dem »rätselhaften Instrument« der Spur macht, da das Problem der Signifikanz der Spur in die Zuständigkeit des Geschichtsphilosophen fällt (ZuE/B3/200). Der Begriff des sekundär Geschichtlichen erklärt aber auch solche Fälle der Wortverwendung, wenn das Wort »Geschichte« für Vergangenheit als eine gewisse Totalität steht. Die rekonstruierte Welt wird durch das Verfahren der Rekonstruktion stabilisiert, konserviert oder sogar im nostalgischen Rückblick idealisiert. Dieses Phänomen kommentiert auch Bachtin bei seiner Auseinandersetzung mit dem historischen Roman, wenn er von dem Gerichtetsein der Zeit in die Vergangenheit und Konservierung der Zeit in solchen Topoi wie dem Schloss spricht (dazu unten im Kapitel 3.3.3.4. »Historische Zeit im Raum«). Auch Bachtins These von der Fähigkeit solcher Schriftsteller wie J.-W. Goethe, Spuren der Zeit im Raum zu lesen, kann durch Ricœurs Erläuterungen zum primär und sekundär Geschichtlichen untermauert werden. Anhand Bachtins Ausführungen lässt sich behaupten, dass diese Problematik auch für die erzählende Literatur von Bedeutung ist. Beide Theorien gehen vor allem insoweit einher, als die zeitliche Dynamik zwischen der Vergangenheit und Gegenwart ein qualitatives Merkmal der historischen Zeit darstellt, das aber dort, wo intensive Spurensuche betrieben wird und wo sich die Spuren verdichten, aus dem Sichtfeld verschwinden kann. Die Denkinstrumente der historischen Zeit lassen sich unterschiedlichen Stufen von Ricœurs Modell der dreifachen mimēsis unterordnen: Das Denkinstrument des Kalenders stellt eine Invariante der Selektionsprozesse auf der Stufe der mimēsis I dar, die Generationenfolge kann man als ein Mittel der Figurencharakteristik auf der Ebene der mimēsis II begreifen und das Denkinstrument der Spur sehe ich als qualitatives Merkmal der Dynamik der historischen Zeit an, die auf der Ebene der mimēsis III aus der Einwirkung der Fabelkomposition auf den Leser entsteht.

2.2.2.2

Die innovative Historiografie der Annales-Schule und die Mentalitätsgeschichte als Sonderfälle

Die Denkinstrumente der historischen Zeit lassen sich als Verfahren der Wiedereinschreibung der subjektiven in die kollektive Zeit bezeichnen, die auf verschiedenen Ebenen der mimēsis operieren; ungeachtet dessen bleibt jedoch die Frage offen, inwieweit die historische Zeit die Fabelkomposition (für Ricœur das zentrale Merkmal der Zeitkonfiguration in der Erzählung) beeinflusst. In »Zeit und Erzählung« liefert Ricœur

2. Theorie

dazu wertvolle Beobachtungen, die in Bezug auf moderne und innovative Arten der Geschichtsschreibung – die Annales-Schule und die Geschichte der Mentalitäten – entstanden sind. Bei seiner Auseinandersetzung mit diesen historiografischen Schulen will Ricœur beweisen, dass sie trotz ihrer Kritik an der traditionellen Ereignisgeschichte erzählen, indem sie eine Fabel als zeitliche Abfolge von Ereignissen produzieren. Die besondere Qualität dieser Fabel und dieser Ereignisse, später auch der Figuren in der Historiografie, hebt Ricœur hervor, indem er sie als »Quasi-Fabel«, »Quasi-Ereignis« und »QuasiFigur« bezeichnet und somit auf »den schwachen, verborgenen Zusammenhang« hinweist, »der die Historie in den Bahnen der Erzählung hält« (ZuE/B1/344-345). Dadurch gibt Ricœur zu verstehen, dass er die Problematik erkennt, die aus der unreflektierten Übertragung des Fabelbegriffes aus der Literaturwissenschaft auf die Historiografie resultiert. Statt wie Hayden White die Literarizität der Historiografie anhand der Verwendung bestimmter Erzählmuster beweisen zu wollen, leitet er »die einzige Logik, die mit dem Begriff der Fabel vereinbar ist«, aus dem aristotelischen Wahrscheinlichkeitspostulat ab (ZuE/B1/258) und ordnet ihm auch das historiografische Erzählen mit seinen Erklärungsmustern, die sich am möglichen Ablauf der Prozesse orientieren (ZuE/B1/277-278), unter. Dadurch gewinnt sein Fabelbegriff die nötige Elastizität, um auch innovative Erzählweisen der modernen Historiografie einzuschließen. Die Resultativität dieser Vorgehensweise zeigt sich zunächst in seiner Betrachtung der französischen Annales-Schule, die durch ihre Kritik der traditionellen Ereignisgeschichte wesentlich zur Problematisierung des Erzählens in der Historiografie beitrug. Dem historischen Ereignis wurde in diesem Denkparadigma die zeitliche Ebene der longue durée entgegengestellt, wobei sich der Fokus von den Peripetien der politischen Geschichte auf langfristige Veränderungen des geografischen Raums, der Mentalitäten und der Denksysteme verschoben hat. Das einzelne Ereignis wurde in seiner kurzen Dauer zum Oberflächenphänomen erklärt, das trügerisch das Wesen der Veränderungen verdeckt und bestenfalls als Zeichen der langfristigen Veränderungen der Konjunktur in der longue durée dient. In seiner Polemik mit der Annales-Schule widmet sich Ricœur ausführlich der Kategorie des Ereignisses, da er das Ereignis als ein Schlüsselelement der Fabelkomposition versteht, dessen Negation einen Verzicht auf das Erzählen bedeuten würde. In seiner Definition des Ereignisses beruft sich Ricœur neben dem Begriff der peripeteia von Aristoteles und der discordance von Kermode auf Jurij Lotmans Definition des Ereignisses als Grenzüberschreitung (ZuE/B2/49-50). Vor dem Hintergrund dieser Konzepte definiert Ricœur Ereignis als eine beliebige Zustandsveränderung und kritisiert das enge Verständnis des Ereignisses als kurze und explosive Handlungseinheit in der Historiografie der Annales-Schule. Indem sich die Historiker dieser Schule auf die Darstellung der longue durée spezialisierten, distanzierten sie sich von der politischen Ereignisgeschichte mit ihren kurzen und explosiven Ereignissen, erzählen jedoch laut Ricœur trotzdem. Zwar würdigt Ricœur Fernand Braudels »Idee der Pluralität der sozialen Zeit«, die den Überblick über die größeren Zeiträume erlaubt hat, als eine der »unleugbaren Errungenschaften« der Annales-Schule (ZuE/B1/311, H.i.O.). Doch besteht Ricœur zufolge keine Notwendigkeit, das Ereignis nur auf die Ebene der individuellen und kurzen Vorkommnisse zu beschränken: »In unseren Augen ist das Ereignis

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Historische Zeit im Narrativ

nicht notwendig kurz und energisch wie eine Explosion. Es ist eine Variable der Fabel« (ZuE/B1/326). Als »Variable der Fabel« verliert das Ereignis feste Grenzen und wird zu einem Prinzip der Veränderung, die der Fabel innewohnt. Eine solche Definition des Ereignisses, die das Verständnis des Ereignisses in der modernen Narratologie vorwegnimmt,55 erlaubt die Anwendung dieser Kategorie bei der Analyse historiografischer Erzählungen, die sich in der langen Dauer auf die Schilderung von signifikanten Veränderungen der Wertsysteme spezialisieren: […] tatsächlich ist die Frage berechtigt, ob die Historie, um historisch zu bleiben, die langsamen Mutationen, die sie erinnernd abkürzt, nicht durch kinematographische Zeitraffereffekte zu Quasi-Ereignissen stilisieren soll. (ZuE/B1/163) Die historiografische Quasi-Fabel, die aus der Verkettung von Quasi-Ereignissen entsteht, kann Ricœurs Argumentation zufolge auch in der longue durée nicht unendlich ausgedehnt werden, sondern beschränkt sich auf einen, wenn auch längeren, aber nicht unendlichen zeitlichen Rahmen, um sinnhaft zu bleiben. Die Annales-Schule bedient sich also der Grundelemente der Fabelkomposition, indem sie eine Erzählung mit einem Anfang und einem Ende konstruiert, nützt sie jedoch, um auf Ereignisse anderer Größen aufmerksam zu machen, um das Nichtereignishafte, was bisher hinter dem Horizont der historiografischen Erzählungen lag, sichtbar zu machen.56 Ricœurs Auseinandersetzung mit der Annales-Schule macht auf den Umstand aufmerksam, der für die Gestaltung der historischen Zeit im Narrativ äußerst wichtig ist. Das Verständnis der kollektiven Zeit hat eine herausragende Bedeutung für die Erzählungen im Modus der historischen Zeit und kann dabei qualitativ variieren. Wie die Praxis der Annales-Schule zeigt, bietet das Erzählmuster der politischen Geschichte, welches die allgemeine Verwendung der Wörter »Geschichte« und »historisch« prägt, lediglich eine Option für die Ausgestaltung der historischen Zeit und siedelt sie auf der Ebene politischer Ereignisse an. Darüber hinaus sind jedoch alternative Darstellungsweisen denkbar, die je nach Interpretation wesentlicher Eigenschaften der kollektiven Zeit in der Erzählung Zeitabläufe unterschiedlicher Dauer und Qualität modellieren. Die Qualität dieser Zeitabläufe lässt sich anhand der Qualität von Ereignissen beschreiben, die laut Ricœur streng proportional zu den Verfahren der Fabelkomposition sind. Markierte das Denkinstrument des Kalenders die Möglichkeit, das Verständnis des kollektiv Signifikanten in das Verfahren der Selektion auf der Stufe der mimēsis umzusetzen, so stellt die narrative Gestaltung von Quasi-Ereignissen zu der Quasi-Fabel der historiografischen Erzählungen eine Operation auf der mimēsis II dar, die der Gestalt der Zeit eines erzählenden Textes individuelle Form verleiht. Die Beschäftigung mit der Praxis der Annales-Schule lohnt sich angesichts ihrer Distanz zur politischen Ereignisgeschichte insbesondere deshalb, da die Erzählverfahren fernab der tradierten und quasi-natürlichen Muster in eine hohe Spannung gera-

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Schmid definiert das Ereignis als »eine Zustandsveränderung, die besondere Bedingungen erfüllt« (Schmid: Elemente der Narratologie, S. 12). Vgl. Ricœurs Auseinandersetzung mit dem Konzept des Nichtereignishaften bei Paul Veyne (ZuE/B1/256ff).

2. Theorie

ten und wesentlich leichter analysiert werden können. In eine ähnliche Richtung geht die vorliegende Untersuchung der historischen Zeit im Narrativ. Zum einen werden in ihr keine historiografischen Werke, sondern literarische Texte untersucht, welche die historische Zeit mit den Gestaltungsmitteln literarischer Narrative modellieren und die Wirkungsbreite literarischer Erzählverfahren erweitern. Zum anderen geht es um Interpretationen der kollektiven Zeit im Roman, die in einer Distanz zur politischen Geschichte gestaltet wird, ähnlich wie die Praxis der Annales-Schule. Auch in Bezug auf die Anwendung einer anderen traditionell narratologischen Kategorie – der Figuren – deckt Ricœur bei seiner Auseinandersetzung mit den innovativen Ansätzen der Historiografie einen signifikanten Umstand auf: die Möglichkeit, in der Erzählung Kollektive zu Subjekten der Handlung zu stilisieren. Handelnde Instanzen dieser Art bezeichnet Ricœur als Quasi-Figuren, da sie im Unterschied zu den Individuen nicht das Merkmal des subjektiven Bewusstseins besitzen und folglich auch nur bedingt als »Handelnde« oder »Leidende« gelten können. In der historiografischen Erzählung jedoch können solche Quasi-Figuren oder »Entitäten erster Ordnung« wie Gesellschaft, Klasse, Kultur, Nation etc. den Posten des handelnden Subjekts einnehmen. Der Bedarf nach solchen Quasi-Figuren entsteht laut Ricoeur aus zwei Gründen. Erstens hat »der ursprüngliche Gegenstand der Geschichtswissenschaft sozietären Charakter« (ZuE/B1/291). Historiker sehen Individuen vor allem als Teile eines sozialen Ganzen und betrachten sie im Kontext ihrer sozialen Umgebung. Umgekehrt wird bei den kollektiven Akteuren immer vorausgesetzt, dass sie aus Individuen bestehen, jedoch anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Zweitens kann man von der Proportionalität der Quasi-Figuren zu den historiografischen Erzählverfahren ausgehen, die dadurch gewährt wird, dass die Erzählung als die Nachahmung einer Handlung immer Handelnde voraussetzt: […] der Begriff der Figur im Sinne dessen, der die Handlung vollzieht, [setzt] keineswegs voraus, daß es sich um ein Individuum handle. […] die Rolle der Figur [kann] von jedem gespielt werden, der in der Erzählung als grammatisches Subjekt eines Handlungsprädikates in dem narrativen Basissatz »X tut R« bezeichnet wird. […] Das verantwortliche Individuum ist nur das erste einer Reihe von Entsprechungen, zu denen die Völker, die Nationen, die Klassen und alle Gemeinschaften gehören, die den Begriff der besonderen Gesellschaft exemplifizieren. (ZuE/B1/294) Quasi-Figuren stellen genau wie das Quasi-Ereignis ein untergeordnetes Merkmal der Fabelkomposition dar, das etwas über die Besonderheit der historischen Zeit aussagt. Überträgt man diese Beobachtungen auf die Literatur, so lässt sich vermuten, dass kollektive Akteure in literarischen Narrativen zu denkenden, fühlenden und handelnden Akteuren inszeniert werden können. In meiner Analyse beider Romane lege ich ein besonderes Augenmerk auf die Verfahren der Psychologisierung kollektiver Akteure, seien es die Menschenmassen, Berufsgruppen oder Zeitgenossen als Schicksalsgemeinschaft.

2.2.2.3

Historische Zeit und das Romangenre

In den letzten zwei Kapiteln habe ich, Ricœur folgend, vor allem die historiografischen Spezifika behandelt und ihre Anwendung auf literarische Erzählungen quasi mit Punk-

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Historische Zeit im Narrativ

tierlinie gezeichnet; jetzt ist es an der Zeit, den direkten Angaben Ricœurs und Bachtins zu den Besonderheiten der literarischen Erzählung im Modus der historischen Zeit nachzugehen. Besonders die Theorie von Bachtin liefert hierzu differenzierte Angaben, um die historische Zeit in den literaturgeschichtlichen Kontext einzuordnen. In einem Vergleich zwischen der zeitlichen Dynamik in der folkloristischen Zeit, der Zeit des Epos und der Zeit des Romans definiert Bachtin die historische Zeit als einen linearen Verlauf aus der Vergangenheit in die offene Zukunft, wobei von ihm die Transformationen des Romangenres als Entdeckungsstationen der historischen Zeit in der Literatur von der Antike bis in das XIX. Jahrhundert interpretiert werden.57 Die Linearität der historischen Zeit wird besonders deutlich im Kontrast zur kreisläufigen Dynamik der folkloristischen Zeit. Diese an landwirtschaftlichen Zyklen und an der Betrachtung der Natur ausgerichtete Zeit stellt laut Bachtin die älteste differenzierte Zeitstruktur dar, die in der Gegenwart keineswegs an Bedeutung eingebüßt hat. So stellt die Zeit des modernen Kalenders mit seinen zyklischen Abläufen und der permanenten Wiederkehr der Jahreszeiten, Monate, Fest- und Gedenktage eine im Alltag immer noch präsente Zeitstruktur dar, die nicht sukzessive über einmalige, unwiederholbare Momente, sondern über die Momente der vollständigen Identifikation zwischen zwei (oder mehreren) Zeitpunkten verläuft. In der zyklischen Struktur der folkloristischen Zeit lassen sich kein Anfang und kein Ende definieren. Geburt und Tod werden darin als gesetzmäßige Abläufe betrachtet, in Übereinstimmung mit dem Zyklus der Natur. So wie es aber in der Natur kein absolutes Ende geben kann, so wird auch der Tod nicht in seiner tragischen Dimension als Ende des Lebens wahrgenommen: Da sich Individualität nicht abhebt, können Alter, Verfall, Tod nur Momente sein, die dem Wachstum und der weiteren Vermehrung untergeordnet sind: notwendige Ingredienzen des produktiven Wachstums. (Chr/140-141) Bei einer Erzählung im Modus der folkloristischen Zeit wird daher kein besonderer Wert auf die Ausgestaltung von Anfang und Ende gelegt, die in der kreisläufigen Struktur kaum als solche wahrgenommen werden. Im Gegensatz zu einer solchen zyklischen Struktur der folkloristischen Zeit zeichnet sich die historische Zeit durch einen linearen Verlauf mit deutlich ausgegliedertem Anfang und Ende der Geschichte aus, das idealtypisch als offen und unvorhersehbar gedacht wird. Doch bedeutet die Einführung einer linearen Struktur nicht automatisch, dass die Zeit auf der horizontalen Achse in die Zukunft gerichtet wird. Im Epos als einer besonderen Etappe der Herausbildung der linearen Zeit verläuft die Zeit laut Bachtin in umgekehrter Richtung, von der Zukunft in die Vergangenheit. Eine solche Art der zeitlichen Dynamik bezeichnet Bachtin als »historische Inversion« (Chr/74). Durch die

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Im Gegensatz zu den Konzeptionen, die Anfänge des Romans in »Don Quichote« oder »Robinson Crusoe« sehen, nimmt Bachtin den antiken Roman in die Typologie des Romangenres auf, vgl. Bruhn/Lundquist: Introduction: A Novelness of Bakhtin?, S. 37-38. Zu Bachtins Verständnis des »historischen Romans« vgl. Кормилов: Особенности литературоведческой терминологии, S. 6263.

2. Theorie

Umkehrung der Zeitdynamik, die dabei stattfindet, werden »die Gegenwart und besonders die Vergangenheit auf Kosten der Zukunft angereichert« (Chr/75). Die Zukunft wird dabei als leer und inhaltslos gedacht oder durch die Vorstellungen vom Ende der Zeiten, der Apokalypse, dominiert. Die wahren Wertmaßstäbe finden sich dabei woanders: Um einem Ideal Realität zu verleihen, denkt man es sich als eines, das irgendwann im Goldenen Zeitalter im »Naturzustand« schon einmal dagewesen ist, oder man stellt es sich als in der Gegenwart existierend vor: irgendwo am Ende der Welt, jenseits aller Meere – wenn nicht auf der Erde, dann unter der Erde, wenn nicht unter der Erde, dann im Himmel. Man ist eher bereit, die Wirklichkeit (Gegenwart) in der Vertikalen – nach oben und unten – auszubauen, als entlang der Horizontalen der Zeit nach vorn zu gehen. (Chr/75-76) Dieses Zeitmodell wird im Epos sowie unterschiedlichen Formen der Eschatologie und der frühen Utopien realisiert, die eine bessere Welt in der Vergangenheit oder in räumlicher Abgeschiedenheit erkennen. Das Gemeinsame dieser drei Arten der historischen Inversion ist, dass die Bewegung der Zeit nicht zur Zukunft vorstößt, sondern rückwärts umgeleitet wird. Dabei staut sich die Zeit in der Dimension der Gegenwart und lässt sie auf der vertikalen Achse anschwellen. Eine besondere Art der Realisierung dieses Zeitmodells bezeichnet Bachtin als »mittelalterliche jenseitige Vertikale«. Charakteristisch sind für sie die Figuren der Allegorie und des Symbols, welche die Zeit ausschalten und die Welt räumlich in einem gleichzeitigen Schnitt von Oben bis Unten organisieren. Neben den Beispielen aus dem Ritterroman erwähnt Bachtin in diesem Zusammenhang Dante, in dessen »Divina Commedia« die mittelalterliche Vertikale der Zeit nach dem Grundsatz »unten die grobe Materialität der Menschen und Dinge, oben einzig Licht und Stimme« (Chr/85) entfaltet wird. In diesem Zeitmodell wird der individuelle Tod als Rückkehr in die Welt gedacht, der der Protagonist zwar zeit seines Lebens aufgrund seiner Werte verpflichtet bleibt, doch durch seine Präsenz in der Welt der Menschen von ihr getrennt ist. Er wird als Wiedersehen mit Ahnen, Müttern und Vätern, großen Personen der Vergangenheit und Aufnahme in ihre Runde nach dem Beispiel der altskandinavischen Walhalla dargestellt und als ruhmreiches Ereignis gefeiert. Besonders verbreitet ist dieses Modell laut Bachtin in epischen Erzählungen, die in ihrer temporalen Struktur auf der absoluten (»epischen«) Distanz zur Gegenwart des Lesers aufgebaut sind. Das epische Zeitmodell privilegiert nach Bachtin die Vergangenheit zugunsten der Gegenwart und der Zukunft. Als »vollkommen Vergangene« wird sie zu einem absoluten Wertmaßstab: Dieses vollkommen Vergangene ist eine spezifische (hierarchische) Wertkategorie. Für die epische Weltsicht sind »Anfang«, der »Allererste«, »Begründer«, »Vorfahre«, »einst Gewesene« usw. keine reinen Zeitkategorien, sondern Wert-Zeit-Kategorien […]: In diesem Vergangenen ist alles gut, und alles von Grund auf Gute (das »Allererste«) existiert nur in diesem Vergangenen. Auch für die nachfolgenden Zeiten bildet das epische vollkommene Vergangene den einzigen Quell und Ursprung alles Guten. […] Erinnerung und nicht Erkenntnis macht die grundlegende schöpferische Leistungsfähigkeit und die Kraft der alten Literatur aus. (EuR/478)

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Historische Zeit im Narrativ

Der epische Erzähler, der die »heldenhafte nationale Vergangenheit«, die »Welt der ›Ursprünge‹ und ›Höhepunkte‹«, die »Welt der Väter und Ahnherren« schildert, spricht über die Goldene Zeit, die unerreichbare Vergangenheit, der er niemals auf der gleichen Ebene wie seinen Zeitgenossen begegnen kann (EuR/476). Diese Scheidelinie ist nach Bachtin »der Form des Epos unmittelbar immanent und in jedem Wort zu spüren, zu hören« (EuR/478). Die ehrfürchtige Erinnerung an die Vergangenheit macht nach Bachtin ihre Erkenntnis unmöglich, da zwischen der Gegenwart des Lesers und der Vergangenheit eine absolute Distanz errichtet wird. Der idealisierten Vergangenheit wird die Gegenwart als etwas Unsicheres, Fließendes und Unabgeschlossenes entgegengesetzt, die Zukunft wird im Zeichen des fortschreitenden Untergangs als absolute Krise oder apokalyptische Katastrophe aufgefasst (EuR/483-484). Die Romanerzählung entsteht nach Bachtin aus dem Abbau der epischen Scheidelinie zwischen der Vergangenheit der Erzählung und der Gegenwart des Rezipienten58 . Den entscheidenden Faktor stellt dabei die Familiarisierung der Welt über die Lachkultur dar, da das Lachen über »die bemerkenswerte Kraft [verfügt], den Gegenstand heranzuholen«, ihn in die »Zone des unmittelbaren und derben Kontakts« (EuR/486487) zu überführen. Ohne auf die Rolle des Lachens, der mennipeischen Satire und der Karnevalisierung bei der Entstehung des Romans sowie auf die umfangreiche Kritik dieses Konzeptes in der Bachtinforschung näher eingehen zu können,59 möchte ich anmerken, dass die Bedeutung der Lachkultur für die Entstehung des Romangenres für Bachtin so wichtig ist, dass er sie über den Einfluss der ersten antiken Romane stellt (EuR/485-486). Das Heranholen des Gegenstandes in die Gegenwart, die das Lachen über ihn ermöglicht, zerstört die Hierarchie der epischen Zeit insbesondere dadurch, dass es den wertenden Maßstab in die Gegenwart verlegt. Dies ist nach Bachtin entscheidend für das neue Zeitgefühl, welches den Roman hervorbringt: »Der Roman ist mit der Sphäre der unabgeschlossenen Gegenwart verbunden.« (EuR/491) Im Roman wird »die Zone eines maximal nahen Kontakts des Gegenstands der Darstellung zur Gegenwart in ihrer Unabgeschlossenheit« (EuR/495) etabliert, wodurch der Roman zum Repräsentanten eines prinzipiell anderen Zeitgefühls – der historischen Zeit – wird. Der Roman stellt nach Bachtin also keine Unterart des Epos dar,60 sondern hat im literarischen System eine besondere Stellung als das Jüngste aller Genres, welches 58

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Diese Gegenüberstellung zwischen dem Epos und Roman hat N.D. Tamarčenko auf Bachtins Hegel-Lektüre zurückgeführt, vgl. Тамарченко, Н.Д.: »Эпос и драма как формы времени. К проблеме рода и жанра в поэтике Гегеля«, in: Известия Россий ской Академии наук. Серия литературы и языка 53 (1994), S. 3-14. Von V.L. Machlin wird sie zusätzlich als Reaktion Bachtins auf die »Ästhetisierung des Epos« in der Sowjetunion der 1930er Jahre betrachtet, vgl. Махлин, В.Л.: »Невозможный диалог: Бахтин и советская ›эстетика истории‹«, in: Исупов, К.Г. (Hg.), М. М. Бахтин и философская культура ХХ века. Проблемы бахтинологии, Санкт-Петербург 1991, S. 5-16, hier 8ff. Vgl. die Zusammenfassung dieser Polemik im deutschsprachigen Kontext bei Уолл, Энтони: »О взглядах на Бахтина в Германии«, in: Исупов, К.Г. (Hg.), М. М. Бахтин: pro et contra. Творчество и наследие М. М. Бахтина в контексте мировой культуры, Санкт-Петербург: РХГИ 2002, S. 425442. Zu Bachtins Polemik mit Georg Lukács in Bezug auf das Verständnis des Romans und des Epos vgl. Tikhanov, Galin: The master and the slave. Lukács, Bakhtin, and the ideas of their time, Oxford: Clarendon 2000, 55-61, 144-161, Eilenberger: Das Werden des Menschen im Wort, S. 203-219.

2. Theorie

auf Innovationen im Bereich der Zeitdarstellung gründet. Die Entdeckung der unabgeschlossenen Gegenwart als Gegenstand der Erzählung bezeichnet Bachtin als »Umorientierung«, deren Anfang er in der Renaissance verortet: In dieser Epoche fühlte sich die Gegenwart, das Heute, erstmals nicht nur als eine unabgeschlossene Fortsetzung der Vergangenheit, sondern auch als ein gewisser neuer und heroischer Beginn. (EuR/506) Die Folge dieser Neuorientierung zeigt sich laut Bachtin im Bildungsroman der Aufklärung und in Goethes Romanen. Die landschaftlichen, sozial-politischen oder moralischen Grundlagen werden nicht mehr als traditionell und unveränderbar gedacht, sondern stehen im Zeichen des Wandels, der das Gebäude des Altbewährten erschüttert. Die idyllische Landschaft wird von den Spuren der geologischen und artifiziellen Veränderungen durchzogen; die Konstanten des politisch-sozialen Lebens zeigen sich an solchen Sujets wie Revolutionen als hinfällig; schließlich verschieben sich auch die moralischen Normen sichtlich und verlieren ihren festen Charakter. Das Werden wird zum Prinzip der Romanform, die ein neues Weltbild generiert: Der oben charakterisierte Umschwung in der Hierarchie der Zeiten zieht auch einen radikalen Wandel in der Struktur der künstlerischen Gestalt nach sich. Die Gegenwart als »Ganzes« (obwohl sie eben kein Ganzes darstellt) ist prinzipiell nicht abgeschlossen: Sie verlangt von ihrem ganzen Wesen her nach Fortführung, sie geht in die Zukunft […]. Deshalb verlieren Zeit und Welt, wenn die Gegenwart zum Zentrum der menschlichen Orientierung in der Zeit und in der Welt wird, ihre Abgeschlossenheit im Ganzen wie auch in jedem ihrer Teile. Von Grund auf ändert sich das Zeitmodell der Welt: Sie wird zu einer Welt, in der es kein erstes Wort (keinen idealen Anfang) gibt und in der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. (EuR/494-495) Dies gilt bei Bachtin uneingeschränkt für das Weltbild im Roman im Allgemeinen, sei es dem Gegenwarts-, dem historischen oder dem utopischen Roman, da der Begriff der Gegenwart hier nicht im chronologischen Sinne, sondern im Sinne der besonderen Möglichkeit des Romans zu einer solchen Gestaltung der fiktiven Welt verwendet wird, die dem Leser in einem besonderen Maße gegenwärtig ist. Durch den Akzent auf die Gegenwart als einer gewissen Aktualität entwickelt sich im Roman eine prinzipiell andere Teleologie. Im Epos wird die Dimension der Zukunft durch die Vorstellung vom Schicksal dominiert, die durch die Prophezeiungen mehrfach angekündigt wird und deren Erfüllung den eigentlichen Erzählstoff bietet. Hingegen bleibt die Zukunft im Roman in Form des unbekannten Ausgangs der Handlung verschleiert, sodass für den Roman im Unterschied zum Epos nicht die Prophezeiung, sondern die Prognose typisch ist, die in der Zukunft das Ergebnis der Prozesse sieht, die sich in der Gegenwart abspielen. Neben den Figuren mit ihren Erwartungen, Vorbereitungen und anderen Zukunftsprojektionen ist auch der Leser in die Erstellung romaninterner Prognosen für die Zukunft der Figuren involviert; das Spiel mit solchen Lesererwartungen gehört zum kanonischen Bestand des Romangenres. Die Intensivierung der zeitlichen Dynamik auf der linearen Achse zwischen Vergangenheit und Zukunft hat also konkrete Folgen für die formalen Merkmale des Romans. Zum einen erfordert sie eine Erweiterung der Palette narrativer Verfahren, die

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Historische Zeit im Narrativ

die Erzählung der erlebten Gegenwart ermöglichen, so die verschiedenen Arten der Perspektivierung, der erlebten Rede, des Bewusstseinsstroms – all die Innovationen, die den Roman als Genre auszeichnen. Zum anderen ist der Roman an eine spezifische Ausgestaltung der Spanne zwischen Anfang und unbekanntem Ende einer Geschichte gebunden. Wie Bachtin anmerkt, spielt es im Epos keine besondere Rolle, wann die Geschichte anfängt und endet, da die Erzählung hier als Ausschnitt aus der dem Rezipienten bereits vertrauten Überlieferung präsentiert wird. Das Ende der Geschichte ist dem Leser daher bekannt und erweckt kein besonderes Interesse. So endet die »Ilias«, bevor der trojanische Krieg endet, weil das Ende des trojanischen Krieges dem Rezipienten bekannt ist. Der Roman lebt hingegen vom Interesse am Besonderen der Geschichte, den unerwarteten Wendepunkten und ihrem Ausgang. Auch bei einem prinzipiell vorprogrammierten Ende, das oft von einer Genrekonvention des Kriminal-, Liebes-, Abenteuerromans oder anderen seiner Unterarten mitgeprägt wird, soll der Ausgang der Romanhandlung einen Moment der Überraschung aufweisen. Die zeitliche Progression innerhalb der Romanfabel macht also zum einen die erzählte Welt im Modus der Gegenwart quasi erfahr- und erlebbar und simuliert zum anderen den linearen Zeitfluss, indem sie auf ein unbekanntes Ende zuläuft und Spannung erzeugt. Dabei bietet die verstärkte lineare Dynamik innerhalb der fiktiven Welt eines Romans ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den historiografischen Erzählungen, auf das Ricœur aufmerksam macht. Für historiografische Erzählungen besteht laut Ricoeur aufgrund des Gebots der Objektivität die Notwendigkeit, an andere historiografische Erzählungen anzuschließen und dadurch u.a. den Bezug auf das Davor und Danach der erzählten Zeitperiode aufzubauen. Die historiografischen Erzählungen haben also demnach permanent einen ausschnittartigen Charakter. Hingegen stellt jedes einzelne literarische Werk ein relativ autonomes ästhetisches Gebilde dar. Selbst wenn es intertextuelle Bezüge auf andere Werke aufweist, so teilt es mit diesen üblicherweise nicht dieselbe fiktive Welt. Oder, mit Ricœurs Worten, es hat keinen Sinn, »Märchen, Romane oder Theaterstücke zusammenzustücken und aneinanderzureihen« (ZuE/B1/264). Die Ausschnitthaftigkeit macht die historiografische Erzählweise am ehesten mit dem epischen Erzählen vergleichbar, das auch an eine bestimmte Überlieferung anschließt und die Vergangenheit Bachtin zufolge aus der Distanz als abgeschlossen und stattgefunden betrachtet. Wird sie im Epos durch den Wertekanon der traditionellen Gesellschaft geprägt, in dem die Vergangenheit als heroische Urwelt von Göttern, Helden und Ahnen aufgefasst wird, so läuft der wertende Aspekt in der Historiografie auf einen solchen methodologischen Fokus auf die Vergangenheit hinaus, bei dem die Distanz zwecks wissenschaftlicher Stringenz gewahrt werden soll; wird diese Distanz nicht eingehalten, drohen Einbußen bei der Glaubwürdigkeit und Validität der For-

2. Theorie

schungsergebnisse.61 Im Gegensatz zum Epos und zur Historiografie ist diese Distanz im Roman verringert, der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Gegenwart. Also kann und muss der Romanautor auch dort, wo er sich ausdrücklich auf vergangene Ereignisse beruft, diese Vergangenheit als eine Entfaltung der »Quasi-Gegenwart« der Romanfiguren oder der »narrativen Stimme« darstellen (ZuE/B2/167-168) und als einen dynamischen Ablauf gestalten, der einen Anfang, unerwartete Wenden und ein Ende haben muss. Eine Gelegenheit, diese Problematik an einem Beispiel zu verdeutlichen, bietet die Anlage von Gorʹkijs und Musils Romanen. Ihnen wird bereits zu Beginn ein ausschnitthaftiger Charakter verliehen, indem auf politische Ereignisse verwiesen wird, mit denen die Romane enden sollen. So deutet im »Mann ohne Eigenschaften« der Hinweis auf den August 1913 auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 hin,62 im »Leben des Klim Samgin« verweist der Untertitel »Vierzig Jahre« auf die Oktoberrevolution 1917. Somit wird der Handlung der Romane explizit ein zeitlicher Rahmen gesetzt; obwohl beide Romane unabgeschlossen blieben, wird von den Lesern vorausgesetzt, dass Musils Roman mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und Gorʹkijs Roman mit dem Ausbruch der russischen Revolution enden. Doch würde ein solches vorfiguriertes Ende im Schema des Romangenres keine »offene Zukunft« bieten, sondern auf bekannte Tatsachen hinauslaufen. Eine solche Ausrichtung könnte auf ein apokalyptisches Bewusstsein und somit auf die epische Inversion in die Zeit der goldenen Vergangenheit hinführen, doch bieten beide Romane in ihrer zeitlichen Dynamik mehr einen nostalgischen Rückblick, da in ihrem Mittelpunkt verpasste Chancen einer Zeit und mögliche Alternativen stehen. So zeigt sich die Vergangenheit nicht aus ehrfürchtiger Distanz als überlieferte und abgeschlossene Geschichte von der Erfüllung eines Schicksals, sondern als eine lebendige Gegenwart, die um die eigene Zukunft weder weiß noch ahnt. Prognosen und Spekulationen über den Ausgang der Parallelaktion im »Mann ohne Eigenschaften« sowie über den Ausbruch und den möglichen Charakter der russischen Revolution in »Klim Samgin« werden zum zentralen Mittel, den Horizont der offenen Zukunft in der Erzählung zu gestalten. Die innere Diskrepanz zwischen dem ausschnittartigen Charakter und der internen zeitlichen Dynamik beider Werke übt selbst auf professionelle Leser einen starken Sog aus: Eine der zentralen Fragen in der Forschung, deren Relevanz de facto nicht zur Debatte steht, bezieht sich auf das Ende beider Romane, die unabgeschlossen blieben. Auch beide Autoren werden bereits beim Schreiben zu Lesern ihrer eigenen Geschichte und denken permanent über ihren Verlauf und Möglichkeiten des Ausgangs nach. Dabei ist die subversive Abweichung vom intendierten Ende der Romane in der sozialen 61

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Lionel Gossman schreibt von der dominierenden Ambition der Historiker des XIX. Jahrhunderts, die Geschichtsschreibung als Nachfolgerin des epischen Erzählens zu etablieren: »After the French Revolution, the dominant ambition of historians was to make history – rather than fiction – the successor of epic as the repository of society’s values and of its understanding of the world.« (Gossman: Between history and literature, S. 252) Vgl. auch Gossmans Thesen zur Ähnlichkeit zwischen Mythos und Geschichte (ebd., S. 250-253). Vgl. bei Inka Mülder-Bach: »Rückblickend wird der Sommer 1913 ein Vorsommer gewesen sein, der letzte Sommer vor dem Krieg.« (Mülder-Bach, Inka: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften: Ein Versuch über den Roman, München: Carl Hanser Verlag 2013, S. 9)

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Katastrophe durch die spezifische Anspannung zwischen der Finalität politischer Ereignisse (Krieg, Revolution) und der Wirkung der Genrekonventionen, die im Roman imperativisch nach einem überraschenden Ende verlangen, bedingt. Anhand von Bachtins Verständnis der historischen Zeit als Zeit des Romangenres lassen sich also einige strukturelle Momente und innere Diskrepanzen beider Romane verstehen. Doch hat seine Definition der historischen Zeit auch Nachteile. Vor allem impliziert der Begriff der historischen Zeit bei Bachtin eine gewisse Wertung. Bachtins Aufsätze weisen ein ganzes Repertoire an Formulierungen auf, welche die historische Zeit als Produkt einer »Überwindung« herkömmlicher Schemata oder das Ergebnis des »Durchbruchs auf die historische Horizontale« beschreiben und ihr solche Eigenschaften wie »Dynamik«, »Offenheit«, »Freiheit« bescheinigen. Diese Wertung wird explizit, wenn Bachtin über das Genre des Romans spricht, in dem er die besonders zutreffende Ausdrucksweise der historischen Zeit in der Literatur63 und die Krönung der literarischen Entwicklung sieht. Im Roman »nahm in gewissem Maße die Zukunft der gesamten Literatur ihren Anfang« (EuR/505), und seine Möglichkeiten seien so reich, dass er spätestens ab dem XVIII. Jahrhundert zum dominierenden literarischen Genre werde.64 Besonders der Kontrast zwischen dem Roman und dem Epos lässt den Roman laut Craig Brandist als »genre of the modern age, produced by and participating in its dynamism«,65 erscheinen. Diese Rolle des Romans begründet Bachtin vor allem durch das zeitliche Merkmal der Offenheit oder Unabschließbarkeit, die er sowohl in den romaninternen Zeitstrukturen als auch in der Geschichte des Romans als jüngstes und sich permanent entwickelndes Genre sieht.66 Diese Emphase auf die Entwicklung, deren Ergebnis noch nicht vorliegt, birgt einen Optimismus in Bezug auf die Zukunft und eine große Begeisterung für den Roman als Genre.67 Diese Perspektive verteidigt Bachtin explizit, 63

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Die von Bachtin postulierte Korrelation zwischen der historischen Zeit und dem Romangenre ließe sich in Bezug auf die Unterarten des Romans weiter differenzieren. Ansgar Nünning und Roy Sommer zählen folgende gattungsspezifischen Ausprägungen des Romans auf, die in einer direkten Verbindung zu den Zeitkategorien stehen: »der historische Roman mit seiner ›gattungsspezifische[n] Rhetorik des Damals- und Heute‹, der Bildungsroman, zu dessen konstitutiven Merkmalen die Kombination der zeitlichen Ausdehnung der Handlung über mehrere Jahre mit der inneren Entwicklung des Protagonisten zählt, die Utopie, die die Möglichkeit fiktionaler Distanzierung von der Gegenwart zur Gesellschaftskritik nutzt, sowie die Science Fiction, die das zentrale Motiv der Zeitreise immer wieder aufs neue modifiziert […].« (Nünning, Ansgar/Sommer, Roy: »Die Vertextung der Zeit: Zur Narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch inszenierter Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen«, in: Middeke, Martin (Hg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 33-56, hier S. 48-49) O.E. Osovskij spricht diesbezüglich von dem »metaphorisch kosmischen Romanverständnis« Bachtins, vgl. Осовский: Роман в контексте исторической поэтики, S. 333. Brandist: The Bakhtin circle, S. 129. N.D. Tamarčenko sah Bachtins Betrachtungsweise des Romans als eines wandelbaren Genres in einem Widerspruch zu den Kategorien der klassischen Ästhetik, vgl. Тамарченко: Поэтика Бахтина и современная рецепция его творчества. Dieses Pathos wird in der Bachtinforschung unterschiedlich interpretiert. Boris Groys sah darin einen Glauben an die Eröffnung der Wahrheit durch den Roman, zu welcher der Interpretator des

2. Theorie

indem er am theoretischen Denken allgemein die Tendenz bemängelt, das Untersuchungsobjekt als relativ abgeschlossen zu betrachten.68 Morson fasst diese Eigenschaft von Bachtins Denken treffend zusammen: In Bakhtin’s view, both determinism and pure chance, both absolute certainty and total relativism, destroy human agency because they close down time. At best, they view development as mere change and so life becomes the unfolding of predetermined outcomes. But in Bakhtin’s view, time genuinely »forges the new«. The openness of time was crucial to Bakhtin because without it there could be neither real ethical choice nor genuine creativity.69 Im Gegensatz zum theoretischen Denken, welches die Zeit finalisiert, soll Bachtins am Genre des Romans orientierte Betrachtung der historischen Zeit in ihrer Unabschließbarkeit einen Ausgleich schaffen. Darin stimmt er mit Ricœur überein: Beide betrachten die narrative Zeitgestaltung als Alternative zum theoretischen Denken über die Zeit und insistieren darauf, dass literarische Erzählungen aus der Diskrepanz der Zeiterfahrung ihre Gestaltungsräume gewinnen. Eine weitere Schwierigkeit von Bachtins »romanverliebter« Theorie besteht im folgenden Widerspruch: zum einen bezieht Bachtin die historische Zeit auf den Roman im weiten Sinne des Wortes, zum anderen macht er spezifische Angaben dazu, was zur Entfaltung der historische Zeit im engeren Sinne des Wortes, in verschiedenen Subgenres des Romans beiträgt. Im Weiteren gehe ich auf einige, von Bachtin thematisierte Fälle und auf den spezifischen Einsatz narrativer Elemente ein, die zur Steigerung der zeitlichen Dynamik und der Forcierung der historischen Zeit im Narrativ führen. Die Verdoppelung des Sujets im historischen Roman Ein wichtiger Zug von Bachtins Denkweise über die Zeit besteht darin, dass er die zeitlichen Strukturen schon immer in Form von Sujets, d.h. nie losgelöst von der Betrachtung literarischer Narrative, betrachtet. So beschreibt er den Bruch in der Zeiterfahrung als Herausbildung von zwei divergierenden Arten des Sujets: »Die Sujets des privaten Lebens können auf das Leben des gesellschaftlichen Ganzen (des Staates, der Nation) nicht ausgedehnt, nicht übertragen werden«, die »histo-

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Romans verhelfen soll (Гройс, Борис: »Проблема авторства у Бахтина и русская философская традиция«, in: Russian Literature XXVI (1989), S. 113-130, hier S. 115). Hingegen bemängelte Tzvetan Todorov die Widersprüchlichkeit von Bachtins Romanverständnis: »It seems that the concept of the novel is so essential to Bakhtin that it escapes his own rationality, and that the use of the term is due to an attachement of a primarily affective nature, that does not bother about the reasons of its fixation.« (Todorov: Mikhail Bakhtin, S. 85-86) Rumjana Delčeva und Eduard Vlasov verwiesen auf Überschneidungen zwischen Bachtins Romantheorie und dem Pathos des sozialistischen Realismus, der zur gleichen Zeit in der Sowjetunion zum führenden ästhetischen Paradigma avanciert. (Делчева, Румяна/Власов, Эдуард: »Михаил Бахтин и учение социалистического реализма«, in: Диалог. Карнавал. Хронотоп 28 (1999), S. 5-32.). Diese Kritik geht bei Bachtin so weit, dass sich Caryl Emerson und Gary Saul Morson in ihrer umfassenden Monografie zu Bachtins Literaturtheorie gezwungen sahen, den Begriff »Theorie« zu verwerfen und stattdessen den Begriff »prosaics« einzuführen, vgl. Morson, Gary S./Emerson, Caryl: Mikhail Bakhtin. Creation of a prosaics, Stanford, Calif: Stanford Univ. Press 1990. Morson: Bakhtin, Genres, and Temporality, S. 173.

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Historische Zeit im Narrativ

rischen Sujets«, die sich auf das Leben der Gemeinschaft beziehen, unterscheiden sich »in spezifischer Weise von den Sujets des privaten Lebens (Liebe, Ehe)« (Chr/142, m.H.). Zum Erfahrungsraum des Subjekts wird die Zeit, indem sie als Zeit des Alltags und des Körpers in Form von Sujets – Liebe, Ehe – zum Gegenstand einer Erzählung wird. Im Rahmen dieser Sujets kann jedoch »das Leben des gesellschaftlichen Ganzen« nicht erzählt werden. Seine zeitliche Dynamik fällt hinter den Wahrnehmungshorizont des Individuums, das kollektive Leben wird als statisch wahrgenommen: In den nachfolgenden, nun schon literarischen Entwicklungsepochen der Bilder und Sujets kommt es zum Zerfall des gesamten Materials in Sujetereignisse und deren Hintergrund (die Landschaft der Natur, die unwandelbaren Grundpfeiler der sozialpolitischen Ordnung, der Moral u. dgl.) – unabhängig davon, ob dieser Hintergrund für alle Zeiten oder lediglich in Bezug auf die gegebene Sujetbewegung als starr und unveränderlich gedacht wird. Die Macht der Zeit – und folglich auch das, was das Sujet ausmacht – ist in der nachfolgenden Literaturentwicklung immer begrenzt. (Chr/143) Für Bachtin hängt das kognitive Schema des Traditionsdenkens, in dem die »sozialpolitische Ordnung« als »starr und unveränderlich« gilt, mit dem Fehlen von Erzähloptionen zusammen, der kollektiven Zeit Dynamik zu verleihen. Die Statik des Kollektiven beschreibt Bachtin anhand der räumlichen Metapher des Hintergrundes. Während sich die Figuren als Träger von signifikanten Veränderungen oder Peripetien im Vordergrund bewegen, bleibt das kollektive Leben im Hintergrund statisch.70 Dass Erzählungen die kollektive Zeit als einen dynamischen Wandel reflektieren, ist laut Bachtin also nicht selbstverständlich. Folgt man ihm und denkt man diese These in ihrer Konsequenz weiter, so lässt sich vermuten, dass das-in-Bewegung-setzen des statischen Hintergrundes den Rahmen traditioneller Narrative sprengen muss. Eine zunehmende Dynamik des Kollektiven würde das Gleichgewicht zwischen den Peripetien im Vordergrund und der statischen Folie im Hintergrund bedrohen. Die »sujetlosen« Elemente des Hintergrundes werden »sujethaft«, hingegen verlieren die ursprünglich »sujethaften« Elemente im Vordergrund der Erzählung die Folie, vor der sie als solche wahrgenommen werden könnten. Ein Zwischenstadium dieser Entwicklung bietet laut Bachtin das »doppelte Sujet der historischen Romane«, in dem sich die zeitlichen Reihen der subjektiven und der kollektiven Zeit punktuell miteinander verschränken: Sie »überkreuzen sich […] in einigen spezifischen Punkten (Krieg, Heirat des Königs, Verbrechen)«, laufen aber von diesen Überkreuzungspunkten »in verschiedene Richtungen auseinander«. Einige Zeilen später ergänzt Bachtin diese Reihe durch die Nennung einer moderneren Form solcher doppelter Sujets, die Erzählungen über »die historischen Ereignisse und das Leben, das eine historische Persönlichkeit als privater Mensch führt« (Chr/142). Diese

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Michael Holquist hat Bachtins Unterscheidung zwischen Vordergrund und Hintergrund der Erzählung auf die strukturalistische Unterscheidung zwischen plot und story bezogen, aus deren Interaktion sich für ihn das dialogische Element des Chonotopos ergibt: »It is this necessary simultaneity of figure (in this case, plot) and ground (or story) that constitutes the dialogic element in the chronotope.« (Holquist: Dialogism, S. 114)

2. Theorie

Motive oder Topoi operationalisieren die Überkreuzung beider Sujets miteinander, indem sie von der Perspektive der privaten Zeit ausgehend einen Zugang zur kollektiven Zeiterfahrung bieten: Zentrales und nahezu einziges Thema eines rein historischen Sujets war lange Zeit hindurch das Thema des Krieges. Dieses im eigentlichen Sinne historische Thema (hierher gehören die Motive der Eroberungen und der politischen Verbrechen – Beseitigung von Prätendenten, dynastische Umstürze, Untergang von Reichen, Gründung neuer Reiche, Gerichtsverfahren, Hinrichtungen u. dgl.) ist mit den Sujets des privaten Lebens der historischen Persönlichkeiten (mit dem zentralen Motiv der Liebe) verflochten, ohne mit ihm zu verschmelzen. Hauptanliegen des historischen Romans der neueren Zeit war es, diese Dualität zu überwinden: Man war bestrebt, für das private Leben einen historischen Aspekt zu finden, die Geschichte dagegen »auf häusliche Art« (Puschkin) zu zeigen. (Chr/151-152) Also können Kriege gerade deshalb zu »Denkwürdigkeiten werden«71 , da sie es als genuin historisches Sujet erlauben, die signifikanten politischen und sozialen Ereignisse mit den Sujets des privaten Lebens zu verknüpfen. Neben dem politischen Verbrechen, der Krise und dem privaten Leben historischer Persönlichkeiten bietet »das Thema des Krieges« Möglichkeiten der Verschränkung von beiden Sujetebenen und ermöglicht somit eine Einsicht in die Dynamik der kollektiven Zeit von der Warte der individuellen Zeitwahrnehmung. Davon ausgehend lässt sich vermuten, dass mit der größeren Dynamisierung der kollektiven Zeit feste Erzähltopoi – die Heirat des Königs, der Krieg und das Verbrechen – zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Die erzählte Welt würde sich in eine Drehscheibe verwandeln, wenn nicht die konventionellen, eingeübten Formen der Übertragung Orientierung bieten und die komplexe, um ihre Achse kreisende Struktur des Sujets stabilisieren würden. Als herkömmliche, traditionelle oder besonders zutreffende Darstellungsformen werden diese Erzählmuster von den Liebhabern »historischer« Stoffe und Sujets kaum hinterfragt; ihre Tragweite in der modernen Welt wird von Bachtin jedoch grundsätzlich angezweifelt, da »das gemeinschaftlich-staatliche Leben« – wie Bachtin anmerkt – parallel zur gesteigerten Dynamik des kollektiven Lebens an Abstraktion gewinnt. In dieser Situation wird es zunehmend schwieriger, es als Sujet zu konfigurieren: »In der Epoche des entwickelten Kapitalismus wird das gesellschaftliche Leben abstrakt und nahezu sujetlos.« (Chr/142) Hinter dieser These Bachtins klafft eine Ungewissheit, die der vorliegenden Arbeit einen entscheidenden Forschungsimpuls verleiht. Was bedeutet es, wenn gesellschaftliches Leben an Abstraktion gewinnt? Wieso

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Vgl. bei Robert Musil: »[…] zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen. Gerade das ist es aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben, wie es die Zeitungen tun, oder es handelt sich um Berufs- und Vermögensangelegenheiten, denn in wieviel Jahren man pensionsberechtigt sein wird oder wann man eine bestimmte Summe besitzen wird oder ausgegeben hat, das ist natürlich wichtig, und in solchem Zusammenhang können auch Kriege zu Denkwürdigkeiten werden.« (MoE/B1/573-574)

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Historische Zeit im Narrativ

stellt die fortschreitende Abstraktion des gesellschaftlichen Lebens seine Erzählbarkeit in Frage? Beide Fragen lassen sich – so meine These – anhand der Lektüre von Musils und Gorʹkijs Romanen beantworten. Dem »abstrakten, fast sujetlosen« Verlauf der kollektiven Zeit gewinnen Musil und Gorʹkij sujethafte Momente und Dynamik ab. In beiden Romanen wird die kollektive Zeit als Zeit der Ideenpraxis gestaltet, die zwar abstrakt ist, in beiden Romanen aber in einen Erzählstoff verwandelt wird. Die kollektive Zeit auf dieser Ebene erzählbar zu machen, ist eine erhebliche Leistung beider Romane. Um diese spezifische Qualität der historischen Zeit in ihrer Dynamik zu beschreiben, verstehe ich das doppelte Sujet der historischen Romane in Anlehnung an Ricœurs Betrachtung der Quasi-Fabel historiografischer Narrative als das wichtigste Spezifikum literarischer Erzählungen im Modus der historischen Zeit. Dabei wird in einem Sujet ähnlich wie in der historiografischen Quasi-Fabel der kollektive Wandel modelliert, während im zweiten die Lebensperipetien der Protagonisten als Individuen eine Linie ergeben, die sich mit der Reihe der kollektiven Zeit punktuell verschränkt. Die Realisierung dieses doppelten Sujetbogens in den beiden vorliegenden Romanen steht als zentrales strukturelles Merkmal der historischen Zeit im Narrativ im Mittepunkt meiner Romananalysen. Ergänzend dazu bespreche ich unten zwei weitere variable Parameter der Erzählung, die der qualitativen Auswertung der historischen Zeit in ihrer Dynamik dienen: die Verfahren der Perspektivierung/Fokalisierung und ihre Rolle in der Fabelkomposition sowie die Manifestation der zeitlichen Dynamik in der räumlichen Struktur der fiktiven Welt. Perspektivierung/Fokalisierung als Mittel der Steigerung der linearen zeitlichen Dynamik Den »inneren Aspekt« für die kollektive Zeit zu finden (Chr/151-152), erkennt Bachtin als die zentrale Aufgabe des historischen Romans der Neuzeit. Die Romanerzählung, die sich in ihren Anfängen auf die Gestaltung privater Schicksalsperipetien spezialisierte, verfügt über die notwendigen Ressourcen für die Konstruktion dieses »inneren Aspekts« auf der Ebene der kollektiven Zeit. Hierfür stehen den literarischen Narrativen zahlreiche, elaborierte Techniken der Bewusstseinsimitation zur Verfügung, die als das Alleinstellungsmerkmal literarischer Narrative im Vergleich zum historiografischen Erzählen gelten. Von Käte Hamburger eingeführt,72 wurde diese These von Dorrit Cohn in ihrem berühmten erzähltheoretischen Band »The Distinction of Fiction« weiterentwickelt.73 Besonders in der Perspektivierung des Geschehens sieht Cohn ein herausragendes Merkmal literarischer Narrative, die sie von historiografischen Erzählungen unterscheidet. Am Beispiel der Darstellung der Borodino-Schlacht in Lev Tolstojs »Krieg 72

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Vgl. Hamburgers berühmte Monografie »Die Logik der Dichtung«, insbes. das Kapitel »Das Zeitproblem im historischen Roman«, in dem u.a. Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« als Beispiel für solche Werke zitiert wird, »in denen das Vergangensein des Erzählten besonders betont oder geradezu thematisch wird«, das Erzählte jedoch nicht aus der »historischen« Erzähldistanz erscheint (Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett-Cotta 1977 [1. Auflage erschienen 1957], S. 95-96). Cohn, Dorrit: The distinction of fiction, Baltimore: Johns Hopkins Univ. 2000, insbes. das Kapitel »Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective«, S. 109-131.

2. Theorie

und Frieden« zeigt Cohn, wie die Fokalisierung durch Pierre Besuchov das Ereignis der Schlacht zwar an vielen Stellen verdunkelt, die der Protagonist nicht unmittelbar wahrnehmen und um die er nicht wissen kann, dafür die Schlacht aber in ihrer Dynamik und insbesondere über Seh- und Geräuscheindrücke erfahrbar macht.74 Dabei sind die Möglichkeiten der fokalisierenden Instanz, etwas wahrzunehmen und zu wissen, eng an das gekoppelt, was sie nicht weiß oder nicht wissen kann. Dass die Konstruktion der subjektiven Perspektive an gewisse Einschränkungen gebunden ist, drückt Bachtin, der die Fokalisierung als spätere Kategorie der Erzählforschung noch nicht kennt, durch die Kategorie des Nicht-Wissens aus75 und räumt ihr große Bedeutung für den Roman ein: Der Roman […] spekuliert mit der Kategorie des Nichtwissens. Es bilden sich verschiedene Formen und Methoden heraus, den Überschuß des Autors an Wissen (das, was der Held nicht weiß und nicht sieht) auszunutzen. (EuR/497) Die Einschränkung der Perspektive und des Wissens von Figuren führt zur Konstruktion eines geschlossenen Wahrnehmungshorizontes und macht die zeitlichen Abläufe erkennbar, erlaubt ihre Detaillierung und das Wechselspiel zwischen den Figuren und dem Erzähler. Sie wirkt sich auch auf die innere Dynamik der Erzählung aus, indem sie das Erleben der Figuren als unmittelbare Gegenwart der menschlichen Psyche darstellt und die Bewegung der Zeit im Horizont zwischen der Vergangenheit als Erinnerung, Gegenwart als Erleben und der Zukunft als vorausschauende Prognose vermittelt. Doch wird die Bewusstseinsmodellierung in der Literaturwissenschaft oft in einen Widerspruch zum Aufbau der Fabel gestellt. Zu dieser Tendenz, die im episodischen, stark perspektivierten und kontingenten Erzählen die adäquate Form des Erzählens in der literarischen Moderne sieht, äußert sich Ricœur in »Zeit und Erzählung«. Laut Ricœur liegt in der »Darstellung des Denkens, der Gefühle und der Rede« »die ungeheure Vielfalt und die unbegrenzte Schmiegsamkeit« des Romans, die ihn »zum bevorzugten Mittel der Erforschung der menschlichen Psyche gemacht [hat]« (ZuE/B2/151). Doch stellen diese Eigenschaften der Romanerzählung laut Ricœur eine Herausforderung für den aristotelischen Begriff der mimēsis praxeos, verstanden als Repräsentation einer vollständigen und einheitlichen Handlung, dar. Da Nachahmung des Bewusstseins, Darstellung der Gedanken, erlebte Rede und Bewusstseinsstrom narrative Techniken sind, die von der aristotelischen Poetik nicht berücksichtigt werden, müssen sie in das Konzept der Fabelkomposition zusätzlich integriert werden. Ricœur polemisiert gegen die These, dass aufgrund der Erfahrungskomplexität der Moderne keine kohärenten Erzählungen mehr möglich sind. Er erkennt in dieser Tendenz das Paradigma der Wirklichkeitstreue wieder, die ihren Ursprung im XIX. Jahrhundert hatte und bereits bei der Etablierung des naturalistischen Romans eine große

74 75

Ebd., S. 150-162. Neben der Kategorie des Nicht-Wissens leistete Bachtin, wie Wolf Schmid erläuterte, einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Perspektive/Fokalisierung in narrativen Texten durch die Problematik von »vnenachodimostʹ« und durch seine Interpretation der Beziehung zwischen dem Autor und dem Helden eines erzählenden Textes, vgl. Schmid, Wolf: »Вклад Бахтина в теорию текстовой интерференции«, in: Russian Literature XXVI (1989), S. 219-236.

65

66

Historische Zeit im Narrativ

Rolle spielte. Laut Ricœur hat sich »das Wahrscheinlichkeitsargument […] einfach verschoben«: Früher war es die soziale Komplexität, die das Abweichen vom traditionellen Paradigma fordere; heute ist es die angebliche Inkohärenz der Wirklichkeit, die das Aufgeben jedes Paradigmas notwendig mache (ZuE/B2/25). Dieser Denkweise stellt Ricœur seinen erweiterten Fabelbegriff entgegen, der weder an das Kriterium der Vollständigkeit76 noch an das Kriterium der Einheitlichkeit der Handlung gebunden ist. Die Metamorphosen der Fabel führen zu der Notwendigkeit, auch ihre Umformungen anzuerkennen, »die Fabeln genannt werden dürfen, solange zeitliche Totalitäten erkennbar bleiben, die zwischen Umständen, Zielen, Mitteln, Interaktionen, gewollten oder ungewollten Resultaten eine Synthese des Heterogenen herstellen« (ZuE/B2/15). Die Fabel besteht also weiter, solange zwischen den Elementen einer Erzählung eine zeitliche Verknüpfung besteht. Die fehlende Kohärenz moderner Erzählungen wird also in Ricœurs Konzept der Fabelkomposition mitreflektiert und außerdem zusätzlich auf den Prozess der Refiguration (mimēsis III) bezogen: Ein Teil der Kompositions- und Verknüpfungstätigkeit überantwortet er dem Leser, der im Leseprozess versucht, auch die in sich inkonsistente Fabel zu rekonstruieren. Ricœurs optimistische Position ist durch den folgenden Satz gut auf den Punkt gebracht: »Frustration kann nicht das letzte Wort sein.« (ZuE/B2/44) Wenn der Romanautor mit den Leseerwartungen spielt, kann er das tun, weil diese Erwartungen bestehen. Also äußert sich Ricœur optimistisch bezüglich der Zukunft der Romanform und der Erzählung in der Kultur: Vielleicht muß man trotz allem dem Konsonanzbedürfnis vertrauen, das noch heute die Leseerwartung bestimmt, und daran glauben, daß neue Erzählformen, die wir noch nicht benennen können, im Entstehen begriffen sind, die davon zeugen werden, daß sich die Erzählfunktion wandeln, jedoch nicht sterben kann. Denn wir haben keine Vorstellung von einer Kultur, in der man nicht mehr wüßte, was Erzählen heißt (ZuE/B2/5051). Erzählen als kulturelle Konstante kann sich also wandeln, aber nicht schwinden; besonders in den innovativen Formen des Erzählens sieht Ricœur Potenzial für subtilere Formen der Zeiterfahrung. Ricœur sieht die Literatur also prinzipiell emphatisch als einen den aporetischen Strukturen der Zeiterfahrung adäquateren Modus an und schätzt das Potenzial der Literatur im Vergleich mit den historiografischen Erzählungen als wesentlich größer ein. Die Einführung der historischen Zeit in der Historiografie resultiert für ihn »in einer glättenden Versöhnung […], die dazu tendiert, den Aporien ihre Spitze zu nehmen, ja sie in der Belang- und Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen« (ZuE/B3/217). Dagegen besteht die Kraft der literarischen »Fabeln von der Zeit« darin, »diese Aporien neu zu beleben, ja sogar zu verschärfen« und sie dadurch produktiv zu machen (ZuE/B3/217). Leider wird die historische Zeit von Ricœur dabei als interne Zeit einer wissenschaftlichen Disziplin angesehen, die in der Bruchzone der menschlichen Erfahrung vermittelt und dabei auf Kompromisse angewiesen ist. Doch wenn

76

Vgl. Ricœurs Auseinandersetzung mit dem Problem des permanenten Endes bei Frank Kermode (ZuE/B2/40-48).

2. Theorie

gerade die literarischen Phantasievariationen mit einer großen Schärfe auf die Aporien der Zeitlichkeit reagieren, so lässt sich vermuten, dass literarische Erzählungen, sobald sie die Bruchzone der menschlichen Zeiterfahrung berühren, mit ihrer Version der Vermittlung im Modus der historischen Zeit mehr als einen »stark vereinfachten Zeitbegriff« liefern.77 Das breite Feld der Modellierung des individuellen Bewusstseins in der Literatur muss also auf die spezifischen Verfahren hin befragt werden, welche die Übertragung zwischen der individuellen Perspektive und der Dimension des Kollektiven operationalisieren. Die spezifischen Ressourcen, welche die Verfahren der Perspektivierung/Fokalisierung sowie der Figurencharakterisierung für die Ausgestaltung der historischen Zeit im Roman bieten, lassen sich anhand von Bachtins Vergleich zwischen Figuren im Epos und im Roman präzisieren. Laut Bachtin werden Figuren im Epos vor allem als Vertreter des öffentlichen Ganzen betrachtet: Die individuellen Lebensreihen werden dort wie Basisreliefs vor dem umgreifenden und mächtigen Fundament des gemeinsamen Lebens dargeboten. Die Individuen sind Vertreter des gesellschaftlichen Ganzen, die Ereignisse ihres Lebens fallen mit den Ereignissen im Leben des gesellschaftlichen Ganzen zusammen, und diese Ereignisse haben auf der individuellen wie auch auf der gesellschaftlichen Ebene die gleiche Bedeutung. Der innere Aspekt verschmilzt mit dem äußeren; der Mensch ist ganz und gar außen. Es gibt keine Privatangelegenheiten, keinen Alltag: Alle Einzelheiten des Lebens – Essen, Trinken, die Dinge des Hausgebrauchs – sind den großen Ereignissen des Lebens gleichwertig, alles ist gleichermaßen wichtig und bedeutsam. Es gibt keine Landschaft, keinen unbeweglichen, toten Hintergrund; alles agiert, alles nimmt teil an dem einen Leben des Ganzen. (Chr/152-153) Als monumentale Helden, Väter oder Ahnen heben sich die Figuren des Epos laut Bachtin nur halb wie in einem Basisrelief vor dem Hintergrund des sozialen Lebens ab. Auch die alltäglichen und intimen Handlungen des epischen Helden haben Bedeutung für das gesellschaftliche Ganze und werden nach außen getragen und zur Schau gestellt. Hingegen werden Figuren im Roman als Instanzen des individuellen Bewusstseins wahrgenommen und können in einen Konflikt mit dem kollektiven Leben im Hintergrund geraten. Im Gegensatz zu dem epischen Helden kann und muss der Romanprotagonist seiner Umgebung nicht entsprechen: Er wächst in sie hinein, wird zu ihr erzogen (Bildungsroman) oder gerät mit ihr in einen Konflikt, an dem er zugrunde geht (realistischer Roman). Er muss sich zunächst Prüfungen unterziehen, um als »Held« zu gelten, zum König zu werden oder als vollwertiges Gesellschaftsmitglied im Sinne der Gemeinschaft handeln zu dürfen. Diese Muster betrachtet Bachtin als eine Invariante der »Idee der Erprobung des Helden und seines Wortes« als der »eigentliche[n] organisierende[n] Grundidee des Romans«.78 In diese Reihe stellt er u.a. auch die Erzählungen vom »überflüssigen Menschen« (russ. »лишний человек«) und das Motiv der »Erpro-

77 78

Moser: Die Erzählung als Bild der Zeit, S. 66. Bachtin, Das Wort im Roman, S. 222.

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Historische Zeit im Narrativ

bung des Intellektuellen in der Revolution« als »Subform« des gleichen Erzählmusters, der sich u.a. Gorʹkijs »Klim Samgin« unterordnen lässt.79 Dem Romanprotagonisten als Instanz des inneren Lebens sowie seinem Konflikt mit der kollektiven Zeit kommt also bei der Ausgestaltung der historischen Zeit zentrale Bedeutung zu. In meinen Romananalysen betrachte ich die Perspektive beider Romanprotagonisten, die in den Romanen die Funktionen der Beobachtung und der Kritik ausüben, im Zeichen der Möglichkeit, den »inneren Aspekt« im Kontext kollektiv signifikanter Abläufe zu konstruieren und durch die Aufladung des Konfliktpotenzials dem Ablauf der historischen Zeit auf einer hoch abstrakten Ebene dynamische und ereignishafte Überkreuzungsmomente abzugewinnen. Historische Zeit im Raum Die Aktualität der Handlung im Roman darf laut einer ausdrücklichen Warnung Bachtins nicht als Modernisierung der Vergangenheit verstanden werden. Im Gegenteil, eine »wirklich objektive Darstellung der Vergangenheit als Vergangenheit [ist] nur im Roman möglich« (EuR/494). Die historische Zeit kann sich nach Bachtin nur dann vollständig entfalten, wenn die Vergangenheit nicht als statisch konserviert, sondern in ihrem Zusammenhang mit der Gegenwart als vergehend und wandelbar dargestellt wird.80 Die räumliche Manifestation einer solchen Beziehung zwischen Vergangenheit und der Gegenwart wird nach Bachtin durch die Fähigkeit ermöglicht, wirksame Spuren der Zeit im Raum zu entdecken. Durch die Spur wird dem Raum der dynamische Aspekt der Zeit eingeschrieben, wobei der Raum zum Medium des Zeitflusses wird. Wie oben besprochen wurde, kann gerade dort, wo die Intensität der Spuren ihre höchste Stufe erreicht, die sekundär geschichtliche Relation auf die Vergangenheit Oberhand gewinnen und die lineare Dynamik der historischen Zeit im Zeichen der »epischen Inversion« (Chr/74ff.) rückwärts kehren. Ein Beispiel für eine solche Inversion bietet für Bachtin das Schloss: Als ein prominenter Schauplatz des historischen Romans tendiert er zu einer maximalen Spurendichte. Das Schloss ist für Bachtin »mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit im engen Sinne des Wortes, d.h. mit der Zeit der historischen Vergangenheit [angefüllt]« (Chr/183). Die Zeitablagerungen sind in den Teilen des Baus, unterschiedlichen Gegenständen, der dynastischen Erbfolge gegenwärtig. Jedoch haftet diesen Spuren der Zeit etwas »Antiquiert-Museales« an, das die Vergangenheit konserviert und zum statischen Bild macht. Seine reiche Bildhaftigkeit macht das Schloss zu einem beliebten Topos für den »gotischen« oder »schwarzen« Roman; für den historischen Roman jedoch haftet daran die Gefahr, an zeitlicher Dynamik einzubüßen und der Beschaulichkeit zum Opfer zu fallen. Ein Beispiel dafür, wie man dem entgegensteuern kann, sieht Bachtin in Walter Scotts Romanen: Indem Scott die Schlosslegende und die Interaktion des Schlosses mit der umgebenden Landschaft herausarbeitet, kann er dem Schloss »historische Intensität« verleihen (Chr/183). 79 80

Ebd., S. 224. V.V. Nazincev sieht darin einen qualitativen Unterschied zum zeitphilosophischen Ansatz Heideggers, der zu einem nostalgischen Blick zu den »Quellen, zu der Welt der ›Väter und Größen‹, des ›absolut Vergangenen‹« tendiere. (Назинцев, В.В.: »Мыслитель Бахтин и теоретик Хайдеггер«, in: Исупов, К.Г. (Hg.), М. М. Бахтин и философская культура XX века. Проблемы бахтинологии, Санкт-Петербург: РПГУ 1991, S. 102-112, hier S. 109-110)

2. Theorie

Im Gegensatz dazu findet Bachtin im Bildungsroman und insbesondere bei Goethe einen anderen Umgang mit der Spur vor, den Bachtin als eine vollkommene Entfaltung der historischen Zeit im Roman bewertet. In seinem Aufsatz zum Entwicklungsroman schildert Bachtin Johann Wolfgang von Goethes besondere Fähigkeit, die »wesentliche und lebendige Spur des Vergangenen im Gegenwärtigen« (RV/300) zu erkennen. Mithilfe des künstlerischen Sehens, das Bachtin an Goethe bewundert, erkennt der Letztere den Zusammenhang zwischen der Spur der Vergangenheit und der Gegenwart und kann so die Beziehung aus der Vergangenheit auf die Zukunft hin gestalten: […] die Vergangenheit selbst muss schöpferisch sein, soll in der Gegenwart wirksam sein (auch in der negativen, für sie unerwünschten Richtung). Diese schöpferisch-wirksame Vergangenheit, die die Gegenwart bestimmt, gibt zusammen mit dieser Gegenwart eine gewisse Richtung der Zukunft, bestimmt sie zu einem gewissen Grad. Dadurch wird die Zeit-Ganzheit erreicht, die dabei eine anschauliche, sichtbare Ganzheit ist. (RV/301) Die Zeit-Ganzheit, die Bachtin in Goethes Romanen zu erkennen glaubt,81 hat somit für ihn als »anschauliche, sichtbare Ganzheit« Priorität vor allen anderen Zeitformen, da sie eine uneingeschränkte Dynamik des zeitlichen Flusses aus der Vergangenheit in die Zukunft ermöglicht. Dabei nimmt Bachtin die gleiche Unterscheidung vor, die ich an einer früheren Stelle mit Ricœur als Unterscheidung zwischen dem primär und sekundär Geschichtlichen eingeführt habe. In diesem Sinne steht Goethes Bildungsroman dem primär Geschichtlichen nahe und wird von Bachtin in dieser Eigenschaft der linearen Dynamik als literarische Manifestation der historischen Zeit interpretiert. Vor diesem Hintergrund muss in der vorliegenden Untersuchung zusätzliche Aufmerksamkeit auf die Fähigkeit von Räumen gelegt werden, zeitliche Dynamik zum Ausdruck zu bringen. Wie ich an der entsprechenden Stelle zeige, findet man in Musils Roman ein beeindruckendes Bild des kollektiven Wandels, der im geologischen Raum verankert wird und bei dem die Intensität der zeitlichen Dynamik, die Bachtin bei Goethe vorfindet, noch weiter gesteigert wird (vgl. das Kapitel »5.1.3.2.1. Die Überschätzung der Gegenwart und das Bewusstsein des Wandels«). Doch sind neben dem Aspekt der zeitlichen Dynamik die Elemente der Raumstruktur zu beachten, die der Handlung beider Romane entsprechende narrative Ressourcen zur Verfügung stellen. Einen Ansatz dazu, wie man den Raum als Schauplatz der Handlung im Fall von Musils und Gorʹkijs Romanen denken kann, liefert Michail Bachtin bei seiner Beschreibung des Salons als literarischem Topos, der ab dem XIX. Jahrhundert als alternativer Handlungsort für die Entfaltung der historischen Zeit an Wichtigkeit gewinnt. Laut Bachtin bietet der Salon besondere Möglichkeiten der Verschränkung des Privaten mit dem Öffentlichen. Er stellt gleichzeitig einen Ort privater Begegnungen und ein »Barometer der Politik und des Geschäftslebens« dar und bringt eine »Verflechtung des Historischen und Gesellschaftlich-Öffentlichen mit dem Privaten und

81

Laut Elena Nährlich-Slateva entleiht Bachtin Goethes Schriften auch den Begriff des »vollkommen Vergangenen«, vgl. Nährlich-Slateva, Elena: »Zur Goethe-Rezeption Bachtins«, in: Hilbert, Hans-Günter (Hg.), Roman und Gesellschaft. Internationales Michail-Bachtin-Colloquium, Jena: Friedrich Schiller Universität 1984, S. 144-151.

69

70

Historische Zeit im Narrativ

sogar höchst Privaten, Intimen« zum Ausdruck (Chr/184). Im Vergleich zu dem Motiv des Krieges oder Verbrechens macht der Salon das Bild der Zeit als »Epoche […] anschaulich sichtbar und sujethaft sichtbar« (Chr/184). Mit dem Salon als Raum verbinden sich besondere Möglichkeiten für die Handlung: es finden Begegnungen statt, es werden Nachrichten verbreitet und Gespräche geführt, Ideen und Gedanken ausgetauscht, Liebschaften und Ehen geknüpft und gelöst. Obwohl die Entdeckung des Salons als Schauplatz der Handlung bei Bachtin durchaus mit der Entwicklung der französischen Gesellschaft im XIX. Jahrhundert verbunden ist, ist die literarische Manifestation des Salons, wie Michael Holquist hervorhob, nicht als Abbildung des französischen Salons einer gewissen Zeitperiode zu verstehen: […] this newly opened possibility is explained not only by Balzac’s »ability to ›see‹ time, but by the peculiar importance such space assumed in Paris at that peculiar time. And yet those salons were not »the same« as in Balzac’s novels. Nevertheless, all the meanings that can be assumed by the Balzacian salon will bear on the institution of the salon as it historically manifested itself in the early ninetheenth century (and not as it did, let us say, in eighteenth-century Paris, any more than medieval fortresses are the same as castles in Gothic novels, which constitute a different chronotope).82 Ähnlich funktionieren Salons in Musils und Gorʹkijs Romanen. Sie gehören zu den beliebten Schauplätzen der Handlung, doch sehen sie im Vergleich zu den Salons des literarischen Realismus ein wenig anders aus. Wurde die Epoche im Salon des realistischen Romans »anschaulich sichtbar«, so verlieren Salons bei Musil und Gorʹkij diese Anschaulichkeit: Sie werden vor allem nicht mit den Subjekten politischer Geschichte, sondern mit Intellektuellen gefüllt, die miteinander in ein unendliches Gespräch verwickelt sind. Inwieweit das Gespräch, die Diskussion und die Reflexion im Raum des Salons in beiden Romanen eine adäquate Handlungsressource für die Ausgestaltung der historischen Zeit bieten, verfolge ich in meinen Romanalysen.

2.3

Zwischenfazit

Ausgehend von Paul Ricœurs und Michail Bachtins Verständnis definiere ich die historische Zeit als eine kompensierende Struktur, die der Brüchigkeit der menschlichen Zeiterfahrung entgegensteuert und die subjektive Perspektive auf die Zeit in Richtung der kollektiven Zeit erweitert. Da diese Zeitform in Erzählungen entsteht und an die Leistung von Narrativen gebunden ist, lässt sie sich spekulativ kaum erforschen. Besonders in Narrativen, die historische Zeit modellieren, ensteht in Bezug auf den problematischen und künstlichen Charakter dieser Zeitform Klärungsbedarf in Bezug auf die gewählte Darstellform. Im nächsten Kapitel mit dem Titel »Reflexion« werde ich diese Problematik anhand der gewählten Beispiele besprechen.

82

Holquist: Dialogism, S. 111-112. Ausgehend davon schließt Holquist auf die Variabilität der gleichen literarischen Chronotopoi in unterschiedlichen Kontexten: »… literary chronotopes are highly sensitive to historical change: different societies and periods result in different chronotopes both inside and outside literary texts« (ebd., S. 112).

2. Theorie

Jedoch reicht es nicht allein, auf die offensichtlichen Schwierigkeiten hinzuweisen, die mit der Gestaltung der historischen Zeit im Narrativ verbunden sind, um einen analytischen Zugang zu ihr zu eröffnen. Hierfür wurde im vorliegenden Kapitel in Anlehnung an Bachtins chronotopische Analyse ein deskriptives Modell für die Analyse der Zeitlichkeit einer Erzählung anhand ausgewählter Parameter entworfen. Bei der Anwendung dieser Methode in der vorliegenden Untersuchung besteht das Ziel darin, die strukturellen Momente zu bestimmen, an denen die Übertragungs- und Wiedereinschreibungsverfahren der historischen Zeit entfaltet werden. Dabei konzentriere ich mich auf folgende Merkmale der historischen Zeit im Narrativ, die ich anhand Ricœurs und Bachtins Theorien erarbeitet habe: das doppelte Sujet, die spezifische Ereignishaftigkeit, kollektive Entitäten als Quasi-Figuren, die Perspektivierung und Positionierung von Figuren an der Schwelle zwischen der subjektiven Zeiterfahrung und der kollektiven Zeit (zum Beispiel mittels Generationsnarrative), den Salonraum als Schauplatz der Handlung. Die Erforschung des doppelten Sujets, das ich als spezifisches Merkmal der historischen Zeit im Narrativ verstehe, steht im Mittepunkt meiner Romananalysen und strukturiert sie. Als Erstes muss geklärt werden, welche wesentlichen Eigenschaften der kollektiven Zeit im Roman verliehen werden. Also werde ich in den ersten Kapiteln meiner Romananalysen auf die Übereinkunft über die Eigenschaften der kollektiven Zeit eingehen, die am Anfang beider Romane getroffen wird. Diese Übereinkunft verstehe ich als Ergebnis der Selektion und Zuweisung von Eigenschaften auf der Stufe mimēsis I. Dabei zeige ich, wie in den ersten Kapiteln von Musils und Gorʹkijs Romanen eine narrative Interpretation der kollektiven Zeit unternommen wird und die historische Zeit die spezifische Form der abstrakten Zeit der Kultur annimmt. Im nächsten Schritt kläre ich die Frage, welche Ereignisse sich für die Darstellung der kollektiven Zeit als adäquat erweisen und welche Erzählweise für ihre Gestaltung geeignet ist. Wie ich zeige, wird in Musils und Gorʹkijs Romanen auf der Stufe der mimēsis II das herkömmliche Ereignisverständnis an die spezifische Form der historischen Zeit angepasst; beide Romane bieten hierbei Möglichkeiten für die weitere Entwicklung der narratologischen Kategorie der Ereignishaftigkeit. Gedanken, Einfälle und Ideen werden in beiden Romanen ereignishaft, weil durch ihre fiktive Welt die abstrakte historische Zeit fließt und kulturelle Phänomene den Status der primären Wirklichkeit bekommen. Diese Fragen werden in den ersten zwei Kapiteln der Romananalyse für jeden Roman im Einzelnen geklärt, da sie Voraussetzungen für die Entwicklung des doppelten Sujets in beiden Romanen liefern. Eine weitere Voraussetzung, die an dieser Stelle besprochen wird, bietet der Konflikt, in dem die Protagonisten beider Romane zur kollektiven Zeit stehen. Seine Inszenierung bringt eine Sujetdynamik ins Spiel, die beide Teile des doppelten Sujetbogens miteinander verknüpft. Im dritten Kapitel der Romananalysen werden beide Linien des doppelten Sujets in ihrer eigenen Logik und in ihrer Verknüpfung miteinander beobachtet. In beiden Romanen wird der doppelte Sujetbogen durch die Aufgabe der Suche nach einer Idee als ein offener Prozess gestaltet, dessen Verlauf (und nicht das Ergebnis) Erkenntnisse über die kollektive Dynamik bringt.

71

72

Historische Zeit im Narrativ

Im vierten Kapitel der Romananalysen betrachte ich den Prozess der Stillegung der historischen Zeit in beiden Romanen. Am Ende des ersten Buches des »Mann ohne Eigenschaften« und am Übergang vom zweiten zum dritten Buch des »Klim Samgin« werden die Strukturen der historischen Zeit zugunsten alternativer Möglichkeiten der Romanfortsetzung demontiert. Die Beobachtung dieser Prozesse erlaubt es, die Grenzen der historischen Zeit abzustecken und den Übergang zur utopischen Perspektive auf die kollektive Zeit zu beleuchten. Die historische Zeit wird in beiden Romanen narrativ ausgestaltet; der Auftrag, der verschollenen kollektiven Vergangenheit Sinn zu verleihen, wird sowohl in Musils als auch in Goʹkijs Roman außerdem auf der Metaebene explizit reflektiert und bildet ein wichtiges Element ihrer Struktur, das die Analyse beider Romane im nächsten Kapitel eröffnet.

3. Reflexion

Im theoretischen Teil meiner Arbeit habe ich die historische Zeit als eine Zeitstruktur definiert, die aus der Überbrückung der Kluft zwischen der subjektiven Zeitwahrnehmung und der kollektiven Zeit entsteht und sich durch eine lineare, vorwärts gerichtete Dynamik zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auszeichnet. Sie markiert die Bruchzone der menschlichen Erfahrung und ist daher immer wankend und schwindend, ihr Bewusstsein wechsel- und krisenhaft. Ein Erzähler, der über das Leben eines Einzelnen hinaus kollektive Vorgänge erkundet und in diese Bruchzone der Erfahrung gerät, muss sich verstärkt mit der eigenen Vorgehensweise auseinandersetzen. Die Instabilität dieser Zone ist im wissenschaftlichen Bereich durch die Notwendigkeit markiert, der geschichtswissenschaftlichen Forschung eine fortgeschrittene Methodik an die Seite zu stellen. Für Ricœur schließt historiografisches Erzählen kritische Reflexivität und somit das Problem der Grenzen von der eigenen Objektivität mit ein, wohingegen der Literatur bei »der Unschuld und der Naivität des Erzählers« eine solche Reflexion fremd sei (ZuE/B1/265). Dabei beachtet Ricœur nicht, dass Literatur über Modalitäten verfügt, eigene Bedingungen und Grenzen durch das selbstreflexive Erzählen in Frage zu stellen.1 Wie ich im vorliegenden Kapitel zeige, reflektieren beide Romanerzähler die bestehenden Möglichkeiten der Geschichtsdarstellung und schreiben diese Kritik den Romanen direkt oder indirekt durch Verschlüsselungen in Leitmotiven, Metaphern, Erzählerfiguren und intertextuellen Allusionen ein. Durch die gewonnene Distanz zu den tradierten Deutungsmustern tritt der spezifische Anspruch beider Romane auf die erzählerische Aufarbeitung kollektiver Vergangenheit deutlich zum Vorschein. Die Kritik an der Unzulänglichkeit traditioneller Erzählformen, vor allem der politischen Geschichte, hängt aufs Engste mit Überlegungen

1

So sieht Eberhard Lämmert gerade in der Tendenz zum Einbinden der kritischen Reflexion über die Fragen rund um die Geschichtserfahrung einen wichtigen »Konstituenten einer Theorie des modernen Romans«: »Reflexionen über die Geschichtserfahrung bzw. über das Erlebnis der Zeit dringen bis zum Thema des Erzählens vor.« Und weiter: »Der Roman macht nicht nur die Geschichte, sondern auch die Reflexion auf ihre Kategorien ausdrücklich zu seinem Thema.« (Lämmert: Zum Wandel der Geschichtserfahrung im Reflex der Romantheorie, S. 327-328)

74

Historische Zeit im Narrativ

zusammen, ob/wie man erzählt bzw. erzählen kann oder muss. Diese kritische Auseinandersetzung geht so weit, dass sie auf die Problematik der künstlerischen mimēsis übergreift. Die Irritation, die von einer Erzählung ausgeht, die sich – wie so viele andere Erzählungen der literarischen Moderne – ihrer selbst nicht mehr sicher ist, rührt in beiden Fällen von der Ironisierung der Macht des Erzählens her, Lebenswelten zu erschaffen, und macht die fiktive Wirklichkeit beider Romane nicht als eine ultimativ gültige, sondern als eine mögliche Vision kollektiver Vergangenheit kenntlich. Diese Reflexionsebene wurde in der Musil- und in der Gorʹkij-Forschung unterschiedlich behandelt. Während die Musil-Forschung der erzählerischen Selbstreflexion emphatisch gegenüberstand und ihre Interpretation in manchen Fällen so euphorisch betrieb, dass die Kritik des Geschichtserzählens als allgemeiner Verzicht auf das Erzählen gedeutet wurde, wurde diese Ebene in Gorʹkijs Roman in der sowjetischen Literaturwissenschaft ausgeblendet und wird auch von der Forschung seit der politischen Wende nur zögerlich entdeckt.2 In beiden Fällen weist aber die Argumentationsweise der Sekundärliteratur auf einen Zusammenhang zwischen dem Verständnis des Historischen und der Erzählproblematik hin. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ergibt sich daraus eine günstige Gelegenheit, auf die bestehenden Forschungsergebnisse zurückzugreifen und auf Forschungsdesiderate einzugehen.

3.1

Die Orientierung am »Geistig-Typischen« und die Ablösung der politischen Geschichte in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«

Die Überlegungen dazu, wie man Geschichte erzählt, spielen im Entstehungsprozess und im Text des »Mann ohne Eigenschaften« eine wichtige Rolle. In der Forschung mehrfach zitiert und gedeutet, wurden besonders die Kommentare des »primitiv Epischen« und der Verkürzungsverfahren politischer Geschichte als Beleg für den weitgehenden Verzicht auf das Erzählen interpretiert. Die postulierte Fragmentarität des Romans wurde dabei als eine rechtmäßige Folge der Erfahrungskomplexität und -krise in der Moderne angesehen und passte also in das literaturhistorische Schema, die dem Erzählen prinzipiell die Kontingenz, die Brüchigkeit und den Zerfall in Perspektiven zuschrieb. Im Gegensatz dazu wird in der vorliegenden Arbeit eine moderatere Deutung der erzählerischen Selbstreflexion in Musils Roman vertreten. Im vorliegenden Kapitel gehe ich kritisch auf ausgewählte Thesen und Argumente ein, welche die Entstehungsgeschichte des Romans und die Frage betreffen, ob Musils Distanzierung von den Erklärungsmustern politischer Geschichte auch den Verzicht auf jegliche Erzählordnung bedeutet. Meiner Ansicht nach ist es nicht zwingend notwendig, von der Zersetzung des Erzählens bei Musil auszugehen, wenngleich sein Verständnis der geschichtstragenden Substanz spezifisch ist und durch Nietzsches Geschichtskritik und die Denkpraxis des

2

Vgl. den Überblick über neuere Forschungen zu Gorʹkijs Geschichtsbewusstsein im Roman bei Егорова, Л.П.: »›Жизнь Клима Самгина‹: современные аспекты изучения«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-2004. Материалы международной конференции »Творчество Максима Горького в социокультурном контексте эпохи«, Нижний Новгород: ННГУ 2006, S. 379-385.

3. Reflexion

Historismus beeinflusst wurde. Besonders durch den Historismus wird der Abstraktion der Weg gewiesen: Die kollektive Zeit erscheint den Realien des Politischen weitgehend enthoben und zeigt sich auf der Ebene der stilistischen Vorlieben, gemeinschaftlich geteilten Wunschbildern und der Moral. Die Kritik an den Mustern der politischen Geschichte dient Musil also dazu, in einer Distanz zu ihnen, den Weg für das Verständnis der kollektiven Vergangenheit als der Realität des beweglichen Geistes zu eröffnen.

3.1.1

Entstehungsgeschichte des Romans und das Selbstverständnis des Autors

Während der zwanzig Jahre, in denen Robert Musil am »Mann ohne Eigenschaften« schrieb, äußerte er sich mehrmals zur Problematik der Geschichtserzählung. Einige Äußerungen betrafen direkt die Anlage seines Romanprojekts, das – wie es im Kapitel 42 des ersten Buchs heißt – nicht als »der glaubwürdige Versuch« gelesen werden soll, »ein Historienbild zu malen und mit der Wirklichkeit in Wettbewerb zu treten« (MoE/B1/269). 1926 betont Musil im Interview mit Oskar Maurus Fontana, der Roman sei keineswegs als »historischer« gedacht, da ihn »die reale Erklärung des realen Geschehens« nicht interessiere.3 Ein Jahrzehnt später vermerkt er jedoch im Entwurf »Zum Nachwort (u[nd] Zwischenvorwort)« mit Emphase: »Dieses Buch ist unter der Arbeit und unter der Hand ein historischer Roman geworden, es spielt vor 25 Jahren!«4 Die Ursache dieser widersprüchlichen Aussagen liegt darin, dass das Adjektiv »historisch« in diesen Fällen zwei unterschiedliche Bedeutungen hat. Zum einen markiert es den Anspruch, »mit der Wirklichkeit in Wettbewerb zu treten«, eine »reale Erklärung des realen Geschehens« zu liefern, was der »Mann ohne Eigenschaften« nicht tut. Zum anderen ist es lediglich die zeitliche Distanz, die die fiktive Wirklichkeit des Romans als eine »historische« erscheinen lässt: »Es ist immer ein aus der Vergangenheit entwickelter Gegenwartsroman gewesen, jetzt aber ist die Spanne und Spannung sehr groß«.5 Diese beiden Bedeutungspole des Adjektivs »historisch« markieren in zeitlicher, aber auch in inhaltlicher Hinsicht den Reflexionsraum, der von mannigfaltigen Überlegungen, Konzeptualisierungen und Versuchen ausgefüllt wird, sich von den verbreiteten Erklärungs- und Erzählmustern der kollektiven Vergangenheit abzusetzen. Die Frage nach der Geschichte und der Erzählung von Geschichte ist für den Roman bereits in seinen Anfängen äußerst relevant. Das permanente Hinterfragen der Tragweite und des Charakters historisierender Erklärungen lässt sich zum Teil als persönliche Strategie des Schriftstellers verstehen, mit deren Hilfe er sein eigenes Verständnis kollektiver Vorgänge erarbeitet und legitimiert. Hartmut Böhme hat auf den Wandel hingewiesen, den Musil als Schriftsteller mit dem Beginn der Arbeit am »Mann ohne Eigenschaften« vollzieht: Aus dem Esoteriker Musil, der ein Dichter der individuellen Schutzräume und Seelenprozesse war, wird ein geradezu soziologisch orientierter Schriftsteller, welcher der

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Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14. Zum Nachwort und Zwischenvorwort. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14. Ebd.

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Historische Zeit im Narrativ

Vergesellschaftung des Individuums und den Steuerungsmechanismen des Sozialprozesses auf die Spur zu kommen sucht.6 Den Anstoß zu dieser Veränderung gab die Rückkehr Musils aus dem Ersten Weltkrieg, die für Musil sowohl einen privaten, als auch intellektuellen Einschnitt bedeutete, so Walter Fanta: Die Rückkehr aus dem Krieg stellt den Autor nicht nur persönlich in eine neue Lebenssituation; die Kriegserfahrung liefert die intellektuelle Absprungbasis für einen Roman, der erklären möchte, wie es zum Krieg gekommen sei. Das erste Mal in seiner literarischen Laufbahn wendet sich Musil der Gestaltung von Erzählsubstanz mit mehr als privater Tragweite zu.7 Diese Kompetenzerweiterung vollzieht sich durch die Kritik an gängigen Mustern für die Erklärung historisch-politischen Geschehens und durch die Schöpfung einer eigenen Konzeption, die neben der Vorarbeit an (damals mehreren) Romanprojekten im Medium des Essays stattfinden. Die Magistrale dieser Entwicklung hat Norbert Christian Wolf in seiner jüngsten Untersuchung des Romans unter dem Stichwort »Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit« zusammengefasst. Als »ein anthropologisches Axiom«8 bildet es laut Wolf eine Grundlage von Musils Poetik und behandelt den Menschen als eine wandelbare Konstante der Geschichte, die an sich formlos und zu allem fähig ist. Die äußersten Extreme des menschlichen Verhaltens, die Musil anspricht, […] machen deutlich, dass bei Musil von einer ahistorischen Stillstellung der Historie nicht die Rede sein kann. Indem sich Menschen in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verhalten, entsteht Veränderung und somit Geschichte.9 Allerdings bezweifelt Musil, dass die traditionelle Art der Geschichtserzählung an die Determinanten dieser Veränderung heranrücken kann. Im Essay »Das hilflose Europa« beklagt er die allgemeine Unfähigkeit, sich ein Urteil über das Geschehen des Ersten Weltkrieges zu bilden:

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Böhme, Hartmut: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Kronberg, Ts: Scriptor 1974, S. 2. Fanta, Walter: Die Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil, Wien: Böhlau 2000, S. 97. Vgl. Klaus Amanns Hinweis auf die Bedeutsamkeit der Kriegserfahrung für Musil, über die Grenzen seines Romans hinaus: »In der intensiven Auseinandersetzung mit dieser vielleicht wichtigsten und zutiefst ambivalenten persönlichen Erfahrung gewann Musil jedoch nicht nur sein literarisches Lebensthema. Er erarbeitete sich damit auch jene analytischen Kategorien und theoretischen Konzepte, die es ihm, im Unterschied zu vielen anderen, erlaubten, dem kollektiven Bekenntnisdruck von links und rechts zu widerstehen, der die politische und literarische Öffentlichkeit in den 1920er und 1930er Jahren in zuvor nicht gekannter Weise belastete und in zwei einander feindlich gegenüberstehende Lager spaltete.« (Amann, Klaus: Robert Musil, Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2007, S. 7) Wolf, Norbert C.: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts, Wien: Böhlau 2011, S. 64. Ebd., S. 69-70.

3. Reflexion

So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts. Freilich wird man einwenden, man sei zu nah. Das ist aber ein Gleichnis. Hergenommen vom Gesichtssinn; man kann zu nah an einem Ding sein, um es überblicken zu können. Kann man aber zu nah an einer Erkenntnis sein, um sie fassen zu können? Das Gleichnis stimmt nicht. Wir wüßten genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden. Eine andre Wurzel des Gleichnisses heißt, noch beteiligt zu sein. Aber wir waren ja gar nicht beteiligt? Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will.10 Die These, wonach die Geschichtswissenschaft mit einer nachträglichen Verkürzung operiert, um aus einer Menge Information eine sinnvolle Erzählung zu konstruieren, bettet Musil in seinen Roman in die berühmte ironische Passage aus der ersten Sitzung der Parallelaktion ein, in der ein unbekannter Professor »vom Weg der Geschichte« spricht: Wenn wir vor uns blicken – sagte er –: eine undurchsichtige Wand! Wenn wir links und rechts blicken: ein Übermaß wichtiger Geschehnisse, ohne erkennbare Richtung! […] Wenn man aber zurückblickt, ist wie durch eine wunderbare Fügung alles Ordnung und Ziel geworden… (MoE/B1/271-272) Inka Mülder-Bach hat auf die Parallelen zwischen dieser Rede und den Grundlagewerken der Geschichtswissenschaft hingewiesen: […] hier [wird] ein Grundlagenwerk der bürgerlichen Geschichtswissenschaften zitiert, Johann Gustav Droysens 1868 erstmals publizierter »Grundriss der Historik«. Das Geschichtsverständnis des Professors ist das ideologische Kondensat dessen, was Droysen als »didaktische Darstellung« der Geschichte skizziert und unter Bezug auf Lessings Abhandlung »Die Erziehung des Menschengeschlechts« (1777/89) sinnfällig macht: eine historiografische Repräsentation, die das »Erforschte in dem Gedanken der großen geschichtlichen Kontinuität, nach seiner für die Gegenwart lehrhaften Bedeutung« vermittelt und sich vor allem dem Pädagogen empfiehlt, dem der »historische Unterricht der Jugend« obliegt.11 Ob Musil die Rede des Professors als indirektes Zitat einbaut oder eventuell »das ideologische Kondensat«, das sich durch den Einfluss von Droysens wirkungsreicher Schrift gebildet hat, anhand bekannter Geschichtsdarstellungen destilliert, sei dahingestellt. Wenn Musil es in seinem Roman mit dem methodischen Impetus einer ganzen wissenschaftlichen Disziplin aufnimmt, so ist seine Skepsis gegen ihre Verfahren mit der Sorge um die Erkenntnis des Vergangenen verbunden. In seinem Essay ist diese Motivierung expliziter als im Roman. Musil hebt mit Nachdruck hervor, dass Zeitgenossen »genug [wüßten], um ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu bilden«. Im Besitz dieses Wissens verhalten sich jedoch die Beteiligten so, als wäre man 10 11

Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14, S. 218. Mülder-Bach: Robert Musil, S. 185-186.

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Historische Zeit im Narrativ

»gar nicht beteiligt«, und der Schlüssel zu dieser Erfahrung oder – wie Musil formuliert – »die lebendige Geschichte« – lässt sich »mit den historischen Vulgärkategorien« nicht »einfangen«.12 Diese Aufgabe überträgt Musil nun der Literatur, die – wie Stefan Howald anhand Musils Essays prägnant darstellte – bei der Aufklärung kollektiv signifikanter Vorgänge die Domäne des Politischen einnimmt: Auf die Zumutung der Politik, Literaten und Literatur unter ihren Anspruch zu zwingen, reagiert Musil, indem er politische Phänomene in seine Literatur aufnimmt, mithin deren Gegenstandsbereich vergrössert [sic!]. […] Indem Literatur als die bessere Politik behauptet wird, soll Politik selbst als oberflächliche Interessenvertretung abgewertet und tendentiell [sic!] aufgehoben werden.13 Begleitet wird diese angestrebte Auf- und Ablösung des Politischen durch die Literatur von Zweifeln am Paradigma der politischen Geschichte. Statt »reale[r] Erklärung realen Geschehens« beansprucht Musil für sein Werk, auf eigenen Wegen das Wesen der kollektiv signifikanten Tatsachen zu ertasten. Diese Positionierung erfolgt vor dem Hintergrund des Wettbewerbs um die Erklärung der Ereignisse von 1914, der in der Nachkriegszeit herrschte: Bücher, die Antwort auf die Frage zu geben versuchten, wie es zur Katastrophe von 1914 hatte kommen können, waren Mitte der zwanziger Jahre aktuell. Das regte ihn einerseits an, gewissermaßen eine Parallelaktion zur Flut dieser historischen und belletristischen Werke zu unternehmen; zugleich aber zweifelte er an der Sinnhaftigkeit und Bewältigbarkeit eines solchen Unterfangens. Verweigerung gegenüber historischen Erklärungen wurde Musil zur intellektuellen Pose, hinter der sich eine gewisse Verzweiflung verbarg.14 Das Romanprojekt, das diesem Impetus entspringt, soll nicht die Muster der politischen Geschichte bedienen, sondern »das geistig Typische«, »das Gespenstische des Geschehens«15 auffangen, das aus dem Blickfeld fiel, wenn man ihre Logik auf der Ebene der politischen Geschichte suchte. Dieser immense Anspruch, der sich durch das vehemente Zurückweisen herkömmlicher Darstellungsart und Insistieren auf dem eigenen Erklärungsansatz für kollektiv signifikante Ereignisse äußert, verursacht eine große psychische Spannung, die den Entstehungsprozess des Romans begleitet und durch die ironische Schreibhaltung in eine produktive Richtung gelenkt wird.16

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Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14, S. 219. Howald, Stefan: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils, München: Fink 1984, S. 95-96. Fanta, Walter: »Die Kategorie des Historischen bei Robert Musils Arbeit am ›Mann ohne Eigenschaften‹«, in: Schmidt-Dengler, Wendelin (Hg.), Der literarische Umgang der Österreicher mit Jahres- und Gedenktagen, Wien: ÖBV Pädagog. Verl. 1994, S. 88-101, hier S. 89. Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14. Zur Funktion der Ironie in der Entstehungsgeschichte des »Mann ohne Eigenschaften« vgl. Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 377.

3. Reflexion

3.1.2

Verzicht auf Muster der Geschichtserzählung = Verzicht auf Erzählung?

Die ironische Verfügungsmacht über die fiktive Wirklichkeit des Romans, mit der die erzählende Instanz den Fortgang des Erzählens kommentiert und die Illusion der fiktiven Welt durchbricht, gab in der Musil-Forschung den Anstoß dazu, vom Aufgeben der Erzählform im »Mann ohne Eigenschaften« zu sprechen. Dieses Argument ging durchgängig mit der These einher, dass sich Musils Roman jeglicher Art der Geschichtsdarstellung verweigert. Bereits 1959, kurz nach der Veröffentlichung des »Mann ohne Eigenschaften« durch Adolf Frisé, behandelte Wilhelm Emrich Musils Roman als Beispiel der Auflösung der Romanform, die aus der Unmöglichkeit des geschichtlichen Sinns resultiere. Laut Emrich sind die großen Romane der Weltgeschichte gar keine Romane,17 da der Anspruch auf Wahrheit den Kategorien eines Romans entgegenläuft, »denn diese Kategorien sind Lüge«.18 Diese These sah Emrich im besonderen Maße an Musils Roman bestätigt, thematisierte doch bereits sein Verfasser das Nichtzustandekommen der intendierten Geschichte: »Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden soll, nicht erzählt wird«.19 Danach bliebe dem Autor nichts anderes als die satirische Zersetzung »unsere[r] Zeit«, wodurch er jedoch auch auf die letzten, vergleichsweise bei Thomas Mann noch vorhandenen Möglichkeiten, das Dargestellte als »Schein und Fiktion« zu bewahren, verzichte.20 Eine ähnliche Sichtweise vertrat Helmut Arntzen in seiner Monografie, in der er Musils satirischen Stil als Mittel der Zersetzung der erzählten Wirklichkeit und folglich der Erzählung selbst charakterisierte: »[…] falsch wäre es, anzunehmen, die satirische Epik Musils sei auch als ›Erzählung‹, als Geschichte noch zu greifen. Sie ist satirischer Stil«.21 Besonders die Parallelaktion, die sich rund um den leeren Gedanken einer großen Kundgebung entwickelt, bietet laut Arntzen ein Bild des kollektiv-historischen Handelns als einer zu entlarvenden Illusion. In der satirischen Darstellung ihrer Ereignisse sieht Arntzen die Tendenz zur Abschaffung des realistisch-mimetischen Erzählens: Indem die Erzählung im Sinne des realistischen Romans nicht der Fiktion der Wirklichkeit, sondern der Fiktion einer Fiktion überführt wird, indem Satire zu Romansatire wird, setzt sie den Roman erst wieder in seine Rechte ein und gibt ihm die Möglichkeit, Wirklichkeit als Korruption aller Wirklichkeit darzustellen und eine wahre Wirklichkeit zu offenbaren. Die Wirklichkeitsdarstellung selbst bewahrt sich als Wirklichkeitssatire.22

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Emrich, Wilhelm: »Die Erzählkunst des 20. Jahrhunderts und ihr geschichtlicher Sinn«, in: Kayser, Wolfgang (Hg.), Deutsche Literatur in unserer Zeit, Göttingen: Vandenhoeck Ruprecht 1959, S. 58104, hier S. 58. Ebd., S. 64. Vorrede. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14. Emrich: Die Erzählkunst des 20. Jahrhunderts, S. 69. Arntzen, Helmut: Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im »Mann ohne Eigenschaften«, Bonn: Bouvier 1960, S. 41. Ebd., S. 120.

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Historische Zeit im Narrativ

Gegen diese Thesen polemisierte Hans Schaffnit, indem er Arntzen »kulturkritische[n] Dogmatismus« vorwarf.23 Schaffnits Interesse galt der Frage, wie »kritische Bedeutsamkeit und Darstellung im Begriff der Dichtung« zusammengedacht werden können.24 Bei der Untersuchung dieser Frage ging er von der Erzähltheorie Eberhardt Lämmerts aus, empfand jedoch den ihr impliziten festen Wirklichkeitsbegriff als störend: [Die Bedeutsamkeit der Dichtung] als solche zur Geltung kommen zu lassen vermag eine Erzähltheorie nicht, wenn ihr das Fingieren von Wirklichkeit kein Problem ist, weil die Bestimmtheit des Wirklichen schon vorausgesetzt ist.25 Die künstlerische mimēsis ist demnach kein »überflüssiges Noch-einmal-machen dessen, was in fragloser Bestimmtheit schon vorhanden wäre«, sondern enthält die Voraussetzungen dafür, dass die Nachahmung »die Bestimmtheit der Natur in Richtung auf eine Idee transzendiert«.26 Die Zerstörung der Wirklichkeit ist »als Krisis bestimmten Weltglaubens nicht als eine besondere Bestimmung moderner Kunst« zu verstehen, sondern ist dem »ontologischen Begriff der Kunst« als die Aufgabe der Transzendenz der Wirklichkeit eingeschrieben.27 Das gilt insbesondere für Musils Werk, das laut Schaffnit einen »intendierten inkommensurablen ästhetischen Totalitätscharakter« hat.28 Diesen Argumenten ist insoweit zuzustimmen, als die Wirklichkeitsmodellierung im Roman kaum an eine affirmierende Erzählhaltung gebunden ist. Es sei dabei dahingestellt, ob generell gilt, dass »ein literarisches Werk« – wie Bernard Böschenstein monierte – »sich nie damit zufriedengeben [kann], einen bestimmten historischen Augenblick als eine feste Gegebenheit zu spiegeln und so der Nachwelt bloss [sic!] ein historisch treues Zeugnis zu überliefern«;29 zumindest kann man für den »Mann ohne Eigenschaften« von einem Spiel mit dem Ereignis des Krieges ausgehen, der im Roman, der seinen Ursprung erklären soll, nicht vorkommt. Mit der Untersuchung dieses spezifischen »Entzugs des Realen« hat Alexander Honold30 die Diskussionen rund um den »historischen« Bezug des Romans auf die Realität der Donaumonarchie auf eine neue Ebene gebracht. Insbesondere weist Honold darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen der fiktiven Realität des Romans und Österreich-Ungarn der Vorkriegszeit nicht als ein bloßes Referenz- und Abbildungsverfahren verstehen lässt. Beide Untersuchungsgegenstände – die Vorkriegsgroßstadt Wien und der Erste Weltkrieg haben laut Honold »die fundamentalste Gemeinsamkeit«, da 23 24

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30

Schaffnit, Hans W.: Mimesis als Problem. Studien zu einem ästhetischen Begriff der Dichtung aus Anlaß Robert Musils, Berlin: de Gruyter 1971, S. 22. Ebd., S. 16-26. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Schaffnits ästhetischer Subjektivitätstheorie vgl. Maier-Solgk, Frank: Sinn für Geschichte. Ästhetische Subjektivität und historiologische Reflexion bei Robert Musil, München: Fink 1992, S. 16-17. Schaffnit: Mimesis als Problem, S. 31. Ebd., S. 253. Ebd., S. 33. Ebd., S. 7. Böschenstein, Bernard: »Historischer Übergang und System der Ambivalenz. Zum ›Mann ohne Eigenschaften‹«, in: Brokoph-Mauch, Gudrun (Hg.), Beiträge zur Musil-Kritik, Bern: Lang 1983, S. 181189, hier S. 181. Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 17.

3. Reflexion

[…] beide – von vorausdeutenden Bemerkungen, kurzen Reflexionen, flüchtig skizzierten Handlungslinien und fragmentarischen Vorstudien abgesehen – als Thema des Erzählens in diesem Roman nicht in Erscheinung treten.31 Dem stellt Honold jedoch seine These gegenüber: »Worauf aber Musils Roman aus ist, läßt sich seinen Narben nur allzu deutlich ablesen«.32 Das Referenzverhältnis des Romans könnte laut Honold differenzierter betrachtet und in drei Ebenen – Indikation, Imitation und Inversion – aufgespaltet werden.33 Der Modus der sprachlichen Indikation als »Geste des Auf-etwas-Zeigens«34 und der Imitation, die Honold als »Ort der mimetischen Funktion (Barthes, Ricœur) bzw. der ›histoire‹ (Benveniste und Stierle)« 35 versteht, werden um die Ebene der Inversion, des reflexiven Sich-Ereignens und der Umkehrung des Zeichens gegen sich selbst ergänzt. Auf dieser Ebene sieht Honold den performativen Charakter der Darstellung begründet, die nur auf diese Art und Weise die Aufgabe erfüllen kann, »bestimmte[n] elementare[n] Qualitäten des Wirklichen«36 gerecht zu werden. Somit rückt in seiner Untersuchung die »Wirksamkeit linguistischer Mikroelemente wie Konnotation oder Metapher, aber auch struktureller Effekte, die etwa durch Motiv-Rekurrenzen oder die Platzierung von Symbolen und Chiffren entstehen«,37 ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In seiner Untersuchung widmet sich Honold vorwiegend der Ebene der Inversion, geht mehrfachen Verschlüsselungen des Handlungsortes Wien und des Kriegsereignisses im Text des Romans nach und etabliert somit ein prinzipiell neues Verhältnis zwischen Musils Roman und dem zeitgeschichtlichen Kontext. Nicht zuletzt aufgrund der tiefen Erkundung dieser Problematik kann sich die Verfasserin der vorliegenden Arbeit vollständig auf die »Mittel- und Mittlerenebene« der Imitation (Nachahmung) konzentrieren und sich primär mit solchen Eigenschaften des Romans wie »erzählte Handlung« und »Modell eines tatsächlichen Zeitraums«38 beschäftigen. Mit einer solchen Anlage des Romans nimmt Musil einiges vorweg, was in der postmodernen Philosophie einige Jahrzehnte nach seinem Ableben zu zentralen Fragestellungen wurde.39 Laut Hartmut Böhme ergibt sich aus der »Beendigung des geschichtlichen Sinns […] zweifellos der Punkt, worin Musil den postmodernen Zeitgeist am nachhaltigsten affiziert«.40 Böhme zählte Schnittmengen zwischen dem »Mann ohne

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40

Ebd., S. 12. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 40. Ebd., S. 42. Ebd., S. 40ff. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 40. Vgl. u.a. Stefan Jonssons Lektüre des »Mann ohne Eigenschaften« im Kontext der aktuellen Debatte rund um die Fragen der »cultural identity«: Jonsson, Stefan: Subject without nation. Robert Musil and the history of modern identity, Durham, NC: Duke University Press 2000. Böhme, Hartmut: »Die ›Zeit ohne Eigenschaften‹ und die ›Neue Unübersichtlichkeit‹. Robert Musil und die posthistoire«, in: Strutz, Josef (Hg.), Kunst, Wissenschaft und Politik von Robert Musil bis Ingeborg Bachmann, München: Fink 1986, S. 9-33, hier S. 23.

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Historische Zeit im Narrativ

Eigenschaften« und postmodernen Konzeptionen der sozialen Realität unter dem Begriff »posthistoire« von Arnold Gehlen auf. Im Anschluss daran betrachtete Dietmar Goltschnigg den Roman im Zeichen des »Ende[s] der großen Erzählungen« nach Lyotard und im Kontext des allgemeinen »Verzicht[s] auf sinngebende Metaerzählungen wie auf Einheit und Geschlossenheit zugunsten spielerischer, ironisch-kritischer, hypothetisch-experimenteller Möglichkeitserwägung«.41 Beide Ansätze verknüpfen die Frage nach dem Sinn der Erzählung bzw. seiner Negation mit der Konzeptualisierung des Historischen, was insbesondere bei Böhme zum Hinterfragen der erzählten Wirklichkeit des Romans führt: Was sichert überhaupt noch die Erzeugung von sprachlichen Bedeutungen, wenn das Verhältnis von Wort und Ding nicht mehr ein das Ding im Wort repräsentierendes ist […]? Womit es dann der Text zu tun hat, das sind nicht Realitäten, sondern Diskurse, nicht Dinge, sondern Zeichen, nicht Erfahrungen sondern Stile, nicht Ereignisse sondern Perspektiven, – er bewegt sich folglich in einem imaginären Raum, der durch das Repertoire historisch abgelagerter und gegenwärtig eingespielter symbolischer Verständigungsformen und Wissensdiskurse gebildet wird.42 Doch hält der Verfasser eine Grenzziehung zwischen Musils Ansatz und der postmodernen Denkpraxis für notwendig: »Die Kategorie des Sinns wird bei ihm umso weniger aufgegeben, je nachdrücklicher jedes einzelne Sinntableau vom ›Unsinn‹ gestrichen wird.«43 Dieses Insistieren auf der Sinnhaftigkeit der Romanerzählung unterscheidet Musils Anliegen vom postmodernen Pathos des Wirklichkeitsverlustes, da es nicht an den »fröhlichen bis apokalyptischen Zynismen der Moderne« teilhat.44 Durch die letzte These kommt Böhmes Argumentation zum Einsturz, die sorgfältig geknüpften Parallelen zum postmodernen Gedankengut werden auflöst. Damit sie halten, muss Musils Ironie viel zu ernst genommen werden; wie Walter Fanta in seiner Polemik gegen Böhmes Thesen argumentierte, ist in dieser Art der Betrachtung sowohl die Anlage des Romans, als auch seine Entstehungsgeschichte mißverstanden: Von der ironischen Haltung des Erzählers auf den Wunsch des Autors nach Distanz zur Historie zu schließen, wäre falsch; Notizen in seinem Nachlaß belegen, daß Musil den Roman geradezu als Imitation des historischen Prozesses durch pseudohistorische Fiktion konzipierte. […] Die Feststellung Hartmut Böhmes, »der allgemeine Verzicht auf Botschaft oder Sinn« hätte auf Musil »produktionsstimulierend« gewirkt, geht zu weit. Nicht Annihilation der Geschichte selbst, sondern Kritik an den vorgefundenen geschichtlichen Angeboten trieb Musil an.45 Bei Musils Roman »handelt es sich insgesamt doch um einen Versuch der historischen Motivierung, also eher um eine Anstrengung im Sinne des Historismus denn um ein

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Goltschnigg, Dietmar/Grollegg-Edler, Charlotte: »Fröhliche Apokalypse« und nostalgische Utopie. »Österreich als besonders deutlicher Fall der modernen Welt«, Wien: Lit Verl. 2009, S. 279-280. Böhme: Die ›Zeit ohne Eigenschaften‹, S. 11. Ebd., S. 32. Ebd. Fanta: Die Kategorie des Historischen, S. 90.

3. Reflexion

Projekt der Posthistoire«.46 Die Lektüre des Romans im Kontext der Postmoderne mag zwar im Einklang mit Musils Geschichtskritik stehen; doch wird dabei einiges überspitzt. Nimmt man an, dass das Bild der Wirklichkeit im Roman, wo »nicht Dinge, sondern Zeichen, nicht Erfahrungen, sondern Stile«47 konstituierende Verhältnisse wiederspiegeln, mit einem sachlichen Interesse daran konstruiert wurde, die eigentümliche Logik dieser Realität nachzuvollziehen, so erscheint es folgerichtig, dass »der ganze MoE« – wie Harald Haslmayr es ausdrückt – »von der Frage nach der Geschichte [knistert]«,48 ohne dass es gleich zwingend heißen muss, dass es für Musil mit seiner Geschichtskritik »unmöglich geworden ist, ›Geschichte‹ zu erzählen«.49 Als abgedroschen gelten im Roman die Muster der politischen Geschichte, die der Erzähler in einem expliziten Zusammenhang mit dem politischen Geschehen betrachtet: […] Weltgeschichte [wird] gemacht wie andere Geschichten auch; das heißt, den Autoren fällt selten etwas Neues ein und sie schreiben, was die Verwicklungen und die Ideen angeht, gerne voneinander ab. Dazu gehört aber noch etwas, was bisher nicht erwähnt worden, und das ist nichts anderes als die Freude an der Geschichte; es gehört jene den Autoren so geläufige Überzeugung hinzu, daß man eine gute Geschichte mache, die Leidenschaft des Autors, die seine Ohren glühend verlängert und jede Kritik einfach wegschmilzt. (MoE/B1/822) »Die Freude an der Geschichte«, also die Lust am Erzählen, wie sie in der zitierten Passage angesprochen wird, dürfte sich in Musils Fall weniger an den gegebenen Möglichkeiten ihrer Darstellung entzünden; trotzdem kann man wohl sagen, dass Musil die Gefühlslage bekannt war, die er als »die Leidenschaft des Autors« bezeichnet, »die seine Ohren glühend verlängert und jede Kritik einfach wegschmilzt«. Ihr Wiedergewinn in der Landschaft Kakaniens, wo sie verlorengegangen und vom alltäglich gewordenen Gerede von der Nation »in jenem europäischen Geschmack« verdrängt wurde, »der sich an historischen Romanen und Kostümdramen erbaut« (MoE/B1/822), bedeutet für den Roman einen Schritt von der Praxis des Abschreibens zur Kreation eines eigenen Mythos. In Musils Roman wird laut Walter Fanta »weder Fiktionalisierung der Geschichte noch positivistische Rekonstruktion« betrieben: Die Formel, die er erfindet, ist antihistorisch und antinaturalistisch. Um die vergangene Zeit gestaltend zu bewältigen, nähert sich Musil dem Mythos, als Form, als Dekonstruktionsform. […] Die Ersetzung des Kausalitäts- durch das Funktionsprinzip wird für Musil vor allem bei der Zeitdarstellung wichtig. Die Entsprechung im Roman ist die

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Ebd., S. 91. Böhme: Die ›Zeit ohne Eigenschaften‹, S. 11. Haslmayr, Harald: Die Zeit ohne Eigenschaften. Geschichtsphilosophie und Modernebegriff im Werk Robert Musils, Wien: Böhlau 1997, S. 162. Der Verfasser schließt allerdings von der Krise der Erfahrung des Selbst darauf, dass »es nur konsequent [ist], daß es im MoE keine Handlung im tradierten Sinn mehr gibt und auch die einzelnen Personen keine Entwicklung mehr durchmachen.« (Haslmayr: Die Zeit ohne Eigenschaften, S. 31) Vgl. Eykman, Christoph: Geschichtspessimismus in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, Bern: Francke 1970, S. 75-76.

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Historische Zeit im Narrativ

mythische Form als Setzung von Bildern, als Erzählung, die auswählt, die ausweicht, für ihre Aussage das Mittel der Verkürzung gebraucht, wie ein Gedicht, wie im Film.50 Dem bleibt hinzuzufügen, dass die Umsetzung dieses Mythos in eine für diesen Inhalt außerordentlich schlanke narrative Komposition der Vergangenheit der Donaumonarchie eine spezifische Gestalt verleiht, die nicht als subjektive, so zum Beispiel autobiografische o.ä. Erfahrung erzählt wird, sondern universelle Gültigkeit einer eigenen Vision kollektiv signifikanter Vorgänge beansprucht.

3.1.3

Geschichtskritik in der Nachfolge Nietzsches

Dieser intellektuelle Anspruch, den Musils Roman auszeichnet, erschließt sich teilweise durch den Einfluss Friedrich Nietzsches, dessen Geschichtskritik Musil aufnimmt und erweitert: Das Bewußtsein der Krankheit, das angegriffene Leben, die notwendig unbegrenzttotalitäre Wirkung des historischen Sinnes, die Analyse »unserer Zeit«, die Skepsis gegenüber einer Zukunft im Sinn der traditionalen Kulturauffassung und schließlich das Bewußtsein, in einer abendlichen Stimmung zu leben – allein aus diesen beiden kurzen Zitaten ließe sich ein ganzes Inhaltsverzeichnis der Hauptthemen des MoE erstellen, ganz abgesehen von der Verspottung Nietzsches der Postulierung der Einheit von Person und Weltgeschichte.51 Dieses Themenverzeichnis von Harald Haslmayr macht deutlich, dass es sich bei Musils Auseinandersetzung mit Nietzsche um die Aufnahme einer Geschichtskritik handelt, die nicht nach dem Sinn der historischen Ereignisse sucht, sondern diesen Sinn radikal in Frage stellt. Auch Renate von Heydebrands Untersuchung zeigt, dass das Herleiten der moralischen Fragen aus der Kritik an der »Macht und Beharrlichkeit des Gewordenen«, wie sie der Protagonist Ulrich aus dem »Mann ohne Eigenschaften« pflegt, eindeutig Nietzsches Einfluss zu verdanken ist.52 Ulrichs »Auflehnung gegen das bloß Überkommene im Denken und Fühlen«, die ihn in eine Opposition zu seiner Zeit bringt, ist mit Heydebrand jedoch nicht wie bei Nietzsche als die Annahme des falschen Grundes der menschlichen Handlungen zu verstehen. Ulrichs Prinzip des unzureichenden Grundes53 (im Roman auch als Abkürzung PDUG gekennzeichnet) aller historischen  Ereignisse bedeutet eine noch radikalere Kritik der Geschichte, die das Vorhandensein eines, wenn auch verfälschten, Grundes der historischen Ereignisse leugnet und die kollektive Entwicklung als statistische Verschiebung des Mittelwertes betrachtet.54 50 51 52

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Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 303. Haslmayr: Die Zeit ohne Eigenschaften, S. 15-16. Vgl. Heydebrand, Renate von: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«: Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken, Münster: Aschendorff 1966, S. 12-13. Zur Genese dieses Begriffes aus der Kritik am Prinzip des »zureichenden Grundes« bei Nietzsche vgl. Dresler-Brumme, Charlotte: Nietzsches Philosophie in Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 50. Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs, S. 14-15.

3. Reflexion

Dass Musils Anliegen sich nicht in der Vermittlung von Nietzsches Geschichtskritik erschöpft, bestätigt zum anderen auch der Befund von Rae-Hyeon Kim: So deutlich Musils Nähe zu Nietzsche ist, so hat er sich doch mit der Nietzscheschen [sic!] Einteilung der Historie in »antiquarische«, »monumentalische« und »kritische« Historie nirgendwo ernsthaft auseinandergesetzt. Musil geht einen Weg, der – noch auf der Linie von Nietzsches Kritik – darauf abzielt, einen weitaus differenzierteren Begriff von Historie, als ihn die akademische Disziplin liefert, zu gewinnen.55 Vor diesem Hintergrund besteht laut Rae-Hyeon Kim die Notwendigkeit »zu einem literarisch-poetisch intensivierten Verständnis von Geschichte zu kommen«.56 Kim unterstreicht das kritische Bewusstsein der Historie, das bei Musil vorhanden ist und aus dem Gegensatz von »Historie« und »Leben« resultiert. Doch »wäre [es] voreilig, diese Gegenüberstellung als anti- oder ahistorisch deuten zu wollen«.57 Kims programmatische Äußerung lautet: »Literatur ist nicht deswegen geschichtlich, weil sie Geschichte thematisch reflektiert oder weil sie sich als Artefakt nach historischen Kategorien einordnen lässt«.58 Ausgehend von dieser These sucht er nach einer poetologischen Definition für die literarische Beschäftigung mit der Geschichte, die das sprachlichmimetische Modellieren der Geschichte durch die Erzählung in den Mittelpunkt stellt. Leider wird der Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« von Kim lediglich kursorisch erwähnt, aber nicht direkt untersucht. Der Roman, der nun den Boden für einen solchen Begriff von Historie bieten soll, wird durch essayistische Passagen formalästhetisch erweitert. Einzelne Facetten von Nietzsches Wirkung auf den essayistischen Stil des »Mann ohne Eigenschaften« hat Charlotte Dresler-Brumme herausgearbeitet, wobei sie die Begründung dieser Beeinflussung ebenfalls in der Kritik an tradierten Erkenntnisformen sieht: Durch die Preisgabe der Sicherheit des tradierten »festen Punktes«, mit der Erkenntnis seiner Scheinbarkeit, erwirbt der Mensch die Freiheit von der Bindung an die Tradition, ihren Ordnungen und Wertschätzungen, zu selbstgewählten, autonomen Möglichkeiten und Versuchen.59 Das stilistische Experiment bleibt als Kunstform die einzige Möglichkeit unter den Konditionen der Moderne, die sich in der »den modernen Menschen umgebenden Pluralität der Stile, der Verfügbarkeit der epochalen Kunst-, Kultur- und Glaubensformen« äußern.60 Das stilistische Experiment bei Musil bedeutet vor allem das gedankliche Experiment im Romanmedium, d.h. der Roman wird durch die Integration der philosophischen Reflexion in die Romanstruktur stilistisch umdefiniert.

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Kim, Rae-Hyeon: Robert Musil. Poetologische Reflexionen zur Geschichtlichkeit der Literatur, Bonn: Bouvier 1986, S. 21. Ebd., S. 12. Ebd., S. 21. Ebd., S. 11. Dresler-Brumme: Nietzsches Philosophie, S. 53. Ebd., S. 58.

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Historische Zeit im Narrativ

3.1.4

Beeinflussung durch den Historismus und Tendenz zur Abstraktion

Eine weitere Grundlage für Musils Interpretation der kollektiven Vergangenheit bildet das Phänomen des Historismus, dessen Praktiken, wie Friedbert Aspetsberger in seiner Aufsatzsammlung darlegte, die künstlerische Produktion um die Jahrhundertwende und auch Musils Roman in einem besonderen Maße prägten.61 In der Musil gewidmeten Studie unterscheidet Aspetsberger zwischen der »Motivierung aus der Geschichte« und »bloßer Reproduktion des Bestehenden unter historisierenden Motiven«, die er als zwei entgegengesetzte Pole des Historismus versteht.62 Dabei negiert die letzte die erste, indem sie »zu einem anachronistischen Zitat der Vergangenheit oder zu historisierender Stilisierung erstarrt«.63 Die Nachahmung der vergangenen Epochen ist für die Romanstilistik insoweit wichtig, als für Musil ein Stil die Möglichkeit der Wirklichkeitsbetrachtung bedeutet. Durch ihre Realisierung im Bauwerk können Wirklichkeiten entstehen, die im räumlichen Nebeneinander der Wiener Ringstrasse ihre zeitliche Definition verlieren und Geschichte als gleichzeitig zugriffsbereit und enthistorisiert erscheinen lassen.64 Aspetsberger betrachtet den »Mann ohne Eigenschaften« vor dem Hintergrund dieser Tendenz und findet zahlreiche Parallelen zwischen den Grundzügen des Historismus, zu denen auch das Bemühen um das rational-wissenschaftliche Verstehen der menschlichen Wirklichkeit gehört,65 und dem Roman, wobei er einräumt, dass »Musil diese Züge modellhaft in der Romanwirklichkeit aufbaut und sie schon in der diese Inhalte umgreifenden literarischen Form problematisiert«.66 Besonders Ulrichs Denkpraxis trägt die Züge des historistischen Denkens: Er kritisiert und wiederholt formal den beliebigen Pluralismus der Wirklichkeiten, denen er begegnet – und die von der Wissenschaft in Typen der Weltanschauungen entwickelt wurden und sich gleichermaßen in der Stilvielfalt der Architektur zeigen.67 Aspetsberger spricht von einer Polemisierung, aber auch von einer Affizierung Musils durch den Historismus. Dafür spricht die Konzipierung der Figuren als Typen, Vertreter der »bedeutenden geschichtlichen Kräfte«.68 Vor allem aber bewertet Aspetsberger

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Aspetsberger, Friedbert: »Musil und der Historismus. Am Beispiel des Romans ›Der Mann ohne Eigenschaften‹«, in: Aspetsberger, Friedbert, Der Historismus und die Folgen. Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Atheneum 1987, S. 127-145. Ebd., S. 128. Ebd., S. 130. Vgl. Fanta, Walter: »Das Österreichische in den Texten von Robert Musil«, in: Daigger, Annette (Hg.), Robert Musils Drang nach Berlin.Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers, Bern: Lang 2008, S. 13-33, hier S. 28; Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 127. Zum expliziten Zusammenhang zwischen dem Historismus und der wissenschaftlich-rationalen Durchdringung der Wirklichkeit vgl. Oexle, Otto G.: »Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne«, in: Oexle, Otto G., Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880 – 1932, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 11-116, in diesem Kontext zu Musil: S. 15-17. Aspetsberger: Musil und der Historismus, S. 131-132. Ebd., S. 133. Ebd., S. 136.

3. Reflexion

die modellhafte, verkürzende Anlage des gesamten Romans als Ausdruck der historistischen Denkpraxis. Laut Aspetsberger steht Musils Wirklichkeitsbetrachtung unter dem Einfluss des Historismus, da die fiktive Realität des Romans einem Abstraktionsprozess unterliegt: Die hochintellektualisierte, auf Modelle von Bewußtseinstypen formalisierte und verdichtete Wirklichkeit, die nahe daran gerät, die geschichtliche Dimension des Dargestellten zu verlieren, […] findet ihren künstlerischen Ausdruck wie schon angedeutet in der literarischen Form. (H.i.O.)69 Dadurch ist die Wende, die Musil in seinem Roman vornimmt, treffend beschrieben. Wenn er »die geschichtliche Dimension des Dargestellten« nahezu verliert, so tauscht er das für ihn weniger griffige Paradigma der politischen Geschichte gegen ein Verständnis der Wirklichkeit ein, die sich durch ästhetisch geprägte Realitätsphänomene offenbart. Eine solche Konstitution der fiktiven Realität im Roman durch die »Montage aus geistig vorgeprägter Wirklichkeit« bedeutet, wie Aspetsberger argumentierte, »eine starke Abstraktion, da die besprochenen Bewußtseinsphänomene als solche genommen, funktional eingesetzt und damit gleichsam potenziert werden«.70 Durch den Abstraktionsvorgang eröffnet sich im Roman ein Spielraum mit der vergangenen Zeit, die in Form von Stilen, Vorstellungswelten und Denkmustern für das literarische Medium greifbar wird. Dabei bietet ihre abstrakte Form an sich noch keineswegs eine Ursache der gesellschaftlichen Krisen, wie es u.a. Jean-Pierre Cometti sehen wollte: Musil selbst hat die Darstellung von Zeit als Wiederkehr, die Herrschaft der Mittelwerte und das dunkle Bewußtsein von einer Zeit, auf die unsere Erzählungen keinen Zugriff mehr zu haben scheinen, einer Epoche zu Lasten gelegt, die der Abstraktion des Lebens auf allen Gebieten zugesehen hat.71 Dieser moralisierenden Botschaft könnte man mit den Worten des Romanerzählers entgegnen, dass dadurch die Schuld »dem Auftreten der Intelligenz und nicht ihrer Unvollkommenheit« zugeschoben wird (MoE/B1/448). M.E. ist es zweifelhaft, ob Musil die »Abstraktion des Lebens« als ein allgemeines Unheil angesehen hat, dem er in seinem Roman beikommen wollte. Im Gegenteil bedient sich Musils Erzählkunst – wie Stephan Reinhardt nachwies – der Abstraktion als eines Produktionsverfahrens: Indem die Kunst Wirklichkeitselemente […] in neuer Weise verknüpft, muß sie zuvor oder zugleich von der Wirklichkeit abstrahieren, muß eine Auswahl unter dieser treffen und auf Grund dessen dann eine neue Zuordnung der Wirklichkeitselemente vornehmen.72

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Ebd., S. 140. Ebd., S. 140-141. Cometti, Jean-Pierre: »Es gibt Geschichte und es gibt Geschichten… Mit der Zeit aber geschieht immer dasgleiche«, in: Strutz, Josef/Dinklage, Karl (Hg.), Robert Musils »Kakanien« – Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag, München: Fink 1987, S. 164-181, hier S. 177. Reinhardt, Stephan: Studien zur Antinomie von Intellekt und Gefühl. In Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Bonn: Bouvier 1969, S. 117.

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Historische Zeit im Narrativ

Auch Martin Menges sah den »Mann ohne Eigenschaften« von der Abstraktion entscheidend gezeichnet, vor allem was den essayistischen Stil angeht. Die »auffallende Neigung zur Abstraktion« interpretiert Menges vor dem Hintergrund des Musilschen Präzisionsvorbildes der Mathematik – jedoch in einem wesentlich negativeren Sinne als »prononcierte Gleichgültigkeit gegenüber dem Material«, »die Verneinung der unmittelbaren Anschaulichkeit, die Ermächtigung der Intellektualität, die Konzentration auf Typisches«.73 Obwohl sich der Roman gerade durch diese Qualitäten der »Kontrafaktur der Zeit« annähert, die Menges als insgesamt charakteristisch für die »reflektierte Kunst der Moderne« ansieht,74 spricht Menges dem Roman überraschend den »Anspruch auf allgemeine, übergreifende Ausdeutung und Explikation des sozial und historisch entscheidenden, transindividuellen Geschehens« ab und attestiert ihm stattdessen […] das Bewußtsein der prinzipiellen Partikularität aller Realitätserfahrungen und -darstellungen mit einem unendlich variationsreichen Wechselspiel von Perspektiven, Funktionen und Möglichkeiten.75 In seiner kritischen Haltung gegenüber dem vom Erzähler (und dem Protagonisten) des Romans entwickelten Hang zur Abstraktion rechnet Menges dem Romanerzähler zwar die »Entrealisierung […] als analytische Desillusionierung« hoch an,76 sieht sie doch durch die Entfremdung des Individuums von der Lebenswirklichkeit und von dem »in der Gesellschaftsstruktur verankerten Geltungsverlust des Individuums und der auf dessen Autonomie beruhenden Moral« geprägt.77 Die letzte These bringt das Fundament von Menges Argumentation zum Vorschein: im Paradigma der Entfremdung gilt Abstraktion per definitionem als »ein wesentlich negativer Akt«78 der Entfernung von der »Lebenswirklichkeit«. In Menges Ausführungen bleibt unklar, ob der Abstraktionsvorgang der fiktiven Realität des Romans, seinem Stil oder der Evolution des Protagonisten in Richtung der Utopie zuzuschreiben ist, in der sich »das Individuum von der existierenden Realität« zwecks »Selbstbesinnung« befreit.79 Dabei äußerte sich Musil dazu ziemlich direkt, so u.a. in einer Notiz zu der Konstellation zwischen Ulrich und seinem Jugendfreund Walter: »Die Zeit lebt abstrakt – W. will konkret leben.«80 Die abstrakt lebende Zeit erlaubt im Roman kein »Ausweichen ins Private«, die Walter in seinem Familienleben anstrebt; auf der Höhe dieser Zeit agiert hingegen der Protagonist Ulrich und vergilt es der Zeit »persönlich«, indem er sie für dumm hält. Die Überzeugung, dass »der Geist seine eigene Geschichte habe und sich unbeschadet alles, was praktisch

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Menges, Martin: Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit. Eine Interpretation von Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« unter dem Leitbegriff der Abstraktion, Frankfurt a.M.: Lang 1982, S. 72. Ebd., S. 18. Ebd., S. 13-14. Ebd., S. 67. Ebd., S. 16. Ebd., S. 42. Ebd., S. 21. I/1/14, datiert auf 1927/28, Mappengruppe I, Nachlassmappen. Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles.

3. Reflexion

geschehe, schrittweise erhöhe«, beschreibt Musil in einem späten Entwurf seiner Autobiografie als »eine Hauptidee oder -illusion« seines Lebens, aus der sein »Verhältnis zur Politik zu verstehen« sei.81

3.1.5

Geistige Realität als Gegenstand der Romanerzählung

Die Vorstellung von der Existenz einer autonomen Realität des Geistes bildet eine wichtige Inspirationsquelle für die Romanerzählung, die die Dynamik dieser herausgehobenen Realität in vielerlei Hinsicht reflektiert. Diese Autonomie wurde um einen hohen Preis erkauft, zumal sie in einer Zeit behauptet wird, in der politisches Engagement unter den Intellektuellen hoch im Kurs steht. Wie Cornelia Blasberg in ihrer Studie zu kulturkritischen Aspekten in Musils Roman ausführte, war Musils Generation die erste, in der »Intellektuelle zu einer Gruppenidentität [finden] und als neue Kraft in die Sozialgeschichte ein[treten]«:82 Blasberg liefert einen Überblick über die Wendepunkte dieser Geschichte und zeichnet dabei die Konturen einer Zeit, in der das Gruppenengagement zur Überlebensstrategie der Intellektuellen wird. In diesem Geschehen gerät Musil als Außenseiter an die Peripherie. In Anlehnung an Klaus Laermanns Studie83 diagnostiziert Blasberg bei Musil eine Flucht »in Scheinwelten«.84 Bezüglich Musils Vortrag auf dem Internationalen Schriftstellerkongress in Paris wird ihr Urteil schärfer, wenn sie von der »fatale[n] Richtung politischer Ignoranz« spricht, »an der gemessen seine fast monomanische Arbeit am Roman psychologisch als Flucht zu begreifen« sei.85 Daran, dass Musils relativ selbstverständliche Thesen, die der Freiheit der Kulturschaffenden angesichts des geforderten politischen Engagements gelten, zu einer Provokation seiner Schriftstellerkollegen wurden, lässt sich der Druck ermessen, den sich Musil mit seiner »programmatische[n] politische[n] Ortlosigkeit«86 auflud. Dieser Druck wirkt sich darüber hinaus, wie die Argumentation von Blasberg zeigt, auf die Lektüre seines Romans durch die Nachwelt aus, der laut Blasberg »gerade der Maßstab persönlicher Bloßstellung ist, weil er eine genaue Analyse der Zeit und Voraussicht in die Zukunft fordert.«87 Dabei scheint sich die Verfasserin der notwendigen Erkenntnisse sicher zu sein, um Musils »politische Fehleinschätzungen«88 entsprechend zu beurteilen.89 Im Gegensatz dazu lebt Musils Roman, auf dessen Seiten die Positionierungsstrategien der Intellektuellen mehrfach satirisch parodiert werden, von einer

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Notiz 69, Heft 33: Autobiografie (1937 – 1942). Musil, Klagenfurter Edition, Band 17. Blasberg, Cornelia: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Stuttgart: Akademischer Verlag H.-D. Heinz 1984, S. 52. Laermann, Klaus: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Stuttgart: Metzler 1970. Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 146. Ebd., S. 258. Amann: Robert Musil, Literatur und Politik, S. 18. Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 264. Ebd. Mit dieser Problematisierung sei auch Maksim Gorʹkij mitbedacht, der dem gleichen Druck ausgesetzt wird. Er fügt sich ihm zwar in seiner kulturpolitischen Rolle, schafft sich jedoch in seinem Roman einen intellektuellen Freiraum und bemüht sich um eine möglichst »objektive« Erkenntnis der kollektiven Vergangenheit.

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Historische Zeit im Narrativ

produktiven Verunsicherung in Bezug auf die Logik des kollektiven Wandels. Der Romanerzähler macht sich laut Wolfdietrich Rasch »das Erzählen des Unerzählbaren« zum Programm: Die Erzählung bewegt sich am Rande des Erzählbaren; es wird erzählt mit dem Bewußtsein, daß die Daseinssituation Ulrichs und seiner Zeitwelt eigentlich nicht mehr erzählt werden kann. In dieser Paradoxie steht der Roman.90 Diese Schwierigkeiten werden im Roman explizit reflektiert, wenn der Erzähler die Unterscheidung zwischen zwei Arten der Erzählung trifft, von denen sich eine an einem verlässlicheren und einfacheren Erzählvorgang orientiert und die andere in Gefahr gerät, durch die gesteigerte Komplexität den Faden der Erzählung zu verlieren: Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig »weil« und »damit« hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem »Faden« mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (MoE/B1/1044) Wenn »das ordentliche Nacheinander der Tatsachen« der Orientierung im privaten Leben dienlich ist, durch die man sich »im Chaos geborgen« fühlt, so greift dieses Verfahren nicht auf der Ebene, auf der der Protagonist des »Mann ohne Eigenschaften« operiert. Die »unerzählerisch gewordene«, »unendlich verwobene Fläche« des Öffentlichen lässt sich nicht unproblematisch durch das »primitiv Epische« an die Belange des individuellen Lebens knüpfen, sondern bedarf alternativer Darstellungstechniken. Wie Alexander Honold anhand der zitierten Passage ausführte, »wird [für Musil] der ›Faden‹ das Modell des narrativen Zusammenhangs schlechthin«.91 Diese »seltsam ›naive‹ Form des Erzählens […], die dem aufgeklärten Bewußtsein der perspektivischen Kontingenz aller narrativen Optiken gegenübergestellt wird«,92 bringt laut Honold die Erzählung in Musils Roman zum Schwanken: »Erzählung und Reflexion scheinen einander geradezu auszuschließen«.93 Doch soll der Gegensatz zu dem »primitiv Epischen« nicht zwangsläufig auf das Unerzählbare hinauslaufen, sondern könnte auf das »komplex Epische« oder sogar das »verstrickt Epische« deuten, das Musils Roman in seiner Komplexität verwirklicht. In diesem Sinne plädierte Martin Dillmann im Rahmen eines Aufsatzes für eine »Narratologie der Inkohärenz«, die »im Roman nicht unmittelbar in eine inkohären90

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Rasch, Wolfdietrich: »›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Eine Interpretation des Romans«, in: Heydebrand, Renate von (Hg.), Robert Musil, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 54119, hier 54, 56. Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 295. Ebd., S. 302. Ebd.

3. Reflexion

te Narration umgesetzt« wird, sowie für die Erforschung »narrative[r] Strategien, mit denen sich der ›Mann ohne Eigenschaften‹ als episches Werk jenseits des ›primitiv Epischen‹ zu konstruieren sucht«.94 Angesichts dieser Thesen fällt das Fazit seiner Untersuchung, die den »Mann ohne Eigenschaften« im Kontext der »Kontingenzsemantik der klassischen Moderne«95 betrachtet, doch etwas dürftig aus. Als »diabolisches Liebesgedicht der Moderne« soll Musils Roman in seiner Erzählweise eine »Poetologie der Statistik«96 verwirklichen, indem er auf »Listenkomposition« als einem »offensiven Gegenmodell zum […] primitiv Epische[n]«97 aufbaut. Die »Desemantisierung«, die »durch die sprachliche Gestaltung der Listen«98 erzeugt wird, sieht Dillmann als Basisverfahren der Zersetzung von epischer Erzählhaltung im Roman an, den er paradigmatisch durch das Genre der Kurzprosa geprägt sieht.99 Vergleichsweise bietet seine Problematisierung von Listen in der Komposition von Musils Roman einen originelleren und spannenderen Beitrag als die von ihm erneut aufgenommene, in der Musil-Forschung ohnehin perpetuierte Botschaft von dem Übergewicht des Essayistischen im »Mann ohne Eigenschaften«. Insgesamt erweist sich jedoch die angekündigte »Narratologie der Inkongruenz« mehr als ausgedehnter Lobgesang an die Inkongruenz, in der der Verfasser die Kontingenzerfahrung der Moderne erkennt, als eine »Narratologie«, von der Dillmann wenig Kenntnis nimmt, da sie offensichtlich weniger zu der Erforschung der »radikal negative[n] Erzählhaltung«100 von Musils Roman beitragen kann. Bei seiner Tendenz, in Anschluss an den »Mann ohne Eigenschaften« »Kontingenz ironisch zu zelebrieren« und die statistischen Verfahren als narratives Kompositionsmerkmal zu etablieren,101 überliest Dillmann die Ironie, die u.a. dem Pathos der Naturwissenschaften und der Legitimationshoheit der Statistik im Roman gelten.102 Obwohl Dillmann anerkennt, dass »der Romanerzähler zum Teil mit realistischem Romanpersonal arbeitet und – gleichwohl spöttisch – realistische Handlungsstränge inszeniert«, gilt es für ihn als sicher, dass dadurch nichts anderes als Depotenzierung und Dementierung von der »bindende[n] Wirkung einmal getroffener narrativer Entscheidungen« stattfindet.103 So wertet er u.a. auch den »häufig repetiert[en]« Forschungsbefund, »der Roman sei vor allem 94

Dillmann, Martin: »Musils Narratologie der Inkohärenz«, in: Abel, Julia (Hg.), Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, Trier: Wiss. Verl. Trier 2009, S. 193-207, hier S. 194. 95 Dillmann, Martin: Poetologien der Kontingenz. Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne, Köln: Böhlau 2011, S. 33. 96 Ebd., S. 102. 97 Ebd., S. 131. 98 Ebd., S. 136. 99 Ebd., S. 164. 100 Ebd., S. 35. 101 Ebd., S. 139. 102 So interpretiert er die Szene, als ein Besucher bei Ulrich für die Wahl vierbalkiger Buchstaben aufgrund statistischer Methoden plädiert, nicht als Ironisierung des statistischen Wissens, sondern als selbstironisierende Form des Erzählens (ebd., S. 146), und gibt bei seiner Interpretation des Romaneinstiegs der Konterkarierung »traditioneller Formen poetischer Rede« ein größeres Gewicht gegenüber dem (m.E. durchaus ironisch konzipierten) quasi-wissenschaftlichen Wetterbericht (ebd., S. 107-108). 103 Ebd., S. 108.

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Historische Zeit im Narrativ

inhaltlich progressiv und modern, stilistisch aber eher konservativ und traditionell« als einen »durch Musilsche Äußerungen (vermeintlich) legitimierte[n] Befund« ab.104 Im Gegensatz zu Dillmanns Studie steht dieser Befund jedoch auf einer verlässlicheren methodischen Basis, da er den Einsatz der traditionellen Erzähltechniken in Musils Roman nicht pauschal negiert, sondern differenziert betrachtet. Wie Irmgard Honnef-Becker im Vergleich zu zeitgenössischen Romanexperimenten argumentierte, tendiert Musil in seinem Roman kaum zum forcierten Einsatz solcher »Erzählverfahren wie die Montage- und Bewußtseinsstromtechnik«, sondern zu einer Verfremdung »konventioneller Muster«, deren »Funktion als Erzählverfahren deutlich« gemacht wird.105 Die gleiche Sichtweise vertritt Gunther Martens, der die Transformation des auktorialen Erzählens in Musils »Beobachtungen der Moderne« gegen das »Dogma« der »Modernismus-Forschung« verteidigte, in der Perspektivierung das privilegierte Mittel der kritischen Wirklichkeitsreflexion durch die Literatur zu sehen.106 Als »Konversationsroman mit sehr viel personalisierter und pronominalisierter direkter Rede«107 und einem durchaus verlässlichen Erzähler scheint sich der »Mann ohne Eigenschaften« dem klassischen Verständnis der Erzählpraktiken in der literarischen Moderne zu verweigern;108 Musils Art der Instrumentalisierung traditioneller Erzählverfahren lässt sich nur dann mithilfe des narratologischen Instrumentariums untersuchen, wenn seine Grundbegriffe im analytischen Vorgang sowohl eingesetzt als auch weiterentwickelt werden. Als erstes bedarf hierbei das narratologische Grundverständnis der Zeit als einer linearen Abfolge einer Erweiterung. Dass ein solch eng gefasster Zeitbegriff die Forschung in eine Sackgasse führt, lässt sich anhand der Studien von Irmgard HonnefBecker verdeutlichen. Sobald die Untersuchung den zeitlichen Aspekt berührt, wird Musils Erzählweise als eine durch eine Absage an die »zeitliche Linearität« geprägte charakterisiert: […] wenn er davon ausgeht, das Darzustellende könne nicht mehr als linear abbildbares Geschehen gestaltet werden, führt dies zur Abkehr vom traditionellen Erzählbegriff und zur Suche nach neuen Formen des Erzählens.109 An dieser Argumentation kann man deutlich den idealtypischen Zusammenhang erkennen, der zwischen dem »traditionellen Erzählbegriff« und der Vorstellung eines »linear abbildbaren Geschehens« besteht. Wenn man jedoch in der narratologischen Analyse

104 Ebd., S. 129, m. H. 105 Honnef-Becker, Irmgard: Ulrich lächelte. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Frankfurt a.M., New York: P. Lang 1991, S. 7. 106 Martens, Gunther: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs »Die Schlafwandler« und Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität, München: Fink 2006, S. 15. 107 Ebd., S. 126-127. 108 Die zitierten Studien bilden dabei eine seltene und wertvolle Ausnahme, vgl. außerdem die narratologisch ausgerichtete Studie von Holmes, Alan: Robert Musil »Der Mann ohne Eigenschaften«. An examination of the relationship between author, narrator and protagonist, Bonn: Bouvier 1978. 109 Honnef-Becker: Ulrich lächelte, S. 6.

3. Reflexion

die Zeit schon immer als einen linearen Ablauf denkt,110 projiziert man auf den Roman eben jenes Schema, bei dem die Alternative in der Negation der Linearität liegt. Damit ist das Ergebnis der Untersuchung bereits vorbestimmt, das den Zerfall der Linearität in Perspektiven, Teilerzählungen etc. konstatiert. Auf die Schwierigkeiten, die der narratologischen Interpretation von Musils Roman durch die Reduktion des Zeitbegriffs auf eine zeitliche Abfolge eingeschrieben sind, wies bereits 1965 Ulrich Karthaus hin. Er sah das Grundkapital der literarischen Fabelkomposition – die Zeit – in der »morphologischen Analyse« auf die Gegenüberstellung der Erzählzeit und der erzählten Zeit reduziert. Doch lässt sich »die Rolle der Zeit im ›Mann ohne Eigenschaften‹« laut Karthaus »nicht mit der morphologischen Methode derart einengen«.111 Im Vordergrund seiner Untersuchung steht hingegen die »poetische Zeit« des Romans, wofür Karthaus insbesondere den ersten Romanteil einer ausführlichen Analyse unterzieht. Wenn Karthaus aber feststellt, dass »die poetische Zeit des Romans« »die Zeit des Mannes ohne Eigenschaften, die Zeit Ulrichs« sei,112 so besagt diese These an sich genommen nur, dass der Protagonist einen gewissen Einfluss auf die Zeitgestaltung ausübt. In der vorliegenden Untersuchung wird ein Versuch unternommen, diesen Befund durch die analytische Verwendung des Begriffs »historische Zeit« weiter zu differenzieren, wie es u.a. auch Jean-Pierre Cometti im Rückgriff auf Ricœurs Begrifflichkeit der »menschlichen Zeit« versucht.113 Das Potenzial des »Mann ohne Eigenschaften« für die Erzähltheorie liegt m.E. darin, dass der Romanerzähler bei seinem ironischen Bewusstsein der Illusionswirkung des linearen Erzählens ein weitaus komplexeres Zeitbild entwirft, das nicht die sukzessive Entfaltung der leeren zeitlichen Quantität forciert, sondern den qualitativen Aspekt der Zeitdarstellung erweitert.

3.1.6

Repräsentation der Kollektivität und das Geschichtsbewusstsein

Die innovative Aufgabe, die sich Musil stellt, hat Inka Mülder-Bach treffend bezeichnet: Das traditionelle Strukturmodell der Fabel […] wird von Musil für seine Zwecke neu interpretiert und in neuer Weise gehandhabt. Für seine Zwecke, das heißt: für den Ver-

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Vgl. bei Wolfdietrich Rasch, der Musils »zeitauflösende Anordnung« als »das Zurücktreten der Zeitdimension« im Roman interpretierte, wodurch »das zeitliche Nacheinander […] nicht akzentuiert, nicht als gliederndes und ordnendes Moment verwendet« wird (Rasch: ›Der Mann ohne Eigenschaften‹, S. 55-56). Karthaus, Ulrich: Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werke Robert Musils, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1965, S. 28. Ebd., S. 32. Dabei stimme ich grundsätzlich Commettis Sichtweise der künstlerischen Zeitmimesis zu: »Es ist vielleicht das Privileg der Fiktion, daß, wie sowohl Geschichte als auch Roman es zeigen, die menschliche Zeit, nach einem Ausdruck von Paul Ricoeur, in ihr eine Möglichkeit der Darstellung findet, zugunsten derer die phänomenologische Zeit sich auf eine Dimension beschränkt, die, wenngleich problematisch, nicht von vornherein dazu verurteilt ist, zu verschwinden, oder in dem einer [sic!] Unmöglichkeit unterzugehen, die der Nachweis einer objektiven, definitiv jedem Zugriff entzogenen Zeit für uns bedeuten würde« (Cometti: Es gibt Geschichte und es gibt Geschichten, S. 178).

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Historische Zeit im Narrativ

such, eine Welt zu konstruieren, die zu [einem] undurchdringlichen »Gefilz von Kräften« geworden ist [...].114 Die »unerzählerisch« gewordene Materie des Öffentlichen stellt die zentrale Herausforderung für den Roman dar und wird an mehreren Stellen in Bildern versinnbildlicht, die von der Musil-Forschung mehrfach kommentiert wurden. So u.a. das Bild des Kollektiven, das Ulrich im Kapitel 103 in Analogie zur »kinetischen Gastheorie« (MoE/B1/784) entwickelt: Nehmen wir an, daß es im Moralischen genau so zugehe wie in der kinetischen Gastheorie: alles fliegt regellos durcheinander, jedes macht, was es will, aber wenn man berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was wirklich entsteht! Es gibt merkwürdige Übereinstimmungen! Nehmen wir also auch an, eine bestimmte Menge von Ideen fliegt in der Gegenwart durcheinander; sie ergibt irgendeinen wahrscheinlichsten Mittelwert; der verschiebt sich ganz langsam und automatisch, und das ist der sogenannte Fortschritt oder der geschichtliche Zustand; das Wichtigste aber ist, daß es dabei auf unsere persönliche, einzelne Bewegung gar nicht ankommt, wir können rechts oder links, hoch oder tief denken und handeln, neu oder alt, unberechenbar oder überlegt: es ist für den Mittelwert ganz gleichgültig, und Gott und Welt kommt es nur auf ihn an, nicht auf uns! (MoE/B1/784-785) Florence Vatan hat diese Übertragung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf die Ebene der Geschichte und der Menschheit als eine problematische Analogiebildung kritisiert: on ne peut mettre sur le même plan la population humaine et une population de molécules ou d’atomes gazeux dont les proportions numériques sont infiniment supériores.115 Doch ist Musils freie Analogie wohl nicht so streng gedacht; sie veranschaulicht vor allem die Machtlosigkeit des Individuums angesichts der chaotischen Gesamtentwicklung. Wenn sie jedoch in Frage gestellt werden könnte, so nicht in Bezug auf die Differenz der Maßstäbe eines chemischen und eines gesamtmenschlichen Prozesses, sondern was die Verbindung zwischen dem »Moralischen« und »dem geschichtlichen Zustand« angeht, der nebenbei hergestellt und fast selbstverständlich erscheint. Noch viel erstaunlicher ist es aber, dass sich der Fortschritt des »Moralischen«, der für Ulrich den »geschichtlichen Zustand« ausmacht, aus der Bewegung von Ideen ergibt, die »in der Gegenwart durcheinander [fliegen]«. In dieser Vision des Kollektiven verleihen Ideen der gesellschaftlichen Moral einen dynamischen Aspekt, verweigern sich aber bei ihrer chaotischen Bewegung dem rationalen Zugriff und sind für das Individuum weder begreiflich, noch beeinflussbar. Ideen als geschichtstragende Substanz zu verstehen, bedeutet eine provokative Interpretation der kollektiven Vorgänge. Musils Provokation wird aber erst dann lesbar, wenn man eine Verbindung zwischen der Kritik der Geschichtserzählung und dem Begriff der Kollektivität herstellt, der in Musils Roman geläufig ist. Diese beiden Aspekte

114 115

Mülder-Bach: Robert Musil, S. 15. Vatan, Florence: Robert Musil et la question anthropologique, Paris: PUF 2000, S. 124.

3. Reflexion

blieben in der Forschung bisher oft getrennt; auch Roger Willemsens scharfsinnige Studie zu Musils Literaturbegriff behandelte seine Gesellschaftsschilderung getrennt von der Reflexion des Geschichtserzählens.116 In einem Zusammenhang wurden sie von Tatjana Svitelʹskaja thematisiert, die hinsichtlich Musils Auseinandersetzung mit Lev Tolstojs »Krieg und Frieden« zu folgendem Schluss kam: Für Musil stellt die Masse ein völlig anders geartetes historisches Material dar, als das Volk für Tolstoj. Der Autor von »Krieg und Frieden« sah im Volk die wichtigste Kraft der Geschichte und setzte große Hoffnung in eine Änderung der Lage der Volksmassen.117 Diesen Glauben sieht Svitelʹskaja durch die Reformen der 1860er Jahre in Russland beeinflusst, hingegen speise sich Musils skeptische Einstellung zu dem schöpferischen Potenzial der Massen aus dem Aufstieg des Faschismus. Gegen eine solche Analogie zwischen dem Roman und den tagespolitischen Fragen hat Beda Allemann argumentiert: Die Frage scheint sich aufzudrängen, und sie wurde von zeitgenössischen Kritikern auch prompt gestellt, ob dem Autor Musil, während er mit der Ausarbeitung seiner großen Analyse des gegenwärtigen Zustands beschäftigt war, nicht die reale Geschichte gleichsam unter den Händen davonlief. Die Frage ist unter den skizzierten Prämissen sinnlos. Musil dachte und disponierte in anderen Zeiträumen.118 Diesem Einwand schließe ich mich ausdrücklich an; doch gibt es an Svitelʹskajas Vergleich der Konzeptionen des Kollektiven bei Tolstoj und Musil etwas Wahres. Sowohl für Tolstoj, als auch für Musil stellt die zeitliche Dynamik des Kollektiven ein undurchsichtiges Feld dar, in dem sich die Romanerzählung vorantastet. Diese Sichtweise wird in Musils Roman von dem Diplomaten Tuzzi anhand eines Beispiels aus der politischen Geschichte Russlands verdeutlicht: Erinnern Sie sich an die Geschichte Alexanders des Zweiten? Sein Vater Nikolai war ein Despot, aber er ist eines natürlichen Todes gestorben; Alexander dagegen war ein hochherziger Herrscher, der seine Regierung sogleich mit liberalen Reformen begann; die Folge war, daß aus dem russischen Liberalismus der russische Radikalismus geworden ist und Alexander nach drei vergeblichen Mordversuchen einem vierten zum Opfer fiel. (MoE/B1/954) Der Zusammenhang zwischen der Denkweise der Herrscher und realen politischen Folgen ihrer Regierungsweise erscheint als subversives Feld, auf dem alles in sein Gegenteil umzuschlagen scheint: Der liberale Zar wird Opfer eines Terroranschlags, während 116

117 118

Willemsen, Roger: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils, München: Fink 1984, vgl. die Kapitel »Das Bild der Gesellschaft« (S. 75-78) und »Geschichtsschreibung und Krisenbefund« (S. 78-83), die zwar eng nebeneinander liegen, aber keinen inhaltlichen Bezug zueinander aufweisen. Svitelʹskaja, Tatjana: »Robert Musil über Lev Tolstoj«, in: Brokoph-Mauch, Gudrun (Hg.), Beiträge zur Musil-Kritik, Bern: Lang 1983, S. 75-86, hier S. 79. Allemann, Beda: »Robert Musil und die Zeitgeschichte«, in: Allemann, Beda (Hg.), Literatur und Germanistik nach der »Machtübernahme«. Colloquium zur 50. Wiederkehr des 30. Januar 1933, Bonn: Bouvier 1983, S. 90-117, hier S. 103.

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Historische Zeit im Narrativ

der Despot eines natürlichen Todes stirbt. Zwischen dem politischen Machtgefälle und der Lebensrealität der Menschen vermutet Musil das Vorhandensein einer besonderen Sphäre, deren Logik politische Realität pervertiert und in ihr Gegenteil umschlagen lässt. Auch die »reale« Diplomatie in der Gestalt des Sektionschefs Tuzzi hat Schwierigkeiten mit den Imponderabilien der geistigen Welt, denen gewaltsame Umstürze nach der Art von Terroranschlägen auf den russischen Zaren entwachsen. Auf diesem Feld betätigen sich Musils Protagonisten, die von der Frage nach der Ordnung des Geistes vorangetrieben werden. Die Verschiebung von der Darstellung der Handlungen politischer Akteure auf die Ebene kollektiv signifikanter Abstraktionen stellt ein Verfahren dar, das unlängst von Norbert Christian Wolf kommentiert wurde: Es handelt sich um ästhetische Antworten auf die von ihm selbst diagnostizierte Komplexität der modernen Welt, die längst »gespenstische« Züge angenommen hat und deren analytische Durchdringung sämtlicher Mittel des Intellekts bedarf, um das »geistig Typische« zumindest ansatzweise zu ergründen.119 Neben der Legitimierung dieses Vorhabens durch die Kritik an den Erzählmustern politischer Geschichte zieht dieser Ansatz eine Abweichung von dem realistischen Erzählparadigma nach sich, die Wolf wie folgt beschrieb: Zwar klingt die erzählerische Konzentration auf das »Typische« einer Zeit auf den ersten Blick nicht viel anders als entsprechende Formulierungen aus den (damals schon historischen wie auch aus zeitgenössischen) Programmschriften des Realismus, man denke nur an Georg Lukács. Doch unterscheidet Musil sich davon durch das Epitheton »geistig« sowie durch seine Berufung auf »das Gespenstische des Geschehens«. Diese beiden Zusätze sind für ihn von entscheidender Bedeutung.120 Musils Vorhaben bedeutet also keinen vollständigen Bruch mit den Konventionen des realistischen Erzählens, sondern ihre Instrumentalisierung im Dienste einer vollkommen neuartigen Aufgabe. Diesen Zusammenhang reflektiert Musil nachträglich im Jahr 1931 in seinem Brief an Bernard Guillemin: […] ich bin in Stilfragen konservativ und wünsche nicht mehr zu ändern, als ich unbedingt brauche. […] Das schließlich Dargestellte möchte ich etwa so ausdrücken: In unserer gegenwärtigen Welt geschieht größtenteils nur Schematisches (Seinesgleichen). Das ist Typisches, Begriffliches, und noch dazu Ausgesogenes.121 Um die Materie des »Seinesgleichen« erzählerisch zu gestalten, bedarf es einer Modifizierung der Romanform, in der »Phrasen ebenso wie Personen« und »auch Ideen [auftreten]; sie sind eben da, daraus besteht die Zeit.«122 Ideen müssen also bei Musils Revision der Vorkriegsgeschichte nicht die Rolle passiver Statisten übernehmen, sondern ähnlich wie Figuren auftreten, d.h. in einer Form in Erscheinung treten, die sich 119

Wolf, Norbert C.: »›Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht‹. Robert Musil und der Realismus – eine Nachlese mit Forschungsperspektiven zum ›Mann ohne Eigenschaften‹«, in: Kwartalnik Neofilologiczny 54 (2007), S. 115-135, hier S. 133. 120 Ebd., S. 117. 121 Brief von Robert Musil an Bernard Guillemin, 26. Januar 1931. Musil, Klagenfurter Edition, Band 19. 122 Ebd.

3. Reflexion

radikal vom realistischen Paradigma mit seinem Verständnis der Ideen als Elementen der Introspektion unterscheidet. Zum Konstituens der Zeit erklärt, eröffnen Ideen einen spezifischen Zugang zu den kollektiven Prozessen. Eine solche Konzeption des Kollektiven beeinflusst aber auch grundlegend die fiktive Realität des Romans, in dem »das Dasein« erklärterweise »mehr als zur Hälfte nicht aus Handlungen, sondern aus Abhandlungen« besteht (MoE/B1/328). Werner Graf hat auf »die gespaltene, abstrakte Erfahrungshaltung« hingewiesen, die als »Formmerkmal« in der Romanerzählung dominiert.123 Er interpretierte sie als Zeichen der Beeinflussung des Erzählers durch die »manifeste Erfahrungsunfähigkeit« des Protagonisten Ulrich,124 dem Graf »entpolitisiertes und unhistorisches« Denken zu Lasten legt.125 Doch wenn die Erzählerinstanz im Roman das Attribut »abstrakt« verdient, so entfaltet sie in eigener Regie eine Vision kollektiv signifikanter Vorgänge und konstruiert dort die Erfahrung, die im Roman als »Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen« (MoE/B1/360) benannt wird. Wenn jede Idee einzeln reflektiert und interpretiert wird, so lässt sich die Dynamik ihres Zusammenwirkens nicht begreifen, sondern nur narrativ nachvollziehen. Die Unmöglichkeit, ihre Bewegung auf eine einfache Formel zu bringen, thematisiert der Erzähler an einigen Stellen im Roman explizit, so zum Beispiel in der folgenden Passage: Aber auch sonst ereignete sich unaufhörlich allerlei, wofür man nicht schnell die Worte fand, so daß es wie ein Trommelwirbel in der Seele einem Etwas voranging, das hinter der Ecke noch nicht sichtbar war. (MoE/B1/715-716) Zahlreiche politische und kulturelle Ereignisse, die der Erzähler dabei anführt, sind nicht nur nach dem Muster des politischen Geschehens frei erfunden, sondern ergeben in der Aufzählung keinen direkten Sinn. Die bewegende Kraft lässt sich »wie ein Trommelwirbel in der Seele« erahnen, bleibt aber unsichtbar »hinter der Ecke«. Die vom Romanerzähler perpetuierte Botschaft von einem kollektiven Wandel, der sich kaum in Worte fassen lässt, läuft laut Götz Müller auf die Behauptung hinaus, dass der rationale Grund des »geschichtlich Gegebenen« fehlt: […] der irrationale Grund der Geschichte, die schöpferische Kraft, kann nicht angemessen erfaßt werden. Beschrieben werden können nur die Objektivierungen […] das ihnen Zugrundeliegende, die »prote hyle«, entzieht sich der Vernunft.126 Hingegen interpretierte Florian Kappeler Musils Ansatz als Versuch, durch eine bestimmte Art der Darstellung einen Einfluss auf die »Geschichte« zu gewinnen, und stellte dabei die spezifische Verbindung zwischen Geschichts- und Erzählreflexion im Roman heraus. Laut Kappeler ist

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Graf, Werner: Erfahrungskonstruktion. Eine Interpretation von Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Berlin 1981, S. 10. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 128. 126 Müller, Götz: Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Salzburg: Fink 1972, S. 109.

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Historische Zeit im Narrativ

[…] der MoE am Erfinden von Geschichte nicht durch die Darstellung bestimmter historischer Handlungen auf der Handlungsebene des Romans beteiligt, sondern durch seine spezifische Form der Darstellung. […] Die Frage ist nicht, ob Literatur Einfluss auf die Geschichte nehmen soll, sondern mittels welcher Darstellungsformen sie es tut.127 In seiner Analyse »der Verbindung von Narration und Geschichte« unterscheidet Kappeler vier Modi oder Formen: »die parataktische Reihung von Ereignissen«, epigonales Abschreiben, infolge dessen schlechte Theaterstücke entstehen, Nationalismus – »Dichtung der Nation« und das Programm der Ideengeschichte statt Weltgeschichte.128 Die letzte, vierte Form folge laut Kappeler »nicht einer männlich codierten parataktischen Reihung von Begebenheiten« und berge »eine Geschichte vergeschlechtlichter Formen von Wissen«.129 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann Kappelers genderspezifischer Forschungsbefund nicht verifiziert werden; Kappeler weist jedoch treffend auf die enge Verbindung, die im Roman zwischen den Fragen der Handlungskonstitution und der Reflexion historiografischer Praxis besteht: Im MoE werden solche zeitlichen Prinzipien narrativen Geschehens, die für die Darstellungsweise des Romans konstitutiv sind, auch auf der Ebene der Handlung selbst reflektiert und zum Diskurs der Geschichte in Verbindung gesetzt. Die Frage des Handelns in der realen Geschichte, des Geschichte-Machens, wird dabei mit der Problematik der narrativen Konstruktion des Romans, des Geschichten-Schreibens, verknüpft.130 Diesem Befund schließe ich mich an: Die »Frage des Handelns in der realen Geschichte« oder »des Geschichte-Machens« wird im Roman gerade deshalb mit der Problematik des »Geschichten-Schreibens« verknüpft, als Musil auf die Muster der politischen Geschichtsdarstellung verzichtet und die historische Zeit in der fiktiven Welt als Zeit der kollektiv geteilten Abstraktionen gestaltet. In dieser abstrakten historischen Zeit bedeutet das »Geschichte-Schreiben« einen Akt der Teilnahme am kollektiven Schicksal und einen Bewältigungsakt im Sinne einer Korrektur am Bestand kollektiver Praktiken. Die »reale Geschichte« ist im »Mann ohne Eigenschaften« auf die Grenzen seiner fiktiven Realität zurückzuführen; außerhalb dieser Grenzen, gemessen an den Normen des geschichtswissenschaftlichen und politischen Diskurses ist sie auf den ausdrücklichen Wunsch seines Verfassers nicht als »reale Erklärung realen Geschehens« anzusehen.

3.2

Epischer Auftrag, groteske Realität und Zweifel am Wort in Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«

Die Entstehung des »Klim Samgin« nahm, ähnlich wie im Fall des »Mann ohne Eigenschaften«, einen längeren Zeitraum in Anspruch. Spätestens 1905 unternimmt Gorʹkij erste Versuche, seine Idee in einer Erzählung umzusetzen, wodurch sich die gesamte

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Kappeler, Florian: Situiertes Geschlecht. Organisation, Psychiatrie und Anthropologie in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München: Fink 2012, S. 380. 128 Ebd., S. 381-383. 129 Ebd., S. 385. 130 Ebd., S. 361.

3. Reflexion

Entstehungsgeschichte des Romans über 31 Jahre erstreckt. In diesen Jahren übt Gorʹkij nicht nur einen großen Einfluss als Schriftsteller, Publizist und Denker aus, sondern nimmt aktiv am Geschehen der beiden russischen Revolutionen teil und erlebt dabei die Phasen der Begeisterung für die bolschewistische Bewegung, der ketzerischen Reformversuche ihrer Ideologie, der Kritik und scharfen Abwendung von der Parteipolitik, der Reue, des Exils, der Rückkehr in die Sowjetunion. Getragen durch unterschiedliche Lebensetappen, transformiert sich die Romanidee im Prozess des Schreibens. Sie entwickelt sich von der ursprünglichen Absicht, ein bestimmtes politisches Verhaltensmuster eines Intellektuellen in einem satirischen Licht darzustellen, in den Anspruch, mit seinem Werk zur Erkenntnis Russlands beizutragen: »Ich kann nicht anders, ›Das Leben des Klim Samgin‹ zu schreiben«, – sagte Gorʹkij in einem Gespräch, – Es hat sich bei mir ein phantastisch umfangreiches Material angesammelt, es fordert gebieterisch, es zu verbinden und zu bearbeiten. Ich habe kein recht zu sterben, bis ich das gemacht habe… Mendeleev hat ein Buch mit einem äußerst gewichtvollen Titel ›Zur Erkenntnis Russlands‹. Ich wäre glücklich, wenn meine Chronik so genannt werden könnte.« (TIP/46) Vor dem Hintergrund dieser Aussage ist nicht nur die Bedeutung des Romans deutlich, die ihm von seinem Autor beigemessen wurde, sondern auch die charakteristische Absicht, sich an die vergangene Realität, die von Gorʹkij lebendig miterlebt und mitgestaltet wurde, in Romanform zu erinnern. Wie ich im vorliegenden Kapitel zeige, bildet sich mit der allmählichen Vertiefung in diese Realität die Ebene heraus, auf welcher der Erzähler die Aufgabe der Geschichtsdarstellung kritisch reflektiert. Der entscheidende Durchbruch findet an der Schwelle zwischen dem ersten und zweiten Band statt, als zwei Figuren – die Vorträgerin altrussischer Epen Fedossowa und der Historiker Koslow – als Geschichtserzähler in die Romanhandlung eingeführt werden. Von dieser Stelle aus ziehen sich über den gesamten Roman hinweg Überlegungen, welche die Tragweite der grotesk-komischen Stilistik für die Reflexion kollektiver Vergangenheit hinterfragen. Außerdem verdichtet sich zum Romanende hin die Verwendung des Leitmotivs des Staubs als Metapher des gesprochenen und geschriebenen Wortes zu den Bildern, in denen die metareflexive Brechung der dargestellten Wirklichkeit ein fast postmodernes Ausmaß erreicht.

3.2.1

Die Reflexion des Historischen in der Entstehungsgeschichte des Romans und in der Rezeption

Der Einfall, ein längeres Prosawerk zu schreiben, dessen zentrale Figur ein unfreiwilliger Revolutionär und intellektueller Renegat werden sollte, kam Gorʹkij bereits um 1900, als er intensiv im intellektuellen Milieu Russlands verkehrte. Die Idee hat sich in der Zeit nach der ersten Revolution von 1905 weiterentwickelt und in den Plan einer Novelle verwandelt, die den Titel »Das Leben des Herrn Platon Iljič Penkin« tragen sollte. Neben der Ähnlichkeit des Titels, in dem bereits »Leben« als Handlungszeitraum gekennzeichnet war, trug der Protagonist Penkin bereits charakteristische Züge, die später für Klim Samgin bezeichnend wurden: Selbstverliebtheit, Fehlen jeglicher Begabung, Dilettantismus und Ehrgeiz, der Übergang aus den radikalen Kreisen zum kon-

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Historische Zeit im Narrativ

servativen Lager und moralischer Niedergang. Am Ursprung des Romans steht also die problematische Gestalt eines Intellektuellen, die Gorʹkijs Auseinandersetzung mit dem Gedankengut und Habitus der zeitgenössischen intellektuellen Schicht entspringt und seine Distanzierung davon zum Ausdruck bringt. In den letzten Jahren seines Schaffens kommentiert Gorʹkij diese Lebensperiode im Zeichen der Notwendigkeit, den ideologischen Gegner zu kennen: Die Menschen haben gelesen, haben gelernt, ich aber habe von 1907 an eifrig im Staub und Schmutz der Literatur und Publizistik jener Intelligenz gewühlt, die sich von der Arbeiterklasse abgewandt hatte und in den Dienst der Bourgeoisie getreten war. Ich mußte diese schwere Arbeit leisten, um nach Möglichkeit alles zu kennen, was das Wachstum des revolutionären Rechtsbewußtseins des Proletariats vergiften, hemmen kann. Wieviel Gemeines und Dummes habe ich da gelesen!131 Diese Notiz aus dem Jahr 1931 bedarf bei aller scheinbaren Eindeutigkeit ihrer Aussage einer kritischen Lektüre. Sie könnte als der Versuch einer nachträglichen Rechtfertigung dafür gelesen werden, warum sich Gorʹkij nach 1907 nicht auf die Lektüre der Klassiker des Marxismus, die er nachweislich nicht besonders gut kannte,132 konzentriert, sondern sich polemisch in das intellektuelle Milieu des zeitgenössischen Russland hineingearbeitet hat. Auf den Erkenntnissen dieser Zeit basiert die Erzählung des »Klim Samgin«, in der »Staub« – wie ich unten im Kapitel 4.2.4. »Geh durch den Staub« darstelle – zur zentralen Metapher des gesprochenen und geschriebenen Wortes wird. Die Vertiefung Gorʹkijs in die »Literatur und Publizistik« der »Intelligenz« verursacht eine signifikante Schiefstellung des Romans in Bezug auf sein Epochenbild, die bereits von den ersten Lesern bemerkt wurde. So bemerkte Dalmat A. Lutochin, dass auf den Seiten des Romans der Adel und die Bürokratie vollständig fehlen, die aus der Realität der russischen Monarchie kaum wegzudenken seien (POČK/81). 1911 unternimmt Gorʹkij erneut einen Versuch, seine Idee in die Form einer Novelle mit dem Titel »Die Aufzeichnungen der D-r Rjachins« umzusetzen – ohne Erfolg. 1915 folgt ein neuer Versuch – die Novelle »Seinesgleichen« (russ. »все то же«) mit der zentralen Figur Smagin, dessen Name dem des Samgin bereits ähnlich ist. Auch dieser Versuch läuft ins Leere. Mitten in der russischen Revolution besann sich Gorʹkij wieder dieser Pläne. 1919 erwähnt er in einem Gespräch das Vorhaben, einen Roman über Intellektuelle mit dem Titel »Der Mensch, der sich selbst erfand« zu schreiben. Dieser Roman – dessen ist sich Gorʹkij sicher – wird ihm den Fluch der Intellektuellen für die Ewigkeit sichern (TIP/44). Bemerkenswert ist die neue Deutung, die das ursprüngliche Motiv bei diesem neuen Titel erfährt: Konzentrierte sich der Roman früher auf die Figur des durchschnittlichen Intellektuellen (eines Penkin, Dr. Rjachins, Smagins) oder auf die Dimension der geistigen Krise und Stagnation (Seinesgleichen), so erscheint 1919 eine wichtige

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Notizen. Gorʹkij, Lenin und Gorʹkij, S. 356-357. Ljudmila Spiridonova zitiert in ihrer Monografie die Selbstaussage Gorʹkijs, wonach er in seiner Jugend Marxismus in Narodniki-Kreisen anhand der propagandistischen Broschüre von A. N. Bach »Zar‹-Golod« studierte. Zur Lektüre der Klassiker des Marxismus kommt Gorʹkij laut Spiridonova erst nach Lenins Tod im Jahr 1924 (Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 9, 63).

3. Reflexion

Transformation hin zu der Problematik des Erfindens, die einerseits als Selbsteinbildung durchaus der Kritik eines bestimmten Verhaltens dient, jedoch andererseits die Aufmerksamkeit auf die symbolische Tätigkeit der Welt- und Selbstdeutung durch den Intellekt einleitet, die sich programmatisch im Motiv des »Erfindens« (russ. »выдумывания«) niederschlägt. Die zentrale Rolle dieses Themas hebt Gorʹkij in einem Brief an Stefan Zweig hervor: »Zur Zeit schreibe ich über die russischen Menschen, die wie niemand sonst ihr Leben zu erfinden verstehen, ja, sich selbst erfinden«.133 Die Darstellung einer bestimmten politischen Taktik der russischen Intellektuellen wird somit in die Problematik der Weltund Selbstwahrnehmung transformiert, wobei sich das Erfinden gleichzeitig auf die Figuren des Romans und seinen Autor bezieht, der die fiktive Wirklichkeit erfindet. Als Zeugnis Gorʹkijs ambivalenter Haltung gegenüber diesem Problem lohnt es sich, einen Brief an Sergeew-Censkij von 1927 zu zitieren: Ihre bitteren Worte über den »elenden« Menschen kann ich nur als Worte annehmen. Das bedeutet nicht, dass ich geneigt bin, ihre Aufrichtigkeit zu verneinen. Ach, Moralisten! In jedem gegebenen Augenblick ist der Mensch aufrichtig und gleicht sich selbst. Schauspielert er? Na ja, natürlich! Aber doch dafür, um sich etwas Höherem als er selbst anzugleichen. Und ich habe oft beobachtet, dass er erfindend in die Welt hineinfindet. Das ist kein Wortspiel, nein. Das ist ein Spiel mit sich selbst, und – nicht selten – ein fatales Spiel. (Г-30/B30/58) Das Phantasieren als Mittel der Selbsterfindung wird von Gorʹkij einerseits als gefährlich eingestuft, andererseits aber als ein legitimes Mittel verstanden, sich und die Welt zu begreifen. Dieses Spiel, welches fatale Züge annehmen kann, steht im Mittelpunkt von Gorʹkijs Interessen in den 1920er Jahren. Besonders interessant sind in dieser Hinsicht die Erzählungen, die Gorʹkij Anfang der 1920er Jahre verfasst und in denen er dieses Phänomen mit künstlerischen Mitteln erforscht. In solchen Erzählungen wie »Das blaue Leben«, »Über die Schaben« und »Über den Schaden der Philosophie« führt Gorʹkij formale Experimente im Bereich der Darstellung der perspektivischen Weltveränderung durch die Phantasie durch, die bisweilen an Obsessionen oder Wahn

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Brief an Stefan Zweig. Gorʹkij, Unveröffentlichtes Material und Abhandlungen zu »Klim Samgin«, S. 41.

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Historische Zeit im Narrativ

grenzt.134 Diese Erzählungen bezeichnete Gorʹkij 1928 ausdrücklich als Suche nach einer neuen Form für »Klim Samgin«.135 Neben der Suche nach neuen Stilmitteln löst sich der Schriftsteller von einem Teil der Erzählsubstanz, indem er die Novelle »Das Werk Artamonows« verfasst und darin das Leben einer Familie in drei Generationen schildert. Im Winter 1924/1925, als »Das Werk Artamonows« vollendet wird, deutet Gorʹkij an, dass er einen neuen Roman schreibt. Der Titel des Romans schwankt vorerst zwischen »Die Geschichte einer leeren Seele«, »Vierzig Jahre« und »Das Leben des Klim Samgin«. Letztendlich entscheidet sich Gorʹkij für den letzten, behält jedoch »Vierzig Jahre« als Untertitel und nennt seinen Roman im Briefwechsel oft auch so. Der erste Band erscheint 1927136 und wird in Sowjetrussland kontrovers aufgenommen.137 Unter den ersten Lesern befand sich Boris Pasternak, der seine Bestürzung über das Schwinden der »historischen« Distanz in einem Brief an Gorʹkij äußerte: Es mutet seltsam an, sich bewusst zu machen, dass die von Ihnen genommene Epoche wie die Atlantis einer Ausgrabung bedarf. Es ist nicht nur deshalb seltsam, weil die meisten von uns sie noch in Erinnerung haben, sondern weil sie in ihrer Zeit in Natura

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Vgl. zur formalen Suche in den Erzählungen der 1920er Jahre Примочкина, Н.Н.: »Рассказ М. Горького ›Голубая жизнь‹. К вопросу о традициях и новаторстве«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), Горьковские чтения – 88. Материал конференции »М. Горький-художник и современность«, Горький: Изд.-во ГГУ 1988, S. 86-89; Примочкина, Н.Н.: »В поисках обновления. (О рассказе Горького ›Голубая жизнь‹)«, in: Келдыш, В.А. (Hg.), Неизвестный Горький. (К 125-летию со дня рождения), Москва: Наследие 1994, S. 301-314; Примочкина, Н.Н.: »Художественные искания М. Горького начала 1920-х годов (рассказ ›О тараканах‹)«, in: Известия РАН. Серия литературы и языка (2008), S. 32-40; Knigge, Armin: »Gorʹkij – ein Surrealist? Zu einer Ikonographie des Phantastischen im späten Erzählwerk«, in: Zeitschrift für Slawistik 36 (1991), S. 196-206; zur Evolution von Figuren intellektueller Protagonisten in den Erzählungen der 1920er Jahre und dem »Das Werk Artamonows« vgl. Маркович, А.В.: С кем спорил Клим Самгин?, Благовещенск: БГПУ 2013, S. 42-47; zu den Parallelen zwischen »Klim Samgin« und Gorʹkijs »Notizen aus dem Tagebuch. Erinnerungen« vgl. Белотурова, М.М.: Книга М. Горького »Заметки из дневника. Воспоминания«. Проблематика. Поэтика. Дисс. на соиск. зван. уч. степ. к. ф. н., Москва 2008. Vgl. Zitat aus dem Brief an V.Ja. Zazubrin (TIP/45). Vgl. ŽKS/B21/565. Die Veröffentlichung von weiteren zwei Bänden erfolgte 1928 und 1931, das letzte Buch wurde nach dem Tod des Autors 1937 mit einem kollektiven Vorwort des ZK VKP(b) und SNK SSSR veröffentlicht. Angaben zu den Publikationen von einzelnen Bänden und Fragmenten sowie zu den erhaltenen Entwürfen und Druckfahnen aus dem Nachlass Gorʹkijs befinden sich in ŽKS/B22/673ff., B23/401ff., B23/577ff. Ausführliche Beiträge zur zeitgenössischen und späteren Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Romans vgl. Imendörffer, Helene: Die perspektivische Struktur von Gorʹkijs Roman »Žizn‹ Klima Samgina«, Berlin, Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1973, S. 1-42; Imendörffer, Helene: »Die Rezeption Maksim Gorʹkijs in der Formulierungsphase des sozialistischen Realismus (1928-1934)«, in: Erler G. (Hg.), Von der Revolution zum Schriftstellerkongress, Berlin 1979, S. 391-420; Imendörffer, Helene: »›Klim Samgin‹ – historischer Roman als Bewußtseinsroman«, in: Gorki, Maxim; Ruoff, Hans (Übers.). Klim Samgin, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1982, S. 919-945; Imendörffer: Eine Dekanonisierung; Гавриш, Т.Р.: »Жизнь Клима Самгина« в литературном процессе 1920 – начала 1930-х годов. Дисс. на соиск. зван. уч. степ. к. ф. н., Москва 1999, 2-6, 13ff.

3. Reflexion

eben von Ihnen und den Schriftstellern der Ihnen nahestehenden Schule als Alltagsgegenwart dargestellt wurde.138 Mit dieser Aussage, deren versteckte Tautologie – »Epoche in ihrer Zeit« – auf die Krise des Zeitsinnes deutet, trifft Pasternak zweifach den Kern der Sache. Zum einen verdeutlicht seine Irritation rund um die Handlungszeit des Romans die Bedeutung der Revolution als eines Einschnittes, durch welchen die Grenzen des historisch Signifikanten weit an die Gegenwart herangeschoben wurden. Zum anderen fällt Pasternak aber auf, dass Gorʹkij mit seinem Roman paradigmatisch in der Zeit vor 1917 bleibt, die er durch sein literarisches Werk mitprägte. Im Prozess der Arbeit am Roman verschiebt sich dieser zeitliche Rahmen nach hinten, vom 1917 bis 1919 oder weiter, beachtet man Gorʹkijs Absicht, Samgin als Emigranten darzustellen. Das Emigrantenmilieu gibt einen weiteren Anstoß für die Kritik der Intellektuellen am Roman.139 Die politischen Gegner, verdrängt aus Russland, finden im Ausland laut Gorʹkij ihr »unanständiges Drama« (Г-30/B30/284). Samgin, der mit der Überzeugung aufgewachsen ist, etwas Anderes zu sein, als er ist, steht laut Gorʹkij prototypisch für die Menschen aus diesem Milieu. Samgin sollte eventuell als Korrespondent einer Emigrantenzeitung enden, einer von denen, die – wie aus Gorʹkijs Gespräch mit Moskauer Zeitungskorrespondentinnen hervorgeht – die Sowjetunion im Ausland verleumden (Г-30/B26/93-94). Die Aktualität des Handlungsraums in Roman, der für Gorʹkij im doppelten Sinne durch die Anlehnung an die politische Gegenwart der 1920er Jahre und durch die Kontinuität zu seiner früheren Schaffensperiode vor 1917 besteht, könnte ein Grund dafür sein, warum Gorʹkij sein Werk nicht als historischen Roman bezeichnet. Zum anderen assoziierte er mit dem Historischen Detailtreue; so schrieb er 1927 an Dalmat A. Lutochin: »Ich werde selbstverständlich Fehler machen, ich schreibe aber keine Historie« (Г-30/B30/36). Hinter dieser Äußerung verbirgt sich ein Anspruch auf die faktische Genauigkeit, die Gorʹkij durchaus an sich und seinen Roman stellte, sowie die

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Zitiert nach: Флоря, А.В.: »Иллюзорная стилистика романа А.М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Венгранович, М.А. (Hg.), Текст: теория и методика в контексте вузовского образования. Сборник научных трудов и материалов II международной конференции, Тольятти: ТГУ 2006, S. 204-208, hier S. 207. Vgl. die Analyse von Boris Pasternaks Rezeption des Romans und den Vergleich des Geschichtskonzeptes in »Klim Samgin« und »Doktor Živago« bei Журавлев, А.Н.: »›Запись со многих концов разом…‹. ›Жизнь Клима Самгина‹ А. М. Горького в восприятии Б. Л. Пастернака«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-2002. Материалы конференции »Максим Горький и литературные искания ХХ столетия«, Нижний Новгород: ННГУ 2004, S. 282-284. Vgl. Imendörffer: »Klim Samgin«, S. 927-928. Imendörffer betont zu Recht, dass das intellektuelle Milieu im Roman »sorgfältig, […] keineswegs nur ablehnend dargestellt wird, wie von der sowjetischen Forschung oft behauptet wurde«. Vgl. auch das Kommentar von I. A. Revjakina, die Gorʹkijs Emigrationszeit in Sorrent im Zeichen seiner mittleren Position zwischen Emigranten und sowjetischen Intellektuellen untersuchte (Ревякина, И.А.: »Русские писатели в Сорренто (1924-1933): Диалоги и противостояние«, in: Социальные и гуманитарные науки. Отечественная и зарубежная литература. Серия 7: Литературоведение. Реферативный журнал (1996), S. 26-42, hier S. 38).

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Historische Zeit im Narrativ

Befürchtung, diesem Anspruch nicht ausreichend gerecht zu werden.140 Gorʹkij zieht es im Privaten vor, seinen Roman als »Erzählung« (russ. »повесть«) zu bezeichnen und spielt damit auf die Tradition der altrussischen Geschichtsschreibung, so die bekannte Nestorchronik mit ihrem Titel »Erzählung der vergangenen Jahre« (russ. »Повесть временных лет«), an.141 Indem sich Gorʹkij zu einem Chronisten inszeniert, kann er für sich eine neutrale und wertungsfreie Haltung beanspruchen, die sich auf die lose Aufzählung der Ereignisse und Daten beschränkt und ihre Deutung dem Leser überlässt. Dabei nimmt er Einbußen an der künstlerischen Qualität in Kauf: sein Roman wird »eine Art Chronik und faktisch interessant sein, ich werde es aber akzeptieren, wenn man sagt, dass er nicht von einem Künstler geschrieben wurde.« (Г-30/B30/30)142 In seinem Roman unternimmt Gorʹkij also ein Experiment mit der Romanform, da die vorhandenen Optionen der Darstellung und der Bewertung kollektiver Vergangenheit für seinen Zweck nicht zu greifen scheinen. Dass Gorʹkij den historischen Roman seiner Zeit für reformbedürftig hielt, zeigen zwei Briefe an Aleksej Čapygin von 1926 und 1927, in denen sich Gorʹkij anerkennend über die Leistung von Čapygin selbst sowie von Olga Forš, Aleksej Tolstoj und Jurij Tynjanov äußert, die mit ihren jüngsten historischen Romanen zur Erneuerung des Genres beitragen. Dagegen kritisiert er die Autoren der populären historischen Romane Dmitrij Merežkovskij und Mark Aldanov (Landau) (Г-30/B29/469-470, B30/24-25).143 Die Trennlinie, die Gorʹkij zwischen diesen beiden Gruppen zieht, verläuft neben den Fragen der künstlerischen Innovation auch an der sowjetischen Grenze und trennt die Literatur des Exils von den Autorinnen und Autoren innerhalb der Grenzen der Sowjetunion. Die starke anti-bolschewistische Haltung von Merežkovskij und Aldanov betrachtet Gorʹkij als beispielhaft für die politische Haltung der Emigration. Die sowjetischen Romane enthalten für Gorʹkij mehr historische Wahrheit als die Werke der Schriftsteller, die in der Emigration »stagnieren«. Aus dieser Perspektive kann Gorʹkijs Roman als ein Versuch einer solchen Innovation des Genres verstanden werden, die es erlauben würde, eine »objektive« Position zwischen den beiden Lagern zu beziehen. Das Geschehen im Roman wird von seinem

140 In den Erinnerungen an Gorʹkij, die Sergej N. Sergeev-Censkij, Schriftsteller und Autor zahlreicher historischer Romane hinterließ, interpretiert der Verfasser eine Bemerkung Gorʹkijs im Zeichen des Anspruchs auf »faktische« Genauigkeit – m.E. nicht ganz korrekt. Laut Sergeev-Censkij vergaß Gorʹkij in der Szene der Osternachtliturgie im Moskauer Kreml, dass in dieser Nacht um zwölf Uhr ein Kanonenschuss abgefeuert wurde, und äußerte seine Besorgnis darüber (TIP/52). Was für Sergeev-Censkij ein gewichtiger Fehler in Bezug auf die Faktizität des Geschehens zu sein scheint, erweist sich beim genauen Hinsehen als eine textuelle Lappalie. Im Text der Episode heißt es: »irgend etwas krachte unsinnig, wie ein Kanonenschuß, die Stille explodierte« (KS/B2/807). Gorʹkij verwendet also den Kanonenschuss als Metapher (»wie«), obwohl es tatsächlich einen Schuss gab. Auf diese Verwechslung konnte Gorʹkij äußerst empfindlich reagieren. 141 Vgl. zu Gorʹkijs Schwankungen zwischen den Bezeichnungen ›povestʹ‹/›chronika‹/›roman‹ bei der Wahl des Titels für »Klim Samgin« bei Гавриш: »Жизнь Клима Самгина«, S. 46. 142 Vgl. dazu ein Brief an Lutochin, in dem Gorʹkij anmerkt, dass die Chronik zwar schlecht für den Roman ist, aber von ihm absichtlich (»namerenno«) eingesetzt wird (Brief an Dalmat Lutochin vom 13.07.1927. Горький, Неизданная переписка, S. 430). 143 Vgl. auch Gorʹkijs Worte aus dem Brief an Lutochin vom 1.05.1926: »Jetzt arbeiten in Russland etwa zehn Menschen an Romanen. Es macht sich ein Hang zum ›Historischen‹ bemerkbar.« (Brief an Lutochin vom 13.07.1927. Горький, Неизданная переписка, S. 410)

3. Reflexion

Autor, der in diesen Jahren durch seinen Aufenthalt in Italien in einem durchaus fragwürdigen Status zwischen dem russischen Exil und der Sowjetunion lebt, im Hinblick auf die Emigration und ihre politische Rolle gestaltet. Der Roman umspielt dabei implizit die Grenzlinie zwischen dem pro- und kontrarevolutionären Lager und erschafft auf diese Weise sein eigenes Niemandsland. Die Romanerzählung wird aus dem Blickwinkel eines »Nicht-Helden« gestaltet, der seiner Fehler »objektiv« überführt werden muss. S.I. Suchich schreibt diesbezüglich von einer besonderen künstlerischen Intention, eine »Objektivität« zu finden, »die nicht in Bezug auf das Darstellungsobjekt, sondern auch in Bezug auf den Autor bei seiner eigenen unvermeidlichen ›Subjektivität‹ bestehen soll«.144 Der Roman wird damit zu einem Experiment an sich selbst. Bereits aus dem Jahr 1926, in dem Gorʹkij den ersten Band des »Klim Samgin« schreibt, stammt eine erste Andeutung über die philosophische Anlage des gesamten Romanwerks. Ein Brief an S. Grigorʹev enthält eine interessante Stelle, an der Gorʹkij die Entstehung eines neuen Instinkts der Erkenntnis zum Thema seines Romans erklärt: Ich glaube, dass sich heute bereits bei den Menschen ein neuer Instinkt entwickelt, im Entstehen ist – »der Erkenntnisinstinkt«. Behalten Sie folgendes im Auge: Ich meine nicht die Verstandesunruhe, die einigen kaltblutigen Schopenhauers oder Hartmanns eigen ist, nicht das Spiel mit der Logik, sondern eben einen Instinkt. Die Erkenntnis kann als instinktive Kraft unter anderem die Teleologie wieder in Theologie verwandeln. Wir lebten bisher und leben immer noch vom Instinkt des Hungers, dem alles entstammt, was man Zivilisation nennt, vom Instinkt der Liebe, der alles erschuf, was wir Kultur nennen, und nun stehen wir am Vorabend der Entstehung des dritten Instinktes, der unbedingt entstehen muss […]. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Dutzende und Hunderte von Menschen durch die Leidenschaft entflammen, zu erkunden, nicht wie man bequemer leben kann, sondern – warum man leben muss. Daran denke ich. Das ist eines der Themen von meinem Roman, an dem ich arbeite.145 Diese äußerst interessante Passage beinhaltet im zweiten Absatz die Variation des berühmten Satzes von Friedrich Schiller aus dem Gedicht »Die Weltweisen«, wonach die Welt »das Getriebe durch Hunger und durch Liebe« erhält.146 Im Gegensatz zu Schillers ironischem Hinweis auf die Unzulänglichkeit der Wissenschaft und die Verlässlichkeit von Hunger und Liebe im Weltgeschehen entwickelt Gorʹkij die Vision eines im Kommen begriffenen Erkenntnisinstinktes, der die beiden herkömmlichen Impulse ersetzen und den Gang der Geschichte verändern soll. Diese Äußerung Gorʹkijs zeugt in einem besonderen Maße davon, wie stark der Roman bereits in der Entstehungsphase von der Problematik der Welterkenntnis durchdrungen war, angesichts dessen die politische Teilung der russischen Intellektuellen in zwei verfeindete Lager eher oberflächlich erscheint. Wie S.I. Suchich treffend formulierte, wird die Welt in »Klim Samgin« an Stelle der Liebe und des Hungers durch Ideen beherrscht, weshalb die Epoche zu einer »Diktatur des Gedankens« tendiert.147 Die Kritik der gemeinschaftlichen Ideenpraxis 144 Сухих, С.И.: »Максим Горький и другие. Избранные статьи«. Сухих, С.И. 2007, hier S. 122. 145 Brief an S.T. Grigorʹev vom 15.03.1926. Горький и советские писатели, S. 135. 146 Zur Rolle von Schillers Zitat in »Klim Samgin« vgl. Примочкина: Художественные искания, S. 3738. 147 Сухих: Максим Горький и другие, S. 166.

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Historische Zeit im Narrativ

wird im Roman von der fundamentalen Kritik der Vernunft als der einzigen Basis des intellektuellen Lebens begleitet. Gorʹkijs Projekt des neuen »Erkenntnisinstinktes« beinhaltet eine neue Formel der Erkenntnis: Sie darf nicht als »Verstandesunruhe« oder »Spiel mit der Logik« verstanden, sondern soll als Instinkt im Körper und Gefühl verankert werden. Die Vorstellung, dass Hunderte von Menschen sich statt von Hunger oder Liebe von der Erkenntnis – und zwar leidenschaftlich – leiten lassen könnten, verbindet sich dabei mit einer rätselhaften Bemerkung, laut der »die Erkenntnis als instinktive Kraft die Teleologie wieder in Theologie verwandeln« kann. Dieses Wortspiel deutet m.E. auf eine Revision des Geschichtsbewusstseins, welches sich nicht mehr bloß in der finalen Orientierung auf ein bestimmtes politisches Ziel (Telos) erschöpft, sondern sich mit dem emotionalen Glauben an die Existenz von einem gottesähnlichen Ideal (Theos) verbindet, das dem Leben Sinn verleiht. Mit dieser Aussage ist in der frühen Entstehungsphase des Werks eine philosophische Dimension dokumentiert, die im Kontext von Gorʹkijs Beteiligung an Versuchen einer Reform des Marxismus in der Gruppe der »Gotterbauer« (russ. »богостроители«) steht.148 »Daran denke ich« – schreibt Gorʹkij und gibt damit zu verstehen, dass diese Gedanken, die für ihn zu den wichtigsten Themen des Romans gehört, noch nicht abgeschlossen sind. Der Roman wächst entlang eines beweglichen Vektors, die Perspektive bleibt offen. Bei diesem Denk- und Schreibprozess sind Abweichungen vom Plan, Schwankungen und Unsicherheiten, vor allem in Bezug auf das Ende vorprogrammiert. Marija Budberg, Gorʹkijs Lebensgefährtin dieser Jahre, der der Roman gewidmet ist, betonte in ihrem Interview mit dem Gorʹkij-Archiv in den 1970er Jahren, welche Wichtigkeit der Schriftsteller dem Ende seines Romans beimaß. Laut Budberg behielt Gorʹkij mehrere Varianten nebeneinander bei. Sie benennt neben dem ursprünglichen Vorhaben, Samgin im Revolutionsgeschehen sterben zu lassen, die Variante, ihn als Korrespondenten

148 Zu Gorʹkijs Engagement in der Gruppe der »Gotterbauer« vgl. Sesterhenn, Raimund: Das Bogostroitelʹstvo bei Gorʹkij und Lunac̆arskij bis 1909. Zur ideologischen und literarischen Vorgeschichte der Parteischule von Capri, München: Sagner 1982). Sesterhenns Definition des Gotteserbauertums: »Das Gotterbauertum ist eine philosophische Strömung (allerdings mit politisch offensichtlich brisanten Implikationen), welche zeitlich etwa zwischen 1906 und 1910, räumlich auf der Insel Capri anzusiedeln ist, dem damaligen Aufenthalt Gorʹkijs. Die wichtigsten Vertreter dieser Richtung waren Lunačarskij, Bazarov, Bogdanov, Juškevic und Gorʹkij. – Allesamt beanspruchten für sich das Prädikat ›Marxisten‹. Sie suchten den Marxismus russischer Ausprägung unter Hinzunahme moderner Denkweisen zu ergänzen und zu erweitern. (…) Ihr Sozialismus war von einem religiösen Pathos geprägt, das dadurch bedingt schien, daß sie der Frage des Emotionalen und Irrationalen im Menschen neuen Raum gaben. Sie formulierten einen neuen, immanenten Gottesbegriff und damit einen neuen Begriff von Religiosität: Im Mittelpunkt steht der kollektiv verstandene Mensch« (ebd., S. 9). A.V. Unylov erklärte Gorʹkijs Beteiligung am Kreis der Gotterbauer durch die Lebenssituation des russischen Intellektuellen im Kontext der Urbanisierung (Унылов, А.В.: Социокультурные основания богостроительства и богоискательства в России начала ХХ века. Дисс. на соиск. уч. зв. к. ф. н., Нижний Новгород 2006) E.N. Nikitin analysierte Gorʹkijs Beteiligung am Konflikt zwischen Vladimir Lenin und Aleksandr Bogdanov, dem führenden Ideologen der Gotterbauer (Никитин, Е.Н.: »Максим Горький и российские социалисты (1897-1917)«, in: Вопросы истории (2008), S. 24-43, hier S. 25-38).

3. Reflexion

einer Emigrantenzeitung darzustellen, und erwähnt Gorʹkijs Schwankungen zwischen einem »optimistischen« oder einem »pessimistischen« Ende des Romans.149 Die Schwierigkeiten, die den Schreibprozess begleiten, spricht Gorʹkij in den privaten Briefen an. Seine Ironie gilt dem Umfang des Romans, der unter der Hand ausufert: »tröste mich damit, dass ›Oblomov‹ 700 Seiten hat« (TIP/67); »werde an ihm noch 60 Jahre schreiben« (TIP/67). Verzweifelt wirkt Gorʹkij, wenn es um die Qualität des Romans geht. Bereits 1926 äußert er ironisch Selbstmordabsichten, wenn der Roman nicht gelingen sollte: Wenn ich meinen neuen Roman nicht wesentlich besser werde schreiben können, werde ich mich wohl erschießen. Das ist keine Pose, kein Spiel. 35 Jahre schreiben und immer noch nicht so schreiben können, wie man will – das ist hoffnungslos. Ich sage es nicht aus Ehrgeiz, sondern aus meiner großen Liebe zur Kunst, zur Literatur.150 In einem weiteren Brief an Konstantin Fedin aus dem Jahr 1925 heißt es: »Ich bin mir nicht sicher, dass ich es schaffe« (Г-30/B29/430). Weiterhin in einem Brief an Vsevolod Ivanov: »Ich bin im Roman steckengeblieben« (Г-30/B29/473). In einer Notiz (datiert zwischen 1930 und 1936) fasst Gorʹkij seine Schreibhemmungen unter dem Zeichen einer großen Verantwortung zusammen, die auf ihm lastet: Ja, ich bin müde, aber es ist keine Altersmüdigkeit, sondern das Ergebnis einer ununterbrochenen, langen Anspannung. »Samgin« verzehrt mich. Niemals habe ich so tief meine Verantwortung vor der Wirklichkeit empfunden, die ich darzustellen versuche. Ihr Umfang und Chaos sind so, dass mir manchmal scheint: ich werde verrückt. (TIP/6970) Schließlich schreibt Gorʹkij 1931, nach dem Erscheinen von drei Teilen des Romans, in einem Brief: » ›Samgin‹ ist ein Werk, welches von Anfang bis Ende überarbeitet werden muss.« (TIP/69) Eine weitere Äußerung aus dem Brief an Marija Andreeva »Der Roman packt mich am Hals« (TIP/69) hat neben den psychologischen auch physiologische Bedeutung: Gorʹkij leidet in dieser Zeit an Tuberkulose und Asthma-Anfällen, die das Atmen erschweren und den Schreibprozess beeinträchtigen.151 Die elf Jahre der Arbeit am Roman werden neben dem langwierigen Schreibprozess, den Zweifeln an der Qualität des Geschriebenen und der Krankheit zusätzlich durch zahlreiche redaktionelle Tätigkeiten, aktive Ausübung seiner kunstpolitischen Rolle und durch private Ereignisse erschwert. 1932 kehrt Gorʹkij in die Sowjetunion zurück. 1934 stirbt sein Sohn, Gorʹkij überlebt ihn nur zwei Jahre. Jürgen Rühle sah das Charakteristische an der späten Arbeitsphase in der »sinkenden Produktivitätsrate«, bei der die Arbeit am dritten Buch drei und am vierten Buch fünf letzte Lebensjahre in Anspruch 149 Барахов, В.С.: Драма Максима Горького. Истоки, коллизии, метаморфозы, Москва: ИМЛИ РАН 2004, S. 357. 150 Brief an Dalmat Lutochin vom 17.02.1926. Горький, Неизданная переписка, S. 403. 151 In einem Brief aus dem Jahr 1927 schildert er humoristisch, wie er während einer Lungenentzündung von drei Teufeln besucht wurde, die ihn holen wollten. Es gelingt ihm jedoch, sie zu überzeugen, dass er den Roman noch fertig schreiben soll. Die Teufel haben dagegen nichts einzuwenden: Sie würden sowieso nichts lesen, weil sie sich ständig mit dem Verfassen von Rezensionen beschäftigten. (Г-30/B30/59).

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Historische Zeit im Narrativ

nahm.152 Der Grund dafür könnte neben den privaten und persönlichen Schwierigkeiten sowie der Krankheit in der Unzufriedenheit mit dem Roman liegen. Während seiner Arbeit am vierten Buch äußert Gorʹkij in einem Brief an Romain Rolland seinen Unmut über den gesamten Roman: Ohne mich vor Ihnen zu verstellen, sage ich ganz aufrichtig, dass diese unendliche Geschichte der Versuche eines Menschen, sich von der Gewalt der Wirklichkeit zu befreien, indem man sie allein mit Worten verändert – diese Geschichte wurde von mir äußerst schwer, langweilig und überhaupt schlecht geschrieben. (Г-30/B30/282)153 Mit dem Satz über den Menschen, der die Wirklichkeit »allein mit Worten verändert«, ist – wie Armin Knigge treffend bemerkte – neben dem Protagonisten Samgin auch der Autor selbst getroffen, der in seiner Tätigkeit als Schriftsteller mit der Materie des geschriebenen Wortes arbeitet.154 Trotz des Wunsches, den Roman umzuschreiben, und der Herzschwäche kämpft Gorʹkij darum, »Klim Samgin« zu beenden.155 Am 18. Juni 1936 stirbt Gorʹkij, seine letzten Worte über den Roman, die von Marija Budberg am 9. Juni aufgeschrieben wurden, waren: »Das Ende des Romans, das Ende des Helden, das Ende des Autors«.156 Diese Worte Gorʹkijs gehören zu den mysteriösesten Aussagen über den Roman. Sie weisen auf eine besondere Nähe zwischen dem Autor und dem Protagonisten hin, die vielen offiziellen Aussagen Gorʹkijs über Samgin entgegenläuft. Der Wandel in der Beziehung des Autors zu seinem Protagonisten lässt sich dabei anhand der biografischen Details kaum erschließen. Wie ich im Weiteren zeige, kann man die allmähliche Annäherung zwischen Gorʹkij und Samgin zum Teil daran erschließen, wie der Protagonist im Prozess der Arbeit am Roman zunehmend zum Komplizen des Romanerzählers in Bezug auf die Reflexion des eigenen Erzählauftrags wird. Dieser Auftrag lässt sich als ein objektiver Bericht über das von Gorʹkij erlebte Versagen der russischen Intellektuellen während der russischen Revolution beschreiben, deren Ursprünge in der Denk- und Kommunikationspraxis der letzten vierzig Jahre des Russischen Imperiums im Roman dargestellt werden sollte. Samgin führt im Dienste des Autors die Suche nach der geeigneten Erzählstilistik durch, wobei sich einzelne Passagen als Rechtfertigungsversuche dafür lesen lassen, warum im Roman so und nicht anders erzählt wird. Diese Erzählebene blieb in den Forschungen zu »Klim Samgin« bisher unentdeckt. Dazu haben wesentlich die kulturpolitischen Zensurmaßnahmen in der Sowjetunion beigetragen, die einen breiten Textkorpus von verbotenen Quellen und Autoren von der

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Rühle: Literatur und Revolution, S. 41. Vgl. Gorʹkijs schriftliche Äußerungen dazu, dass der gesamte Roman von Anfang bis Ende umgeschrieben werden muss, zit. bei Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 139. Knigge: Der Autor und sein Held, S. 152. A.I. Ovčarenko schätzte den Umfang der Entwürfe und Notizen zum unabgeschlossenen Romanteil auf 5500 Normseiten (1600 Zeichen) und wertete diesen kolossalen Umfang als Ausdruck einer »gigantischen Arbeit«, vgl. Овчаренко, А.И.: »Роман-эпопея Максима Горького ›Жизнь Клима Самгина‹: Текстологические аспекты«, in: Генезис художественного произведения. Материалы советско-французского коллоквиума, Москва: ИМЛИ РАН 1986, S. 52-63, hier S. 5253. Zit. nach Барахов: Драма Максима Горького, S. 357.

3. Reflexion

Interpretation des Romans ausschlossen.157 Vor allem hat sich aber das verbindliche Prinzip des »Historismus« auf die Forschung ausgewirkt und beeinflusst sie auch nach der politischen Wende nachhaltig negativ. Gemäß diesem Prinzip war im sowjetischen Kontext nur die Perspektive auf die Geschichte von der Warte des historischen Materialismus zugelassen. Wie Andrej Sinjavskij – auch bekannt als Abram Terc – in seinem Essay über den Sozialistischen Realismus bemerkte, wurde das Geschichtsbewusstsein in der Sowjetunion auf eine verbindliche Version der historischen Entwicklung reduziert.158 Eine solche ideologisierte Perspektive auf die Geschichte wurde bereits in Anatolij Lunačarskijs Rezension auf den Roman angewendet: »›Das Leben des Klim Samgin‹ ist ein parteiisches, proletarisches und daher objektives und wahres Werk«.159 Dabei kann Objektivität wohl kaum mit ihrem Gegenteil, der Parteilichkeit, in Verbindung gebracht werden. Die Nachhaltigkeit von diesem Interpretationsmodus kann anhand einer Passage exemplifiziert werden, die aus dem Aufsatz von M.Ja. Ermakova aus dem Jahr 1990, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, stammt: Indem er sich auf das Prinzip der sozialistischen Parteilichkeit und wissenschaftliche Analyse der Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses stützt, nimmt der Autor des »Leben des Klim Samgin« im Ideenkampf, der im Roman dargestellt wird, explizit eine bestimmte Position ein und führt seinen Leser zu dieser »bestimmten Entscheidung«, die vollständig mit dem objektiven Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zusammenfällt.160 Im Lichte »objektiver Gesetzmäßigkeiten der Geschichte« erscheint die ideologische Botschaft des Romans eindeutig; Gorʹkijs Sicht auf Geschichte wird als »wissenschaftlich« und »objektiv« bezeichnet, er greife den Ergebnissen der sowjetischen Geschichtswissenschaft voraus. Ob solche Formeln geglaubt oder lediglich aus Pflicht verwendet wurden, prägten sie die Beschäftigung mit der Problematik des Historischen in Gorʹkijs Roman. Wie Helene Imendörffer betonte, ergab sich für sowjetische Forscher in Bezug auf einen »Stoff, dem gegenüber sie als Interpreten nicht unbefangen sein« konnten,

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Eine Ausnahme bildet Andrej Sinjavskijs Dissertation »M. Gorʹkijs Roman ›Das Leben des Klim Samgin‹ in der Geschichte des russischen Gesellschaftsgedanken des XIX. – Anfang des XX. Jahrhunderts«, in der der Roman im Kontext von Rozanovs und Merežkovskijs Historiosophie betrachtet wird. Vgl. dazu Kolonosky, Walter F.: »Andrei Siniavskii’s Dissertation«, in: The Slavic and East European Journal 39 (1995), S. 396-407, hier S. 405. 158 Vgl. Bei Sinjavskij »[…] though the Marxists call themselves historical materialists, their historicism is actually reduced to a desire to regard life as a march toward Communism. What is beyond dispute is that they are consistent. If we ask a Westerner why the French Revolution was necessary, we will receive a great many different answers.[…] But if you ask any Soviet schoolboy – to say nothing of the beneficiaries of our higher education – you will invariably reply: the French Revolution was needed to clear the way to Communism.[…] It is a long time since men had such an exact knowledge of the meaning of world’s destiny – not since the Middle Ages, most likely. It is our great privilege to possess this knowledge once more.« (Sinjavskij, Andrej D.: On socialist Realism. By Abram Tertz, New York: Pantheon Books 1960, S. 32-33) 159 Луначарский, А.В.: »Самгин«, in: Луначарский, А.В., Собрание сочинений. Том второй. М. Горький, советская литература, Москва: Художественная литература 1964, S. 170-202, hier S. 199. 160 Ермакова, М.Я.: Традиции Достоевского в русской прозе, Москва: Просвещение 1990, S. 105.

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Historische Zeit im Narrativ

»kein Spielraum zur Erfassung neuer Problemstellungen«.161 Unbemerkt blieb also auch die dichte, durchgehend ausgestaltete Reflexionsebene, auf der Geschichte als Erzählung und als diskursives Phänomen reflektiert wird. Erst nach dem Wegfall des verbindlichen Prinzips des Historismus kehrte zusammen mit der Publikation der verbotenen Autoren ein Teil des intellektuellen Reichtums von Gorʹkijs Roman in den russischen Kontext zurück, der bisher nicht im vollen Umfang untersucht worden ist. Durch Zensur im wissenschaftlichen Bereich entstanden zahlreiche Forschungsdesiderate in Bezug auf die Philosophie und Historiosophie in Gorʹkijs letztem Roman, die von der Forschung nach der Wende nur langsam aufgearbeitet wurden.162 Damit diese Forschungslücke geschlossen wird, ist neben der detaillierten Forschungen zu Gorʹkijs Rezeption der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie aus meiner Sicht das prinzipielle Verständnis dessen notwendig, inwieweit der Begriff des Historischen der politischen Konjunktur unterliegt. Mehrheitlich erwecken sowjetische Forschungsbeiträge zum Roman den Eindruck, dass die Interpreten über einen sichereren Begriff der Geschichte als der Romanerzähler verfügen. Aber auch in jüngeren Arbeiten, so im oder durch den Aufsatz von Alena Markovič aus dem Jahr 2010, wird den Romanlesern der Rat erteilt, »das Prinzip des Historismus nicht zu vergessen«163 . Dieser Rat wirkt nicht nur vor dem Hintergrund der Wende der Rezeption nach 1990 als verspätet, er ist bereits von Gorʹkijs Roman generalüberholt, der – ähnlich wie Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« – durch die produktive Irritation rund um das Phänomen des Historischen geprägt ist. Dem Sog herkömmlicher Geschichtsbegriffe und der politischen Rhetorik könnte man also entkommen, wenn man den Romanen größeres Mitspracherecht gewährt und sie auf ihr Geschichtsverständnis hin befragt. Eine solche Auseinandersetzung brachte in der Musil-Forschung, wie oben ausgeführt wurde, wertvolle Erkenntnisse; mit meiner Interpretation des »Klim Samgin« knüpfe ich an die Ergebnisse bisheriger Forschungen an und hoffe, die Diskussion in der Gorʹkij-Forschung in diese Richtung anzustoßen.

3.2.2

Geschichtserzähler im Roman

Am Ende des ersten und am Anfang des zweiten Buchs treten zwei Figuren als Geschichtserzähler in den Roman ein. Mehr Verse als Homer kennt Orina Fedossowa, Vorträgerin der altrussischen Epengesänge (russ. »былины«), deren Auftritt der junge Samgin bei der Messe in Nižnij Novgorod erlebt. Der ältere Historiker Koslow erforscht 161 162

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Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 27. Die Publikationen des Gorʹkij-Instituts in Moskau bieten einschlägige Quellen zu Gorʹkijs Geschichtsbewusstsein: Спиридонова, Л.А.: »К вопросу о формировании исторического сознания в творчестве М. Горького«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), Горьковские чтения. Материалы конференции »Творчество Горького в художественной системе социалистического реализма«, Горький: Изд.-во ГГУ 1986, S. 35-41; Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей; Примочкина, Н.Н.: Горький и писатели русского зарубежья, Москва: ИМЛИ РАН 2003; Примочкина, Н.Н.: »Восток и Запад в историософских воззрениях Горького«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-2004. Материалы международной конференции »Творчество Максима Горького в социокультурном контексте эпохи«, Нижний Новгород: ННГУ 2006, S. 20-26. Маркович, А.В.: Коммуникация как объект изображения в книге М. Горького »Жизнь Клима Самгина«. Дисс. на соиск. уч. степ. к. ф. н., Владивосток 2010, S. 26.

3. Reflexion

die Vergangenheit von Samgins Heimatstadt. Das Auftreten beider Geschichtserzähler im Roman hat eine programmatische Bedeutung. Beide Figuren beziehen sich auf das kulturelle Erbe der Romantik. Die Figur von Fedossowa reflektiert die romantische Begeisterung für die Ursprünge der Kultur in der Folklore, die der Romanerzähler zwar teilt, doch in der Stilistik des Romans nicht umsetzen kann. Mit der Figur des Historikers Koslow wird das Pathos der Weltflucht der späten Romantik und seine Auswirkungen auf die Tradition der russischen Historiografie des XIX. Jahrhunderts problematisiert. Außerdem lassen sich beide Erzählerfiguren als zwei Arten der Historie interpretieren, die Friedrich Nietzsche in seinem Aufsatz »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« einer Kritik unterzogen hat. Diese komplexen Zusammenhänge zeugen von einem starken Problembewusstsein in Bezug auf die Fähigkeit einer Erzählung, die Vergangenheit aus der zeitlichen Distanz zu verklären und dadurch die Wahrnehmung der Gegenwart zu beeinflussen.

3.2.2.1

Altrussische Epengesänge und die groteske Wirklichkeit

Der Bekanntschaft mit Fedossowas Versdeklamation will Samgin zunächst ausweichen: Er hält sich für zu klug, um dem Modegeschmack nachzulaufen. Als Samgin doch zu der Deklamation geht, ist er darauf eingestellt, eine Enttäuschung zu erleben, wird jedoch zutiefst überrascht und ergriffen, als er Fedossowas Stimme tatsächlich hört. Bereits der Klang der Stimme hat etwas Besonderes an sich, sie wird als eindringlich, sogar als magisch beschrieben: Es war die Stimme einer Frau, aber man wollte nicht glauben, daß diese Verse von einer alten Frau gesprochen wurden. Abgesehen von der gediegenen Schönheit der Worte, lag in dieser Stimme etwas übermenschlich Gütiges und Weises, eine magische Kraft, die Samgin mit der Uhr in der Hand erstarren ließ. (KS/B1/496) Die »unmenschlich anschmiegende und weise« Stimme scheint nicht zu ihrer Besitzerin zu gehören: Sie wird als »kreuzkrumme« Alte, als schlecht genähte Stoffpuppe beschrieben, die eintönig ihre Hand wiegt – eine Eigenschaft des Mediums, die auf den fremden Ursprung der Stimme verweist, von der die Puppe belebt wird.164 Die Stimme lässt Samgin mit der Uhr in der Hand erstarren und hält somit die Zeit an, sie verdrängt sogar das Bild der Frau und des Publikums und wird zu der einzigen Realität, die Samgin wahrnimmt: Einige Augenblicke schien es Klim, als wäre er allein im Saal, sonst niemand, und vielleicht war auch diese gute Hexe gar nicht da, und durch den Lärm außerhalb des Saals drang aus vergangenen Jahrhunderten die zum Leben erwachte Stimme des heldischen Altertums auf wahrhaftig wunderbare Weise zu ihm. (KS/B1/496)

164 A.V. Barmin sieht in der Puppenmetaphorik, die für die Darstellung von Fedossowa charakteristisch ist, einen Hinweis auf die »wahren Quellen der Kultur«, auf »Volkssymbolik«, die im Roman an einigen weiteren Stellen eingebaut sind (Бармин, А.В.: »Пластические и гротескные формы в эпопее ХХ века. ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Кузьмичов, И.К. (Hg.), М. Горький и вопросы литературных жанров. Межвузовский сборник, Горький: ГГУ 1978, S. 61-80, hier S. 68).

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Historische Zeit im Narrativ

Doch, als das »heldische Altertum« zu Samgin direkt zu sprechen scheint, ist seine Stimme, laut dem Erzählerkommentar, ausdrücklich nicht als Stimme der Menschen jener Zeit aufzufassen: Samgin starrte, von neuem gebannt, von dem weichen Glanz der unauslöschlichen Augen gestreichelt, in das mit allen Runzeln sprechende Zauberinnengesicht. Sein Verstand sagte ihm zwar, daß der gewaltige Recke aus dem Dorf Karatscharow, als ihn der launenhafte Fürst erzürnt hatte, wohl nicht derart, nicht mit dieser Stimme gesprochen hatte […]. (KS/B1/497) Die Stimme und das Lächeln des Recken wird des Weiteren auf das »spitze, ironische Lächeln« des Historikers Wassilij Ključevskij bezogen, dessen Vorlesungen Samgin an der Universität besucht.165 Die Ironie der Darstellung verbindet Ključevskij mit der Vorträgerin von altrussischen Epen und wird von Samgin als besonders authentisch, als die »völlig echte Geschichte« wahrgenommen: Doch als er sich an den unerbittlichen Gelehrten erinnerte, da stimmte Samgin plötzlich nicht mehr bloß mit dem Verstand, sondern mit seinem ganzen Wesen zu, daß eben diese schlecht genähte Kattunpuppe doch die völlig echte Geschichte von der Wahrheit des Guten und der Wahrheit des Bösen war, die von der Vergangenheit reden mußte und konnte, wie die Olonezker schiefhüftige Alte gleichermaßen liebevoll und weise vom Zorn und der Zärtlichkeit, vom untröstlichen Kummer der Mütter und von den Reckenträumen der Kinder, von allem, was das Leben ist, erzählte. (KS/B1/497) Bei Fedossowas Erzählung kommt es nicht darauf an, wovon sie erzählt, sondern auf die Art und Weise, wie sie es macht. Das auffällige Merkmal dieses Erzählens besteht in Anschmiegsamkeit und Weisheit, mit der es über alles zu erzählen gilt, »was das Leben ist«. Die »Wahrheit des Guten« kann diese Erzählweise genauso gut vertreten, wie die »Wahrheit des Bösen«; in dieser Formulierung lässt sich der Erzählauftrag erkennen, den Gorʹkij mit »Klim Samgin« auf sich nimmt und als Forderung nach Objektivität versteht. Dieses Ideal sieht er im epischen Erzählen verwirklicht, das »von der Vergangenheit reden mußte und konnte«. Diese Überlegungen schreibt Gorʹkij den Eindrücken seines Protagonisten ein; durch sie wird die Figur von Fedossowa, die von Gorʹkij bereits 1896 in einem publizistischen Aufsatz mit dem Titel »Voplennica«166 dargestellt wurde, signifikant verändert. Ging es im Aufsatz um den Kontrast zwischen der modernen Kunst und alter Dichtung, so rückt in der Romanepisode die erzählerische Darstellung der Vergangenheit in den Vordergrund. Dabei wird das programmatische Selbstverständnis des Autors (objektiv erzählen) mit der Problematisierung des epischen Erzählens verschränkt.

165

Gorʹkij war ein begeisterter Leser von Ključevskijs Werken, wie Ljudmila Spiridonova in ihrer Monografie erwähnt. Sie erzählt auch eine überlieferte Anekdote davon, wie abfällig Ključevskij auf Gorʹkijs Begeisterung reagierte. Laut E. Barsov, der Ključevskij von Gorʹkijs faszinierter Lektüre seiner Vorlesungen berichtete, antwortete der Historiker darauf: »Не в коня корм!« (Deutsches Äquivalent: »Was soll der Kuh Muskat, sie frißt lieber Haferstroh!« (Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 35) 166 Вопленница. Горький, О литературе, S. 15-18.

3. Reflexion

Das macht die Episode im Kontext der Forschungspolemik rund um die epische Natur des Romans interessant. Wie S.I. Suchich in seiner Monografie zu »Klim Samgin« ausführlich darlegte, gehört die These vom epischen Charakter des Romans zu den »Mythen der Samgin-Forschung«, welche die Erforschung seiner Erzählstruktur negativ beeinflussen. Suchich führt einige Gründe für die Entstehung des Mythos auf. Zum einen diente das Epos/die Epopöe in der sowjetischen Literaturwissenschaft nicht als Genrebezeichnung, sondern als »pathetische Wertung«, zur Hervorhebung des großen Ranges eines Werks. Zum anderen konnte man auf diesem Weg den komplizierten Protagonisten, der nicht in das Genreschema des Epos hineinpasste, umgehen und durch einen geeigneten Protagonisten – das Volk – ersetzen, wobei das epische Sujet als das etappenweise geschilderte Erwachen und der Weg der Massen in die Revolution aufgefasst wurde. Auf die Verdrängungen und Verzerrungen, die dadurch im Forschungsbild entstanden, geht Suchich in seiner Monografie detailliert und polemisch ein167 und gibt dadurch Anlass für die Revision dieses Forschungsparadigmas. Die Erzählweise von Fedossowa versetzt die Zuhörer in einen beinahe ekstatischen Zustand, wobei der neben Samgin sitzende junge Schriftsteller Inokow – eine Figur, die in vielen Details dem jungen Gorʹkij ähnelt168 – sich begeistert gibt und Samgin darauf hinweist, dass Fedossowa keine Schauspielerin ist, da sie »nicht Menschen spielt, sondern mit den Menschen spielt« (KS/B1/496). Die Kraft dieses »Spiels mit den Menschen« bekommt auch Samgin zu spüren, der dabei vor allem über seinen Platz in der Geschichte nachdenkt: Und vielleicht wird die Geschichte einmal, die Menschen mit gleichermaßen bezaubernder Stimme umkosend – mag sie von Wahrem oder von Legende berichten –, auch davon erzählen, wie der Mensch Klim Samgin auf Erden gelebt hat. Danach fühlte Samgin, daß er noch nie so gut, so klug und fast bis zu Tränen unglücklich gewesen war, wie in dieser seltsamen Stunde, mitten unter Menschen, die stumm dasaßen, verzaubert von der alten, lieben Hexe, die aus uralten Märchen in eine prahlerisch aus dem Boden gestampfte und zur Schau gestellte Wirklichkeit getreten war. (KS/B1/497) Der Platz in der Geschichte wird in der zitierten Passage als ein Platz in der Geschichtserzählung verstanden: In der Gestalt von »der alten, lieben Hexe« spricht das Volksepos über die Menschen und steigt zu ihnen herab, um sie zu den Figuren einer Erzählung zu erheben. Selbst nur eine »schlecht genähte Puppe«, spielt Fedossowa mit den Menschen, indem sie sie in die Figuren einer Erzählung verwandelt und so zu ihren Puppen macht. Die Selbstwahrnehmung von Samgin spaltet sich dabei: Er ist einerseits Zuhörer, der in der Reihe von anderen Zuhörern sitzt, andererseits kommt er sich als Figur einer Erzählung vor, die »gut, klug und fast bis zu Tränen unglücklich« ist.

167 Сухих: Максим Горький и другие, 127ff. 168 Vgl. Пискунов, В.: »Завещание. По страницам романа М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Литературное обозрение (1986), S. 14-25, hier S. 16. Indirekt weist auch die Semantik des Names Inokow – »Anders«, russ. »иной« – auf die Funktion, im Gegensatz zu Samgin eine alternative Position im Roman zu vertreten, die dem Romanautor wesentlich näher stehen könnte. Vgl. außerdem die Plagiatsepisode, als Samgin Inokows Formulierungen in einem Zeitungsbericht übernimmt (dazu ausführlicher im Kap. 5.2.3.2.2. »Plagiator«).

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Historische Zeit im Narrativ

Das Geheimnis der Magie besteht in diesem Fall in der Aufhebung der Grenzen zwischen dem Erzählakt und der Erzählung, wodurch die Zuhörer auf eine Ebene mit den Figuren des altrussischen Epos gestellt werden. Die Beschwörung der Geister der Vergangenheit vollzieht sich im Prozess des erzählerischen Spiels, welches die Rezipienten involviert. Die Illusion der erzählten Vergangenheit erweist sich dabei beständiger als die Gegenwart der Messe-Pavillons, die als »prahlerisch aus dem Boden gestampfte und zur Schau gestellte Wirklichkeit« eine eher unglaubwürdige Simulation der wirtschaftlichen Fortschritte des Landes darstellen. Diese Antinomie zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Vorstellung, man fände in der Vergangenheit zu den Quellen des eigenen Selbst, wird im Roman durch die Referenz auf Goethes Mütter aus »Faust« signalisiert, mit denen Inokow Fedossowa vergleicht. Dabei interpretiert Gorʹkij in seiner Neuauflage der Episode aus dem zweiten Teil von »Faust« den Gang des Protagonisten in das Reich der Mütter als das Ereignis des Erzählens und Zuhörens. Dieser Rückgriff auf das kulturelle Erbe der Romantik hat eine für Gorʹkij spezifische Note. Wie T.P. Ledneva argumentiert, zeichnet sich Gorʹkijs Poetik bereits in seiner frühen Phase vor 1900 durch die Kombination romantischer und realistischer Stilelemente aus. Laut Ledneva fällt der Anfang von Gorʹkijs schriftstellerischer Tätigkeit mit der Krise der realistischen Form zusammen, die er durch eine Anreicherung mit Elementen des romantischen Stils zu überwinden sucht. Diese Anreicherung findet auf mehreren Ebenen statt – von der Ebene des Erzählers, des Sujets und der Figuren bis hin zur Abwandlung herkömmlicher romantischer Motive und Konflikte – und führt zu einer qualitativ neuen stilistischen Synthese.169 Die Fedossowa-Episode zeigt das Charakteristische dieses Stils, das in eine scheinbar realistisch geschilderte Episode der Versdeklamation eine »magische« Brechung einführt. Durch die Verschränkung beider Perspektiven kommt es in der Fedossowa-Episode zu einer neuen Qualität der Selbstreflexion, die das Ereignis der erzählerischen Kommunikation an sich problematisiert. Zu den Figuren der Erzählung erhoben, kommen sich die Rezipienten besser vor, als sie sind. So fühlt sich Samgin wie »noch nie so gut, so klug und fast bis zu Tränen unglücklich« – das Ergebnis einer Übertragung der epischen Plastizität auf den sonst stets innerlich gespaltenen Protagonisten. Doch verblasst dieser Eindruck schnell, nachdem die Erzählung von Fedossowa endet, ja während sie noch erzählt, schleicht sich der ironische Ton des Erzählers in die Vermutung ein, dass Geschichte so »über den Menschen Klim Samgin einmal sprechen« könnte: Sie wird es nicht, zumindest nicht in Gorʹkijs Roman. In Bezug auf den Protagonisten, dessen innerlicher Konflikt darin besteht, dass er sich anders vorkommt, als er ist, wird eine solche Erzählung nicht greifen. Stattdessen lässt Gorʹkij in einer Episode im letzten Romanteil, die an einige Details der Fedossowa-Episode anknüpft, seinen Protagonisten selbst nach der passenden Erzählstilistik suchen. Bei seinem Aufenthalt in Berlin betrachtet Samgin bei einem Museumsbesuch eine reiche Waffensammlung und überlegt sich, ob sie auch in Gebrauch waren und ob damit Schädel zerschmettert, Glieder abgeschlagen und Körper durchbohrt wurden. Dieses Blutvergießen kommt Samgin als »Idiotismus« vor, wodurch er 169 Леднева, Т.П.: Авторская позиция в произведениях М. Горького 90-х годов XIX века. Учебное пособие по спецкурсу, Ижевск 2001, S. 109-112.

3. Reflexion

bemerkenswerterweise einen Impuls zum Schreiben bekommt. Seine Idee ist es, Antipathien und Sympathien keinen Lauf zu lassen und Menschen objektiv darzustellen. Indem Samgin nach Gestalten für sein Schreiben sucht und Romanfiguren, eine nach der anderen in Betracht zieht, fällt ihm ein, dass diese Menschen »Bruchteile der Welt« sind, die durch die Phantasie des Künstlers zerlegt wurden, ähnlich den grotesken Bildern von Hieronymus Bosch. Schließlich gedenkt Samgin angesichts der Waffen und den Rüstungen der Helden russischer Epengesänge und will das entsprechende Gedicht vortragen. Er kann sich jedoch nur an eine einzige Zeile erinnern, die besagt, dass es keine Recken im Russland mehr gibt. Als er sich an den Rest des Gedichts zu erinnern versucht, kommt ihm ein Alptraum in den Sinn, in dem er sich von einer Menge von Doppelgängern verfolgt sieht. (KS/B4/382-383) Die Komplexität der Episode, die von Leitmotiven, Wort- und Bildzitaten überlagert ist, schreit geradezu nach Interpretation. V.S. Voronin deutet sie im Lichte der politischen Geschichte Russlands: Durch den Rückgriff auf den Epengesang, in dem Russland gleichzeitig von Armeen aus dem Westen und aus dem Osten bedroht wird, wird laut Voronin die politisch prekäre Lage Russlands zwischen den zwei Kriegen mit Japan (1904/5) und Deutschland (1914/8) thematisiert, wobei die Spaltung des Protagonisten symbolisch für die politische Spaltung des mittelalterlichen Russlands steht.170 Diese Interpretation wird gerade durch die Waffensymbolik in der Episode unterstützt, blendet jedoch gänzlich die Problematik des Erzählens und der künstlerischen Repräsentation aus, die in der Episode explizit entfaltet wird. Im Kontext des Romans, dem selbst eine historische oder zumindest chronikale Absicht zugrunde liegt, ist es bedeutsam, dass die Reflexion über das Erzählen durch eine Berührung mit Gegenständen musealer Herkunft entsteht. In Samgins Gedanken wird die Gewalttätigkeit der Waffen auf die künstlerische Phantasie projiziert. Ähnlich wie die Fedossowa-Episode führen diese Überlegungen zu einer narrativen Metalepse,171 doch schlüpft dieses Mal der Protagonist in die Rolle des Erzählers. Indem er über seine Mitmenschen als mögliche Romanfiguren nachdenkt und sie als Teile eines groteskphantastischen Werks eines Künstlers betrachtet, wird er sich des Fiktionscharakters der ihn umgebenden Wirklichkeit bewusst. Die Kunst von Hieronymus Bosch veranschaulicht für Samgin die Fähigkeit der künstlerischen Phantasie, Gegenstände und Menschen zu zerstückeln und zu einem grotesken Bild zusammenzusetzen. In dieser Hinsicht stimmt für »Klim Samgin« der Befund, den Armin Knigge anhand der Elemente des Phantastischen in Gorʹkijs Erzählungen der 1920er Jahre machte: […] die Erzählung handelt von Gefahren, denen sich ein Mensch aussetzt, der den Sinn der Welt zu ergründen versucht; denn dieser Sinn ist, wenn es ihn denn geben soll,

170 Vgl. Воронин, В.С.: »Фантазия и абсурд хронологического сдвига в ›Жизни Клима Самгина‹«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-2004. Материалы международной конференции »Творчество Максима Горького в социокультурном контексте эпохи«, Нижний Новгород: ННГУ 2006, S. 386-394, hier S. 393. 171 Solche narrativen Metalepsen, die auf die Zugehörigkeit des Romans zur literarischen Moderne hinweisen, sind in den Forschungen zum Roman bisher kaum aufgefallen.

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Historische Zeit im Narrativ

verborgen in einem Wirrwarr seltsamer, undurchschaubarer und unzuverlässiger Erscheinungen.172 Geleitet durch sein Erkenntnisinteresse, spaltet der Künstler die Welt auf und setzt die Teile zu einem grotesken Bild zusammen. Wie V. Piskunov bemerkt, widmet sich Gorʹkij in den Jahren, in denen er »Klim Samgin« schreibt, wiederholt dem Unterschied zwischen einem »Erzähler« und einem »Erforscher der Wirklichkeit«, wobei er eher den »Erforscher« vorzog und sich darüber beschwerte, dass er in unzureichendem Maße Erforscher und zu sehr ein »Erzähler« sei. Diese Wende im Schreiben des Autors, die »früher wiederholt auf der Notwendigkeit romantischer Überhöhung« bestand, bewertet Piskunov als einen bedeutsamen Perspektivenwechsel in Gorʹkijs Poetik.173 Die Tätigkeit eines Künstlers erscheint dabei nicht als Erreichen der Harmonie etc., sondern als ein analytischer Prozess, der die Dinge zerlegt, um ihr Wesen zu erkennen und es der Welt zu zeigen. Bei aller Grausamkeit soll dieser Vorgang eine andere, analytische Objektivität bei der Betrachtung der Vergangenheit erzeugen. Doch obwohl Samgins Phantasie vom Grotesken völlig beherrscht zu sein scheint, geschieht in den nächsten Sätzen eine Hinwendung zum epischen Darstellungsmodus: Das Bild der Waffensammlung wird durch die Sonne verändert, die eiserne Rüstung der Ritter erstrahlt im eisernen Glanz, eine Zeile aus dem epischen Gesang von altrussischen Recken kommt Samgin in den Sinn. Die epische Stilistik scheint ebenfalls greifbar nah zu sein und bietet sich als eine Alternative zum grotesken Bild an. Dieses Schwanken zwischen der epischen und der satirischen Stilistik wurde in der Forschung zum Roman kontrovers diskutiert, wobei bereits Forschungen der sowjetischen Periode einander widersprechen.174 So argumentiert u.a. Anna Sabat 1978 in ihrer Untersuchung zu »Klim Samgin« für die stilistische Einheitlichkeit des Werks und gegen die Anerkennung grotesker Züge in seiner Poetik,175 wohingegen in der Untersuchung von A.V. Barmin aus demselben Jahr zahlreiche Kontraste in der Figurencharakteristik untersucht werden, die von Barmin als Merkmal der Verschränkung der Satire mit dem Epos angesehen werden. Das Charakteristische der epischen Form definiert Barmin durch die bildliche Eigenschaft der Plastik, die Figuren deutlich, streng und harmonisch darzustellen. Einige Romanfiguren (zum Beispiel Marxisten und Arbeiter) tragen im Roman episch-heldenhafte (russ. »былинные«) Züge, werden plastisch und fast monumental dargestellt, doch wird auch diese Darstellung laut Barmin mit Elementen der grotesk-satirischen Bildlichkeit kontaminiert.176 Barmins Thesen lassen sich m.E. anhand der Reflexion des epischen Erzählens in der Fedossowa- und Museumsepisode bestätigen. Die Überlappung des Epischen und des Satirischen, des Plastischen und des Grotesken destabilisiert in der FedossowaEpisode die Selbst- und die Weltwahrnehmung Samgins. Die Erzählweise der alten 172 173 174 175

176

Knigge: Gorʹkij – ein Surrealist, S. 205. Пискунов: Завещание, S. 19. Vgl. den Überblick zur Gorʹkij-Forschung vor 1973 in Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 151-156. Сабат, А.Н.: »Сатирический портрет в романе М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹ как средство социальной типизации«, in: Кузьмичов, И.К. (Hg.), М. Горький и вопросы литературных жанров. Межвузовский сборник, Горький: Изд.-во ГГУ 1978, S. 81-90, hier S. 82. Бармин: Пластические и гротескные формы в эпопее ХХ века, S. 61-80.

3. Reflexion

Frau unterbricht den innerlichen Zwist des Protagonisten, der sich selbst auf einmal als eine Figur des »guten, klugen, fast bis zu Tränen unglücklichen« Menschen vorkommt und so für eine kurze Zeit quasi zu einer Figur des Epos wird. Andererseits wird die Figur von Fedossowa in Samgins Wahrnehmung grotesk verzerrt: Sie nimmt die lächerliche Gestalt einer »schlecht genähten Kattunpuppe« oder »kreuzkrummen Alten« an und wird nur durch die Stimme und das Strahlen der Augen magisch beseelt. In der Welt des Epos existiert nur die Stimme der alten Erzählerin und Samgin als eine ganzheitliche, vom Pathos des Unglücks durchdrungene Figur, die alleine im Raum zu stehen scheint. In der satirisch-grotesken Welt wird die Erzählerin bildlich als Kattunpuppe dargestellt, zu der die wunderbare Stimme nicht gehören kann, wobei die Figur Samgins im weinenden und tobenden Publikum untergeht. Die gegenseitige Kontrastierung beider Darstellungsstile innerhalb einer Episode führt zu einer verwischten Perspektive, bei der sich beide Bilder übereinander legen. Als zwei Alternativen werden beide Erzählmöglichkeiten auch während Samgins Ganges durch die Waffensammlung gegeneinander abgewogen. Der Lichtstrahl, der auf den Rüstungen spielt und bei Samgin die Assoziation mit dem epischen Gesang erweckt, wird durch die Zeile gelöscht, laut der es keine Recken in Russland mehr gibt. Das Bewusstsein des Protagonisten gleitet zum Alptraum über, in dem er sich mehrfach gespalten vorkommt. Die Bedeutung dieser ironischen Substitution wird deutlich, wenn man sie als selbstreflexiven Kommentar des Erzählers betrachtet: Die Recken russischer Gesänge sind im Roman einem innerlich mehrfach gespaltenen und keineswegs so heldenhaften Protagonisten gewichen.177 Der letzte kann dem Geist der epischen und heldenhaften Vergangenheit nicht einmal dadurch gerecht werden, dass er ihr Pathos durch die Versdeklamation zum Ausdruck bringt. Statt eine monumentale und ganzheitliche Figur zu bilden, wird Samgin in seinem Traum grotesk gespalten und vermehrt, die plastische Lakonik des Epos wird durch die satirische Aufspaltung quasigewaltsam verzerrt. Auf diese Art und Weise wird der stilistische Bruch in Gorʹkijs Roman reflektiert, der sich quer durch die Romanerzählung zieht. Wie die beiden behandelten Episoden zeigen, ist das selbstreflexive Bewusstsein dieses Bruchs dem Roman fest eingeschrieben. Der Erzähler scheint sich und den Lesern klar machen zu wollen, warum im Roman nicht so, wie man »von der Vergangenheit reden mußte« (KS/B1/497), erzählt wird. Die Nostalgie nach dem epischen Erzählen verbindet sich dabei mit dem Bewusstsein seiner Unmöglichkeit und Unzulänglichkeit für die Darstellung der jüngsten Vergangenheit im Roman, die nicht durch die epische Distanz entfremdet und überhöht, sondern in ihrer lebendigen Aktualität und grotesken Widersprüchlichkeit erfasst werden soll. Der Protagonist wird dabei zu einem Ko-Erzähler inszeniert, der die Möglichkeiten des

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Die einzige Figur, welche in ihrer Charakterisierung episch-heldenhafte, »bylinnye« Züge gewinnt, ist laut T.A. Kasatkina der Bolschewik Kutosov (Касаткина, Т.А.: »К вопросу о слове в полифоническом романе. Освоение Горьким традиций русской литературы в послеоктябрьский период«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), Горьковские чтения. Материалы конференции »Творчество Горького в художественной системе социалистического реализма«, Горький: Изд.-во ГГУ 1986, hier S. 27).

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Historische Zeit im Narrativ

Erzählens seiner eigenen Lebensgeschichte abwägt und dabei die groteske Optik als das geeignete Mittel gegenüber dem epischen Erzählen favorisiert.

3.2.2.2

Die antiquarische Idylle der Vergangenheit

Auf die Wahl der geeigneten Stilistik für die Darstellung der kollektiven Vergangenheit weist auch die Figur des Historikers Koslow, die am Anfang des zweiten Buchs eingeführt wird. Dabei rückt die Beeinflussung der Gegenwart durch die Darstellung der Vergangenheit in den Mittelpunkt der kritischen Betrachtung. Die Bekanntschaft mit Koslow, die Samgin auf dem Weg aus der Zeitungsredaktion macht, wird durch zwei längere Gespräche im Haus des Historikers vertieft. Bereits an der Wohnungseinrichtung ist der Nationalismus des Bewohners zu spüren: Die große Ikonensammlung wird durch drei Lichter in Farben der russischen nationalen Fahne geschmückt. Beim Aufzählen der Namen der ältesten Familien der Stadt macht Koslow eine abwertende Bemerkung zum fremdsprachigen Familiennamen des Schneiders Gamirov, der »als einziger in der Stadt auf den Namen stolz ist, der nichts bedeutet«. Dieser Kommentar weist in die Richtung lexikologischer Experimente von Aleksandr Šiškov hin, dessen berühmte sprachpuristische Abhandlung in der Erstausgabe Koslow aus seiner Antiquitätensammlung hervorholt. Die Schränke, die mit silbernen Artefakten und in Leder gefassten, alten Bänden vollgestopft sind, vervollständigen das Erscheinungsbild von Koslow, der durch den Handel mit dieser Ware buchstäblich von der Geschichte lebt. Beim Teetrinken lauscht der junge Samgin dem Historiker aufmerksam und gibt ihm so die Gelegenheit, seine Kenntnis der Stadtgeschichte und seine politischen Ansichten voll zu entfalten. Besonders starken und bleibenden Eindruck hinterlässt bei Samgin Koslows Art, die Stadtgeschichte von der Gründung bis zur Gegenwart zu erzählen. In Koslows Darstellung wird die Geschichte der Stadtgründung auf fremdem Gebiet, seine Kolonisierung und seine Verteidigung in matte Farben getüncht und liebevoll von verschiedenen Seiten betrachtet: Und alle: die unglücklichen Mordwinen, die Tataren, die Knechte, die Krieger, Shadows, der Pope Wassilij, der Geheimschreiber Tischka Drosd, die Gründer der Stadt und ihre Feinde, sie alle wurden von dem alten Historiker gleichermaßen freundlich behandelt, sowohl um des Guten als auch um des Schlechten willen, das sie auf Grund offenkundiger Notwendigkeit begangen hatten. Der gleiche Grund hatte die Einwohner der Stadt gezwungen, sich dem Aufstand des Donkosaken Rasin und des Uraler Pugatschow anzuschließen, während die Kosakenaufstände notwendig gewesen seien als Beweis der Macht und Festigkeit des Staates. (KS/B2/539) In der Darstellung des Historikers erstrahlt die Vergangenheit im liebevollen und alle Gegensätze versöhnenden Glanz. Durch historische Notwendigkeit lassen sich gleichermaßen gute und böse Taten erklären, und so sind auch Volksaufstände notwendig, damit der Staat seine Macht beweisen kann. Man wird dabei erneut mit der Problematik konfrontiert, dem »Guten« und dem »Schlechten« in der erzählerischen Repräsentation der Vergangenheit entsprechend dem Objektivitätsgebot, das sich Gorʹkij auflegt, den gleichen Raum zu lassen. Doch klingt in der zitierten Passage die Ironie des Erzählers unmissverständlich durch, die eine Ähnlichkeit zu der Kritik des Konstruierens histori-

3. Reflexion

scher Kontinuitäten in Musils »Mann ohne Eigenschaften« besitzt. Indem die Ursache und die Folge ihre Plätze tauschen, legitimiert sich das Geschehen von allein und die Widersprüche werden durch die »offenkundige Notwendigkeit« eingeebnet. Die liebevolle Betrachtungsweise der Vergangenheit führt somit zu einem moralischen Dilemma, das lange vor »Klim Samgin« in Gorʹkijs Werk eine zentrale Rolle spielt und in der Forschung als »Luka-Komplex« bezeichnet wird. Seine Relevanz für Gorʹkij als Person hat als erster Vladislav Chodasevič, der nach 1922 einige Zeit bei Gorʹkij wohnte, in seinen Erinnerungen an Gorʹkij beschrieben.178 Es lässt sich knapp als eine Kontroverse zwischen der Erkenntnis der Wahrheit über den Menschen und dem künstlerischen Auftrag beschreiben, Menschen Trost und Hoffnung, auch mit dem Preis der Lüge, zu spenden. Großes Aufsehen erweckte Gorʹkijs Inszenierung dieses Dilemmas im Drama »Nachtasyl«, in dem der ältere Pilger Luka immer eine Erklärung für menschliche Schwächen bereithält, sich gegenüber anderen Figuren weich und barmherzig verhält, indem er sie von der Möglichkeit eines anderen Leben träumen lässt. Diese Problematik wird im Drama durch ein Zitat von Pierre-Jean de Béranger verdeutlicht, in dem derjenige hochgepriesen wird, der der Menschheit den »goldenen Traum« spendet. Wie L. Kolobaeva nachwies, macht sich während Gorʹkijs Arbeit an »Klim Samgin« am Anfang der 1930er Jahre die Phase einer »gewissen inneren Müdigkeit von der Wahrheit« bemerkbar, die Gorʹkij sogar dazu antrieb, »seinen aufrichtigen und unerschütterlichen Hass auf die Wahrheit« zu äußern.179 S.I. Suchich monierte hingegen die Überwindung des Luka-Komplexes im »Klim Samgin«, da sich Gorʹkij von Luka und von seiner Fähigkeit, den »goldenen Traum« für die Mitmenschen zu spenden, verabschiedet und in seinem künstlerischen Programm für Objektivität ohne Märchen und Legenden entscheidet.180 Ein Indiz für Suchichs Lesart liegt m.E. in der umfassenden Ironie rund um die Figur des Historikers Koslow vor. Dieser Bezug bleibt bei Suchich leider unentdeckt, obwohl Koslow neben seiner äußerlichen Ähnlichkeit (dem Alter, der Gestik, der typischen Vorliebe zu Sprichworten) dem Trostspender Luka dadurch nahekommt, dass auch er gütig gestimmt ist und das Leben durch Worte in eine schöne und friedvolle Illusion zu verwandeln vermag. Indem Gorʹkijs Luka sich in »Klim Samgin« in einen Geschichtswissenschaftler verwandelt, wird der Luka-Komplex charakteristisch gebrochen und auf die Kritik der Geschichtserzählung im Roman bezogen. Bei seiner nachsichtigen Einstellung zu den menschlichen Schwächen lässt sich Koslow von der Tradition der russischen Geschichtsschreibung, insbesondere vom Historiker Nikolaj Karamzin inspirieren, denn »keiner hat so herzlich wie er begriffen, daß Rußland eines aufmerksamen Wohlwollens und die Menschen der Barmherzigkeit bedürfen« (KS/B2/537). Karamzin, der Autor der ersten umfassenden Darstellung der Geschichte Russlands, war gleichzeitig auch ein Dichter der Romantik. Ein wenig später wird im Roman sein Gedicht zitiert, in dem Karamzin vom Vergessen des wirklichen

178

Ходасевич, В.Ф.: »Некрополь: Горький«, in: Ходасевич, В.Ф., Собрание сочинений в четырех томах, Москва: Согласие 1997, S. 151-182, hier 165ff. 179 Колобаева, Л.А.: »Горький и Ницше«, in: Вопросы литературы (1990), hier S. 169. 180 Сухих: Максим Горький и другие, S. 204.

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Historische Zeit im Narrativ

Leids in der Phantasie schwärmt.181 Die Botschaft des Gedichts überschneidet sich mit dem Zitat von Pierre-Jean de Béranger aus »Nachtasyl«, wobei beide dem romantischen Duktus der Realitätsflucht unterliegen, den Karamzin im Vergleich zu Béranger »etwas plump, aber sehr offenherzig« (KS/B2/560) vertritt. Dabei erscheint Karamzin als jemand, der als »Dichter der Geschichte« den romantischen Duktus der Weltflucht unter anderem auch als eine Flucht in die »Geschichte Rußlands« realisierte. Die Geschichtserzählung bietet eine gute Gelegenheit für eine solche Weltflucht, da die Vergangenheit sich durch die nachsichtige Einstellung gegenüber dem Menschen in eine Idylle verwandelt. Bei der Darstellung dieser Idylle legt Koslow großen Wert auf die bäuerlichen Tugenden und auf die Dimension des Alltags: »In stiller Arbeitsliebe liegt mehr Heldentum als in flotten Angriffen. Glauben Sie mir aufs Wort: die Erde wird nicht im Galopp gepflügt« (KS/B2/539). Der leise, alltägliche Fleiß als das Ideal, das die großen Heldentaten übersteigt, eignet sich am besten zur Schilderung des Alltags von Kleinbürgern, dem beliebten Thema Koslows: Dieses liebevolle Ausmalen des Alltäglichen, Gewöhnlichen mit zarten Farben schilderte das Leben als ein stilles Fest mit Gottesdiensten, Fladen, eingemachten Früchten, Taufen und Hochzeitsbräuchen, Beerdigungen und Totenmählern, ein in seiner Einfachheit argloses und rührendes Leben. (KS/B2/538) In Koslows kleinbürgerlicher Idylle dreht sich das Leben »als stilles Fest« im Kreis der Taufen, Hochzeiten, Begräbnisse und Gedenkfeiern. Es findet eine eigenartige Verkehrung der romantischen Motive statt: Romantische Weltflucht in die Phantasie erweist sich als der Weg in die Idylle des Alltags. Im Roman wird ein expliziter Vergleich zwischen Koslows Geschichtsdarstellung und Fedossowas Erzählweise gezogen: Die schiefhüftige Alte, die Fedossowa, hatte in erhabenen Worten von märchenhaften Menschen gesprochen und stand dabei irgendwo abseits und über ihnen, dieses saubere alte Männlein jedoch erzählte von gewöhnlichen Leuten, die ebenso klein waren wie er selbst, aber erzählte so, daß die kleinen Leute eine gewisse Bedeutung, zuweilen auch Schönheit erlangten. (KS/B2/538) Fedossowas epischer Überhöhung der Menschen (»abseits und über ihnen«) wird Koslows Herabkommen zu den »kleinen Leuten« entgegengestellt. Die Problematisierung beider Arten der Erzählung lässt sich auf Friedrich Nietzsches Aufsatz »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« und seine Gegenüberstellung von der »monumentalischen« und der »antiquarischen« Historie zurückführen.182 Wie Natalja Borovkova in ihrer Dissertation nachwies, enthält Gorʹkijs Werk zahlreiche Hinweise auf 181 182

»Ach, nicht immer bittre Tränen/Laßt um ernstes Leid uns weinen/Auch Vergessen laßt uns suchen/Kurz im Banne schöner Träume.« (KS/B2/560) Den zeitgenössischen Zeugnissen zufolge las Gorʹkij Nietzsche noch vor einer Veröffentlichung seiner Werke auf Russisch in einer Laienübersetzung, vgl. bei Басинский, П.В.: »К вопросу о ›ницшеанстве‹ М. Горького«, in: Известия РАН. Серия литературы и языка 52 (1993), S. 26-33, hier S. 30-31. Vgl. ebenda auch zur Parallele zwischen Gorʹkijs »Unzeitgemäßen Gedanken« und Nietzsches »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (ebd., S. 29). Zu Gorʹkijs Nietzsche-Rezeption im zeitgenössischen Kontext vgl. Колобаева: Горький и Ницше, S. 165.

3. Reflexion

Nietzsches Aufsatz.183 So lassen sich auch in den Figuren der Geschichtserzähler Fedossowa und Koslow zwei Arten der Geschichtserzählung erkennen, die Nietzsche als »monumentale« und »antiquarische Historie« bezeichnet. Steht »monumentalische Historie« nach Nietzsche in der Nähe des Mythos mit seiner heldenhaften Überhöhung, so zeichnet sich »antiquarische Historie« gerade durch die fehlende Überhöhung, aber auch durch die fehlende Kritik aus: Alles erscheint gleichermaßen wertvoll und muss bewahrt werden, was laut Nietzsche zum »widrige[n] Schauspiel einer blinden Sammelwuth«184 führt. Koslows Handel mit Antiquitäten, seine Tätigkeit des Geschichtsschreibers einer peripheren Stadt, in deren Truhen »viel Wichtiges und Wertvolles unberührt« liegt (KS/B2/537), und vor allem seine Fähigkeit, die Vergangenheit erzählerisch in die Idylle des Alltags zu verwandeln, deuten in die Richtung von Nietzsches »antiquarischer Historie« mit ihrem »einfache[n] rührende[n] Lust- und Zufriedenheitsgefühl« hin.185 Deutlich tritt bei Gorʹkij auch der Nachteil dieser Art von Historie für das Leben hervor. Die Figur des Historikers bietet in dieser Hinsicht eine direkte Veranschaulichung von Nietzsches Kritik an der antiquarischen Historie mit ihrem tiefen Konservatismus. Koslow will zwar nicht als Konservativer eingestuft werden, wehrt jedoch jeden Gedanken an Reformen dadurch ab, dass sie unter russischen Verhältnissen unvernünftig seien und lediglich der Anbetung Europas seitens der Intellektuellen entsprängen. Er vertritt die Meinung, dass Kritik in Russland keinen Boden fassen kann und alle, die sie betrieben, sich in den vergangenen Jahrhunderten spurlos und »irgendwie geheimnisvoll« aufgelöst haben (KS/B2/541). Somit überschneiden sich in der Figur des Historikers Koslow mehrere Facetten der Problematik, welche die erzählerische Darstellung der kollektiven Vergangenheit betriffen: der Bezug zu Karamzin als dem bedeutendsten Vertreter der russischen Geschichtsschreibung vom Anfang des XIX. Jahrhunderts, zu dem Luka-Komplex mit seiner Kritik an dem christlichen Konzept des Erbarmens und zu Nietzsches Problematisierung der »antiquarischen Geschichte«. Die romantische Weltflucht in die Idylle der

183

Боровкова, Н.В.: Проблема человека в художественной историософии М. Горького и Т. Манна. Автореф. дисс. на соиск. зван. уч. степ. к. ф. н., Магнитогорск 2006, S. 4-18. In ihrer vergleichenden Untersuchung des Menschenkonzeptes von Gorʹkij und Thomas Mann in »Buddenbrooks« stellt sie fest, dass im Vergleich zu Mann »Gorʹkijs Variante der ›historischen Doktrin‹ dem historiosophischen Konzept Nietzsches näher kommt«, da für Gorʹkij im Roman die Problematik der Belastung des modernen Menschen durch die historische Reflexion, »historische Krankheit« zum Kern der Problematik wird (ebd., S. 150-151). Zwar lässt sich Gorʹkij – wie M. Ivanov in seinem Aufsatz nachweist – auf das Spiel mit den Gestalten und Motiven aus der russischen Vergangenheit ein und folgt dabei dem Geschichtsbegriff des englischen Historikers Thomas Carlyle, der die Weltgeschichte als Text betrachtet, der unendlich gelesen und geschrieben werden muss (Иванов, М.Н.: »Личности русской истории в осмыслении М. Горького«, in: Зайцева, Г.С. (Hg.), Горьковские чтения-2004. Материалы международной конференции »Творчество Максима Горького в социокультурном контексте эпохи«, Нижний Новгород: ННГУ 2006, S. 219-223, hier S. 219-220). Doch sieht er die mythisierende Wirkung der historischen Parallelen in seinem Roman immer kritischer an. 184 Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: Colli, Giorgio/Müller-Lauter Wolfgang/Gerhardt, Volker (Hg.). Nietzsche, Friedrich, Werke, Berlin: de Gruyter 1972, S. 239-330, hier S. 264. 185 Ebd., S. 262.

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Historische Zeit im Narrativ

Vergangenheit ist in ihrer Illusionswirkung dadurch gefährlich, dass sie auch die Wahrnehmung der Gegenwart harmonisiert und somit die Möglichkeiten des aktiven Handelns beeinträchtigt. So verwandelt sich die langweilige Realität des Provinzstädtchens nach Samgins Besuch beim Historiker in eine Idylle: So und nicht anders empfand es Samgin: Alles war wohlwollend gesinnt – der Mond, der Wind, die Gerüche, das um Mitternacht gedämpfte Rauschen der Stadt und diese behaglichen Nester friedliebender Nachfahren von Strelitzen, Kanonieren, entflohenen Knechten […]. (KS/B2/540) »Wohlwollend« erscheint Samgin die Realität des Städtchens nach dem Gespräch mit dem Historiker. Das Stadtbild verdoppelt sich in Samgins Wahrnehmung: Die Stadt des Historikers unterscheidet sich radikal von der Stadt, die Zeitungskorrespondenten beschreiben: Das war nicht jene Stadt, von der Iwan Dronow zwischen den Zähnen hindurch sprach, von der Robinson lächerlich zu schreiben sich bemühte und von der jene Leute geringschätzig erzählten, die durch unbefriedigten Ehrgeiz aufgebracht waren, vielleicht auch sich durch die Wirklichkeit benachteiligt fühlten, die ihnen nicht wohlgesinnt war. Doch diesmal dachte Klim an diese Leute ohne Gereiztheit, da er einsah, daß sie ja auch zu der Wirklichkeit gehörten, die der reinliche Historiker so wohlwollend rechtfertigte. (KS/B2/540) Im Bild der Vergangenheit werden alle Widersprüche durch die zeitliche Distanz abgestumpft; unterliegt man der Wirkung der »antiquarischen« Historie, so verwandelt sich auch die konfliktbeladene Gegenwart in ein versöhnliches Bild der historisch notwendigen Widersprüche. Das von Koslow entworfene Bild schließt auch »jene Leute« ein, die sich der Wirklichkeit kämpferisch zu bemächtigen scheinen, und macht sie zu einem weniger bedeutenden Bestandteil der Gesamtordnung, die vorwiegend auf dem Alltag der Kleinbürger basiert. Die Erzählung, die über der Stadt schwebt, hat nicht mehr als Mond, Wind und nächtliche Stadtgeräusche zu verzeichnen – die Elemente des idyllischen Bildes, in dem sich die Zeit in einem geregelten Kreislauf bewegt. Dieses versöhnliche Bild gerät jedoch in einen Widerspruch zu Koslows politischer Aktivität, als er sich an der Niederschlagung der friedlichen Arbeiterdemonstration 1905 beteiligt. Die grotesk geschrumpfte Figur des Greises mit einem Regenschirm springt Samgin ins Auge und wird für ihn zum Symbol der Absurdität des Geschehens, in dem das idyllische Leben der Provinzstadt mit ihren Kleinbürgern ins Wanken gerät: [Es war] kränkend, daß die von Koslow so schön geschilderten Menschen der schmalen Gassen, der stillen Häuschen, Menschen, deren standfestes Leben Samgin einstmals bewundert hatte, sich jetzt wie gleichgültige Zuschauer gefährlicher Wahnsinnstaten benahmen. Sie saßen daheim, die Tore verschlossen, und luden Gewehre mit Schrot, als wollten sie Krähe schießen, während ein mit Regenschirm bewaffneter siebzigjähriger alter Mann […] auf die Straße gegangen [war], um für [seine] Überzeugung einzustehen. (KS/B2/1064) Der Spießbürger verhält sich Koslows Darstellung getreu, indem er sich aus dem politischen Kampf herauszieht und hinter den Türen die Waffen vorbereitet, um seinen

3. Reflexion

Alltag gegen Angriffe kämpfender Parteien zu beschützen. Jedoch ist Samgin enttäuscht über Koslows Erzählungen, die das »standfeste Leben« des Kleinbürgers poetisch verklären. Ihr Verfasser, der ältere Historiker mit dem Regenschirm, handelt gemäß der Notwendigkeit, für das eigene Weltbild aktiv einzutreten. Dadurch erntet er Sympatie und Mitgefühl, auch wenn er konservative Werte verteidigt und gegen die Arbeiterdemonstration auftritt. Die Eigenschaft, eigene Überzeugungen aktiv zu vertreten, wird im Roman außer mit Koslow auch mit anderen Figuren alter Männer assoziiert, die als kleingeschrumpfte Greise (russ. »старичок«) beschrieben werden. Einige davon lassen sich als Abwandlungen der Figur von Koslow interpretieren, so u.a. Samgins Koch, der ähnlich wie Koslow konservativ ist und nach der blutigen Niederschlagung der friedlichen Demonstration der Arbeiter am 9. Januar 1905 Selbstmord begeht. Doch am nächsten kommt Koslow wohl dem adeligen »klugen« Greis (russ. »старичишка умный«), der im dritten Buch erwähnt wird. Er ist wie Koslow geizig, aber auch ein Hobby-Philosoph und schreibt an einem Buch mit dem Titel »Geschichte und Schicksal«. Auch andere alte Männer, wie Samgins Großvater und Onkel, Schauspieler, Schriftsteller, Arbeiter bilden eine seltsame Reihe, bis sich Samgin irgendwann erstaunt fragt: »Weshalb handeln die verdammten Grauköpfe?«186 Den Historiker Koslow, der ihm bei dieser Gelegenheit wieder in den Sinn kommt, vergleicht Samgin an dieser Stelle mit dem führenden Theoretiker der russischen Anarchisten Grafen Pjotr Kropotkin und mit Lev Tolstoj, die – zu der Handlungszeit der Episode 1905 schon alte Männer – das geistige Klima Russlands prägen. Nachdem Samgin schließlich im vierten Band auf seiner Europareise zu einer erneuten Aufzählung der bekannten Greise angeregt wird und dabei wieder Koslow gedenkt, zieht er ein eher überraschendes Fazit: »Ich habe nur wenig alte Leute gekannt« (KS/B4/389). Dabei kommt es vermutlich nicht auf die Zahl der alten Männer, sondern auf das fehlende Verständnis ihrer Handlungsmotive an. Mit der Figur des alten Mannes, der nicht zur Ruhe kommt, sondern sich aus unerklärlichen Gründen im unruhigen Geschehen herumtreibt, scheint die Frage nach den Gründen des aktiven Handelns fest verknüpft zu sein. Diese Frage wird in der Reflexion rund um die Figur des Historikers Koslow mit den Gedanken über die Notwendigkeit verknüpft, eine geeignete Stilistik für die Erzählung der kollektiven Vergangenheit zu finden. Dafür eignen sich die poetisch verklärten Bilder des Alltags in der Provinzstadt kaum. Sie erfordert die »kritische Geschichte«, den Blick eines »Erforschers«, der – wie ich im nächsten Kapitel zeige – den Einsatz von Rede- und Gesprächstaktiken scharf beobachtet und sie zu einem satirischen und grotesken Bild zusammenfügt.

186 Russ. »Чего ради действуют проклятые старички?« (ŽKS/B23/33). Ich zitiere in diesem Fall in meiner Übersetzung, da Ruoffs Übersetzung »Weshalb aber machen die verdammten alten Männer mit?« (KS/B328) ungenau ist.

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Historische Zeit im Narrativ

3.2.3

»Die Anekdote, ein Ziegel der russischen Geschichte und der Aphorismus, in dem unsere Weisheit konzentriert ist«187

Die stilistische Drift des Romans in die Richtung des Grotesken und des Komischen nimmt im Roman kontinuierlich zu und erreicht im vierten, unabgeschlossenen Teil ihren Gipfel. Dieser Prozess wird vom Erzähler kommentiert, der an ausgewählten Stellen wiederholt die Fähigkeit der Komik hinterfragt, Erkenntnisse über die kollektive Vergangenheit zu transportieren. Die Befürchtung, dass der Roman zur Sammelstelle für knappe Lebensweisheiten und Witze wird, klingt in Gorʹkijs Brief an Olga Forš vom 8. Juni 1928 durch. Gorʹkij bezeichnet sein Werk mit dem Titel »Klim Samgin und C. Depot der Aphorismen und Maximen« und droht seiner Adressatin damit, sie mit seiner »talentierten Feder im dreizehnten Band« zu berühren (Г-30/B30/170). Die Ironie darüber, dass der Roman ausufert, verbindet sich dabei mit der impliziten Selbstkritik, die sich an den Eindrücken erster Leser zu bestätigen scheint. So schreibt der Schriftsteller Michail Prišvin in seinem Brief Ende 1927 an Gorʹkij, dass die Dialoge mit Aphorismen übersättigt sind, was das Lesen des Romans erschwert. Da die Dialoge im Roman längere Textpartien in Anspruch nehmen, muss man als Leser selbst entscheiden, ob man die von bon mots strotzenden Passagen tatsächlich lesen will. Prišvins Sohn Petja hat diese – der Beobachtung seines Vaters zufolge – lieber überblättert (POČK/78). Im vorliegenden Kapitel weise ich anhand des selbstreflexiven Kommentars des Erzählers zur Anekdote und zum Aphorismus als Medien des Geschichtsbewusstseins nach, dass die groteske Stilistik im Roman bewusst als ein Stilmittel eingesetzt wird, um den Bildern der Redner und ihren aphoristischen Redebeträgen Materialität zu verleihen. Mit dieser Strategie kann Gorʹkij Kontrolle über das Material gewinnen, das – wie von ihm befürchtet wurde – den Roman heimlich untergraben könnte, so sein Brief an Sergeev-Censkij188 vom 7. September 1927: Ich mache mir Sorgen wegen des zweiten Bandes – die Fülle an »Ideen-«, d.h. des mündlichen und genrehaften Materials bedrückt mich. Ich fürchte mich davor, das Buch durch die Anekdote, die ein Ziegel der russischen Geschichte darstellt, und den Aphorismus, in dem unsere Weisheit konzentriert ist, zu überladen. (Г-30/B30/33) Im Bewusstsein dieser Gefahr werden vor allem Anekdoten,189 die von unterschiedlichen Figuren im Roman erzählt werden, als ein Medium problematisiert, welches zwar das Geschichtsbewusstsein der breiten Bevölkerungsschicht zum Ausdruck bringt, jedoch die Gefahr in sich birgt, dass die Erzählung in der Dimension des Niederen und

187 Г-30/B30/33. 188 Zur Bewertung von Gorʹkijs aphoristischer Schreibweise durch Sergeev-Censkij vgl. Немцова, Н.М.: »С. Н. Сергеев-Ценский о романе М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Попова. И.М. (Hg.), Художественное слово в современном мире. Сборник научных статей,Тамбов: ТГТУ 2006, S. 40-45, hier S. 41-42. 189 In Russland wird die Anekdote am Ende des XIX. – Anfang des XX. Jahrhunderts zu einer verbreiteten Form der Unterhaltung, vgl. Шмелева, Е. Я./Шмелев, А. Д.: Русский анекдот. Текст и речевой жанр, Москва: Языки славянской культуры 2002, S. 20-21. Mit seinem Roman, in dem das Anekdotenerzählen zu den typischen Redesituationen gehört, schreibt Gorʹkij also eine Art Kulturgeschichte.

3. Reflexion

des Alltäglichen versumpft und seinem Auftrag nicht gerecht wird. Aber auch der Aphorismus, der im Roman als Mittel der pointierten Darstellung von ideologischen Debatten dient, wird in seiner kritischen Reichweite hinterfragt. Auf diesem Wege normiert Gorʹkij die Verwendung der Komik im Roman und erlangt somit die Kontrolle über den produktiven Mechanismus der Romanerzählung wieder.

3.2.3.1

Die Anekdote

Der Anfang einer umfassenden Kritik der Anekdote als Medium des Geschichtsbewusstseins wird im ersten Band gemacht, als die burleske Figur des auffällig gestikulierenden, oft betrunkenen und stets schlagfertigen »Kaufmannssohn vom sechsten Semester der humoristischen Fakultät« (KS/B1/238) Ljutow das Trinken und das Erzählen historischer Anekdoten für das Einzige erklärt, was unter den gegenwärtigen Bedingungen den Menschen in Russland übrig bleibt: Wir sind ernste Menschen, wir müssen trinken, was vier Fünftel der Seele herhalten. Aus voller Seele in Rußland zu leben wird einem von allen streng verboten. Allerseits – von der Polizei, den Pfaffen, den Lyrikern, den Epikern. Und wenn wird die vier Fünftel versoffen haben – dann werden wir pornographische Bildchen sammeln und uns schlüpfrige Anekdoten aus der russischen Geschichte erzählen. Das sind unsere Lebensaussichten. (KS/B1/422) Wenn die »ernsten Menschen« »aus voller Seele« in Russland nicht leben können, müssen sie also trinken, um »vier Fünftel der Seele« loszuwerden. Das Erzählen von »schlüpfrige[n] Anekdoten aus der russischen Geschichte« wird ironisch als Tätigkeit bezeichnet, für die man lediglich ein Fünftel der Seele braucht, und mit dem Sammeln pornografischer Bilder gleichgesetzt. Solche Anekdoten, die das private Leben der Monarchen Katharina der II. und Alexander I. in pikantem Licht darstellen, werden Samgin vom Feuilletonisten Robinson erzählt, der in »elf Städten Russlands« als einziges eine große Sammlung der Witze über »Zaren, Dichter, Bischöfe, Gouverneure und so weiter« (KS/B2/521) erwirtschaftete. Ähnlich wie Ljutow scheint es auch Robinson mit seinen Worten, dass die Anekdote »der Wißbegier des Volksverstandes« entspringt und ihm dazu dient, sich »die ganze Wirklichkeit legendär und anekdotisch klar« zu werden, nicht ganz ernst zu meinen. Als »ein Hanswurst, ein Clown« trägt Robinson die Worte von der »Wißbegier des Volksverstandes« parodierend »mit greisenhafter Stimme, jemanden nachäffend, indem er zwischendurch aufschnarchte«, vor. Im Gegenteil dazu werden Anekdoten von Robinson eher in einem traurigen Tonfall erzählt, den er »durch spöttisches Lächeln zu verdecken« sucht (KS/B2/520-521). Die Erzählung der Anekdoten scheint außerdem fest mit dem übermäßigen Alkoholkonsum verbunden zu sein, was sich u.a. an der Gestalt eines älteren Schauspielers im ersten Buch zeigt: [Er] war nicht würdevoll: glatzköpfig, mit lippenlosem Mund und einem Klemmer auf der Habichtnase; er hatte Hasenohren, groß und hellhörig. In grauem Röckchen, eine graue Hose über den dünnen Beinen und spitzen Knien, lief er ständig hin und her, erzählte Anekdoten, trank wollüstig Wodka, aß dazu nichts als Roggenbrot und ergänzte

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Historische Zeit im Narrativ

das Urteil des [anderen] Schauspielers mit boshaft verzogenem Mund ebenfalls durch drei Worte: »Er war Alkoholiker.« (KS/B1/377) Das Äußere des Schauspielers weist grotesk-zugespitzte Züge auf: Eine Habichtnase mit »großen und hellhörigen« Hasenohren, zappelnde dünne Beine mit spitzen Knien ergeben das Bild eines betrunkenen Satyrs, der sich jedoch auch als Erzähler betätigt: Er schreibt Memoiren und sieht seine »selbstlose Liebe« zum Historischen durch seine Kenntnis der Anekdoten ausgewiesen: Er versicherte, an den »Memoiren eines Nachtvogels« zu schreiben und erläuterte: »Der Nachtvogel, das bin ich, ein Schauspieler. Schauspieler und Frauen leben nur nachts. Ich liebe bis zur Selbstvergessenheit alles Historische«. Als Bestätigung seiner Liebe zur Geschichte erzählte er nicht schlecht, wie der äußerst talentierte Andrejew-Burlak vor der Aufführung das Kostüm vertrank, in welchem er den Juduschka Golowljow spielen sollte, erzählte, wie Schumskij trank und wie die Rinna Syrowarowa im Rausch nicht erkennen konnte, welcher von drei Männern ihr Gatte war. Die Hälfte dieser Erzählung wie auch die meisten anderen brachte er mit Flüsterstimme vor, wobei er sich an den Worten verschluckte und mit dem linken Bein zappelte. Das Zittern dieses Beins bewertete er ziemlich hoch: »Solch einen Krampf hat Napoleon Bonaparte in den besten Augenblicken seines Lebens gehabt.« (KS/B1/377-338) In den Anekdoten des »Nachtvogels« wird der Ausdruck »die Bühne der Weltgeschichte« als Geschichte der theatralischen Boheme wörtlich genommen und das Historische durch das Theatralische ersetzt. Sie können nur im entferntesten Sinne der Theatergeschichte als historisch bezeichnet werden, stellen possenhafte Erzählungen über saufende Schauspieler dar und werden von einem betrunkenen Schauspieler erzählt, der sich mit seinen Beinkrämpfen à la Napoleon hervortun möchte. Diese Assoziation zwischen dem Schauspiel, der Trinksucht und der anekdotischen Komik bei der Behandlung »historischer Stoffe« findet ihre Fortsetzung in zwei Episoden aus dem zweiten und dem dritten Buch, in denen die Aufführung von Jacques Offenbachs Operette »Schöne Helena« geschildert wird. In der ersten Episode spielt die Figur von Samgins Jugendfreundin, der bildschönen Alina, die sich statt einer Ehe für eine Karriere als Varietè-Sängerin entscheidet, eine zentrale Rolle. Alinas Verzicht auf die Rolle der Ehefrau eines reichen Kaufmannes und ihre Verwandlung in eine Kokotte wird durch das antike Sujet von der Entführung Helenas parallelisiert. Dabei rückt die komödienhafte Verzerrung der klassischen Schönheit von Alina in den Mittelpunkt der Darstellung. Ihr Bild transformiert sich im Laufe der Aufführung von einem scheinbar unantastbaren Schönheitsideal in eine frivole und wollüstige Frau. Auch Helden des antiken Epos verwandeln sich durch das Vodka-Trinken und das schauspielerische Possenreißen in drei komische, Trepak tanzende Figuren, wobei der Soufleurkasten als Versteck für Vodka-Gläser dient. Die satirische Persiflage macht aus dem epischen Stoff ein unterhaltsames Lustspiel; dass diese Verwandlung die epische Distanz zum Geschehen aufhebt und das Publikum erreicht, ist seinem lauten Gelächter zu entnehmen. Dieses Potenzial des Komischen wird von Samgin bei der zweiten Aufführung von Offenbachs »Schöne Helena« im dritten Band explizit kommentiert:

3. Reflexion

Es war tatsächlich witzig von Offenbach, das Vorspiel zur »Ilias« in eine Komödie umzuwandeln. Man sollte alle größeren Ereignisse der Kulturgeschichte zu einer Serie leichter Komödien verarbeiten, damit die Menschen aufhören, sich ihrer Vergangenheit gegenüber kriecherisch zu verhalten – wie vor einer Exzellenz… (KS/B3/295) Der betrunkene Protagonist zieht aus dem Geschehen auf der Bühne das Fazit, dass eine solche Darstellung hilft, die Servilität gegenüber der Vergangenheit abzustreifen. Diese Idee, die den Thesen Bachtins von der Verringerung der epischen Distanz gegenüber der Vergangenheit durch das Lachen nahe kommt, geht offenbar auf eine gemeinsame Quelle zurück. Wie sich Samgin in seinem Zustand gerade noch erinnern kann, stammt sie aus Johannes Scherrs »Menschlicher Tragikomödie«, die auch Bachtin gelesen haben könnte. Mit diesem Kommentar weist Gorʹkijs Protagonist auf den produktiven Mechanismus der Romanerzählung, der in der programmatischen Verzerrung der dargestellten Wirklichkeit im satirisch-grotesken Licht besteht. Dieses Vorgehen wird vom Erzähler – wie oben dargelegt wurde – im Gegensatz zum Epos als das adäquate Mittel für die Darstellung des keineswegs heldenhaften Protagonisten sowie für die Reflexion der russischen Realität legitimiert. Jedoch lässt sich an dem Kommentieren des Anekdotenerzählens im Roman die Sorge des Erzählers ablesen, dass die satirische Überspitzung zu einer Simplifizierung seiner Botschaft führen könnte. So werden die Anekdoten von Samgins Geliebten Nikonowa als Erzählungen dargestellt, die banal sind und die Banalität zum Prinzip machen: Sie wußte überhaupt viel Klatsch über verstorbene und lebende große Menschen, erzählte ihn aber ohne Bosheit, im gleichmütigen Ton des Geschöpfs aus einer Welt, in der alles, was nicht banal ist, verdächtigen und stummen Argwohn erweckt, wo Banalität jedoch als natürlich gilt und der Mensch nur durch sie verständlich werden kann. Diese Anekdoten von ihr verschmolzen sehr gut mit ihren Erzählungen von den kleinen Idyllen und Tragödien einfacher Menschen, und insgesamt ergab sich das Bild eines moralisch ausgeglichenen Lebens, in dem es weder Helden noch Sklaven, nur gewöhnliche Menschen gibt. (KS/B2/939) In Nikonowas Erzählungen ergeben die historischen Anekdoten und Erzählungen über kleine, alltägliche Vorfälle ein Bild des »moralisch ausgeglichenen Lebens«. Anekdoten nehmen den historischen Persönlichkeiten das Flair des Besonderen und machen sie zu »gemeinen« Menschen mit gewöhnlichen Leidenschaften. Die Darstellung des Lebens ohne »Helden noch Sklaven« wird durch eine Herabwürdigung des Heroischen und Besonderen im Leben und Legitimierung des Normalen und Niederträchtigen herbeigeführt. Nikonowas Vorliebe für die Erzählungen aus dem »Leben kleiner Leute, von mißglückten und geglückten Kniffen bei der Jagd nach dem kleinen Glück« sowie ihre vortreffliche Kenntnis des Alltagslebens erinnert Samgin an die Alltagspoesie des Historikers Koslow (KS/B2/928-929). Koslow, der auch eine ausgeprägte Vorliebe für historische Anekdoten besitzt, verbindet mit Nikonowa die Referenz auf die Dimension des Alltäglichen. Sowohl in Nikonowas Anekdoten, als auch in Koslows Darstellungen treten Menschen als Akteure auf, die in alltägliche und unbedeutende Kämpfe verstrickt sind.

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Historische Zeit im Narrativ

Im vierten, unvollendeten Band nimmt die »Schöne Helena« die Gestalt der Geliebten Samgins Elena an, einer ehemaligen Sängerin und Kokotte sowie einer begnadeten Anekdotenerzählerin. Elena ist eine Expertin im Leben der Moskauer Boheme und des Beau Monde, sie liest aber auch viel und zieht aus dem Vergleich der anekdotischen Geschichten aus ihrer Bekanntschaft mit den Geschichten über »tote und erfundene« Menschen ihre eigene Lebensweisheit: Sie besaß einen unerschöpflichen Vorrat an Tatsachen, Anekdoten, Klatschgeschichten und erzählte das alles mit der Spottlust einer ehemaligen Hausangestellten reicher Herrschaften […]. Da sie gerne las und schon viel gelesen hatte, bot sich ihr die Möglichkeit, Lebende mit Toten und wirklich existierende Gestalten mit erdichteten zu vergleichen. (KS/B4/676) Interessant ist bei dieser Figur die Verschränkung von »Lebenden mit den Verstorbenen und den Echten mit den Erfundenen«, die sie alle gleichsam zu Figuren einer Anekdote macht. Als Erzählung über lebende und tote, bedeutende und unbedeutende Menschen zeigt die Anekdote auch die »historischen« Persönlichkeiten als Privatmenschen; die Zeitgenossen, die sich darunter befinden, werden von Elena danach beurteilt, wie gut sie selbst Anekdoten erzählen können. Mit dieser Strategie orientiert sich Elena erfolgreich im Moskauer Leben, wo nach der Verfassungserklärung und den ersten Parlamentswahlen die öffentlichen Debatten brodeln. Auch Samgin träumt in diesem Moment von der Position eines Redakteurs, der Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben könnte. Er fühlt sich dabei zunehmend zu seinem Jugendfreund Iwan Dronow hingezogen, der sich als Journalist durch eine scharfe Beobachtungsgabe auszeichnet und das Leben der russischen Provinz nach skandalösen Nachrichten durchforscht. Dronow erzählt Samgin Anekdoten aus dem Leben der Stadtbewohner und zieht sie mit seinem scharfen Witz ins Lächerliche. In seiner anekdotischen Welt will Samgin thronen: Dort, in dem ununterbrochenen Wirbel verschiedenartiger Systeme von Sätzen, Gerüchten und Anekdoten, wollte er seinen Platz als Organisator des Denkens, als Orakel und Prophet einnehmen. Ihm schien, daß er in seiner Jugend diese Rolle sehr gut gespielt habe, und er hatte immer geglaubt, gerade für solch ein Spiel wie geschaffen zu sein. (KS/B4/609) Samgin ist auf den Kindheitsfreund insoweit angewiesen, als er ihm durch seine Sammlung von Anekdoten die Mittel dazu liefert, sich über fremde Ideen zu stellen, um auf dieser Ebene die Rolle des »Organisators des Denkens«, »Orakels und Prophets« zu spielen. Seine Vorliebe für das Lächerliche190 macht ihn jedoch zu keinem brillanten Anekdotenerzähler oder Possenreißer, im Gegenteil bleibt er gerade dann

190 Bereits der junge Samgin erfindet gerne skurille Kosenamen für seine Nächsten und Universitätsprofessoren. Einstweilen befindet sich in seinem Besitz eine illegale Sammlung politischer Karikaturen und Epigramme, die er später aus politischen Gründen verbrennt. Im letzten Buch des Romans verstärkt sich Samgins Vorliebe für das Karikieren, was ihm selbst auffällt: »Samgin begann zu merken, daß sich in ihm die Vorliebe für das Komische und zugleich das Verlangen entwickelte, das Komische noch mehr zu karikieren« (KS/B4/708).

3. Reflexion

wirklich ernst, wenn er den Nutzen des Komischen erkennt. Als wenig lachender Protagonist wird Samgin im Roman zum Zentrum einer anekdotischen Wirklichkeit und übernimmt darin insoweit eine steuernde Rolle, als er Anekdoten durchaus auch bewertet und Anekdotensammler und -erzähler aufmerksam beobachtet. Er merkt, dass das Anekdotenerzählen eine gewisse Befriedigung mit sich bringt. So scheint der Schriftsteller Kormilizyn, den Samgin um seine beträchtliche Anekdotensammlung beneidet, seine eigene Unruhe loszuwerden, indem er sie in Form von Kurzgeschichten verpackt: […] er war dadurch rühmlich bekannt, daß er die Anekdote aus dem Leben von Ministern, Bischöfen, Gouverneuren und Schriftstellern als erster erfuhr und überhaupt hartnäckig wie ein Untersuchungsrichter alles zusammentrug, was die Menschen als banal, grausam oder verbrecherisch kennzeichnete. Wenn Samgin seinen Anekdoten zuhörte, hatte er manchmal das Gefühl, dieser Mann sei auf seine Kenntnisse stolz wie ein gelernter Forscher, erzähle aber stets mit Unruhe, mit dem sichtlichen Wunsch, sich durch ihre Übertragung auf seine Zuhörer von ihr zu befreien. (KS/B3/212) Kormilizyn trägt die Niedrigkeit des Lebens »hartnäckig wie ein Untersuchungsrichter« zusammen; die Anekdote wird dabei als eine Art des Erzählens problematisiert, die dem Austausch von Banalitäten und Grausamkeiten des Lebens dient und sie bagatellisiert. Dieser Vorgang wird im vierten Buch auf den gesamten Roman angewendet, indem die gesamte Romanfabel um den Anekdotenliebhaber Samgin zu einer Anekdote schrumpft: Jeruchimovič erzählte in ukrainischer Sprache eine neckische Anekdote von einem Zusammenstoß übermäßigen Zartgefühls mit unnötiger Bescheidenheit. Das Zartgefühl besaß ein wohlerzogener Mann von liberaler Denkart, während mit der Bescheidenheit von Jeruchimovitsch die Geschichte eines Landes bedacht wurde. Die Geschichte war eine Dame mittleren Alters, von Beruf – eine Tante der Adelsfamilie Romanow, eine Dame, die gern trank und aß, aber ein redliches Witwendasein führte. Die Beziehungen zwischen der Bescheidenheit und dem Zartgefühl liefen an Kraftlosigkeit des einen und Mangel an Initiative bei dem anderen hinaus. Es endete damit, daß ein gewisser Dritter und sehr Kecker auftauchte, die Tante vergewaltigte und schwängerte und daß die Tante, die das Gefühl hatte, ein Naturgesetzt erfüllt zu haben, zu allen überflüssigen Leuten sagte: »Schert euch weg, ihr Dummköpfe!« (KS/B4/652) In der Figur des »wohlerzogenen Mannes« lässt sich leicht der Protagonist erkennen, der zwar mit der »Geschichte« liebäugelt, doch sich nie dazu aufmacht, Besitz von ihr zu ergreifen. Die Beziehung, die an der »Kraftlosigkeit des einen und Mangel an Initiative bei dem anderen« scheitert, wird von einem Dritten »und sehr Kecken« gewaltsam beendet. Der platte Witz, der mit einem Satz aus Nikolaj Gogolʹs Komödie »Heirat« beendet wird, bringt einem Samgins Abneigung gegen allegorische Witze nahe: Das ist wohl die am wenigsten witzige Anekdote dieses an Anekdoten so reichen Romans. Die Fabel des Romans, die satirisches Potenzial besitzt, wirkt in der anekdotischen Verschlüsselung ernst, der Witz negiert sich. Anhand dieser Anekdote lässt sich demonstrieren, dass der Anspruch Gorʹkijs als Romanautor wesentlich komplexer ist. Zwar wird die satirisch-groteske Optik mit ih-

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Historische Zeit im Narrativ

rer ironischen Opazität vom Erzähler als ein adäquater Darstellungsmodus angesehen, doch weist er in seinem kritischen Kommentar zur Anekdote als einem Medium der Geschichtsreflexion auf die Gefahr hin, seinem Erzählauftrag durch die Vertiefung in die Domäne des Niederen, des Komischen und des Alltäglichen nicht gerecht zu werden.

3.2.3.2

Der Aphorismus

Gorʹkij war Zeit seines Lebens als talentierter Aphoristiker bekannt. In »Klim Samgin« erreicht seine aphoristische Schreibtechnik einen Höhepunkt. Viele Kurzrepliken lassen sich dabei implizit und explizit als Reflexionen über den Verlauf der Geschichte oder Geschichte als Phänomen interpretieren.191 Als Beispiel dafür kann folgender Dialog dienen, der fast ausschließlich aus aphoristisch zugespitzten Kurzrepliken besteht: […] Gussew [begann] indes, dem Statistiker Kostin, einem Mann mit schwammigem, weibischem Gesicht, zu beweisen: »Ich gebe natürlich zu, daß Alexander III. ein dummer Zar gewesen ist, immerhin aber hat er uns den richtigen Weg zur Vertiefung ins Nationale gewiesen«. Der Statistiker, in der ganzen Stadt bekannt durch seine Gewohnheit, im Gefängnis zu sitzen, lächelte gutmütig und zählte auf: »Die Pfarrschulen, das Branntweinmonopol…« Robinson mischte sich ein: »Wenn man sich schon ins Nationale vertieft, dann darf man auch die Balalaika nicht ablehnen«. Kostin rief, Robinson unterbrechend: »Diese ganze Politik, in die Räder der Geschichte Strohhalme zu schieben…« Griesgrämig lächelnd, sagte Inokow zu Klim: »Der Gefängnisstammgast spricht von der Geschichte wie ein treuer Knecht von seiner Herrin…« (KS/B1/475) Diese Textpassage veranschaulicht zum einen gut die charakteristische Erzählweise des »Klim Samgin«, bei der Dialogrepliken von Gesprächspartnern auf wenige Sätze reduziert werden, um unterschiedliche Seiten der Frage nach dem nationalen Bewusstsein in Russland kompakt zu beleuchten. Zum anderen lassen sich an ihr die Strapazen demonstrieren, denen der Leser des Romans ausgesetzt wird, wenn er den Inhalt solcher Passagen aufschlüsseln will. Als erstes fällt ins Auge, dass der erste Sprecher eine orthodoxe Volksdefinition im Geiste der offiziellen staatlichen Doktrin vom Ende des XIX. Jahrhunderts vertritt. Dem setzt der zweite – der Statistiker Kostin – den Hinweis auf die ideologische Kontrolle der Bevölkerung durch die Pfarrschulen, die vielerorts die einzige Möglichkeit für eine Schulbildung waren, und auf die finanziellen Profite der Regierung durch das Branntweinmonopol entgegen. Die letzten drei Repliken sind ihrer Struktur nach relativ selbständige Mikro-Texte aphoristischer Natur. Robinson, der wortgewandte Feuilletonist, äußert sich ironisch-abfällig über die nationale Frage, indem er sie mit dem nationalen Stereotyp der Balalaika verbindet. Kostin lehnt in einer knappen Form die Versuche ab,

191

Dass die aphoristische Ausdrucksweise auch für Musils »Mann ohne Eigenschaften« charakteristisch ist, hat Irmgard Honnef-Becker untersucht, vgl. Honnef-Becker: Ulrich lächelte, 54ff., doch wird der Aphorismus in Musils Roman im Unterschied zu »Klim Samgin« kaum als Medium der Geschichtsdarstellung reflektiert.

3. Reflexion

»in die Räder der Geschichte Strohhalme zu schieben«, d.h. durch politische Aktivität vergeblich in den Gang der Geschichte einzugreifen, während der junge Schriftsteller Inokow über Kostins sklavische Anbetung der Geschichte ironisiert. Solche Dialoge, in denen die Gesprächspartner einander ständig dazwischenreden und die Botschaften sich in einer chiffrierten Form auf den geistigen und gesellschaftlichen Kontext des XIX. Jahrhunderts beziehen, stellen ein Mittel dar, um über wenige Textzeilen komplexe ideologische Inhalte zu vermitteln. Als Mittel der Erzählung von Ideengeschichte bietet der Aphorismus – wie unter anderem Andrej Sinjavskij betonte192 – die Möglichkeit zur knappen Darstellung der öffentlichen Meinung und der Beobachtung ihrer Veränderung in der zeitlichen Perspektive. Jedoch läuft Gorʹkij in seiner Fixierung auf die Ideengeschichte, die in der Gorʹkij-Forschung oft im Zeichen der Tradition von Dostoevskijs Ideenroman interpretiert wurde,193 Gefahr, dass die Erzählung vom aphoristischen »Material« überlagert wird. Außerdem ist es durchaus fraglich, ob in »Klim Samgin« angesichts seiner Polyphonie tatsächlich ein Dialog stattfindet, oder – wie N.I. Velikaja zu Recht hervorhob – Gorʹkij diese Erzählweise eher für die Darstellung der Ideentransformationen im Laufe der Zeit verwendet.194 Für das Letztere spricht auch die Tatsache, dass die Ideen im Roman im Vergleich zu Dostoevskijs Romanen nicht in längeren Repliken ausgebreitet, sondern in einer deutlich knapperen, aphoristischen Form auf den Punkt gebracht werden. Als buntes Panorama des Dazwischenredens liefert Gorʹkijs Roman ein dynamisches Bild des Wandels, in dem eine Idee von der anderen abgelöst wird, ohne dass sie sich vollständig entfalten und ihre Wirkung zeigen kann.

192

» Die Sprache und der Stil des Romans ›Das Leben des Klim Samgin‹ zeichnen sich besonders durch die Fülle an Aphorismen aus. […] Aphorismen – diese Gerinnsel des gesellschaftlichen Gedankenguts – verhelfen Gorʹkij dazu, in einer extrem knappen Form den Reichtum der Ideen und Theorien darzustellen, die für unterschiedliche Richtungen und Gruppierungen der russischen Gesellschaft charakteristisch waren.« (Синявский, А.Д.: »О художественной структуре романа ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Бялик, Б. А./Михайловский, Б. В. (Hg.), Творчество М. Горького и вопросы социалистического реализма, Москва: Издательство Академии Наук СССР 1958, S. 132-174, hier S. 172) 193 Vgl. Великая, Н.И.: »Облик эпохи: полифония ›Жизни Клима Самгина‹«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-98. Материалы международной конференции »Максим Горький на пороге XXI столетия«, Нижний Новгород: ННГУ 2000, S. 98-104; Богданова, О.А.: »›Идеологическое слово‹ в прозе Ф. М. Достоевского и А. М. Горького«, in: Полонский, В.В. (Hg.), Русская литература конца XIX – начала XX века в зеркале современной науки. Исследования и публикации, Москва: ИМЛИ РАН 2008, S. 37-65; Дарьялова, Л.Н.: Философская проза в советской русской литературе 20-30х годов. Учебное пособие, Калининград 1988, S. 38-48; Ермакова: Традиции Достоевского в русской прозе, S. 100-112; Келдыш: О ценностных ориентирах в творчестве М. Горького, S. 20-25; Шеншин, В.К.: »Тип ›героя-идеолога‹ в художественной системе А.М. Горького и творческий опыт Ф.М. Достоевского«, in: Фрадкина, С.Я. (Hg.), Проблемы типологии литературного процесса. На материале советской литературы. Межвузовский сборник научных трудов, Пермь: ПГУ 1989, S. 30-41. Zur stilistischen Beeinflussung von Gorʹkijs aphoristischer Schreibweise durch Nietzsche vgl. Немцова: С.Н. Сергеев-Ценский, S. 42. 194 Великая, Н.И.: »›Жизнь Клима Самгина‹. Особенности повествовательной структуры и проблема жанра«, in: Великая, Н.И. (Hg.), Проблемы жанра и стиля художественного произведения. Межвузовский сборник, Владивосток: Изд-во Дальневост. ун-та 1988, S. 19-32, hier S. 29.

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Historische Zeit im Narrativ

Im flüchtigen Austausch der aphoristischen Repliken wird in Gorʹkijs Roman explizit auf Manipulationen mit historisierenden Argumenten hingewiesen. So ist es laut Samgin seltsam zu sehen, dass die Geschicke der Welt von etlichen zwanzig russischen Intellektuellen entschieden werden, die in einem abgelegenen Städtchen unter siebzigtausend Einwohnern lebten, für die sich die Welt auf ihre kleinlichen Interessen beschränkte (KS/B2/529). Die Beobachtung der eigentümlichen Wortschlachten unter den Intellektuellen stellt jedoch das zentrale Anliegen des Romans dar, der die geistigen Ursprünge der russischen Revolution aufzeigen soll. Für die erzählerische Darstellung dieses »Materials« hat die grotesk-phantastische Stilistik einen entscheidenden Vorteil, da sie Ressourcen zur Verfügung stellt, um dem gesprochenen und geschriebenen Wort Anschaulichkeit und sogar eine gewisse Materialität zu verleihen. Dieses Verfahren lässt sich exemplarisch anhand der folgenden Passage demonstrieren, in der die Redebeiträge des Redakteurs zu den wöchentlichen Diskussionen in der Zeitungsredaktion ironisch kommentiert werden: [Der Redakteur] konnte lange sprechen, sprach, ohne die Stimme zu heben oder zu senken, und schloß seine Rede fast immer mit einer vorsichtigen Prophezeiung der Möglichkeit einer »Explosion von unten«. »Revolution machen bei uns nicht die Rylejews und Pestels, nicht die Petraschewskijs und Sheljabows, sondern die Bolotnikows, Rasins und Pugatschows – das ist es, was man im Auge behalten muß«. Samgin fand, der Redakteur spreche klug, aber trotzdem glich sein Reden einem hartnäckigen Herbstregen und erweckte das Verlangen, sich mit einem Schirm zu decken. Man hörte dem Redakteur nicht besonders ehrerbietig zu, und er fand nur einen Gleichgesinnten, Tomilin, der tapfer wie ein Feuerwehrmann die Flammen des Streites mit dem Strahl kalter Worte löschte. (KS/B2/530) Die lange Rede des Redakteurs wird in einem aphoristischen Satz zusammengefasst, der eine Warnung vor den Gefahren eines Volksaufstandes in Russland enthält. Samgin, dem die Worte des Redakteurs klug, aber langweilig erscheinen, unterhält sich durch Vergleiche, indem er die Worte des Redakteurs mit einem Herbstregen vergleicht, der sich eintönig und hartnäckig über alles ergießt. Die Assoziation der Worte mit dem kalten Wasser wird im Weiteren auf den Philosophen Tomilin übertragen: Er wird mit einem mutigen Feuerwehrmann verglichen, der die heiß entbrannten Diskussionen mit seinen gut durchdachten philosophischen Aphorismen wie aus einem Feuerwehrschlauch begießt.195 Im humoristischen Bild des gegenseitigen Begießens mit dem kal195

An einer anderen Stelle bezeichnet Samgin Aphorismen und Paradoxa Tomilins als »kupferne« (russ. »медные«), wie die Kupfermünzen, die zwar gängig sind, deren Wert jedoch gering ist (ŽKS/B21/130). Durch dieses Attribut wird der Wert von Tomilins Lehre von seinem Schüler Samgin in Frage gestellt. Tomilin erklärt seinen Schülern, dass Menschen der edlen Gesinnung wie Edelmetalle nie oxidieren. Da Kupfer leicht eine bläuliche Oxidationsschicht bekommt, werden Tomilins Aphorismen und Paradoxa durch das Attribut »kupferne« implizit abgewertet. Vgl. außerdem den biblischen Ausdruck »ein tönendes Erz« (russ. »медь звенящая«, wörtl. »ein tönendes Kupfer«, auf deren Verwendung in »Klim Samgin« G.A. Lilič und O.I. Trofimkina hingewiesen haben

3. Reflexion

ten Wasser wird das gesprochene Wort vom Protagonisten metaphorisch in Wasser verwandelt und erhält dadurch in der fiktiven Welt des Romans eine gewisse Materialität. Auf diesem Wege gehen die aphoristisch zugespitzten Debatten rund um die russische Revolution in die fiktive Welt des Romans ein und erhalten darin einen beinahe gegenständlichen Charakter. Dabei werden Aphorismen nicht nur vorgetragen, sondern können eine körperliche Wirkung auf den Protagonisten ausüben. So erlaubt sich Gorʹkij an einer Stelle im Roman ein Spiel mit dem eigenen Aphorismus aus dem Essay »Časy«/»Die Uhr« von 1896, den er in Form einer Paraphrase dem jungen Marxisten Wlastov in den Mund legt. Als sich Samgin abfällig darüber äußert, wird er auf eine seltsame Art und Weise bestraft: »Der chemische Verfallsprozeß ist ein revolutionärer Vorgang. Und da die Dekadenz ein offenkundiges Merkmal der Zersetzung der Bourgeoisie ist, gießen alle diese ›Skorpione‹, ›Waagen‹ […] letzten Endes Wasser auf unsere Mühle.« Welch ein widerlicher Feuilletoneinfaltspinsel, dachte Samgin. Er schritt im Zimmer umher, glitt an einem der gesäuerten Äpfel aus und verlor plötzlich die Kraft, als hätte er mit etwas Schwerem, aber Weichem einen Schlag aus den Kopf bekommen. Mit ekelverzerrtem Gesicht mitten im Zimmer stehend, sah er unter der Brille hervor auf den zerquetschten Apfel und den beschmierten Schuh, während das Gedächtnis ihm mechanisch, erbarmungslos verschiedene Aphorismen einsagte. (KS/B2/944-945) Die Beurteilung der Dekadenz als Fäulnis, die eine andere Art des Brennens ist, stellt ein fast wörtliches Zitat von Gorʹkijs eigenem Urteil über die zeitgenössische Kunstzeitschrift »Vesy« (Г-25/B3/460) dar, die vom symbolistischen Verlag »Skorpion« herausgegeben wurde. Als Samgin den Autor dieses Aphorismus als »widerlichen Feuilletoneinfaltspinsel« bezeichnet, rutscht er an einem gesäuerten Apfel, der in seiner Säure die unangenehme, ätzende Wahrheit von Gorʹkijs Aussage signalisiert, aus. Das physische Ausrutschen bringt die geistige Entgleisung des Protagonisten zum Ausdruck, der nach der Strafe, die ihm von der Hand des Erzählers erteilt wird, orientierungslos sitzen bleibt und wehrlos weiteren Aphorismen ausgeliefert wird. Die Gegenständlichkeit des Geschriebenen oder Gedachten im Roman untersuchte L.F. Kiseleva detailliert unter dem Stichwort »Materialisierung des Wortes und des Geistigen« in ihrer vergleichenden Studie zur Komposition des »Klim Samgin« und Thomas Manns »Doktor Faustus«. Laut Kiseleva werden Worte und Gedanken im Roman »so real, dass sie wie Figuren und Ereignisse agieren (oft sogar an ihre Stelle treten)«.196 Kiseleva führt eine ausführliche Liste von Transformationen des Idealen ins Konkrete, bei denen das Wort/der Gedanke personifiziert werden, materiell-konkrete Eigenschaften aufweisen oder eine gegenständlich-konkrete Wirkung auf die Menschen ausüben.197 Diese Beispiele werden von Kiseleva als typisch für die Kunst um 1900

(Лилич, Г.А./Трофимкина, О.И.: »Библеизмы в романе М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Поцепня, Д.М. (Hg.), Словоупотребление и стиль писателя, Санкт-Петербург: СПбГУ 2006, S. 35-43, hier S. 35). In Ruoffs Übersetzung daher m.E. ungenau als »metallene« (KS/B1/116). 196 Киселева: Внутренняя организация, S. 130. 197 Ebd., S. 130-135.

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Historische Zeit im Narrativ

interpretiert, als die Vorstellung der »aktiven, schöpfenden Kraft des Wortes und der Kunst im Allgemeinen« eine große Rolle spielte.198 Wie ich zum Abschluss des vorliegenden Kapitels zeige, verbindet sich diese groteske Materialität des Wortes im Roman mit dem Bewusstsein seiner Abgedroschenheit und ergibt das kunstvoll verschlüsselte, durchgängig in der Erzählung vertretene Leitmotiv des Staubs, im dem das Wort als Medium der Wirklichkeitsrepräsentation entfremdet und kritisch reflektiert wird.

3.2.4

»Geh durch den Staub«199

Gorʹkijs Fixierung auf den Staub hat eine direkte physikalische Begründung, da ihm als Tbc-Kranken jeder Staub stark zu schaffen machte. Der Aufenthalt in Italien, während dessen Gorʹkij seinen Roman schreibt, war u.a. ein Kuraufenthalt zum Zweck einer Behandlung seiner Lungenkrankheit. In Gorʹkijs Briefen dieser Zeit finden sich wiederholt Beschwerden über seine Erkältungen oder Asthma-Anfälle, die auch von Pollen provoziert wurden und ihn bei der Arbeit störten. Marianne Girod stellte das Staub-Motiv in die Reihe der Motive, »die aus Gorʹkijs früherer Thematik des Kleinbürgertums bereits bekannt sind, wie Nebel, Staub, Rauch, Grau, Langeweile (skuka)«. Girod sieht das Staub-Motiv als bezeichnend für »die Atmosphäre in Samgins Heimatstadt, bzw. an den Schauplätzen von unterdrücktem Protest, Krankheit, Tod« sowie »in übertragenem Sinne« für die Durchdringung von Samgin selbst durch die Langweile.200 Doch geht die Anwendung dieses Motivs darüber hinaus und dient der kritischen Reflexion des Erzählens im Wortmedium. Der Staub ist in »Klim Samgin« zunächst ein gewöhnliches Attribut von Stadt- und Landschaftsbildern. Wind, der als Wirbel Staub und Müll über die Straßen fegt oder im Flachland Staubwolken bildet und den Staub in die Augen der Reisenden streut, ist aus der fiktiven Realität von Gorʹkijs Roman nicht wegzudenken. Auch Staubmäntel (russ. »пыльники«) werden von Figuren des »Klim Samgin« nicht selten getragen. Im Frühling kommt der Staub als »Wasserstaub« des Regens, im Winter als »Schneestaub« zurück. Die lexikalische Nähe dieser Erscheinungen ist in ihrer materiellen Beschaffenheit als Substanzen, die aus kleinen, losen Partikeln besteht, begründet. Sie bilden im Roman eine lexikalische Reihe, die von Staub, Sand und Asche bis hin zum Schnee und Regen reicht. Sogar der Dampf von einem kochenden Samowar wird im Roman als eine heiße Staubwolke beschrieben. Durch das Attribut des Staubs, die Farbe Grau wird das Motiv im Text noch weiter variiert und wirkt bis in die Figurenbeschreibungen, Wetterberichte sowie Stadt- und Landschaftsbilder hinein. Bereits am Anfang des Romans wird der Staub mit dem Historischen als bildliche Realisierung des metaphorischen Ausdrucks »Staub der Geschichte« assoziiert. Der kleine Samgin stößt auf dem Dachboden des Elternhauses auf eine alte Truhe, in der kaputte und unbrauchbare Sachen aufbewahrt werden. Unter diesen Sachen findet sich ein altes Album mit Bildern, für die sich Samgin besonders interessiert:

198 Ebd., S. 134. 199 KS/B1/415. 200 Girod: Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«, S. 141.

3. Reflexion

[…] ein dickes Album mit Porträts komisch und schlecht frisierter Leute, das eine Gesicht war vollständig mit Blaustift verschmiert. »Das sind die Helden der Großen Französischen Revolution, und dieser Herr ist Graf Mirabeau«, – erklärte der Lehrer und erkundigte sich lächelnd: »Unter Gerümpel hast du das gefunden, sagst du?« Und in dem Album blätternd, wiederholte er nachdenklich: »Ja, ja – die Vergangenheit… nutzloses Gerümpel…« (KS/B1/45-46) Die Parallele zwischen der russischen und der Großen Französische Revolution hat Gorʹkij in den Jahren des gesellschaftlichen Umbruchs in Russland nachweislich beschäftigt.201 Sie und ihre großen Männer scheinen jedoch in der Zeit von Samgins Kindheit keinen mehr zu interessieren. Die Nützlichkeit und Rolle der »verstaubten« Vergangenheit, die für den Autor Gorʹkij außer Frage stehen mag, wird im Anschluss an Klims Fund auf dem Dachboden anhand verstaubter Möbel kritisch hinterfragt, die sich in Samgins Imagination zu einem Bild des gewalttätigen und grotesken Geschehens zusammenschließen: Als ob all die staubigen Dinge plötzlich, vielleicht durch einen Brand erschreckt, in dichten Scharen in das Zimmer gerannt wären; als hätten sie sich, in ihrem Entsetzen zerbrechend und zersplitternd, aufeinandergetürmt, sich gegenseitig zertrümmert und wären gestorben. Es war traurig, dieses Chaos anzuschauen, die zerbrochenen Sachen taten einem leid. (KS/B1/46) Der Trümmerhaufen alter Möbelstücke ruft im Kopf des kleinen Klim die Vorstellung von erschrockenen, sich gegenseitig verstümmelnden Dingen hervor, die sich ehemals gegenseitig in der Angst vor einem Feuer bekämpften und nun als Überreste des Vergangenen unbrauchbar und verstaubt sind. Das von Gewalt durchsetztes Chaos des Gewesenen wird an den Rand der Gegenwart geschoben und erregt – verlassen und verstaubt – lediglich Traurigkeit und Mitleid. Dieser Bedeutungsverlust wird durch die dicke Staubschicht zum Ausdruck gebracht, die sich über das Chaos des Vergangenen legt. Zugleich signalisiert der Staub Belanglosigkeit, Langweile und Provinzialität. In einer Passage aus dem zweiten Buch findet sich eine Stelle, in welcher der Staub metaphorisch aus dem Haus Samgins hinausquellt, sich in das Wasser des Flusses mischt und sich als flüssige Langweile über das gesamte Stadtbild ergießt: Es war sehr staubig im Hause, und diese staubige Leere machte die Gedanken farblos, sog sie aus. In den Zimmern, im Hof ging träge das Personal umher, Klim sah es an, wie man aus den Fenstern eines Eisenbahnwagens Kühe in der Ferne auf den Feldern betrachtet. Die Langweile überschwemmte ihn, quoll aus allem, aus sämtlichen Menschen, Gebäuden, Dingen, aus der ganzen Masse der Stadt, die sich an das Ufer des stillen, trüben Flusses geschmiegt hatte. (KS/B2/513) Der Spleen des Protagonisten wird zunächst durch die »staubige Leere« des Hauses signalisiert, in der seine Gedanken verblassen. Die Langweile materialisiert sich in eine flüssige Substanz, die Samgin überschwemmt und im trüben (!) Flusswasser mündet.

201 Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 12-13.

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Historische Zeit im Narrativ

Dieses staubige Stadtbild wird zwei Dutzend Seiten darauf als ein Bild der Auseinandersetzungen zwischen den Intellektuellen in der Stadt fortgesetzt, die sich gegenseitig mit Staub zu bewerfen scheinen: Jeder von ihnen schien dann auch im Besitz eines unsichtbaren Säckchens voll grauen Staubes zu sein, und, wie die spielenden Jungen auf den ungepflasterten Straßen der Vorstadt, bewarfen sie einander mit ganzen Händen voll von diesem Staub. Dronows Sack war umfangreicher, der Staub jedoch war bei fast allen ebenso beißend und erregte Samgin gleich stark. Morgens beim Zeitungslesen sah er, daß der Staub sich in Gestalt der schwärzlichen Druckschriftfleckchen auf das Papier gelegt hatte und den Geruch von Fett ausströmte. (KS/B2/530) Die metaphorische Transformation des Wortes in den Staub und zurück führt auf eine andere Ebene des Staub-Motivs. Der Staub wird zur Metapher des gesprochenen und geschriebenen Wortes und zum charakteristischen Merkmal der Dispute unter den Intellektuellen, die ihre Thesen wie in einem »unsichtbaren Säckchen voll grauen Staubes« mit sich herumtragen, um sich gegenseitig damit zu bewerfen. Der »gallige Staub« der Gerüchte verdichtet sich in den »schwärzlichen Druckschriftfleckchen« der Zeitung zum Wortstaub (russ. »пыль словесная«), der denselben Beigeschmack hat und im Roman auch als »dichter Wortstaub« und »Staub beruhigender Worte« bezeichnet wird. Der Staub und der Fettgeruch wird zum Attribut der Zeitungsberichte – diese Metapher wird an einer anderen Stelle variiert, als eine Figur die Zeitung so schüttelt, »als hätte sich Staub auf ihr abgesetzt« (KS/B3/297-298). Der Staub der Zeitungsberichte schlägt sich außerdem in der Gestalt des Zeitungsreporters Dronow nieder, der als staubig, verstaubt oder »staubiger Sack« beschrieben wird. Das Wort materialisiert sich als Staub auch in der Szene, in der Samgin die Wohnung seines Lehrers Tomilin betrachtet. Der Philosoph besitzt viele verstaubte Bücher sowie neue und »nackte Gedanken«, die sich in Samgins Phantasie in Staub verwandeln: Bisweilen stellte Klim sich diese nackten Gedanken als Schwaden beißenden Rauchs, als Wolkenfetzen vor; sie […] bedeckten die Bücher, die Wände, die Fensterscheiben und den Denker selbst mit grauem, schmuddeligem Staub. (KS/B1/138) Gedanken verwandeln sich in Rauchschwaden, Wolkenfetzen und werden schließlich zum grauen und schmuddeligen Staub, der die Wohnung des Philosophen und seine Figur bedeckt. Staub steht in diesem Kontext für Worte und Gedanken, die langweilig, überflüssig oder in ihrem Gebrauch im Gespräch abgetragen sind und verbraucht wurden. Das Problembewusstsein für solche negativen Qualitäten des Wortes erschließt sich u.a. vor dem Hintergrund des kreativen Schreibprozesses, der sich gegen Abgetragenheit des alltäglichen und ideologischen Sprachgebrauchs durchsetzen und deshalb eigene, nicht verstaubte Worte finden muss. Gorʹkij, der die Ursprünge seines Romans auf die Zeit zurückführte, als er »im Staub und Schmutz der Literatur und Publizistik […] wühlte«,202 kann sich von diesem fremden Gedankengut distanzieren, indem er Staub als textinternes Signal benutzt und als Chiffre seinem Roman einschreibt. 202 Notizen. Gorʹkij, Lenin und Gorki, S. 356-357.

3. Reflexion

Die Bedrohlichkeit des Staubs wird bereits im ersten Buch thematisiert: Kleine Dinge sind unfügsamer als große. Einen Stein kann man umgehen, man kann ihm ausweichen, dem Staub aber kann man nicht entgehen, man muß durch ihn hindurch [wörtl. aus dem Russischen – »geh durch den Staub«]. (KS/B1/414-415) Obwohl der Staub kein Hindernis darstellt, kann er das Gehen stärker behindern. Diese Stelle liest sich vor dem Hintergrund der leitmotivischen Funktion des Staubs wie ein Appell an Samgin, sich den Weg durch den Wortstaub zu bahnen. Dieser Weg, der Samgin durch den Staub der Geschichte, der Provinzstädte, der geschriebenen und gesprochenen Worte und Gedanken führt, verdichtet sich besonders in der zweiten Hälfte des Romans zu einer Reihe von Episoden der existentiellen Verunsicherung des Protagonisten, in denen Staubmetaphorik und explizite Wortkritik eng miteinander verflochten werden, so die folgende Passage: Klim stand am Fenster, und ihm kam der Gedanke, all diese wie Schnee und Staub wirbelnden Worte hätten nur einen Zweck, den Bruch des Menschen mit der Wirklichkeit zu verdecken, die Kluft auszufüllen. (KS/B2/944) Das Hinterfragen des Wortes zieht die Krise der Wirklichkeitswahrnehmung nach sich. Kalter und staubiger Wortwirbel weht in der Kluft zwischen der Wirklichkeit und dem Menschen – bildlicher könnte die Skepsis über die vermittelnde Rolle des Wortes für die Erkenntnis der Realität nicht ausgedrückt werden. Interessant ist außerdem, dass der Staub nicht passiv liegend, sondern aufgewirbelt und dynamisch gedacht wird. Die Vorstellung von der Maschinerie der Worte, in der der Ausdruck des lebendigen Gedankens zum Wortstaub abgedroschen wird und die sich selbst unendlich perpetuiert, wird von Samgin auf die aktuelle politische Gegenwart bezogen. So imaginiert Samgin in einer weiteren Überlegung die politische Entwicklung Russlands als einen Staubwirbel an der Kreuzung zweier Wege, an der er unentschlossen stehen bleibt: Samgin versank in ein Nachdenken darüber, daß er sich nun schon zehn Jahre in dem Staubwirbel an der Kreuzung zweier Wege drehte und kein Verlangen empfand, einen von ihnen einzuschlagen. […] in dieser Nacht, in dieser Stunde war alles klarer und schrecklicher. Nicht er allein lebte ein solches Leben, sondern Hunderte, Tausende von Menschen seinesgleichen, das fühlte, das wußte er. Der Wirbel drehte sich immer rasender und sog alle in sich hinein, die ihm zu widerstehen, beiseite zu treten außerstande waren, während die Kutusows, Pojarkows, Goging und Ussows ihn unermüdlich und unsinnig immer mehr entfachten. (KS/B2/970) Der Staubwirbel, der sich zwar dynamisch dreht und ausbreitet, jedoch statisch an die Kreuzung von zwei Wegen gebunden bleibt, bringt die Dimensionen der politischen Krise im Land zum Ausdruck, zu der politische Aktivisten wie Kutusow und andere durch ihre Agitation beitragen. Laut Samgin befinden sich Hunderte und Tausende von Menschen in der gleichen Situation der Wahl zwischen zwei Wegen, an deren Kreuzung sich der Wirbel immer schneller dreht. In der Metapher des staubigen Wortwirbels schlägt sich die Vorstellung vom zerstörerischen Potenzial der öffentlichen Diskussionen im Land nieder: Mit ihrer Intensivierung geht ein Bedeutungsverlust einher, der dem Zermalmen der Argumente in den Staub gleicht.

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Historische Zeit im Narrativ

Diese Dynamik wird in der folgenden Passage problematisiert, in der sich der Protagonist »in nie dagewesener Schärfe« fragt: Wie konnte er dem unaufhörlichen Strom von Banalität, von Zynismus und dem unaufhörlich brodelnden Geschwätz entrinnen, das keinerlei Ideen und »erhabene Worte« verschont, sondern sie alle in ätzenden Staub verwandelt, der das Hirn vergiftet? (KS/B4/461) Im »unaufhörlich brodelnden Geschwätz«, das »keinerlei Ideen und ›erhabene Worte‹ verschont«, erkennt Samgin eine existentielle Bedrohung, da es alles zu Wortstaub zerreibt und dadurch »das Gehirn vergiftet«. Samgins Nostalgie nach dem authentischen Ideal steigert sich vor dem Hintergrund seines unausweichlichen Scheiterns am Geschwätz, das sich im letzten Buch des Romans in der Gestalt des Dozenten Pylʹnikov (russ. »пыль«/»pylʹ« – »Staub«) verselbständigt, der ununterbrochen spricht, abgenutzte Altweisheiten und philosophische Gemeinplätze von sich gibt und sich dadurch zum Lehrmeister des Lebens inszeniert. Gleichzeitig wird der Wortstaub, der »Unrat der Seele« (KS/B2/895) auf vielfältige Weise dem Körper des Protagonisten eingeschrieben. Seine äußere Erscheinung wird von Attributen des Wortstaubs – der Farbe Grau – geprägt und sein körperliches Empfinden wird davon beeinflusst, indem beispielsweise ein staubiger Schleier seine Augen überzieht, ein staubiger Geschmack die Zunge belegt oder ihm sein Kopf als vollgestopft mit Staub vorkommt. Samgin kann sich an einem Gedanken wie an Staub verschlucken und husten, vergleicht seine Gedanken mit dem staubigen Wirbel, der durch seinen Kopf weht, oder mit dem »Staub in der Seele« (KS/B1/559). Durch solche Bilder wird die Bedrohlichkeit des Staubs auf Samgin projiziert, der sich selbst zu gefährden scheint. Im Roman führt das Bewusstsein dieser Gefahr zur Selbstentfremdung des Protagonisten, die am prägnantesten in der Episode zum Ausdruck gebracht wird, in der Samgin auf einem Fußmarsch durch die staubige Provinzgegend in seinem eigenen Schatten am Wegrand einen Doppelgänger erkennt und dadurch einen Panikanfall bekommt: […] Samgin [schritt] müde dahin und [betrachtete] seinen Schatten, der Schatten glitt und zuckte über den ausgefahrenen Weg, als wäre er bestrebt, sich in den Staub einzuwühlen, und verwandelte sich behende in die kleine, graue Gestalt eines kläglichen und vor Bestürzung niedergedrückten Menschen. Samgin fühlte sich immer schlechter. In seinem Leben hatte es Augenblicke gegeben, in denen die Wirklichkeit ihn gedemütigt und ihn zu zermalmen versucht hatte[…] Heute war er auch erschreckt, aber wodurch? Das war ihm unverständlich. Ihm schien, als wäre er ganz voller Staub und mit klebrigen Spinnweben beschmutzt; er schüttelte sich, betastete seinen Anzug, fing an ihm irgendwelche unsichtbaren Stäubchen, dann entsann er sich, daß nach dem Volksglauben Sterbende sich so absuchten, und streckte die Hände tief in die Hosentaschen, dadurch wurde er im Gehen behindert, als hätte er sich gefesselt. Auch war wahrscheinlich für einen Unbeteiligten ein Mann komisch, der einsam durch die menschenleere Vorstadt schritt, die Hände in den Hosentaschen hielt, das Zucken seines Schattens beobachtete, klein, flach und grau – mit Brille. (KS/B3/364-365)

3. Reflexion

Der in Staub getauchte, verkrampfte und zuckende graue Schatten wird in dieser Passage kontinuierlich auf das Bild des Protagonisten projiziert, der sich beschmutzt, verstaubt, klein, grau und schließlich auch lächerlich vorkommt. Am Ende der Passage wird Samgin endgültig mit seinem eigenen Schatten vertauscht, der nun seine Brille trägt. Samgins Weg durch die einsame Vorstadt, auf dem er das Hineintauchen seines Schattens in den Staub betrachtet, macht ihn in der Erzählung in der symbolisch-verschlüsselten Form als Figur, als eine Wortfiktion kenntlich. Besonders prägnant wird es metaphorisch umgesetzt, als der Staub von der Straße sich als »klebrige Spinnweben« und »unsichtbare Stäubchen« auf dem Körper des Protagonisten verteilt und sein Körper von kleinen Staubpartikeln überzogen wird. Die Bestürzung und Irritation Samgins über diesen Vorgang bringt die krisenhafte Erfahrung der Wirklichkeit zum Ausdruck, die das Wort als Medium der Wirklichkeitsdarstellung radikal entfremdet. Es ist auffällig, dass diese Entfremdung des Wortes bei Samgin das gesteigerte Gefühl seiner eigenen Präsenz hervorruft. Dieser Effekt macht sich auch an anderen Stellen des Romans bemerkbar, an denen die Verwendung vom Staubmotiv zu narrativen Metalepsen führt und ein merkwürdiges Flimmern in der ihn umgebenden Realität verursacht. So wird in der folgenden Passage das Stadtbild durch den Regenstaub entfremdet, wobei sich Samgin in dieser irrealen Umgebung verstärkt seiner eigenen Realität besinnt: In der Finsternis tanzte und rieselte scharfer, stechender Staub. Die Stadt war irreal geworden, wie in der Finsternis alles außer ihr selbst irreal ist. Und wie jeder Mensch in der Dunkelheit empfand Samgin mit unangenehmer Schärfe seine Realität. (KS/B3/78) Die Finsternis, in der die Stadt Samgin irreal erscheint, ist vom rieselnden, scharfen und stechenden Staub des Regens durchsetzt. Der Protagonist, der bei seinem Gang durch die Stadt durch den (Regen-)Staub gehen muss, kommt sich in der Dunkelheit plötzlich auffällig – wenn auch unangenehm – real vor. Den Grund dafür sehe ich darin, dass Samgin an dieser und manchen ähnlichen Stellen die Ebene der Reflexion und der Kritik des Wortes erreicht, die ihm in der Romanerzählung intern zugewiesen ist. Auf die gegenseitige Bedingtheit zwischen der Realität der fiktionalen Welt und der Realität des Protagonisten hat als erster V.S. Voronin hingewiesen. Voronin deutet sie als Symptom der gegenseitigen Berührung von zwei leeren Volumina – der äußeren Leere der Geschichte und der inneren Leere des Protagonisten.203 Dieser Berührung entstammt laut Voronin auch die oben zitierte Metapher des Staubwirbels, der an der Reibung zwischen der Außen- und Innenwelt hochsteigt. Obwohl ich Voronins Interpretation im Großen und Ganzen zustimme, zweifle ich grundsätzlich an, dass die Figur Samgins dabei als ein »versteckter Parameter der Geschichte, ihr biologisches Fundament«204 anzusehen ist. 203 Воронин, В.С.: »Художественный мир ›Жизни Клима Самгина‹ и триалектические воззрения современности«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-2006. Материалы международной конференции »Человек и мир в творчестве М. Горького«, Нижний Новгород: ННГУ 2008, S. 273-280, hier S. 278-279. 204 Воронин, В.С.: Художественное время и пространство в »Жизни Клима Самгина« М. Горького. Автореф. дисс. на соиск. зван. уч. степ. к. ф. н., Нижний Новгород 1993, S. 20.

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Historische Zeit im Narrativ

Da Samgin nur dann zum vollen Sein zu gelangen scheint, wenn die fiktive Welt des Romans reflexiv durchbrochen wird, kann er kaum ein »biologisches Fundament« liefern. Hingegen ist er fest auf der romaninternen Metaebene verankert und wird dadurch zu einer opaken und ambivalenten Gestalt, die bei all ihrer Komik einige wichtige Funktionen im Dienste des Erzählers übernimmt und kaum eindeutig bewertet werden kann. So äußerte Romain Rolland bereits 1933 in einem Brief an Gorʹkij seine Irritation in Bezug auf Samgin, nachdem er das erste Buch des Romans gelesen hatte. Obwohl Rolland beim Lesen die Absicht des Autors erkannte, Samgin als einen heimlichen Verräter und Heuchler zu entlarven, stolperte Rolland über einen Satz und schrieb diesbezüglich an Gorʹkij folgende Zeilen: Ich wäre mir ganz sicher, wenn nicht die Worte wären, mit denen das Buch endet und die Samgin als einen Menschen beschreiben, der »einsam und furchtlos durch die nächtliche Finsternis schritt« (Ende des zweiten Kapitels)… (Ist es nicht so, dass er sich selbst so sieht, sich in einem vorteilhaften Licht sehen will, damit er sich nicht in einem anderen sehen muss?) (POČK/93, kursiv – Zitat aus dem Roman in der Übersetzung von Ruoff, KS/B1/177) Was Rolland mit seinem schriftstellerischen Spürsinn erkennt, ist das charakteristische Pathos rund um die Figur Samgins, die bei all ihrer Tragikomik durch eine Finsternis schreitet, die noch dunkler und bedrohlicher als die Gefahren erscheint, denen sich der Protagonist in seiner Einbildung auf sich selbst und in seiner Manipulation mit fremden Ideen und Vorstellungen aussetzt. Die Darstellung dieser Wirklichkeit der Ideenkämpfe stellt Gorʹkijs Vertrauen in die schöpferische Kraft des Wortes grundsätzlich in Frage. Der Roman, der Gorʹkij zufolge die »unendliche Geschichte der menschlichen Versuche« erzählen soll, »sich von der Gewalt der Wirklichkeit zu befreien, indem man sie nicht anders als bloß durch Worte verändert« (Г-30/B30/282), wird von diesem Misstrauen gegenüber dem Wort implizit untergraben und wirkt fast postmodern. Die Erschöpfung des kreativen Potenzials des künstlerischen Wortes lässt sich anhand einer Passage aus dem dritten Buch veranschaulichen, in der alle bereits bekannten Staub-Motive gebündelt vorkommen. Samgin betrachtet auf einer Durchfahrt mit der Kutsche eine entlegene, ländliche Gegend: Das habe ich schon mal gehört oder gelesen, dachte Samgin, und ihn befiel Langweile. Diesen Tag, die Hitze, die Felder, den Weg, die Pferde, den Kutscher und alles, alles ringsum hatte er vielmals gesehen, das alles war vielhundertmal von Literaten und Malern dargestellt worden. Abseits vom Weg schwelte ein riesengroßer Heuschober, graue Asche rieselte von ihm herab, goldrote Würmchen flammten, sich krampfhaft windend, für eine Sekunde auf, aus dem schwarz-grauen Haufen brachen überall gekräuselte, blaue Rauchsäulchen hervor, und über dem Schober stand der Rauch als weißliche Wolke. »Brandstiftung?« fragte Samgin. »Unbedingt Brandstiftung.« […] Samgin lächelte, er erinnerte sich der Worte Turtschaninows: »Alles ist schon dagewesen, alles ist schon gesagt.« Und immer wird auf Erden ein Mensch leben, dem es inmitten der endlosen Wiederholungen ein und desselben schwer und langweilig ist.

3. Reflexion

Der Gedanke an die tragische Lage dieses Menschen barg in sich ebensoviel Trauer als Stolz […]. Es war schon gegen Mittag, die Hitze wurde drückender, der Staub heißer, im Osten ballten sich dunkle Wolken, die an den brennenden Heuschober erinnerten. (KS/B3/250) Das Bild der ländlichen Provinz, die Eintönigkeit und Langweile der Fahrt auf dem staubigen Weg verbinden sich in der zitierten Passage mit dem Hinweis auf den Bauernaufstand, der durch den angezündeten Heuschober signalisiert wird. Dieses Bild kommt Samgin bekannt vor, da es durch die russische Literatur und Malerei unzählige Male dargestellt wurde. Die Realität, die von den Kunstbildern überzogen wird, erscheint als eine unendliche Wiederholung des gleichen Motivs, in der sich der Wahrnehmende gefangen fühlt. Helene Imendörffer behauptete in ihrer Untersuchung der perspektivischen Struktur des Romans, dass die Landschaftsbilder im Unterschied zu den Stadtbildern weniger durch die Wahrnehmung Samgins gebrochen sind, da Samgin als einem Intellektuellen der Kontakt zur Natur fehle.205 Anhand der zitierten Passage lässt sich die Entfremdung des Intellektuellen Samgins von der provinziellen Landschaft eher als eine kritische Distanz zu einer bestimmten Darstellungsweise der zeitgenössischen Kunst verstehen. Dabei fällt ein Quäntchen Ironie auf Samgin selbst, der sich in seinen Gedanken zu einer tragischen Figur inszeniert und durch seine vorgetäuschte Trauer und Einbildung auf sich selbst lächerlich macht. Bei diesem umfassenden Charakter erreicht die Ironie in der zitierten Passage ein postmodernes Ausmaß. Andererseits spiegelt diese Episode tatsächlich fast wörtlich eine frühere Fahrt Samgins, die im zweiten Buch des Romans stattfindet und während der Samgin angespannt darüber sinniert, warum er zum Nachdenken über alles verurteilt ist: Dort, im Osten, zogen schwere blaue Wolken auf, die den grauen Streifen der Straße verdunkelten, und wenn die Pferde an einsamen Bäumen vorbeiliefen, schien es, als rieselte dunkler Staub von den kahlen Zweigen. […] Wozu brauchte er diese Felder, die Bauern und überhaupt all das, was endlose und fruchtlose Gedanken verursachte, in denen das Bewußtsein der inneren Freiheit und des Rechts, nach eigenen Gesetzen zu leben, so leicht verschwand, das Gefühl seiner selbst, der Einmaligkeit, verlorenging, und man gleichsam im Schatten fremder Gedanken dachte? Weshalb war er verpflichtet, ein gescheiter Mensch zu sein, alles zu wissen, über alles zu sprechen und als Äolsharfe zu dienen – wem zu dienen? (KS/B2/838) In den beiden Passagen gibt der Bauernaufstand Samgin auf seinem Weg den Anstoß zum Nachdenken über die eigene Rolle im Geschehen. Auf der bildlichen Ebene wird die zukünftige politische Eskalation durch das kommende Gewitter mit dunklen Wolken am Horizont signalisiert. Auch der Staub prägt beide Episoden, wobei er in einem als heißer Staub, in dem anderen als der zwischen den Baumzweigen hängende »dunkle Staub« fungiert, die beim Vorbeifahren der Kutsche von den Zweigen rieselt. Beide Episoden legen das schmerzliche Bewusstsein dafür an den Tag, dass auch der Gedanke, der in dieser Realität die einzige existentielle Möglichkeit darstellt, dem

205 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 125-126.

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Historische Zeit im Narrativ

Bedeutungsverlust unterliegt und im Chaos fremder Äußerungen zum ätzenden und allgegenwärtigen Staub zerrieben wird. Es steht in Verbindung mit der Frage, wem Samgin als »Äolsharfe« dient und wer ihn dazu »verpflichtet, ein gescheiter Mensch zu sein, über alles zu sprechen«. Damit wird unmissverständlich auf den Romanerzähler hingewiesen, der den Protagonisten auf seinem staubigen Weg durch die russische Provinz vor der drohenden politischen Eskalation warnt. Im Motiv des Staubs wird die Metareflexion über die Erzählung als dem Medium der Geschichtserzählung um eine weitere Ebene ergänzt. Ging es bei der Anekdote und dem Aphorismus um die satirisch-groteske Verfügung über die geistige Landschaft Russlands, so wird dieser produktive Mechanismus der Erzählung anhand des Staub-Motivs dem Protagonisten buchstäblich auf den Leib geschrieben und von ihm als fiktionales Darstellungsmittel reflektiert. Dabei empfindet der Protagonist die Macht des Erzählers über sich nicht nur als einengend und befremdend, im Motiv des Staubs wird auf die Gefahr der Zerstörung des schöpferischen Potenzials des Wortes hingewiesen, die mit der strapaziösen Aufgabe verbunden ist, im Staub der abgeklungenen geistigen Debatten nach einem Grund für die Entstehung der russischen Revolution zu suchen.

3.3

Zwischenfazit

Der Auftrag der künstlerischen Bewältigung der kollektiven Vergangenheit ist beiden Romanen auf metareflexiver Ebene eingeschrieben, jedoch in verschiedener Form. Bei Musil bilden sich bereits in den Anfängen der Romanproduktion explizite Kritik an den Mustern der politischen Geschichte und das Vorhaben, in Romanform eine abweichende Erfahrungsart des kollektiven Umbruchs zum Ausdruck zu bringen. Hingegen plant Gorʹkij mit seinem Roman zunächst eine Kritik am politischen Verhalten bürgerlicher Intellektueller umzusetzen, wird aber – je mehr er sich ins Schreiben vertieft – von der konkurrierenden Idee, das Erfinden der Wirklichkeit und des eigenen Selbst durch den Menschen darzustellen, in eine andere Richtung gelenkt. Dieser Vorgang fängt mit der Problematisierung des epischen und historiografischen Erzählens an und führt über das kritische Hinterfragen der Reichweite der Anekdote und des Aphorismus als Medien des Geschichtsbewusstseins zur Kritik am Wort, welche die Wirklichkeit des Romans als eine fiktive kenntlich macht und im Wortstaub auflöst. Als Gewährsmann dieser Geschichtskritik dient beiden Autoren Friedrich Nietzsche: Sein Aufsatz »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« wird von Musil und Gorʹkij rezipiert, Nietzsches kritische Reflexion historisierender Praktiken wird beiden Romanen jedoch auf unterschiedlichen Ebenen eingeschrieben. Im »Mann ohne Eigenschaften« lässt sich der Erzähler eher allgemein durch die kritische Distanz zur Tätigkeit der Geschichtsschreiber und die essayistische Schreibweise Nietzsches inspirieren, während der Erzähler in »Klim Samgin« wesentlich enger an Nietzsches Gegenüberstellung der monumentalen und antiquarischen Geschichte anknüpft und sie in der Gestalt der beiden Geschichtserzähler inszeniert. In diesem Sinne lässt sich »Klim Samgin« als ein Versuch der kritischen Geschichte nach Nietzsche verstehen, der die vergangene Wirklichkeit auf ihr geistiges Potenzial hin untersuchen soll. Eine ähnliche Tendenz zur Revision der kollektiven Vergangenheit, die sie als Zeit verpasster Mög-

3. Reflexion

lichkeiten versteht, ist im »Mann ohne Eigenschaften« vertreten. Dabei schließt sich die Kritik der dargestellten Wirklichkeit mit der Kritik der herkömmlichen Möglichkeiten ihrer Darstellung zusammen, die für eine alternative Sichtweise des kollektiven Signifikanten plädiert. Die selbstreflexive Problematik beider Romane wurde von der Forschung unterschiedlich gehandhabt. Die ausgewiesene Kritik der traditionellen Erzählmuster bei Musil führte zu der Feststellung, dass im Roman keine Geschichtserfahrung und keine Erzählung mehr möglich seien. Es ist signifikant, dass beide Thesen weitgehend zusammenhingen. Es legt offen, dass auch nach den methodologischen Innovationen in der Historiografie des XX. Jahrhunderts mit ihren alternativen Erzählweisen die Erzählweise der politischen Geschichte immer noch als die idealtypische Erzählform schlechthin angesehen wird, auch wenn sie im Negativen, d.h. als anfechtbare, dogmatisierende etc. thematisiert wird. Entgegen der These, wonach der Verzicht auf die Darstellung politischer Geschichte in Musils Roman zum Verzicht auf das Erzählen führt, wird in der vorliegenden Untersuchung für die Sichtweise plädiert, dass der Roman die kollektive Vergangenheit erzählerisch bewältigt, wenn auch auf eine ungewöhnliche Weise. Dass Gorʹkijs Roman etwas anderes kann und tut, als verwerfliches Verhalten bürgerlicher Intellektuellen vor dem Hintergrund »historischer Notwendigkeiten« zu brandmarken, wurde in der längsten Periode seiner literaturwissenschaftlichen Rezeption zwischen den 1930er und 1990er Jahren aus ideologischen Gründen ausgeblendet. Die subtilen Textmarker, die das Vorhandensein der selbstreflexiven Ebene im Roman signalisieren, und die Veränderung des Romanprojekts im Schreibprozess konnten kaum wahrgenommen werden, wenn sich der Interpret sowohl in seinem Verständnis der russischen Revolution als auch in seinem Bewusstsein für die Anforderungen, welche die politische Gegenwart an ihn stellte, viel sicherer als der Romanautor selbst fühlte. Nachdem dieser Interpretationshorizont aufgebrochen war, beschäftigten sich ausgewählte Untersuchungen lediglich punktuell mit der Poetik der Geschichtsdarstellung im Roman, ohne – wie es im vorliegenden Kapitel geschah – die Reflexion der Geschichtserzählung in einem Zusammenhang mit der erzählerischen Metareflexion zu betrachten. Die maßgebliche Durchdringung des Erzählvorganges durch die Reflexion der Geschichtserzählung in beiden Romanen verstehe ich als symptomatisch für die Ausgestaltung der historischen Zeit. Das Bewusstsein dafür, wie brüchig die Erfahrung in diesem Bereich ist, bringt eine Sensibilisierung hervor, die den Einsatz der Erzählverfahren im Besonderen und die Bedingungen des fiktionalen Wortmediums im Allgemeinen betrifft. Das Bedürfnis nach der Reflexion des eigenen Vorgehens wird in beiden Romanen umso mehr gesteigert, als sich beide Autoren vom Paradigma der politischen Geschichte entfernen und damit den ausgetretenen Pfad verlassen, auf dem die Übertragungs- und Wiedereinschreibungsmuster der historischen Zeit praktiziert werden. Die Logik der kollektiven Ideenpraxis erschließt sich kaum geradlinig an den Fronten politischer Parteien, sondern erfordert einen erzählerischen Gang in die Gebiete der Denk- und Lebenspraxis einer Generation. Seine narrative Ausgestaltung steht im Mittelpunkt der folgenden Romananalysen, bei denen der pauschalen Übertragung der Thesen und Erfahrungen, zu denen sich beide Autoren im Prozess der Reflexion des eigenen Vorhabens durchringen, auf die narrative Ausgestaltung der Romane vor-

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Historische Zeit im Narrativ

gebeugt werden muss. Der Abstand zwischen der metareflexiven und der narrativen Ebene soll durch den Übergang zum nächsten Kapitel festgehalten werden, in dem das Auftreten der historischen Zeit in der narrativen Struktur in den Vordergrund der Betrachtung rückt.

4. Narration

Durch erzählerische Metareflexion wird in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« und Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin« die Notwendigkeit hervorgehoben, alternative Darstellungsebenen für das kollektive Geschehen abseits der Erklärungsmuster der politischen Geschichte zu finden. Der Schwierigkeit, historische Zeit auf der hochabstrakten Ebene des Zeitgeistes erzählerisch zu gestalten, wird in beiden Romanen durch die Modifikation tradierter Muster und die Konstruktion innovativer Übertragungsmechanismen entgegengesteuert, wie ich im vorliegenden Kapitel anhand der Textanalyse zeige. Am Anfang beider Romane werden die Grenzen der fiktiven Welt festgelegt, indem die Entscheidung darüber getroffen wird, was zum Erzählwürdigen gehört, welche wesentlichen Züge die fiktive Realität der Romane trägt und welche Handlungen und Handlungsmuster in ihr denk- und realisierbar sind. Diese Entscheidungen liegen hinter dem Horizont des erzählten Textes und sind somit kaum erkennbar, wenn man den Text als eine statische Gegebenheit betrachtet. Sieht man den Text jedoch nach Ricœur als ein dynamisches Gebilde an, das drei Stufen der mimēsis durchläuft, so lassen sich besonders am Anfang der Romane die Spuren dieser Entscheidungen als die Präfiguration auf der Stufe mimēsis I gut erkennen. Die kulturelle Realität, in der sich die Protagonisten beider Romane bewegen und der sie kritisch gegenüberstehen, wird in der Narration zunächst als eine Art Lebensrealität produktiv gestaltet. Sie wird in Musils Roman mit dem spezifischen Begriff des »Seinesgleichen« bezeichnet; eine ähnliche Vorstellung von der Wiederkehr der gleichen Denkschemata, welche die Wahrnehmung der Realität steuern, ist auch Gorʹkijs Roman eingeschrieben und entstehungsgeschichtlich im alternativen Romantitel »Seinesgleichen« (russ. »все то же«, TIP/43) belegt. Am Anfang beider Romane wird für die Darstellung dieser Realität auf das Erzählmuster der Generationenfolge zurückgegriffen. Vom Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« wird dabei die biologische Abfolge von Vorfahren und Nachkommen explizit verworfen und die Frage nach der geistigen Produktivität ins Zentrum des Generationenkonzeptes gestellt. Die Jugendfreunde Walter und Ulrich werden einander als Zeitgenossen gegenübergestellt, ihre Lebensstrategien in eine Beziehung zu den epochalen Veränderungen des Zeitgeistes gesetzt und die Frage nach der Fortpflanzung als

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Historische Zeit im Narrativ

eine Ausweichstrategie und heimliche Niederlage bei der Bewältigung des Zeitgeistes abgewertet. In Gorʹkijs »Klim Samgin« findet eine vergleichbare Abwandlung des Generationennarrativs statt, bei dem die politischen Taten der Vorgängergeneration im Lichte einer kulturellen Mission umgedeutet werden. Die Jugendfreunde von Samgin werden zu Zeitgenossen, indem sie den gleichen Gesprächen über das Wesen der kulturellen Realität beiwohnen und sich ihren Weg durch diese Salondebatten bahnen. Dabei werden die Liebessujets, die angesichts der Jugend der Figuren zahlreich auftreten, konsequent auf den Widerspruch zwischen dem die Realität transzendierenden Anspruch der Hochkultur und dem Alltag, vertreten durch die Semantik der domestizierten Tiere, bezogen. Der Streit um den Kulturbegriff und die Zukunft der kulturellen Aufklärung wird also mit einer ganzen Reihe von Liebessujets verschränkt und grenzt den Raum der Möglichkeiten der Sujetentwicklung und dadurch letztendlich auch der fiktiven Realität des Romans ein. Stellen Kultur oder Zeitgeist die ursprüngliche Realität dar, in welche die Protagonisten beider Romane eingeschrieben werden, so erfordert die Darstellung ihrer Dynamik in Form einer Fabel eine Anpassung herkömmlicher Erzählmuster. Im zweiten Kapitel meiner Romananalysen stelle ich die für die Fabelanalyse zentrale Kategorie des Ereignisses vorerst in Frage und unterstelle den Romanen nicht vor vornherein einen wie auch immer gearteten Ereignisbegriff. Die Frage, auf welcher Ebene sich die Ereignisse in beiden Romanen abspielen, welche Eigenschaften diese Ereignisse haben und wie sie in der Erzählung umgesetzt werden, muss durch die analytische Textarbeit geklärt werden, die ich im zweiten Kapitel meiner Romanalysen für jeden Roman gesondert beantworte. Die Ereignishaftigkeit beider Romanerzählungen steht u.a. auch deshalb zur Debatte, weil dem Ereignis im Paradigma der historischen Zeit die Funktion der punktuellen Verschränkung zwischen den Reihen der subjektiven Zeiterfahrung und der kollektiven Zeit zukommt. Findet also die historische Zeit Eingang in beide Romane, so werden darin spezifische Momente der Einsicht in die kollektive Dynamik konstruiert, die Bachtin als die Aufgabe beschrieb, einen »inneren Aspekt« für die kollektive Zeit zu finden« (Chr/151). Wie ich zeige, entsteht dieser »innere Aspekt« in der Auseinandersetzung des Protagonisten mit den Salondebatten. Der Protagonist des »Mann ohne Eigenschaften« besucht den Schauplatz der politischen Geschichte, die kaiserliche Hofburg, um sich von der seltsamen »Wirklichkeit« dieses Platzes zu überzeugen und zu distanzieren; die Fäden des Sujets werden nicht dort, sondern in den Anfängen der Parallelaktion im Laufe der Unterhaltungen im Salon seiner Cousine sowie während des Verfassens diverser Schriftstücke geknüpft. Auch das Sujet des Protagonisten entsteht auf einer rein mentalen Ebene, in seiner Reflexion des eigenen Werdeganges; der Gedanke spielt auf beiden Ebenen des Sujets die zentrale Rolle, er wird ereignishaft. Eine ähnliche Entwicklung durchläuft in »Klim Samgin« die Idee der Revolution, die im Roman im Umfeld der Salondebatten präsentiert wird. Auch wenn die Schreibweise Gorʹkijs im Vergleich zu Musil weniger essayistisch ist, ergibt sich aus der Montage der Dialogrepliken im Rahmen der St. Petersburger Episode die offene Frage nach der Revolution als einer kulturellen Erneuerung, die – ähnlich wie das Anliegen der Parallelaktion in Musils Roman – die besten kulturellen Bestrebungen der Zeit reali-

4. Narration

sieren soll. Eine bedeutende Rolle spielt dabei sowohl in Musils als auch in Gorʹkijs Romanen die Ablösung des Positivismus durch die europäische Décadance: Im Kontext dieser epochalen Wende wird die Frage nach der Möglichkeit einer vernunftgeleiteten Transformation der Gesellschaft und der Beherrschung des Zeitgeistes überhaupt erst gestellt. Im dritten Kapitel meiner Romananalysen zeige ich die Stationen der Entwicklung des doppelten Sujets auf, bei dem sich das Sujet des Protagonisten mehrfach mit dem Sujet der Parallelaktion/Revolution kreuzt. Die Romane, in denen eine Idee für die kulturelle und gesellschaftliche Wende gesucht wird, erhalten durch die Konstruktion eines offenen Erwartungshorizontes aus der Perspektive der Figuren, die über den negativen Ausgang dieser Entwicklung nichts wissen, sujethafte Dynamik. Die Basis der zweiten Sujetlinie bietet der Konflikt, in dem sich die Protagonisten beider Romane zu den kollektiven Prozessen befinden. Ihre Kritik an der kollektiven Suche nach einer Idee und Versuche, sich ihrer zu bemächtigen, tragen in der Erzählung wesentlich zur Entwicklung des doppelten Sujets bei. Ich betrachte also die Fabelkomposition beider Romane in ihrer Dynamik. Sie hat einen Anfang, bei dem eine Übereinkunft über die Eigenschaften der fiktiven Welt getroffen und der doppelte Sujetknoten geknüpft werden (erstes und zweites Kapitel meiner Romanalysen) und einen komplexen Verlauf, der zu bestimmten Erkenntnissen führt (drittes Kapitel meiner Romanalysen). Nachdem ein Fazit der kollektiven Entwicklungen gezogen wird, wird das doppelte Sujet hinfällig. Es weicht ungefähr in der Mitte beider Romane einer neuen Qualität der Handlung, wird in eine utopische Perspektive transformiert. Diese Entwicklungen beobachte ich im vierten Kapitel der jeweiligen Romanalyse als den Prozess der schrittweisen Stilllegung der historischen Zeit, der einiges über ihre Verankerung in den narrativen Strukturen aussagt. Mit dieser letzten Beobachtung schließe ich meine Analyse der historischen Zeit in Musils und Gorʹkijs Romanen ab. Die Ergebnisse beider Romanlektüren werden zweifach ausgewertet: Zum einen wird ein Zwischenfazit jeder Romananalyse formuliert, zum anderen im Fazit und Forschungsausblick die Bilanz beider Romanalysen vor dem Hintergrund der theoretischen Annahmen der vorliegenden Arbeit gezogen.

4.1

Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«: »… im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere«1

Das Erzählen darüber, dass »Krieg wurde, werden mußte«,2 gehört zu den erklärten Intentionen des Romanautors. Trotzdem bleibt in der Forschung bislang die These recht beliebt, dass Musil angesichts der Erfahrung des Kriegsausbruchs seinen Roman im Zeichen des Verzichtes auf das Erzählen gestaltet hat. So stellt Kai Evers in seinem Aufsatz aus dem Jahr 2009 erneut die Frage nach der Verwirklichung von Musils Ab-

1 2

MoE/B1/108. Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14.

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Historische Zeit im Narrativ

sicht, das Zustandekommen des Krieges zu erklären, um festzustellen, dass im Roman kein konsequenter Erklärungsansatz vorhanden sei: Wie steht es nun mit Musils Ankündigung, dass der Roman zeigt, wie es zum Krieg kam und kommen müsste? Als Nachgeborener kann man Vorzeichen des Krieges im Roman wiederfinden, aber sie fügen sich zu keiner Kriegsursachenanalyse zusammen. Sicherlich ist es den Protagonisten in unterschiedlichen Graden bewusst, dass Krieg kommen kann. Oder vielleicht hat der Krieg schon begonnen? Ulrich ist nicht immer der aufmerksamste Beobachter der Zeitgeschichte.3 Tatsächlich kann man im Roman wohl nur »Vorzeichen des Krieges« entdecken, wenn man darin als »Nachgeborener« nach aus anderen Kontexten bekannten politischen Verwicklungen, Akteuren und sonstigen Informationen sucht. Solchen Nachforschungen stellt sich der Roman entgegen, vor allem weil seine Figuren und der Plot der Parallelaktion frei erfunden sind. Trotzdem kann man kaum behaupten, dass im Roman keine Analyse von Kriegsursachen betrieben wird; im Sinne der politischen Geschichte, von deren Verfahren sich der Romanerzähler – wie oben bereits diskutiert wurde – sorgfältig absetzt, gewiss nicht, doch muss eine literarische Beschäftigung mit der Vergangenheit zwingend diesem Muster folgen, um die Validität des eigenen Erklärungsansatzes zu wahren? Wie ich im Kapitel »Theorie« thematisiert habe, bestehen in theoretischer Hinsicht durchaus Möglichkeiten, »Geschichte« auch im wissenschaftlichen Kontext auf unterschiedliche Art und Weise, je nach Grundverständnis der kollektiven Zeit, zu erzählen. Desto wahrscheinlicher und selbstverständlicher ist die Freiheit der literarischen Narrative, der historischen Zeit einen alternativen und sogar experimentellen Ausdruck zu verleihen. Als einen solchen Versuch, die historische Zeit abseits der gängigen Muster politischer Geschichte zu gestalten und dadurch ein »eigenwilliges Dokument intellektueller Zeiterfahrung«4 zu entwerfen, interpretiere ich Musils »Mann ohne Eigenschaften«. Die zentrale These der vorliegenden Romanlektüre besteht darin, dass die historische Zeit im »Mann ohne Eigenschaften« auf der Ebene der kollektiv signifikanten Abstraktionen gestaltet wird. Um der Dynamik des »perennierenden ideologischen Substrats«5 gerecht zu werden, muss Musil als Erzähler die traditionellen Genrestrukturen an die neue Aufgabe anpassen.6 Von den ersten Seiten an kunstvoll konstruiert, bekommt die abstrakte historische Zeit im »Mann ohne Eigenschaften« einen besonderen Wirklichkeitsstatus. Sie prägt die Erzählweise und den Handlungsaufbau des »Mann 3

4 5 6

Evers, Kai: »›Krieg ist das Gleiche wie aZ‹: Krieg, Gewalt und Erlösung in Robert Musils Nachkriegsschriften«, in: Feger, Hans/Pott, Hans-Georg/Wolf, Norbert C. (Hg.), Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit, München: Fink 2009, S. 227-250, hier S. 248. Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 258. Brief von Robert Musil an Marcel Faust. Musil, Klagenfurter Edition, Band 19. Vgl. Musils explizite Hinweise auf die beabsichtigten Modifikationen der Romanform: »Ich will ja eigentlich gar nicht einen ›intellektuellen‹ Roman schreiben, sondern einen traditionellen, der Intellekt hat!« (VII/3/4, Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles); »…die Aufgabe von heute, wie weit ich sie nun gelöst habe oder nicht, besteht für mich darin, die Form des Romans nicht aufzugeben, sondern aufnahmefähig für die Inhalte zu machen, die ihr neu erwachsen sind.« (Brief von Robert Musil an Walther Petry, 4. März 1931. Musil, Klagenfurter Edition, Band 19)

4. Narration

ohne Eigenschaften«, woraus sich andere Möglichkeiten des Handlungsaufbaus ergeben, als sie traditionelle Erzählschemata des Romans bereithalten. Musils Art der Darstellung des abstrakten »Überbaus« als geschichtstragender Substanz deute ich anders, als es im Rahmen einiger ideologiekritischer Lektüreansätze geschah. Auch wenn die vorliegende Untersuchung diesem Strang der Musil-Forschung entscheidende Impulse verdankt, lässt sich meine Kritik daran am Beispiel von Stefan Howalds Untersuchung verdeutlichen. Laut Howald »verschärft Musil das Verfahren zur satirischen Entlarvung und entwickelt dabei eine besondere Form der Auseinandersetzung mit Weltanschauungen und Ideologien«, die Howald nach Götz Müller als »ästhetische Ideologiekritik« bezeichnet.7 Ihr Wesen sieht Howald in zwei Verfahren: einer Individualisierung, d.h. der Fundierung bestimmter Theoreme in den konkreten Lebensumständen einer Figur. Ideologien werden dadurch kritisierbar, indem gezeigt wird, wie sie privaten Problemen entspringen und bestimmten Interessen dienen, [und] einer Praxiserprobung, d.h. der versuchsweisen Umsetzung bestimmter Theoreme in eine Handlung. Weltanschauungen und Ideologien werden dadurch kritisierbar, indem gezeigt wird, dass sie konkreten Bedingungen der (Roman)Wirklichkeit nicht angemessen sind.«8 Obwohl die Erzählung des »Mann ohne Eigenschaften« die schiefen Züge der kollektiven Ideenpraxis in ihrer Interdependenz mit der subjektiven Welterfahrung der Figuren reflektiert, bedeutet m.E. die Polarisierung zwischen der Ebene der Ideen und Ideologien und der Ebene der wie auch immer verstandenen Lebenspraxis eine Simplifizierung, die dem »Mann ohne Eigenschaften« nicht im vollen Umfang gerecht wird. Hierbei schließe ich mich der polemischen Stellungnahme Gunter Müllers an, die er in Bezug auf die übergeordnete Problematik – Musils Erfahrung der Moderne – äußerte: »Musil vertritt dabei eine radikale Position, die im von der Kritischen Theorie beeinflussten Paradigma der Entfremdung […] nicht zureichend erfasst werden kann.«9 Wie ich in meinen Romanalysen zeige, wird der kollektive Ideenaustausch im Roman als eine Art autonomer Realität mit ihrer eigenen Handlungsdynamik aufgefasst. Der Roman, der soziale Kodierungen in Hülle und Fülle enthält,10 integriert sie nach einer alternativen Logik in den Handlungsentwurf, der die Eigendynamik des Zeitgeistes zum Ausdruck bringen muss.

4.1.1

Zeitdiagnose als Romaneinstieg

Musils »Eine Art Einleitung«, die dem Teil »Seinesgleichen geschieht« vorangestellt ist, führt den Leser in die Grundbegriffe dessen ein, was Musil »Seinesgleichen« nennt. Die Art seiner erzählerischen Inszenierung wurde in der Musil-Forschung eher beiläufig als Produkt einer Negation des Wirklichen betrachtet, die der Romanerzähler in Hinblick auf den Möglichkeitssinn betreibt. Hingegen gehe ich mit meiner Lektüre detaillierter

7 8 9 10

Howald: Ästhetizismus, S. 370. Ebd., S. 371. Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 253. Vgl. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion.

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Historische Zeit im Narrativ

auf die narrative Konstruktionsverfahren des »Seinesgleichen« ein, das ich als eine spezifische Art der Interpretation der kollektiven Zeit verstehe, die sich in »Einer Art Einleitung« aus unterschiedlichen Elementen zusammensetzt. Zunächst wird am Anfang der Romanerzählung – im ersten Kapitel des Romans – durch den narrativen Verzicht auf die fokalisierende Instanz eine Wahrnehmungskrise simuliert, die den Bruch zwischen individueller Zeitwahrnehmung und kollektiver Zeitdimension in der Erzählung markiert. Daraufhin wird diese Bruchstelle mit ausgewählten Elementen sozialer Realität (Stil, Geschmack, geistige Trends, Ideen etc.) ausgefüllt, deren Gesamtheit ein spezifisches Zeitbild ergibt. Dieses Zeitbild wird nicht nur in den essayistischen Passagen direkt erläutert, sondern tief in den Erzählstrukturen des Textes verankert: Es prägt die Biografie des Protagonisten, seinen zentralen Konflikt (mit der Zeit), sein räumliches (Haus und Wohnung) sowie privates (Liebhaberinnen, Jugendfreunde, Vater) Umfeld.

4.1.1.1

Das erste Kapitel: Orientierungslosigkeit im Horizont der kollektiven Zeit

Über den Anfang des »Mann ohne Eigenschaften« wurde viel geschrieben: Besonders das erste Kapitel »Eine Art Einleitung« erfreut sich großer Beliebtheit in der Forschung.11 Wolfdietrich Rasch verlieh ihm den hohen Rang einer »Darstellung des Weltzustandes im 20. Jahrhundert«.12 Sein komplexes Spiel mit Lesererwartungen lieferte u.a. Belege für solche Argumente wie Kontingenz der Erfahrung, Absage an das lineare Erzählen, Überlagerung der Erzählung durch essayistische Passagen, Fragmentarisierung u.s.w. Dem Erzähler gelingt es tatsächlich, dass aus dem Kapitel, »aus dem bemerkenswerterweise nichts hervorgeht« (MoE/B1/9), tatsächlich nichts hervorgeht, d.h. keine Handlung, keine Handelnden und keine Botschaft. Seit Helmut Arntzens Romankommentar gilt auch in Bezug auf die folgenden 18 Kapitel, dass die Erzählung an dieser Stelle als äußerst disparat eingeschätzt wird, so Inka Mülder-Bach in ihrer jüngsten Interpretation unter Anknüpfung an Arntzen: Der Erzähler vermittelt Situationen, Reflexionen und Begebenheiten, die alle mehr oder weniger gleichzeitig zu sein scheinen, ohne daß unmittelbar einsichtig wäre, wie sie zusammenhängen.13 Trotz (oder dank) einer solchen losen Verknüpfung schafft es die Verfasserin, den ersten Teil als »eine überstrukturierte und übermotivierte Konstruktion«14 zu lesen. Vor allem schließe ich dabei an die folgende Beobachtung an:

11

12 13 14

Alexander Honold spricht diesbezüglich von »erstaunlicher Einmütigkeit« in Bezug auf die »Lektürepräferenz derjenigen Interpretationen, welche die gesamte Extension des Romans zum Gegenstand haben« und bei welchen trotzdem das erste Kapitel des Romans »den prominentesten Rang und den bei weitem größten Umfang« einnimmt (Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 15). Vgl. auch seinen Überblick über die Interpretationsansätze (S. 36-49, 81-87, 109-115) sowie die kritische Stellungnahme zur Lesart des Kapitels als »Beweisstück für Musils literarische Modernität« bei Martens: Beobachtungen der Moderne, 259ff. Die jüngste ausführliche Lektüre vgl. MülderBach: Robert Musil, S. 22-73. Rasch: »Der Mann ohne Eigenschaften«, S. 86. Mülder-Bach: Robert Musil, S. 75. Ebd., S. 173.

4. Narration

Der Roman macht, weit davon entfernt, an temporalen Verhältnissen desinteressiert zu sein, die Zeit in der Darstellung dieser Erfahrung in jeder nur denkbaren Hinsicht zum Thema.15 In dieser Annäherung an das Kollektivum »Zeit« aus mehreren Perspektiven im Zuge sorgfältiger und umfangreicher Erzählmanöver liegt – so meine These – der Zusammenhang des ersten Teils. Die Romanhandlung fängt damit zwar nicht unmittelbar an, aber es werden Voraussetzungen dafür geschaffen, indem im Hintergrund der Erzählung in mehreren Anläufen das Bild der »Zeit« entworfen wird, dem einige spezifische Eigenschaften zugesprochen werden. Hier kann man die Wirkung der Mechanismen narrativer Selektion beobachten, die der historischen Zeit auf der Ebene mimēsis I (Ricœur) im Roman ihr individuelles Profil verleihen. In dieser Hinsicht gibt die Exposition der Handlung im ersten Teil des Romans am besten Aufschluss darüber, wie im Roman der Raum der künftigen sujethaften Möglichkeiten eingegrenzt wird. Das erste Romankapitel fängt aus der Vogelperspektive mit einer ausgedehnten meteorologischen Beschreibung an, der eine knappe und konventionelle literarische Formel »es war ein schöner Augusttag 1913« (MoE/B1/9) entgegengestellt wird. Fortgesetzt wird das Kapitel durch die Beobachtung des Wiener Stadtbildes, wobei es zugleich für unwichtig erklärt wird, dass es Wien sei. Dieser Textabschnitt trägt eine besondere Funktion, denn er wirkt an der Entstehung des Romanchronotopos mit, indem er – der treffenden Beobachtung von Alexander Honold nach – das durchgestrichene Wien und die Chiffre des signifikanten Datums August 1914 als Ankündigung des Schauplatzes und des Zeitraums der Handlung in sich trägt. Honolds Aufmerksamkeit gilt der besonderen Qualität eines solchen Chronotopos, der als eine punktierte Linie hinter dem Horizont der Romanwelt liegt und die raumzeitliche Stratifikation der Handlung durch Hinweise auf die Stadt Wien und durch das Vorwissen des Lesers um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 prägt: ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ ist ein Großstadtroman, der sein Thema verfehlt, ist Gesellschaftsroman einer Epoche, deren Krankheit zum Kriege darzustellen dem Erzählwerk bereits seine Einleitung aufgibt, ohne diesen auch nur zu erwähnen.16 Diese These behält ihre Gültigkeit in Bezug auf die Referenzfunktion temporaler und topografischer Hinweise auf das Datum 1914 und die Stadt Wien. Wie Honold zu Recht betont, erschafft der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« mit dem ersten Romankapitel »ein Modell chronographischen und topographischen Eigensinns[…], dessen Wirklichkeit unterdeterminiert und ungreifbar bleibt«.17 Doch erscheint der Schluss darauf zweifelhaft, dass Musils Gesellschaftsroman mit der Einführung eines solchen Modells aufgibt, die »Krankheit zum Kriege« der Vorkriegszeit darzustellen – vor allem scheint sich diese These an den umfangreichen Nachweisen der Relevanz der Kriegsmotive zu relativieren, die Honold in seiner Untersuchung erbringt. Musils »Modell des chronographischen und topographischen Eigensinns« ist also zwar durchaus von der durchgestrichenen Referenz auf das Datum August 1914 und den Handlungsort Wien her zu 15 16 17

Ebd., S. 77. Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 23. Ebd.

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Historische Zeit im Narrativ

begreifen, erfüllt ihren Zweck jedoch nicht in der Negation der Darstellungsaufgabe, sondern ist durch eine bedeutsame Modifikation des Handlungsschauplatzes geprägt. Im ersten Kapitel wird die Fabel des Romans der Aufgabe direkter Referenz auf sogenannte »Realien einer Zeit« enthoben, indem der Leser statt einer Handreichung in Form der Einführung in das anderweitig bekannte Bild der Stadt und politischer Ereignisse unmittelbar vor das Dilemma gestellt wird, die ich an einer früheren Stelle mit Ricœur und Bachtin als das zentrale Problem der menschlichen Zeiterfahrung charakterisiert habe: Man wird mitten in den Fluss der kollektiven Zeit getaucht, die in sich dynamisch, aber subjekt- und sinnlos bleibt. Das wird durch eine weitgehende Entperspektivierung des Textes ermöglicht, in dem weder die Instanz des Erzählers noch eine Figur die Rolle der fokalisierenden Instanz übernimmt. Das Kompositionsexperiment, das im ersten Kapitel des Romans unternommen wird, besteht dabei nicht im Ausbleiben der Fokalisierung, da sie beinahe automatisch jeder sprachlichen Äußerung innewohnt, sondern gestaltet sich als konsequente Verweigerung einer solchen seitens des Erzählers. Die beiden bestimmenden Faktoren – Raum und Zeit – werden im ersten Schritt angedeutet und im zweiten in einer ironischen Wendung lediglich für unbedeutend erklärt. Die Bedeutung der Frage, wo man sich befinde, stammt laut Erzähler »aus der Hordenzeit« (MoE/B1/10). Den weiteren Argumenten zufolge, bestünden in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus Möglichkeiten, genaueste Angaben über solche Gegenstände wie die rote Farbe einer Nase zu machen. Dies sei bis auf die Wellenlänge möglich, meint der Erzähler, doch man begnügt sich damit, zu sagen, dass die Farbe Rot und die Stadt ihrem Gang nach eindeutig Wien sei. Dabei werden nicht nur die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen und einer literarischen Welterkenntnis gegeneinander ausgespielt, sondern auch die Mechanismen einer Erzählung, die wesentlich auf intuitiven Annahmen aufbaut, in Frage gestellt. Die Ausführungen des Erzählers münden in den Satz, dass das Insistieren auf der Frage, wo man sich befinde, von Wichtigerem ablenke. Also geht die Beantwortung dieser Frage, egal ob wissenschaftlicher oder traditionell-literarischer Natur, grundsätzlich am Erkenntnisschwerpunkt des Textes vorbei. Doch macht der Erzähler nicht die leiseste Andeutung darüber, was dieses Wichtigere ist, um dessen Willen man sein Wissen um einen festen Punkt in Zeit und Raum aufgeben soll. Durch diese Problematisierung, die ins Leere läuft, umgeht der Erzähler spielerisch die Aufgabe, sich auf eine Betrachtungsperspektive festzulegen, und verfährt auch weiterhin in der gleichen Weise, wenn er zwei Figuren in das Bild der pulsierenden Verkehrsstraßen einführt, die in ihrer anthropomorphen Natur dem Leser doch einen möglichen Bezugspunkt versprechen. Diese Erwartung wird im nächsten Schritt durch ein ironisches Bild der Welt- und Selbstwahrnehmung von beiden Figuren gebrochen, deren Namen täuschend und am Ende auch unwichtig sind, deren soziale Identität ihnen »bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt« (MoE/B1/11) ist und sich als einfache Annahme erweist. Sie reagieren auf einen Unfall, indem sie eine Reihe von Zuständen (kaum bewusstes Mitleid, das Gespräch über Unfallstatistiken, Bekundung der Hoffnung, der Betroffene möge doch noch leben) durchlaufen, wodurch der Unfall vollständig aus der Welt geschaffen wird. Laut Gunther Martens wird dadurch »die Gesellschaft […] in ein gleichsam indifferentes Kräftespiel von blinden, nicht-intentionalen

4. Narration

Kräften und statistischen Größen transformiert«.18 Die zwei anonymen Figuren übernehmen im Stadtbild die Funktion von Prototypen, die lediglich als universale Vertreter, aber nicht als Identifikationsinstanz dienen können. Sie werden als Funktionsteile eines Stadtbildes vollständig darin aufgelöst: »Sowie nämlich das physiognomische Profil der Stadt (Wien) ›durchgestrichen‹ wird, ist auch die Identität der Figuren eine durchstrichene [sic].«19 Der Leser wird hierbei wiederholt um seine Erwartung gebracht, ein Sinnangebot für das Erzählte zu bekommen. Die »fünf Ironien« des ersten Kapitels, mittels derer der Erzähler »seine Macht [demonstriert], Illusion herzustellen oder zum Verschwinden zu bringen«, sowie sein »Verfügungsrecht über das sogenannte ›Wissen von der Welt‹« ankündigt,20 halten gleich zu Beginn des Romans die raumzeitliche Situierung des Erzählens in der Schwebe. Als endloser Hintergrund ohne Vordergrund, eine Landschaft ohne wahrnehmendes Auge und Perspektive ruft das Wiener Stadtbild des ersten Kapitels den Eindruck des Abgleitens am Text hervor. Die konsequente Verweigerung der fokalisierenden Instanz hat zur Folge, dass auch das Lesen unter erschwerten Bedingungen stattfindet und manch eine Selbstverständlichkeit des Erzählvorganges in Frage stellt. In dieser Hinsicht stellt der Anfang des »Mann ohne Eigenschaften« einen interessanten Fall für die Erzähltheorie gerade im Kontext der literarischen Moderne dar, für die eher die forcierte Perspektivierung bis hin zum Bewusstseinsstrom als typisch gilt. Der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« unterscheidet sich jedoch auch prinzipiell von dem auktorialen Erzähler des klassischen Romans des XIX. Jahrhunderts, so Inka Mülder-Bach: Ein allwissender, gottgleicher Erzähler bzw. ein Erzähler, der über »vollständige Information« verfügt, hätte die beiden anonymen Menschen identifizieren und das Ereignis beobachten können. Er hätte angeben können, was der Fall war. Der Erzähler der Fiktion, die in diesem Fall zugleich eingesetzt und ausgesetzt wird, hat das Ereignis verpaßt [sic!]. Er ist Teil einer Welt, in der es etwas gibt, was man nicht wissen kann und was mit den Grenzen dieser Welt zu [tun] hat.21 Der Erzähler des ersten Kapitels setzt die Erfahrung der urbanen Lebenswelt in einen – dem treffenden Ausdruck von David Wächter nach – »Abstraktionsstil« um, bei dem »die Stadt weniger als anthropozentrische Lebenswelt handelnder Akteure, sondern als ein Ensemble von Kräften erscheint, die simultan aufeinandertreffen und unberechenbar bleiben.«22 Dieser Effekt der sich chaotisch ausbreitenden Oberfläche, in der jeglicher Bezugspunkt anthropomorpher Natur fehlt, interpretierte auch Alexander Honold im Zeichen der modernen Großstadterfahrung und wies in diesem Zusammenhang auf den unwirklichen Charakter, den das vom konkreten Stadtbild abstrahierte Großstadtmodell bei Musil trägt:

18 19 20 21 22

Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 263. Ebd., S. 265-266. Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 378. Mülder-Bach: Robert Musil, S. 196. Wachter, David: Konstruktionen im Übergang. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn, Freiburg, Br: Rombach 2013, S. 51.

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Historische Zeit im Narrativ

Da ist zunächst, am Ausgangspunkt des Erzählens, die Erfahrung der modernen Großstadt, die durch beschleunigte Verkehrs- und Warenströme und intensivierte Wahrnehmungsanforderungen räumliche Orientierung aus dem anthropozentrischen Gesichtskreis immer stärker in die Unwirklichkeit abstrakter und funktionaler Relationen verschiebt.23 Vor diesem weitgehend abstrahierten, modellhaften Hintergrund der Großstadt fungiert der Erzähler des ersten Kapitels des »Mann ohne Eigenschaften« als ein pro forma auktorialer Erzähler, der den Leser konsequent im Stich lässt, um ihn im Strom des kollektiven Zeit – dargestellt am Beispiel der modernen Großstadt – zunächst ihre Sinnlosigkeit und Unzugänglichkeit spüren zu lassen.24 Doch er tut es – so meine These – nicht ganz selbstlos, sondern damit der Leser umso bereitwilliger das Sinnangebot annimmt, das er im Laufe der nächsten Kapitel unterbreiten wird. Denn Musils Erzähler fährt keineswegs in diesem Geist des kontingenten Erzählens fort, sondern bedient sich bereits ab dem zweiten Kapitel des Protagonisten als einer fokalisierenden Instanz und entfaltet ab dann eine Art Epochenerzählung, in der sich beide – der Erzähler und der Protagonist – fortan bewegen werden.

4.1.1.2

Die Qualitäten der Zeit und Ulrichs Opposition

Im zweiten Kapitel »Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften« erfolgt ein signifikanter Wandel in der Erzählsituation, indem der Protagonist Ulrich eingeführt wird. Der Weg durch die Straßen führt zu seinem Haus, wo Ulrich am Fenster steht und mit der Uhr in der Hand die Bewegungen der Passanten zählt. Das Problem der Messbarkeit der kollektiven Größe Stadt wird wieder aufgenommen und neu interpretiert. Ulrich schätzt »die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendigen Kräfte vorüberbewegter Massen« (MoE/B1/14), wobei die Uhr als Instrument der exakt-wissenschaftlichen Abmessung eine Lösung für das Problem verspricht, dem man bereits im ersten Kapitel begegnete: der genauen Definition der Stadt als komplexes Gebilde, die auf mathematischer Abmessung solcher Größen wie Geschwindigkeit und Winkel beruht. Doch stellt Ulrich nach einer Weile fest, »dass er Unsinn getrieben habe« (MoE/B1/14). Der Versuch einer exakten Messung wird wieder als belanglos zurückgenommen, worauf Ulrich einen Deutungsversuch unternimmt: Laut Ulrich ist die Leistung eines Einzelnen im Verkehrsfluss größer als die Kraft, »die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen« (MoE/B1/15). Daraus ergeben sich zwei Schlüsse. Einerseits trägt jeder Bürger eine Bürde der alltäglichen Handlungen, die mehr Energie verlangt, als eine heroische Tat. Andererseits geht die Einzelleistung in der Summe kollektiver Leistungen unter: »Man kann tun, was man will; […] es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten darauf an!« (MoE/B1/16). Diese Schlussfolgerung wiederholt das Argumentationsmuster, das im ersten Romankapitel eingeführt wurde: das »Gefilz von Kräften« auf Wiens Straßen lässt sich zwar anhand diverser Merkmale definieren, doch lenken diese Definitionsversuche lediglich »vom Wichtigeren« ab, worauf es tatsächlich ankomme. Das spürbare Treiben, 23 24

Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 26. Beachte die Kapitelstichworte nach Blatt AE 10: »Einleitender Akkord. Unfestigkeit, Gestaltlosigkeit, Unsicherheit, Ohnmacht« (II/4/44, Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles).

4. Narration

die komplexen Wallungen des Stadtbildes ergeben zwar sichtbare Vektoren, ihre Richtung und ihr Sinn bleiben jedoch unter der Bewusstseinsschwelle des Beobachters, können erahnt, aber nicht benannt werden. Aus der Inkompatibilität der Maßstäbe zwischen dem Individuum und der kollektiven Größe Stadt ergibt sich für den Einzelnen sowohl Freiheit, sich nach Belieben in der Gemeinschaft einzurichten, als auch Wirkungslosigkeit in Bezug auf das gesellschaftliche Ganze. Diese Problematisierung bedeutet trotz ihres Gestus der intellektuellen Resignation einen qualitativen Unterschied zum Blick auf das unüberschaubare Feld der kollektiven Dynamik, die im Sinnbild pulsierender Straßen der anonymisierten Stadt veranschaulicht wurde, da diesem Hintergrund fortan ein Beobachter zugeordnet wird. Besonders die Tatsache, dass dieser Beobachter um die Schwierigkeit der rationalen Erkenntnis der kollektiven Zeit weiß und die Möglichkeiten ihrer Logifizierung durch mathematische Abmessung und statistische Modellierung relativiert, macht den Protagonisten zum wirkungsvollen Instrument des Erzählers. Mit seiner Einführung werden dem Erzähler die Hände entfesselt, die Erzählung fängt an, Sinn zu produzieren, und der sich ausbreitende topografische Hintergrund wird durch die Perspektive eines anthropomorphen Beobachters (man25 ) unter dem Stichwort »Zeit« im Sinne von epoché (griech. Haltepunkt)26 gebunden und zusammengefasst: Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht glauben wollen, aber schon damals bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkameel; und nicht erst heute. Man wußte bloß nicht, wohin. Man konnte auch nicht recht unterscheiden, was oben und unten war, was vor und zurück ging. (MoE/B1/16) In dieser Passage transformiert sich die Problematik der Messbarkeit der Stadtbewegung in die Frage nach den Möglichkeiten, Bewegung der Zeit zu verstehen. Die Leichtigkeit, mit der Musil hier das Wort »Zeit« einsetzt, soll über die komplexe Natur des Überganges zwischen dem Bild der Stadt und dem Bild der Epoche nicht hinwegtäuschen: Wenn der Romanerzähler »Zeit« sagt, meint er nicht mehr die abstrakte physikalische Größe, deren Bewegung Ulrich mit einem Messgerät in der Hand verfolgte, sondern die viel schwieriger messbare Einheit des kollektiven Wandels. Die Schwierigkeit ihrer Erfassung wird in der zitierten Passage besonders hervorgehoben: weder ihre

25

26

In Bezug auf die Verwendung des Pronomens »man« bei Musil stellt Martens fest, dass die »Figurenhandlung mit explikativen, aufs Allgemeine zielenden Vergleichen überfremdet werden«, vgl. auch weiter: »Durch den sehr weit ausgreifenden ›man‹-Kommentar wird die Handlung einer Figur repräsentativ für eine historische (›heute‹) Psycho-Struktur, wenn nicht für eine zeitlose institutionell-anthropologische Struktur. Erneut ist die Performativität kollektiver Ereignisse stärker als die individuelle Willensentscheidung« (Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 175). Die Kontraintuitivität solcher man-Kommentare bei Musil liegt m.E. darin, dass sie der Vorstellung von einer Figur als Individuum entgegensteuern: Die Psyche der Figuren wird an der Schwelle zwischen der Ebene des Privaten und Persönlichen und des Kollektiven und Unpersönlichen positioniert, vgl. dazu das Kapitel 5.1.2.2. der vorliegenden Arbeit. Vgl. zum altgriechischen epoché-Begriff als der »den griechischen Skeptikern entlehnte[n] phänomenologische[n] Kardinaltugend […] der affektneutralen Distanz des erkennenden Subjekts« bei Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 148.

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Historische Zeit im Narrativ

Richtung (»man wußte nicht, wohin«) noch ihre Bestandteile (»was oben und unten war, was vor und zurück ging«) lassen sich aus der Perspektive der Beteiligten erkennen. Mit dieser Beschreibung der Bewegung der »Zeit« oder Epoche im Tempo des »Reitkameels« wird in die Kluft zwischen dem nicht-fokalisierten Bild der Stadt und dem wahrnehmenden Auge des Protagonisten seitens des Erzählers ein Bild vorgeschoben, das den kollektiven Wandel als Bewegung der Zeit reflektiert und einen Ansatz dazu enthält, die kollektive Zeit wahrnehm- und erzählbar im Sinne der historischen Zeit zu machen. Dieses Bild und nicht die reflexiv faktisch nicht hintergehbare Einheit der Stadt wird den Hintergrund der Handlung des »Mannes ohne Eigenschaften« bilden und es ermöglichen, dass der »Mann ohne Eigenschaften« als »Zeitroman« gelesen werden kann, in dem »eine auktoriale Stimme sich bemüht, mit Repräsentativität für eine bestimmte Epoche zu sprechen«27 . Der Protagonist, der sich in eine Beziehung zur kollektiven Zeit setzt, vollzieht somit reflexiv die Übertragung, die ich mit Ricœur und Bachtin als zentrales Muster der historischen Zeit beschrieben habe: den Übergang zwischen der subjektiven Zeit des Ich und der subjektlosen Zeit der Welt. Dieser Übergang kann zwar nie vollständig durchgeführt werden und stellt – wie der sich vom Fenster abwendende Protagonist eindrucksvoll demonstriert – einen nie bis zum Ende ausführbaren Übertragungsgestus dar. Doch verdichtet er sich im Fortgang des Erzählens zu einer prinzipiell anderen Zeitqualität. Sie involviert den Protagonisten nicht nur auf der Ebene der Reflexion, sondern auch im Sinne einer Instanz, die nach Handlungsoptionen verlangt. Vgl. in dieser Hinsicht den Unterschied zwischen zwei Haltungen von Ulrich, der sich zunächst resigniert vom Fenster abwendet (die Reaktion eines, »der verzichten gelernt hat«, der »fast wie ein kranker Mensch« »jede starke Berührung scheut« [MoE/B1/16]), doch im nächsten Augenblick im Vorbeigehen einen Schlag auf den Boxball gibt. Die resignierende Beobachterhaltung weicht der Angriffslust: Der Schlag, der den anfänglichen »Ausdruck der Schwäche« (MoE/B1/16) ablöst, bedeutet die qualitativ andere Motivierung als die intellektuelle Kapitulation angesichts der nicht-intelligiblen Kollektivgröße Stadt und beinhaltet den affektiven Kern der Weigerung, sich damit abzufinden, dass die kollektive Größe Stadt in ihrer Komplexität durch den Beobachter nicht zu bewältigen ist. Diesen sonderbaren affektiven Ausbrüchen des Protagonisten, die seinen Gedankenlauf intonieren, untermauern oder auch unterbrechen, schenke ich im Laufe meiner Romananalyse besondere Aufmerksamkeit. Ihre besondere Art besteht darin, dass die emotionale oder sogar affektive Reaktion Ulrichs nicht – wie es im Roman durchaus üblich ist – aus der Interaktion mit den anderen Figuren resultiert, sondern transgressiv in die Richtung der Überbrückung der Opposition zwischen dem raumzeitlichen Kontinuum der Figur und der Gegenständlichkeit der fiktiven Welt verläuft. Der Schlag auf den Boxball steht dabei als erste Episode in der Reihe anderer, die eine emotionalaffektive Verbindungen des Protagonisten zu seinem Umfeld markieren und es erlauben, dass Ulrich nicht nur als resignierter Beobachter von dem »Gefilz von Kräften«, sondern als eine Romanfigur fungiert, die entgegen der »Stimmungen der Ergebenheit oder Zuständen der Schwäche« (MoE/B1/16) nach Handlungsoptionen verlangt. 27

Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 29.

4. Narration

Einerseits stellt die Figur von Ulrich also eine analysierende Instanz dar, deren Beobachtungen sich auf die Inkonsistenzen und Lakunen der kollektiven Zeit beziehen, andererseits ist sie in die fiktive Welt des Romans auf der Ebene eingeschrieben, die sie mit anderen Figuren – zunächst dem anonymen »man« – teilt und für die sich gerade aus der Unwissenheit um die Richtung der Bewegung der kollektiven Zeit eine unabgeschlossene Gegenwart ergibt. Weder wissen noch erahnen Ulrich und die übrigen Romanfiguren das kollektive Schicksal, das sie am Ende des Romans in Form des Kriegsausbruchs ereilen wird. In dieser Hinsicht knüpfe ich an die Beobachtungen Bachtins zur Zeit im Roman an, die sich in ihrer Dynamik anhand des Nicht-Wissens der Beteiligten erschließt. Wie der Erzähler an der oben zitierten Stelle ausdrücklich betont, sind »Leute, die damals gelebt haben« weder von der Richtung noch von dem Charakter der Bewegung der Zeit unterrichtet gewesen. Diese Einschränkung des Horizonts und die offene Frage, wohin sich die Zeit im Roman bewegt, hebt in einem paradoxen Zug die Bedingtheit des am Anfang durch das Datum August 1913 gespannten Bogens auf. Den Figuren des Romans, vor allem dem Protagonisten Ulrich, eröffnen sich dank diesem Nicht-Wissen die Möglichkeiten des Handelns mit einem offenen Ausgang. Ihre Erwartungen, Projektionen und Ängste werden an die Zukunft gerichtet und bilden das Wesen der kollektiven Zeit. Im Kapitel 8, »Kakanien«, reflektiert der Erzähler explizit die Fähigkeit von »sozialen Zwangsvorstellungen« (MoE/B1/44), die Bewegung der Zeit zu spiegeln, wenn er die kollektive Vision von einer Art »überamerikanische[r] Stadt« präsentiert (MoE/B1/45). Als Modell einer zweckmäßigen Verteilung von Aktivitäten auf die angepassten Zeitspannen muss dieses abstrahierte Stadtbild nicht zwingend einer Wirklichkeit entsprechen, sondern bietet ein temporales Muster und Symptom der Richtung, in die sich der kollektive Wandel vollzieht: Es ist gar nicht sicher, daß es so kommen muß, aber solche Vorstellungen gehören zu den Reiseträumen, in denen sich das Gefühl der rastlosen Bewegung spiegelt, die uns mitführt. Sie sind oberflächlich, unruhig und kurz. Weiß Gott, was wirklich werden wird. (MoE/B1/46) Die »rastlose Bewegung« der Zeit, die so schwierig zu erfassen ist, zeigt sich demnach an Vorstellungen und Träumen, die eher ein Gefühl von ihr vermitteln, als dass sie bewusst wahrgenommen werden kann. In der zitierten Passage greift der Erzähler zum Präsens, mit dem er den wichtigen Grundsatz markiert, der über die zeitlichen Ebenen des Lesers, des Erzählers oder der erzählten Welt hinaus greifen soll. Dieser Grundsatz beruht auf der Unausweichlichkeit gegenüber der Bewegung der kollektiven Zeit, »die uns mitführt«, über die der Einzelne weder verfügen noch sie durch ein anderes Tempo ersetzen kann: Die Sache hat uns in der Hand. Man fährt Tag und Nacht in ihr und tut auch alles andre darin; man rasiert sich, man ißt, man lebt, man liest Bücher, man übt seinen Beruf aus, als ob die vier Wände stillstünden, und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt, und ihre Schienen vorauswerfen, wie lange, tastend gekrümmte Fäden, ohne daß man weiß wohin. (MoE/B1/46)

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Historische Zeit im Narrativ

Die Metapher des »Zuges der Zeit« bringt den Wahrnehmungsbruch zum Ausdruck, der zwischen der Illusion der stillstehenden vier Wände, in der »man lebt«, »liest« und »seinen Beruf ausübt«, und der Bewegung in die unbekannte Richtung liegt, die sich hinter diesen Wänden abspielt. Der Passagier hat dabei keine Macht, über die Geschwindigkeit des Zuges zu entscheiden, jedoch blieb ihm »in der guten alten Zeit, als es das Kaisertum Österreich noch gab« die Möglichkeit, »den Zug der Zeit zu verlassen«, den Zug nach Kakanien zu nehmen und somit zu dem Punkt zurückkehren, »der vor der falschen Abzweigung liegt« (MoE/B1/47). Die literarische Reise nach Kakanien, die im »Mann ohne Eigenschaften« unternommen wird, wird an dieser Stelle als Möglichkeit legitimiert, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem es »nicht zuviel Tempo« (MoE/B1/47) gab, und sich an den Ort zu begeben, an dem alle gegenwärtigen Tendenzen im Keim reifen. Mit dieser Wahl des Schauplatzes der Romanhandlung hängt also die Möglichkeit einer Revision und Korrektur zusammen. Die in der Erzählung gestaltete Reise bedeutet keine Flucht in die Idylle der Vergangenheit, der Donaumonarchie, des Großreiches, sondern die Möglichkeit, die »falsche Abzweigung« zurückzunehmen und den gegenwärtigen Zustand der Kultur in seinem Entstehen zu reflektieren.28 Die Identität des Ortes der Rückkehr ist dabei durch keine dingliche Realität des imperialen Österreichs mehr gesichert. Musils revisionistische Version der Vorkriegszeit zielt also kaum auf politische Ereignisse oder Sachgeschichte, sondern auf Wunschbilder, Zukunftsprojektionen und andere Bestandteile der kulturellen Wirklichkeit, welche die Materie des kollektiven Wandels auf einer hohen Abstraktionsstufe reflektieren. Dadurch wird historische Zeit im »Mann ohne Eigenschaften« als geistiger Wandel gestaltet, der sich trotz seines abstrakten Charakters der rationalen Erkenntnis versperrt und als eine panlogische Entwicklung in Form der »geheimnisvolle[n] Zeitkrankheit« (MoE/B1/86) gekennzeichnet wird. Ihre narrative Präsentation und Entfaltung obliegt der Stimme des Erzählers, der – wie Bernd Hüppauf treffend bemerkte – im Fall von Kakanien, dessen Schilderung er theoretisch auch Ulrich überlassen könnte, der als ihr Bewohner dazu in der Lage gewesen wäre, trotzdem diese Partie führt: Aber es geht darum, dem Leser durch die Art der Schilderung Zusammenhänge klar zu machen, die allein der Erzähler sicher genug beherrscht. Es sind Zusammenhänge, die in den vielfältigsten Brechungen immer wieder auftauchen […].29 Gebrochen wird dabei durch verschiedenste Facetten das Bild der Zeit, an welches sich der Erzähler im ersten Romanteil durch solche traditionellen narrativen Elemente wie die Biografie des Protagonisten, sein Wohnsitz und die private Umgebung (Liebesaffären, Freundschaftsverhältnisse sowie Beziehung zum Vater) herantastet. Auf eine besondere Art und Weise wird der kollektive Wandel erzählbar, wenn er durch das Prisma der Biografie des Protagonisten gebrochen wird. Sie steht im Zeichen 28

29

Vgl. bei Annette Daigger: »[Musil] gibt uns kein verklärtes Bild von einer versunkenen, schönen Welt (Joseph Roth, Stefan Zweig), sondern aus seiner Erfahrung und geistigen Denkhaltung versucht er die Mißstände aufzuzeigen, die Symptome, die zur falschen Entwicklung dieses Weltexperimentes geführt hatten.« (Daigger, Annette: »Mit Robert Musil in Kakanien. Österreichbilder im Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹«, in: Modern Austrian Literature 30 (1997), S. 158-169, hier S. 168) Hüppauf, Bernd: Von sozialer Utopie zur Mystik, München: Fink 1971, S. 157.

4. Narration

des Wunsches, »ein bedeutender Mann zu werden« (»mit diesem Wunsch schien Ulrich geboren worden zu sein«, MoE/B1/52), und wird als drei Versuche erzählt, dieses Ziel zu erreichen. Bereits diese Zielsetzung ist bedeutsam und symptomatisch dafür, dass der Protagonist in seinem Selbstverständnis und seiner Lebensgeschichte an die Sphäre der kollektiven Bedeutungsproduktion gebunden ist und in ihr eine Rolle spielen will. Sein Wunsch wird in drei Anläufen stufenweise präzisiert: Es fängt mit dem Drang nach der politischen Macht nach dem Beispiel Napoleons an, weicht des Weiteren einer Vision der Epoche mit ihrer Begeisterung für den technischen Fortschritt und mündet in die Vorstellung von der Mathematik als Quelle der Zeit. Die Logik von Ulrichs Wechsel zwischen den drei Berufsbildern des Kavallerieoffiziers, des Ingenieurs und des Mathematikers bedeutet in der Erzählung den Weg von einem kollektiven Traum zu einem anderen, von der Begeisterung für Napoleon über die Begeisterung für Technik zu der Ehrfurcht vor der Mathematik.30 Ulrichs Werdegang reflektiert also die Dimension der kollektiven Wunschvorstellungen, da er als Prozess der Aneignung von favorisierten menschlichen Eigenschaften seiner Zeit erzählt wird, und bietet folglich vielmehr eine ausgedehnte Betrachtung der »Zeit«, als sie individuelle biografische Details über den Protagonisten liefert. In seiner biografischen Laufbahn verlässt Ulrich das Terrain der politischen Geschichte (Beispiel Napoleon) und evolutioniert in die Richtung der verborgenen Kraftverhältnisse einer Gesellschaft, die im »Mann ohne Eigenschaften« mit dem Wort »Moral« bezeichnet werden. Sie wird vom Erzähler des Romans, wie Martin Menges ausführte, im weitesten Sinne eingesetzt, wenn es um Formen der Kollektivität geht, auf deren Darstellung sich der Roman spezialisiert: Der Moralbegriff des MoE hat große Reichweite. Er bezeichnet das, was man allgemein den normativen Ordnungsrahmen einer Gesellschaft nennen könnte und bleibt infolgedessen nicht auf individuelle oder persönliche Handlungsweisen allein beschränkt, sondern umfaßt institutionelle Organisationsformen ebenso wie Denkstile, Geschmacksurteile oder auch Gemütsaffektionen.31 Wenn Ulrich bei seinem Drang, ein »ungewöhnlicher Mann zu werden« (MoE/B1/57) das Pferd der Kavallerie gegen das Pferd der Technik mit seinen »Stahlgliedern« (MoE/B1/54) wechselt, so wird der technische Fortschritt von dem Protagonisten als Mittel verstanden, das »rückständige« Feld der moralischen und symbolischen Tätigkeit durch die Anwendung des Rechenschiebers auf die »großen Behauptungen oder großen Gefühle« (MoE/B1/55) zu reformieren. Die Gewaltphantasien der Militärzeit werden in die Wunschvorstellung übersetzt, man könnte »die Fehlergrenzen und den wahrscheinlichsten Wert von alledem berechnen« (MoE/B1/55) und »aus dem technischen Denken« Ratschläge für die »Lenkung der Welt« (MoE/B1/56) formen.

30

31

Vgl. Helmut Arntzens Interpretation von Ulrichs Berufsstationen als »Quasistände«, die für bestimmte Zeitperioden charakteristisch waren: »Der Beruf des Soldaten […] als bestimmender am Anfang der Neuzeit, […]. Der Beruf des Technikers und Ingenieurs ist repräsentativ für das 19., der des Mathematikers für das 20. Jahrhundert.« (Arntzen, Helmut: Musil-Kommentar. Zu dem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München: Winkler 1982, S. 90) Menges: Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 25.

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Auch bei dem »wichtigsten Versuch« (MoE/B1/57) der bewussten Gestaltung der eigenen Biografie, der mit dem Übergang Ulrichs zur Mathematik eingeleitet wird, bleibt diese Tendenz bestehen. Zwar wird das wissenschaftliche Pathos der Mathematik scheinbar neutral als Vorstoß zur »neuen Denklehre«, den »Quellen der Zeit« und dem »Ursprung einer ungeheuerlichen Umgestaltung« (MoE/B1/57-58) beschrieben. Jedoch findet durch die Abkehr vom Soldatenberuf keine friedvolle Wende in Ulrichs Weltanschauung statt, da die scheinbar friedlicheren Betätigungsfelder der Technik und der Mathematik lediglich eine raffiniertere Form der Gewaltausübung bedeuten, die sich auf das Gebiet der Moral erstreckt: Der Mann war noch nicht auf der Welt, der zu seinen Gläubigen hätte sagen können: Stehlt, mordet, treibt Unzucht – unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden schäumend helle Bergwässer macht; aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt […]. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen. Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben. (MoE/B1/60-61) Das Gewaltpotenzial der Mathematik wird auf das Gebiet des menschlichen Handelns übertragen und führt zur experimentellen Moral, die jenseits der traditionellen Vorstellungen vom Guten und Bösen operiert. Die Notwendigkeit einer solchen Reform wird von dem Erzähler des »Mannes ohne Eigenschaften« durch die Nebenbemerkung in der Schwebe gehalten, dass die »Welt selbst« darauf zwei widersprüchliche Antworten in Form der Umgestaltungslust der Jugend und des Konservatismus der reifen Jahre gegeben hat (MoE/B1/61). Die Forderung nach der experimentellen Moral ist dabei nicht rational, sondern affektiv durch die Angriffslust der Jugend motiviert. Diese emotionale Haltung wird durch den Protagonisten repräsentiert, der bei seinem Werdegang durch eine Reihe von Affekten und Wünschen, angefangen mit seinem Drang danach, ein bedeutender Mann zu werden, an das Bild der Zeit gebunden wird. Wenn der Erzähler an einer anderen Stelle betont, dass Ulrich »die Mathematik liebte, wegen der Menschen, die sie nicht ausstehen mochten« (MoE/B1/60, m.H), weicht die Ironie des Ausdrucks »liebte« einige Seiten später der Beschreibung einer emotionalen Verbundenheit mit der abstrakten Materie der Wissenschaft seitens Ulrichs, der in ihr nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeit sieht, die Geschichte zu übertreffen: Er war weniger wissenschaftlich als menschlich verliebt in die Wissenschaft. Er sah, daß sie in allen Fragen, wo sie sich für zuständig hält, anders denkt als gewöhnliche Menschen. Wenn man statt wissenschaftlicher Anschauungen Lebensanschauung setzen würde, statt Hypothese Versuch und statt Wahrheit Tat, so gäbe es kein Lebenswerk eines ansehnlichen Naturforschers oder Mathematikers, das an Mut und Umsturzkraft nicht die größten Taten der Geschichte weit übertreffen würde. (MoE/B1/60) Im Text steht »er fühlte«, und somit tritt die Eigenart dieses Protagonisten zum Vorschein, sich affektiv an Gedankengängen oder Zeitbildern zu beteiligen. Wenn Ulrich also seine Zeit reflektiert, so empfängt er von ihr affektive Impulse und verknüpft mit ihr in der Gestalt der Mathematikbegeisterung seine Hoffnungen und Zukunftserwar-

4. Narration

tungen. Der Protagonist, der dadurch in dem von dem Erzähler definierten kollektiven Hintergrund der Zeit die äußerste Konzentration seiner Kräfte bietet, erwirbt »alle von ihr begünstigten Fähigkeiten und Eigenschaften« (MoE/B1/71), gleicht sich ihrer Bewegung an und wird von ihr assimiliert. Aus einer solchen vollen Übereinstimmung ergeben sich jedoch so gut wie keine Möglichkeiten für die Entwicklung der Romanerzählung. Damit der Roman eine eigene zeitliche Dynamik entwickelt, muss die Balance gestört werden, was dann auch passiert, wenn der Protagonist des »Mann ohne Eigenschaften« in einen Zwist mit seiner Zeit gerät. Wenn Mathematik für die Reformierbarkeit des Zeitgeistes steht, so gilt das publizistische Genie im »Mann ohne Eigenschaften« als Möglichkeit, diesen Geist in Worte zu fassen: »Der Zustand der Presse ist ein Symptom des Zustandes der Gesellschaft«.32 Wie Gunther Martens thematisierte, steht die Presse im Roman in einem besonderen Verhältnis zu dem kollektiven »man«, bei dem sich der Schreibende an den Geschmack des kollektiven Rezipienten anpasst und selbst zu einem anonymen »man« wird.33 Die anekdotische Bestürzung Ulrichs über den Zeitungssatz über das »geniale Rennpferd«, der dem Publizisten von dem »Geist der Gemeinschaft in die Feder geschoben« wurde (MoE/B1/67), kann vor diesem Hintergrund durchaus ernst genommen werden. In feinen zeitlichen Abstufungen wird von dem Romanerzähler die Perspektive von der Vergangenheit (»es ist noch gar nicht lange her«) über die Zeit »Ulrichs« (»es hatte damals schon die Zeit begonnen«) bis zur Gegenwart der Erzählerstimme (im Vergleich dazu entfiel in Ulrichs Zeit »auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller […] in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centrehalf oder großer Taktiker des Tennissports«, MoE/B1/66, m. H.) entwickelt. Diese komplexe zeitliche Perspektive wird durch die emotionale Reaktion Ulrichs auf den Zeitungssatz akzentuiert: So, wie der Protagonist die Fähigkeit besaß, in die Mathematik »menschlich verliebt« zu sein, kann er eine Bestürzung dadurch erleben, dass das Pferd – »das heilige Tier der Kavallerie« (MoE/B1/67), dem Ulrich

32 33

Arntzen: Satirischer Stil, S. 101. Vgl. Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 162. Martens verweist auf die vielfache Distanzierung des Erzählers des »Mann ohne Eigenschaften« von der journalistischen Schreibweise: »Sehr intensiven Formen der Redekennzeichnung wird die journalistische Wirklichkeitswahrnehmung im Roman ausgesetzt, die als sklavische Gefangene des Wirklichkeitssinns einen großen Beitrag zur Konstruktion der Wirklichkeit als stimmiger Medienkonkurrenz liefert und daher mit satirischer Bildlichkeit und Rahmung der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Musils Behandlung der Medien und der Presse im Roman gibt interessante Aufschlüsse darüber, wie sich ein alternatives, ironisch-reflektierendes Erzählen gegenüber den Massenmedien in der ›Medienkonkurrenz‹ situieren möchte.« (Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 161-162) Der Romanerzähler könnte diese Abgrenzung gegen die journalistische Schreibpraxis anstreben, da er mit den Zeitungsautoren durchaus die Absicht teilt, die wesentlichen Züge der Zeit zu erfassen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die doppelte Dechiffrierung von entstehungsgeschichtlich relevanter Z-Sigle in Musils Nachlass als »Zeit« oder »Zeitung«, mit der Musil in der »Spion«-Phase des Romanprojekts zum einen Notizen zu seiner Sichtweise der »Methode der Geschichte« (I/6/127. Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles) und zum anderen Zeitungsausschnitte versieht (Fanta: Die Entstehungsgeschichte, 135, 143).

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in der militärischen Karriere seiner jungen Jahre entronnen ist – ihm bei seinem Genialitätsanspruch zuvorgekommen ist. An dieser Stelle verlangsamt sich das Tempo der Erzählung. Wurden gerade noch Jahrzehnte in der essayistischen Betrachtung überflogen, so wird man hier in die Situation eines konkreten Morgens versetzt, an dem der Protagonist »mit dem linken Fuß« (MoE/B1/70) aufstand. Hier findet man einige Motive wieder, die man bereits aus den ersten zwei Kapiteln von »Eine Art Einleitung« kennt: das Stadtbild, das von dem Bild des pulsierenden Verkehrs geprägt ist, die Perspektive aus dem Inneren einer Wohnung und sogar den Boxball. Anscheinend steht man hier vor einer zweiten Version des Romananfangs,34 die insoweit auch den Anfang der Romanhandlung bildet, als der Protagonist hier anfängt, von der kollektiven Zeit abzuweichen. Er entdeckt die Unverhältnismäßigkeit seiner Vorbereitungen auf die Lebensaufgabe einer Lebensführung als Wissenschaftler, die einem ziellosen Wandern über Bergketten gleicht. Von der Teilnahme an dem Wettrennen seiner Zeit verspricht sich Ulrich keinen Gewinn mehr: Die Tatsache, dass ihm »das heilige Tier der Kavallerie« zuvorgekommen ist, bedeutet mehr als die Kritik an der Abgedroschenheit des Zeitungsvokabulars, da sie den Wandel zum Ausdruck bringt, den die kollektive Zeit durchmachte, während der Protagonist in den Illusionen der Weltbewältigung durch die Mathematik schwebte. Das Bild der kollektiven Träume hat sich unmerklich verschoben und springt dem Protagonisten ins Gesicht, als er die Zeitung aufschlägt. Die Abweichung des Protagonisten vom Bild der kollektiven Zeit, für die er keine Projektionsfläche mehr bieten kann, wird räumlich-metaphorisch durch die Dissonanz zwischen Ulrich und seinem Haus versinnbildlicht, die in der Geschichte mit der Einrichtung des Domizils pointiert zum Ausdruck gebracht wird. Ulrich, der aus dem Ausland zurückkehrt, kauft sich ein ehemaliges »Jagd- oder Liebesschlösschen vergangener Zeiten« (MoE/B1/13) und muss es nun einrichten. Dabei erweist sich der Zusammenhang zwischen Ulrich und seinem Haus als ein komplexes Bedeutungsfeld. Zum einen besteht eine Ähnlichkeit zwischen dem Haus, das bereits »übereinander drei Stile« (MoE/B1/27) besitzt, und seinem Besitzer Ulrich, der drei Lebensläufe als Offizier, Ingenieur und Mathematiker durchlief. Die Charakteristik von Ulrichs Haus, wonach »das Ganze also einen etwas verwackelten Sinn [hatte], so wie übereinander photographierte Bilder« (MoE/B1/14), kann also durchaus auch auf den Protagonisten bezogen werden, dessen drei Lebensläufe als alternative Lebenswege übereinander gelegt, aber nicht konsequent bis zum Ende ausgeführt werden. Zum anderen lässt sich Ulrich bei der Einrichtung des Hauses von dem Sprichwort »Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist« (MoE/B1/27) leiten und betreibt die Inneneinrichtung des Hauses als Experiment, seiner Persönlichkeit einen äußeren Ausdruck zu geben. Dabei nimmt er »den Ausbau seiner Persönlichkeit doch lieber selbst in die Hand« (MoE/B1/27), scheitert aber an der Mannigfaltigkeit seiner Entwürfe und denkt sich schließlich »überhaupt nur noch unausführbare Zimmer

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Auf die Verdoppelung des Anfangs im Roman hat Inka Mülder-Bach hingewiesen; allerdings liest sie die Szene des achten Kapitels, in dem Ulrich verprügelt wird, als Paraphrase der Unfallszene des ersten Kapitels. Vgl. Mülder-Bach: Robert Musil, S. 110.

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aus, Drehzimmer, kaleidoskopische Einrichtungen, Umstellvorrichtungen für die Seele« (MoE/B1/27). Als Ulrich das merkt, überdenkt er sein Experiment und tut »auch den zweiten Schritt«: Er lässt seine Persönlichkeit von außen, d.h. durch das »Genie seiner Lieferanten« (MoE/B1/28) formen – ein weiterer Fall der Verwendung des Wortes »Genie« durch den Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften«, die sich neben der herkömmlichen Wortverwendung im Sinne der höchsten Ausprägung gewisser Fähigkeiten auf den Genius oder den Geist der Epoche bezieht. Dieser Geist zeigt sich neben der Verwendung von Zeitungsvokabular an den Geschmacksvorstellungen einer Zeit, die Ulrich am Ende das Ergebnis in Form »ein[es] entzückende[n] kleine[n] Palais« (MoE/B1/28) bescheren. Angesichts der »geschmackvolle[n] Residenz für einen Residenten, wie ihn sich Möbel-, Teppich- und Installationsfirmen vorgestellt hatten« (MoE/B1/28) kommt sich ihr Besitzer jedoch nicht als Resident, sondern als Diener vor. Das paradigmatische Wechselverhältnis zwischen dem Protagonisten und seinem Haus unterläuft dabei das Erzählschema, das Bachtin in der Romantradition des XIX. Jahrhunderts beobachtete: Statt einem Missverhältnis zwischen dem Protagonisten und seiner Umgebung, aus dem sich der Hauptkonflikt und der Grundstock der Handlung ableitet, wird im »Mann ohne Eigenschaften« keine Geschichte der Lehre und schrittweisen Anpassung des Protagonisten an die Umstände im Sinne des Bildungsromans, aber auch keine Geschichte des tragischen Scheiterns des Protagonisten an den Umständen im Sinne des Romans des kritischen Realismus erzählt. Das Verhältnis zwischen dem Protagonisten im Vordergrund und dem sozialen Leben im Hintergrund wird als ein Umkehrverhältnis gestaltet. Man kann sich dieses Verhältnis bildlich als das Drehen um eine Achse vorstellen, bei dem mal Ulrich, mal die »Zeit« in den Vordergrund rücken. Dabei sind sie miteinander insoweit verbunden, als der im Vordergrund befindliche Teil durch seinen Gegenpart im Hintergrund durchleuchtet wird. Die Beschreibung der Wohneinrichtung des Protagonisten kann als kompaktes Beispiel für dieses Vorgehen betrachtet werden. So resümiert der Erzähler Ulrichs Entwürfe der Hauseinrichtung als symptomatisch für seine Epoche: Es war das […] die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Ausbreitung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist und deren merkwürdige Arithmetik ausmacht, die vom Hundertsten ins Tausendste kommt, ohne eine Einheit zu haben. (MoE/B1/27)35 Wenn das Bewusstsein des Protagonisten dabei die epochalen Befindlichkeiten reflektiert, so muss sich der Protagonist, der seine Einrichtung nun bei den Lieferanten bestellte, am Ende fragen: »Dies ist also das Leben, das meines werden soll?« (MoE/B1/28) Die Residenz rückt als stilistisch vollendetes Faktum vor den Hintergrund von Ulrichs diffuser Selbstwahrnehmung und wird aus seiner Perspektive ironisch hinterfragt.

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Friedbert Aspetsberger hat die Stilistik von Ulrichs Haus im Kontext des Historismus um die Jahrhundertwende interpretiert: »Ulrichs Hausen in seinem Schlößchen wird so zum Sinnbild der bürgerlichen gesellschaftlichen Situation, die eine aristokratische Lebensform imitiert und deren fehlende Realität in technischer oder historischer Bildung kompensiert.« (Aspetsberger: Musil und der Historismus, S. 133).

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Diese Umkehrung findet eine exakte Entsprechung in den Überschriften der Kapitel 2 und 5, die umgekehrt besser zu passen scheinen. Ulrich statt Haus und Wohnung sowie Haus und Wohnung statt Ulrich – so könnte man die Formel der gegenseitigen Austauschbarkeit zusammenfassen.36 Bei diesem Wechsel- und Umkehrverhältnis tauschen der Hinter- und der Vordergrund der Erzählung die Plätze; sie werden durcheinander fokussiert, doch bedeutet es keine gegenseitige Annäherung oder Homologie. Der polarisierte Gegensatz zwischen der Innen- und Außerwahrnehmung, der fokalisierenden Instanz und dem Fokalisierten, zwischen der inneren Perspektive und der Außenwelt reißt eine Kluft in die Erzählung, aus der sich eine vermittelnde Zeitstruktur der historischen Zeit erhebt. Sie befindet sich im Roman nicht irgendwo draußen, in der schlechthin unübersichtlichen Stadt, deren Vorkommnisse in ihrem Ganzen keinen Sinn ergeben, sondern wird in dem zeitlichen Fluss der Narration im Prozess der Übertragung und Wiedereinschreibung zwischen dem Protagonisten und der kollektiven Zeit erlebt, die sich in bizarren stilistischen Formen zeigt, seien es »soziale Zwangsvorstellungen«, kollektive Träume, journalistische Schreibfloskeln oder der Einrichtungsstil der Modezeitschriften. Bei diesem Verhältnis zwischen Ulrich und seiner Zeit (stellvertretend seinem Haus) erhält der chronotopische Hintergrund seine eigene Funktionalität. Es bildet eine Voraussetzung dafür, dass sich am Anfang des zweiten Teils der eigene Sujetstrang – die Parallelaktion als kollektive Handlungsstruktur – ausbildet und dem Protagonisten entgegengestellt wird. Innerhalb dieses doppelten Sujets bildet das Durchschreiten von Häusern – sei es das königliche Palais, Diotimas Haus, die Landsitze der kakanischen Aristokratie und des Bürgertums – ein feststehendes Erzählmuster, wobei die Räumlichkeiten und die Einrichtung entweder als Ausdruck von Eigenschaften der Bewohner gelten oder – so im Fall von Diotimas Haus – ein subtiles Spiel der Raumtransformationen zwischen den Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens erlauben. Auch die beiden Besucherinnen, die in Ulrichs Haus bisweilen auftauchen, eröffnen Zugang zu einigen Qualitäten der kollektiven Zeit. Ulrichs Affäre mit der Sängerin Leona wird von ihm als ein besonderer Fall des »königliche[n] und vertriebene[n] Schönheitsideal[s] einer früheren Zeit« angesehen, die nicht mehr zeitgemäß ist und deren Besitz mit dem Besitz des »ausgestopften Löwenfells« (MoE/B1/30) vergleichbar ist. Das Wortspiel »Leona«/»Löwenfell« lässt die Semantik eines Tributs der Liebesjagd des Protagonisten aufscheinen; umso frappierender ist das Fehlen der erotischen Untertöne in der Darstellung von Ulrichs Affäre, die insgesamt eher abgehoben wirkt: […] er benutzt sie nicht in der herkömmlichen Weise als Sexualobjekt, sondern nur als Gegenstand ästhetischer Anschauung. Dieses Verhalten unterscheidet sich markant von Ulrichs Verhalten gegenüber allen anderen Frauenfiguren des Romans.37 Der Löwe, der in diesem Fall zum Löwenfell präpariert wurde, wurde bereits vor Jahrhunderten erlegt: Die Gestalt der Leona wird zum pathologischen Fall der »Leichen früherer Gelüste« (MoE/B1/30) inszeniert. Auch die satirische Darstellung von Leonas 36 37

Zu den Konnotation des Namen Ulrichs (»Herr des Hauses«) vgl. Honold: Die Stadt und der Krieg, 131ff. Howald: Ästhetizismus, S. 197.

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Appetit als einer Verbindung, die bei der altherkömmlichen Schönheit Leonas zwischen den Idealen und dem Verdauungstrakt besteht, vermag die reflexive Distanz, aus der sie von Ulrich betrachtet wird, nicht zu verringern. Ulrich Karthaus nahm sich den Fall mit Leonas Appetit als Beispiel dafür, wie Bildlichkeit bei Musil funktioniert: »wenn eine menschliche Schwäche – Leonas Appetit – als »Ideal« bezeichnet wird, so tritt nicht etwas Konkretes an die Stelle von etwas Abstraktem […], sondern umgekehrt etwas Abstraktes an die Stelle von Konkretem«38 . Norbert Christian Wolf hat dies in Frage gestellt, da absolut unklar sei, was abstrakter und was realer ist – ein Appetit oder ein Ideal und »ob hier nicht ein Abstraktum durch ein anderes ersetzt wird«39 . Tatsächlich kann man Karthaus darin Recht geben, dass sich an dieser Stelle ein Substitutionsvorgang abzeichnet; doch liegt auch Wolf mit seinem Zweifel an dem Charakter dieser Substitution prinzipiell richtig. Ein Appetit mag zwar woanders als etwas Konkreteres und Reelleres gelten, in der fiktiven Welt des »Mann ohne Eigenschaften« verfügen allerdings solche Phänomene wie Schönheitsideale, Wunschbilder u.ä. über einen Realitätsstatus, der sie konkreter erscheinen lässt als Phänomene des körperlichen Empfindens. Ulrichs Betrachtungsweise zieht von der Gestalt der Frau Leona ihre Schönheit als stilistische Folie ab: Sie repräsentiert den paradoxen Fall einer Präsenz der unzeitgemäßen Schönheit der Herzogin, die Scheffels Ekkehard über die Schwelle des Klosters getragen hat, [der] Schönheit der Ritterin mit dem Falken am Handschuh, [der] Schönheit der sagenumwobenen Kaiserin Elisabeth mit dem schweren Kranz von Haar, ein[es] Entzücken[s] für Leute, die alle schon tot waren. (MoE/B1/34) Die Gegenwart hat von ihr keine Verwendung mehr und lässt sie in die Welt der »untersten Singhöllen« (MoE/B1/32) und der Prostitution degradieren. Das Herabsinken des Ideals in diese Sphäre, wo es in seiner abgeschlossenen stilistischen Form auf den Protagonisten die »Tyrannis des nun ewig so Stehenbleibenden« (MoE/B1/35) ausübt, steht dabei am Anfang einer ganzen Reihe von Betrachtungen der stilistischen Divergenzen des Zeitbildes, die der Protagonist im Nebeneinander der architektonischen Stile einer Stadt, aber auch in der Verwendung herkömmlicher Metaphern im Kontext gesellschaftlicher Rituale oder Diskurse macht. Diese Emphase für die stilistische Heterogenität der Gegenwart, die dem »Mann ohne Eigenschaften« innewohnt, hat Friedbert Aspetsberger in seinem Essay »Musil und der Historismus« genau, umfassend und kritisch im Kontext des Historismus am Anfang des XX. Jahrhunderts charakterisiert;40 hinzuzufügen bleibt dem lediglich, dass im »Mann ohne Eigenschaften« die Beobachtung isolierter stilistischer Formen Einblicke in vergangene Realitäten erlauben, die bei Ulrich die Unterbrechungen des normalen Bewusstseinszustands hervorrufen und ihn aus der Gegenwart herausnehmen. Indem Ulrich bei der Betrachtung von Leonas Essritual »die Augäpfel schlottern« (MoE/B1/34), wird er von der Sängerin nicht in einem erotischen Sinne verführt, sondern aus der Gegenwart entführt, aus ihrem Kontext wie

38 39 40

Karthaus, Ulrich: »War Musil Realist?«, in: Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne 6 (1980), S. 115-127, hier S. 119. Wolf: »Die reale Erklärung«, S. 121. Aspetsberger: Musil und der Historismus, S. 127-145.

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ein Blatt ausgerissen und kann – um ihre Relativität wissend – nicht mehr vollständig in sie zurückkehren. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Lage des Protagonisten zwischen den Zeitschichten der Vergangenheit und Gegenwart, in dessen Horizont er mit seinen Beobachtungen vermittelt, sondern auch die Homogenität dieser Schichten, die sich in einer programmatischen Übereinstimmung auf die flüchtige Materie des Geschmacks, der stilistischen Phänomene, der Bewusstseinsbilder beziehen. Aus dieser Materie besteht gleichwohl die vergangene wie auch die gegenwärtige Zeit: Im »Mann ohne Eigenschaften« wird ein gigantischer Versuch unternommen, einen Zugang zur kollektiven Zeit als einer Zeit der Bewusstseinsformationen zu eröffnen. Diese höchst abstrakte Zeit reflektiert typische Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die sich in Stil, Mode, Schönheitsidealen, Architektur und Ähnlichem spiegeln. Die Leistung des Romanerzählers besteht darin, sie trotz dieser abstrakten Form anhand konkreter Beispiele, wie durch die Figur Leonas, greifbar und erzählbar zu machen. Im Horizont dieser abstrakten historischen Zeit dient die Moral als Experimentierfeld, auf dem die Möglichkeiten des Handelns erwogen werden. Bewegt sich die Gestalt der Sängerin und Prostituierten Leona auf der Ebene der Zeitstilistik, so spielt sich Ulrichs Affäre mit der mütterlichen Schönheit Bonadea auf der Ebene der Zeitmoral und somit in der Dichte der Gegenwart ab. Als Fall eines moralischen Konflikts zwischen Sinnlichkeit und Ehemoral liefert sie für Ulrich bei seinem Anspruch auf das Experimentieren im Bereich der Moral einen weitaus interessanteren und zeitgemäßen Untersuchungsgegenstand: Die Topik von Bonadeas Zustand verunklärt sich […] unentwirrbar: das Bewusstsein ist das Aussen ihres Kopfes, und die guten Vorsätze sind das Aussen dieses Bewusstseins, d.h. das Aussen des Aussen – also vielleicht das Innen? Tatsächlich siedelt Musil in diesem Innen die gesellschaftlichen Normen an.41 Die sexuelle Beziehung dient dabei der Examinierung des Verhältnisses zwischen dem Körper und dem Bereich der sozialen Normen, Wertvorstellungen und Lebensmoral, des Verhältnisses, das von Diskrepanzen und komplizierten moralischen Bilanzierungen geprägt ist. Die Sexualität bietet in diesem Kontext die Möglichkeit eines Ausbruchs, der im Nachhinein einer Rechtfertigung durch die »Leidenschaft« bedarf. Solche Rechtfertigungsstrategien motivieren Bonadeas Handeln in den Situationen, in denen ihm durch gesellschaftliche Normen und verinnerlichte Ideale unüberwindbare Schranken gesetzt werden. Also führt »diese stille, stattliche Frau« ein »Doppelleben«, »wie nur irgend ein achtbarer Tagesbürger, der in den dunklen Zwischenräumen seines Bewußtseins Eisenbahndieb ist« (MoE/B1/63). Dabei stellt Bonadea einen moderateren, in die Lebenspraxis integrierten Fall der Vergehens an den Grundsätzen des kollektiven Lebens als der Sexualverbrecher Moosbrugger dar. Ohne ausführlicher auf diese Figur eingehen zu können, weise ich auf die mehrfache Einordnung des Prostituiertenmörders in den Kontext der kollektiven Imaginationspraxis hin, die zum einen durch das Interesse der Zeitungen an diesem Fall signalisiert, zum anderen im Text direkt als Ulrichs Einfall formuliert wird: »wenn die 41

Howald: Ästhetizismus, S. 204.

4. Narration

Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehn« (MoE/B1/120). Als »verzerrter Zusammenhang unsrer eignen Elemente des Seins« (MoE/B1/120) verbindet die Figur von Moosbrugger die Ebene der kollektiven Träume mit der Problematik der Handlung, die den Normen der Moral insoweit entgegenläuft, als sie die Form eines Verbrechens annimmt – eine Problematik, die besonders im zweiten Buch des Romans an Bedeutung gewinnt.42

4.1.1.3

Generationenerzählung und private Verhältnisse

Eine andere Art der Annäherung an den Bestand der kollektiven Zeit bieten die Erzählfragmente, in denen es um Ulrichs Beziehung zu seinen Jugendfreunden Walter und Clarisse geht. Die Metaphorik des Hauses der Jugendfreunde nimmt – wie im Fall von Ulrichs Haus – die Problematik des Verhältnisses zwischen Innen und Außen der Psyche auf, führt sie im Zeichen der Problematik des künstlerischen Ausdrucks weiter und wandelt sie in eine Art der Generationenerzählung um. Diese erzählerischen Transformationen betrachte ich ausführlicher, um die Verankerung der historischen Zeit in der Darstellung der Figuren näher zu betrachten. Walters Haus dient im Roman als Schauplatz der Auseinandersetzung über die Problematik der Kunst und wird bereits bei seiner ersten Präsentation von Musik beschallt, die – von Walter und Clarisse gespielt – die Dimension des kollektiven Lebens zum Ausdruck bringt: […] die Millionen sanken, wie es Nietzsche beschreibt, schauervoll in den Staub, die feindlichen Abgrenzungen zerbrachen, das Evangelium der Weltenharmonie versöhnte, vereinigte die Getrennten. (MoE/B1/72) Wie Stefan Howald zu Recht anmerkte, paraphrasiert Musil zu Beginn der Passage aus Nietzsches »Geburt der Tragödie«, »doch beinahe unmerklich geht die Paraphrase […] in eine Parodie über, indem Musil die Metaphern Nietzsches mit der körperlichen Wirklichkeit Clarissens und Walters konfrontiert«.43 Die Musik, die das Haus von Walter und Clarisse ausfüllt, verflüchtigt sich außerhalb seiner Grenzen und verliert sich in der Landschaft: Zwischen solcher Nähe und holder Ferne den Bogen spannte das Instrument; schwarz schimmernd sandte es Feuersäulen von Sanftheit und Heroik zu den Wänden hinaus, wenn sie auch, zu feinster Tonasche zerrieben, schon wenige hundert Schritte weiter niederfielen, ohne auch nur den Hügel mit den Kiefern zu erreichen […]. Jedoch die Wohnung vermochte das Klavier dröhnen zu machen und war eins jener Megaphone, durch welche die Seele ins All schreit wie ein brünstiger Hirsch, dem nichts antwortet als der wetteifernde gleiche Ruf tausend anderer einsam ins All röhrender Seelen. (MoE/B1/73)

42

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Wolfdietrich Rasch hat die Figur des Moosbrugger an der Schnittstelle zwischen der Funktion der Zeitdarstellung und der Problematik des »anderen Zustandes« betrachtet, vgl. Rasch: »Der Mann ohne Eigenschaften«, S. 89. Howald: Ästhetizismus, S. 232.

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»Feuersäle von Sanftheit und Heroik« werden von innen nach außen gesandt, erreichen jedoch nicht einmal den Hügel mit den Kiefern. Die Wohnung wird in dieser Passage zur räumlichen Metapher des Inneren, das von einem Gestaltungsimpuls ergriffen wird: Sie beherbergt nicht nur die Töne, sondern verstärkt sie wie ein Megaphon, durch den »die Seele ins All schreit«. Der Schrei der Seele wird dabei ironisch mit dem »brünstigen Hirsch« verglichen, »dem nichts antwortet, als der wetteifernde gleiche Ruf«. So wie die Musik bereits nach dem Verlassen der Wohnungswände »zur feinsten Tonasche zerrieben« wird und niederfällt, stößt dieser Schrei auf kein anderes Geräusch im All als die ihm gleichen Rufe. Der einsame Ruf, der im Nichts endet, markiert das Gefühl der Resignation angesichts der undurchschaubaren Realität des Gemeinwesens, wobei es diesmal nicht die exakt messende mathematische Erkenntnis, sondern die Kunst ist, der die Machtlosigkeit in Bezug auf die kollektive Zeit bescheinigt wird. Ulrichs Freund Walter ist Künstler auf mehrfache Weise, da er Musiker, Maler und Dichter zugleich ist. Seine Frau Clarisse entstammt einer Künstlerfamilie, wobei ihr Vater Maler und Bühnenbildner war. Clarisse »hatte ihre Kindheit in einem Reich von Kulissenluft und Farbengeruch verbracht, zwischen drei verschiedenen Kunstjargons, denen des Schauspiels, der Oper und des Malerateliers« (MoE/B1/80), und die Ehe zwischen Walter und Clarisse war eine Allianz auf der Suche nach der »Zeitkunst« oder »Zukunftskunst«. Durch seinen Anspruch auf künstlerische Genialität fungiert Walter gleichzeitig als Ulrichs Zeitgenosse und Rivale, der in seiner Jugend Einfluss auf die kollektive Zeit ausüben wollte. Ulrich und Walter werden als Zeitgenossen vor dem Hintergrund der Jahrhundertwende charakterisiert, »als viele Leute sich einbildeten, daß auch das Jahrhundert jung sei« (MoE/B1/83). Die wesentlichen Züge der kollektiven Zeit werden in einer essayistischen Zeitschilderung entworfen, die auf die anonyme Meinung »vieler Leute« referiert und ein ähnliches Bild liefert, wie es bei der Schilderung von Ulrichs Biografie der Fall war. Die Jahrhundertwende macht sich an einer schwer fassbaren Veränderung bemerkbar, die plötzlich in der Luft liegt: Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. (MoE/B1/84) Die kollektive Zeit, die Epoche wird durch eine unklare Vorausahnung eines Umbruchs verändert; es entstehen Wunschträume und Zukunftsentwürfe, welche die kulturelle Realität umdefinieren. In ihrer Jugend werden Ulrich und Walter mit einer besonderen Atmosphäre konfrontiert, in der ein »kleiner Anstieg der Seele« (MoE/B1/84) die Gemüter zum Weltverbesserungsdrang erweckt: […] die beiden Freunde Walter und Ulrich hatten, als sie jung waren, gerade noch einen Schimmer davon erlebt. Durch das Gewirr von Glauben ging damals etwas hindurch, wie wenn viele Bäume sich in einem Wind beugen, ein Sekten- und Besserergeist, das selige Gewissen eines Auf- und Anbruchs, […] und wenn man damals in die

4. Narration

Welt eintrat fühlte man schon an der ersten Ecke den Hauch des Geistes um die Wangen. (MoE/B1/85-86) Ulrich und Walter begegnen in ihrer Jugend diesem »Sekten- und Besserergeist«, »dem seligen Gewissen eines Auf- und Anbruchs«, das als ein unbekanntes Etwas präsentiert wird, was »durch das Gewirr von Glauben« hindurchgeht. An dieser Stelle tritt der besondere Charakter der Interpretation des kollektiven Lebens im Roman mit aller Deutlichkeit zutage: Sein herausragendes Merkmal bietet der »Hauch des Geistes«, sein Anstieg und Abstieg. Dieser Geist ist bei Musil nie bloß ein Schöngeist. Er bietet die Möglichkeit, den kollektiven Wandel zu erkennen, wenn auch nicht gerade zu erklären. Das wiederholte Insistieren auf der Frage, wie sich der Geist begreifen lässt, bietet eine Facette der gleichen Problematik, der wir bereits am Anfang des Romans begegnen, d.h. der Aufzeichnung und der Messbarkeit der kollektiven Vorgänge, die sich als Kräftefelder innerhalb einer Stadt, einer Kultur oder einer Epoche andeuten. Die Peripetien des »Zeitgeistes« werden im Roman zum Gegenstand der Erfahrung, indem sie den Werdegang von Ulrich und Walter beeinflussen. Ihre Zeitgenossenschaft wird nicht nur durch die Übereinstimmung in den Gedanken, sondern auch räumlich durch den Aufenthalt in Walters Zimmer zum Ausdruck gebracht: Da waren sie also wirklich vor gar nicht so langer Zeit zwei junge Männer gewesen, […]denen die größten Erkenntnisse seltsamerweise nicht nur zuerst und vor allen anderen Menschen einfielen, sondern noch dazu gleichzeitig, denn der eine brauchte nur den Mund zu öffnen, um etwas Neues zu sagen, so machte der andere schon die gleiche ungeheure Entdeckung. […] Er sah deutlich das Knaben- und Studentenzimmer vor sich, wo sie einander trafen, wenn er von seinen ersten Ausflügen in die Welt für ein paar Wochen zurückgekehrt war. Walters mit Zeichnungen, Notizen und Notenblättern bedeckten Schreibtisch, der den Glanz der Zukunft eines berühmten Mannes vorausstrahlte, und das schmale Büchergestell gegenüber, an dem Walter zuweilen im Eifer wie Sebastian am Pfahle stand, Lampenlicht auf dem schönen Haar, das Ulrich immer heimlich bewundert hatte. (MoE/B1/86-87) Beide Zeitgenossen sind in ein gemeinsames Gespräch verwickelt und wetteifern um »größte Erkenntnisse«. »Das schmale Büchergestell« signalisiert im Gegensatz zu dem »mit Zeichnungen, Notizen und Notenblättern bedeckte[n] Schreibtisch« Walters Distanz zur rationalen Reflexion, dem Pol, den sein Freund Ulrich mit dem Beruf des Ingenieurs und des Mathematikers besetzt. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Lebenswege geraten beide Freunde am Anfang des Romans in eine Lebens- und Schaffenskrise. Diese individuelle Krise beider Figuren wird im Kontext der kollektiven Zeit im Zeichen des »allgemeinen Abflauen[s]« (MoE/B1/87) interpretiert: Was ist also abhanden gekommen? Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinandergeraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt. Es würden sich schlechterdings keine Einzelheiten haben nachweisen lassen, die nicht auch früher möglich gewesen wären, aber alle Verhältnisse hatten sich ein wenig verschoben. Vorstellungen, deren Gel-

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tung früher mager gewesen war, wurden dick. Personen ernteten Ruhm, die man früher nicht für voll genommen hätte[…] Die scharfen Grenzen hatten sich allenthalben verwischt, und irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen, hob neue Menschen und Vorstellungen empor. (MoE/B1/88-89) Die epochalen Veränderungen werden in der zitierten Passage durch die im Roman geläufige Figur der unbegreiflichen Veränderungen geschildert. Als Magnet, der die Eisenspäne loslässt, die fehlenden Fäden, die das Knäuel durcheinanderbringen, zeigt sich der Verlust von »etwas Unwägbarem« an der zerstreuten Ordnung, in der sich die Verhältnisse »ein wenig verschoben« haben. Die strukturellen Veränderungen führen dabei zur Entstehung einer neuen Ordnung, die sich genauso wenig wie die alte beschreiben lässt. Die Voraussetzung des Wandels bildet »irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen«, welche die alten Zusammenhänge neu ordnet. Diese allgemeine Darstellung der Zeitgeschichte wird im Konflikt zwischen Walter und Ulrich verankert. Die nicht eingelöste Erwartung der großen Taten bietet dabei das wesentliche Gemeinsame und hat im Falle Walters eine spezifische Note. Der Werdegang von Walter wird als der Lebenslauf eines glücklichen Dilettanten beschrieben, der zahlreiche Unterstützer findet. Bereits in seiner Jugend sieht Walter die Kunst als eine zeitlich gebundene Kategorie an, indem er mit solchen Schlagworten wie »Zeitund Zukunftskunst« um sich wirft. Darin erschöpft sich jedoch sein Genie, was Walter nicht als persönliches Scheitern, sondern in einer Art historisierender Betrachtung als Zeitmangel auffasst: Er sprach nicht mehr von »Zeitkunst« und »Zukunftskunst« […], sondern zog irgendwo einen Strich – in der Musik etwa bei Bach, in der Dichtung bei Stifter, in der Malerei bei Ingres abschließend – und erklärte, daß alles, was später gekommen sei, überladen, entartet, überspitzt und abwärtsgerichtet wäre; ja es geschah immer heftiger, daß er behauptete, in einer derart in ihren geistigen Wurzeln vergifteten Zeit, wie es die gegenwärtige sei, müsse sich eine reine Begabung der Schöpfung überhaupt enthalten. (MoE/B1/79-80) Walter entwickelt eine Art erklärendes Narrativ, welches seine Unfähigkeit zum künstlerischen Schaffen entschuldigt. In seinen Gedanken rund um die Entartung Europas nimmt Ulrich einen besonderen Platz ein, indem er stellvertretend für seine Zeit und ihren epochalen Verfall steht: Heute ist alles Zerfall! Ein bodenloser Abgrund von Intelligenz! Er hat auch Intelligenz, das gebe ich dir zu; aber von der Macht einer ganzen Seele weiß er nichts. Was Goethe Persönlichkeit nennt, was Goethe bewegliche Ordnung nennt, davon ahnt ihm nicht einmal etwas. (MoE/B1/98) Der Mangel an Persönlichkeit ist in Walters Augen nichts Individuelles, sondern ein verbreiteter Zug des modernen Menschen, für den Walter eine besondere Bezeichnung aufstellt:

4. Narration

Walter war gehemmt, suchte, schwankte. Auf einmal platzte er los: »Er ist ein Mann ohne Eigenschaften!« […] »Das gibt es heute in Millionen« behauptete Walter. »Das ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat!« (MoE/B1/99) Für Walter wird sein Opponent zum Sinnbild der Epoche; somit wird im Roman erneut das Wechselverhältnis zwischen Ulrich und seiner Zeit aufgegriffen, welches – wie oben geschildert – bei der Beschreibung von Ulrichs Haus eingeführt wurde. Ulrichs Eigenschaftslosigkeit wird von Walter als Signatur der Zeit aufgefasst, was insoweit mit den Grundbegriffen des Romans übereinstimmt, als darin die menschlichen Eigenschaften vor der Person losgetrennt und zusammen mit den anderen Merkmalen der kollektiven Zeit wie Schönheit, Stil, Moral, kollektive Träume eine eigene Sphäre bilden. Diese »Welt von Eigenschaften ohne Mann […], von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt« (MoE/B1/236) bietet die eigentliche fiktive Realität des Romans, in welcher ein Protagonist ohne »Eigenschaften« agiert. In dieser Hinsicht stellt die Einladung zum Grafen Stallburg, die ihm Gelegenheit bietet, »Eigenschaften zu erwerben« (MoE/B1/120), das Angebot einer eher unzeitgemäßen Sozialisierung unter dem Zeichen der k. u. k. Monarchie dar. Tatsächlich werden Ulrich während seines Besuchs des Kaiserpalastes zwei Eigenschaften zugewiesen, indem er von Grafen Stallburg als »tatkräftig und feurig« (MoE/B1/132) bezeichnet wird. Diese Zuschreibung der Eigenschaften veranschaulicht ihre Funktion als Puffer zwischen dem Protagonisten und seiner sozialen Umwelt. Als isoliertes Produkt gesellschaftlicher Normierung stellen Eigenschaften im Roman neben dem Stil, Trend und der Idee einen Ausdruck der kollektiven Zeit dar. Nachdem der Protagonist »alle von seiner Zeit begünstigten Fähigkeiten und Eigenschaften« (MoE/B1/71) erwirbt, verliert er die Möglichkeit ihrer Verwendung. Alleine durch seinen Beruf repräsentiert Ulrich für Walter eine Art des feindlichen Denkens, welches die Entpersonalisierung der Individuen vorantreibt. Hingegen figuriert Walter in Ulrichs Gedankenführung als einer, der »nicht nach dem Nietzsche-Wort ›um der Wahrheit willen nicht den Hunger an der Seele leiden‹« (MoE/B1/69) kann. Charakteristisch ist hierbei das Vermögen beider Figuren, seinen Gegenpart einer bestimmten Tendenz zuzuordnen. Diese abgehobene und abstrakte Freund-Feindschaft wird im Roman in zahlreichen Diskussionsszenen zwischen Walter und Ulrich ausgetragen und wird durch den Kampf um den Einfluss auf Walters Frau Clarisse in private Töne getüncht. Die ehrgeizige Ehefrau widersetzt sich Walters historisierenden Legitimierungen, indem sie »schnurstracks an das Genie« (MoE/B1/96) glaubt und sich ihrem Mann in der Erwartung verweigert, dass er künstlerische Meisterwerke produziert. Bei aller expliziten Ironie dieser Konstellation parodiert sie zusätzlich die Freudsche Theorie der Sublimierung des sexuellen Triebes durch geistige Leistung, da die fehlende sexuelle Befriedigung kaum zur Steigerung von Walters künstlerischer Produktivität führt. Außerdem wird der sexuelle Trieb auf Walters Seite als Wunsch nach einem Kind und weniger als Wunsch nach der Entladung sexueller Energie aufgefasst. Die physische Möglichkeit der Fortpflanzung – das Kind – gilt dabei als Zeichen des Scheiterns von geistigen Ambitionen, eine Art des »Ausweichens ins Private« (MoE/B1/39). Das Verhältnis der Figuren zueinander wird also nicht durch private Zu- oder Abneigung, persönlichen Konflikt o. ä. definiert, sondern durch vermittelnde Referenz auf die

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»Zeit« erstellt, die an konkreten Konturen gewinnt und erzählbar wird. In dieser Hinsicht wies Alexander Honold zu Recht auf die »Scharnierfunktion des Generationsbegriffs, der historisch-kulturelle und biologische Periodisierung erlaubt« und den »Musil einerseits für den Aufbau einer handlungsimmanenten Abfolge, andererseits für die allegorisch-politische Lesbarkeit der dargestellten Konfiguration zu nutzen [versucht]«44 . Der Generationenbegriff beinhaltet in seiner »Scharnierfunktion« das Potenzial, abstrakten Zeitbezügen die Eigenschaft einer Handlung zu verleihen, da er laut Ricœur als Denkinstrument der historischen Zeit die Übertragungsmuster von der individuellen zur kollektiven Zeit operationalisiert. Dabei impliziert der Generationenbegriff sowohl die synchrone Achse der Zeitgenossenschaft als Teilnahme am gleichen Schicksal (Ulrich und sein Freund Walter), als auch die diachrone Achse der Relation zwischen Vorgängern und Nachfolgern, die im »Mann ohne Eigenschaften« (und wie ich später demonstriere, in »Klim Samgin«) im Zeichen des Generationenkonflikts interpretiert wird. Dabei wird der klassische Väterund-Söhne-Konflikt ebenfalls durch das Prisma der abstrakten historischen Zeit des »Mann ohne Eigenschaften« gebrochen, indem er im Lichte des hochabstrakten Gegensatzes zwischen dem Wirklichkeitssinn von Ulrichs Vater und dem Möglichkeitssinn seines Sohnes erzählt wird. Die Darstellung des Vater-Sohn-Verhältnisses im Roman entbehrt jeglicher emotionaler Töne;45 sie wird in einer trockenen und ironischen Form als Geschichte von zwei unterschiedlichen Modi der gesellschaftlichen Existenz erzählt. Auch die Besorgnis des Vaters um seinen Sohn wird als Sorge um die gesellschaftliche Stellung und den Fortschritt der beruflichen Laufbahn dargestellt. Dementsprechend wird die Beziehung zwischen dem Vater als Vorfahren und dem Kind als Nachkommen nicht als ein biologisches oder persönliches Verhältnis, sondern als soziales Muster verstanden, wobei Ulrich als Nachkomme eines gesellschaftlich tüchtigen Mannes die Generationenfolge insoweit durchbricht, als er sich um das soziale und berufliche Fortkommen nicht bekümmert zeigt.46 In seiner Lektüre von »Eine Art Einleitung« hat Helmut Arntzen den Zusammenhang dieses Romanteils nicht – wie in der Musil-Forschung üblich – in der »durchgehaltene[n] Negation des linearen Erzählens«,47 sondern »in der durchgängigen exoder impliziten Reflexion [der] Sprachlichkeit« gesehen, »ob es sich um ›Zeit‹, ›Raum‹, Gesellschaft oder Individuum handelt«.48 Ich schließe mich insoweit dieser These an, als die Reflexion der Sprachlichkeit gerade deshalb eine Grundlage der Romanstilistik bietet, als die Sprache ein Medium für die Reflexion der kollektiven Zeit bietet. Anhand der essayistischen Betrachtung der Wohn- und Baustile, der Schönheitsideale, der sozialen Zwangsvorstellungen, der Projektionen, Wunschbilder, der kollektiven Ängste, der favorisierten menschlichen Eigenschaften, der Generationenkonflikte fügt sich im

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Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 103. Laut Walter Fanta wird im Schreibprozess der Hass des Protagonisten auf seinen Vater getilgt und ihr Verhältnis neutraler gestaltet (Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 286-289). Vgl. die Interpretation von Ulrichs Umgang mit »alle[n] drei Kapitalsorten : Geld, Bildung und Beziehungen«, die er von seinem Vater erbt, bei Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, 351ff. Arntzen: Musil-Kommentar, S. 81. Ebd., S. 86.

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Roman ein Bild des kollektiven Lebens, das als überkomplexes Feld der Kräfte die Wahrnehmungskapazität des Individuums übersteigt. In diesem Feld tritt Wandel immer plötzlich ein, macht sich im Ganzen als eine »geheimnisvolle Zeitkrankheit« (MoE/B1/86) bemerkbar und lässt sich kaum rational erklären. Der Protagonist wird zum Beobachter dieses prompten Wandels inszeniert, wobei sein Drang nach Bedeutsamkeit auf die Forderung der Reform der Moral als Ausdruck des Gemeinwesens hinausläuft. Auch wenn Ulrich wiederholt die Unsinnigkeit solcher Versuche und die Unmöglichkeit einer logischen Erklärung des kollektiven Lebens als einer panlogischen Einheit reflektiert, wird er dadurch in eine Beziehung zum überkomplexen sozialen Ganzen gesetzt. Seine Biografie und sein privates Umfeld ergeben dabei keinen privaten Raum mehr – sogar die intimen Beziehungen zu den sogenannten »Geliebten« stehen im Zeichen der Zeitbetrachtung und moralischer Experimente. Auch der Jugendfreund Walter, der als Künstler parallel zu Ulrich eine Schaffenskrise erlebt, wird als Kontrahent und Konkurrent um die Bewältigung der kollektiven Zeit aufgefasst. Im ersten Teil des Romans wird die kollektive Zeit noch vorwiegend deskriptiv erfasst. Inka Mülder-Bach hat diesen Vorgang der Präfiguration der fiktiven Welt des Romans in ihrer Untersuchung detailliert untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass »der stationäre Zustand«, der im ersten Teil des Romans »emergiert«, »noch nicht den Wirklichkeitseffekten einer fortschreitenden Zeit ausgesetzt ist«.49 Die vielfach thematisierte, auf der Ebene der gemeinschaftlichen Imaginationen in Form von Stil, Schönheitsideal, geistigen Trends etc. konstruierte kollektive Zeit beginnt sich erst am Anfang des zweiten Romanteils in Bewegung zu setzen und ergibt – wie ich im nächsten Kapitel zeige – eine eigenständige Handlungslinie.

4.1.2

Ulrich und die Anfänge der Parallelaktion: Gedankenproduktion als Movens des Sujets

Aus dem statischen Bild, das die Kluft zwischen der Zeitwahrnehmung des Individuums und der unzugänglichen, panlogischen und wallenden Materie der kollektiven Zeit füllt, ergibt sich im ersten Teil des Romans noch keine Erzählung mit einer Fabelkomposition und folglich auch keine historische Zeit mit ihrer linearen zeitlichen Dynamik. Um die fiktive Welt des »Mann ohne Eigenschaften« in Bewegung zu bringen, bedarf es Handlungselemente besonderer Art. Wie ich im vorliegenden Kapitel demonstriere, unternimmt Musil mit der Parallelaktion einen Versuch, die historische Zeit als einen Prozess der gemeinschaftlichen Ideen- und Gleichnisproduktion narrativ zu gestalten. Die Handlung der Parallelaktion, die den Protagonisten zunächst an den Ort des politischen Geschehens – in die kaiserliche und königliche Hofburg – führt, beginnt bereits mit Ulrichs Rundgang durch den Palast vom Schema der politischen Geschichte abzuweichen. Sie gestaltet sich in der Folge als Prozess des Nachdenkens, bei dem den zentralen Figuren der Parallelaktion Gleichnisse, Formulierungen und Ideen einfallen und diese sich zu einer Gestalt verdichten. Im ersten Teil des vorliegenden Kapitels

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Mülder-Bach: Robert Musil, S. 175.

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zeichne ich die einzelnen Stationen dieser Fabel nach und problematisiere dabei die Besonderheit ihrer narrativen Gestaltung. Im zweiten Teil des Kapitels führe ich Argumente zur Untermauerung meiner These an, wonach die Originalität von Musils Erzählweise eine Revision des traditionellen narratologischen Instrumentariums erfordert. Vor allem muss der narratologische Ereignisbegriff revidiert werden, in dem Gedanken, Ideen und Einfällen an sich kein Realitätsstatus zukommt.50 Im »Mann ohne Eigenschaften« tragen sie als ereignishafte Elemente wesentlich zur narrativen Gestaltung der historischen Zeit bei. An der Schwelle zwischen »dem Persönlichen und dem Unpersönlichen« (MoE/B1/175), der Instanz der Figur und der kollektiven Zeit angesiedelt, evolutionieren Gedanken, indem sie von der Gemeinschaft weitergetragen, verändert und instrumentalisiert werden. Ein romaninternes Beispiel dieses Vorgehens liefert die Entstehung der Parallelaktion. Ihre Idee durchläuft mehrere Stationen; der konsequente, wenn auch satirische Bericht darüber kann im Gegensatz zu der verbreiteten Annahme kaum als »sujetloser Text«51 angesehen werden. Erwartet man als Leser eine Handlung im Sinne »realer Tatsachen«, so wird man zwingend an den Posten vorbeilesen, die für die Fabel dieses Romans genuin ereignishafte Momente bilden, und den Roman als »Generator eines diabolischen Liebeslieds der geschichtslosen Moderne«52 bewerten, in dem jeder Ansatz der Handlung versumpft. Im Gegensatz dazu weise ich nach, dass sich die Gedanken, Ideen, Einfälle und Visionen der Figuren in Musils Roman zu einer Fabel verbinden lassen. Trotz ihres linearen Verlaufs bedeutet diese Fabel keine Erzählung nach dem Muster eines »historisch-politischen Denker[s]«, für den »die Gegenwart auf die Schlacht bei Mohács oder bei Lietzen wie der Braten auf die Suppe« folgt (MoE/B1/270). Den Gegenstand der Darstellung bilden paradoxe Transformationen, welche Ideen in der kollektiven Denkpraxis erfahren. Um die Figuren vor dem Hintergrund dieser kollektiven Denkpraxis zu positionieren, führt der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« ein spezifisches Verfahren der Konturierung denkender Figuren ein. Dieses Verfahren analysiere ich im dritten Teil des vorliegenden Kapitels anhand der Darstellung des denkenden Protagonisten, der sich auf einem Rundgang durch die Stadt mental zu der Erkenntnis seiner Lebenskrise durchringt. Ausgehend davon wird ein eigenständiger Handlungsstrang rund um den Protagonisten Ulrich geknüpft und das doppelte Sujet ins Laufen gebracht, das die Erfahrung der historischen Zeit im Roman ermöglicht.

4.1.2.1

Von der Hofburg zum Salon: Die kollektive Zeit als Zeit der Ideenpraxis

Formal beginnt die Handlung der Parallelaktion in der k. u. k. Hofburg, wo Ulrich vom Grafen Stallburg ein Empfehlungsschreiben an Grafen Leinsdorf, den Erfinder der großen patriotischen Aktion erhält. Damit wird der Handlung ein erster Anstoß gegeben, der zunächst nicht resultativ bleibt – Ulrich verzichtet darauf, Leinsdorf zu besuchen.

50 51 52

Ich verwende den Begriff der Ereignishaftigkeit im Sinne von Wolf Schmids Definition, vgl. Schmid: Elemente der Narratologie, 12ff. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 306. Dillmann: Poetologien der Kontingenz, S. 161.

4. Narration

Daraufhin wird ein weiter Handlungsbogen gespannt, der Ulrich am Ende doch zu Leinsdorf und in die Parallelaktion führt. Die Verbindung zwischen den einzelnen Kapiteln und Kapitelgruppen nimmt zum Teil räumliche Gestalt an, etwa wenn Ulrich unterschiedliche Räume durchschreitet, irgendwo hingeht, nicht hingeht oder zufällig hineingerät. Orientiert man sich dabei an solchen tragenden Elementen des Sujets wie topografische Überschreitung von Grenzen, Begegnung, Gespräch o. ä., so muss man feststellen, dass die Handlung kontingent verläuft und dass auf den Seiten des Romans gleichzeitig viel und wenig passiert. Seine Fabel lässt sich eher als eine sukzessive Entfernung von der poltisch-historischen Bühne des Kaiserpalais, vom »überraschend wirklichen« Kakanien der Monarchie und des Adels in die Richtung des imaginären und symbolischen Kakaniens der Bildungsschicht begreifen, die sich produktiv an der Idee der Parallelaktion beteiligt. Die Distanz zwischen der architektonischen Repräsentation der politischen Macht (kaiserliche Hofburg) und ihrem imaginären Bild in der breiten Bevölkerungsmasse wird angedeutet, als Ulrichs Motivation für den Besuch geschildert wird. Der Protagonist geht aus Neugier in die Hofburg und will sich von der Existenz des Kaisers überzeugen, dessen Popularität und Publizität […] so über-überzeugend [war], daß es mit dem Glauben an ihn leicht ebenso hätte bestellt sein können wie mit Sternen, die man sieht, obgleich es sie seit Tausenden von Jahren nicht mehr gibt. (MoE/B1/127) Ulrich kennt den Kaiser nur als »ein[en] sagenhafte[n] alte[n] Herr[n]« (MoE/B1/127), dessen leibliche Präsenz bereits zu seinen Lebzeiten durch die mediale Präsenz in Bildern, Liedern und Festlichkeiten verdrängt wurde. Versteht man mit Bachtin die Figur des politischen Führers als eine Möglichkeit, historische Zeit durch die Verschränkung der privaten und öffentlichen Zeit narrativ zu verankern, so ist eine solche Verdrängung der Figur des Kaisers auf die abstrakte Ebene der Symbole außerst charakteristisch für den Roman, in dem die historische Zeit auf der Ebene der kollektiv signifikanten Abstraktionen gestaltet wird. Wird der Kaiser zu einer medialen Gestalt, so wird auch die dingliche Realität des imperialen Österreichs zugunsten der Neuschöpfung »Kakanien« abgelöst, wie Walter Fanta in seinem Aufsatz betonte: Zwischen Österreich und Kakanien liegt ein spezifisches Sinngefälle, welches in der gedanklichen Strukturierung des Erzählten eine bildlich-begriffliche Dimension von eigener Qualität gewinnt.53 Der Protagonist bewegt sich in diesem Projektionshorizont und schildert die »reale« Hofburg, die ihm »einfach überraschend wirklich« (MoE/B1/133) vorkommt, aus einer verfremdeten Perspektive. Die Art und Weise, wie Ulrich die Hofburg wahrnimmt, wiederholt in ihren wesentlichen Mustern die Verfahren, mit denen der Erzähler das Bild der Zeit am Anfang des Romans konstruiert. Ulrichs Aufmerksamkeit gilt an erster

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Fanta: Die Kategorie des Historischen, S. 96. Vgl. auch weiter: »Die Identität Kakaniens erscheint als Paradoxon; sie spannt sich zwischen dem Widerspruch des ›Wirklichen‹ und des ›Phantasieraum[s]‹.«(Fanta: Die Kategorie des Historischen, S. 97)

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Stelle der Einrichtung der Säle und Zimmer und der Bekleidung der Diener und Wachen, die »einen mehr unbeholfenen als prunkvollen Schutz« (MoE/B1/129) bilden. Der Einrichtungs- und Kleidungsstil wird als wesentliches Merkmal der Realität der Hofburg interpretiert; hingegen haben die politischen Hofintrigen, die im traditionellen historischen Roman eine große treibende Rolle für das Sujet spielen, so gut wie keine Bedeutung. Die Hofburg, das Hofleben und der Kaiser fungieren hier vor allem als stilistisches Faktum (»großes Gehäuse mit wenig Inhalt«, MoE/B1/128) und bieten einen Kontrast zum Erscheinungsbild des Protagonisten: Obgleich er sehr gut gekleidet war, fühlte er sich dabei von jedem Blick, dem er begegnete, vollkommen richtig eingeschätzt. Kein Mensch schien hier daran zu denken, geistige Vornehmheit mit wirklicher zu verwechseln, und es verblieb Ulrich keine andere Genugtuung als die durch ironischen Protest und bürgerliche Kritik. (MoE/B1/128) Die Position Ulrichs wird an dieser Stelle ausdrücklich als »bürgerliche Kritik« gekennzeichnet. Er hinterfragt die Zweckmäßigkeit der Einrichtung und stellt ironisch fest, dass »ein halbes Dutzend gut bezahlter und ausgebildeter Detektive« (MoE/B1/129) einen besseren Schutz als die Hofgarde bieten würde und dass die Hofburg »nicht einmal den Vergleich mit der Schönheit und Annehmlichkeit eines Hotels« halten kann und »sich darum recht schlau als vornehme Zurückhaltung und Steifheit« gibt (MoE/B1/129).54 Dieser Kontrast zwischen dem Adel und Bürgertum an der Stelle, wo die Handlung der Parallelaktion beginnt, könnte als Symptom der Entfremdung des Protagonisten gegenüber der Parallelaktion verstanden werden. Doch bietet die kaiserliche Hofburg weder einen Schauplatz der Handlung der Parallelaktion noch beherbergt sie ihre wichtigsten Persönlichkeiten.55 Die »tatsächliche« Erfindung der Parallelaktion findet am Übergang »von der feudalen Grundherrlichkeit zum Stil der bürgerlichen Demokratie« (MoE/B1/140), im Palais des Grafen Leinsdorf und in Diotimas schöngeistigem Salon statt. Die Distanz zwischen der kaiserlichen Hofburg und der Welt, die den Protagonisten Ulrich und die Akteure der Parallelaktion beherbergt, wird neben der stilistischen Beschaffenheit der Räume durch den Kleidungsstil signalisiert. So wird Ulrich durch das Aussehen des Grafen Stallburg überrascht, da er weniger einem Aristokraten als »einem alten Amtsdiener oder einem braven Rechnungsbeamten« (MoE/B1/129) gleicht. Hinter dieser Erscheinung blickt für Ulrich die Persönlichkeit des Kaisers durch, der als Mann, »der seit siebzig Jahren der Allerhöchste Mittelpunkt höchster Macht ist, eine

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Einen ähnlichen Vergleich adeliger und bürgerlicher Wohnsitze mit der Betonung der größeren Bequemlichkeit der Letzteren liefert das Kapitel 67, in dem »die Reste einer großen Lebenshaltung ohne fließendes Wasser« beim Adel und »hygienisch verbesserte, geschmackvollere, aber blassere Kopie« beim Bürgertum diagnostiziert werden (MoE/B1/442). Zur Dominanz der bürgerlichen Figuren im Roman vgl. bei Fanta: »Dass Musil von keiner generell gültigen soziologischen Axiomatik ausgeht, zeigt sich eben darin, dass die Figurensammlung kaum Vertreter von Schichten unterhalb des mittleren Bürgertums enthält. Als Zeitfiguren sind die Figuren von ihrem artikulierten Bewusstsein (dessen Quelle das Zitat ist) bestimmt; Musil entnimmt es vorwiegend Trägern bürgerlicher Werthaltungen.« (Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 221) Zum Fehlen der »soziologischen Repräsentativität« im Roman vgl. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 326-327.

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gewisse Genugtuung darin finden muß, hinter sich selbst zurückzutreten und dreinzuschaun wie der subalternste seiner Untertanen« (MoE/B1/129). Ulrich nimmt die Figur des Kaisers auf der virtuellen, medialen und symbolisch-verschlüsselten Ebene der stilistischen Eigenheiten wahr; ihre Präsenz bis auf der untersten Etage der »Amtsdiener« und »Rechnungsbeamten« zeigt sich als gegenseitige stilistische Kongruenz. Das Aussehen Stallburgs wird von Ulrich im Vergleich zur »bürgerliche[n] Gepflogenheit, Theater zu bauen« als eine authentischere, »unbewußte und dauernde Kunst der Selbstdarstellung« (MoE/B1/130) bewertet. Im Gegensatz dazu weist die Selbstinszenierung des Grafen Leinsdorf, des »wahren Erfinder der Parallelaktion« mit dem Knebelbart, der »ein wenig an die Bilder böhmischer Aristokraten aus der Zeit Wallensteins erinnerte« (MoE/B1/139), theatralische Züge auf. Indem Leinsdorf seinen Besuchern die Rolle des Aristokraten vorlebt,56 folgt er dem »bürgerlichen Verkleidungstrieb«, »etwas ganz und gar Unnatürliche[m], Späte[m] und Entzweigespaltene[m]« (MoE/B1/130). Sein Auftritt wird durch den prunkvoll gekleideten Türhüter am Eingangstor ergänzt, der »wie ein bunter, weit sichtbarer Edelstein« (MoE/B1/140) die Präsenz des Grafen Leinsdorf im Stadtbild markiert. Später kommt zu dieser Inszenierung die Gepflogenheit Leinsdorfs dazu, mit der Kutsche statt mit dem Auto auszufahren. Eine weitere Differenz zwischen der Parallelaktion und dem monarchistischen Kakanien wird durch den Konversationsstil markiert. Der Ausdruck von Stallburg ist lakonisch, er bringt nicht einmal den Satz fertig, den er mit »Ihr lieber Vater…« anfängt. »Die gespannte Moralität rings um die ganze Erscheinung« (MoE/B1/130) lässt sich als ein Repertoire vorgeschriebener Äußerungen und Rollen begreifen. So wird Ulrich mit seinem Beruf des Mathematikers ein fester Platz in der Weltordnung (»So, sehr interessant, ich verstehe, Wissenschaft, Universität«, MoE/B1/130) zugewiesen. Das Gespräch, in dem kaum ganze Sätze formuliert werden, wird von Regeln gesteuert, die Ulrich mit der Erwähnung des Prostutuiertenmörders Moosbrugger bricht. Über diese Verletzung der Konversationsregeln sieht Stallburg dank seinem vorgefassten »Willen, sich einen guten Eindruck zu bilden« (MoE/Band 1/132), hinweg. Doch macht Ulrich, der seine Ungeschicktheit vertuschen will, einen noch gravierenden Fehler, als er auf die Rückständigkeit des Strafrechts in diesem Bereich hinweist: »Es war eine Entgleisung, diesem Mann eine Erörterung zuzumuten, wie sie Leute, denen an geistigen Umtrieben gelegen ist, oft ganz zwecklos auf sich nehmen« (MoE/B1/131). Die Unzumutbarkeit der Erklärungen und überhaupt der schöngeistigen Konversationen, wie sie für die Parallelaktion als – der treffenden Formulierung von Alexander Honold nach – »bildungsbürgerliche[n] Konversationszirkel«57 typisch ist, trennt den Habitus der kakanischen Aristokratie mit ihrem lakonischen, keineswegs so flüssigen, sondern eher stockenden und von zahlreichen Regelungen gehemmten Konversationsritual von dem Gebaren der Parallelaktion mit ihrer Emphase auf dem Geist, ihrer Redseligkeit und Tendenz, »unpersönlich über alles« zu sprechen (MoE/B1/158).

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Zur Differenz zwischen dem Auftreten Stallburgs und Leinsdorfs: »Optisch gemahnt er [Leinsdorf] im Unterschied zum subaltern wirkenden Grafen Stallburg nicht an den Kaiser Franz Joseph, sondern an weitaus ältere Porträts unmittelbarer Standesgenossen« (ebd., S. 461). Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 128.

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Die Parallelaktion nimmt also ihren Anfang nicht im Kaiserpalais, in das Ulrich nie wieder hingeht: Sie hätte dort, am Ort des politisch-höfischen Geschehens keinen Platz. Sobald sich aber der Handlungsort in das bürgerlich angepasste Domizil des Grafen Leinsdorf und Diotimas schöngeistiges Salon verschiebt, schwillt die Parallelaktion durch zahlreiche Überlegungen, schriftliche Formulierungen und Gespräche der Beteiligten drastisch an. Ihre Entstehung wird als Suche nach einer leitenden Idee und als ein komplexer Vorgang geschildert, in den mehrere Akteure involviert sind. Darunter beteiligen sich insbesondere Graf Leinsdorf, Diotima und ein Publizist an der Suche nach einer Idee für die Parallelaktion. Eine unbestimmte Erwartungshaltung löst bei diesen Figuren gespanntes Nachdenken aus, wobei sich unerwartete, emotional gefärbte Einfälle der Akteure zu einem intersubjektiven Vorgang zusammenschließen. Um die Gestaltung dieses Prozesses durch den Erzähler zu untersuchen, betrachten wir zunächst das Kapitel 21 »Die wahre Erfindung der Parallelaktion durch Graf Leinsdorf« etwas genauer. Im seinem Palais verfasst Graf Leinsdorf mit Unterstützung seines Sekretärs das Rundschreiben, welches die Idee der Parallelaktion vermitteln soll. Die Entstehung der Parallelaktion gestaltet sich dabei als Suche nach der passenden Formulierung ihrer zentralen Begriffe. Dem Grafen Leinsdorf fallen einige Namen und Stichworte wie »Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung« ein, und lösen in ihm bestimmte Gefühle aus: Ihm war […] zuerst das Wort Friedenskaiser eingefallen. Es hatte sich sofort damit die Vorstellung eines 88jährigen Herrschers verknüpft, eines wahren Vaters seiner Völker, und einer 70jährigen ununterbrochenen Regierung. […] In diesem Gleichnis von dem alten Herrscher lag für Graf Leinsdorf zugleich sein Vaterland, das er liebte, und die Welt, der es ein Vorbild sein sollte. Große und schmerzliche Hoffnungen bewegten Graf Leinsdorf. […] Es war ihm klar, daß etwas geschehen müsse, was Österreich allen voranstellen sollte […] und daß dies alles mit dem Besitz eines 88jährigen Friedenskaisers verknüpft war. Mehr oder Genaueres wußte Graf Leinsdorf in der Tat noch nicht. Aber es war sicher, daß ihn ein großer Gedanke ergriffen hatte. Nicht nur entflammte dieser seine Leidenschaft […] sondern mit heller Evidenz ergoß sich dieser Gedanke unmittelbar in so erhabene und strahlende Vorstellungen wie die des Herrschers, des Vaterlands und des Weltglücks. (MoE/B1/135-137) Die offene Erwartungshaltung von Leinsdorf (»es war ihm klar, daß etwas geschehen müsse«) weist auf eine starke zeitliche Dynamik hin, die der Parallelaktion als Projektionsfläche von privaten und öffentlichen Leidenschaften, Wunschvorstellungen und Europa- und Weltuntergangsängsten im ersten Buch durchgängig erhalten bleibt. Leinsdorfs Idee besteht aus dem »Gleichnis von dem alten Herrscher« und dem Wunsch, sein Vaterland der Welt als Vorbild voranzustellen. Bemerkenswert ist dabei vor allem die große emotionale Wirkung dieses rhetorisch verblassten Vokabulars auf den Grafen Leinsdorf. Es ist nicht nur von »große[n] und schmerzliche[n] Hoffnungen« oder von »seine[r] Leidenschaft«, sondern von »heller Evidenz« und »erhabene[n] und strahlende[n] Vorstellungen« die Rede, welche die Imagination des Grafen bewegen. Indem Leinsdorf nachdenkt, verknüpft er das ideologisierte Vokabular mit »strahlenden Vorstellungen« zu den Gleichnissen. Aus Gleichnissen in der Form von vier Punkten – »Friedenskaiser, europäischer Marktstein, wahres Österreich und Besitz

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und Bildung« (MoE/B1/135) – besteht die Idee der Parallelaktion vorerst und wird in einem Rundschreiben festgehalten. Der Wirkungsmechanismus des Rundschreibens mit den vier Stichpunkten ist auf die emotionale Einbindung der Rezipienten ausgerichtet. Die Erwatung des Grafen, es solle etwas geschehen, wird durch Gleichnisse transportiert und auf Akteure übertragen, die Leinsdorf Einfall multiplizieren. Es bildet sich ein »Netz von Bereitschaft« (MoE/B1/216) zur Unterstützung des patriotischen Unternehmens. Im Haus von Ulrichs Cousine Hermine Tuzzi, die im Roman vorwiegend »Diotima« genannt wird, nimmt die Idee der Parallelaktion die Form des Glaubens an das Wahre und Gute an. Um das Große und das Wahre zu verwirklichen, müssen laut Diotima Ausschüsse aus allen Kreisen der Bevölkerung gebildet werden. Dieses Vorhaben sieht Ulrich kritisch, da diese Begriffe aus seiner Sicht lediglich Vergleichsgrößen sind, zu denen es kein Letztes und Ausgesprochenes geben kann. Die Hausherrin lässt sich jedoch von Ulrichs Versuchen, ihre »geistige Thronrede zu stören« (MoE/B1/146), nicht unterbrechen. Die Verbindung der »regierungsfähigen« Worte mit dem »geistigen« Vokabular in Diotimas Rhetorik sowie der »Sakristeigeruch des hohen Bürokratismus« (MoE/B1/146) bringt Ulrich zum Staunen. Das Charakteristische von Diotimas Konversationsstil liegt außerdem darin, dass sie »empfindlich wie an einer verletzten Stelle [war], wenn ein Wort ihr persönlich zu nahe kam, aber unpersönlich über alles [sprach]« (MoE/B1/158). Zum einen kann man diese Eigenschaft darauf zurückführen, dass Diotima – wie Stefan Howald treffend bemerkte – von Musil »als Verkünderin angelesener Theorien«58 eingeführt wird. Zum anderen wird diese Fähigkeit, sich »unpersönlich über alles« zu unterhalten, zur Schlüsselcharakteristik der Parallelaktion,59 die sich als Handlung im Medium von Diotimas Salon entfaltet. Die Gelegenheit, »unpersönlich« und frei von den Zwängen der beruflichen und sozialen Kommunikation zu sprechen, bietet die Voraussetzung für das Zusammentreffen mehrerer Berufsgruppen, Interessensgemeinschaften und Weltanschauungsmustern in Diotimas Haus. In ihrem Salon, wo es »Kenzinisten und Kanisisten« gab und ein »Grammatiker des Bo auf einen Patigenforscher, ein Tokontologe auf einen Quantentheoretiker stieß« (MoE/B1/155), kommt die Gastgeberin in ihrer Pflicht der Gesprächssteuerung und »Einrahmung« von Gästen an den Rand der Verzweiflung. Bei einer kleinen Schnittmenge an Gesprächsstoffen zwischen den Konversationsteilnehmern, unter denen sich auch »Bankdirektoren, Techniker, Politiker, Ministerialräte und Damen wie Herrn der hohen und der ihr angeschlossenen Gesellschaft« (MoE/B1/156) befinden, wird die Gesprächsführung und -steuerung zu einer problematischen Angelegenheit. Diese Kommunikationsstörung soll durch die Parallelaktion behoben werden: Zu ihrer Aufgabe wird die Wiederherstellung der verlorenen »menschlichen Einheit«,60 dem »einfachen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen« (MoE/B1/160), wie sie das Ideal platonischer Dialoge vermittelte.

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Howald: Ästhetizismus, S. 264. Vgl. Helmut Arntzen: »Die Parallelaktion ist Kommunikation, die als Gerede selbst darauf drängt, in Gewalt umzuschlagen« (Arntzen: Musil-Kommentar, S. 124). Angesichts der Signifikanz dieser Frage hat Werner Graf den Roman als »Musils Versuch« gelesen, »eine Einheit der Erfahrung literarisch zu rekonstruieren« (Graf: Erfahrungskonstruktion, S. 35).

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Mit der berühmten »Lehrerin der Liebe« verbindet Diotima neben der Form des belehrenden Dialogs über hohe Materien parodistisch die Tatsache, dass ihre Erörterungen über die »Zivilisation«, welche die »menschliche Einheit« zerstört, auf der fehlenden erotischen Selbstverwirklichung gründen: »Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen konnte. Und darum war es seit langem und vor allem auch ihr Mann« (MoE/B1/160). Die Entwicklung von Diotimas Salon wird vom Erzähler als Kampf für die weibliche Emanzipation gegenüber dem Gatten erzählt, der die geistigen Ansprüche seiner Frau genauso wie ihre erotischen Bedürfnisse ignoriert. Der Salon wird dabei zum Mittel der Selbstbehauptung vor dem Hintergrund des »Lächelns in der Schwebe, mit dem ihr Gatte ihre idealen Bestrebungen begleitete« (MoE/B1/165). Diese emotionalen Erfahrungen Diotimas verleihen der Parallelaktion den Charakter einer offenen und dynamischen Projektionsfläche, die sich in der Erzählung buchstäblich in der Gestalt eines sich öffnenden Raums auftut: Die Vorstellung, mit den Mitteln eines ganzen Reichs und vor den aufmerksamen Augen der Welt etwas verwirklichen zu müssen, was einer der größten Kulturinhalte sein sollte, […] – diese Vorstellung wirkte auf Diotima, als ob die Türe ihres Salons aufgesprungen wäre und an die Schwelle schlüge wie eine Fortsetzung seines Fußbodens das unendliche Meer. – Es ließ sich nicht leugnen, daß das erste, was sie dabei empfand, eine unermeßliche, augenblicklich sich öffnende Leere war. Erste Eindrücke haben so oft etwas Richtiges an sich! (MoE/B1/166) Die Metapher des unendlichen Meeres und einer unermesslichen Leere greifen ironisch der künftigen Entwicklung der Parallelaktion voraus, die gerade angesichts eines Meeres von Vorschlägen ins Leere läuft; gleichzeitig setzt dieses Bild eine ausgeprägte zeitliche Dynamik in Form einer offenen Erwartungshaltung in Gang, die bereits in der Szene des Nachdenkens von Graf Leinsdorf die Parallelaktion prägte. Das dritte Element für die Entstehung der Parallelaktion liefert der Publizist, der die Bezeichnung »Österreichisches Jahr« erfindet. Er veröffentlicht in einer Zeitung zwei Aufsätze, in denen er seine Vorstellung von der großen patriotischen Aktion formuliert, obwohl er nichts Genaues von ihr mitteilen kann: Er wußte nicht viel – denn wo hätte er es erfahren sollen? – aber man merkte es nicht, ja gerade das gab seinen beiden Aufsätzen erst die Möglichkeit hinreißender Wirkung. Er war eigentlich der Erfinder der Vorstellung »Österreichisches Jahr«, über die er seine Spalten schrieb, ohne selbst sagen zu können, was damit gemeint war, aber in immer neuen Sätzen, so daß dieses Wort wie in einem Traum sich mit anderen Worten verband und wandelte und eine ungeheure Begeisterung auslöste. (MoE/B1/216) Gerade der Tatsache, dass der Schreibende nichts über sein Thema weiß, verdankt sein Aufsatz große Wirkungskraft. »Wie in einem Traum« verbinden sich die Vorstellungen und münden in eine »ungeheure Begeisterung«. In der Folge kommentiert der Erzähler ironisch die Rolle, die Gleichnisse als kulturelle Konstante im Alltag und darüber hinaus spielen, und erklärt daraus die Wirkung, die die Vorstellung vom »Österreichischen Jahr« auf das Publikum ausübte:

4. Narration

[…] kein richtiger Kakanier hielt es innerlich in Kakanien aus. Wenn man von ihm nun ein österreichisches Jahrhundert gefordert hätte, so würde ihm das wie eine Höllenstrafe vorgekommen sein, die er sich und der Welt mit lächerlich freiwilliger Anstrengung auferlegen solle. Ganz etwas anderes dagegen war ein Österreichisches Jahr. Das hieß, wir wollen einmal zeigen, was wir eigentlich sein könnten; aber sozusagen auf Widerruf und höchstens ein Jahr lang. Man konnte sich darunter denken, was man wollte, es war ja nicht für die Ewigkeit, und das griff ans Herz, man wußte nicht wie. Es machte die tiefste Liebe zum Vaterland lebendig. (MoE/B1/217-218) Demzufolge bietet das »Österreichisches Jahr« in Form eines Gleichnisses einen Kompromiss mit der Wirklichkeit, bei dem man sich »sozusagen auf Wiederruf und höchstens ein Jahr lang« darum bemüht, »einmal [zu] zeigen, was wir eigentlich sein könnten«. Die Wirksamkeit dieser Vorstellung liegt gerade in ihrer Ungenauigkeit: Es »griff ans Herz, man wußte nicht wie«. Die semantische Unbestimmtheit des Gleichnisses, die auf der »ungeheuren Kraft« der Ungenauigkeit beruht, bildet den idealen Übertragungsmechanismus, der die Parallelaktion zu einem kollektiven Prozess des Sinnierens über solche Ausdrücke wie »das Österreichische Jahr« macht. Wie Inka Mülder-Bach argumentierte, organisiert sich die Parallelaktion »nach dem traditionellen Handlungsschema der Suche oder Quest, wobei das Ziel der Suche darin besteht, ein ›großes Ziel‹ zu finden bzw. ein großes ›Ereignis zu erfinden‹ und mithin die Wirklichkeit zur Fiktion und die Geschichte zur ›Dichtung‹ zu machen«.61 Als Gesamtwerk mehrerer Akteure, zu denen vordergründig Graf Leinsdorf, Diotima und der erfolgreiche Publizist, im Hintergrund aber auch solche Figuren wie Graf Stallburg, Paul Arnheim, Diotimas Dienerin Rachel, ein zweiter Journalist, Gouverneur v. MeierBallot, Minister von Holtzkopf und Baron Wisnieczky gehören, entsteht die Parallelaktion im Prozess der Kommunikation über Gleichnisse und Andeutungen, die das »Netz von Bereitschaft« (MoE/B1/216) spinnt, von dem ihre Idee weitertragen wird. Obwohl sich die Absicht eines Satirikers alleine schon an den Namen der beteiligten Personen ablesen lässt, liefert der Erzähler mehr als bloß eine karikaturhafte Darstellung eines pompösen patriotischen Unternehmens: Der Text beinhaltet eine Analyse der kollektiven Genese einer Idee, die in den Körper einer Erzählung integriert wird.

4.1.2.2

Die Ereignishaftigkeit des Gedanken

Die Ausgestaltung solcher Vorgänge stellt eine etwas ungewöhnliche Erzählaufgabe dar, deren Schwierigkeiten im Kapitel 28, »das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat« (MoE/B1/173), reflektiert werden. Das Kapitel lohnt der Aufmerksamkeit, da es Angaben zum Handlungsaufbau im Roman liefert, für den kollektive und individuelle Denkprozesse zentrale Elemente bieten. Es beginnt ziemlich direkt mit einer Problematisierung des Gedankens in der Literatur: »Es ist leider in der schönen Literatur nichts so schwer wiederzugeben wie ein denkender Mensch« (MoE/B1/174). Als Grund dafür nennt der Erzähler die Schwierigkeit, die Entstehung des Gedankens zu fassen, denn der Gedanke kommt unvermittelt nach einer Reihe von Überlegungen, man weiß nicht wie:

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Mülder-Bach: Robert Musil, S. 183.

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Historische Zeit im Narrativ

Darum ist das Denken, solange es nicht fertig ist, eigentlich ein ganz jämmerlicher Zustand, ähnlich einer Kolik sämtlicher Gehirnwindungen, und wenn es fertig ist, hat es schon nicht mehr die Form des Gedankens, in der man es erlebt, sondern bereits die des Gedachten, und das ist leider eine unpersönliche, denn der Gedanke ist dann nach außen gewandt und für die Mitteilung an die Welt hergerichtet. Man kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen erwischen, und darum ist offenbar das Denken eine solche Verlegenheit für die Schriftsteller, daß sie es gern vermeiden. (MoE/B1/175) In dieser ironischen Passage wird der Gedanken an der Schwelle zwischen der persönlichen Anstrengung und der fertigen, unpersönlichen Mitteilung an die Welt positioniert. Die Hauptschwierigkeit, das Denken in der Literatur zum Ausdruck zu bringen, liegt laut Erzähler darin, dass sich das Denken nicht eindeutig einer Person zuordnen lässt. Damit hinterfragt der Erzähler die herkömmliche Erzählmatrix, bei welcher Gedanken als Bestandteile der Innenwelt einer Figur gelten. Laut Erzählerkommentar lässt sich das Denken nur zum Teil als eine persönliche Angelegenheit begreifen, da es in Wirklichkeit »aus- und eingehende Welt; Seiten der Welt, die sich in einem Kopf zusammenbilden« (MoE/B1/175) ist. Den Moment zwischen dem Persönlichen und Unpersönlichen zu erwischen, bedeutet für den Schriftsteller die Aufgabe, den Text so zu gestalten, dass der gedankliche Prozess darin nicht bloß in der fertigen Form »A dachte B«, sondern mitsamt »sämtlicher Gehirnwindungen« dargestellt wird. Der gesuchte Einfall tritt plötzlich ein und verschiebt den Mittelpunkt der Darstellung auf die Interaktionsebene zwischen der Figur und ihrer Umwelt. Das Paradox besteht darin, dass nur die Autorschaft, aber nicht der Gedanke an sich der Figur zugeschrieben werden kann. Als Moment des unkontrollierbaren Überganges zwischen dem Persönlichen und Unpersönlichen bietet das Denken eine besondere Angelegenheit für den Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften«. Der Gedanke wird im Roman nicht auf die Imagination oder »innere Realität« einer Figur eingeschränkt, sondern bekommt einen besonderen Realitätsstatus durch seine Zugehörigkeit zur Domäne der kollektiven Zeit. Gedanken vermitteln zwischen den Polen der individuellen Erfahrung und dem kollektiven Ganzen und schreiben der kollektiven Zeit individuelle Erfahrungsstrukturen ein. In dieser Eigenschaft spielen sie eine Schlüsselrolle in der Übertragungs- und Wiedereinschreibungsstruktur der historischen Zeit und werden in ihrem Horizont zu ereignishaften Momenten und Wendepunkten der Fabel. In dieser Hinsicht bietet »Der Mann ohne Eigenschaften« einen interessanten Präzedenzfall für die Narratologie, der ihre Unterscheidung zwischen »real« und »irreal« revidieren lässt. So definiert Wolf Schmid in seinen »Elementen der Narratologie« das Ereignis durch das Kriterium der Faktizität: Die erste Grundbedingung für ein Ereignis ist die Faktizität oder Realität der Veränderung (Faktizität und Realität natürlich im Rahmen der fiktiven Welt). Gewünschte, imaginierte oder geträumte Veränderungen bilden nach dieser Prämisse kein Ereig-

4. Narration

nis. Allenfalls der reale Akt des Wünschens, der Imagination oder des Träumens selbst kann ein Ereignis sein.62 Zwar gibt Schmid normativ vor, dass »gewünschte, imaginierte oder geträumte Veränderungen« kein Ereignis bilden, relativiert jedoch diese Aussage in Klammern, indem er das Kriterium der Realität auf den Rahmen der fiktiven Welt einschränkt.63 Übertragen auf den »Mann ohne Eigenschaften« kann Schmids These weiterentwickelt werden, weil dem »bloß« Gedachten im Rahmen der fiktiven Realität des Romans der Status des Realen zukommt. Im Gegensatz zu den »üblichen« Handlungen wie räumliche Bewegungen des Protagonisten, Begegnungen, Bekanntschaften und Liebesaffären, die nur den äußeren Grundstock der Handlung bieten und zu keinen bedeutsamen Wenden und Veränderungen führen, bieten Gedanken weitaus mehr als den »Akt des Denkens«: Sie lassen sich nicht automatisch demjenigen zurechnen, der sie hat. Im Kapitel 28 löst der Erzähler die Vorstellung von der persönlichen Natur des Gedankens auf, indem er unter anderem auf ihre soziale Funktion hinweist: Die bekannte, von den Ärzten entdeckte Fähigkeit der Gedanken, tief wuchernden, krankhaft verfilzten Hader, der aus dumpfen Bezirken des Ich entsteht, aufzulösen und zu zerstreuen, beruht wahrscheinlich auf nichts anderem als ihrer sozialen und außenweltlichen, das Einzelgeschöpf mit anderen Menschen und Dingen verknüpfenden Wesensart; aber leider scheint das, was ihnen ihre Heilkraft gibt, das gleiche zu sein, was ihre persönliche Erlebnishaftigkeit vermindert. (MoE/B1/177) Der Gedanke wird hier als ein Vorgang charakterisiert, der zwischen den intuitiven, unbewussten Bereichen der Persönlichkeit und dem sozialen Gefüge vermittelt. Diese soziale Funktion des Gedankens vermindert aber ihre »persönliche Erlebnishaftigkeit«, da der Gedanke dann nicht mehr zur Domäne des Persönlichen gehört, sondern sich in die Richtung des Kollektiven verschiebt, was insbesondere durch die sprachliche Aufbereitung des Gedankens in der Form einer Mitteilung eingeleitet wird. Wie Ulrich wenige Zeilen darauf anmerkt, ist dabei nicht einmal die gleiche Bedeutung des Wortes »Wasser« gesichert, und doch vollzieht sich die Kommunikation reibungslos, indem die Beteiligten glauben, dass sie vom gleichen Gegenstand sprechen. Der Gedanke wird im Roman also an der Schwelle zwischen der Instanz des Persönlichen (Figur) und dem Unpersönlichen (kollektiven Leben) positioniert. Gedanken, Einfälle und Ideen bieten im »Mann ohne Eigenschaften« genuin ereignishafte Momente und steuern das Erlebnis der historischen Zeit. Spricht man ihnen diese narrative Funktion zu, so kann Alexander Honolds Verständnis des Ereignisses widersprochen werden, laut dem der Ereignisbegriff von Musil »am Kairos des Augusterlebnisses 1914 gewonnen« wurde und »insofern eine darstellungsästhetische Herausforderung [bedeutet], als er dem oben umrissenen Modell eines Zeitraums, der Ordnung eines raumzeitlichen Kontinuums nicht kommensurabel ist«.64 Diese These, die Honold anhand der Analyse von Musils Erzählungen gewinnt, ist in sich widersprüchlich: Gehört denn

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Schmid: Elemente der Narratologie, S. 12. Ebd. Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 91.

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»Gestaltung von Ereignissen […], die aus der Ordnung fallen«65 nicht zu den primären Eigenschaften des Ereignisses, die als Grenzüberschreitung oder Verletzung bestimmter Ordnungsschemata schon immer eine gewisse Imprädiktabilität implizieren?66 Ihr muss auch insoweit widersprochen werden, als Honold dadurch die These von der Brüchigkeit des Erzählens bei Musil untermauert und Musils Erzählen im »Mann ohne Eigenschaften« angesichts der Krise des historischen Sinnes als per se der Fragmentarität geweiht ansieht: Wo das historische Geschehen nicht mehr »längs einer Zeitreihe« geordnet werden konnte, wie in der Rekonstruktion der Kriegsursachen, gerät auch die romanimmanente Teleologie, als Erzählung auf ein Ereignis hin, in Schwierigkeiten. Das Abbröckeln des diachronen »Zugs« in der Erzählkonstruktion ist nicht erst der äußerlichen Fragmentarität des Werks geschuldet, sondern bereits in den zu Lebzeiten Musils veröffentlichten Partien als ausdrücklich deklariertes Gestaltungsprinzip erkennbar.67 Im Gegensatz dazu hebe ich die Konsistenz in Musils Erzählweise hervor, für die das Kapitel 28 »Von der Natur der Gedanken« das poetologische Fundament liefert und die an den oben analysierten Beispielen zu der Entstehung der Parallelaktion deutlich zutage tritt. Der Gedanke bietet in Form eines imprädiktabilen, plötzlichen Einfalls ein Bindemitglied zwischen der Instanz der Figur und der kollektiven Zeit im Hintergrund. Der Übergang zwischen dem erwartungsvollen und oft emotional gespannten Horizont der Figur und der fertigen Mitteilung bietet das Moment der höchsten zeitlichen Dynamik, an deren Vektor sich die Handlung des »Mann ohne Eigenschaften« entwickelt. Dieser Vorgang wurde oben bereits anhand solcher Fälle wie Leinsdorfs Formulierungssuche im Zeichen der »großen und schmerzlichen Hoffnungen« und das unbestimmte Grübeln des Publizisten analysiert, dem die Bezeichnung »Österreichisches Jahr« entspringt. Auch im Fall von Diotimas Eingebung wird das Eintreten der großen Idee als »eine Art Schmelzzustand« beschrieben, »durch den das ich in unendliche Weiten gerät und umgekehrt die Weiten in das ich eintreten« (MoE/B1/171-172). Dieser gegenseitigen Umkehrung des Ichs und der Welt im Zustand des Nachdenkens steht laut dem Erzähler »der tote Wortleib der Idee« gegenüber, der »unbegreiflich oder lächerlich« erscheint (MoE/B1/172). So vermag Diotimas fixe Idee, Paul Arnheim an die Spitze der patriotischen Aktion zu stellen, komische Wirkung auslösen; doch dem Vorgang, im Laufe dessen solche paradoxen oder gar absurden Ideen geboren werden, gebührt im Roman voller Ernst. Dabei referiert eine Idee nicht auf einen bestimmten Wissensbestand, sondern bezeichnet nach der treffenden Formulierung von Inka Mülder-Bach »ein gedankliches Erlebnis, das sich allein im fluktuierenden und wandelnden Feld von Gefühlen, Leidenschaften, Werten und Möglichkeiten einstellt«.68 Der Grundsatz »die Gedanken sind frei« greift dabei im »Mann ohne Eigenschaften« insoweit nicht, da der Gedanke hier

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Ebd. Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie, S. 14-16. Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 91. Mülder-Bach: Robert Musil, S. 308.

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nicht der Person mit ihren inneren und äußeren Freiheiten, sondern dem Unpersönlichen entwächst und in das Unpersönliche mündet. Die Instanz der Figur bietet nur die Öffnung, durch welche die Gedanken in die Welt dringen. Das Ergebnis in der Form einer Mitteilung versinkt dabei erneut in der Materie des sozialen Austausches, wobei die Gemeinschaft sich nach Musils Ausdruck »unser aller Jubelzeiten«69 bedient und den Gedanken in Form des ins Wort gefassten Gedachten in sich absorbiert. In diesem Sinne ist es um die von Böhme thematisierte »Trennung von Individuum und Gesellschaft«, die er als »Musils Grunderfahrung« darstellt,70 wohl nicht so einfach bestellt. Das problematische Inklusions-/Exklusionsverhältnis, bei dem der Protagonist und andere Figuren in ihrem Bewusstsein soziale Wirklichkeit verinnerlichen, gegen die sie sich immerhin auflehnen mögen, kann als Symptom einer solchen erzählerischen Interpretation der Materie des Kollektiven bezeichnet werden, die nicht auf die Repräsentation von Produktions- und Machtverhältnissen, sondern auf die Gestaltung der abstrakten historischen Zeit als einer Zeit der Ideenpraxis hinausläuft. Bei ihrer Gestaltung wird die Trennlinie zwischen dem Privaten und Öffentlichen, Persönlichem und Unpersönlichem permanent umspielt, so dass die gewöhnlichen Begriffe des Individuums und der Gesellschaft, geschweige denn von ihrer Trennung oder ihrem Gegensatz nicht mehr zu greifen scheinen. Wie Helmut Arntzen treffend formulierte: Es gibt […] in diesem Roman keine Trennung des Öffentlichen und des Privaten. Aber diese Nicht-Trennung bedeutet nicht die durchgängige Politisierung aller Wirklichkeitsphänomene, sondern die Darstellung einer doppelten Möglichkeit: nämlich sowohl die der Verkehrung des einen ins andere, so daß alles ununterscheidbar wird, aber auch die einer Analyse, die im Privatesten das Öffentliche begreift und umgekehrt und dadurch einen Zusammenhang beider, der durch den gängigen Gebrauch von Begriffen wie »Gesellschaft« und »Politik« nur undeutlich würde.71 Diese Besonderheit von Musils Roman hat Martin Dillmann im Zeichen der Auflösung des Subjektiven durch die diskursive Praxis interpretiert: Der »Mann ohne Eigenschaften« behauptet […], dass gerade die vermeintlich individuellsten, subjektivsten kognitiven Sphären immer schön […] am stärksten diskursiv, d.h. überindividuell und intersubjektiv bestimmt und weitgehend »automatisiert« seien.72 Das Individuum wird in das Kollektiv auf der Ebene der gemeinschaftlichen Ideenproduktion inkludiert, so dass selbst der kreative Akt des Denkens nicht privat, persönlich oder individuell bleiben kann. Das Problem, welches der Erzähler daraufhin aufzeigt, betrifft das Erzählen als Vorgang im Medium des Wortes, der das Persönliche und Individuelle vor dem Hintergrund des Sozialen und Rekkurenten hervorhebt. Im Vergleich 69 70

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Aphorismen aus dem Nachlass/Germany, Musil, Klagenfurter Edition, Band 14, S. 9. Böhme: Anomie und Entfremdung, S. 136. Es sei dahingestellt, ob Musils Darstellung des Menschen als eines »bewußtmäßig enteigneten Objekt[s]« vor dem Hintergrund »einer undurchdringlichen Übermacht« des »Sozialgefüge[s]« – wie Böhme moniert – ein Produkt der Bürokratisierung darstellt. (Böhme: Anomie und Entfremdung, S. 139-145) Arntzen: Musil-Kommentar, S. 92. Dillmann: Poetologien der Kontingenz, S. 126.

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zu anderen Elementen der Narration vermag die Darstellung der Gedanken den am wenigsten persönlichen Eindruck zu erwecken: Die beiläufige Erwähnung eines Haares auf einer Nase wiegt mehr als der bedeutendste Gedanke, und Taten, Gefühle und Empfindungen vermitteln bei ihrer Wiederholung den Eindruck, einem Vorgang, einem mehr oder weniger großen persönlichen Geschehnis beigewohnt zu haben, mögen sie noch so gewöhnlich und unpersönlich sein. (MoE/B1/177) Im Vergleich mit einem Gedanken wirken »Taten, Gefühle und Empfindungen« persönlicher als der Gedanke. Besonders ihre Wiederholung erweckt den Eindruck des Persönlichen, auch wenn sie an und für sich die gleichen sein mögen. Der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« stellt das Verfahren der Zuordnung von Elementen einer Introspektion zu einer Figur auf den Kopf: Das emotionale Erleben wird als etwas Unpersönliches und Allgemeines bezeichnet,73 die Gedankenproduktion stellt hingegen einen existentiellen Moment an der Schwelle zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven dar. Das Gedachte in seiner fertigen Form wird als entindividualisiert betrachtet und dem Kollektiven zugeordnet. Durch diese Assimilierung des fertigen Gedanken durch das Medium des kollektiven Gedankenaustauschs lässt sich die besondere Flüssigkeit der Gedanken zwischen unterschiedlichen Romanfiguren erklären, die zunächst Werner Graf auffiel: »Da das Denken unpersönlich aufgefaßt ist, sind die Reflexionen im Roman oft nicht streng einer Person zugeordnet«.74 Lilith Jappe interpretierte diese Eigenschaft der Romanerzählung in ihrer Auseinandersetzung mit der Kategorie des Persönlichen im »Mann ohne Eigenschaften« im Zeichen des Übergreifens des Persönlichkeitskonzepts auf die mimetische Ebene: Der Zweifel an der Kategorie des »Persönlichen« oder die Fragwürdigkeit der Individualität der Person schlägt sich mimetisch in der Erzählweise des Romans nieder. Es vollziehen sich fließende Übergänge zwischen den Perspektiven einzelner Personen. Bestimmte Gedankeninhalte und Erlebnisweisen treten im Zuge des äußerlich stagnierenden zweiten Romanteils »Seinesgleichen geschieht« an unterschiedlichen Personen und in verschiedenen Kontexten immer wieder auf und scheinen eher durch die Empfindungen der Personen zu fluktuieren, als innerhalb des Seelenlebens einer bestimmten Figur einen fest verankerten Platz zu haben.75

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Vgl. eine Notiz Musils, in der Menschen und psychische Phänomene als etwas Typisches bezeichnet werden: »Die Menschen sind Typen, ihre Gedanken, Gefühle sind Typen; nur das Kaleidoskop ändert sich.« (Heft 36 »Der Erlöser. Altes alphab. Register zum Roman«. Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles, S. 53) Graf: Erfahrungskonstruktion, S. 142. Jappe, Lilith: Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im »Mann ohne Eigenschaften«, München: Fink 2011, S. 71. Für diese These spricht auch die Willkürlichkeit in der Zuordnung des ideengeschichtlichen Materials, den Musil laut Walter Fanta seit 1921 unter dem Titel »Kehraus« sammelte und der »über 60 Seiten eine gründliche, mit Exzerpten aus historischem, politischem und anderem sozialwissenschaftlichen Schrifttum angereicherte Realiensammlung« darstellt. Fantas Analyse des »Neu- und Umverteilens« zeigt: »Im

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Ich schließe mich dieser Beobachtung an, sehe die Kategorie des »Persönlichen« bei Musil jedoch nicht per se, sondern durch das Hervortreten des Unpersönlichen in Form der abstrakten historischen Zeit destabilisiert. In ihrem Sog werden Elemente der Introspektion sowie der individuellen Ideenproduktion assimiliert und fangen an, zwischen unterschiedlichen Figuren zu fluktuieren. Die Ausführlichkeit, mit der der Erzähler im Kapitel 28 auf dieses Problem eingeht, deutet außerdem auf ein Problembewusstsein Musils in Hinblick darauf, dass Ulrich als Figur in der Erzählung nicht deutlich genug konturiert werden kann, da seine Rolle in der Ausbreitung einer gewissen Theorie besteht, die am wenigsten »persönlich« ist, d.h. sich kaum auf die Darstellung einer bestimmten Figur beziehen lässt. Ulrich, der laut Wolfdietrich Rasch »ein radikal reflektierendes Dasein« führt,76 unterliegt der Regel, »je besser der Kopf, desto weniger ist dabei von ihm wahrzunehmen« (MoE/B1/175). Seine Gedanken fließen nicht nur schnell, sondern verlaufen auf einer so hohen Abstraktionsebene, dass sie das Geringste mit der Figur zu tun zu haben scheinen.77 Wenn die Gedanken der Figur nicht als Ausdruck ihrer Individualität gelten, so droht der Protagonist im Hintergrund der kollektiven Gedankenpraxis zu versinken, ohne einen Anhaltspunkt für die Romanhandlung bieten zu können. Mit anderen Worten, droht sich der Roman, rechnet man zu den ausschweifenden Erzählerkommentaren noch die »unpersönlichen« Gedankenpassagen Ulrichs, in ein gigantisches Essay zu verwandeln. Tatsächlich wurde gerade diese Eigenschaft des Romans von der Forschung lobend als Innovation im Bereich der Romanform behandelt und in Verbindung mit der Problematik des Essayismus als eine Art programmatischer Metakommentar betrachtet.78 In dieser Hinsicht schließe ich mich der Meinung von Alan Holmes an, der darin eher eine Gefahr für die Romanerzählung gesehen hat: In »Der Mann ohne Eigenschaften« Musil runs the risk of falling between the two stools of theory (essay) and novel, intellect and imagination, fact and fiction, the objective and the subjective, the impersonal and the personal.79 Musils Kommentare weisen darauf hin, dass der Autor des »Mann ohne Eigenschaften« sehr wohl um die Dominanz des Theoretischen in seinem Werk bekümmert war. So teilt er im Interview mit Oskar Maurus Fontana ausdrücklich mit, er sehe »allem Essayistischen gegenüber ein Gegengewicht in der Herausarbeitung lebendiger Szenen,

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Umfeld dieser Arbeitsnotizen, Skizzen und Entwürfe scheint die Verteilung des Materials auf die sich abzeichnenden Figuren beinahe willkürlich.« (Fanta: Die Kategorie des Historischen, S. 95) Rasch: »Der Mann ohne Eigenschaften«, S. 58. Ein »besonderer Kopf« ist auch der Serienmörder Moosbrugger, der sein eigenes Denken mal als Innen-, mal als Außenphänomen wahrnimmt: »Er dachte besser als andere, denn er dachte außen und innen. Es wurde gegen seinen Willen in ihm gedacht. Er sagte, Gedanken wurden ihm gemacht.« (MoE/B1/381) Die Maßstäbe für eine solche Betrachtungsweise hat Hartmut Böhme mit seiner Studie gelegt, in der er die Grenzen zwischen Musils Roman und seinen Essays verwischte: »In vieler Hinsicht ist der Roman nur die narrative Fortführung längst ausgearbeiteter Konzepte. […] Diese Verzahnung von Essays und Roman führt zu dem Verfahren, beide Gattungen als gleichberechtigt zu behandeln.« (Böhme: Anomie und Entfremdung, S. 2-3) Holmes: Robert Musil »Der Mann ohne Eigenschaften«, S. 131.

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phantastischer Leidenschaftlichkeit«80 . Die Innovation im Bereich der Romanform, die Musil macht, wird vor dem Hintergrund dieser Äußerung deutlich. Denn sie besteht nicht bloß darin, den Roman in ein Essay zu verwandeln und mit langen Abschweifungen und essayistischen Partien die Romannarration zu überladen, sondern darin, die Romanform für die Gedankenproduktion zu verwenden, so u.a. Walter Fanta: »Der Gedanke wird zu Erzählbarem, das Fiktionale der Erzählung oft genug als Gedachtes kenntlich gemacht«.81 Dabei werden vom Erzähler »persönlich wirkende« Elemente der Narration wie »Gefühle, Taten und Empfindungen« dafür eingesetzt, den gedanklichen Verlauf zu akzentuieren und seine Wendepunkte als Ereignisse zu kennzeichnen.82 Drei Beispiele für diesen Vorgang wurden oben erläutert: Das gespannte Nachdenken der Figuren wird um emotional-unbestimmte Momente angereichert, zu denen sich das eigentliche Ergebnis in Form von den vier Grundsätzen Leinsdorfs, der Formulierung »das Österreichische Jahr« und der Idee, Arnheim an die Spitze der Parallelaktion zu stellen, wie der sichtbare Teil des Eisbergs zu den tief im Inneren liegenden emotionalen Verwicklungen verhält. In dieser Hinsicht kann man Alexander Honolds Beobachtung zustimmen, wonach sich das Denken im Roman »einer Logik des ›Machens‹ [entzieht] ebenso wie – auf der Ebene der Parallelaktion – der Prozeß der Geschichte, dem der gesuchte ›erlösende Gedanke‹ daher auch nicht abzugewinnen ist«.83 Es wird als ein offener Prozess der Suche gestaltet, in dem Figuren in einer gespannten emotionalen Haltung verweilen und die Einfälle trotzdem plötzlich eintreten. In der Gestalt der Parallelaktion entzieht sich die Geschichte der Logik des »Machens«, da ihre Logik auf der Ebene des symbolischen Austausches liegt (was immerhin noch keinen Erfolg des Unternehmens in Form eines »erlösenden Gedankens« garantiert). Auch der Protagonist Ulrich, der von Irmgard Honnef-Becker als »eine reflektierende Figur« charakterisiert wurde, »die nicht handelt, sondern sich stattdessen ständig überlegt, wie man handeln könnte«,84 bewegt sich auf dieser Ebene, der »ein anderer Seinscharakter zukommt als der in der Vergangenheitsform dargebotenen dichtungsinternen Wirklichkeit«.85 Honnef-Becker beschreibt den Verdrängungsprozess, der »durch die Konstituierung dieser Meta-Ebene« eingeleitet wird und jede andere Art der fiktiven Romanwirklichkeit als eine »QuasiWirklichkeit« verwischt.86 Nimmt man also an, dass das Denken im »Mann ohne Eigenschaften« schon immer eine Erscheinung kollektiver Natur zwischen individueller Anstrengung und kollektiv geformter Kommunikation darstellt, so muss das Denken im Roman nicht – wie

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Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14. Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 375. Musil setzt außerdem oftmals die Reflexion in Form von Dialogen um: »Die Reflexion wird von Musil häufig in der Form des Gespräches geäußert.« (Schaffnit: Mimesis als Problem, S. 25) Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 147. Honold ordnet die Problematik des Denkens im »Mann ohne Eigenschaften« in den Kontext der zeitgenössischen Kritik am cartesianischen Erkenntnismodell ein (ebd., S. 146ff.). Honnef-Becker: Ulrich lächelte, S. 143. Ebd., S. 56. Ebd.

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Honold annimmt – »im Spannungsverhältnis der Generationen auf seiten der jugendlichen Experimentierfreude« verortet werden, da »es patriotische Gewißheiten zum Einsturz bringt«.87 Auch am Beispiel der ketzerischen Formulierung des jungen Ulrich, die ihn um den Platz an der königlich-ritterlichen Akademie bringt,88 kann der Denkprozess als eine reguläre Angelegenheit angesehen werden, da Ulrich in seinem Satz lediglich das allzu wörtlich nimmt und gewissenhaft ausführt, was ihm in der Schule gepredigt wird: das Analogieverhältnis zwischen christlicher Gesinnung und Patriotismus. Das konsequente Denken führt in seiner höchsten, überspitzten Form zu denkerischen Paradoxien. Ein »guter Kopf« wie Ulrich ist diesen Paradoxien geweiht, nicht weil er jugendlich-experimentell oder sonst irgendwie besonders denkt, sondern weil die Mechanik des Denkens – wenn sie mal funktioniert – unermüdlich solche Paradoxien hervorbringt.

4.1.2.3

Der denkende Protagonist im Horizont der abstrakten historischen Zeit

Im Unterschied zu den anderen Figuren ist Ulrich – mit Helmut Arntzens Worten – »nicht ›Ideenträger‹, sondern Denkender«.89 Er nimmt eine besondere Stelle im Horizont der historischen Zeit ein, denn er reflektiert ihre Bewegung in seiner Biografie und seiner Kulturkritik. Doch bietet seine Figur »eine erhebliche Schwierigkeit für den Leser, der gewohnt ist, Romanfiguren als Handelnde zu verstehen […] und der ebenso gewohnt ist, Gedanken als Gedachtes, als Ergebnis möglichst systematisiert zu konsumieren«.90 Im Roman wird die reguläre Zuordnung des Gedachten zur Instanz des Denkenden durchkreuzt, und die Figur des Protagonisten schrumpft zu einem Punkt im Kräftefeld der kollektiven Denkpraxis. Zum Abschluss des vorliegenden Kapitels soll das Verfahren untersucht werden, mithilfe dessen der Erzähler die Figur des Protagonisten vor dem Hintergrund seiner eigenen Kulturtheorie konturiert. Er erschafft eine Hilfskonstruktion aus den Elementen der Handlung (Intervention der Liebhaberin Ulrichs Bonadea, Streit mit ihr, Spaziergang durch Wien und Beobachtungen Ulrichs auf dem Weg) und den Beschreibungen emotionaler Zustände, die als narrative Armatur die Gedankenführung Ulrichs stützen. Nimmt man diese unterstützenden Elemente für die eigentliche Handlung, so wird man feststellen müssen, dass sie kontingent verläuft. Der eigentliche Zusammenhang der Episode liegt in der Inszenierung einer großen persönlichen Wende, die am Ende der Episode zu der Verdoppelung Ulrichs in

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Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 148. Es geht um die folgende Stelle aus dem ersten Teil des Romans: »[…] Ulrich schrieb in seinem Aufsatz über die Vaterlandsliebe, daß ein ernster Vaterlandsfreund sein Vaterland niemals das beste finden dürfe; ja mit einem Blitz, der ihn besonders schön dünkte, obgleich er mehr von seinem Glanz geblendet wurde, als daß er sah, was darin vorging, hatte er diesem verdächtigen Satz noch den zweiten hinzugefügt, daß wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden…), denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein.« (MoE/B1/25-26) Arntzen, Helmut: Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im »Mann ohne Eigenschaften«, Bonn: Bouvier 1983, S. 164. Arntzen: Musil-Kommentar, S. 109.

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Historische Zeit im Narrativ

seiner eigenen Wahrnehmung führt und in den Vorsatz mündet, »das fehlende kleine Stück« oder »Geist des Geistes« (MoE/B1/245) zu packen. Eingeleitet wird diese Wende mit der Betrachtung der Moralproblematik an den Fällen Moosbrugger und Bonadea. Ulrich stellt sie mit dem Satz »Man hat eine zweite Heimat, in der alles, was man tut, unschuldig ist« (MoE/B1/186) in Frage. Diese Relativierung der Moral reicht von der Ebene der privaten Konflikte der Figur zu der Verallgemeinerungsebene, auf der Bonadeas Ehebruch mit Ulrich als ein regulärer Fall der Entfremdung zwischen der auferlegten Moral und der Perspektive des Einzelnen betrachtet wird. Damit wird in der Narration ein Sprung zur kollektiven Zeit gemacht und der Modus der historischen Zeit aufgenommen, in welcher sich der Protagonist weiterhin bewegt, wenn er sein Haus verlässt und sich auf den Spaziergang durch Wien begibt. Das Innere seines Hauses und die Straßenarchitektur geben Ulrich Anhaltspunkte für die Problematisierung der Existenz eines Einzelnen in der bereits vorgefertigten Welt, dem Seinesgleichen. Die Architektur dient dabei als Metapher des Bestehenden schlechthin, also auch der Moral, die von der Gesellschaft vorgegeben wird: Diese Schönheit? – hat man gedacht – ganz gut, aber ist es die meine? Ist denn die Wahrheit, die ich kennen lerne, meine Wahrheit? Die Ziele, die Stimmen, die Wirklichkeit, all dieses Verführerische, das lockt und leitet, dem man folgt und worein man sich stürzt: – ist es denn die wirkliche Wirklichkeit, oder zeigt sich von der noch nicht mehr als ein Hauch, der ungreifbar auf der dargebotenen Wirklichkeit ruht?! Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle. (MoE/B1/203) Schönheit und Wahrheit werden in der zitierten Passage als zwei vorgefertigte Entwürfe gedeutet, die als »ungreifbarer Hauch« über den architektonischen Besonderheiten des Raums liegen. Der »Mann ohne Eigenschaften« sieht in dieser »fertigen Sprache« offensichtlich mehr als eine »historisch« entstandene Anhäufung der Formen, sondern erkennt darin die abstrakte Ebene der moralischen Ideale (Schönheit und Wahrheit) als »die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern der Empfindungen und Gefühle«. Die Historizität der Wahrnehmung und auch der Gefühle impliziert jedoch mehr als Beobachtung der Geschmacksevolution oder Abfolge der Stile, denn sie greift über die Ebene des Vorgefertigten auf die Ebene des Gegenwärtigen hinaus und positioniert dort den Beobachter, der den fertigen Formen »so spürbar« misstraut. Das Verhältnis zwischen dem Seinesgleichen als dem Beobachteten und Ulrich als Beobachter interpretierte Klaus Laermann als eine tiefe Homologie zwischen beiden: […] das Seinesgleichen ist Ulrichs-gleichen, die Erscheinungsform der Eigenschaftslosigkeit in der Welt der Objekte. Diese haben mit Ulrich die Wesenlosigkeit gemein, die er an ihnen kritisiert und an der er leidet.91 Daran schließe ich mich an und verstehe die Eigenschafts- und Wesenlosigkeit von Ulrich als Symptom einer Verankerung im »ungreifbaren Hauch« der kollektiven Vorstellungen, die im Roman zur Lebensrealität der Figuren inszeniert werden. Der Be91

Laermann: Eigenschaftslosigkeit, S. 87.

4. Narration

obachter dieser Realität wird von Ulrich als junger Mensch imaginiert, der in die Welt der fertigen stilistischen und moralischen Formen eintritt und sich darin zurechtfinden muss: Man braucht es sich ja bloß vorzustellen: wenn außen eine schwere Welt auf Zunge, Händen und Augen liegt, der erkaltete Mond aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern, – und innen ist nichts wie ein haltlos beweglicher Nebel: welches Glück es bedeuten muß, sobald einer einen Ausdruck vormacht, in dem man sich selbst zu erkennen vermeint. Ist irgend etwas natürlicher, als daß jeder leidenschaftliche Mensch sich noch vor den gewöhnlichen Menschen dieser neuen Form bemächtigt?! Sie schenkt ihm den Augenblick des Seins, des Spannungsgleichgewichtes zwischen innen und außen, zwischen Zerpreßtwerden und Zerfliegen. Auf nichts anderem beruht […] die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung nennt. (MoE/B1/206-207) Die semantische Polarisierung, die an dieser Stelle im Roman stattfindet, läuft auf die gegensätzlichen Semantiken des Vorgefertigten, Harten, Erdrückenden und des Formlosen, Labilen und Flüchtigen hinaus. Ulrich stellt eine ganze Reihe von Erscheinungen auf, die im Roman in die Domäne der kollektiven Zeit gehören: »Der erkaltete Mond« des Gewordenen besteht »aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern« – eine Interpretation des kollektiv Signifikanten, das solche Topoi der Geschichtsschreibung wie politische Ereignisse nicht einmal ansatzweise erwähnt. Die Historizität des Seins wird im Roman als ein »Augenblick des Seins« am Übergang zwischen dem Labilen und Erstarrten darstellt. Nach dem Moment »des Spannungsgleichgewichtes zwischen innen und außen, zwischen Zerpreßtwerden und Zerfliegen« wird die Polarität zwischen dem »haltlos beweglichen Nebel« innen und der »schweren Welt« draußen aufgelöst: Man fängt an, den eigenen Ausdruck im Vorgefertigten zu erkennen und sich seiner als einer »neuen Form« zu bemächtigen. Die Einordnung des Individuellen in das Bestehende gestaltet sich also als eine stilistische Neuauflage; diese Auffassung der zeitlichen Dynamik wird am Ende der Passage durch Ulrichs Aufzählung der Übergangsmomente konkretisiert: »neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung«. Somit liegt die vollständige Liste der Exponenten der historischen Zeit im »Mann ohne Eigenschaften« vor, wie sie im Roman verstanden und narrativ inszeniert wird. Der Inhalt dieser brisanten Formulierungen drängt die Präsenz des nachdenkenden Protagonisten in den Schatten. Um dem entgegenzusteuern, werden sie vom Erzähler in der »leiblichen« Existenz des Protagonisten durch die Beschreibung von Ulrichs Gemütszustand verankert: Seine Gedanken führen Ulrich zur inneren Einkehr und Ruhe, bei welchen sein Gesicht »so still und schlafend glücklich« aussieht, »als stürbe er in den Sonnenstrahlen, die hineinwirbelten, einen milden Erfrierungstod« (MoE/B1/207). Die Dynamik des Seinesgleichen entfaltet sich zwischen der vollständigen Welt und dem unvollständigen Menschen als eine permanente Wiederkehr und bringt die zyklische Struktur der Zeit zum Ausdruck, die zwar durch den Raum fließt, sich selbst jedoch in ihrer Entwicklung permanent absorbiert. Im Roman wird die zyklische Dynamik des Seinesgleichen als eine »historische« bezeichnet: So wie sich architektonisch innovative

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Historische Zeit im Narrativ

Häuser in »ganz nette und belanglose« Häuserfronten verwandeln, bekommen Jugendfreunde von Ulrich mit den erworbenen Regalien der »Professoren, Berühmtheit und Namen« ihren Platz in der Geschichte, wo sie sich ungestört im Spätnachmittagslicht sonnen können (MoE/B1/208). Die stilistische Umwälzung, die Ulrich mit der Generation seiner Jugendfreunde assoziiert, endet in der Akzeptanz des Neuen und seinem Übergang in den Status des »Historischen«. Dieser Prozess der permanenten Versteinerung der lebendigen Impulse, der Absorption des Protestes durch das Bestehende, auf den der nächste Wechsel folgt, wird im Roman oft mit dem Beriff des Historischen verbunden, das ich in Anlehnung an Ricœur als das sekundär Geschichtliche definiere (vgl. das Kapitel 3.3.1. »Denkinstrumente der historischen Zeit). Hingegen lässt sich Ulrichs innerer Protest gegen die Dynamik des Seinesgleichen als Implementierung des primär Geschichtlichen verstehen, in dem die zyklische Geschlossenheit der Zeit zugunsten der linear offenen historischen Zeit (Bachtin) aufgehoben wird. In der linearen, primär historischen Zeit des Romans, wird die Vergangenheit als Kette permanenter Übergänge, unaufhörlichen und unzyklischen Wandels aufgefasst. Ausgehend von diesem Zeitbild kann der Roman nicht mehr eine Handlung im Sinne des Bildungsromans liefern, in welchem der junge Protagonist nach seinem Platz im Leben sucht, auf seinem Bildungsweg eine Reihe von Transformationen erlebt und schließlich in die Weltordnung hineinfindet. Dieses Schema des Bildungsromans eignet sich laut Irmgard Honnef-Becker gerade deshalb »als Bezugstyp zu Musils Roman«, »weil in ihm das vorgestellt wird, was im ›Mann ohne Eigenschaften‹ zum Problem wird«: Die Vorstellung, daß Lebenserfahrung den Menschen nicht weiterbringt, sondern vielmehr verarmen läßt, steht im größten Gegensatz zu den Grundvoraussetzungen des Bildungsromans.92 Statt durch die Erziehung des Protagonisten zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft, gewinnt die Romanhandlung ihre zeitliche Dynamik aus dem Zwist des Protagonisten mit seiner Zeit und wird nicht im Format eines Schicksals, d.h. eines vorgeprägten Ablaufs, sondern einer prinzipiell offenen Zukunft erzählt. Die Wende im Sujet des Protagonisten tritt mit der Aufforderung dazu ein, das Prinzip des von Ulrich beobachteten Wandels durch den Begriff »Geist« zu binden und zu definieren, den »Geist des Geistes« (MoE/B1/245) zu packen. An ihrem Anfang steht die Frage nach der Natur des Geistes, der »auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astronomischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt« (MoE/B1/240) wird. Der Geist wird vom Erzähler als Movens unterschiedlichster Tätigkeitsbereiche bezeichnet, wobei er selbst kaum greifbar bleibt. Der Begriff des Geistes, der dadurch in der Erzählung konstruiert wird, ist der Auffassung von der Existenz ewiger Wahrheiten diametral

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Honnef-Becker: Ulrich lächelte, S. 13. Vgl. auch weiter zur Diskontinuität zwischen dem »Mann ohne Eigenschaften« und dem Genre des Bildungsromans: »Ulrich verfolgt kein bestimmtes Bildungsideal, sondern sucht nach einer Antwort auf die Frage nach dem rechten Leben; nicht das Hineinfinden in eine bestehende Bildung, sondern die intellektuelle Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Ideologieangeboten bilden das Thema des ›Mann ohne Eigenschaften‹.« (Honnef-Becker: Ulrich lächelte, S. 15)

4. Narration

entgegen gesetzt. Das Bewusstsein der Wandelbarkeit der ästhetischen Kategorien und des Wahrheitsbegriffes führt im »Mann ohne Eigenschaften« zu der Auflösung jeglicher fester Ordnungsprinzipien; der Geist wird zum Inbegriff des Wandels erklärt: Der Geist hat erfahren, daß Schönheit gut, schlecht, dumm oder bezaubernd macht. Er zerlegt ein Schaf und einen Büßer und findet in beiden Demut und Geduld. Er untersucht einen Stoff und erkennt, daß er in großen Mengen ein Gift, in kleineren ein Genußmittel sei. Er weiß, daß die Schleimhaut der Lippen mit der Schleimhaut des Darms verwandt ist, weiß aber auch, daß die Demut dieser Lippen mit der Demut alles Heiligen verwandt ist. Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. […] Er haßt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinten Abdruck, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung; weil unsre Kenntnisse sich mit jedem Tag ändern können, glaubt er an keine Bindung, und alles besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nächsten Akt der Schöpfung, wie ein Gesicht, zu dem man spricht, während es sich mit den Worten verändert. (MoE/B1/241-242) In der zitierten Passage wird der Geist zum Sammelbegriff aller ästhetischen Neuerungen und wissenschaftlichen Entdeckungen erklärt. Seine Tätigkeit besteht in der Bildung der Analogien und ihrer Auflösung. Der so verstandene Geist hasst alles Bestehende, darunter »die großen Ideale und Gesetze«, »wie den Tod«. Dieser »keinen vorgezeichneten Rollenmodellen und Denkschablonen folgende, durchaus emphatisch konzipierte ›Geist‹«93 stellt ein universales Prinzip der Veränderung nach dem Muster des griechischen panta rhei dar. Der Protagonist wird in diesem Zusammenhang ironisch als »Fürst des Geistes« (MoE/B1/236) bezeichnet, weil er in dem von ihm entworfenen Bild die Stellung des »Leiters« oder »Theoretikers des Ganzen« beansprucht (»Wer allerdings nicht?!« – so der ironische Kommentar des Erzählers, MoE/B1/239). Bereits sein Name »Ulrich« – der »Herrschende« – verweist auf den Anspruch, den geistigen Wandel in seiner Breite zu beherrschen. Seiner kritischen Einsicht nach fehlt im gesamten Bild der geistigen Tätigkeiten ein Zusammenhang: Ulrich fühlte sich an diesen fast stündlich wachsenden Leib von Tatsachen und Entdeckungen erinnert, aus dem der Geist heute herausblicken muß, wenn er irgendeine Frage genau betrachten will. Dieser Körper wächst dem Inneren davon. Unzählige Auffassungen, Meinungen, ordnende Gedanken aller Zonen und Zeiten, aller Formen gesunder und kranker, wacher und träumender Hirne durchziehen ihn zwar wie Tausende kleiner empfindlicher Nervenstränge, aber der Strahlpunkt, wo sie sich vereinen, fehlt. (MoE/B1/243) Die Natur des Geistes wird durch das Bild einer durch »alle Formen gesunder und kranker, wacher und träumender Hirne« durchzogenen Materie versinnbildlicht. In der Feststellung, dass all diesen »unzähligen Auffassungen, Meinungen, ordnenden Gedanken aller Zonen und Zeiten« der »Strahlpunkt, wo sie sich vereinen«, fehle, berühren sich Ulrichs Gedankengänge mit den Erfahrungen, die Diotima mit ihrem Salon macht 93

Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 194.

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und von denen die Entstehung der Idee der Parallelaktion ihren Ursprung nimmt. Wurde der Untergang der »menschlichen Einheit« aus Diotimas Perspektive als ein Zerfall der Kommunikation in diverse Fachsprachen beschrieben, so problematisiert auch Ulrich die zunehmende Spezialisierung als ein bedrohliches Symptom: In der »Räucherkammer des Geistes« stellt die Beschränkung auf ein Fach die gängige Strategie dar, wobei sich Ulrich fragt, »ob es nicht am Ende, da es doch sicher genug Geist gebe, bloß daran fehle, daß der Geist selbst keinen Geist habe?« (MoE/B1/243-244) Die Ordnung des Ganzen wird von einer fachlichen Fixierung ersetzt. In diesem Bild erkennt Ulrich sich selbst, worauf in der Erzählung eine emotional gefärbte Persönlichkeitsspaltung inszeniert wird. Die Erzählung wechselt in ein anderes Register mit einfachen Sätzen in Ich-Form: Er war ja selbst einer von diesen Verzichtenden. Aber enttäuschter, noch lebendiger Ehrgeiz fuhr durch ihn wie ein Schwert. Zwei Ulriche gingen in diesem Augenblick. Der eine sah sich lächelnd um und dachte: »Da habe ich also einmal eine Rolle spielen wollen, zwischen solchen Kulissen wie diesen. Ich bin eines Tags erwacht, nicht weich wie in Mutters Körbchen, sondern mit der harten Überzeugung, etwas ausrichten zu müssen. Man hat mir Stichworte gegeben, und ich habe gefühlt, sie gehen mich nichts an. Wie von flimmerndem Lampenfieber war damals alles mit meinen eigenen Vorsätzen und Erwartungen ausgefüllt gewesen. Unmerklich hat sich aber inzwischen der Boden gedreht, ich bin ein Stück meines Wegs voran gekommen und stehe vielleicht schon beim Ausgang. Über kurz wird es mich hinausgedreht haben, und ich werde von meiner großen Rolle gerade gesagt haben: ›Die Pferde sind gesattelt.‹ Möge euch alle der Teufel holen!« (MoE/B1/244) Der »lächelnde« Ulrich ironisiert über seinen eigenen Lebensweg und betrachtet ihn als einen Versuch, eine Rolle »zwischen Kulissen wie diesen« zu spielen. Diesen Versuch sieht er als gescheitert an, bevor er an seine Ausführung herangetreten ist. Diese ironische Lebensbilanz geht jedoch mit der Vorausahnung einer neuen Lebensaufgabe einher, die der »andere« Ulrich unternimmt: Aber während der eine mit diesen Gedanken lächelnd durch den schwebenden Abend ging, hielt der andre die Fäuste geballt, in Schmerz und Zorn; er war der weniger sichtbare, und woran er dachte, war, eine Beschwörungsformel zu finden, einen Griff, den man vielleicht packen könnte, den eigentlichen Geist des Geistes, das fehlende, vielleicht nur kleine Stück, das den zerbrochenen Kreis schließt. (MoE/B1/244-245) Der Auftrag, den Geist des Geistes zu finden, wird als Suche nach einer »Beschwörungsformel« formuliert, mit der man dem Geist das »fehlende, vielleicht nur kleine Stück« hinzufügen kann. Wie Cornelia Blasberg zu Recht betont, ist dabei »der Geist, der die Erkenntnisarbeit methodisch leitet, […] der Geist, dem die Suche gilt«.94 Die Wichtigkeit dieser Aufgabe wird im Text rhetorisch durch die Figur des Unaussprechbaren hervorgehoben; ihre Formulierung führt zur Affektion, die metaphorisch als innerer Sturm im Gemüt des Protagonisten beschrieben wird:

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Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 255.

4. Narration

Dieser zweite Ulrich fand keine Worte zu seiner Verfügung. Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung. Der Boden strömte unter seinen Füßen. Er konnte die Augen kaum öffnen. Kann ein Gefühl blasen wie ein Sturm und doch ganz und gar kein stürmisches Gefühl sein? Wenn man von einem Sturm des Gefühls spricht, meint man einen, wo die Rinde des Menschen ächzt und die Äste des Menschen fliegen, als sollten sie abbrechen. Das aber war ein Sturm bei ganz ruhig bleibender Oberfläche. Nur beinahe ein Zustand der Bekehrung, der Umkehrung; keine Miene verschob sich von ihrem Platz, aber innen schien kein Atom an seiner Stelle zu bleiben. […] Die Dinge schienen nicht aus Holz und Stein, sondern aus einer grandiosen und unendlich zarten Immoralität zu bestehen, die in dem Augenblick, wo sie sich mit ihm berührte, zu tiefer moralischer Erschütterung wurde. (MoE/B1/245-246) An dieser Stelle münden die zunächst abgehobenen Gedanken Ulrichs in den Zustand »der Bekehrung, der Umkehrung«. Anders als Ulrichs »wirkliche« Entschlüsse, irgendwo (zum Grafen Leinsdorf, Walter und Clarisse) nicht hin zu gehen, hat diese Umkehrung kaum explizit sichtbare Zeichen, trägt den Charakter eines »Sturms bei ganz ruhig bleibender Oberfläche« – und erweist sich im Roman umso resultativer. Die Veränderung, die in der Passage inszeniert wird, bezieht sich auf die Psyche des Protagonisten (»innen schien kein Atom an seiner Stelle zu bleiben«) und lässt sich als Auflösung des Festen und Bestehenden (»Dinge aus Holz und Stein«) in der »unendlich zarten Immoralität« beschreiben. Die Einsicht in die Wandelbarkeit des Geistes ruft in Ulrich das Gefühl »tiefer moralischer Erschütterung« hervor. Solche Momente der Transformation »aus dem Inneren« des Protagonisten in Form von Visionen, räumlichen Inversionen, Stimmen und Träumen markieren im »Mann ohne Eigenschaften« Wendepunkte, die den Anschein persönlicher Peripetien erwecken. Ihre Funktion liegt jedoch darin, die Instanz des Protagonisten in einen Bezugspunkt zu verwandeln, von dem aus die abstrakte historische Zeit erzähl- und beeinflussbar erscheint. Einer überhöhten Aufgabenstellung, den »Geist des Geistes« einzufangen, gilt die Ironie des Protagonisten selbst; im ironischen Licht erscheint im Roman auch die Parallelaktion. Sie bietet als Suche nach der fehlenden menschlichen Einheit eine Parallele zum Auftrag des Protagonisten und stützt sich als ein kollektiver Vorgang auf eine Reihe emotional gefärbter Gleichnisse. Die Homologie zwischen beiden Sujets ist zum einen gestaltungstechnisch durch die Modellierung der (individuellen oder kollektiven) Gedankenproduktion bedingt und zum anderen thematisch in der Aufgabe der Konsolidierung des »Geistes« begründet. Diotimas Ehrgeiz bietet eine karikierte Spiegelung von Ulrichs Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden, und seine Realisierung in der Form eines schöngeistigen Salons lässt Diotima die gleiche Erfahrung der Zusammenhangslosigkeit des intellektuellen Lebens bei dem Fortschreiten der Spezialisierung und der Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Entdeckungen und literarischer Strömungen machen. Aber auch Graf Leinsdorf mit seiner, wie Stefan Howald treffend formulierte, politischen Intention, »die praktischen Interessen in ideelle Werte

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Historische Zeit im Narrativ

um[zu]wandeln«,95 spiegelt Ulrichs Gedanken rund um ein »rechtes« Leben, in dem die Lebenspraxis durch die Ideen gesteuert wird. Wenn der Protagonist also nach seinem Beschluss, »den Geist des Geistes« zu packen, ins Visier der Staatsmacht gerät und durch eine Verkettung von Umständen zum Ehrensekretär der Parallelaktion ernannt wird, so hat diese Wende ihre Logik vor dem Hintergrund des Auftrags, den Ulrich auf seinem Spaziergang durch Wien ersinnt und für dessen Erfüllung er im Umkreis der Parallelaktion gewisse Möglichkeiten erhält.

4.1.3

Das doppelte Sujet

Helmut Arntzen sah in seinem Kommentar zum Roman den zweiten Teil des ersten Buches, »Seinesgleichen geschieht«, im Zeichen des Abbruchs der Erzählweise, wie sie in »Eine Art Einleitung« und am Anfang des zweiten Teils gepflegt wird: Ja, der ganze Aufwand, der der Einleitung eines vielfältigen, vielleicht sogar spannenden Epochenroman hätte dienen können, ist vertan. Ulrich, der noch eben auf fast abenteuerliche Weise wieder mit der »vaterländischen Aktion« in Verbindung gebracht worden war, erlebt abenteuerliches überhaupt nicht mehr.96 Tatsächlich nimmt das Romansujet kaum die Züge eines Abenteuerromans an, dessen Zeitstruktur, wie Bachtin schrieb, nach der Logik »zufälliger Kongruenz« und »zufälliger Inkongruenz« (Chr/15) organisiert ist und als »Zeit des Zufalls« (Chr/18) die Grundlage des »abstraktesten« von allen großen Romanchronotopoi (Chr/35) bildet. Allerdings war die Zeiterfahrung im »Mann ohne Eigenschaften« auch am Romananfang nicht nach dem Muster der bezugsleeren und kontingenten Abenteuerzeit organisiert, sondern mit einem bestimmten, wenn auch abstrakten Inhalt ausgefüllt. Dass es dabei sehr wohl um eine Art »vielfältigen, sogar spannenden Epochenroman[s]«97 oder – mit Ulrich Karthaus – um »geschichtlich bedingte Zeiterfahrung«98 – geht, erschließt sich aber erst, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass den Ideen im »Mann ohne Eigenschaften« ein besonderer Realitätsstatus zukommt. Neben anderen Erscheinungen hochabstrakter Natur wie kollektiven Träumen, Wunschvorstellungen, stilistischen Vorlieben und moralischen Grundsätzen prägen sie die Erfahrung der abstrakten historischen Zeit in diesem Roman. Die Handlung des Romans entwickelt sich dabei über solche – im Kontext des »Mann ohne Eigenschaften« – ereignishaften Momente wie das Generieren von Gedanken, Einfällen und Einsichten der Figuren. Dabei stellt die erzählerische Darstellung des kollektiven Wandels eine Herausforderung für die Erzählstruktur dar, da der Hintergrund der Erzählung beweglich wird und keine stabile Folie für die Wahrnehmung von Ereignissen bieten kann. Im klassischen historischen Roman sah Bachtin diese Aufgabe durch die Aufstellung des doppelten Sujetbogens gelöst, der die Übertragung zwischen den zwei dynamischen Reihen/Sujets des kollektiven und individuellen Lebens operationalisierte. Eine solche Ver-

95 96 97 98

Howald: Ästhetizismus, S. 253. Arntzen: Musil-Kommentar, S. 93. Ebd. Karthaus: Der andere Zustand, S. 11.

4. Narration

doppelung des Sujets findet auch im »Mann ohne Eigenschaften« in einer stark abgewandelten, fast zur Unkenntnis veränderten Form statt. Den Antrieb des kollektiven Sujets bietet die Suche nach einer Idee für die Parallelaktion, die von mehreren Figuren ausgetragen wird; auch der Protagonist Ulrich setzt sich mit dem Potenzial des menschlichen Geistes auseinander und erkennt seine Mission darin, den »Geist des Geistes« zu packen. Die Parallelität beider Handlungsstränge besteht zum einen in der Entwicklung von ereignishaften Situationen wie Gedanken, Ideen, Einfälle, Gleichnisse, mentale Bilder etc. und zum anderen in der zentralen Aufgabe der Suche nach einem integrativen Teil des menschlichen Geistes, die in beiden Sujetlinien unterschiedlich und durchaus ironisch reflektiert wird. Die Kritik des kollektiven Geschehens wird auf mehrere Figuren im Kreis der Parallelaktion verteilt. Wie ich im vorliegenden Kapitel zeige, bieten die Einblicke, die Diotima, Arnheim und General Stumm im Verlauf der Parallelaktion sammeln, Entwicklungsstationen des Sujets der Parallelaktion. Über diese Stationen entwickelt sich das Sujet der Parallelaktion als eine Revision der Vorkriegszeit mit dem Fokus auf dem kollektiven Umgang mit Ideen. Parallel dazu wird im Sujet des Protagonisten Ulrich eine Reihe von Korrektiven am Bestand kollektiver Praktiken entworfen und in einem Vorschlag an die Parallelaktion zusammengefasst.

4.1.3.1

Das Sujet der Parallelaktion: »Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen«99

Der Roman, der »das geistige Typische«, »das Gespenstische des Geschehens«100 darstellen soll, anstatt verspätet politische Ereignisse zu registrieren, reflektiert in der Handlung der Parallelaktion modellhaft die Bewegung des kollektiven Wandels in eine bestimmte Richtung, welche die betroffene Gesellschaft bereits vor dem Anfang der politischen Krise zum inneren Zusammenbruch führt. Diese Bewegung wird allmählich aus den Beobachtungen mehrerer Figuren akkumuliert, wie Inka Mülder-Bach in Bezug auf Musils Erzähltechnik treffend beschreibt: Was als Hintergrund ein kaum artikuliertes Rauschen blieb, wird von einem bestimmten Punkt an Figur, tritt als Information oder Gestalt in den Vordergrund, ohne daß sich genau angeben ließe, wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, bzw. man ihn als Leser bemerkt.101 Dass zwischen der Handlung der Parallelaktion und den Erklärungsmustern für das kollektive Geschehen, die Musil im Nachhinein erarbeitete, eine strukturelle Übereinstimmung besteht, thematisierte Alexander Honold: »Mit der Parallelaktion als diachroner Achse der Romankonstruktion gelingt es Musil, die eigenen Orientierungsversuche nach dem Kriege in ein Erzählmodell zu überführen […].«102 In einer ironischen Brechung werden sie in der Parallelaktion karikiert, die vom Pathos der Suche nach dem 99 100 101 102

MoE/B1/360. Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14. Mülder-Bach: Robert Musil, S. 264. Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 74. Vgl. außerdem Musils Äußerung im Fontana-Interview: »[…] mein ›historischer‹ Roman soll nichts geben, was nicht auch heute Geltung hätte.« (Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14)

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Historische Zeit im Narrativ

heiligen Gral einer »großen Idee« vorangetrieben wird. Das Motiv der Suche, das laut Bachtin ein zentrales Motiv der Romangattung darstellt (Chr/20), transformiert sich im »Mann ohne Eigenschaften« in die Suche nach einer Idee, die eine integrative Wirkung auf die Gesellschaft ausüben soll. Dabei liegt die besondere Art von Musils Roman, ein Ideenroman zu sein, nicht bloß darin, Ideen zu enthalten. Musils Schreibstrategie hat Klaus Amann treffend auf den Punkt gebracht: Musil geht nicht von Konzepten, Wahrheiten oder Ideologien aus, sondern er versteht das Schreiben selber als Methode und als Instrument, um über Wahrheiten, Überzeugungen und Ideologien, aber auch um über Gefühle und Wahrnehmungen etwas zu erfahren und mitzuteilen.103 Bezogen auf die Parallelaktion ergibt diese Strategie eine Abfolge von »Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen« (MoE/B1/360), die den Charakter einer zusammenhängenden Fabel tragen und sich kaum auf eine Formel für »entfremdete Sozialverhältnisse« reduzieren lassen, wie es u.a. Hartmut Böhme in seiner Behandlung des Musilschen »Seinesgleichen« tat.104 Die Intrige der Parallelaktion – Suche nach einer Idee – ist proportional zur Auffassung der kollektiven Zeit im Roman als der Zeit des »Geistes«. Bei ihrer Entfaltung im Romantext wechselt der Erzähler permanent zwischen der biografisch und körperlich bedingten Perpektive der Figuren und dem Feld des »Geistes« und schreibt der abstrakten kollektiven Zeit die Erfahrungen der Figuren des Romans ein. Bei all der panlogischen Entwicklung dieser Zeit, für welche seltsame Sprünge, Abweichungen und molekular-chaotische Vorgänge charakteristisch sind, werden die Erfahrungen der Figuren in diesem Umfeld als eine konsequente und resultative Abfolge gestaltet und erlauben es, von einer, wenn auch durchaus unkonventionellen, Fabel zu sprechen. Diese Fabel entwickelt sich über solche Geschehensmomente wie Zusammenkünfte in Diotimas Salon, Unterredungen, Sitzungen, Konzile usw. Diese Handlungselemente stehen in der Tradition des klassischen Romans des XIX. Jahrhunderts, in dem die Salonerzählung mit dem obligatorischen Liebesmotiv verschränkt wird. Das Spezifische an Musils Roman liegt darin, dass diese traditionellen Erzählmuster dem Druck der abstrakten historischen Zeit im Hintergrund der Erzählung nachgeben und einen ungewöhnlichen Inhalt transportieren. Im Rahmen der Salonzusammenkünfte wird nicht nur der Ideenvorrat einer Epoche gesichtet, sondern der analytische Fokus auf die Zirkulationsweise der Ideen gelegt, die aus der Perspektive mehrerer Figuren (Diotima, ihr Gatte, Arnheim, Ulrich, General Stumm von Bordwehr) kritisch hinterfragt wird. Auf die einzelnen Stationen dieser Fabel gehe ich in den folgenden Abschnitten zusammenfassend ein.

103 Amann: Robert Musil, Literatur und Politik, S. 38. 104 Böhme: Anomie und Entfremdung, S. 3. Wenn Böhme den Begriff der »Anomie« auf den »Mann ohne Eigenschaften« anwendet, ist es m.E. insoweit berechtigt, als die Darstellung der sozialen Welt anhand von geistigen Trends tatsächlich kaum die Ebene des politischen Handelns berührt. Wird diese Ebene dem Roman zusätzlich eingelesen, so erscheint die Interpretation des Sozialen im Roman »anomisch«, d.h. den Realien des Klassen- und Machtkampfes weitgehend enthoben.

4. Narration

»Die Entthronung der Ideokratie«105 Stellte der Salon im Roman des XIX. Jahrhunderts laut Bachtin ein Schauplatz des Geschehens dar, in dem Ereignisse des politischen, öffentlichen und privaten Lebens miteinander verschränkt wurden, so trifft dies auch auf den Salon bei Musil zu, in dem sich private Konflikte und Verwicklungen mit dem öffentlichen Leben vermischen – mit dem Unterschied, dass das öffentliche Leben im »Mann ohne Eigenschaften« kaum Züge politischer Realität trägt, sondern sich in erster Linie als ein Feld geistiger Produktion gestaltet. Dementsprechend ist Diotimas Salon vor allem mit Intellektuellen – Wissenschaftlern, Journalisten, Schriftstellern und Künstlern – bevölkert. Die zentrale Problematik dieser Zusammenkünfte besteht in der Unmöglichkeit, sie zu steuern und eine gemeinsame Sprache für die unterschiedlich gesinnten Gäste zu finden, und wird – wie oben bereits angesprochen wurde – im Roman bereits in den Anfängen der Parallekation problematisiert. Während der Salon im Verlauf der Parallelaktion an Bedeutung gewinnt, vertieft Diotima diese Beobachtungen: Es zeigte sich, daß sie in einer großen Zeit lebte, denn die Zeit war voll von großen Ideen […]. Jedesmal, wenn Diotima sich beinahe schon für eine solche Idee entschieden hatte, mußte sie bemerken, daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen. So ist es nun einmal, und sie konnte nichts dafür. Ideale haben merkwürdige Eigenschaften und darunter auch die, daß sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will. […] Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt. (MoE/B1/364) Die Erkenntnis, dass gerade »große Ideen« »merkwürdige Eigenschaften« haben, da jeder »ewigen Wahrheit« eine Gegenwahrheit entspricht, bringt keine euphorische Bekenntnis zum Ideenpluralismus, sondern die ironische Feststellung der Unzuverlässigkeit von Idealen zum Ausdruck, die »in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will«. Diese Erfahrung macht im Roman exakt die Figur, die für Idealismus als kulturelle Tendenz steht. »Übermäßig angeschwollene Idealität« (MoE/B1/1643), Verlangen nach allem »Großen und Edlen« (MoE/B1/164), die für das Figurenkonzept Diotimas zentral sind, nehmen im Verlauf der Parallelaktion die Form von Parolen an, »ein Weltösterreichisches Jahr« auszurufen, bei dem »der europäische Geist in Österreich seine wahre Heimat erblicken könnte« (MoE/B1/366). Sätze dieser Art werden von Diotima in Verbindung mit Aufforderungen, das Schöne und Gute zu verwirklichen, an die Teilnehmer der Parallelaktion gerichtet. Beim Schritt zur Verwirklichung erweisen sich große Zeichen und Symbole jedoch am wenigsten für die lebensweltliche Anwendung geeignet – eine Feststellung, die der Erzähler im Kapitel 88 »Die Verbindung mit großen Dingen« ausführlich kommentiert. Dabei geht es zunächst um die psychische Wirkung der großen Gedanken, die anhand einiger typischer Situationen demonstriert wird: Ein Mensch wandert durch einen Wald, besteigt einen Berg und sieht die Welt unter sich ausgebreitet, betrachtet sein Kind, das man ihm zum erstenmal in die Arme legt, oder genießt das Glück, irgendeine Lage einzunehmen, die allgemein beneidet wird;

105 MoE/B1/651.

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wir fragen: was mag dabei in ihm vorgehen? […] Draußen überzieht die durchseelte, durchsonnte, vertiefte oder große Stunde die Welt mit einem galvanischen Silber bis in alle Blättchen und Äderchen; an ihrem anderen, persönlichen Ende aber macht sich bald ein gewisser, innerer Stoffmangel merklich, es entsteht dort sozusagen ein großes, leeres, rundes »O«. (MoE/B1/363) Im nächsten Schritt setzt eine Verallgemeinerung dieser Wahrnehmungssituation ein, die das Geschehen als »das klassische Symptom« einordnet: Dieser Zustand ist das klassische Symptom der Berührung mit allem Ewigen und Großen wie des Verweilens auf den Höhepunkten der Menschheit und Natur. Personen, welche die Gesellschaft großer Dinge bevorzugen – und dazu gehören vornehmlich auch die großen Seelen, für die es überhaupt keine kleinen Dinge gibt, – wird unwillkürlich das Innere zu einer ausgedehnten Oberflächlichkeit herausgezogen. Man könnte die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen darum auch als ein Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich allgemein zu gelten. (MoE/B1/363) Der schrittweise Übergang von der Ebene der psychischen Wahrnehmung zur Ebene kultureller Universalien beherbergt eine für den Roman typische Plausibilisierungsstruktur, welche die situative Wahrnehmung der abstrakten Ebene kultureller Universalien konstruiert. Dabei wird der Umgang mit dem »Ewigen und Großen« einerseits als Fall der individuellen Wahrnehmung, andererseits als allgemeine Tendenz aufgefasst: Die Reden hochgestellter, im Großen wirkender Personen sind gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in einer besonders nahen Beziehung zu besonders würdigen Gegenständen stehen, sehen gewöhnlich so aus, daß sie ohne diese Begünstigung für sehr zurückgeblieben gehalten würden. Die uns teuersten Aufgaben, die der Nation, des Friedens, der Menschheit, der Tugend und ähnlich teuere tragen auf ihrem Rücken die billigste Geistesflora. (MoE/B1/636-637) Die Wirkung des »Gesetzes von der Erhaltung der geistigen Materie« läuft auf Paradoxien hinaus, wobei »besonders würdige Gegenstände« mit der »billigsten Geistesflora« ausgestattet sind. Diese Kritik gilt in erster Linie dem Idealismus als der »Sphäre des Großen«, der Diotima in ihrer bürgerlichen Grundbildung verhaftet ist und die an ihrer Gestalt sowie ihrer Redepraxis im Salon in mehreren Facetten betrachtet und ausgewertet wird: »Es kam eigentlich immer so, daß Diotima zu sprechen begann, als ob Gott den Menschen am siebenten Tag als Perle in die Weltmuschel hineingesetzt hätte« (MoE/B1/446). Als Figur verkörpert Diotima im Roman nicht nur den intellektuellen Habitus einer bestimmten Schicht, sondern bisweilen auch »den ganzen Idealismus der Welt, in seiner Verzweigtheit und Ausbreitung«, den Ulrich »körperlich vor sich [sieht], eine Handbreit über dem griechischen Scheitel schwebend; gerade daß es nicht des Teufels Hörner waren!« (MoE/B1/456-457). An einer anderen Stelle beschreibt der Erzähler Diotimas Glauben an das Schöne, Wahre und Gute im Gegensatz zu »den gegenwärtigen robusteren Zeiten« als »vornehmen Idealismus, eine dezente Gehobenheit« der Vorkriegszeit, die »etwas von der Blumenmalerei von Erzherzoginnen [hatte],

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denen andere Modelle als Blumen unangemessen waren« (MoE/B1/528). Warum gerade dieser Idealismus das Attribut »des Teufels Hörner« verdient, liegt an seinem Kulturverständnis (»er fühlte sich kulturvoll«), dem die Auffassung von Kultur als einer Harmonie stiftenden Kraft zugrunde liegt: [Dieser Idealismus] war vielleicht gar nicht so sehr verschieden von dem, was man noch heute […] unter einem gediegenen und sauberen Idealismus versteht, der ja sehr zwischen Gegenständen unterscheidet, die seiner würdig, und solchen, die es nicht sind, und aus Gründen der höheren Humanität keineswegs an die Überzeugung der Heiligen (und der Ärzte und Ingenieure) glaubt, daß auch in den moralischen Abfällen unausgenützte himmlische Heizkraft stecke. (MoE/B1/528) In dieser Art des »gediegenen und sauberen Idealismus« werden Gegensätze zugunsten einer versöhnlichen Illusion kaschiert. »Höhere Humanität« degradiert dabei zu einer wählerischen Haltung, die Würdiges vom Unwürdigen sauber trennt. Dem hält der Erzähler die Haltung von Heiligen sowie von Ärzten und Ingenieuren entgegen, die gerade »in den moralischen Abfällen«, die vom Idealismus verworfen werden, »unausgenützte himmlische Heizkraft« vermuten. Demnach stellt Diotimas Vorhaben, unter den vorhandenen »großen Ideen« die allergrößte zu finden, einen Irrweg in der illusorischen Welt der Ideale dar, die nicht nur keiner Lebensrealität entsprechen, sondern der Tendenz zur Reduktion der Lebensrealität zugunsten der Separation des Ewigen und Guten entspringen. »Ein unerträglich fetter Küchendampf von Humanität« (MoE/B1/951) erzeugt eine permanente Verarmung durch das Verfliegen des Idealen in die Höhe, wodurch produktive Kräfte der Kultur den »einseitigsten Übertreibungen« des Idealismus (MoE/B1/821) geopfert werden. Die Unproduktivität von guten Vorsätzen und großen Ideen zeichnet sich in den Vorgängen der Parallelaktion also bereits früh als zentrale Problematik ab und wird durch die Arbeit von Ausschüssen und das Sammeln von Vorschlägen um einen weiteren wichtigen Moment ergänzt: die Erfahrung des allgemeinen Unwohlseins in der Gegenwart. Diese Erfahrung formuliert Ulrich nach seiner Beschäftigung mit den Vorschlägen, die er in zwei Mappen »Vorwärts zu…« und »Zurück zu…« sortiert. Diese Vorschläge beinhalten Aufforderungen zu einer Reform der Gegenwart, die sie entweder auf einen früheren Zustand zurückführen oder im Geist der Zukunft umgestalten wollen. Daran zeigt sich die Unzufriedenheit mit der Gegenwart, die in beiden Fällen reformbedürftig zu sein scheint. Die Bedrohlichkeit der Parallelaktion liegt laut Ulrich darin, dass sie »dazu bestimmt ist«, dieses Unwohlsein in der Gegenwart »an den Tag zu bringen« (MoE/B1/369-370). Die große Zahl an Reformvorschlägen und Ideen zur Korrektur des Bestehenden wird im Apparat der Parallelaktion jedoch geschickt auf bürokratische Weise zum Stillstand gebracht. Zum einen werden Vorschläge von einer Instanz an die andere weitergeleitet und schließlich »asserviert«, »auf deutsch soviel wie ›Zu späterer Entscheidung aufgehoben‹« (MoE/B1/358). Zum anderen weist Ulrich im Namen des Grafen Leinsdorf seine Besucher auf die Möglichkeit hin, einen Verein zu gründen. Zum Scheitern verurteilt ist auch das Konzil der »großen Geister«, bei dem nur wenige der Besucher personalisierte Gesichtszüge besitzen (wie es vergleichsweise in umfangreichen Gesprächsrunden in Gorʹkijs Roman die Regel ist). Sie werden unter Be-

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rufsgruppen zusammengefasst, deren typische Verhaltensmuster problematisiert werden. So zeichnen sich die »großen Geister« durch die Unsicherheit aus, wenn es darum geht, die eigene Rede zu unterbrechen und sich auf Diskussionen mit »Dritten oder Vierten« einzulassen (MoE/B1/475). Das fließende Reden gerät ins Stocken, sobald man sich mit anderen »auf dem gemeinen Boden« verständigen muss. Diese Erfahrung, die in der zitierten Passage Diotima zugeschrieben wird, wird vom Erzähler als das allgemeine »Unvermögen, zur Ordnung zu gelangen« resümiert. Die Versammlung von »lauter Ganze[n]«, deren Tun »schön, groß, einmalig« war, ergibt ein Bild der geistigen Tätigkeit, das einem gewebten Teppich gleicht: Unzählige Erinnerungen an Erlebnisse, Myriaden einander kreuzender Schwingungen des Geistes waren in diesen Köpfen versammelt, die wie die Nadeln eines Teppichwirkers in einem Gewebe staken, das sich rings um sie, vor ihnen und nach ihnen ohne Naht und Rand ausbreitete, und sie wirkten an irgendeiner Stelle ein Muster, das sich ähnlich anderswo wiederholte und doch ein wenig verschieden war. (MoE/B1/478) Das Gewebe »ohne Naht und Rand«, das die Anwesenden umgibt, verbindet ihre Erlebnisse und »Schwingungen des Geistes« zu einer Gegenwart miteinander, in der ein Einzelner sich bloß »ein wenig« von den anderen abhebt und eine Mustervariation des gigantischen Teppichs darstellt. In dieser bildlichen Darstellung wird die abstrakte historische Zeit im Roman als geistige Realität problematisiert, die in ihrer unendlichen Ausbreitung und in ihrer Oberflächenstruktur einem Rhizom gleicht. Im Gegensatz zur emphatischen Einstellung gegenüber solchen Denkstrukturen in der Postmoderne werden sie im »Mann ohne Eigenschaften« ironisch betrachtet; der Geist bedeutet hier eher eine Art fragwürdige Tätigkeit, die ihre eigene Realität hervorbringt und sich chaotisch ausbreitet. Eine Neigung zur Illusionsdurchbrechung bescheinigt der Erzähler den anwesenden, »in den Bart lächelnden« Wissenschaftlern, die mit großer Skepsis den Reden der »großen Geister« beiwohnen. Wie Stephan Reinhardt zu Recht betont, kann das wissenschaftliche Denken laut Musil als »das »Kollektivste« gelten, da es »Spezialisierung und Kollektivierung hervor[treibt]«.106 Insbesondere bei dem wissenschaftlichen Streben nach der Wahrheit muss der Beobachter feststellen, dass sie dem Höhenflug der Ideen und der poetischen Begeisterung durch Symbole entgegenläuft. So ist es laut dem Erzähler in der Wissenschaft Gang und Gäbe, […] Rausch und Geisteskrankheit als verwandt zu empfinden; After und Mund als das rektale und orale Ende derselben Sache einander gleichzustellen –: derartige Vorstellungen, die im Zauberkunststück der menschlichen Illusionen gewissermaßen den Trick bloßlegen, finden immer eine Art günstiger Vormeinung, um für besonders wissenschaftlich zu gelten. Es ist allerdings die Wahrheit, was man da liebt; aber rings um diese blanke Liebe liegt eine Vorliebe für Desillusion, Zwang, Unerbittlichkeit, kalte Abschreckung und trockene Zurechtweisung, eine hämische Vorliebe oder wenigstens eine unfreiwillige Gefühlsausstrahlung von solcher Art. Mit einem anderen Wort,

106 Reinhardt: Studien zur Antinomie, S. 5.

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die Stimme der Wahrheit hat ein verdächtiges Nebengeräusch, aber die am nächsten Beteiligten wollen nichts davon hören. (MoE/B1/484) Die »Vorliebe zur Desillusion« wird vom Erzähler als eine Haltung reflektiert, welche den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Arbeit die gefühlsbetonte Komponente der »kalten Abschreckung« und der »hämischen Vorliebe« verleiht. Das Ethos der Wissenschaftlichkeit erweist sich dabei als Pathos, als eine »Gefühlsausstrahlung«, die der »Stimme der Wahrheit« »ein verdächtiges Nebengeräusch« verleiht. Wie Jacques Bouveresse in Bezug auf diese Stelle im Roman ausführte, hängt die Konstituierung der Wissenschaft als »Sublimierung der Desillusion«107 mit dem Verzicht auf den Anspruch zusammen, »jeglichen Beitrag zur Lösung der theologischen bzw. auch einfach metaphysischen Fragen zu leisten«.108 Dieser Verzicht wird von Musil nicht als ein ultimativer betrachtet, vielmehr besteht laut Bouveresse eine der zentralen Ideen des »Mann ohne Eigenschaften« darin, (…) dass, wenn das Abenteuer Wissenschaft mit all den Ungewissheiten, die es mit sich bringt, zu Ende geführt sein wird, vielleicht eine Begegnung einer neuen Art mit dem Glauben und mit Gott möglich werden wird, jedoch nicht früher.109 Bei dem gegenwärtigen Stand scheinen Wissenschaftler jedoch am wenigsten dazu geeignet zu sein, eine universale Botschaft an die Menschheit zu formulieren oder die wahre Sendung Österreichs zu entdecken, was sich ebenfalls an Kommunikationsschwierigkeiten in Diotimas Salon zeigt: Die anwesenden Wissenschaftler können die Grenzen der eigenen Spezialisierung kaum durchbrechen und müssen sich damit begnügen, sich lediglich mit Fachkollegen zu unterhalten. Die Salondame hält das erste Konzil, bei dem der »Gräberwind über den Gefilden des Geistes« (MoE/B1/478) weht, für misslungen, und legt ihre Hoffnungen in die Versammlung der »jüngeren Geister«, in welcher ein Chaos an Weltverbesserungsvorschlägen und Parolen herrscht. Dieses zweite Konzil wird aus der Perspektive Arnheims geschildert, der die Vorgänge im Salon unter dem Stichwort »die Entthronung der Ideokratie« (MoE/B1/651) summiert. Die Versammlung der »Besucher unter dreißig, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, fast noch Boheme, aber doch schon bekannt und von den Zeitungen wahrgenommen«, macht den »Eindruck von einem Kaffeehaus«, wobei der Erzähler auf lediglich zwei Seiten die unterschiedlichsten Parolen der Avantgarde zusammenbringt: Was sie für famose Worte hatten! Das intellektuelle Temperament forderten sie. Den rapiden Denkstil, der der Welt an die Brust springt. Das zugespitzte Hirn des kosmischen Menschen. Was hatte er denn sonst noch gehört? Die Neugestaltung des Menschen auf Grund eines amerikanisierten Weltarbeitsplans, durch das Medium der mechanisierten Kraft. Den Lyrismus, verbunden mit dem eindringlichsten Dramatismus

107 Bouveresse, Jacques: »Robert Musil, die Macht des Falschen und der Wert des Wahren«, in: Mulligan, Kevin/Westerhoff, Armin (Hg.), Robert Musil. Ironie, Satire, falsche Gefühle, Paderborn: mentis 2009, S. 13-32, hier S. 24. 108 Ebd., S. 22. 109 Ebd., S. 25.

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des Lebens. Den Technismus; einen Geist, der des Zeitalters der Maschine würdig ist. Blériot – hatte einer ausgerufen – schwebe soeben über dem Ärmelkanal mit fünfzig Kilometern Stundengeschwindigkeit! Dieses Fünfzig-Kilometer-Gedicht müßte man schreiben und die ganze andere, mulmige Literatur auf den Mist schicken! Den Akzelerismus forderten sie, das ist die maximale Steigerung der Erlebensgeschwindigkeit auf Grund sportlicher Biomechanik und zirkusspringerischer Präzision! Die photogenische Erneuerung durch den Film. (MoE/B1/640-641) Diese avantgardistischen Parolen im Einzelnen zu betrachten, wäre aus kunsthistorischer Perspektive sicherlich äußerst reizvoll; wesentlich interessanter sind jedoch die Verfahren, derer sich der Erzähler für die Ausgestaltung der Versammlungsszene bedient. Es werden Gesprächsbeiträge der Teilnehmer zitiert, die in der verdichteten Form von Parolen nebeneinander gereiht werden, was den Eindruck des permanenten Dazwischenredens erweckt.110 Perspektivisch gebrochen werden diese Parolen durch den Blickwinkel Arnheims, der »sich in dem, was sie beschäftigte, ja auch schon seit langem aus[kennt]« (MoE/B1/643) und die Rolle des Beobachters der »ungeordneten Triebkräfte des Geistes« (MoE/B1/644) spielt. In der Episode übernimmt Arnheim die kritische Funktion, die sonst Ulrich zukommt. Interessant genug, schlägt sich dieser Funktionswechsel im Vokabular der Figurenbeschreibung nieder, die solche eher für Ulrich typische Wendungen wie »Lust zu Spott«, »Elastizität, Verwandlungsfähigkeit, Unternehmungslust« (MoE/B1/646) beinhaltet. Arnheims Erkenntnisse werden unter dem griffigen Stichwort »die Entthronung der Ideokratie« (MoE/B1/651) zusammengefasst. Sie stellen mehr als eine Reihe von Thesen dar, die eine Figur im Roman vorträgt, sondern werden der Romanerzählung als eine komplexe Erfahrung mit biografischem Hintergrund einverleibt. Die Darstellung des Konzils der »jüngeren Geister« erfolgt durch eine Rückblende als eine Erinnerung Arnheims und geht ins Nachdenken über die »kommende Entwicklung« über, die sich aus der langfristigen Erfahrung der Figur auf dem Gebiet des schönen Geistes herauskristallisiert: Er dachte dabei an alles, was er in den letzten Jahren in Amerika und Europa gesehen hatte; an die neue Tanzleidenschaft, ob nun Beethoven tiefgetanzt wurde oder neue Sinnlichkeit rhythmisch; an die Malerei, wo ein Höchstmaß von geistigen Beziehungen durch ein Mindestmaß von Linien und Farben ausgedrückt werden sollte; an den Film, wo eine Gebärde, in ihrer Bedeutung aller Welt bekannt, durch eine kleine Neuheit in ihrer Erscheinung alle Welt hinriß… (MoE/B1/650) Diese Veränderungen vollziehen sich laut Arnheim an der Oberfläche, »die aus Ein- und Ausdrücken, Gebärden, Gehaben und Erlebnissen besteht« (MoE/B1/650) und das Innere »ungestalt, wallend und drängend« (MoE/B1/651) zurücklässt. Das Bild der kochenden Oberfläche bietet einen ultimativen Ausdruck der abstrakten historischen Zeit in

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Dieses Verfahren der verkürzten Darstellung und Montage von Gesprächsrepliken findet in Gorʹkijs Roman eine breitere Anwendung; seine Funktionen für die Darstellung der Salondebatten betrachte ich ausführlich im Kapitel 5.2.2.1. »Der Raum der Geschichte«.

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ihrer eigentümlichen und unbeherrschbaren Dynamik. Der Erzähler schließt sich Arnheims Beobachtungen an, indem er seine Sichtweise vorausgreifend durch ein Beispiel aus der Nachkriegszeit bekräftigt: […] wenn Arnheim um einige Jahre vorauszublicken vermocht hätte, so würde er schon gesehen haben, daß neunzehnhundertzwanzig Jahre christlicher Moral, Millionen Toter eines erschütternden Kriegs und ein deutscher Wald von Poesien, der über dem weiblichen Schamgefühl gerauscht hatte, es auch nicht um eine Stunde zu verzögern vermochten, als eines Tags die Frauenröcke und -haare kürzer zu werden begannen und die Mädchen Europas aus tausendjährigen Verboten sich für eine Weile nackt herausschälten wie die Bananen. […] es kommt nicht darauf an, was davon dauern oder wieder verschwinden wird, sofern man bedenkt, welche großen und wahrscheinlich vergeblichen Anstrengungen es erfordert haben würde, solche Revolutionen der Lebensumstände auf dem verantwortungsreichen Weg der geistigen Entwicklung über Philosophen, Maler und Dichter herbeizuführen, statt des Wegs über Schneider, Modegeschehnisse und Zufälle; denn man kann daraus ermessen, welche Schöpfungskraft der Oberfläche, verglichen mit dem unfruchtbaren Eigensinn des Gehirns, zukommt. (MoE/B1/651) Gerade angesichts der Ironie, die der Figur von Arnheim im Roman zukommt, ist die Annäherung zwischen dem Erzähler und der Figur von Arnheim stark zu spüren. Laut Stefan Howald »vertritt [Arnheim] dabei bis in den Wortlaut hinein die KapitalismusTheorie von Musil selbst«, weshalb Howald die Frage aufwirft, was es zu bedeuten hat, »wenn diese durch und durch satirisierte Figur eine Theorie vertritt, die Musil selbst einmal zu eigen war?«111 Diese Frage beantwortet Howald, indem er hervorhebt, dass Musil anhand von Arnheims Figur zwar »an seiner Analyse des Kapitalismus fest[hält], [sich] aber von dessen kritikloser Bewertung [distanziert]«112 . So zieht der Erzähler in der oben zitierten Passage das Fazit aus Arnheims Beobachtungen und blickt auf das Bild der Gesellschaft, in der die Mode »tausendjährige Verbote« rund um das »weibliche Schamgefühl« aufhob. Die gesteigerte »Schöpfungskraft der Oberfläche« ermöglicht Veränderungen, die »auf dem Weg der geistigen Entwicklung« zum Scheitern verurteilt seien. Arnheim, der dieses Bild überblickt, erörtert sie aus dem kulturpessimistischen Blickwinkel als die »letzte Problematik« schlechthin: Das ist die Entthronung der Ideokratie, des Gehirns, die Verlegung des Geistes an die Peripherie, die letzte Problematik, wie es Arnheim vorkam. Freilich ist das Leben diesen Weg immer gegangen, es hat den Menschen beständig von außen nach innen umgebaut; aber früher mit dem Unterschied, daß man sich verpflichtet fühlte, von innen nach außen auch etwas hervorzubringen. […] Die vergangenen Jahrhunderte haben vielleicht einen schweren Irrtum begangen, indem sie auf Verstand und Vernunft, auf Überzeugung, Begriff und Charakter zu viel Wert legten; es war so, wie wenn man Registratur und Archiv für den wichtigsten Teil eines Amts halten wollte, weil sie ihr Büro

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Howald: Ästhetizismus, S. 288. Ebd., S. 289.

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in der Zentrale haben, obgleich sie nur Hilfsämter sind, die ihre Weisungen von außen empfangen. (MoE/B1/651-652) Die Verlegung der Wirkungskräfte an die Oberfläche führt zu einer Verminderung der Wirkung von Ideen. Das Bild des gesellschaftlichen Wandels, das von Arnheim heraufbeschworen wird, birgt die bittere Ironie des Erzählers in Bezug auf die Überbewertung von »Überzeugung, Begriff und Charakter«, die lediglich Hilfsmittel und keine Weisungsinstanzen sind. Dabei setzt Arnheim den Vergleich des Geistes mit dem Warenmarkt fort, denkt sich »das Zeitgehirn durch Angebot und Nachfrage ersetzt, den umständlichen Denker durch den regelnden Kaufmann« und bringt dabei seine Lebensphilosophie zur Vollendung, was ihn sogar körperlich ergreift: Also sann Arnheim als Kaufmann und zugleich bis in die zwanzig Spitzen seiner Finger und Zehen erregt über den freien geistig-körperlichen Verkehr einer bevorstehenden Zeit, und es erschien ihm nicht ausgeschlossen, daß etwas Kollektives, Panlogisches im Entstehen sei und daß man sich, den veralteten Individualismus verlassend, mit der ganzen Überlegenheit und Erfindungsgabe der weißen Rasse auf dem Rückweg zu einer Reform des Paradieses befinde, um in die ländliche Zurückgebliebenheit des Gartens Eden ein abwechslungsreiches modernes Programm zu bringen. (MoE/B1/653) Die Verbindung zwischen Seele und Geschäft, die Arnheim gleichzeitig zum Analytiker seiner Zeit und zum Träger von Phantasien über die Kraft des Geldes macht, findet im Bild des reformierten Garten Edens, dem »ein abwechslungsreiches modernes Programm« einverleibt wird, einen bildlichen Ausdruck, der dem Erzähler des »Mannes ohne Eigenschaften« offenbar so gelungen erscheint, dass es im Kapitel 106 in der Passage zur Rückkehr Gottes und die Errichtung des Tausendjährigen Reiches erneut aufgenommen und variiert wird. Arnheim führt ähnlich wie Dostoevskijs Großinquisitor einen Dialog mit Gott und will ihn davon überzeugen, »das Tausendjährige Reich nach kaufmännischen Grundsätzen einzurichten und seine Verwaltung einem Großkaufmann zu übertragen« (MoE/B1/813). Dieser Vorschlag ist perspektivisch so ausgerichtet, dass er unmissverständlich dem reichen Kaufmann gehört, der die finanziellen Vorteile der Entwicklung wittert. Die Erfahrungen, die Diotima, Ulrich und Arnheim in den einzelnen Schritten mit der Parallelaktion machen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Parallel zum wachsenden Unbehagen der Menschen in der Gegenwart, sinkt das Potenzial der Hochkultur, die Lebensrealität aufgrund von Idealen oder »großen Symbolen« zu reformieren. Beim Fortschreiten der Spezialisierung wirken sowohl die »großen« als auch die »jungen Geister« lediglich in einem Sektor des »Geistes«, der sich in Gänze chaotisch ausbreitet. Eine so beschaffene »Ideokratie« wird »entthront« und durch die »Schöpfungskraft der Oberfläche« verdrängt, die vom Kapital gesteuert wird. Dieser Befund scheint angesichts der Kritik der »Ideokratie« im Roman weniger schmerzhaft; die eigentliche Gefahr liegt in der Rückwirkung, die die »Kraft der Oberfläche« in Form der Kaufkraft auf das Feld der geistigen Tätigkeit ausübt und die vom Erzähler anhand der Evolution des Industriellen und Schriftstellers Arnheim und anhand des Scheiterns seiner Liebesbeziehung mit Diotima satirisch demonstriert wird.

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Die Logik des Kapitals und die Erlösungsphantasien Die Figur des Nabobs, des Königskaufmanns und des Großschriftstellers Arnheim vereint das monetäre mit dem geistigen Kapital und stellt die zentrale Figur der Parallelaktion dar, was u.a. durch die Initialen P.A. (Paul Arnheim oder die Parallelaktion) signalisiert wird. Seine außerordentliche Redegewandtheit erlaubt ihm, mit jedem Besucher von Diotimas Salon in seiner Sprache zu sprechen. Selbst bezeichnet er diese Eigenschaft als das »Geheimnis des Ganzen«; sie scheint eine Lösung für das zentrale Problem der Parallelaktion zu bieten. Arnheims Allianz mit Diotima hat also von Anfang an einen doppelsinnigen Charakter: Von Beginn dieser Liebesgeschichte an schwanken die Figuren zwischen der Ebene der privaten Verwicklungen (beginnend mit dem Wandel in den Vorlieben bei der Unterwäschemode) und der Ebene des Öffentlichen, Allgemeinen und Kollektiv-Signifikanten, d.h. sie agieren in der Bruchzone der menschlichen Erfahrung, die in der vorliegenden Untersuchen als Basisverfahren der narrativen Gestaltung der historischen Zeit verstanden wird. Bereits die erste Gesprächsszene zwischen Arnheim und Diotima113 nach dem Ende der ersten Sitzung der Parallelaktion findet in dem Raum statt, in dem subtile räumliche Marker den Übergang zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum umspielen: Indem Wohngegenstände an ihren Platz zurückkehren, wird Diotima bewusst, dass sie sich in der Wohnung mit Arnheim »so häuslich allein« befindet, wie sonst nur mit ihrem Ehemann: […] plötzlich wurde ihre Keuschheit durch eine ganz ungewohnte Vorstellung verwirrt; ihre leer gewordene Wohnung, in der auch ihr Mann fehlte, kam ihr wie eine Hose vor, in die Arnheim hineingefahren war. (MoE/B1/289) Die Verwirrung der Salondame kann man als Leser durchaus teilen, denn man erlebt auf mehreren Seiten des Oszillierens zwischen der Liebesgeschichte und der Fabel der Suche nach einer Idee für die Parallelaktion keine im engen Sinne private Beziehungsgeschichte, sondern eine Erzählung von der misslungenen Verwirklichung eines abgehobenen »Traums einer Liebe, wo Seele und Leib ganz eins sind« (MoE/B1/290). Am besten kann dieser doppelte Sinn der Liebesgeschichte anhand der Beobachtungen von General Stumm veranschaulicht werden, der Ulrich von einem zweideutigen Gespräch zwischen den beiden berichtet: Übrigens habe ich schon einmal gesehn, wie er ihre Hand gefangen hat, als sie geglaubt haben, daß niemand zusieht, und da sind sie eine Weile so still gewesen, wie wenn »Kniet nieder zum Gebet, Tschako ab!« kommandiert worden wäre und dann hat sie ihn ganz leise etwas gebeten, und er hat etwas darauf geantwortet, was ich mir beides wörtlich gemerkt habe, weil es so schwer verständlich ist; nämlich sie hat gesagt: »Ach, wenn man nur den erlösenden Gedanken fände!« und er hat geantwortet: »Nur ein reiner, ungebrochener Liebesgedanke kann uns die Erlösung bringen!« Offenbar hatte er das zu persönlich aufgefaßt, denn sie hat bestimmt den erlösenden Gedanken gemeint, den sie für ihr großes Unternehmen braucht –: Was lachst du? (MoE/B1/600)

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Auch durch die Umbenennung der Hermine Tuzzi zu »Diotima« ist die Figur »an der Schnittlinie privat-öffentlich aufgestellt.« (Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 345)

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Die Zweideutigkeit der »schwer verständlichen« Worte von Arnheim und Diotima entsteht durch den doppelten Bezug auf das schöngeistige Unternehmen und die Liebesbeziehung zwischen den beiden, doch zeigt sie auch, wie sehr die Rhetorik des patriotischen Unternehmens in Diotimas Salon der Liebesrhetorik ähnelt. Diese Rhetorik bezieht sich auf den zeitgeschichtlichen Kontext des fin de siècle und wird vom Erzähler lustvoll parodiert. Die Begegnung der Verliebten wird als Aufeinandertreffen der »geheimnisvollen Kräfte« beschrieben. Es ist vom »Streichen der Passatwinde«, »dem Golfstrom«, »den vulkanischen Zitterwellen der Erdrinde«, »Kräften, […] die den Sternen verwandt« sind, die Rede (MoE/B1/293). Die Körper der Verliebten werden als zwei einsam einander gegenüberstehende Bergriesen beschrieben, und auch die Wahrnehmung der Wohnung verändert sich unter der Last dieser Gefühle: Die Glasschnüre der Türbehänge spiegelten wie Weiher, die Lanzen und Pfeile an den Wänden zitterten ihre gefiederte und tödliche Leidenschaft aus, und die gelben Calman-Lévy-Bände auf den Tischen schwiegen wie Zitronenhaine. (MoE/B1/293) Der explizite Hinweis auf den französischen Verlag, welcher die Dichtung der französischen Décadance herausgab, weist auf den Ursprung der wuchtigen Rhetorik, welche die Wahrnehmung beider Figuren prägt.114 Die von bildlichen Vergleichen strotzende Passage wird vom Erzähler durch den ironischen Kommentar abgerundet: »Wir übergehen mit Ehrfurcht, was anfangs gesprochen wurde« (MoE/B1/293). Dieser Satz klingt wie ein Versprechen, das nachfolgende Gespräch zwischen Diotima und Arnheim wiederzugeben. Dieses Versprechen wird jedoch nicht eingelöst. Das nächste, 46. Kapitel endet genau in der gleichen Konstellation – beide Protagonisten stehen still in einem Zimmer. Doch obwohl die Handlung stillzustehen scheint, vollziehen sich im Kapitel 46 wichtige Veränderungen, die sich – wie so typisch für den »Mann ohne Eigenschaften« – auf der Ebene der Gedankenführung einer Figur, in diesem Fall Arnheims abzeichnen. Er schüttelt als erster »die Zauberbahn ab« und sieht sich vor zwei Alternativen gestellt: […] längeres Verweilen in einem solchen Zustand war nach seiner Ansicht nicht möglich, ohne daß man entweder zu einem dumpfen, inhaltslosen, ruhseligen Brüten hinabsinkt oder der Andacht ein festes Gerüst von Gedanken und Überzeugungen unterschiebt, das ihr aber nicht mehr wesensgleich ist. (MoE/B1/294) Bei der Wahl zwischen dem »dumpfe[n], inhaltlose[n], ruhrselige[n] Brüten« oder seiner Ablösung durch »ein festes Gerüst von Gedanken und Überzeugungen favorisiert Arnheim als ein »Mann der Wirklichkeit« das zweite (MoE/B1/295). Dieses Vorgehen, welches die »Seele zwar tötet, aber dann gleichsam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch aufbewahrt«, leitet die Verbindung der Seele »mit der Vernunft, den Überzeugungen und dem praktischen Handeln« (MoE/B1/294) ein, wonach […] im Grunde nur noch logische Fragen der Auslegung übrig [bleiben], von der Art, ob eine Handlung unter dieses oder jenes Gebot fällt, und es hat die Seele die ruhige 114

Die gelben Calman-Lévy-Bände erscheinen auch in Gorʹkijs »Klim Samgin« und stehen im Kontext der satirischen Auseinandersetzung mit der Décadance, die ich im Kapitel 5.2.2.2. »Kultur in der Krise: Marxismus und Décadance« bespreche.

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Übersichtlichkeit eines Feldes nach geschlagener Schlacht, wo die Toten still liegen und man sofort bemerken kann, wo ein Stückchen Leben sich noch erhebt oder stöhnt. (MoE/B1/294-295) Dieses Vorgehen scheint jedoch auf die Liebesbeziehung zu Diotima vorerst nicht anwendbar zu sein, wobei sowohl ihre Persönlichkeit, das »wienerische Plus« inbegriffen, als auch die von ihr vorgetragene Idee Arnheim fesseln: Als aber mitten darin Diotima, diese Antike mit einem wienerischen Plus, das Wort Welt-Österreich ausgesprochen hatte, ein Wort, das so heiß und fast auch so menschlich unverständlich war wie eine Flamme, da hatte ihn etwas ergriffen. (MoE/B1/296) In der zitierten Passage geht das Liebeserlebnis mit den Belangen der Parallelaktion insoweit einher, als auch die Letztere der liebesähnlichen intuitiven Ergriffenheit entstammt. Die Liebesintrige zwischen den beiden erhält dadurch einen durchaus originellen Charakter: Das Liebeserlebnis und der Zustand der Begeisterung für eine Idee, deren Sinn unklar ist, werden einander als Zustände der Ergriffenheit (durch eine Person oder durch eine Idee) angeglichen. So erkennt auch Diotima, dass die »erste große Idee ihres Lebens« darin bestand, Arnheim an die Spitze der Parallelaktion zu bringen (MoE/B1/524). Die Intrige der Parallelaktion wird zu einem doppelten Unternehmen, in dem die Liebe des Millionärs zu Diotima und seine Beteiligung an der Parallelaktion zu einer Lebensprüfung inszeniert und in ein Schicksalsnarrativ umgesetzt werden. Die Lebenskrise, in die Arnheim durch seine Liebe zu Diotima hineingerät, wird als eine andauernde Schreibblockade dargestellt. Sie bedroht den ansonsten äußerst produktiven Schriftsteller und erscheint im »Mann ohne Eigenschaften« insoweit logisch, als darin jede andere Art des Scheiterns irrelevant wäre. Die Basis von Arnheims schriftstellerischer Produktivität wird im Kapitel 86 »Der Königskaufmann und die Interessensfusion Seele-Geschäft. Auch: Alle Wege zum Geist gehen von der Seele aus, aber keiner führt zurück« sorgfältig als eine Verknüpfung des kreativen Potenzials mit dem Geschäftssinn bloßgelegt. Laut dem Erzähler hat Arnheim bereits in seinen jungen Jahren den wortarmen »anderen Zustand« gegen die Möglichkeit des Artikulierens eingetauscht, das bei Arnheim zugleich in Form der kaufmännischen Betätigung am »Gedicht des Lebens« (MoE/B1/618) und seiner für blumige Metaphern anfälligen Schreibpraxis stattfindet. Wenn Arnheim durch seine Liebe zu Diotima die Chance bekommt, das »Ur- und Weltliebeserlebnis« (MoE/B1/617) wiederherzustellen, das er aus seiner Jugend kennt, rütteln seine Gefühle an der Basis seiner schriftstellerischen Schöpferkraft. Dass zwischen Schreiben und Geldverdienen ein Zusammenhang besteht, ist sowohl für die Figur des Buchautors Arnheim, als auch für die Person des professionellen Literaten Musil selbstverständlich; in einer anderen Hinsicht wird er von Musil – wie Hans-Georg Pott bemerkte – durch die »gemeinsame Natur des Geldes und Verstandes« begründet,115 die Pott anhand ausgewählter Nachlassnotizen illustriert: »Geld ist

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Pott, Hans-Georg: Kontingenz und Gefühl. Studien zu/mit Robert Musil, Paderborn: Fink 2013, S. 155. Vgl. zu den Parallelen zwischen Arnheims Seelenrethorik und den Schriften seines Prototyps Walter Rathenau ebd., S. 138.

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die notwendige Krönung des rationalistischen Daseins«; »Das Geld ist moralisch, vernünftig, regelmäßig und eintönig«.116 Der rationale Umgang mit Geld wird dadurch auf andere »Güter« wie »Liebe, Moral, Ideale, Kunst usw.« übertragbar,117 wobei der allzu geschäftliche Umgang mit der Kunst Musil wohl als ein Umstand galt, der ihre Qualität beeinträchtigt. Ein Beispiel dafür liegt in Arnheims populärwissenschaftlichen Schriften vor, die der Erzähler insoweit der Lächerlichkeit preisgibt, als ihr Verfasser darin »im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin« (MoE/B1/623) von der Seele spricht. Besonders die Häufigkeit, mit der das Wort »Seele« in Arnheims Schriften auftaucht, wird vom Erzähler als ein Symptom des Zeitalters aufgefasst, das durch die übertriebene Aufmerksamkeit für die Seele seine »Auflehnung gegen Geld, Wissen und Rechnen, denen es leidenschaftlich unterliegt« (MoE/B1/622), zum Ausdruck bringt. Von dieser inneren Diskrepanz wird die schriftstellerische Aktivität Arnheims vorangetrieben; doch führt ihn das Perpetuieren der »königliche[n] Botschaft« (MoE/B1/624) bereits vor seiner Begegnung mit Diotima zu einer Lebens- und Schaffenskrise: […] mit der Zeit, wo sein literarischer Erfolg auf die Höhe kam, ohne daß sich in seinem Kronprinzenleben Entscheidendes geändert hatte, wuchs jener irrationale Rest, wuchsen der Mangel greifbarer Ergebnisse und das Mißbehagen, sein Ziel verfehlt und seinen ersten Willen vergessen zu haben, drückend an. Er überblickte sein Werk, und wenn er auch mit ihm zufrieden sein durfte, so glaubte er sich nun doch manchmal durch alle diese Gedanken bloß einem sehnsüchtig nachwirkenden Ursprung wie durch eine Mauer von Brillanten entrückt zu sehen, die täglich dicker wurde. (MoE/B1/626) Die Entfernung von dem »Ur- und Weltliebeserlebnis« (MoE/B1/617) wird in der Metapher einer Mauer von Brillanten festgehalten, die zwischen Arnheim und der Welt wächst und sich schließlich in Form einer sprachlichen Krise manifestiert. Als Arnheim seinem Sekretär einen Text diktiert, merkt er, dass dieser in der entstandenen Denkpause die nächsten Worte bereits notiert hat: »Wir sehen das Schweigen der Seele, wenn – » (MoE/B1/627). Daraufhin bricht Arnheim das Diktieren ab und lässt am nächsten Tag den Satz streichen. Die Erkenntnis der Floskelhaftigkeit der eigenen Sprache und die daraus entstehende Unmöglichkeit, weiter zu schreiben, führt zur Erkenntnis seiner Lebenskrise. Das Fazit, das aus Arnheims Biografie gezogen wird, lautet: »alle Wege zum Geist [gehen] von der Seele aus, aber keiner führt [zurück]« (MoE/B1/607). Somit ist die Entwicklung beschrieben, die er als Schriftsteller und »Statthalter der Seele« bei seiner Schreibproduktion durchläuft und die bei seiner Position des Großschriftstellers keine Möglichkeit einer Umkehr bietet. Die Liebe zu Diotima, die »sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff« (MoE/B1/627), stellt eine Art Überprüfung dieser Lebensbilanz dar, scheitert jedoch an der »kühle[n], von nichts zu verunreinigende[n] Vernunft des Geldes« (MoE/B1/628).

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Ideen-Einzelblatt 28, I/63/64. Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles, datiert 1927-1930. Musils Rezension zum Buch »Wertphilosophie eines Outsiders«. Musil, Klagenfurter Edition, Band 13.

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Die Botschaft, laut der das Geld die Liebesbeziehung zum Scheitern bringt, ist an und für sich durchaus konventionell für das Romangenre, ungewöhnlich ist jedoch Musils Auslegung des Konfliktes zwischen Reichtum und Liebe. Das Geld tritt im »Mann ohne Eigenschaften« als universales Tauschmedium und Substituent aller anderen Beziehungen auf, das eine eigene »saubere« Kraft und eigene Gesetze (»kühle Vernunft«) hat. Diese Analogie, die Musil zwischen dem Geld und den symbolischen Ressourcen der Gesellschaft zieht, hat Inka Mülder-Bach im Zeichen der Analogie zwischen »Kredit« und »Credo« interpretiert: »Wenn jedes menschliche Credo ein Sonderfall des Kredits ist, dann ist der monetäre Kredit ein allgemeines Glaubenssystem«.118 In diesem Horizont wird das Geld zum Movens der neuen kollektiven, »panlogischen« Entwicklungen der Gesellschaft, die nicht nur die öffentlichen, sondern auch die privaten Beziehungen durchdringt und die künstlerische »Produktion« beeinflusst. In seinem Essay »Wer hat dich, du schöner Wald« hat Musil diesen Zusammenhang zwischen Selbstwahrnehmung und dem Geld als gesellschaftlichem Movens bis hin zu »jene[m] anonyme[n] Geschling, jene[m] gespenstischen Güter- und Geldkreislauf« verfolgt, der »selbst einem Menschen, der vor Armut aus dem Fenster springt, die Gewißheit gibt, daß er einen wirtschaftlichen Einfluß ausübt«.119 In dieser Hinsicht ist die Konzeptualisierung interessant, die Bernd Blaschke in seiner Untersuchung zu Musils Roman vornimmt, indem er von »Musils Universalisierung von Kredit, Fiktion, Gleichnis« spricht. Laut Blaschke erweitert Musil die Denkfigur des »universalen Kredits« über den Rahmen der Ökonomie hinaus und fasst ihn als »generalisiertes Kreditverhältnis des Menschen zu sich, zu den anderen und zu den Institutionen« auf, das Menschen permanent in das »prekäre Verhältnis von Akkreditierung durch den Menschen und stets drohender Diskreditierung all dieser verliehenen Kredite« verwickelt.120 Vor diesem Hintergrund lässt sich Arnheims Scheitern an seinem Vermögen, kraft dessen ihm alle Möglichkeiten zur Wahl stünden, aus der Logik seiner ideellen Anleihen beim Kapital ableiten. Die Verwirklichung seiner Liebe zu Diotima setzt einen Vorrat an unverbrauchter Seelenkraft voraus, die durch die Verschmelzung seiner Lebenskraft mit der Macht des Geldes in der Gestalt seiner Lebensphilosophie bereits investiert ist und aus diesem lukrativen Geschäft zurückgezogen werden müsste. Der Grundsatz, der Arnheim vor dieser Notwendigkeit rettet, wird im Börsenvokabular festgehalten: »Ein seiner Verantwortung bewußter Mann« sagte sich Arnheim überzeugt »darf schließlich auch, wenn er Seele schenkt, nur die Zinsen zum Opfer bringen und niemals das Kapital!« (MoE/B1/818) Die Verzinsung der Seele mag sich zwar produktiv auf den Publikumserfolg des Schriftstellers Arnheim auswirken, sie wird jedoch im Roman als eine Geschichte des privaten Scheiterns erzählt, bei dem die Liebe zwar – wie so typisch für den realistischen Roman – dem Druck der Gesellschaft unterliegt, dieser Druck sich jedoch nicht primär

118 Mülder-Bach: Robert Musil, S. 324. 119 »Wer hat dich, du schöner Wald…?« Musil, Klagenfurter Edition, Band 8. 120 Blaschke, Bernd: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline, Paderborn: Fink 2004, S. 331-334.

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in den sozialen Mechanismen der Herkunft, Klasse und Bildung äußert, sondern vor allem die symbolische Produktion der Gesellschaft und die Mechanismen der Bildung von »Geist« hinterfragt. Beinahe beiläufig wird dabei das Fazit der Auseinandersetzung Musils mit der literarischen Décadance gezogen. Dass ihr künstlerisches Potenzial dem finanziellen Erfolg zum Opfer fiel, wird vom Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« indirekt angedeutet, indem er die Stilistik der Dichtung des fin de siècle in Arnheims Schriften und in seinen Unterhaltungen mit Diotima parodiert. So stößt Arnheims Heiratsantrag, den er pro forma macht, auf eine bedeutungsvolle Antwort von Diotima: »Niemals lieben wir die, welche wir umarmen, am tiefsten…!« (MoE/B1/803) Dieser Satz stellt ein Zitat aus Maurice Maeterlincks »Schatz der Armen« dar und wird vom Erzähler parodistisch mit dem »lockende[n] Gelb im Schoß der strengen Lilie« (MoE/B1/803) verglichen, wobei die Verlockung in Arnheims Fall offensichtlich darin besteht, dass dieser Satz die Heiratsproblematik aufhebt. Daraufhin verhandeln beide Liebenden anhand literarischer Beispiele die Möglichkeit des Ehebruchs und kommen dabei zum negativen Fazit: […] es entstanden an ihrer Stelle Gespräche allgemeiner Natur, in denen die Worte Scheidung, Heirat, Ehebruch und ähnliche einen merkwürdigen Drang bewiesen, in Erscheinung zu treten. So hatten Arnheim und Diotima wiederholt ein profundes Gespräch über die Behandlung des Ehebruchs in der zeitgenössischen Literatur, und Diotima fand, daß dieses Problem durchwegs ohne Empfinden für den großen Sinn von Zucht, Versagen, heldischer Askese, rein sensualistisch behandelt werde, was leider genau auch die Meinung war, die Arnheim davon hatte, so daß ihm nur hinzuzufügen blieb, daß der Sinn für das tiefe moralische Geheimnis der Person heute fast allgemein verlorengegangen sei. (MoE/B1/803-804) Anhand der literarischen Verarbeitung des Stoffes scheinen beide Gesprächspartner über ihre intime Beziehung zu verhandeln, doch lässt sich das private Versagen, das im Prozess des Sprechens über die Moral und verantwortungsvolles Handeln, über »Zucht« und »heldische Askese« sublimiert wird, gleichzeitig als die Resignation auf dem Weg der Verwirklichung einer Idee begreifen. Ähnlich wie die Unterordnung unter die Interessen des Kapitals die Liebe zum Scheitern bringt, zieht die Unterordnung einer Idee unter die Interessen des Kapitals, das in seiner inneren Logik geschlossen ist und keiner Ideen für seine Regulation bedarf, das Verfliegen des Ideengehalts im Zeichen des unerreichbaren Ideals nach sich. Sobald dieser Zeitpunkt erreicht wird, gerät dieser Mechanismus an seine eigenen Grenzen, und das unaufhörliche Sprechen kommt zum Stillstand. So scheinen die Worte zu versiegen, wenn sich beide Liebenden angesichts der unerfüllbaren Liebesaufgabe ansehen. Die Situation der »schweigenden Begegnung zweier Berggipfel« (MoE/B1/289) aus dem ersten Gespräch zwischen Arnheim und Diotima wiederholt sich, die beiden Figuren werden jedoch noch höher hinaus, in die Wolkensphäre befördert: Die Wünsche und Eitelkeiten, die sonst ihr Dasein ausgefüllt hatten, lagen unter ihnen wie die Spielzeughäuselchen und -höfchen im Talgrund, mit Gegacker, Gebelle und

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allen Aufregungen von der Stille verschluckt. Was übrig blieb, war Schweigen, Leere und Tiefe. (MoE/B1/807) Auf der Höhe, in welche die Liebenden durch den Verzicht auf ihre Gefühle und die Hinwendung zum Ideal der moralischen Askese getrieben werden, meldet sich »ein sonderbarer Abbruch«, der alle »Wünsche und Eitelkeiten« klein erscheinen lässt. Mit dem Abreißen des Gesprächsfadens kehrt ein Stillstand der geistigen Tätigkeit ein, die ihre höchste Stufe im Evozieren der davonschwebenden Idealvorstellungen bereits überschritten hat. Der Bruch zwischen der Dimension des Erhabenen und der Lebensrealität beider Liebenden wird durch das Wort besiegelt, das im Weiteren über ihre Beziehung hinaus direkt auf die Belange der Parallelaktion übertragen wird, nämlich das Wort »erlösen«: Das war ganz und gar kein hochhumanes oder auch nur humanes Gefühl mehr. Die ganze Leere der Ewigkeit lag in diesem Zustand. […] Die taktvolle Diotima fand auch dafür das richtige Wort. Sie erinnerte einmal in solchem Augenblick daran, daß schon der große Dostojewski einen Zusammenhang zwischen Liebe, Idiotie und innerer Heiligkeit festgestellt habe, unerachtet dessen aber Menschen von heute, die nicht sein gläubiges Rußland hinter sich haben, wohl erst einer besonderen Erlösung bedürften, um diesen Gedanken verwirklichen zu können. (MoE/B1/816-817) Aus der Anspannung der Gefühle, welche die »Züge eines Stupors, eines beinahe idiotischen Staunens« (MoE/B1/816) aufweist, finden die Betroffenen heraus, indem Diotima auf die prinzipielle Unmöglichkeit der Verwirklichung von Gedanken und die Notwendigkeit einer Erlösung hinweist. Der Erlösungsgedanke wird von Arnheim aufgegriffen und bietet ihm die endgültige Rechtfertigung des eigenen Versagens, die ihn aus der Verlegenheit rettet: »Es müßte wahrhaftig das Wunder einer Erlösung vorhergehn,« sagte er sich »andere Menschen müßten die Erde bevölkern, ehe man an die Verwirklichung solcher Dinge denken dürfte.« Er gab sich nicht mehr die Mühe, zu enträtseln, wie und wovon man erlösen müßte; es hätte jedenfalls alles anders sein müssen. (MoE/B1/817-818) Beim Bedürfnis nach einer Erlösung wird das eigene Scheitern durch das Bewusstsein des allgemeinen Unheils – »es hätte jedenfalls alles anders sein müssen« – substituiert. Dieser Mechanismus überträgt sich alsbald auf die Parallelaktion. Sehnen sich beide Verliebte nach einer Erlösung, so sind es in den nächsten Romankapiteln »die unerlösten Nationen« Kakaniens, die einen Messias erwarten und die Parallelaktion aus dem Gleichgewicht zwischen pro-deutschen und contra-deutschen Lagern zu bringen drohen. Dabei geht es weniger um die Problematik der Nation im Sinne politischer Geschichte; der Kommentar des Erzählers gibt zu verstehen, dass die »unerlösten Nationen« nur ein Beispiel für das allgemeine Unbehagen in der Gegenwart liefern. Verallgemeinert werden die Erfahrungen mit dem Stichwort »erlösen« von einer weiteren Figur. General Stumm macht die Beobachtungen, dass das Wort »erlösen« ein besonderer Fall des Sprachgebrauchs zu sein scheint, da es im direkten, nicht ironischen Sinn, kaum Anwendung findet. Im ironischen Kontext (»Du hast mich wirklich erlöst!«) ist es zwar durchaus gebräuchlich, sein ernster Gebrauch setzt aber den

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»unglaubwürdig versicherten Ernst des Zustandes« voraus, an dem »der gesunde Sinn Anstoß nimmt« (MoE/B1/829). Die Wortgruppe »Erlösen« setzt also die Annahme des aus eigenen Kräften unüberwindbaren Unheils voraus; die Botschaft von der Existenz eines solchen kursiert unter den Intellektuellen, die permanent unzufrieden sind und sich nach einer Erlösung sehnen: Erlösen und nach Erlösung Bangen ist auf jede Weise anscheinend etwas, das nur einem Geist von einem anderen Geist angetan werden kann. […] Die geistigen Menschen, die er jetzt auf allen seinen Wegen traf, waren nicht befriedigt. […] Ihre Gedanken kamen niemals zur Ruhe und gewahrten den ewig wandernden Rest aller Dinge, der nirgends in Ordnung kommt. So waren sie schließlich überzeugt, daß die Zeit, in der sie lebten, zu seelischer Unfruchtbarkeit bestimmt sei und nur durch ein besonderes Ereignis oder einen ganz besonderen Menschen davon erlöst werden könne. Auf diese Weise entstand damals unter den sogenannten intellektuellen Menschen die Beliebtheit der Wortgruppe Erlösung. (MoE/B1/830-831) Der General hinterfragt eher naiv die Haltung der »geistigen Menschen«, wohingegen der Erzähler sarkastisch die Rhetorik der »sogenannten intellektuellen Menschen« paraphrasiert. Der Erzähler sieht die »recht messianische Zeit, die damals kurz vor dem großen Kriege« als mehrfach von Sehnsucht nach einem Messias gezeichnet, worunter sich »auch noch das einfache und in jeder Weise unzerfaserte Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze« mischt (MoE/B1/831). In der Liebesgeschichte Diotima-Arnheim wird dieses Verlangen nach einer unbestimmten Erlösung (»es hätte alles anders sein müssen«) als letzte Etappe des Scheiterns dargestellt. Setzt man die Analogie, die im Roman zwischen dem Ergriffensein durch eine Person und eine Idee gezogen wird, fort, so erscheint der Erzählerkommentar als konsequent, der in diesem Scheitern die Wirkung von den Bremsmechanismen erkennt, die »unsere Kultur« auszeichnen: Sie achtet streng darauf, Geldmittel für Lehr- und Forschungstätten bereitzustellen, aber ja nicht zu große Geldmittel, sondern solche, die in einem angemessenen Kleinheitsverhältnis zu den Beträgen stehn, die sie für Vergnügungen, Automobile und Waffen ausgibt. Sie schafft auf allen Wegen freie Bahn dem Tüchtigen, aber sorgt vorsichtig dafür, daß er auch der Geschäftstüchtige sei. Sie anerkennt nach einigem Widerstand jede Idee, aber das kommt dann von selbst auch deren Gegenidee zugute. Das sieht so aus wie eine ungeheure Schwäche und Nachlässigkeit; aber es ist wohl auch ein ganz bewußtes Bemühen, den Geist wissen zu lassen, daß Geist nicht alles sei, denn würde auch nur ein einziges Mal mit einer der Ideen, die unser Leben bewegen, restlos, so daß von der Gegenidee nichts übrig bleibt, Ernst gemacht werden, unsere Kultur wäre wohl nicht mehr unsere Kultur! (MoE/B1/833) Die These, dass Kultur gegen sich selbst agieren muss, um im Dauerzustand erhalten zu bleiben, ist wohl einer der eindrucksvollsten Gedanken des Pessimisten, der den »Mann ohne Eigenschaften« verfasste. Die kollektive Denkpraxis scheint Regeln und Ritualen unterworfen, die jeden Denkimpuls in die Bahnen der Geschäftstüchtigkeit lenken und einer Idee niemals den »restlosen Ernst« schenken. Dieser scheinbar ausgeglichene Zustand macht den Eindruck der Stabilität, birgt aber in sich den Zustand des größten

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Chaos, in dem sich Polaritäten (Ideen und Gegenideen) bilden und treffen. Die Logik, nach der ein solcher Zustand der Kultur in den Krieg führt, wird im »Mann ohne Eigenschaften« an den Peripetien des Generals Stumm in der Parallelaktion dargestellt, die paradigmatisch mit der Denkfigur der Ordnung verknüpft ist. Die Ordnung des »Zivilgeistes«121 Die Vorstellung, dass es dem geistigen Leben im Ganzen an Ordnung fehlt, macht sich im »Mann ohne Eigenschaften« bereits früh bemerkbar, wenn der Erzähler die »geheimnisvolle Zeitkrankheit« (MoE/B1/86) anspricht, von der die Epoche befallen sei. »Als hätte sich irgendwas gelöst«, so wie »ein Magnet die Eisenspäne losläßt« (MoE/B1/88), wird in der fiktiven Gegenwart der Zusammenhang, der »Geist des Geistes«, die »krönende Idee« vermisst. Die Suche nach diesem integrativen Part wird allen Protagonisten der Parallelaktion, darunter auch dem General Stumm aufgetragen; dabei orientiert er sich am Paradigma der Ordnung und kommt über einige Stationen zu dem Fazit, dass das geordnete Leben keinen Geist benötige. Das Plädoyer des Generals für die militärische Ordnung deutet im Roman auf das finale Ereignis des Kriegsausbruchs hin, das mit dem Chaos des »Zivilgeistes« aufräumen wird. Diese Logik mutet besonders im Hinblick auf das klassische Denkschema des historischen Romans paradox an, das den gesellschaftlichen Frieden als das geordnete Dasein, den Krieg hingegen als Einbruch des Chaos auffasst. Im »Mann ohne Eigenschaften« wird diese Vorstellung auf den Kopf gestellt, indem im friedlichen Leben die Dimension des »tausendjährigen Glaubenskriegs« (MoE/B2/601) aufgedeckt wird, dessen Verlauf von niemand gesteuert wird und keinen Regeln unterworfen ist.122 Im Vergleich zu einer solchen spontanen und nicht zu beherrschenden Kriegsführung erscheinen die Regeln einer militärischer Kompanie als relativ geordnete Verhältnisse. Diese Umkehrung des herkömmlichen Ordnungsparadigmas wird im Roman über mehrere Stationen eingeleitet, die als Erfahrungen des Generals Stumm inszeniert werden. Die historische Zeit scheint im »Mann ohne Eigenschaften« gerade unter der Beteiligung des Generals als eines Vertreters des Militärs in den Krieg zu führen. Einer solchen Tendenz wurde Stumm seitens der Musil-Forschung generell verdächtigt: seine eher unkriegerische, in milde humoristische Töne getünchte Gestalt wurde u.a. von Cornelia Blasberg sogar im Zeichen einer besonderen Bedrohung interpretiert: »[…] in der Welt des ›Seinesgleichen‹ ist Harmlosigkeit nicht bewußte Tarnung von Gewalt, sondern deren Erscheinungsform, ununterscheidbar von der Naivität«.123 Doch wird die Vermutung, die Parallelaktion würde von dem Vertreter des Kriegsministeriums heimlich untergraben, im Roman parodiert: Diotima, die Anführerin der Parallelaktion, fürchtet den General »wie den Tod« (man beachte Ulrichs Kommentar: »Ein ungewöhnlich lebensfreundlich aussehender Tod, wenn man ihn unbefangen betrachtet!« MoE/B1/744), obwohl sich der rundliche, keineswegs als gefährlich einzustufende und

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MoE/B1/592. Laut Klaus Amann handelt es sich im »Mann ohne Eigenschaften« um die Darstellung eines »Krieg[s] im Frieden«. (Amann: Robert Musil, Literatur und Politik, S. 8) Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 162.

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etwas naive General aufrichtig darum bemüht ist, »Ordnung in den Zivilverstand zu bringen« (MoE/B1/589). In den Gesprächsrunden der Parallelaktion nimmt der »stumme« General laut Alexander Honold eine herausgehobene Position ein, da er sich »gegenüber der nichtendenwollenden Rede ›des Zivils‹« als resistent erweist und sich »dem metafiktionalen Standpunkt einer kalkulierenden Verfügung über die Diskurse der Figurenebene [nähert]«.124 Von diesem Standpunkt aus summiert er das Geschehen, indem er den »Zivilgeist« als einen »schlechten Fresser« bezeichnet: ein Pferd, das »mit jedem Tag dicker wird, aber die Knochen wachsen ihm nicht, und das Fell bleibt glanzlos; was er kriegt, ist nur ein Grasbauch« (MoE/B1/592-593). Den Angelpunkt bietet dabei die Frage, ob man Geist als Ordnung verstehen darf. Tut man das, so muss man laut Ulrich anerkennen, dass der Geist nicht im zivilen Leben, sondern beim Militär zu finden ist: Die Aufstellung einer Eskadron in entwickelter Linie, die Massierung eines Regiments, die rechte Lage einer Kopfriemenschnalle sind also geistige Güter von hoher Bedeutung, oder es gibt geistige Güter überhaupt nicht! (MoE/B1/601) Doch wird die Auffassung des Geistes als eines »geordnete[n] Erleben[s]« (MoE/B1/834) im Roman nicht vertreten, im Gegenteil: die geistige Materie stellt den Zustand des höchst möglichen Chaos dar, deren Zustand Ulrich als Konkurrenz mehrerer Ordnungssysteme beschreibt: […] wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben. (MoE/B1/605) Beachtet man die Tatsache, dass das Chaos im »Mann ohne Eigenschaften« die Erscheinungsform des Geistes als solchen darstellt, so liefern die vergeblichen Bemühungen des Generals, den »Zivilgeist« zu ordnen, ein weiteres Beispiel für das Scheitern innerhalb der Parallelaktion. Doch ist nicht die Tatsache des Scheiterns an sich interessant, sondern die Motivation, die Stumm antreibt. Auf den Vorschlag Ulrichs, den Geist nicht allzu ernst zu nehmen, antwortet der General erstaunt: »Nicht ernst nehmen?!« stöhnte Stumm. »Aber ich kann nicht mehr leben ohne eine höhere Ordnung in meinem Kopf! Verstehst du das nicht? Mich schaudert einfach, wenn ich mich daran erinnere, wie lange ich ohne sie auf dem Exerzierplatz und in der Kaserne, zwischen Offizierswitzen und Weibergeschichten gelebt habe!« (MoE/B1/598) Markant ist an der zitierten Passage das Ordnungsbedürfnis, von dem Stumm angetrieben wird und das er als Verlangen nach einer »höheren Ordnung« bezeichnet. In diesem Sinne versucht der General in mehreren Anläufen, dem Geist Ordnungsprinzipien

124 Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 344. Wie Honold zu Recht hervorhebt, weisen die Bemühungen des Generals eine Kontinuität zu Ulrichs Gedankengängen auf: »Die satirische Komponente der Idee einer Generalinventur des geistigen Lebens läßt sich weiterverfolgen bis hin zu der paradox anmutenden Forderung Ulrichs, Genauigkeit und Seele einer bürokratisch kontrollierten Fusion zu unterziehen.« (Ebd., S. 341)

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aufzuerlegen. Beispielhaft für seine Bemühungen, eine Metaebene für die ausufernden Salondiskurse zu konstruieren und »Ordnung in den Zivilverstand zu bringen«, ist sein »Grundbuchsblatt der modernen Kultur«, auf dem die Ordnung der Ideen und ihrer »Befehlshaber« als eine Art militärischer Disposition abgebildet ist. Die grafische Darstellung des »Zivilgeistes«, die Stumms Offiziere in mühsamster Arbeit angefertigt haben, bringt aber nur ein bescheidenes Ergebnis: […] man kann weder einen ordentlichen Etappenplan, noch eine Demarkationslinie, noch sonst etwas aufstellen, und das Ganze ist, mit Respekt zu sagen – woran ich aber andererseits doch wieder nicht glauben kann! – das, was bei uns jeder Vorgesetzte einen Sauhaufen nennen würde!« (MoE/B1/596) Auch wenn der General die Darstellungsart wechselt und »militärgeographische« sowie »oro- und hydrographische Darstellungsversuche« unternimmt, scheint es unmöglich zu sein, »das Ganze in eine Einheit zu bringen« (MoE/B1/597). Sein »Gefühl von Ohnmacht« vergleicht Stumm mit einer Ansteckung durch Filzläuse: »Wenn man sich lange zwischen Ideen aufgehalten hat, juckt es einen am ganzen Körper, und man bekommt noch nicht Ruhe, wenn man sich bis aufs Blut kratzt!« (MoE/B1/597) Diese Erfahrung teilt mit Stumm womöglich der Autor selbst, der – Walter Fantas Beobachtung zufolge – in der Zeit, »in der er Horns [Prototyp von Stumm – m.K.] Aufmarschpläne skizziert, im Dienst des österreichischen Heeresministeriums [steht], wo er nicht ohne Engagement dem Auftrag nachkommt, Stabsoffizieren zivile Bildung zu verpassen«.125 Diesen Tätigkeitsbereich überträgt er im »Mann ohne Eigenschaften« Stumm, anhand dessen Bemühungen der Roman laut der treffenden Beobachtung von Inka Mülder-Bach »seine eigenen Bemühungen um Ordnung reflektiert und karikiert«.126 Die Erfahrungen des Generals mit schöngeistigen Ideen des prominentesten Ursprungs von Christus, Buddha und Luther bis hin zum zeitgenössischen Ideenvorrat stehen in einem gemeinsamen Kontext mit Diotimas »Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen« (MoE/B1/360) und Arnheims Beobachtungen der »Entthronung der Ideokratie« (MoE/B1/651). In Bezug auf die beiden spielt er auch insoweit die Rolle des Dritten, als auch er in Diotima verliebt ist. Dadurch nimmt das abstrakte Bedürfnis nach einer höheren Ordnung zwar eine konkrete Form persönlicher Sympathie an, die angemessene Distanz jedoch, die Anbetung von Begehren trennt, bleibt im Verhältnis des Generals zu Diotima gewahrt. Er erweist sich sogar als heimlicher Befürworter von Arnheim: »[…] wenn ich mir die Zärtlichkeit vorstelle, die Diotima diesem Mann schenken könnte, dann fühle auch ich Zärtlichkeiten für ihn« (MoE/B1/600). Diese mentale Vereinigung findet ihre Fortsetzung in der Vorstellung der »heimliche[n] geistige[n] Hochzeit« (MoE/B1/740) mit Diotima, die Stumm beim heimlichen Durchlesen der Bücher feiert, die Diotima in der Hofbibliothek bestellt. Sein Pakt mit dem Bibliothekar steht gleichzeitig im Zeichen der Hoffnung, durch die Ordnung der Bibliothek zu den Ordnungsprinzipien des »Zivilgeistes« vorzustoßen. Doch läuft auch dieser Versuch ins Leere, als ihn der Bibliothekar mit dem »Geheimnis aller guten Bibliothekare« betraut, die »niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis 125 126

Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 349. Mülder-Bach: Robert Musil, S. 193.

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lesen«: »Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren! […] Er wird niemals einen Überblick gewinnen!« (MoE/B1/738) Eine Ordnung kann dem »Zivilgeist«, dessen Erscheinungsform das Chaos ist, lediglich von außen auferlegt werden. Bei dem General, der sich bei seinen Versuchen, »das Ganze in eine Einheit zu bringen« (MoE/B1/597) als weniger anfällig für die Erlösungsphantasien zeigt, reift dadurch eine Erkenntnis, die er in einem Gespräch mit Ulrich zusammenfasst und bei dem er den Ordnungs- mit dem Todesbegriff verbindet: […] stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommene zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie! (MoE/B1/741-742) In den Erstarrungsbildern der Ordnung wird die zeitliche Dynamik, die Wandelbarkeit des menschlichen Geistes außer Kraft gesetzt. Der lebendige Geist steht schon immer in einem Gegensatz zur etablierten Ordnung und bricht sie durch die Vermischung der Gegensätze, Gedankenanleihen beim Gegner, Widersprüche und kommunikative Störungen auf. Indem die geistige Tätigkeit von den Urhebern nicht allzu ernst genommen wird, entsteht bei ihren Konsumenten ein gesteigertes Ordnungsbedürfnis, welches den freien Eskapaden des »Zivilgeistes« das tödliche Erstarren auf den Kriegsfeldern bereitet. Diese Logik lässt sich anhand der nächsten These des Generals verfolgen, die er in der Einsamkeit seines Kabinetts im Kriegsministerium macht und die das Fazit seiner Bemühungen bietet, »Ordnung in den Zivilverstand zu bringen«: »Und was ist denn überhaupt Geist?!« fragte sich der General rebellisch. »Er geht doch nicht um Mitternacht in einem weißen Hemd um; was sollte er also anderes sein als eine gewisse Ordnung, die wir unseren Eindrücken und Erlebnissen geben?! Aber dann,« schloß er entschieden, mit einem beglückenden Einfall »wenn Geist nichts ist als geordnetes Erleben, dann braucht man ihn in einer ordentlichen Welt überhaupt nicht!« (MoE/B1/834) Der »beglückende Einfall« des Generals verbannt den Geist aus »einer ordentlichen Welt« des Militärs. Der Krieg soll dem Chaos von »Eindrücken und Erlebnissen« das Ende bereiten, die sich im »Zivilgeist« schon immer selbst dekonstruiert haben. Seinen Leerlauf zum Stillstand zu bringen, tut der Krieg alleine schon darum, weil er die Protagonisten dieses Geschehens – die Intellektuellen – auf die Kriegsfelder befördert. Eine solche Intervention des Politischen in die Sphäre des schönen Geistes stellt eine logische Folgerung der Polarisierung zwischen der Sitiation der maximalen Ausbreitung des chaotischen »zivilen« Geistes und dem Bedürfnis nach Ordnungsprinzipien und Orientierung dar. Die Zufriedenheit, mit welcher der General die Notwendigkeit der geistigen Auseinandersetzungen vom Tisch wischt, imitiert die Begeisterung, mit der nicht nur die breite Bevölkerung, sondern auch die besten Köpfe der Vorkriegszeit auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges reagieren. Nicht der Kriegsausbruch als solches, sondern die einsetzende Kriegsbegeisterung stellt das finale Ereignis des »Mann ohne Eigenschaften« dar, auf welches der Verlauf der historischen Zeit im Roman zusteuert. In der umsichgrei-

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fenden Kriegsstimmung unter dem Stichwort, »das Stahlbad wird die Welt bessern«127 , entlädt sich die Unzufriedenheit über die geistige Komplexität, die von der Kriegsordnung abgelöst wird. So könnte man eine der zentralen Botschaften von Musils Roman verstehen, wenn es General Stumm von Bordwehr, der beim Kriegsausbruch zum »Erlöser« avanciert,128 nicht noch treffender formuliert hätte: »Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über« (MoE/B1/742). Die unvermeidliche Reduktion der geistigen Komplexität durch den Krieg zeichnet sich im Roman umso deutlicher ab, je weiter die Parallelaktion ihre Aufgabe der gesellschaftlichen Konsolidierung im Zeichen einer Idee verfehlt. Die allgemeine Kriegsbegeisterung, an der auch Musil unter anderen Intellektuellen seiner Zeit im Jahre 1914 teilhat, wird dabei kaum als kollektiver Orientierungsverlust, sondern als ein planmäßiges Ergebnis der Lockerung der Zusammenhänge im Feld der Ideenproduktion und -zirkulation angesehen.129 Klaus Laermann hob zu Recht hervor, dass in Musils Roman »alles Qualitative der Ideen beliebig austauschbar [scheint]«.130 Die Fabel der Parallelaktion stützt sich nicht auf bestimmte Ideen, sondern auf Erfahrungen mit der Produktion und Zirkulation der Ideen. Diese Erfahrungen werden in der Innen- und Außerwahrnehmung der Figuren sowie in ihren psychischen Vorgängen verankert. Durch Übergänge zwischen der individuellen Erfahrungsebene der Figuren und der Verallgemeinerungsebene, auf der gesellschaftliche Praxis explizit reflektiert wird, wird die abstrakte historische Zeit im »Mann ohne Eigenschaften« als eine Zeit des Ideendurcheinanders erzählt. Der Protagonist reflektiert kritisch die Vorgänge in der Parallelaktion, formuliert aber auch ausgehend von dieser Kritik in einer Reihe von Episoden eine Art »positiver Konstruktion«,131 die ich im nächsten Kapitel betrachte.

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»9 Lindner«/»Eine Art Ende«. Musil, Klagenfurter Edition, Band 3 Fortsetzung, Fortsetzungsreihen 1932-1936. 128 »Verknüpfung«, VII/12/8, L9. Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles. 129 Vgl. dieses Fazit mit Musils expliziter Stellungnahme im Essay »Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste«: »Die Lösung liegt weder im Warten auf eine neue Ideologie, noch im Kampf der einander heute bestreitenden, sondern in der Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen, unter denen ideologische Bemühungen überhaupt Stabilität und Tiefgang haben. Es fehlt uns an der Funktion, nicht an Inhalten!« (»Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste«. Musil, Klagenfurter Edition, Band 12, S. 235) 130 Laermann: Eigenschaftslosigkeit, S. 100. Laermann sah darin ein symptomatisches Bild des liberalistischen Gedankenaustausches, der zu einer »Trennung von Idee und Interesse« (ebd., S. 98) und zur »Entideologisierung« und Leugnung »der real vorhandenen Pluralität der Interessen in der ökonomischen Distributionssphäre« (ebd., S. 103) führe. Eine solche Kritik der liberalistischen Meinungsfreiheit, die dem »realen« Spiel der ökonomischen Interessen machtlos gegenübersteht, liegt m.E. außerhalb des Horizontes der Romanerzählung, in der ökonomische Interessen nie eine ultimative Entscheidungskraft besitzen. In Musils Roman fungiert die Sphäre des geistigen Austausches als exklusives Darstellungsobjekt, das nicht anderen Elementen des sozialen Feldes untergeordnet werden kann. 131 »Selbstanzeige«. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14.

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Historische Zeit im Narrativ

4.1.3.2

Das Sujet des Protagonisten: »Ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird«132

Mit diesen Worten Ulrichs lässt sich gut das Pathos dieser Figur veranschaulichen. Als »ein zum Verändern geborener Mensch« wird Ulrich als Beobachter im Horizont »einer zum Verändern geschaffenen Welt« platziert und erhebt zugleich die Forderung, diese Veränderung mitzugestalten. Im Spannungsfeld zwischen der Reflexion der abstrakten historischen Zeit und dem Anspruch auf ihre Beeinflussung entwickelt sich der zentrale Konflikt rund um Ulrich. Im vorliegenden Kapitel fasse ich die Entwicklung dieses Konflikts anhand von ausgewählten Stationen zusammen: den Konflikt mit Arnheim, die Krise der Utopie des Essayismus und Ulrichs Ansätze, »Ideengeschichte« zu leben und im Rahmen der Parallelaktion das »Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele« zu gründen. Die Überschätzung der Gegenwart und das Bewusstsein des Wandels Der Konflikt zwischen dem Protagonisten der Parallelaktion, Arnheim, und dem Protagonisten des Romans trägt wesentlich zur Synchronisierung beider Handlungssequenzen – der Sujets der Parallelaktion und Ulrichs – bei. Ihre Kontroverse zeichnet sich bereits während der ersten Sitzung der Parallelaktion ab. Im »Zimmer der Weltgeschichte« (MoE/B1/280) geraten Arnheim und Ulrich aneinander und beginnen ein Gespräch über die Parallelaktion. Laut Arnheim beweise »[…] schon die Tatsache, daß eine Zusammenkunft wie die heutige irgendwo möglich gewesen sei, […] ihre tiefe Notwendigkeit« (MoE/B1/275). Diese Sichtweise wird von Arnheim durch den Grundsatz untermauert, dass »in der Weltgeschichte nichts Unvernünftiges« (MoE/B1/521) geschehe; er steht im Widerspruch zu Ulrichs PDUG (»Prinzip des unzureichenden Grundes«), wonach sowohl im persönlichen als auch öffentlich-geschichtlichen Leben nur das passiere, »was eigentlich keinen rechten Grund hat« (MoE/B1/210-211). Somit wird der Konflikt zwischen dem Protagonisten Ulrich und dem Antagonisten Arnheim von Anfang an durch zwei verschiedene Auffassungen von der Notwendigkeit in der Geschichte bedingt; doch er erschöpft sich nicht darin. Ulrich beobachtet Arnheim als »Daseinsform«, »das Muster Arnheim«, dessen »Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit ihm im höchsten Grade unerträglich« (MoE/B1/279) ist. Die Synthese, die Arnheim als »Daseinsform« (MoE/B1/279) vertritt und die er persönlich als »Geheimnis des Ganzen« (MoE/B1/301ff.) bezeichnet, steht im Zeichen der Ungenauigkeit, die aus dem Beherrschen der Fachsprache ohne profunde Kenntnis des jeweiligen Wissensgebiets resultiert. Ein solches Kommunikationstalent bietet laut Ulrich »keinen Geist mehr«, sondern »ein Phänomen wie ein[en] Regenbogen, den man beim Fuß fassen und ganz richtig betasten kann« (MoE/B1/301). Der Konflikt zwischen Arnheim und Ulrich lässt sich dabei als Konkurrenz um die geistige Dominanz begreifen, die vor allem durch den Einsatz sprachlicher und rhetorischer Strategien ermöglicht wird. Ulrichs Auftrag, den »Geist des Geistes« zu packen, steht in diesem Kontext für eine analytische Leistung, die höchste Präzision des Denkens erfordert. Hingegen

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MoE/B1/435.

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verlässt sich Arnheim auf die Wirkung seiner Persönlichkeit und seines Vermögens und spielt seinen Gesprächspartner »das Geheimnis des Ganzen« vor. So ist der Konflikt zwischen dem Protagonisten Ulrich und dem Antagonisten Arnheim nicht als politischer Machtkampf, als Konflikt lebensweltlicher Interessen oder Nebenbuhlerschaft um die Gunst derselben Frau angelegt, obwohl Spuren davon in dem Dreiecksverhältnis Diotima-Ulrich-Arnheim am Rande präsent sind; die Feindschaft zwischen den beiden wird auf einer höchst abstrakten Ebene als Konflikt von zwei Argumentationsweisen entfaltet, wobei Arnheims rhetorische Manipulationen stellvertretend für die Tendenzen seiner Zeit, ihr »Gesicht« oder sogar »die affektierte Fratze«, steht: […] im Spiegel ihrer genießerischen Kennerschaft sah Ulrich die affektierte Fratze, die das Gesicht der Zeit ist, wenn man daraus die wenigen wirklich starken Züge der Leidenschaft und des Denkens entfernt. (MoE/B1/282) Ulrich betrachtet Arnheim ausdrücklich als Symptom oder »Gesicht der Zeit«; dieses Gesicht vermisst »die wenigen starken Züge«, ist gemäßigt und in seinen Emotionen auf das Auskosten der eigenen dominanten Position reduziert. Die Dominanz wird dabei nicht nur durch die Symphatie der »Umgebung« zum reichen Kaufmann und Buchautor, sondern zusätzlich durch die Möglichkeit gesichert, der geistigen Auseinandersetzung auszuweichen und sich dem Wirklichkeitssinn zu verschreiben. Damit ist die Figur Arnheims an der Schwelle der romaninternen Wirklichkeit platziert: man hat im Roman niemals die Gelegenheit, ihn bei seinen Geschäften zu sehen, die in der historischen Zeit des Romans weder erzählbar noch erzählwürdig erscheinen. Es mag paradox erscheinen, dass diese Platzierung an der Schwelle der fiktiven Welt des Romans den reichen Kaufmann Arnheim mit der Figur des Bolschewiken Kutusow, dem Antagonisten von Klim Samgin in Gorʹkijs Roman vergleichbar macht. Beide erscheinen in der Erzählung als sprechende oder reflektierende Figuren und verschwinden, sobald es um ihre wirtschaftliche oder politische Aktivität geht. Die Opposition, in der sich beide Figuren zu den Romanprotagonisten befinden, gründet nicht auf der Logik ökonomischer oder politischer Machtverhältnisse, sondern auf den unterschiedlichen Zeitkonzeptionen. Ähnlich wie Kutusow in Gorʹkijs Roman, der in seiner Argumentation stets beurteilt, was an der Zeit ist und was nicht, besetzt Arnheim symbolisch auf zweifache Art die Domäne der Gegenwart: Zum einen gilt Arnheims Gestalt Ulrich als »affektierte Fratze« der Zeit, ihr herausragendes Beispiel, und zum anderen ist sie von Selbstzufriedenheit als Gefühl der eigenen Präsenz in der Gegenwart gezeichnet. Ulrich merkt an, dass die Gegenwart von Arnheim schon immer als ein historischer Moment, zum Beispiel als die Lage zwischen zwei Kontinenten aufgefasst wird: Eitel ist ein Mensch, der sich beneidenswert vorkommt, wenn zu seiner Linken der Mond über Asien aufgeht, während zu seiner Rechten Europa im Sonnenuntergang verdämmert; so hat er mir einmal eine Reise über das Marmarameer beschrieben! Wahrscheinlich geht der Mond hinter dem Blumentopf eines verliebten kleinen Mädchens schöner auf als über Asien! (MoE/B1/747-748) Die Eitelkeit, wegen der Arnheim »sich selbst beneidet«, schlägt sich in der Rhetorik von eklektischen und dilettantischen Bestsellern nieder, mit denen er den Markt belie-

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fert. Als Buchautor, Großschriftsteller und Ulrichs Konkurrent in den Gesprächsrunden von Diotimas Salon ist Arnheim in der Erzählung des »Mann ohne Eigenschaften« präsent; hingegen verschwindet er aus der romaninternen Perspektive, sobald er den Salon verlässt und zu einer Tätigkeit übergeht, die hinter dem Horizont der Romanwelt liegt. Wie Ulrich hat Arnheim Einblick in den geistigen Bestand seiner Zeit und wäre also in der Lage, ihre Widersprüche zu verstehen: Denn dieser berühmte Schriftsteller war klug genug, um die fragwürdige Lage zu begreifen, in die sich der Mensch gebracht hat, seit er sein Bild nicht mehr im Spiegel der Bäche sucht, sondern in den scharfen Bruchflächen seiner Intelligenz; aber dieser schreibende Eisenkönig gab die Schuld daran dem Auftreten der Intelligenz und nicht ihrer Unvollkommenheit. Es lag ein Schwindel in dieser Vereinigung von Kohlenpreis und Seele, die zugleich eine zweckdienliche Trennung dessen war, was Arnheim mit hellem Wissen tat, von dem, was er in dämmeriger Ahnung redete und schrieb. (MoE/B1/281) Der Widerspruch, auf den es Ulrich abgesehen hat, liegt in der Unvereinbarkeit zwischen »Kohlenpreis und Seele«; die hohen Umsätze der Firma Arnheims gehen dabei mit dem gesteigerten Umsatz an Ideen in seinen Büchern einher, die von der seelischen Krise der Zeit und dem Geheimnis des Ganzen handeln. Arnheim wähnt sich also auf der Höhe der Zeit und nimmt sich heraus, den Zeitgenossen die Gegenwart zu erklären. Wie Martin Dillmann argumentierte, schreibt der Erzähler Arnheims Figur »das intellektuelle Potenzial zu, selbst als Beobachter zweiter Ordnung zu agieren«.133 Als zwei Ideologen stehen sich Arnheim und Ulrich in ihrem Konkurrenzkampf gegenüber; die Schärfe ihres Konflikts bemisst sich an ihrem jeweiligen Anspruch, das Feld der geistigen Produktion zu steuern. Wie Hans-Georg Pott zu Recht registriert, übergeht die anfänglich satirische und also kritische Darstellung Arnheims in eine zunehmend differenziertere und ernstere über, so dass die Gedanken Arnheims kaum noch von Ulrichs oder Musils Gedanken zu unterscheiden sind.134 Jedoch liegt die Ursache dafür kaum in der von Pott monierten Beeinflussung Musils durch die Schriften von Arnheims Prototyp, Walther Ratenau, sondern in der prinzipiellen Fluidität der Gedanken zwischen den Romanfiguren, die ich bereits an einer früheren Stelle als ein für den »Mann ohne Eigenschaften« spezifisches gedankliches Kontinuum charakterisiert habe. Es geht bei dem Konflikt zwischen Ulrich und Arnheim nicht um Meinungsverschiedenheiten – wie man gesehen hat, hebt der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« die Fähigkeit des Schriftstellers Arnheim, die Widersprüche seiner Zeit zu verstehen, ausdrücklich hervor – sondern um unterschiedliche Zeitkonzepte, die ihren Denkhorizont prägen. Dieser Unterschied wird von Ulrich in einem Gespräch mit Diotima erläutert. Auf einem Spaziergang durch ein Tal in der Wiener Umgebung veranschaulicht Ulrich seine Kritik »des Gefühls der Gegenwart« anhand einer räumlichen Metapher: 133 134

Dillmann: Poetologien der Kontingenz, S. 130. Pott: Kontingenz und Gefühl, S. 143.

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Wir überschätzen maßlos das Gegenwärtige, das Gefühl der Gegenwart, das, was da ist; ich meine, so wie Sie jetzt mit mir in diesem Tale da sind, als ob man uns in einen Korb gesteckt hätte, und der Deckel des Augenblicks ist daraufgefallen. Wir überschätzen das. Wir werden es uns merken. Wir werden vielleicht noch nach einem Jahr erzählen können, wie wir da gestanden haben. Aber das, was uns wahrhaft bewegt, mich wenigstens, steht – vorsichtig gesprochen; ich will keine Erklärung und keinen Namen dafür suchen! – immer in einem gewissen Gegensatz zu dieser Weise des Erlebens. Es ist verdrängt von Gegenwart; das kann in dieser Weise nicht gegenwärtig werden! (MoE/B1/460) Laut Ulrich hat die zeitliche Fixierung auf den gegenwärtigen Augenblick Ähnlichkeit zur räumlichen Wahrnehmung, bei der den Figuren, die im Tal stehen, eine eindeutige Position zugewiesen wird. Darüber wird man »vielleicht noch nach einem Jahr erzählen« können, da das Gedächtnis die geografische Lage als wichtig festhalten wird. Wie man bereits auf der ersten Seite des Romans liest, geht solche eine Fixierung auf das Räumliche dem Romanerzähler zufolge auf die Hordenzeit zurück, in der man sich Futterplätze merken musste, und ist nicht wesentlich für das, was laut Ulrich »uns wahrhaftig bewegt« und »immer in einem gewissen Gegensatz zu dieser Weise des Erlebens« steht. Es gehört nicht zur Gegenwart und kann nicht »gegenwärtig werden«. Räumlich in der Gegenwart verankert, verflüchtigt sich der Mensch in dem, »was uns wahrhaftig bewegt«, aus der Gegenwart in eine unbestimmte Richtung. Denkt man sich den Menschen also von seinem Gehirn und nicht von seinen Füßen her, so muss man mit Ulrich feststellen, dass er nicht in der räumlichen Gegenwart des Augenblicks, sondern zwischen den Zeiten steht. Eine ähnliche Positionierung des menschlichen Gehirns zwischen unterschiedlichen Zeitschichten beschreibt Ulrich an einer früheren Stelle als einen »Stufenunterschied« zwischen dem Denken und dem Leben: Das Gehirn hinkt als Organ des Denkens der Realität hinterher, da es »alles nur halb zu Ende« denkt und »die andere Hälfte« vergisst (MoE/B1/436-437). Diese Unvollkommenheit des Intellekts wird zum zentralen Punkt von Ulrichs Kritik am Bestand seiner Zeit, wobei von ihm die Teilnahme daran als geistige Teilnahme (MoE/B1/437) aufgefasst wird, die man der Wirklichkeit bei diesem Stand der Dinge verweigern muss. Aus Ulrichs Perspektive erscheint die Gegenwart als eine äußerst instabile Zone: Ulrich hielt sie [Diotima] auf und zeigte ihr die Landschaft. »Das war vor etlichen tausend Jahren ein Gletscher. Auch die Welt ist nicht mit ganzer Seele das, was sie augenblicklich zu sein vorgibt« erklärte er. »Dieses rundliche Wesen hat einen hysterischen Charakter. Heute spielt es die nährende bürgerliche Mutter. Damals war die Welt frigid und eisig wie ein bösartiges Mädchen. Und noch einige tausend Jahre früher hat sie sich mit heißen Farrenwäldern, glühenden Sümpfen und dämonischen Tieren üppig aufgeführt. Man kann nicht sagen, daß sie eine Entwicklung zur Vollkommenheit durchgemacht hat, noch was ihr wahrer Zustand ist. Und das gleiche gilt von ihrer Tochter, der Menschheit. Stellen Sie sich bloß die Kleider vor, in denen im Lauf der Zeit Menschen hier gestanden haben, wo wir jetzt stehen. In Begriffen eines Narrenhauses ausgedrückt, gleicht das alles lang andauernden Zwangsvorstellungen mit plötzlich einsetzender Ideenflucht, nach deren Ablauf eine neue Lebensvorstellung da ist. Sie sehen also wohl, die Wirklichkeit schafft sich selbst ab!« (MoE/B1/461)

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Betrachtet man die Gegenwart aus der zeitlichen Makroperspektive, so scheint sie sich selbst permanent zu negieren. In dem von Ulrich imaginierten Bild des Wandels wird nicht nur die Vergangenheit als eine instabile Zone betrachtet; die argumentative Spitze richtet sich gegen eine Verabsolutierung der Gegenwart, die als ein möglicher Zustand schon immer von einem anderen möglichen Zustand abgelöst werden kann. Wie Harald Haslmayr schrieb, bleibt dabei »nicht nur die Vergangenheit als Ganze offen und mehrdeutig, erst recht die eigene Zeit, die Gegenwart!«135 Die Darstellung der unabgeschlossenen Gegenwart, die Ulrich modellhaft am Bild des geologischen Wandels veranschaulicht, ist durch eine ganze Reihe von rhetorischen Personifizierungen durchzogen, aufgrund welcher die Welt als ein »rundliches Wesens« mit einem »hysterischen Charakter«, »ein bösartiges Mädchen« oder eine »bürgerliche Mutter« zu einem handelnden Akteur inszeniert wird, deren Launen stereotyp weibliche Züge tragen. Die »biografische« Evolution dieses Akteurs von einem »bösartige[n] Mädchen« zur »nährende[n] bürgerliche[n] Mutter« steht außerhalb einer erkennbaren Logik, ist durch keinerlei Regeln gehemmt und gebunden: »man kann nicht sagen, daß sie eine Entwicklung zur Vollkommenheit durchgemacht hat, noch was ihr wahrer Zustand ist«. Der Wandel der Kollektiva »Welt« und »Menschheit« wird also von Ulrich weder als Fortschritt noch als eine Annäherung an oder Abweichung von einem »wahren Zustand« verstanden, sondern lediglich als das Aufbrechen eines Zustandes durch einen anderen ohne erkennbare Logik betrachtet. Die logische Kette von Ursache und Folge wird in der oben zitierten Passage nicht nur durchbrochen, ihr Fehlen wird proklamiert. Angesichts der Kontingenz dieses Modells wurde von Werner Graf Ulrichs »enthistorisierende exakte Erkenntnishaltung« moniert136 ; dies ist insoweit zutreffend, als Ulrichs Reflexion jede Art historisierender Verankerung durch das Bewusstsein des Wandels transzendiert. Diese Form der Zeiterfahrung setzt die Figuration einer reinen Temporalität voraus, die an keinen logisch nachvollziehbaren Zustandswechsel gebunden ist und in seiner panlogischen Form nur durch eine Erzählung simuliert werden kann, die den Zustandswechsel der Gesellschaft in Form von »lang andauernden Zwangsvorstellungen« und »plötzlich einsetzender Ideenflucht« beschreibt.137 Das Beispiel der Parallelaktion spiegelt diesen Mechanismus, wenn die Idee des Weltösterreichs durch die Erwartung einer Erlösung verdrängt wird. Die Ideenflucht wird im Roman zu einem Symptom der Unzurechnungsfähigkeit nicht bloß der kakanischen Gesellschaft, sondern der Welt per se erklärt, die in ihrer räumlichen Präsenz das

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Haslmayr: Die Zeit ohne Eigenschaften, S. 23. Graf: Erfahrungskonstruktion, S. 132. Neben dem Bild des geologischen Wandels beinhalten Ulrichs Ausführungen eine Analogie zum Wandel der Kleidung. Die Wichtigkeit der Frage, »ob Menschen mit ihren Kleidern übereinstimmen sollten« bemisst sich an der Bedeutung der Kleider als kulturellem Mechanismus der Selbstpräsentation, wodurch Modewechsel den Status einer geistigen Erscheinung, analog zu dem Wandel von Wertehaltungen erhält. Florian Kappeler hat auf die Bedeutsamkeit der Mode im Kontext von Musils Geschichtsverständnis hingewiesen: »Die Mode ist für Musil kein Faszinosum, sondern ein Zeichen und Element des historischen Wandels.« (Kappeler: Situiertes Geschlecht, S. 432) Vgl. auch die Anmerkung von Alexander Honold: »An den Zeichen der Architektur, der Lebenshaltung, der Mode läßt sich die Geschichte der Abfolge von Stilepochen ebenso ablesen wie die synchronen sozialen Distinktionen, die mit ihnen markiert werden.« (Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 368)

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Gefühl der Gegenwart und somit der Wirklichkeit des aktuellen Augenblicks vortäuscht, obwohl sie sich in ihrer prozessualen Dynamik schon immer woanders befindet. Wie Martin Menges hervorhob, führt Ulrichs »Überzeugung von der Welt als Laboratorium« zu einem Bild der Zeit, »dessen Zukunft vorne und nicht hinten liegt«.138 Das Bewusstsein dieser Dynamik wird vom Protagonisten nicht nur proklamiert, sondern auf sein Körpergefühl übertragen, wenn Ulrich von sich behauptet: »Das Gefühl, einen festen Boden unter den Füßen und eine feste Haut um mich zu haben, das den meisten Menschen so natürlich erscheint, ist bei mir nicht sehr stark entwickelt« (MoE/B1/461). Analog zur »Biografie« des »rundlichen Wesens« der Welt werden Ulrichs Lebensetappen – Kindheit und Jugend – als Transformationsphasen behandelt, die sich nicht mehr auf das Erwachsenwerden beziehen lassen. Daraus ergibt sich das Bild einer Entwicklung außerhalb jeglicher Logik, so u.a. der Logik der biologischen Realität, die das einzig Wesentliche nicht erfassen kann – den Wandel der Ideen und Vorstellungen, auf den es einzig und allein ankommt. Vollzieht sich der Wandel spontan, nicht im Dienste einer Idee oder eines Programms, so kann sein Gipfel auch nicht im »sogenannten reifen Mannesalter« erkannt werden, sondern er bietet analog zu geologischen Transformationen der Erdkruste und den Kleidermoden eine zeitliche Abfolge ohne Entwicklung und Konsequenz. Wenn sich die Wirklichkeit permanent selbst abschafft, sieht sich das Subjekt in eine Welt getaucht, die sich im Fluss befindet: Die Welt könnte ja in jedem Augenblick auch nach allen Richtungen verändert werden oder doch nach jeder Beliebigen; es liegt ihr sozusagen in den Gliedern. Es wäre darum eine eigenartige Weise zu leben, wenn man einmal versuchen würde, sich nicht so zu benehmen wie ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Welt, in der, möchte ich sagen, nur ein Paar Knöpfe zu verschieben sind, was man Entwicklung nennt; sondern von vornherein so wie ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird, also ungefähr so wie ein Wassertröpfchen in einer Wolke. (MoE/B1/435) Der Auftrag des Protagonisten, der sich in eine wandelbare Welt getaucht sieht, unterscheidet sich somit radikal von der Position Arnheims, welcher »stets nur Verflechtung ins Bestehende, Besitzergreifung, sanfte Korrektur« (MoE/B1/619) anstrebt. Ulrich lässt eine solche »sanfte Korrektur« nicht zu, da ihm nichts als beständig gilt. Den panlogischen Wandel als solchen zu erkennen, statt ihm posthum einen Sinn zu verleihen, stellt die Aufgabe des wahrnehmenden Subjekts dar. Ihre Erfüllung ist an eine vorwiegend reflexive Haltung gebunden; den Wandel zu beobachten, in ihm wie das »Wassertröpfchen« in einer Wolke mitzuschwingen, wird zum Programm des Widerstandes gegen Arnheim mit seiner »Überschätzung der Gegenwart«. Das von Ulrich verkörperte Zeitgefühl lässt sich mit Bachtin als höchste Steigerung der historischen Zeit bezeichnen, die in ihrer Dynamik frei über den geografischen Raum verfügt, ihn beliebig verändert und von keiner Instanz gehemmt wird. Das Bewusstsein des universellen Wandels macht den Protagonisten zum einen zum Beobachter der historischen Zeit, der mit ihr

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Menges: Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 88.

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mitschwingt, und zum anderen zu ihrem Agenten, der die Welt selbst aktiv umgestalten will und die Wege danach sucht. Welche Handlungsoptionen dabei im »Mann ohne Eigenschaften« verhandelt werden, betrachte ich im nächsten Kapitel. Die Gefühle eines Utopisten Den kollektiven Wandel reflexiv zu erkunden und ihn zu beeinflussen sind zwei verschiedene Möglichkeiten, sich auf die kollektive Zeit zu beziehen. Sie werden im »Mann ohne Eigenschaften« in Bezug auf den Protagonisten explizit gegenübergestellt; wie ich oben bereits argumentiert habe, entwächst der Spannung zwischen den beiden Optionen das Sujet des Protagonisten im »Mann ohne Eigenschaften«. Der Anspruch auf Wirkung wird in Ulrichs Biografie eingebettet, doch lässt er sich aus der fortgeschrittenen Reflexionsstufe kaum ableiten und scheint sogar dadurch gehemmt zu sein. Er macht sich in der Erzählung als Anflug von sonderbaren, affektiven Zuständen bemerkbar, die keinem lebensweltlichen Konflikt entspringen, sondern sich an der Logik des (von Ulrich imaginierten) Verhältnisses zwischen ihm und dem kollektiven Ganzen entzünden. Als Beispiel einer solchen doppelten, sowohl reflexiven als auch affektiven Relation zur kollektiven Zeit, lassen sich Ulrichs Utopien der Exaktheit und des Essayismus interpretieren. Die Utopie der Exaktheit referiert auf die Vorstufe von Ulrichs Biografie, in welcher der Protagonist seiner wissenschaftlichen Laufbahn nachgeht. Als »Stimmung und Bereitschaft eines Zeitalters« (MoE/B1/390) läuft die Utopie der Exaktheit auf die Vorstellung hinaus, »daß man vielleicht exakt leben könnte«. Das kollektive »man« wird dabei vom Erzähler als eine ungewisse, aber dennoch existente Einheit problematisiert: »man könnte nicht sagen, wer und wieviele so dachten, immerhin, es lag in der Luft« (MoE/B1/390). Als unbestimmte Wunschvorstellung steuert die Idee, dass man »die persönliche Leistungsfähigkeit auf das Äußerste« steigern und »nur das Nötige tun, wo man nichts Besonderes zu bestellen hat« (MoE/B1/390-391), die kollektive Denkpraxis; sie wird jedoch alsbald von der gegenläufigen Tendenz abgelöst. Das Pathos des Wissens wird durch Fortschrittsskeptizismus verdrängt, »der unscharfe Typus Mensch« (MoE/B1/396) mit seiner Ablehnung der Ideale der Wissenschaftlichkeit setzt sich durch. Somit wird ein kollektiver Traum gegen den anderen ausgetauscht. Durch das Ablösen, Verdrängen und Verschieben der geistigen Trends vollzieht sich der Wandel der kollektiven Zeit. Diese Prozesse setzen mit der Häufung von Äußerungen der »Menschen, die ein etwas unsicheres Metier betreiben« nach einem »neuen Menschheitsglauben, Rückkehr zu den inneren Irrtümern, geistigen Aufschwung und allerlei von solcher Art verlangen« (MoE/B1/396) an. Die Gegenwart, die auf diese Art und Weise entsteht, wird von dem »unscharfen Typus Mensch« beherrscht und verdrängt den Protagonisten an die Peripherie. Diese Verdrängung wird von Ulrich als zunehmende Vereinsamung wahrgenommen: Dadurch wird das Scheitern der Utopie der Exaktheit, das der »Zeit« zu Lasten gelegt wird, emotional akzentuiert. Indem der Protagonist in seiner Biografie den Wechsel der geistigen Trends erlebt, nimmt er die Gegenwart als eine höchst diffuse Zeit wahr, in der kulturelle Phänomene, die auf frühere »Gegenwarten« zurückgehen, gleichzeitig nebeneinander existieren. Diese Realität, die zeitlich zerrissen, keineswegs fest und vor allem auf der schematisierten Ebene kultureller Universalien angesiedelt ist, kann nur durch das Essay adäquat beschrieben werden. Die Utopie des Essayis-

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mus löst die Utopie der Exaktheit ab und wird im Gegensatz zur Letzteren nicht vom kollektiven »man« der Epoche produziert, sondern bietet Ulrich ein geeignetes Mittel für die Reflexion des kollektiven Wandels. Die Wandelbarkeit der kulturellen Phänomene, die Mechanismen der Veränderung und Verschiebung von Bedeutungen sollen als ein Ganzes durch ein »System von Zusammenhängen« (MoE/B1/393) erfasst werden, in dem sich Ideale oder moralische Größen als wandelbare Konstanten verhalten. Die unzähligen Faktoren, die dabei berechnet werden müssen, leiten das Pathos der Utopie der Exaktheit in ein unerschöpfliches Tätigkeitsfeld über. Auf diesem Feld agiert der Protagonist als Beobachter der Menschheit und registriert ihre Widerprüche und Inkonsequenzen: Sie widerruft auf die Dauer alles, was sie getan hat, und setzt anderes an seine Stelle, auch ihr verwandeln sich im Lauf der Zeit Verbrechen in Tugenden und umgekehrt, sie baut große geistige Zusammenhänge aller Geschehnisse auf und läßt sie nach einigen Menschenaltern wieder einstürzen; nur geschieht das nacheinander, statt in einem einheitlichen Lebensgefühl, und die Kette ihrer Versuche läßt keine Steigerung erkennen, während ein bewußter menschlicher Essayismus ungefähr die Aufgabe vorfände, diesen fahrlässigen Bewußtseinszustand der Welt in einen Willen zu verwandeln. (MoE/B1/399-400) Wird die Vorstellung des zeitlichen Wandels auf den kollektiven Akteur Menschheit projiziert, so erscheint ihr Tun höchst widersprüchlich: sie »widerruft auf die Dauer alles, was sie getan hat, und setzt anderes an seine Stelle«, verwandelt »im Lauf der Zeit Verbrechen in Tugenden und umgekehrt«, »baut große geistige Zusammenhänge aller Geschehnisse auf und läßt sie nach einigen Menschenaltern wieder einstürzen«. Dieser »Ablauf der Geschichte« ist Götz Müller zufolge selbst »essayistisch«,139 Ulrichs Essayismus bietet also in erster Linie eine an den Horizont kollektiver Zeit gebundene Reflexionstaktik des kollektiven Wandels. Dabei gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem Essayismus und dem essayistischen Stil des »Mann ohne Eigenschaften« äußerst komplex. Man kann Gunther Martens recht geben, wenn er betont: »Man kann Essayismus als Lebenshaltung und Essayismus als Schreibstruktur des Romans nicht ohne weiteres miteinander identifizieren«.140 Wie man anhand der zitierten Passage sehen kann, wird dem Essay als einem Erkenntnismodus ein Handlungsimpetus eingepflanzt, der den Versuchsführenden (Menschheit, Ulrich) zu Subjekten einer Handlung auf der Ebene menschlicher Universalien inszeniert. »In einem einheitlichen Lebensgefühl« würde das Vorgehen des kollektiven Akteurs Menschheit äußerste Zweifel erwecken; in der Perspektive eines kontrollierten, »bewußte[n] menschliche[n] Essayismus« wird hingegen die Möglichkeit einer Korrektur am Bestand kollektiver Praktiken angelegt, die »diesen fahrlässigen Bewußtseinszustand der Welt in einen Willen« verwandeln könnte. Als Handlungsinstanz bietet Ulrich dem Erzähler eine narrative Ressource, sich auf eine alternative Art und Weise mit dem Bestand der Epoche auseinanderzusetzen als sie bloß durch die essayistische Analyse reflexiv abzubilden. Dieser Auftrag wird in der 139 Müller: Ideologiekritik und Metasprache, S. 106. 140 Martens: Beobachtungen der Moderne, S. 158.

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Biografie des Protagonisten verankert und schlägt sich in der Erfahrung einer tiefen Lebenskrise nieder, die aus der Unmöglichkeit resultiert, ihm gerecht zu werden: […] wenn man eine Forderung lange Zeit erhebt, ohne daß mit ihr etwas geschieht, schläft das Gehirn genau so ein, wie der Arm einschläft, wenn er lange Zeit etwas hochhält, und unsere Gedanken können ebensowenig dauernd stehen bleiben wie Soldaten im Sommer auf einer Parade; wenn sie zu lange warten müssen, fallen sie einfach ohnmächtig um. Da Ulrich ungefähr in seinem sechsundzwanzigsten Jahr den Entwurf seiner Lebensauffassung abgeschlossen hatte, kam sie ihm in seinem zweiunddreißigsten Jahr nicht mehr ganz aufrichtig vor. (MoE/B1/406-407) Die Utopie des Essayismus scheitert nicht an logischer Inkonsequenz oder argumentativer Unzulänglichkeit, sondern an der zeitlichen Dauer der Forderung, die ein nicht eingelöstes Versprechen bleibt. Ulrichs Lebenskrise wird als Krise der leitenden Utopie geschildert, für die »ein Rüstzeug« solange zusammengestellt wird, bis »die Absicht erstirbt«. Indem dieser Ansatz, sich der kollektiven Dynamik zu bemächtigen, ins Leere läuft, entsteht bei Ulrich das Gefühl einer extremen Notlage: Er wartete hinter seiner Person, sofern dieses Wort den von Welt und Lebenslauf geformten Teil eines Menschen bezeichnet, und seine ruhige, dahinter abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher. Er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens und verachtete sich für seine Unterlassungen. (MoE/B1/408) Anhand dieser Beschreibung kann man sich nicht nur die Verzweiflung des Protagonisten als ein Warten »hinter seiner Person« bildlich vorstellen, sondern auch die existentielle Dimension der Figur erkennen, deren Sinnverlust sich aus der Krise einer Utopie ableitet, welche die Gegenwart umgestalten sollte. Die persönliche Lebenskrise erweist sich dabei als eine ideologische Krise und bringt den Anspruch eines Utopisten und Reformators zum Ausdruck. Diese Krise führt trotz ihres hochabstrakten Charakters zur Verzweiflung; die Lebenssituation Ulrichs wird anhand einer nächtlichen Szene in seinem Haus verdeutlicht: Will man sich vorstellen, wie solch ein Mensch lebt, wenn er allein ist, so kann höchstens erzählt werden, […] daß Ulrich einmal in solcher Nacht die Fenster öffnete und in die schlangenkahlen Baumstämme blickte, deren Windungen zwischen den Schneedecken der Wipfel und des Bodens seltsam schwarz und glatt dastanden, und plötzlich Lust bekam, im Schlafanzug, wie er war, in den Garten hinunterzugehn; er wollte die Kälte in den Haaren fühlen. (MoE/B1/409) Diese Passage liefert ein weiteres Beispiel der affektiven Verankerung abstrakter Gedanken des Protagonisten, das oben bereits mehrmals beobachtet wurde. Norbert Christian Wolf beschrieb die poetologische Fundierung dieses Verfahrens anhand Musils Notizen zum Roman als »eine affektive Aufladung zunächst neutraler Gedankengänge, die in der Lage ist, deren kognitive Relevanz schon im Vorhinein zu steigern«141 Durch dieses Verfahren nehmen Gedanken szenische Züge an. Der Prot141

Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 113. Dieses Verfahren steht den Relativierungstechniken nahe, die Irmgard Honnef-Becker in ihrer Untersuchung exemplarisch am Ulrichs Lä-

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agonist bewegt sich durch den Raum, wird für andere Figuren sichtbar, das von ihm Gedachte wird assoziativ erweitert und mit der Figur des Moosbruggers verknüpft: Als er unten war, schaltete er das Licht aus, um nicht vor der erleuchteten Türe zu stehn, und nur aus seinem Arbeitszimmer ragte ein Lichtdach in den Schatten hinein. Ein Weg führte zum Gittertor, das auf die Straße mündete, ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich. Ulrich ging langsam auf diesen zu. Und dann erinnerte ihn die zwischen den Baumkronen emporragende Dunkelheit plötzlich phantastisch an die riesige Gestalt Moosbruggers, und die nackten Bäume kamen ihm merkwürdig körperlich vor; häßlich und naß wie Würmer und trotzdem so, daß man sie umarmen und mit Tränen im Gesicht an ihnen niedersinken mochte. Aber er tat es nicht. Die Sentimentalität der Regung stieß ihn im gleichen Augenblick zurück, wo sie ihn berührte. Durch den Milchschaum des Nebels kamen vor dem Gitter des Gartens in diesem Augenblick verspätete Fußgänger vorbei, und er hätte ihnen wohl wie ein Narr erscheinen können, wie sich sein Bild, in rotem Schlafanzug zwischen schwarzen Stämmen, nun von diesen loslöste; aber er trat fest auf den Weg und ging verhältnismäßig zufrieden in sein Haus zurück, denn wenn etwas für ihn aufbewahrt war, so mußte es etwas ganz anderes sein. (MoE/B1/409-410) Die räumliche Wahrnehmung, die phantastische Gestalt des Serienmörders zwischen den Baumkronen, der sensorische Eindruck der »nackten Bäume« führen zu einer affektiven Regung, bei der »man sie umarmen und mit Tränen im Gesicht an ihnen niedersinken mochte«. Der inszenierte Affekt hat eine gewisse Resultativität, denn Ulrich geht »verhältnismäßig zufrieden in sein Haus zurück«. Berücksichtigt man die Tatsache, dass Ulrichs Haus – wie oben bereits ausgeführt – eine problematische Dichotomie zwischen Innen- und Außenwelt vertritt und stilistisch (»Genie der Lieferanten«, MoE/B1/28) sowie mental (Gedankengänge Ulrichs) von der Domäne der kollektiven abstrakten Zeit besetzt ist, so kann Ulrichs Gang in den Garten als Inszenierung einer Wanderung in die »Innenwelt« interpretiert werden, als deren »äußerster Ausdruck« bei Musil der Garten dient.142 Durch seinen Gartenausflug wird Ulrich in seiner Lebensaufgabe bestätigt, die wenn nicht so, doch auf eine andere Weise gelöst werden kann (»wenn etwas für ihn aufbewahrt war, so mußte es etwas ganz anderes sein«). Der Sinn der Wandlung, die Ulrich auf seinem Gartengang erlebt, beläuft sich auf keinen Gedanken, stellt keine logische Schlussfolgerung dar und wird auf der bildlichen Ebene im Bild des Gartens (Licht, Schatten, Gitter, Baumkronen) festgehalten. Diese Relation des Protagonisten zur kollektiven Zeit ist weder reflexiv noch biografisch begründet und trägt einen ausgesprochen narrativen und szenischen Charakter. Hohe emotionale Spannung geht mit gesteigerter Bildlichkeit der Sprache einher; der Protagonist gibt das Denken auf und nimmt verstärkt Sinneseindrücke wahr, die sich zum phantastischen Bild des Serienmörders Moosbrugger verdichten. cheln aufzeigte (Honnef-Becker: Ulrich lächelte, insbes. S. 137-139), ist von ihnen jedoch insoweit zu unterscheiden, als sie wesentlich komplexere Stimmungsbilder produzieren und in ihrer Semantik noch weniger eindeutig als Ulrichs opakes Lächeln sind, für das Honnef-Becker ohnehin eine breite Bedeutungspalette von der ironischen Distanzierung bis hin zur emphatischen Bejahung aufzeigte. 142 Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 179.

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Auch der Serienmörder ist als potenzieller Traum der Menschheit (»wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehn«, MoE/B1/120) an die Dimension der kollektiven Dynamik gebunden. Die träumerische Relation auf die kollektive Zeit, die Ulrich mit Moosbrugger verbindet, trägt einen prinzipiell anderen Charakter als die reflexive essayistische Haltung. Es ist unmöglich, sie als einen Gedankengang, einen Grundsatz oder eine Paradoxie zu fassen; umso wirksamer zeigt sie sich in der Erzählung als wiederholtes Insistieren auf der Notwendigkeit einer Alternative für die rein reflexive Relation auf die kollektive Zeit und bildet ein Handlungsmuster des Abweichens, Zurückbleibens, Aussteigens. Ein Beispiel hierfür liefert die in der Forschung vielfach besprochene Passage, in der Ulrich in der Straßenbahn fährt und über die Frage nachdenkt, warum der Mensch die Geschichte nicht macht. Bereits das Aufkommen dieser Frage bringt die Notwendigkeit zum Ausdruck, die kollektive Dynamik nicht bloß zu reflektieren, sondern sie zu beeinflussen, Geschichte zu »machen«. Angesichts dieser Gedanken überkommen Ulrich in der Straßenbahn plötzlich Schamgefühle: […] er schämte sich ein wenig vor diesen Menschen solcher Gedanken. […] Er betrachtete seine Nachbarin; sie war sicher Frau, Mutter, gegen vierzig Jahre alt, sehr wahrscheinlich die Gattin eines akademischen Beamten und hatte ein kleines Opernglas im Schoß liegen. Er kam sich mit seinen Gedanken neben ihr wie ein spielender Knabe vor; sogar wie ein nicht ganz anständig spielender Knabe. (MoE/B1/571) Der Kontrast zwischen der Situation der Straßenbahnfahrt und den Gedanken, die »nicht einen praktischen Zweck« haben, ruft beim Protagonisten ein spontanes Schamgefühl hervor. Dieses Gefühl wird an eine mütterliche Gestalt »gegen vierzig Jahre alt« gebunden, neben der sich Ulrich kindisch vorkommt.143 Florian Kappeler deutete diese Szene im Zeichen der Gender-Theorie als Symptom der Kritik an traditionellen historiografischen Deutungsmustern: Historiographen in der kapitalistischen Gesellschaft sind zumeist Angehörige der herrschenden bürgerlichen Klasse sowie hegemonialer Männlichkeiten und als solche allein im intellektuellen Bereich positioniert, während sie die materielle und generative Reproduktion ArbeiterInnen und Müttern überlassen. Entsprechend kommt sich Ulrich als Repräsentant der intellektuellen Sphäre gegenüber einer Frau in der Straßenbahn, die er für eine Mutter und somit Vertreterin der generativen Reproduktion hält, »mit seinen Gedanken (…) wie ein spielender Knabe vor« (…). Intellektuelle und sexuelle Aktivitäten werden also zwar (wie im Bienenstadtvergleich) männlich codiert, aber nicht im Sinne einer erwachsenen und sexuell reifen Männlichkeit.144

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Ulf Eisele hat auf einen Zusammenhang zwischen der Literaturproblematik und Mutterfiguren im Roman hingewiesen und sie als Quelle der Legitimation des literarischen Erzählens qualifiziert: »Das Urbild der erzählenden Mutter, das sich mit dem Wunschbild einer in jeder Beziehung liebevollen überlagert, wird zum Movens, die verlorene Einheit schreibend wiederherzustellen.« (Eisele, Ulf: »Ulrichs Mutter ist doch ein Tintenfass. Zur Literaturproblematik in Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹«, in: Heydebrand, Renate von (Hg.), Robert Musil, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 160-203, hier S. 185) 144 Kappeler: Situiertes Geschlecht, S. 356.

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Die letzte Feststellung gibt Kappeler die Gelegenheit, Musils Kritik an den herkömmlichen Mustern der Geschichtserzählung als Hinweis darauf zu deuten, dass die Letztere als jugendliche Selbstbefriedigung aufzufassen sei: Selbstbezügliche Männlichkeit erscheint als defizitär. (…) Dieser Gedanke verweist ihn auf den Status des männlichen Intellektuellen innerhalb der kapitalistischen Arbeitsteilung, die theoretische Tätigkeiten für Männer reserviert und die generative Reproduktionsarbeit Frauen überlässt – eine männlich codierte Struktur, welche die materiellen Komponenten von Geschichte wie etwas die generative Reproduktion aus dem historischen Prozess ausschließt oder Frauen zuweist.145 Trotz der Brisanz und der Diskussionswürdigkeit dieser Thesen muss ich Kappeler insoweit widersprechen, als die Präsentation des mütterlichen Elements in Musils Text kaum eine emphatische Einstellung zur generativen Arbeit im Gegensatz zum Kindeslaster der Intellektualität beinhaltet. Im Gegensatz dazu weist die Polarität zwischen der bürgerlichen Mutter, »wahrscheinlich die Gattin eines akademischen Beamten« mit einem Opernglas im Schoß und des mit wirklichkeitsfernen Ideen und Vorstellungen beschäftigten Ulrich auf ein repressives Potenzial, das in der Episode nicht nur von der Dame, sondern auch von den anderen anonymen Mitreisenden in der Straßenbahn ausgeht. Ulrich, der auf seiner Straßenbahnfahrt über die aktive Gestaltung der Geschichte nachdenkt, fasst die gemeinsame Reise in der Straßenbahn als Metapher der Zeitgenossenschaft auf. Ähnlich wie die Fahrt im »Zug der Zeit« (MoE/B1/47) wird die Fahrt in der Straßenbahn zum Modell der Sozietät, wobei das Schamgefühl des Protagonisten aus der Durchbrechung des Schemas resultiert, nach dem jeder Zeitgenosse einer standesgemäßen Beschäftigung nachgehen müsse. Scham dient dabei als Indikator der Verletzung gesellschaftlicher Konvention, gemäß welcher solche Überlegungen wie Ulrichs Gedanken über das Machen der Geschichte der Spezialisierung unterliegen und in den entsprechenden Berufsbereich verlagert werden, wie in der Erzählung unmittelbar darauf kommentiert wird: Früher hat man ja wohl von Gedankenflug gesprochen, und zur Zeit Schillers wäre ein Mann mit solchen hochgemuten Fragen im Busen sehr angesehen gewesen; heute dagegen hat man das Gefühl, daß mit so einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, wenn das nicht gerade zufällig sein Beruf ist und seine Einkommensquelle. Man hat die Sache offenbar anders verteilt. Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vorzuwerfen, daß er sich nicht persönlich um sie kümmern kann. (MoE/B1/571-572) Die Verlegung der »hochfliegenden Gedanken« in den Berufsbereich der Philosophie, Theologie und der Literatur bedeutet ihre Verbannung aus dem Alltagsleben, weshalb es auf Ulrich, der den gedanklichen Experimenten aus diesem Bereich nachgeht, obwohl er keinem dieser Berufsbilder angehört und dazu im Moment in einer Straßenbahn 145

Ebd.

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fährt, befremdlich wirkt. Zusätzlich zu den Schamgefühlen wird der Protagonist von sich selbst entfremdet, indem er sein Spiegelbild betrachtet: Er rückte sich zurecht und betrachtete sein Gesicht in der seinem Sitz gegenüber befindlichen Glasscheibe, um sich abzulenken. Aber da schwebte nun sein Kopf in dem flüssigen Glas nach einer Weile wunderbar eindringlich zwischen Innen und Außen und verlangte nach irgendeiner Ergänzung. (MoE/B1/572-573) Das Bild von Ulrichs Kopf zwischen Innen und Außen bietet eine im Kontext der vorliegenden Arbeit äußerst bedeutsame Platzierung des Protagonisten zwischen der Realität seiner Psyche und seiner Spiegelung in der kollektiven Zeit, die von Ulrich modellhaft im Bild der Straßenbahnfahrt als Zeitgenossenschaft imaginiert wird. »Zwischen Innen und Außen« oszilliert die historische Zeit als Zeit der unvollständigen Vermittlung zwischen beiden Polen der Erfahrung. In ihrem Spannungsfeld wird in symbolisch verschlüsselter Form die Aufgabe der Suche nach »irgendeiner Ergänzung« zu Ulrichs »Kopf« formuliert. Zusätzlich zur Reflexion (»Kopf«) ist also eine weitere Relation notwendig, die in der Erzählung gesucht wird. Die Präsenz der historischen Zeit ist an dieser Stelle im Roman sehr spürbar, zumal der Protagonist die fehlende Ergänzung in einer kritischen Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen politischen und kollektiv wirksamen Ereignissen sucht (»War eigentlich Balkankrieg oder nicht?…«) und daraufhin zu der vielbeachteten kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Geschichte übergeht (»Welch sonderbare Angelegenheit ist doch Geschichte…« MoE/B1/573). Peter Bürger hat diesen Übergang als einen »formale[n] Kunstgriff« charakterisiert, der »unscheinbar, aber außerordentlich produktiv« sei: Die Produktivität der Form besteht […] darin, daß eine begriffliche Unterscheidung (hier die zwischen »Geschichte« und erfahrender Geschichte) nicht als binäres Oppositionsschema eingeführt, sondern so zur Darstellung gebracht wird, daß die Begriffe zueinander in eine lebendige Beziehung treten.146 Dazu lässt sich anmerken, dass sich »die unmittelbare Erfahrung der Geschichte« in Musils Text als unmöglich herausstellt: Die Frage nach dem politischen Ereignis (Balkankrieg) kann nicht beantwortet werden (»Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg war, er wußte es nicht genau«, MoE/B1/573). Die politischen Ereignisse werden im »Mann ohne Eigenschaften« hinter die Grenzen der fiktiven Wirklichkeit gesetzt und gehören zu etwas, was im Erfahrungsbereich der Figuren nicht wahrgenommen werden kann. Besonders die Fortsetzung von Ulrichs Bahnfahrt sowie ihr prompter Abbruch zeigt, dass Ulrich sich gänzlich dem Thema verschreibt, das (und nicht etwa die »unmittelbare Erfahrung« politischer Ereignisse) in der fiktiven Realität des Romans relevant erscheint – die Kritik an der gesellschaftlichen Praxis, Ideen in den Bereich der Philosophie und Dichtung zu verbannen. Der gedankliche Spagat, den der Erzähler macht, führt von der Konstatierung der Unerreichbarkeit bzw. Irrelevanz politischer Ereignisse über die kritische Auseinandersetzung mit der Figur der »hilflosen Zeitgenossenschaft« (MoE/B1/574) zur symbolischen Verweigerung der letzteren: 146 Bürger, Peter: Prosa der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 427.

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Dieses Der Geschichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte. Die leuchtende, schaukelnde Schachtel, in der er fuhr, kam ihm wie eine Maschine vor, in der einige hundert Kilogramm Menschen hin und her geschüttelt wurden, um Zukunft aus ihnen zu machen. Vor hundert Jahren sind sie mit ähnlichen Gesichtern in einer Postkutsche gesessen, und in hundert Jahren wird weiß Gott was mit ihnen los sein, aber sie werden als neue Menschen in neuen Zukunftsapparaten genau so dasitzen, – fühlte er und empörte sich gegen dieses wehrlose Hinnehmen von Veränderungen und Zuständen, die hilflose Zeitgenossenschaft, das planlos ergebene, eigentlich menschenunwürdige Mitmachen der Jahrhunderte, so als ob er sich plötzlich gegen den Hut auflehnte, den er, sonderbar genug geformt, auf dem Kopf sitzen hatte. Unwillkürlich erhob er sich und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. (MoE/B1/574-575) Ulrichs Empörung, die in der zitierten Passage zweimal – am Anfang und am Ende – zum Ausdruck gebracht wird, richtet sich gegen »dieses wehrlose Hinnehmen von Veränderungen und Zuständen«, die sich ihm als »hilflose Zeitgenossenschaft« im Bild der Straßenbahnfahrt bietet. Zur Metapher der Weigerung gegen das »ergebene, menschenunwürdige Mitmachen der Jahrhunderte« wird die Auflehnung gegen den Hut auf dem eigenen Kopf; dabei empfindet Ulrich gerade seine Form (»sonderbar genug geformt«) als störend, was im Roman insoweit seine Folgerichtigkeit hat, als Mode zu Objektivierungsformen des kollektiven Wandels im »Mann ohne Eigenschaften« gehört. Das Aussteigen aus der Straßenbahn wird in der Erzählung zu einer symbolischen Handlung, die eine Grenze zwischen der passiven Reflexion und dem Anspruch auf aktive Beeinflussung zieht. Die Inszenierung solcher Wendungen im Sujet des Protagonisten, bei denen er abweicht, umkehrt, versäumt oder direkt aussteigt, erzeugt die Spannung zwischen dem beweglichen Hintergrund der kollektiven Zeit und der Instanz des Protagonisten. Aufgrund dieser Spannung unterscheidet sich die Erzählung des »Mann ohne Eigenschaften«, aber auch – wie ich unten zeige – des »Klim Samgin« von den traditionellen historischen Romanen mit ihrer vorwiegend epischen Erzählweise, bei der die Figuren in das kollektive Geschehen eingebettet werden und Konflikte vor allem unter sich austragen. In Musils und Gorʹkijs Romanen werden die Protagonisten stark reflexiv an den Hintergrund der kollektiven Zeit gebunden, geraten jedoch in einen Widerspruch zu ihr und folglich zu sich selbst. Ihre Biografie und Charaktereigenschaften werden von ihnen entfremdet und gelten als ein Produkt der kollektiven Imaginationspraxis, das Verhältnis zu sich selbst wird zu einem Konflikt zwischen der eigenen Fähigkeit, das Spiel der kollektiven Kräfte zu durchblicken, und dem Anspruch auf den Einfluss, der gleichzeitig als Anspruch auf die Steuerung der kollektiven Moral gedacht wird. Aus der Straßenbahn auszusteigen bedeutet insoweit ein Handeln gegen eigene Interessen, als man den Rest des Wegen zu Fuß zurücklegen muss; gleichzeitig ergibt sich daraus die Möglichkeit, einige Gedanken zu Ende zu denken und sich, sobald man zu Hause angekommen ist, umzudrehen und wieder zum Anfang dieser Gedanken – zu einem Gespräch mit Clarisse – zurückzugehen, sie in ihrem Haus aufzusuchen und zu erklären, wie man »Geschichte« machen könnte. Diese Drehungen und Wendungen im Raum markieren die Windungen eines Gehirns, das sich in einem Wettlauf mit der kollektiven Zeit befindet. Das Programm, das es entwickelt, wird in zwei Anläufen

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präsentiert und erlaubt es dem Protagonisten, sich aus seiner Abhängigkeit von der kollektiven Zeit loszulösen. Sehen wir es uns im Detail an. Ideengeschichte und Generalsekretariat: Ansätze zur Bewältigung der kollektiven Zeit Bereits in der Utopie der Exaktheit und der Utopie des Essayismus trägt Ulrichs Reflexionspraxis, die ihn in eine Beziehung zur kollektiven Zeit bringt, Züge eines literarischen Programms. Die Utopie der Exaktheit mit ihrem Anspruch auf die Reformierung gesellschaftlicher Moral lässt sich als erzählerisches Vorgehen begreifen, das auf die exakte Aufzeichnung psychischer Prozesse nach dem Muster von Musils »Vereinigungen« abzielt. Noch deutlicher tritt die literarische Dimension in der Utopie des Essayismus zum Vorschein, die als geeignete Reflexionsstrategie des kollektiven Wandels präsentiert wird. Auch Ulrichs nächste Utopie, Ideengeschichte zu leben, lässt sich als eine Strategie literarischer Provenienz begreifen. Ulrich übersetzt Clarissens Aufforderung, »Geschichte zu machen«, in die Formel »man müßte sie erfinden« (MoE/B1/577). Erfinden bezieht sich auf das literarische Fingieren und wird in der abstrakten historischen Zeit des Romans, der Zeit von Ideen, sozialen Zwangsvorstellungen und kollektiven Träumen, als ein adäquater Wirkungsmechanismus vorgestellt. Demnach besitzt ein denkender Mensch in seiner Vorstellungskraft eine Ressource dafür, »das Menschenleben nicht einfach gehen [zu] lassen, wie es geht« (MoE/B1/577). »Ideengeschichte« statt der »Weltgeschichte« zu leben, bedeutet zunächst, dass anstatt bestimmter Handlungen eine Veränderung von Bedeutungen angestrebt wird: Der Unterschied, schickte er voraus, würde zunächst weniger in dem liegen, was geschähe, als in der Bedeutung, die man ihm gäbe, in der Absicht, die man mit ihm verbände, in dem System, das das einzelne Geschehnis umfinge. (MoE/B1/580) Die paradigmatische Transformation soll sich laut Ulrich zunächst durch die Veränderung von Bedeutungen im System abspielen: »das System, das das einzelne Geschehen umfinge« würde sich vom System der Wirklichkeit insoweit unterscheiden, als es dem unendlichen Kopieren und Nachahmen ein Ende bereiten soll. An dieser Stelle vergleicht der Protagonist die Tätigkeit der »politischen Gestalter der Wirklichkeit« mit »den Schreibern von Kassenstücken« (MoE/B1/581). Der Routine und Langweile des schlechten Theaterstücks soll ein Programm entgegengestellt werden, welches Ideen zu ihrer Realisierung verhelfen soll. Ideengeschichte zu leben geht mit dem Verzicht auf das persönliche Erleben einher. In den Begriffen des »Mann ohne Eigenschaften« hat es insoweit eine logische Konsequenz, als die Erlebnisstruktur des Individuums im Roman der kollektiven Zeit eingeschrieben wird. An der betreffenden Stelle wird mit aller Ausdrücklichkeit betont: Man müßte die [Erlebnisse] weniger wie persönlich und wirklich und mehr wie allgemein und gedacht oder persönlich so frei ansehn, als ob sie gemalt oder gesungen wären. Man dürfte ihnen nicht die Wendung zu sich geben, sondern müßte sie nach oben und außen wenden. (MoE/B1/581) Demnach wird die Zuschreibung der Ereignisse zu einer Instanz der Handlung (»persönlich nehmen«) aufgehoben und durch ihre Wendung »nach oben und außen« im Geiste der allgemeinen Gültigkeit ersetzt. Die Durchdringung des Lebens durch Ide-

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en bedeutet also die Entpersonalisierung, die jede denkbare Unterordnung unter die kollektiv verbindlichen Werte übersteigt. Doch wäre es m.E. kaum angebracht, von der Umkehrung des Verhältnisses »Individuum-Kollektiv« bei Musil darauf zu schließen, dass »das Kollektive«, wie Stephan Reinhardt monierte, im Roman »das Primäre« wird.147 Wenn im »Mann ohne Eigenschaften« »die Formen des Denkens und des Erlebens (…) nicht aus dem Inneren eines Menschen hervorgebracht«, sondern »durch gesellschaftliche Prägung« gebildet werden,148 so unterläuft Ulrich Vorschlag das Paradigma der einseitigen Beeinflussung des Individuums durch gesellschaftliche Normen und etabliert zwischen der Zeit des Individuums und des Soziums einen Handlungsraum, von dem aus Individuen Einfluss auf das kollektive Geschehen ausüben können. Der Zugriff auf den Bestand der kollektiven Zeit ist im Akt des Erfindens begründet, für das die Literatur ein programmatisches Beispiel bildet. Wenn der Mensch unpersönlich lebt, so muss er wie eine Figur auf der Buchseite leben. Das Dasein bestünde dann ganz aus Literatur, die als Daseinsform der Geschichte gegenübergestellt wird. Sie ordnere das Einzelleben nicht passiv unter die kollektiven Begebenheiten unter, sondern entdecke laut Ulrich im Leben des Einzelnen das transformative Potenzial für die Gesellschaft: Jedes große Buch atmet diesen Geist aus, der die Schicksale einzelner Personen liebt, weil sie sich mit den Formen nicht vertragen, die ihnen die Gesamtheit aufnötigen will. Es führt zu Entscheidungen, die sich nicht entscheiden lassen; man kann nur ihr Leben wiedergeben. (MoE/B1/585) Erzählen bedeutet also »Schicksale einzelner Personen« zu lieben, die sich dem Zwang der fertigen Lebensformen nicht unterordnen lassen. Die Diskrepanz zwischen dem »Schicksal einzelner Personen« und den »Formen, die ihnen die Gesamtheit aufnötigen will«, lässt sich vor dem Hintergrund von Bachtins Romantheorie als die Möglichkeit begreifen, die Dynamik der historischen Zeit im Narrativ zu steigern. Im »Mann ohne Eigenschaften« führt diese Diskrepanz dazu, dass die Entscheidungen der Figuren nicht erklärt, sondern lediglich erzählt werden können. Zur Metapher der Handlung, die an keine Plausibilisierungsstrategien nach dem Muster des Essayistischen gebunden ist und trotzdem als kollektiv signifikant gedacht wird, wird das theatralische Geschehen: Das Theater beweist, daß heftige persönliche Erlebniszustände einem unpersönlichen Zweck, einem Bedeutungs- und Bildzusammenhang dienen können, der sie halb und halb von der Person lostrennt. (MoE/B1/584) Die Trennung des persönlichen Erlebens von der Person und seine Aufnahme in einen unpersönlichen Zusammenhang soll das Fingierte mit Möglichkeiten ausstatten, in den Verlauf der kollektiven Zeit einzugreifen. Die theoretische Untermauerung dieses Programms in Musils poetologischen Schriften hat Benjamin Gittel untersucht und auf Musils programmatische »Vorstellung einer idealiter erlebnisreevozierenden Wirkung der Literatur« hingewiesen, »dass Literatur die verstandesmäßige Verarbeitung 147 Reinhardt: Studien zur Antinomie, S. 5. 148 Jappe: Selbstkonstitution, S. 91.

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von Gefühlen verändert und auch zur Evokation von neuen Erlebnissen führen kann«.149 Diese neuen Erlebnisse bauen zwar auf den alten Gefühlsmustern der »persönlichen Erlebniszustände«, doch werden diese Muster in den Dienst eines »unpersönlichen Zweck[s]« gestellt und entwickeln sich in der Spanne, wo sie »halb und halb von der Person los[ge]trennt« werden, zu einer Erlebnisform im Horizont zwischen der subjektiven Wahrnehmung und kollektiv signifikanter Bedeutung, in dem Zwischenraum, der in dieser Untersuchung mit dem Begriff »historische Zeit« bezeichnet wird. Wenn Ulrich also eine Akzentverschiebung von der Zuweisung der Geschehnisse zu bestimmten Instanzen (»wem, wo und wann es geschehe«) hin zum Wesen der Geschehnisse (»was geschehe«), von der Fabel zu dem »Geist der Geschehnisse« und der »Erschließung neuen Lebensgehalts« anstrebt, so verortet er das existentielle Dasein in der vermittelnden Struktur der historischen Zeit. Dieser Vorgang soll Prozesse in Gang bringen, deren Ergebnis nicht prognostizierbar erscheint: Und wenn das persönlich gälte, so müßte außerdem kollektiv etwas geschehen, was Ulrich nicht recht beschreiben konnte und eine Art Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen Saftes nannte, ohne das sich der Einzelne natürlich nur ohnmächtig und seinem Gutdünken überlassen fühlen könne. (MoE/B1/581-582) In der Darstellung Ulrichs bewegen sich beide Bereiche aufeinander zu: die Veränderung des Persönlichen korreliert mit einer gewandelten Sozietät, ohne die »sich der Einzelne nur ohnmächtig« vorkommen würde. Auf der gemeinsamen Basis der Ideenpraxis wird die historische Zeit zu einem kreativen Akt zwischen der subjektiven Zeitwahrnehmung und der kollektiven Zeit, bei dem sich beide miteinander verschränken und sich gegenseitig beeinflussen. Inka Mülder-Bach hat auf die Übereinstimmung zwischen dem Vorhaben der Parallelaktion und Ulrichs Programm hingewiesen: »Die Forderung nach »Ideengeschichte« und einer »im Großen experimentierenden und dichtenden Gesinnung«, zu der Ulrich auf dem Weg eines Umkehrschlusses gelangt, ist zunächst natürlich ein fast wörtliches Zitat des Projekts der Parallelaktion.«150 Doch wird die Parallelaktion ihr Ziel verfehlen, indem sie eklektisch das Erzählmuster eines großen Ereignisses nachahmt. Die »Ideengeschichte« an die Stelle der »Weltgeschichte« zu setzen, eröffnet die Möglichkeit eines experimentellen Zugriffs auf die kollektive Dynamik und macht die historische Zeit des Romans zu einem Erfahrungsraum des Subjekts, an den er nicht nur reflexiv, sondern aktiv in seinem Handeln gebunden ist. Dieses im tiefsten Sinne literarische Programm wird im Roman hartnäckig auf die Lebenspraxis bezogen, indem die Dimension der künstlerischen Vermittlung explizit ausgeschaltet wird. Dies wird

149 Gittel, Benjamin: Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation. Robert Musil im Kontext der Lebensphilosophie, Münster: mentis 2013, S. 163. Vgl. auch: »Die dabei ausschlaggebende, von Musil mit großer Kontinuität vertretene Hintergrundprämisse besagt, dass es eine Palette ›präexistenter Gefühlsweisen‹ bzw. Basisemotionen wie Liebe, Hass, Furcht etc. gibt, die erst durch ihre intellektuelle Verarbeitung, d.h. durch ihre Einordnung in ein Netz anderer Gefühle und der wiederum mit diesen verknüpften Gedanken, feiner individuiert werden können.« (Ebd., S. 163, H.i.O.) 150 Mülder-Bach: Robert Musil, S. 256.

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von Ulrichs Gesprächspartner Walter kommentiert: Er verweist darauf, dass ein »Leben, das keinen anderen Zweck hätte, als das Erzeugen geistiger Kraft und Macht« auf »nichts anderes als das Ende der Kunst« hinauslaufen würde (MoE/B1/584-585). Daraufhin gibt Ulrich bereitwillig zu, dass »jedes vollkommene Leben das Ende der Kunst wäre« (MoE/B1/585). Obwohl dieser Satz an so manches Programm der Durchgestaltung des Lebens durch die Kunst erinnert, wird im Romantext unmissverständlich auf die Fehlerhaftigkeit einer solchen Lektüre hingewiesen: Walter glaubt in Ulrichs Ansatz den »Rest eines veralteten Wunsches, den ›Bürger‹ zu ärgern« (MoE/B1/586), zu erkennen. Ulrichs Programm zielt jedoch kaum auf eine Provokation des Spießbürgers, sondern vielmehr darauf, durch die Reformierung des individuellen Erlebens die Ebene der kollektiven Denkpraxis zu erreichen und zu beeinflussen. Das Bewusstsein dafür, dass die Durchsetzung des Gestaltungswillens im Bereich des Kollektiven kein harmloses und selbstgenügsames Spiel, sondern ein Akt der Gewalt ist, wird in Ulrichs Definition der Schönheit festgehalten: Wenn man das, wie es üblich ist, Schönheit nennt, so sollte Schönheit ein unsagbar rücksichtsloser und grausamerer Umsturz sein, als es je eine politische Revolution gewesen ist! (MoE/B1/586) Der zentrale Ansatz von Ulrichs Programm läuft auf den »unsagbar rücksichtslose[n] und grausame[n] Umsturz« hinaus, der die Brutalitäten einer politischen Wende übersteigen soll. Die Gewaltphantasien bieten die Kehrseite von Ulrichs Reformanspruch: Der Eingriff in die kollektive Ideenpraxis ist gleichzeitig ein Übergriff, ein Mittel der Bewältigung, einer Eroberung und einer Unterwerfung. Reziprok wird das persönliche Erleben des Einzelnen, wenn »er nicht gerade der Dichter seines Lebens ist«, zum Spielfeld kollektiver Phänomene: […] er wäre einfach für einen großen Teil des Lebens seinen Trieben, Launen, den gewöhnlichen Allerweltsleidenschaften, mit einem Wort, dem Allerunpersönlichsten ausgeliefert, woraus ein Mensch nur besteht, und müßte sozusagen, solange die Obstruktion der oberen Leitung andauert, standhaft mit sich machen lassen, was ihm gerade einfällt!? (MoE/B1/587) Gerade das individuelle Leben stellt in Ulrichs Begriffen die Domäne der unpersönlichen Kräfte dar. Der Augenblick des Seins, in dem Ideen entstehen, wird, »solange die Obstruktion der oberen Leitung andauert«, von der vergleichsweise länger dauernden (»den großen Teil des Lebens«) Dimension des »Allerunpersönlichsten« abgelöst. Es entsteht eine äußerst dynamische Beziehung zwischen den Polen der individuellen und der kollektiven Zeit, die sich mit einer hohen zeitlichen Intensität um eine Achse drehen und ineinander kehren. Das Private wird also als das Unpersönliche, das Abstrakte hingegen als das Individuelle und Existentielle aufgefasst; diese Bedeutungsverschiebung lässt sich am situativen Rahmen der Episode gut veranschaulichen, in dem sich parallel zu dem Gespräch, das »irgendwo über dem blauen Raum im Netz der Sterne« hängt (MoE/B1/580), eine Eifersuchtsszene abspielt. Nachdem Clarisse Ulrichs Weigerung, etwas zu tun, solange »die Obstruktion der oberen Leitung andauert« (MoE/B1/587), unter dem Stichwort »aktiver Passivismus« zusammenfasst, schließt Walter darauf, dass die Weigerung sei-

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ner Ehefrau, den ehelichen Pflichten nachzugehen, von Ulrich beeinflusst wird. Diese Rückprojektion auf das private Motiv der Eifersucht veranschaulicht das Ausgeliefertsein des Menschen an die »unpersönlichen« »Allerweltsleidenschaften«, sobald er die Ebene der schöpferischen Ideenpraxis verlässt. Die Polarität zwischen dem Moment des individuellen Seins, das in der produktiven Gedankenentfaltung höchste zeitliche Intensität erreicht, und dem dauerhaften Rückfall in den präreflexiven Zustand des Privaten und Allerweltlichen, in dem der Mensch dem Lauf der kollektiven Zeit ausgeliefert wird, stellt eine konstante Grundlage der fiktiven Welt des Romans dar und wird von Ulrich folgerichtig als ein Normalzustand bezeichnet (»er ist ganz und gar der bestehende Zustand, in dem wir leben«, MoE/B1/588-589). Es ist auffällig, dass auch der nächste Reformansatz, den Ulrich im Horizont der historischen Zeit entwickelt, von dem Motiv der Eifersucht begleitet wird, das an eine Nebenfigur delegiert wird. Die Eifersucht steht sowohl im oben zitierten Fall Walters, als auch bei dem Erscheinen Bonadeas in Diotimas Wohnung für ein Handlungsmotiv, das sein Ziel verfehlt und den Sinn des Geschehens entstellt. Als Ulrich während einer Zusammenkunft bei Diotima (Kapitel 115-116) von Bonadea aufgesucht wird, die ihn – von Eifersucht geplagt – unter einem fiktiven Vorwand, dass etwas für den Prostituiertenmörder Moosbrugger gemacht werden soll, zur Rede stellen will, nimmt Ulrich seine Gedanken an der Stelle auf, wo sie durch Walters Eifersucht unterbrochen wurden, und denkt über das Verhältnis zwischen der individuellen Gedankenproduktion und der kollektiven Denkpraxis nach. Diese werden von Ulrich weiter miteinander verzahnt, indem er das poetische Gleichnis, das literarische Stilmittel schlechthin als ursprüngliche Form des Erlebens betrachtet, das in der kollektiven Ideenpraxis durchtrennt und zerlegt wird. Der komplexe Gedankengang Ulrichs wird in der Romanerzählung als schrittweise Entfaltung einer Intuition inszeniert, die Ulrich am Fenster in Diotimas Wohnung überkommt, wo er zusammen mit Bonadea steht. Dabei befindet er sich in der im Roman so typischen Position des Beobachters, steht hier jedoch zum ersten Mal nicht allein, sondern in der Begleitung einer anderen Figur (im weiteren Verlauf der Romanerzählung werden andere Figuren wie der Graf Leinsdorf, Arnheim, Walter und Clarisse an Bonadeas Stelle treten). Die Entourage einer Eifersuchtsszene destabilisiert das Straßenbild; Ulrich reflektiert die Möglichkeit, sich als Figur einer anderen Erzählung, geleitet von persönlichen und privaten Motiven (Liebesaffäre, Eifersucht) zu imaginieren. Indem sich der Protagonist im Zeichen des »Als-ob« verdoppelt, wird im Roman auf der narrativen Ebene die Struktur eines poetischen Gleichnisses eingeführt, bei dem zwei unterschiedliche Gegenstände aufgrund ihrer semantischen Nähe textuell in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. So wie Ulrich in der Szene gleichzeitig zwei verschiedene Rollen besetzen könnte, ruft die Stadt hinter dem Fenster den nicht eindeutigen Eindruck eines spätwinterlichen Abends oder einer Oktobernacht hervor. Die neblige Nacht kann mit einer Wolldecke oder umgekehrt die Wolldecke metaphorisch mit einer Oktobernacht verglichen werden. Diese Manipulationen mit einem Gleichnis destabilisieren Ulrichs Wahrnehmung, und er fühlt »eine sanfte Unsicherheit an der Haut« (MoE/B1/929). Seine Unsicherheit deutet als emotionaler Indikator – ähnlich wie die Scham und die Empörung in der oben kommentierten Szene der Straßenbahnfahrt – auf einen Übergang zwischen der

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Reflexion und dem Versuch, die kollektive Zeit erzählerisch zu bewältigen. So wird das Gleichnis von Ulrich im nächsten Schritt als ein universelles Verbindungsmittel aufgefasst, mithilfe dessen sich der Mensch nicht nur mit der Realität, sondern auch mit anderen Menschen in Verbindung setzt: »[…] es ist doch wirklich so, daß ein Mensch, auch nüchtern betrachtet, für den anderen nicht viel mehr bedeutet als eine Reihe Gleichnisse« (MoE/B1/930). Das Gleichnis wird somit zum Interaktionsmechanismus erklärt, aufgrund dessen sich Menschen gegenseitig begreifen. Darüber hinaus erfolgt im nächsten Schritt die Erhebung des Gleichnisses in den Rang eines universalen psychischen Mechanismus, als Ulrich sich an einen Traum erinnert und in ihm die gleiche Struktur zu erkennen glaubt: Er erinnerte sich mit einemmal an einen Traum, den er in der letzten Zeit gehabt haben mußte.[…] Er hatte mehrmals vergeblich versucht, einen steilen Berghang zu überqueren, und war jedesmal von heftigen Schwindelgefühlen zurückgetrieben worden. […] Es bedeutete auch, wie ein Traumbild oft mehrfachen Sinn hat, in körperlicher Weise die vergeblichen Versuche seines Geistes, die sich in letzter Zeit immer wieder in seinen Gesprächen und Beziehungen geäußert hatten und ganz einem Gehn ohne Weg glichen, das über irgendeinen Punkt nicht hinauskommt. Er mußte über die ungekünstelte Handfestigkeit lächeln, mit der sein Traum das dargestellt hatte: glatter Stein und abrutschende Erde, da und dort ein einzelner Baum als Halt oder Ziel und dazu das ungestüme Wachsen des Höhenunterschieds im Gehen. Er hatte es mit dem gleichen Mißerfolg höher und tiefer versucht, und es wurde ihm schon übel von Schwindel, als er jemand, der mit ihm ging, erklärte, wir lassen es sein, ganz unten in der Talsohle führt ohnehin der bequeme allgemeine Weg! Das war deutlich! (MoE/B1/930-931) Der »mehrfache Sinn« des Traums, der »die vergeblichen Versuche seines Geistes« mit einer »ungekünstelte[n] Handfestigkeit« zum Ausdruck bringt, stellt ein Gleichnis dar, in dem die abstrakten Mühen körperlich-konkret durch das Gefühl des Abrutschens am »glatten Stein« und »abrutschender Erde« und des Schwindels beim Besteigen eines Berges veranschaulicht werden. Dieser Einblick in die Funktionsweise seiner eigenen Psyche führt im nächsten Schritt zum Eintreten einer »Helle des Bewusstseins« (MoE/B1/931), in der Ulrich die Analogie oder das Gleichnis als ursprüngliche Erlebnisform begreift, aus deren Zerlegung in der menschlichen Praxis unterschiedliche geistige Tätigkeiten entstehen: Nach Art jener Bakterienstämme, die etwas Organisches in zwei Teile spalten, zerlebt der Menschenstamm den ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre von Ahnung, Glaube und Künstlichkeit. Es scheint, daß es dazwischen keine dritte Möglichkeit gibt; aber wie oft endet etwas Ungewisses erwünscht, wenn man ohne viel Überlegen damit beginnt! Ulrich hatte das Gefühl, in dem Gassengewirr, durch das ihn seine Gedanken und Stimmungen so oft geführt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz zu stehen, von dem alles ausläuft. (MoE/B1/932) Die Analogie zwischen der menschlichen Gesellschaft und den Bakterienstämmen stellt die Dimension der symbolischen Praxis anschaulich dar, in der die »glasige Atmosphäre von Ahnung, Glaube und Künstlichkeit« von der »feste[n] Materie der Wirklichkeit«

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abgespalten wird. Diese Erkenntnis wird zum Gipfelerlebnis des Protagonisten inszeniert und fügt sich bruchlos an die Erzählung von seinem Traum. Kam Ulrich in seinem Traum über einen Punkt nicht hinaus, hat er jetzt das Gefühl, seinen Weg »in dem Gassengewirr« gefunden zu haben und »auf dem Hauptplatz zu stehen, von dem alles ausläuft«. Dabei erscheint eine Alternative – eine »dritte Möglichkeit« – zu den beiden Polen der »feste[n] Materie« und der »glasige[n] Atmosphäre« zunächst logisch undenkbar, doch wird im Text mit Emphase darauf hingewiesen, dass man »ohne viel Überlegen« eventuell zu ihr vorstoßen könnte. Das Erwägen dieser neuen Möglichkeit führt über die Auseinandersetzung mit den Idealen zur Thematisierung des Potenzials der »feste[n] Materie«, die mit der Gewaltausübung assoziiert wird. Bereits in Ulrichs Programm der Ideengeschichte wird ein poetischer Eingriff in die kollektive Ideenpraxis als »gewaltsamer Umsturz« gedacht. In Ulrichs Reflexionen über die Natur des Gleichnisses als einen Mechanismus der kollektiven symbolischen Praxis wird Gewalt als ihr Bestandteil aufgefasst, der bloß in seiner abgespalteten, isolierten Form eine Gefahr darstellt. So erinnert sich Ulrich an einen Besuch der Rennbahn in Begleitung Tuzzis, bei dem die Zuschauermasse, die sich nach einem »Zwischenfall mit großen verdächtigen Verlusten« in einen See verwandelte, »in den Platz flutete und nicht nur alles, was in ihrem Bereich war, zerstörte, sondern auch die Kassen plünderte« (MoE/B1/496). In dieser Vision der plündernden Menschenmenge findet eine Psychologisierung der Masse statt, wie sie in Gorʹkijs Roman noch verbreiteter ist und sowohl in Samgins Beobachtung der Straßenkämpfe, als auch in seinen Alpträumen von der Überflutung der Stadt und des Landes mit den Aufständischen stattfindet.151 Interessant ist, dass sowohl Musil, als auch Gorʹkij dabei auch den Mechanismus der Rückverwandlung betrachten, bei dem sich die Masse »unter dem Einfluß der Polizei wieder zu einer Versammlung von Menschen« zurückbildet, »die einem harmlosen und gewohnten Vergnügen beiwohnen wollen« (MoE/B1/496). Die Auffassung, dass die Gesellschaft eine Art kollektive Seele darstellt, die von einem Affekt plötzlich ergriffen und verändert werden kann, führt zu einer Korrektur an Ulrichs Theorie des Gleichnisses, bei der die Gewalt als »feste Materie der Wirklichkeit« zum integralen Bestandteil der kollektiven Ideenpraxis erklärt wird: Wie könnte man übersehen, daß die Menschenwelt nichts Schwebendes ist, sondern nach gedrungenster Festigkeit verlangt, weil sie bei jeder Unregelmäßigkeit fürchten muß, gleich ganz aus den Fugen zu gehn! Ja noch mehr, wie könnte ein guter Beobachter nicht anerkennen, daß dieses Lebensgemisch von Sorgen, Trieben und Ideen, das die Ideen höchstens zu seiner Rechtfertigung mißbraucht oder als Reizmittel benützt, gerade so wie es ist, formend und bindend auf sie wirkt, die ihre natürliche Bewegung und Begrenzung davon erhalten! (MoE/B1/947)

151

Die Metaphorisierung der Menschenmasse als Strom oder als Flut stellt laut Fanta eine frequentierte Denkfigur zeitgenössischer Literatur dar: »Brände und Flutwellen sind die kollektiven Ausdrucksformen der berechtigten gesellschaftlichen Ängste der bürgerlichen Intelligenz in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.« (Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 332). Vgl. Gorʹkijs Beschreibung der Bauernaufständ als »Ströme schwarzer Lava« (KS/B3/32), die sich über das Land ergießen.

4. Narration

Die »formend[e] und bindend[e]« Wirkung der »Sorgen« und »Triebe« im »Lebensgemisch«, wo sie durch Ideen durchsetzt werden, besteht in der Begrenzung der Beweglichkeit von Ideen. Dieser Bremsmechanismus wird von Ulrich, der unlängst für eine totale Durchdringung des Lebens durch Ideen und Ideengeschichte plädierte, als ein notwendiges Korrektiv wahrgenommen (»wie konnte ein guter Beobachter nicht anerkennen«) und widerstandlos akzeptiert (»Ulrich fühlte ein unbeschädigtes Verständnis dafür in sich«). Die neuen Erkenntnisse werden im nächsten Schritt auf die im »Mann ohne Eigenschaften« übliche Weise auf die Biografie des Protagonisten projiziert, welche in ihren Extremen den Prozess der symbolischen Abspaltung der Ideale von der »feste[n] Wirklichkeit« veranschaulichen soll. Dies wird bildlich durch zwei »Bäume« – der Gewalt und der Liebe – beschrieben, in denen »getrennt sein Leben [wuchs]« (MoE/B1/948). So stehen Ulrichs Veranlagung zur Wissenschaft sowie seine utopischen Entwürfe im Zeichen einer Neigung zur gewalttätigen Einwirkung auf die Wirklichkeit, »einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaft« (MoE/B1/949). Dabei existiert der andere Teil seines Wesens, das sich im »Vertrauen, [der] Hingabe« des Kindesalters sowie in der Jugendliebe äußerte, versteckt als eine »untätige Hälfte seines Wesens« (MoE/B1/949) und gelangt kaum zum Ausdruck. Diese »Umformatierung« von Ulrichs Biografie stellt einen typischen Erzählgriff dar, der den Lebensentwurf des Protagonisten in der abstrakten historischen Zeit verankert und ihn dadurch mit Möglichkeiten ausstattet, in sie einzugreifen. Die Erkenntnis, dass sein Leben zweigeteilt ist, bringt Ulrich auf den Gedanken, dass die Schöpfung, die »nicht einer Theorie zuliebe«, sondern »aus Gewalt und Liebe« entstanden ist, einer Korrektur bedarf, da die »übliche Verbindung zwischen den beiden falsch [ist]« (MoE/B1/947). Nachdem die Möglichkeit einer solchen Korrektur in den Dimensionen von Ulrichs Biografie als gegeben gilt, wird der gesamte Entwurf auf die Belange der menschlichen Geschichte übertragen: Nun erkannte Ulrich, […] daß alles das beiweitem mehr bedeute als nur eine zufällige Eingebung in einem der wie ziellose Wege verschlungenen Gespräche, die er in der letzten Zeit mit den unpassendsten Personen geführt hatte. Denn so weit die menschliche Geschichte zurückreicht, lassen sich diese beiden Grundverhaltensweisen des Gleichnisses und der Eindeutigkeit unterscheiden. (MoE/B1/950) Am Ende der zitierten Passage kommt der Aufbau eines Analogieverhältnisses zwischen Ulrich und der kollektiven Zeit, das seit seiner Konfrontation mit der eifersüchtigen Liebesgefährtin schrittweise vorangetrieben wurde, zu seinem Abschluss: Die Fabel des ersten Buchs rund um den Protagonisten Ulrich mit ihren »wie ziellose Wege verschlungenen Gespräche[n]« »mit den unpassendsten Personen« wird auf die Ebene der kulturellen Universalien umgesiedelt. Von hier aus wird ein Abgesang auf die Parallelaktion angestimmt, die als äußerste Ausprägung der »höheren Humanität« betrachtet wird: Ohne Zweifel ist das, was man die höhere Humanität nennt, nichts als ein Versuch, diese beiden großen Lebenshälften des Gleichnisses und der Wahrheit miteinander zu verschmelzen, indem man sie zuvor vorsichtig trennt. Hat man aber an einem Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von dem getrennt, was nur Schaum ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit gewonnen und den ganzen Wert des Gleichnisses

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Historische Zeit im Narrativ

zerstört; diese Trennung mag darum in der geistigen Entwicklung unvermeidlich gewesen sein, doch hatte sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste Kräfte und Geister sich während dieses Vorgangs als Dampfwolke davonmachen. (MoE/B1/951) Die Entwicklung, die in der zitierten Passage geschildert wird, lässt sich als Schema der Entwicklungen in der Parallelaktion lesen, die ihren Ursprung im »Gleichnis vom alten Kaiser« hat. In der Praxis der Salongespräche erfolgt die Zerlegung dieses Gleichnisses, bei der sich die eigentlich antreibende Kraft in Form von Idealen verflüchtigt. Der Protagonist, der über dem kochenden Topf der menschlichen Kultur steht und den »unerträglich fette[n] Küchendampf von Humanität« (MoE/B1/951) einatmet, wird zum Beobachter des »Einkochen[s] und Eindicken[s] eines Stoffes« und der Isolierung der Gewalt im Verhalten von Gruppen, die festen Halt geben und jede auch noch so unmoralische Handlung erlauben. Auch der andere Pol dieser Entwicklung, der »überladene geistige Schmuck«, bietet als Produkt der Isolierung des Idealen ein Symptom des »Mißtrauen[s] gegen den Geist«: Die Kuppelung von Weltanschauung mit Tätigkeiten, die nur wenig von ihr vertragen, wie die Politik; die allgemeine Sucht, aus jedem Gesichtspunkt gleich einen Standpunkt zu machen und jeden Standpunkt für einen Gesichtspunkt zu halten; das Bedürfnis von Eiferern jeder Abschattung, die eine Erkenntnis, die ihnen zuteil geworden ist, rundum wie in einem Spiegelkabinett zu wiederholen: alle diese so landläufigen Erscheinungen bedeuten nicht, was sie sein möchten, ein Streben nach Humanität, sondern deren Ausfall. (MoE/B1/952) Diese Passage unter dem Stichwort »der Ausfall der Humanität« verdeutlicht eindrücklich, wogegen die Kritik in Musils Roman gerichtet wird: Es ist nicht das Gewaltpotenzial einer Gesellschaft, das an sich zu Ausbrüchen in Form der Kriege führt, sondern die Dynamik des geistigen Lebens, welche die Weltanschauung an Bereiche koppelt, in die sie nicht hingehört, und eine Welle der sich wiederholenden Bekenntnisse und Standpunkte verursacht, die das Leben überfluten. Ein solcher »Ausfall der Humanität« begünstigt die Entstehung politischer Krisen in Form von Kriegen insoweit, als mit ihnen – wie oben angesichts General Stumms Erfahrungen mit dem »Zivilgeist« angesprochen wurde – der Wunsch nach Komplexitätsreduktion einhergeht. Die Aufgabe des Protagonisten besteht darin, die »falsch sitzende Seele« (MoE/B1/952) aus den Bereichen zu entfernen, wo sie nicht hineingehört. Ulrich steht diese Aufgabe in einem besonderen Maße zu, bietet sein Leben doch ein Beispiel für die saubere Trennung beider Bereiche. Der Protagonist, dessen Lebensweg diese Aufgabe eingeschrieben wird, trägt sie an die Schlüsselpersonen der Parallelaktion in Form der Aufforderung heran, ein Generalsekretariat für Genauigkeit und Seele zu gründen. Der Sekretär soll ein Sekretariat erhalten, dessen Tätigkeit sich auf die Sichtung des menschlichen Geistes bezieht: Da unternahm Ulrich einen unsinnigen Versuch. »Erlaucht,« sagte er »es gibt nur eine einzige Aufgabe für die Parallelaktion: den Anfang einer geistigen Generalinventur zu bilden! Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen

4. Narration

sollte. Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben!« (MoE/B1/956) Ulrichs »unsinniger Versuch« ist insoweit provokant, als er im Kontext der Parallelaktion keine Lösung in Form einer leitenden Idee oder eines Symbols darstellt, sondern einen weiteren Vorgang der Generalinventur anbietet, welche die Existenzform der Ideen in Frage stellt und den »alten Geist« mit seinen symbolischen Mechanismen unterläuft. Die Diskussion, die nach Ulrichs Vorschlag entsteht und in welcher Graf Leinsdorf Ulrichs Vorschlag gegenüber Arnheim verteidigt, endet in der Auflösung der Gesprächsrunde, womit sich die Angelegenheit für die Beteiligten erschöpft. Obwohl Ulrichs Vorschlag in der Parallelaktion nicht umgesetzt wird, erfährt er in ihrem Kontext eine in den Begriffen des »Mann ohne Eigenschaften« planmäßige Evolution. Indem der Vorschlag von Ulrich formuliert und an die Parallelaktion herangetragen wird, wird er in die kollektive Denkpraxis integriert, vom Subjekt entfremdet und im Unternehmen der Parallelaktion versenkt. Einzelne Figuren aus dem Umkreis der Parallelaktion kommen in weiteren Verlauf der Romanhandlung auf ihn zurück. Doch wird er, sobald er formuliert ist, von Ulrich entfremdet und nicht mehr von ihm verfolgt. Die Idee des Generalsekretariats schließt die Analyse der »Zeitkrankheit« und die Versuche, einen Einfluss darauf zu gewinnen, ab. Das doppelte Sujet des Romans kommt zum Stillstand, da die zeitliche Dynamik, die sich aus dem Oszillieren zwischen zwei Sujetlinien und zwischen zwei Polen ergab, an ihre Grenzen gekommen ist. Für die Fortsetzung und das Ende des Romans müssen andere Möglichkeiten erwogen werden. Der Prozess der Suche nach alternativen Fortsetzungsmöglichkeiten findet in den letzten Kapiteln des ersten Bandes parallel zur Demontage der historischen Zeit im Roman statt, die ich im nächsten, abschließenden Kapitel meiner Romananalyse betrachte.

4.1.4

Stilllegung der historischen Zeit und alternatives Handlungskonzept für die Romanfortsetzung

Am Ende des ersten Buches des »Mann ohne Eigenschaften« befindet sich eine Gruppe von Kapiteln, welche die Handlung des ersten Bandes zum Abschluss bringen und die Handlung des zweiten Bandes einleiten. In diesen Kapiteln vollzieht sich – so meine These – ein wichtiger Übergang, bei dem sich die bisher parallel verlaufenden Linien der Parallelaktion als eines kollektiven Sujets und die Sujetlinie des Protagonisten nicht bloß – wie es bereits an früheren Stellen geschah – miteinander verschränken, sondern miteinander verschmelzen und der Handlung des Romans eine neue Qualität geben. Die Auseinandersetzung mit der abstrakten historischen Zeit in Form von Ideen ist am Anfang der Episode beendet: sowohl die Linie der Parallelaktion, die unterschiedliche »Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen« (MoE/B1/360) erlaubte, als auch die Linie von Ulrichs Utopien mit abschließendem Vorschlag an die Parallelaktion, ein Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele zu gründen, kommen zum Abschluss. Die Erzählung wechselt nun aus dem Erklärungsmodus, in dem sie ständig zwischen dem

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Historische Zeit im Narrativ

Epochenbild und der Ebene der subjektiven Zeiterfahrung wechselt, zu einem anderen Modus, in dem das Verhältnis der Homologie zwischen der subjektiven und der kollektiven Zeiterfahrung hergestellt wird. In der Folge erläutere ich diesen Übergang schrittweise. Dabei beschränke ich mich auf die wesentlichen Aspekte der Kapitel 120-123, in denen der Protagonist zunächst mit der Massendemonstration gegen die Parallelaktion konfrontiert wird, daraufhin eine Aussprache mit Paul Arnheim führt, auf dem Rückweg nach Hause durch das nächtliche Wien eine Reihe von Eingebungen erhält, bei seiner Heimkehr der Verführung durch Clarisse widersteht und nach dem Erhalt der Nachricht vom Tod seines Vaters einen Traum hat, in dem die abstrakte historische Zeit stillgelegt und der Übergang zu einer neuartigen Handlungsqualität endgültig besiegelt werden.

4.1.4.1

»Die Parallelaktion erregt Aufruhr«152 – zwischen Massenszene und Einzelerkenntnis

Am Anfang des Kapitels 118 tritt ein neuer Akteur – die Menschenmenge – in die Erzählung ein. Die Massendemonstration gegen die Parallelaktion stellt ein vollkommen neuartiges Ereignis in der Erzählung des »Mann ohne Eigenschaften« dar, in dem das Kollektive bis dahin lediglich in Form von kollektiven Wünschen, Projektionen und Szenen der Unterhaltungen rund um große Ideen präsent war. Doch bedeutet das Erscheinen der Masse keinen Übergang in den Modus der politischen Geschichte, sondern bleibt »die einzige Massenszene des ganzen Romans«153 . Wie Friedbert Aspetsberger zu Recht betonte, wird die Demonstration im Roman als massenpsychologisch interessantes Verhalten sehr abstrakt-typisch und selbständig abgehoben, nicht aber unmittelbar in ihrem geschichtlichen Sinn einer Demonstration gesehen […]. Ulrich beobachtet sie »durch das kräftige Fensterglas« akustisch abgeschirmt; ihre Inhalte bleiben ihm fern und unverständlich. […] Nur vermittelt, im Kopf, bleibt die Geschichte präsent, nicht aber als leibliche Masse der Demonstranten.154 Den formalen Anlass für die Demonstration bieten zwar Leinsdorfs Manipulationen mit der Besetzung der Spitze des Propagandakomitees durch Baron Wisnieczky. Doch erziehlt die Parallelaktion diesen unerwarteten »Erfolg« nur, weil sie schließlich tatsächlich das allgemeine Unwohlsein heraufbeschwört, das Ulrich von Beginn an als ihren tatsächlichen Inhalt betrachtete. Auch die Darstellung der Demonstration lässt diesem Ereignis kein »realpolitisches« Gewicht zukommen. Obwohl Walter, der in der

152 153 154

MoE/B1/1002. Howald: Ästhetizismus, S. 244. Aspetsberger: Musil und der Historismus, S. 135. Vgl. auch Aspetsbergers Kommentar zu den Unterschieden zwischen der »realpolitischen« Bedeutung der nationalen Kontroversen in Österreich und Musils Darstellung der Demonstration: »Sie geht darauf zurück, daß sich durch die Parallelaktion teils die slawischen, teils die deutschen Staatsbürger beleidigt oder übernommen fühlen; sie geht also auf eine geschichtliche Frage zurück, die wesentlich zum Zerbrechen des im Roman dargestellten Kakanien beigetragen hat, ja in der Geschichtsschreibung als einer der Hauptgründe dargestellt wird. Für Musil hat sie aber überwiegend als Aktions- bzw. Reaktionsphänomen Bedeutung.« (Ebd., 137)

4. Narration

Masse der Demonstrierenden mitläuft und sie über ihr Vorhaben ausfragt, ausgesprochen deutlich fühlt, dass »etwas in der Luft« liegt (MoE/B1/1002), zeigen seine Nachforschungen, dass keiner der Beteiligten an der Demonstration Genaueres über ihre Ziele und Forderungen weiß und durch bloße Neugierde, einem bedeutenden Ereignis beizuwohnen, angeregt wird. Das, was tatsächlich in der Luft liegt, sind keine politischen Forderungen, sondern die Atmosphäre einer Massenhandlung, die Einzelne in ihren Bann zieht und durch Walters Angliederung an den Körper der Masse ausführlich kommentiert wird: Und je weiter er auf diese Weise kam, desto öfter bemerkte er auf den Gesichtern, in die er blickte, etwas unvernünftig Überströmendes und über die Vernunft Wegströmendes, es schien wahrhaftig schon gleichgültig zu sein, was dort geschah, wohin es alle zog, und zu genügen, daß es etwas Ungewöhnliches sei, um sie außer sich zu bringen; […]. (MoE/B1/1004) Die Anziehungskraft der Demonstration entsteht demnach aus der Erwartung, etwas »Ungewöhnlichem« beizuwohnen, und verstärkt sich fortwährend, obwohl sich die Beteiligten über den Charakter und die Ziele der Bewegung im Unklaren sind. Das kollektive Ereignis wird als Gruppenrausch beschrieben, der auch Wirkung auf Walter zeigt: Auch Walter, der sich jetzt mitten im Zug befand, wurde davon angesteckt und geriet alsbald in eine aufgeregte und leere Verfassung, die mit dem Beginn eines Rausches Ähnlichkeit hatte. Man weiß nicht recht, wie diese Veränderung entsteht, die aus eigenwilligen Menschen in gewissen Augenblicken eine einwillige Masse macht, die der größten Überschwenglichkeit im Guten wie im Bösen fähig und der Überlegung unfähig ist, auch wenn die Menschen, aus denen sie besteht, zumeist ihr Leben lang nichts so gepflegt haben wie Maß und Besonnenheit. (MoE/B1/1005) Die psychologisierende Betrachtung fixiert den Moment des Überganges zwischen »eigenwilligen Menschen« in die »einwillige Masse«. Parallel dazu wird die Masse zu einem handelnden Akteur inszeniert und psychologisiert, wobei die kollektive Seele als eine »leere Verfassung« oder »etwas unvernünftig Überströmendes« bezeichnet wird. Sie überkommt alle Teilnehmer und verbindet sie zu einer psychischen Einheit oder einer Quasi-Figur nach Ricœur, was von ihnen »halb als Zwang und halb als Befreiung« (MoE/B1/1006) empfunden wird. Diese Menschenmenge nähert sich dem Palais des Grafen Leinsdorf und dem Protagonisten Ulrich, der – wie in diesem Roman so oft – hinter der Fensterscheibe an der Gebäudefront steht und das Geschehen auf der Straße betrachtet. Im Gegensatz zum chaotischen Straßenbild der ersten Kapitel und zu menschenleeren, in den Nebel gehüllten Straßen Wiens im Kapitel 115, die Ulrichs Nachdenken über das Gleichnis auslösen, wird der Protagonist nun mit dem Bild der tobenden, zur quasi-psychischen Einheit gewordenen Menschenmenge konfrontiert. Und obwohl sich im weiteren Verlauf der Episode kein Akteur von seinem Platz bewegt und die Fronten fixiert zu sein scheinen, entsteht im Gedankenraum des Protagonisten eine komplexe Interaktion mit der Masse hinter dem Fenster. Ulrichs Position ist räumlich deutlich von der Masse abgegrenzt; seine Wahrnehmung vermischt sich nicht wie in Walters Fall mit der Masse, sondern er überblickt die Masse von oben als

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Historische Zeit im Narrativ

einen Körper. Ihre Bewegung wird mit einem Muskel und der Entrüstungsschrei mit einem Muskelschlag verglichen: […] eine Stauwelle lief nach hinten, die anrückenden Reihen keilten sich ineinander, und es entstand ein Bild, das einen Augenblick lang an einen Muskel erinnerte, der sich vor dem Schlag verdickt. Im nächsten Augenblick sauste dieser Schlag durch die Luft und sah wunderlich genug aus, denn er bestand aus einem Schrei der Entrüstung, von dem man früher die aufgerissenen Münder sah, als man den Laut hörte. Schlag um Schlag klappten die Gesichter in dem Augenblick auf, wo sie auf den Plan traten, und da das Geschrei der weiter Entfernten von dem der inzwischen nahe Gekommenen übertönt wurde, konnte man bei fern gerichtetem Blick dieses stumme Schauspiel sich immer wiederholen sehn. »Der Rachen des Volks!« sagte Graf Leinsdorf […]. (MoE/B1/1008-1009) Aus der Perspektive von oben wird ein Überblick über die Bewegung der Menschenmenge gegeben, die – obwohl es darin keinen Befehl und keinen Befehlshaber gibt – einheitliche Bewegungen ausführt. »Schlag auf Schlag« klappen sich Gesichter auf; diese Masse der aufgerissenen Münder wird vom Grafen Leinsdorf metaphorisch als »der Rachen des Volkes« bezeichnet. Diese Metapher wird in der Folge von Ulrich aufgenommen und mutiert zu einem Bild eines »einzigen geifernden Mundes«, der sich im Schrecken kläglich verzieht: Er sah in die dunkle Bewegung unter dem Fenster, und eine Erinnerung an seine Offizierszeit erfüllte ihn mit Verachtung, denn er sagte zu sich: »Mit einer Kompagnie Soldaten würde man diesen Platz leerfegen!« Er sah es beinahe vor sich, als wären die drohenden Mäuler ein einziger geifernder Mund, in dessen Furchtbarkeit sich plötzlich der Schreck schlich; die Ränder wurden schlaff und verzagt, die Lippen sanken zögernd über die Zähne; und mit einemmal verwandelte seine Phantasie die drohende schwarze Menge in stiebendes Hühnervolk, zwischen das der Hund gefahren ist! (MoE/B1/1009-1010) Obwohl Ulrichs Erinnerung an die Offizierszeit auf die Entladung eines Gewaltpotenzials und somit auf eine offene Konfrontation hindeutet, wird das Verhältnis zwischen der Militärgewalt und Menschenmenge nicht als gewaltsame Unterdrückung, sondern als eine angemessene Verbindung zwischen zwei ebenbürtigen Handlungsinstanzen verstanden. In diesem Sinne wird das Bild von einer Kompanie Soldaten, die den Rachen des Volkes in eine Angstgrimasse verwandeln würde, durch das humoristisch abgemilderte Bild eines Hundes unter dem Hühnervolk abgelöst und spielerisch entschärft. Eine direkte Gewaltausübung stünde dabei im Zeichen der tiefen Verbundenheit mit den Demonstrierenden, da man ihnen dadurch auf der gleichen Ebene der »kultischen Handlung« begegnen würde, wie der Protagonist in der Folge reflektiert: Er beneidete sie. »Wie angenehm sind sie sogar jetzt noch, wo sie sich möglichst unangenehm zu machen suchen!« dachte er. Der Schutz vor Einsamkeit, den eine Menge gewährt, strahlte von unten herauf, und daß er selbst ohne ihn hier oben stehen mußte – was er einen Augenblick lang so lebhaft empfand, als sähe er sein Bild hinter Glas, wie es in die Hauswand gefügt war, von der Straße aus – kam ihm als der Ausdruck sei-

4. Narration

nes Schicksals vor. Dieses Schicksal, fühlte er, wäre ein besseres gewesen, wenn er jetzt in Zorn geraten oder an Graf Leinsdorfs Stelle die bereitgehaltene Wache alarmieren würde, um sich ein andermal mit den gleichen Leuten freundlich einszuwissen; denn wer mit seinen Zeitgenossen Karten spielt, handelt, streitet und Vergnügungen teilt, der darf gelegentlich auch auf sie schießen lassen, ohne daß dies aus der Art schlagen würde. (MoE/B1/1011-1012) Das Gefühl der Einsamkeit konturiert Ulrichs Figur so deutlich, dass er sich selbst von draußen hinter dem Fenster des Palais sehen kann. Ein »besseres Schicksal« wäre es, in das Geschehen eingebunden zu sein, die Isolation zu beenden, Zorn zu empfinden und eine Gegenmaßnahme einzuleiten. Der Weg, »sich ein andermal mit den gleichen Leuten freundlich einszuwissen«, indem man auf sie schießen lässt, wird in der Erzählung unter dem Rückgriff auf das Motiv der Zeitgenossenschaft eröffnet und als einheitlicher Handlungsraum vorgestellt, in dem man miteinander »Karten spielt, handelt, streitet und Vergnügungen teilt«. Der Protagonist, dessen Handlungsmöglichkeiten sich bisher im Bereich der Gedankenexperimente erschöpfen, fühlt sich »ganz von der tiefen Abneigung gegen die Unnatürlichkeit eines einsamen Menschen und seine Gedankenexperimente bedrückt« (MoE/B1/1012). Er könnte daraus im Akt der militärischen Gewaltausübung nach dem Muster des historischen Romans austreten, doch läge ein solcher Eingriff auf einer qualitativ anderen Ebene als die abstrakte historische Zeit und hätte in der historischen Zeit des Romans keinen Zweck. Die Ausgrenzung des Protagonisten wird aber im nächsten Augenblick aufgehoben, als Ulrich erkennt, dass die Menschenmenge draußen offensichtlich sein Gesicht hinter der Fensterscheibe für das Gesicht des Grafen Leinsdorf hält. Das Geschehen vor und im Palais erweist sich als ein Spektakel, bei dem die Masse draußen eine Art kultische Handlung vortäuscht und der Figur von Ulrich eine Rolle auferlegt. Indem Ulrich die Stellung des Politikers einnimmt, gegen den sich der Protest richtet, erhält er einen Platz im Schema des Geschehens. Die Demonstration mutiert zum theatralischen Geschehen mit bestimmten Rollen, die besetzt werden müssen und einem beliebigen Akteur zufallen können. Dadurch bekommt Ulrich einen Handlungsimpuls, der anfänglich in Form eines paradoxen Satzes formuliert wird: Und während sein Auge noch abwechselnd in die drohenden Münder und nach den heiteren Gesichtern sah und die Seele sich weigerte, diese Eindrücke weiterfort aufzunehmen, ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. »Ich kann dieses Leben nicht mehr mitmachen, und ich kann mich nicht mehr dagegen auflehnen!« fühlte er […]. (MoE/B1/1013) Auf den ersten Blick erscheint der letzte Satz als Ausdruck höchster Ausweglosigkeit: der Protagonist kann weder mitmachen, noch sich weigern, mitzumachen.155 Nicht umsonst ist diese Stelle aber als Anfang einer »seltsamen Veränderung« bezeichnet, denn durch diesen Satz wird im Text des Romans eine Transformation eingeleitet,

155

Vgl. die Interpretation der Stelle als einer »Wand des Weder-Noch« und »einen toten Punkt der Dezision« bei Mülder-Bach: Robert Musil, S. 354-355.

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die sich zunächst als Verabschiedung des ursprünglichen Zustandes mit seinen beiden Möglichkeiten des Mitmachens (»ich kann dieses Leben nicht mehr mitmachen«) und des ausgrenzenden Protestes (»ich kann mich nicht mehr dagegen auflehnen«) gestaltet. Der Protagonist kann in seinem Reflexionsraum nicht mehr ausharren, da sich in der Erzählung eine alternative Möglichkeit der Handlung auftut, die ihn auf eine andere Art und Weise in eine Beziehung zum kollektiven Leben setzt, als es die bis dato entwickelte Struktur der historischen Zeit mit der kollektiven Denkpraxis im Hintergrund und dem reflektierenden Beobachter Ulrich im Vordergrund erlaubte. Dieses neuartige Verhältnis zwischen dem Protagonisten und der kollektiven Zeit wird durch den doppelten Sinn der Szene eingeleitet, der – ähnlich wie in der Eifersuchtsszene mit Bonadea – die Struktur eines Gleichnisses besitzt. Ulrich kann demnach, am Fenster stehend, seinen Gedanken folgen und gleichzeitig für die Masse hinter den Fenstern des Palais die Rolle des Grafen von Leinsdorf spielen. In dieser quasi-theatralischen Struktur der Handlung wird die Beziehung zwischen Ulrich und der Masse nicht mehr durch biografische Einschreibung des »Mannes ohne Eigenschaften« seiner Zeit und nicht als sein Konflikt mit ihr, sondern als Vereinigung im Rahmen einer kultischen Handlung gestaltet, bei der sich die Vorgänge auf der Bühne – »wie es wirklich dem Unterschied von guten und bloß erfolgreichen Stücken entspreche« (MoE/B1/581) – in einer entpersonalisierten Form auf die Zuschauer übertragen. Dieser Mechanismus der semantischen Kongruenz wird in der Erzählung bildlich als das Verhältnis des ineinander Kehrens gestaltet. Als zwei sich vereinigende Bühnen verfließen die Pole der individuellen und der kollektiven Zeit ineinander, ohne einer vermittelnden Struktur zu bedürfen: […] zugleich fühlte er hinter sich das Zimmer, mit den großen Bildern an der Wand, dem langen Empireschreibtisch, den steifen Senkrechten der Klingelzüge und Fenster behänge. Und das hatte nun selbst etwas von einer kleinen Bühne, an deren Ausschnitt er vorne stand, draußen zog das Geschehen auf der größeren Bühne vorbei, und diese beiden Bühnen hatten eine eigentümliche Art, sich ohne Rücksicht darauf, daß er zwischen ihnen stand, zu vereinen. Dann zog sich der Eindruck des Zimmers, das er hinter seinem Rücken wußte, zusammen und stülpte sich hinaus, wobei er durch ihn hindurch- oder wie etwas sehr Weiches rings um ihn vorbeiströmte. »Eine sonderbare räumliche Inversion!« dachte Ulrich. (MoE/B1/1013-1014) Zunächst stehen sich beide Handlungsräume (»kleine« und »größere Bühne«) gegenüber, im nächsten Schritt wird jedoch ihre Opposition aufgehoben, indem der »Eindruck des Zimmers« aus dem »Inneren« des Protagonisten nach draußen gekippt wird. Beide Bühnen vereinen sich »ohne Rücksicht darauf, daß er zwischen ihnen stand«. Das Zimmer mit der Position vor der Fensterscheibe, das im Roman als Domäne des Individuellen gilt, verschmilzt buchstäblich mit der Außenwelt, indem »etwas sehr Weiches rings um ihn vorbeiströmt«. Der Protagonist betrachtet seine Spiegelung in der Fensterscheibe nicht mehr als ein Bild zwischen Innen und Außen, wie es in der Episode der Straßenbahnfahrt der Fall war, sondern sein Innen kehrt sich nach Außen und das Außen mit dem Bild der schreitenden Menschenmenge kehrt sich in sein Inneres. Diese Handlungsstruktur wird als »räumliche Inversion« des Protagonisten inszeniert und weist einen prinzipiellen Unterschied zu dem im Roman bisher geläufigen Handlungs-

4. Narration

muster auf, da die Logik von Ulrichs Tagtraum keine Oppositionen, Widersprüche und Grenzen zulässt, sondern der Logik der Bilder folgt, die montageartig aufeinander projiziert werden: Die Menschen zogen hinter ihm vorbei, er war durch sie hindurch an ein Nichts gelangt; vielleicht zogen sie aber auch vor und hinter ihm dahin, und er wurde von ihnen umspült wie ein Stein von den veränderlich-gleichen Wellen des Baches: es war ein Vorgang, der sich nur halb begreifen ließ, und was Ulrich besonders daran auffiel, war das Glasige, Leere und Ruhselige des Zustands, worin er sich befand. »Kann man denn aus seinem Raum hinaus, in einen verborgenen zweiten?« dachte er, denn es war ihm geradeso zumute, als hätte ihn der Zufall durch eine geheime Verbindungstür geführt. (MoE/B1/1013-1014) Die Entdeckung dieser geheimen Verbindungtür zwischen dem »eigenen« und dem »verborgenen zweiten Raum« bildet das zentrale Ereignis des Kapitels, das von den Vorgängen der Massendemonstration zwar angestoßen wird, aber nicht ihr unmittelbares Ergebnis darstellt. Vielmehr ist diese Entdeckung als das Versetzen der Psyche des Protagonisten in einen alternativen Existenzmodus zu verstehen, der laut Inka MülderBach außerhalb der Sphäre des politischen Geschehens situiert ist: Der Zufall einer räumlichen Inversion hebt Ulrich darüber hinweg, und diese Umkehrung entzieht auch dem politischen Theater den Boden. Indem Hintergrund und Vordergrund ineinander umspringen, wird der einsame Zuschauer des Massenschauspiels auf der großen Bühne, der sich zugleich als Schauspieler auf einer kleineren Bühne vor einem Massenpublikum stehen sieht, durch eine »geheime Verbindungstür« in einen »zweiten, verborgenen Raum« katapultiert, der sich jenseits der Bühnen des Politischen und der theatralischen Formen seiner Repräsentation befindet.156 Da die räumliche Inversion neben der Umkehrung der Sinneseindrücke auch die semantische Komponente des »Austreten[s] der privaten Geschichte aus der Historie«,157 der Verabschiedung von der ursprünglichen Opposition zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, dem Subjekt und der Politik beinhaltet, weist dieser »zweite, verborgene Raum« eine besondere Qualität auf. Dies kann nicht als Rückzug des Individuums ins Private gewertet werden, da auch das Individuum in der Szene seinen eigenständigen Raum verliert und keine Distanz zum Geschehen vor den Fenstern des Palais einnehmen kann. Die Struktur der Vermittlung und Übertragung, die das zentrale Merkmal der historischen Zeit bildet, wird außer Kraft gesetzt. Durch den Einschluss der kollektiven Zeit in den Horizont der individuellen Zeitwahrnehmung verschmelzen beide Pole, und die historische Zeit kommt im Roman zu ihrem Stillstand. Bestand der ursprüngliche Gestus der Anknüpfung an die abstrakte historische Zeit in der Ausübung der Kritik am Zeitalter mit seinem »Geist«, Menschenhabitus und der Generationenfolge, so wird der Protagonist der Möglichkeiten einer solchen kritischen Stellungnahme beraubt. Diese Reduktion der Funktionen kommt in der Eigenschaft des »Glasigen, Leeren und Ruhseligen des Zustandes« zum Vorschein, in den Ulrich verfällt. 156 157

Ebd., S. 355. Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 333.

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In diesem Zustand hat der Protagonist eine Reihe von Eingebungen, die sich nicht anhand seiner Gedanken oder Beobachtungen erschließen, sondern seinem Bewusstsein von einer oberen Instanz diktiert werden. Dabei ist es bemerkenswert, dass sich diese Eingebungen auf die Handlung des zweiten Buches des »Mannes ohne Eigenschaften« beziehen und ihrem Wesen nach nichts anderes als vorausgreifendes Erzählen darstellen: Aber unbegreiflicherweise schoß ihm im selben Augenblick der Beschluß durch den Kopf, ein Verbrechen zu begehn, oder vielleicht war es auch nur ein gestaltloser Einfall, denn er verband gar keine Vorstellung damit. Möglich, daß es mit Moosbrugger zusammenhing, denn er würde gerne diesem Narren geholfen haben, den das Schicksal so zufällig mit ihm zusammengeführt hatte, wie zwei Menschen auf die gleiche Bank in einem Park zu sitzen kommen. Aber eigentlich fand er in diesem »Verbrechen« nur das Bedürfnis, sich auszuschließen oder das Leben, das man verträglich zwischen den anderen führt, zu verlassen. (MoE/B1/1014-1015) Die zitierte Passage beinhaltet eine ganze Reihe von Vorausdeutungen auf das zweite Buch, die mit dem Thema eines durch den Protagonisten begangenen Verbrechens zusammenhängen. Dabei wird das Verbrechen als eine Verabschiedung von dem »verträglichen« Beisammensein mit den Zeitgenossen und als das Verlassen des gemeinsamen Lebensraums interpretiert, die mit der Reise von Ulrich und Agathe und dem Inzest im zweiten Buch des Romans eingeleitet werden. Das Verbrechen erscheint in diesem Kontext als eine Handlung, die den gemeinsamen Handlungsraum zwischen dem Individuum und der Gesellschaft etabliert und gleichsam dem Individuum den Platz außerhalb oder am Rande des sozialen Gefüges zuweist. Es bedeutet eine Möglichkeit des bewussten Aussteigens, das als Geste des freiwilligen Verlassens nur dann möglich ist, wenn man dafür zunächst irgendwo eingebunden ist, wie es für den »Mann ohne Eigenschaften« bis dahin nur im Sinne der Anbindung an das geistige Leben der »Zeit« möglich war. Ein Verbrechen aus Prinzip zu begehen, bedeutet aber auch die Möglichkeit einer »geistigen Unternehmung«, die sonst immer an den Bedingungen des sozialen Mediums scheitert. Es stellt die Möglichkeit dar, »sich außer diese Reihe zu stellen« (MoE/B1/1015) und die Trennung zwischen der Theorie und dem eigenen Leben zu überwinden: Er bemühte sich nicht im geringsten, dieser Vorstellung einen Inhalt zu geben; das Gefühl, nun werde nicht wieder etwas Allgemeines und Theoretisches folgen, wie er dessen schon müde war, sondern er müsse etwas Persönliches und Tätiges unternehmen, woran er mit Blut, Armen und Beinen teilhabe, füllte ihn für einige Augenblicke ganz aus. (MoE/B1/1015) In der Vorstellung einer Handlung, die den Protagonisten aus seiner Gefangenschaft im »Allgemeinen und Theoretischen« befreien und ihn »mit Blut, Armen und Beinen« an einem Geschehen teilhaben lässt, schimmert die Müdigkeit des Romanautors von der abstrakten Qualität der Zeit im ersten Buch und die Freude auf die neue Erzählweise durch, die im zweiten Buch des Romans endlich zu einer Handlung im Sinne von »etwas Persönliche[m] und Tätige[m]« führen soll. Durch die postulierte Notwendigkeit eines Verbrechens wird die Instanz des Protagonisten in den opaken Bereich

4. Narration

befördert, in dem der Protagonist eine gemeinsame Handlungsebene mit seinen Zeitgenossen erreicht, sich aber gleichzeitig aufgrund des Verbrechens aus dem Bereich der moralischen Konventionen herausnimmt. Der Zustand, in den der Protagonist dadurch verfallen soll, transzendiert das Schema der historischen Zeit als einer Vermittlung zwischen der Instanz der individuellen Zeitwahrnehmung und der chaotischen kollektiven Zeitformation, und wird als ein dritter Raum mit seiner eigenen Zeit- und Wahrnehmungsstruktur präsentiert.

4.1.4.2

Drei Verbrechen – oder doch das vierte?

Damit ist dem Erzähler die Möglichkeit gegeben, drei Versionen des subversiven Verhaltens in der Romanerzählung umzusetzen. Zwei davon waren dem Roman bereits in einem früheren Stadium zugedacht und wurden aber von der Fabel um die Parallelaktion mit ihrer spezifischen Ausgestaltung der abstrakten historischen Zeit zurückgedrängt. Diese drei verworfenen Möglichkeiten sind die Befreiung des Prostituiertenmörders Moosbruggers, der Mord an Arnheim und der Ehebruch mit Clarisse. Die Möglichkeit einer Romanfortsetzung durch diese drei Geschichten, von denen jede ein starkes subversives Potenzial besitzt, wird am Schluss des ersten Buches verhandelt, um zugunsten der vierten Möglichkeit – dem Inzest mit der Schwester Agathe – verworfen zu werden. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist die Option, die Handlung des Romans durch den Mord an Arnheim weiterzuführen, besonders interessant, da der Verzicht darauf den zentralen Konflikt der Parallelaktion aufhebt und wesentlich zur Demontage der polaren Übertragungsstruktur der historischen Zeit im Roman beiträgt. Die Kontroverse zwischen beiden Figuren wird bereits am Anfang der Episode abgemildert. Ulrich verzichtet darauf, dem Grafen Leinsdorf von Arnheims geheimen Interessen an den galizischen Ölfeldern zu berichten, weil er »trotz aller Gegnerschaft sich ihm näher verwandt als den anderen« (MoE/B1/1010) fühlt. Während der Aussprache zwischen Ulrich und Arnheim, die unmittelbar darauf in Diotimas leerer Wohnung stattfindet, äußert auch Arnheim Verwandtschaftsgefühle, wenn er seinem Wunsch, Ulrich »an Sohnes Statt anzunehmen« (MoE/B1/879) nachgibt und Ulrich eine Position im eigenen Unternehmen anbietet. Die gegenseitige Annäherung beider Figuren im Zeichen einer »engeren Verwandtschaft« weist zum einen auf die tatsächliche Parallelität beider Sujetlinien und lässt sich zum anderen als Erzählverfahren verstehen, mithilfe dessen die unnötig gewordene Kontrastierung beider Sujetlinien aufgehoben wird. Auch Ulrichs Frage nach Arnheims Beziehung zu Diotima und nach seinem Interesse an den galizischen Ölfeldern führen ins Leere. Weder das eine noch das andere scheint relevant zu sein oder gibt Anstoß für weitere Konflikte oder Handlungen. Das Gespräch zwischen Arnheim und Ulrich kommt zum Stillstand; die gesamte Problematik löst sich in einem Bild auf, bei dem beide Beteiligten am Fenster von Diotimas Wohnung stehen und die Reste der Demonstrierenden auf der Straße beobachten. Anders als neben Bonadea und dem Grafen Leinsdorf sieht Ulrich dabei nicht nur auf die Straße hinaus, sondern betrachtet Arnheim: Sie standen jetzt wieder in der Fensternische, wo sie das Gespräch begonnen hatten; […] man spürte die auswirkende Bewegung der Vorgänge, die stattgefunden hatten.

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Historische Zeit im Narrativ

[…] Man empfing den Eindruck eines Zustands von Halbbewußtsein. Und im Licht dieser unruhigen Straße, zwischen den lotrecht herabfallenden Vorhängen, die das gedunkelte Bild des Zimmers umrahmten, sah er die Figur Arnheims und fühlte er seine eigene dastehen, zur Hälfte hell, zur Hälfte schwarz und von dieser Doppelbeleuchtung leidenschaftlich zugeschärft. (MoE/B1/1034-35) Das Straßenbild wird noch von den Vorgängen beeinflusst, die Ulrich auf dem Platz vor dem Palais des Grafen beobachtete. Vor allem der »Eindruck eines Zustands von Halbbewußtsein« geht auf die Beobachtung der Menschenmasse zurück, in der das Bewusstsein des Einzelnen gedämmt wird. Ähnlich wie am Fenster des Palais, wo Ulrich zum Beobachter seiner eigenen Figur am Fenster des Palais wurde, fühlt er »seine eigene [Figur] dastehen«, die vom Lichtspiel »leidenschaftlich zugeschärft« erscheint. Auch die Figur von Arnheim wird vom gleichen Licht konturiert, sie scheint jedoch in einem besonderen Einklang mit der Außerwelt zu stehen: Ulrich erinnerte sich der Heilrufe auf Arnheim, […] in der cäsarischen Ruhe […] wirkte er wie die beherrschende Figur in diesem Augenblicksgemälde und schien seine eigene Gegenwart darin auch bei jedem Blick zu fühlen. Man begriff neben ihm, was Selbstbewußtsein heißt: Das Bewußtsein vermag nicht, das Wimmelnde, Leuchtende der Welt in Ordnung zu bringen […]; das Selbstbewußtsein aber tritt hinein wie ein Regisseur und macht eine künstliche Einheit des Glücks daraus. Ulrich beneidete diesen Mann um sein Glück. (MoE/B1/1035) Im Gegensatz zum gedämmten Bewusstsein der Menschenmasse zeichnet sich Arnheims Figur nicht nur durch die volle Geistesgegenwart, sondern auch durch die höhere Stufe des Bewusstseins – das Selbstbewusstsein – aus. Letzteres wird als eine Instanz beschrieben, die das »Wimmelnde, Leuchtende der Welt« steuert und »eine künstliche Einheit des Glücks« erstellt, um die Ulrich seinen Gegenspieler beneidet. Dieses Glück hat die Züge einer theatralischen Illusion, die insoweit einen Einklang zwischen der Welt und dem subjektiven Bewusstsein erzeugen kann, als ein Regisseur beiden Instanzen bestimmte Rollen zuweist und ihr Zusammenspiel steuert. Indem Ulrich neben Arnheim auf einer Bühne zu stehen scheint, hört er in seinem Kopf die Stimme, die ihn auffordert, Arnheim zu töten: Es schien ihm in diesem Augenblick nichts leichter zu sein, als an ihm ein Verbrechen zu begehn, denn mit seinem Bedürfnis nach Bildhaftigkeit lockte dieser Mann auch diese alten Texte auf die Szene! »Nimm einen Dolch und erfülle sein Schicksal!«: Ulrich hatte diese Worte ganz mit schlechtem schauspielerischen Tonfall im Ohr, aber unwillkürlich richtete er es so ein, daß er mit dem halben Körper hinter Arnheim zu stehen kam. Er sah die dunkle, breite Fläche des Halses und der Schultern vor sich. Namentlich der Hals reizte ihn. (MoE/B1/1036) Die Versuchung, Arnheim umzubringen und »sein Schicksal zu erfüllen«, wird in der zitierten Passage als Nachgeben einer Logik reflektiert, welche die Figur Arnheims »mit seinem Bedürfnis nach Bildhaftigkeit« evoziert. Bildhaftigkeit hängt dabei mit dem szenischen Geschehen zusammen, bei dem Figuren einem Handlungsmuster folgen und so etwas wie ein Schicksal erfüllen. Vor dem Hintergrund der Menschen auf

4. Narration

der Straße, die »wie Sand von einer Welle« von der kollektiven Zeit »angeschleppt« (MoE/B1/1035) werden, bietet sich also der Mord an Arnheim als die gesuchte Option eines Verbrechens, das sich im »geheimen, dritten Raum« abspielt und auf einem paradoxen In- und Exklusionsverhältnis, auf der Umkehrung beider Pole der Zeiterfahrung ineinander beruht. Jedoch wird weder der Mord an Arnheim noch die Beteiligung an seinen Geschäften als eine Option für den Fortgang der Handlung angenommen. Die Linie der Parallelaktion scheint ausgedient zu haben; nachdem die zentralen Kritikpunkte an der gemeinschaftlichen Ideenpraxis formuliert sind, ist sie der Belanglosigkeit geweiht. Zwar werden einzelne Figuren aus dem Umkreis der Parallelaktion im zweiten Buch beibehalten und auch Ulrichs Schwester Agathe wird in ihren Kreis eingeführt. Doch die Entscheidung des Protagonisten, nicht mehr zu den Sitzungen der Parallelaktion zu gehen, verweist auf die Verschiebung der Handlung in einen anderen Bereich. Alexander Honold betont in diesem Zusammenhang den qualitativen Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Buch: So entzieht sich das zweite Buch einer Strukturierung nach Personen bereits dadurch, daß es die Zahl der Handlungsträger über weite Strecken erheblich reduziert, je mehr es vom Einflußbereich der Parallelaktion Abstand nimmt.158 Die Reduktion der Handlungsträger steht im Zeichen der gewandelten Handlungsqualität: Der Roman bedarf keiner panoramatischen Ausbreitung mehr. Die Suche nach den Optionen für die Fortsetzung des Romans wird im Kapitel 122 »Heimweg« fortgeführt, in dem die Metapher der theatralischen Handlung und das Motiv des Glücks erneut aufgenommen werden. Das Nachdenken über die szenische Erzählweise erreicht hier seinen Höhepunkt, bei dem der Raum der Stadt zu einem theatralischen Raum inszeniert wird: Man konnte das Gefühl von Geschehen haben in dieser Nacht wie in einem Theater. Man fühlte, daß man eine Erscheinung in dieser Welt war; etwas, das größer wirkt, als es ist; das hallt und, wenn es an beleuchteten Flächen vorbeikommt, seinen Schatten zur Begleitung hat wie einen mächtig zuckenden Narren, der sich aufrichtet und im nächsten Augenblick wieder demütig an die Fersen kriecht. »Wie glücklich kann man sein!« dachte er. (MoE/B1/1039) In der zitierten Passage erscheint wiederholt neben der Metapher der Theaterbühne das Motiv des Glücks, das mit einem gesteigerten Gefühl des eigenen Selbst zusammenhängt. Es rührt von dem Gefühl her, »eine Erscheinung in dieser Welt« zu sein, so wie es im Falle von Arnheims Selbstbewusstsein war, und manifestiert sich als Gefühl einer Anwesenheit, die zum einen von der Veränderung der Körperproportionen im Spiel des Lichts, zum anderen von dem Eindruck des Eingebundenseins in eine Handlung (»das Gefühl von Geschehen«) ausgelöst wird. Das Selbst, »das größer wird, als es ist«, begleitet den Protagonisten als Schatten auf seinem Weg durch die Stadt, wobei Ulrich Arnheims gedenkt:

158

Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 333.

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Historische Zeit im Narrativ

Ulrich stellte sich plötzlich vor, mit wieviel Selbstgenuß und innerer »Regie« Arnheim jetzt an seiner Stelle hier gehen würde. Er hatte keine Freude mehr an seinem Schatten und Hall, und die geisternde Musik in den Mauern war erloschen. Er wußte, daß er Arnheims Antrag nicht annehmen werde; aber er kam sich jetzt nur noch wie ein durch die Gallerie des Lebens irrendes Gespenst vor, das voll Bestürzung den Rahmen nicht finden kann, in den es hineinschlüpfen soll […]. (MoE/B1/1040-1041) Die fehlenden Handlungsoptionen für den Protagonisten werden in der zitierten Passage als ein existentielles Problem von Ulrich reflektiert, der das theatralische Spiel, die »innere »Regie« nach Arnheims Art verwirft, sich aber dabei »wie ein durch die Gallerie des Lebens irrendes Gespenst« vorkommt. Der Protagonist, der aus dem Rahmen der historischen Zeit ausgetreten ist, findet keinen anderen Rahmen, ist in seiner Existenz bedroht. Das gesteigerte Bewusstsein der Analogie zwischen dem menschlichen Leben und der Logik einer Erzählung wird in der Folge anhand von Ulrichs Erinnerung an seine Kindheit reflektiert. Es ist bedeutsam, dass sie als eine Anhäufung von photografischen »Kinderbildnissen« rekapituliert wird, die übereinander gelegt eine zeitliche Abfolge simulieren und einen bestimmten Sinn vermitteln sollen. Die Abbildungen »eines braven, liebevollen, klugen kleinen Jungen« erwecken bei Ulrich den Eindruck, »einem großen Schreck entronnen zu sein« (MoE/B1/4041). Das manipulative Potenzial der Erzählung wird dabei zugleich als das fehlende »Bindemittel«, die Ulrich Glücks- und Integritätserlebnis bescheren könnten, und als eine Bedrohung wahrgenommen. Als eine Art »perspektivischer Verkürzung des Verstandes« bewirkt der erzählerische Rückblick auf das Leben, dass »das Dringende und Nahe groß erscheint«, »Lücken sich schließen und endlich das Ganze eine ordentliche glatte Rundung erfährt« (MoE/B1/1042). Diese Wirkung von Erzählungen wird kritisch hinterfragt, da sie Widersprüche verschwinden lässt und das Gefühl der Geborgenheit im Chaos erzeugt: Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie […] lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem »Faden« mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (MoE/B1/1044) Die zitierte Passage reflektiert neben der beruhigenden Wirkung von Erzählungen noch eine andere wichtige Unterscheidung: Sie erzeugen eine Illusion des privaten Lebens, im Gegensatz zu dem »öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist« und »sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet«. Bei all ihrer Fragwürdigkeit greifen die Erzählmuster des privaten Lebens schon gar nicht im Bereich des Öffentlichen, der »nicht einem ›Faden‹ mehr folgt« und daher »unerzählerisch« ist. Diese Beobachtung resümiert die Darstellung des öffentlichen Lebens im Roman als eines Feldes chaotisch wirkender Kräfte. Die fehlende Kohärenz des Öffentlichen wird vom Protagonisten gespiegelt, der nicht nur den Zusammenhang seiner eigenen Persönlichkeit vermisst, son-

4. Narration

dern sich dessen als einer Leistung bewusst ist, die er »nicht in wünschenswerter Weise vollbring[t]« (MoE/B1/1042). In den Forschungen zum Roman wurde die Aussage dieser wichtigen metareflexiven Textpartien als die allgemeine Absage an das Erzählen interpretiert. So sah Alexander Honold »die Pointe dieser Irritation« darin, »daß Ulrich sich nicht nur weigert, selbst ›Erzähler‹ zu sein, das ›primitiv Epische‹ auf das eigene Leben anzuwenden, sondern zugleich auch die Position desjenigen, der erzählt wird, zu quittieren im Begriff steht.«159 Honold interpretiert die Suspendierung der »Vita des Helden« im Zeichen der Absage an die Struktur des Bildungsromans, da »der Einzelfall, das ›Einzelschicksal‹, so lautete Musils Diagnose der Moderne, als Sujet des Romans weitgehend ausgedient [hat]«.160 Der letzteren Beobachtung ist grundsätzlich zuzustimmen, jedoch distanziert sich der Erzähler bereits wesentlich früher, bei der Erzählung von den drei Biografien Ulrichs vom Erzahlmuster des Bildungsromans. Die Funktion der zitierten, am Abschluss des ersten Buches stehenden metareflexiven Partien wurde treffend von Inka Mülder-Bach als »eine Aussage über die Erschöpfung eines bestimmten Romanmusters« bezeichnet. Damit ist das »Muster des genealogisch-generischen Romans« gemeint, das »Musil mit der Fiktion der Parallelaktion in den ersten Band vom ›Mann ohne Eigenschaften‹ hineinkopiert«;161 er distanziert sich jedoch davon am Ende dieses Romanteils und reflektiert es kritisch als eine Erzählordnung, die im Roman ausgedient hat. An dieser Stelle erscheint wiederholt die Idee eines Verbrechens als eine Option für die Fortsetzung des Romans. Vor dem Hintergrund der »theatralischen« Kulisse der Stadt imaginiert Ulrich die Gestalt des Prostituiertenmörders Moosbrugger. Er begegnet einer Prostituierten, weist ihre Einladung jedoch zurück, da sie auf eine »tief gemeine, völlig unbegabte Schauspielerei« (MoE/B1/1047) hinauslaufen würde. Dabei kommt Ulrich der Prostituiertenmörder Moosbrugger als eine Möglichkeit in den Sinn, in dieser »menschlichen Komödie auf der Schmiere« (MoE/B1/1047) eine Rolle zu spielen: Moosbrugger, der krankhafte Komödiant, der Prostituiertenjäger und -vertilger, der durch jene Unglücksnacht genau so gegangen war wie er heute. Als die kulissenhafte Unsicherheit der Straßenwände einen Augenblick stillhielt, war er auf das unbekannte Wesen gestoßen, das ihn in der Mordnacht bei der Brücke erwartete. Welch wunderbares Erkennen mußte das gewesen sein, vom Kopf bis zu den Sohlen: Ulrich glaubte einen Augenblick es sich vorstellen zu können! Er fühlte, daß ihn etwas hochhob, wie das eine Welle tut. (MoE/B1/1047) Die nächtliche Begegnung mit der Prostituierten könnte für den Protagonisten nach einem ähnlichen Szenario ablaufen, wenn er sich wie Moosbrugger von ihr bedroht fühlen und sie erstechen würde. Dieses Mordszenario, dass sich vor der »kulissenhaften Unsicherheit der Straßenwände« abspielen könnte, trägt die Züge des szenischen Geschehens, in dem sich Lust und Zwang, Sinn und Notwendigkeit zu einer ganzheitlichen Handlung verbinden. Der Drang nach einer solchen Finalität der Handlung ist

159 Ebd., S. 302. 160 Ebd., S. 310. 161 Mülder-Bach: Robert Musil, S. 377.

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im Roman zu diesem Zeitpunkt so ausgeprägt, dass der Protagonist fühlt, dass »ihn etwas hoch[hebt], wie das eine Welle tut«, und den verurteilten Mörder wegen seines »Glauben[s] an seine Rolle« (MoE/B1/1048) beneidet. Doch die Möglichkeit, Moosbrugger zu befreien und dadurch das Verbrechen zu realisieren, das ihn in den Zustand des Ergriffenseins durch die Tat versetzen und bei ihm das fehlende Selbstgefühl herbeiführen könnte, wird von Ulrich dreifach abgelehnt. Dadurch wird sein Drang, seine eigene Geschichte fortzusetzen, noch gesteigert, und als Aufforderung formuliert, zu einer – noch unbekannten – Lösung vorzudringen: Und plötzlich sagte Ulrich: »Alles das –!« und machte eine Bewegung, als würde er etwas mit dem Handrücken zur Seite schleudern. Er hatte es nicht zu sich gesagt, er hatte es laut gesagt, schloß jäh die Lippen und führte den Satz nur stumm zu Ende: »Alles das muß entschieden werden!« Er wollte nicht mehr im einzelnen wissen, was »alles das« sei; »alles das« war, was ihn beschäftigt und gequält und manchmal auch beseligt hatte, seit er seinen »Urlaub« genommen, und in Fesseln gelegt wie einen Träumenden, in dem alles möglich ist bis auf das eine, aufzustehn und sich zu bewegen; alles das führte auf Unmöglichkeiten, vom ersten Tag bis zu den letzten Minuten dieses Nachhausewegs! (MoE/B1/1049) Durch seinen Satz zieht Ulrich den Schlussstrich unter die Erzählung des ersten Buches: Der Rückblick auf den geistigen Bestand einer Epoche, der den Protagonisten in seinem Bann gehalten, »ihn beschäftigt und gequält und manchmal auch beseligt hatte«, führte schließlich »auf Unmöglichkeiten« und soll nun beendet werden. An dieser Stelle deutet alles im Roman auf den Überganz zu einer neuen Qualität der Handlung hin. Doch bevor sie eintritt, muss die dritte Option der Romanfortsetzung, die im ersten Buch angelegt ist, aus dem Weg geräumt werden. Die Geschichte »dreier Personen«162 Ulrich, Clarisse und Walter enthält eine vergleichsweise milde Variante des Verbrechens in Form des Ehebruchs. Der Auftritt von Clarisse im Kapitel 123 »Die Umkehrung« treibt den Konflikt auf die Spitze, wenn sie verlangt, von Ulrich ein Kind zu bekommen und alle drei dadurch in ein Verhältnis zueinander zu setzen, bei dem ihr Gatte seine künstlerische Produktivität wiederherstellen kann. Die Versuchung, die sich dem Protagonisten in dieser Szene buchstäblich als eine erotische Versuchung stellt, kann als eine Versuchung interpretiert werden, sich an einer bestimmten Handlung zu beteiligen und die eigene Geschichte als Geschichte des Bruchs mit den gesellschaftlichen Konventionen weiter zu erzählen. Diese Möglichkeit wird jedoch ebenfalls verworfen. Nach Clarisses Besuch wird Ulrich deutlich, dass »der schon einigemal empfangene Eindruck, Clarisse sei nicht bloß ein ungewöhnliches, sondern im geheimen wohl bereits ein geisteskrankes Wesen, keinen Zweifel mehr erlaube« (MoE/B1/1064). Und obwohl der Protagonist gestehen muss, dass ihre »Aussprüche« »manchen seiner eigenen bedenklich ähnlich waren« (MoE/B1/1064), wird im Roman fortan das Bild von progressierender Geisteskrankheit entworfen, die laut einem der nicht-autorisierten Kapitel zur Fortsetzung des Romans durch eine Vergewaltigung Clarissens durch Walter beschleunigt wird. Auch wenn das

162

Zur Vorgeschichte dieser Konstellation in Musils Werk vgl. Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 385.

4. Narration

Krankheitsbild Clarissens einiges über den Zeitgeist aussagen mag, stehen sich Walter und Ulrich nicht mehr als Konkurrenten um den Einfluss auf Clarisse und den Genie-Status gegenüber. Die Handlungslinie rund um beide Jugendfreunde degradiert zu einem komplementären Erzählstrang und wird neben der reduzierten Handlung der Parallelaktion an den Rand der Erzählung, in Richtung des unerreichten Romanendes geschoben.

4.1.4.3

Traum und Transformation der Handlungsstruktur

Die Wende zur neuen Handlungsqualität wird am Ende des Kapitels 123 »Umkehrung« im Traumerlebnis des Protagonisten besiegelt. Darin werden Erinnerungen an unterschiedliche Sinneseindrücke – »Lauf einer Waffe«, »Anblick einer Wiese«, »Bild eines Flußtals«, »ein Ort« mit seinen »erdigen Straßen und schiefgedeckten Häusern«, »das Achselhaar einer Geliebten«, »Gerüche von Blumenbeeten« (MoE/B1/1065) etc. – vom Protagonisten als Bildnisse seines Selbst, nach der Art eines Doppelgängers aufgefasst: Ein Mensch auf verschiedenen Wegen, beinahe peinlich anzusehen: er; wie eine Reihe Puppen übrig geblieben, in denen die Federn längst gebrochen sind. Man sollte meinen, solche Bilder seien das Flüchtigste von der Welt, aber eines Augenblicks ist das ganze Leben in solche Bilder aufgelöst, nur sie stehen auf dem Lebensweg, nur von ihnen zu ihnen scheint er gelaufen zu sein, und das Schicksal hat nicht Beschlüssen und Ideen gehorcht, sondern diesen geheimnisvollen, halb unsinnigen Bildern. (MoE/B1/1065) Als »eine Reihe Puppen«, »in denen die Federn längst gebrochen sind« erscheinen die emotional und sinnlich geprägten Momentaufnahmen außerhalb einer zeitlichen Abfolge und stehen gleichzeitig, wenn auch leblos da. In diesem statischen Bild wird die Zeit ausgeschaltet. Wurde die Biografie des Protagonisten im ersten Buch permanent auf den Kontext der abstrakten historischen Zeit bezogen, so findet in Ulrichs Traum eine Loslösung von diesem Erzählmuster statt. Die Persönlichkeit wird zum Sammelsurium von statischen Momenten erklärt, die nicht das Abstrakte oder Ideelle, sondern das Sinnliche entscheidend prägt. Wird die Idee in der Handlungsstruktur des Romans vom Bild verdrängt, so verändert sich das Konzept der Handlung: An die Stelle der narrativen Inszenierung der Gedanken- und Gleichnisproduktion tritt die Struktur des Traums, in der Oppositionen miteinander verschmelzen. Sie wurde bereits in der Szene angedeutet, als Ulrich vor dem Fenster des Palais des Grafen Leinsdorf einen Wahrnehmungswandel erlebte, bei dem der Raum vor und hinter ihm ineinander übergingen und das Bild der Menschenmasse draußen in das Innere des Palais kippte. In der Erzählung fand dabei eine Überlappung von zwei Raumbildern, ihre gegenseitige Überdeckung statt. Die Überlappung von Bildern führt auch in der Traumszene erneut einen räumlichen Wandel herbei: […] entfaltete sich in dem übernächtigen Zustand, worin er sich befand, oder fast müßte man sagen, geschah um ihn wunderliches Gefühl. […] der Überfluß des Lichts strömte zwischen den Wänden und Dingen hin und her, den dazwischen liegenden Raum mit einem fast lebenden Etwas ausfüllend. Und wahrscheinlich war es die in jeder

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Historische Zeit im Narrativ

schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtgefühl seines Körpers veränderte, denn dieses immer vorhandene, wenn auch unbeachtete Selbstgefühl des Körpers, ohnehin ungenau begrenzt, ging in einen weicheren und weiteren Zustand über. (MoE/B1/1966) Ähnlich wie bei der Episode im Leinsdorfs Palais verändert sich das Raumgefühl des Protagonisten zugunsten einer Erweichung, der Raum fängt an dynamisch zu pulsieren und wird von einer besonderen Zeitqualität ausgefüllt, die den Charakter eines »fast lebenden Etwas« trägt. Ein so beschaffener Raum eröffnet Möglichkeiten für eine prinzipiell andere Art der Handlungen als Reflexionen, Gedanken oder Gespräche, die bisher im Roman dominierten. In seiner Dynamik, welche alles mit allem verbindet, werden Widersprüche aufgelöst. Die Zeit manifestiert sich nicht mehr durch Brüche, Risse und Wiedereinschreibungen des Individuums in die schwer zugängliche, in der Form von kollektiven Imaginationen und Stilbildnissen gegebene Gestalt der kollektiven Zeit, sondern sie wird unmittelbar zugänglich, indem das Raum- und Selbstgefühl des Protagonisten verändert wird: »Es ist ein anderes Verhalten; ich werde anders und dadurch auch das, was mit mir in Verbindung steht!« dachte Ulrich, der sich gut zu beobachten meinte. Man hätte aber auch sagen können, daß seine Einsamkeit – ein Zustand, der sich ja nicht nur in ihm, sondern auch um ihn befand und also beides verband – man hätte sagen können, und er fühlte es selbst, daß diese Einsamkeit immer dichter oder immer größer wurde. Sie schritt durch die Wände, sie wuchs in die Stadt, ohne sich eigentlich auszudehnen, sie wuchs in die Welt. »Welche Welt?« dachte er. »Es gibt ja gar keine!« Es kam ihm vor, daß dieser Begriff keine Bedeutung mehr hätte. (MoE/B1/1966-1967) An dieser Stelle wird die Handlungsstruktur des Romans endgültig umdefiniert: die Veränderung des Protagonisten verändert alles, was mit ihm »in Verbindung steht«. In seinem Handlungsraum verfließen Innen- und Außenwelt, es sind keine Unterscheidungen zwischen der Instanz des Individuums und der Zeit der Welt möglich. Die Einsamkeit des Protagonisten, welche an einer früheren Stelle als schmerzhaftes Gefühl der Trennung von der Welt der Zeitgenossen inszeniert wurde, überwindet diesen Bruch in der Zeitwahrnehmung und geht räumlich über die Grenzen von Ulrichs Persönlichkeit hinaus, umgibt ihn von außen und wächst »in die Welt«, die es auch nicht wirklich gibt. Diese Umkehrung führt an die Grenze des Aussprechbaren: Der Begriff »Welt« verliert seine Bedeutung, und der Protagonist hört auf, nach Worten zu suchen. Die mit Gesprächen und Gedanken ausgefüllte abstrakte historische Zeit des Geistes, der Parallelaktion und Ulrichs Gedankenexperimente kommt an dieser Stelle im Roman zum endgültigen Stillstand und wird von einer anderen Zeitqualität abgelöst, die keine Brüche zwischen dem Protagonisten und der Welt anerkennt. Stattdessen setzt sie beide synthetisch in eine Beziehung zueinander, die keine Beziehung der Reflexion, sondern der träumerischen Handlung sein soll. Auch wenn Ulrich bald darauf aufwacht und den Inhalt des Traums ironisch reflektiert, nimmt sich Ulrich vor, »dieser Geschichte, wenn es sein müßte, mit aller Exaktheit zu begegnen« (MoE/B1/1068).

4. Narration

4.1.5

Zwischenfazit: Historische Zeit im Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«

Im »Mann ohne Eigenschaften« macht sich der Protagonist Ulrich zum Programm, »sich der Unwirklichkeit [zu] bemächtigen«, da »die Wirklichkeit keinen Sinn mehr« habe (MoE/B1/921). Die fiktive Welt des Romans lässt sich insoweit als eine Art »Unwirklichkeit« begreifen, als hier die kollektive Zeit in so abstrakten Kategorien wie Ideenaustausch, Wechsel der Stile, Moden und moralischer Grundsätze Ausdruck findet. In meiner Analyse konzentrierte ich mich auf die narrativen Verfahren, die zur Gestaltung dieser fiktiven Welt beitragen. Zwischen der subjektiv ungreifbaren kollektiven Zeit und dem Bewusstsein des Protagonisten liegt eine Bruchzone der Erfahrung. Mittels narrativer Verfahren werden der kollektiven Zeit bestimmte Qualitäten verliehen und eine Perspektive darauf eröffnet. Hierfür setzt der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« Mechanismen der Wiedereinschreibung der subjektiven in die öffentliche Zeit ein: Er greift auf das Denkinstrument der Generationenfolge und das Motiv der Zeitgenossenschaft zurück; er lässt die Biografie des Protagonisten die kollektive Zeit spiegeln; er spaltet das Romansujet in zwei Stränge nach dem Muster des historischen Romans mit dem Unterschied, dass sein Roman keine politische, sondern die Geistesgeschichte des Zeitalters erzählt. Im Dienste einer solchen Darstellung balanciert der Roman auf der Grenze zum Essay, das zugleich als Reflexionstechnik des kollektiven Wandels und als Faktum von Ulrichs Biografie präsentiert wird. Der essaystische Stil verwandelt sich in eine Erzähltechnik, indem Gedanken und Einfälle ereignishaft werden. Sie werden dem Erleben der Figur einverleibt und als Wendepunkte der Erzählung gestaltet, wobei eine Verschränkung des Kollektiven (Instanz des Gedachten) mit dem Individuellen (Instanz der Figur) stattfindet. Die Positionierung des Gedanken an der Schwelle zwischen dem subjektiven Horizont der Figur und der kollektiven Dynamik macht die abstrakte historische Zeit des »Mann ohne Eigenschaften« zu einem Erfahrungsraum, in dem Figuren mittels Gedanken, Ideen und Einfällen leben und agieren. Das macht den »Mann ohne Eigenschaften« zu einem besonderen Fall für die Narratologie und verleiht ihm innovatives Potenzial für die Erzähltheorie. Diese Erneuerung der narrativen Stilistik erlaubt es, im Roman die Geschichte des kollektiven Umgangs mit Ideen zu erzählen. Bei aller Reflexionsdichte geht es kaum darum, möglichst viele Ideen in die Erzählung zu integrieren, sondern darum, eine Metaebene für die Erkenntnis der Funktionsweise von Ideen zu etablieren. Die Fabel wird in Form von zwei zentralen Sujetlinien strukturiert, wobei die Parallelaktion auf »Erfahrungen mit dem Wesen von Ideen« unterschiedlicher Figuren und das Sujet des Protagonisten auf Utopien und Gedankengängen als Stationen der Handlung aufbaut. In beiden Sujetlinien wird eine Suche durchgeführt: in der Parallelaktion die Suche nach einer »krönenden« Idee und im Sujet des Protagonisten nach dem »Geist des Geistes«. Beide Sujetlinien werden durch die Vorstellung von einem integralen Teil des ideologischen Feldes geprägt, das eine produktive Verteilung intellektueller Energien ermöglichen würde. Diese Vorstellung wird in der Parallelaktion satirisch gebrochen, indem die Fähigkeit idealistischer Weltbetrachtung zur Lösung existentieller Probleme der Menschheit in Frage gestellt wird. Sie wird als Denkpraxis verspottet, bei welcher sich jedes Ide-

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al – wird es konsequent zu Ende gedacht – in sein Gegenteil verkehrt. So orientiert sich General Stumm bei seinen Versuchen, das chaotische Feld der geistigen Produktion zu überblicken, am Ideal der Ordnung. Doch bedeutet die Umsetzung dieses Ideals eine Einschränkung der Beweglichkeit des Geistes, die ihn in den Zustand der Leichenstarre versetzt: »Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über« (MoE/B1/742). Das Begehren nach Ordnung geht mit dem Wunsch nach der Reduktion geistiger Komplexität einher und führt zur Kriegsbegeisterung und SchulterschlussStimmung unter den Intellektuellen. Die geistige Konsolidierung findet also doch statt, doch auf eine Art und Weise, die kaum abzusehen war. Widersprüche und Paradoxien der abstrakten geistigen Realität beeinflussen auch den Verlauf der Liebesgeschichten im Roman. So steht die Liebe zwischen Arnheim und Diotima im Kontext ihrer Bemühungen auf dem Feld der geistigen Produktion. Die Salondame und der Großschriftsteller bilden ein ehrgeiziges Paar und bekommen in der Parallelaktion die Gelegenheit, ihren Lebens- und Liebestraum zu verwirklichen. Auch das Scheitern ihrer Beziehung und seine Kanalisierung im Wunsch nach einer »Erlösung« hängen mit dem Mißerfolg der Parallelaktion zusammen. Obwohl beide Liebenden sich laut Erzähler »auf die eine oder andere Weise jede Sekunde bekommen« könnten (MoE/B1/807), liegt jede andere Lösung als ihre Vereinigung im Geiste der »krönende[n] Idee« (MoE/B1/166) hinter dem Horizont der Erzählung. Das »Hauptthema« des Romans, das Musil in seinem Fontana-Interview als Frage danach formulierte, »wie sich ein geistiger Mensch zur Realität verhalten [soll]«,163 erschließt sich vor diesem Hintergrund als existentielle Herausforderung durch die Realität des Geistes, die von Musil keineswegs im idealistischen Sinne als eine höhere gedacht wird. Vielmehr bietet sie einen gewaltbeladenen Bereich des Unpersönlichen, der sich dem Einfluss einzelner Individuen entzieht, sich unkontrolliert ausbreitet und das Persönliche fortschreitend in seine Bahn zieht. In diesem Kontext degradiert die Vorstellung einer sinnvollen Handlung zu der Frage des Verhaltens gegenüber einer solchen Realität. Sie wird als Minimalforderung an den Protagonisten gestellt, der die Vorgänge des »Seinesgleichen« in der Gestalt der Parallelaktion resigniert betrachtet. Das Ausweichen der Materie der panlogischen kollektiven Dynamik wird im Roman als ein Abweichen vom Paradigma der Zeit erzählt und setzt in dem Moment an, als Ulrich in der Zeitung den Satz vom genialen Rennpferd liest. Seine Weigerung, bei seiner wissenschaftlichen Begabung für den Lauf der kollektiven Zeit eingespannt zu werden, bringt ihn in einen Konflikt mit ihr. Ulrichs Bewusstsein der zeitlichen Dynamik wird im Kontrast zu der Figur Paul Arnheims gesteigert: Beide Figuren vertreten den Anspruch auf geistige Dominanz, unterscheiden sich jedoch in Bezug auf ihr Zeitkonzept. Während Arnheim in der Erzählung die Domäne der Gegenwart besetzt, arbeitet Ulrich eine affirmative Vorstellung des universalen zeitlichen Wandels heraus und hebt somit die Fixierung auf die Gegenwart auf. Dem kollektiven Wandel (der »zum verändern geschaffenen Welt«) wird ein Subjekt entgegengestellt, das diesen Wandel bewältigen und steuern soll (der »zum Verändern geborene Mensch«). Den Eckpunkt bildet dabei die Vorstellung, dass das Subjekt mit Möglichkeiten ausgestattet ist, diesen Wandel mithilfe einer kreativen Strategie zu erfassen und zu be163

»Was arbeiten Sie?« Gespräch mit Robert Musil. Musil, Klagenfurter Edition, Band 14.

4. Narration

einflussen. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer solchen Strategie bietet die Erhebung des Essays zum adäquaten Stilmittel für die Reflexion des kollektiven Wandels. Sein Potenzial wird anhand von Ulrichs Biografie verhandelt, der das essayistische Reflexionsverfahren in Form der »Utopie des Essayismus« eingeschrieben wird. Obwohl dem Essayismus eine große Reichweite für die Analyse der kollektiven Dynamik zugesprochen wird, bringt diese Utopie den Protagonisten auf eine bemerkenswerte Weise in eine existentielle Krise. Ihr vorwiegend reflexiver Charakter lässt den Anspruch auf Wirkung kaum durchsetzen, den der Protagonist als Handlungsinstanz vertritt. In der erzählerischen Inszenierung der Lebenskrise von Ulrich tritt neben der essayistisch-reflexiven Relation zur kollektiven Zeit eine andere Relation auf, die emotional durch die Gefühle der existentiellen Notlage und der Selbstentfremdung markiert wird. Dieses Handlungspotenzial wird in der Erzählung durch die Inszenierung emotionaler und affektiver Zustände des Protagonisten gesteigert. Die Spannung, die durch das fortgeschrittene Bewusstsein der zeitlichen Dynamik und den perpetuierten Wunsch Ulrichs, einen Einfluss auf diese Dynamik auszuüben, aufgebaut wird, entlädt sich in zwei Reformvorschlägen Ulrichs, die sich gegenseitig ergänzen. Ulrichs Programm, Ideengeschichte statt Weltgeschichte zu leben, das er an seine Jugendfreunde Walter und Clarisse heranträgt, bietet dazu das erste Stück; der zweite Vorschlag, ein Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele zu gründen, wird von Ulrich in die Parallelaktion eingebracht. Mit seinen Vorschlägen plädiert der Protagonist für die Reduktion auf das Wesentliche, die dem Ideenchaos der Gegenwart insoweit entgegensteuert, als das Individuum darin das kreative Selektionsund Gestaltungspotenzial bekommt. Dieser Vorgang soll jedoch nicht persönlich sein, sondern nach außen, hin zur allgemeinen Gültigkeit gewendet werden. Er beinhaltet keinen Handlungsplan, sondern lässt sich als planmäßige Verschiebung von festen Bedeutungen begreifen und baut auf der semantischen Unbestimmtheit des Gleichnisses, das als Basiselement der menschlichen Wahrnehmung und der kollektiven Gedankenpraxis thematisiert wird. Mit der Formulierung dieses Vorschlags und dem Auflösen des Vorhabens der Parallelaktion in den Erlösungsphantasien ist das Potenzial des doppelten Sujetbogens erschöpft. Daraufhin beginnt in der Erzählung die Suche nach einem alternativen Konzept für die Romanfortsetzung. Sie wird durch den wiederholten Rückgriff auf die Metaphorik des Bühnengeschehens forciert und von der Idee einer Verbrechens flankiert. Das Verbrechen gilt nach Bachtin als eines der Vermittlungsmuster historischer Zeit; in Musils Interpretation bringt das Verbrechen ein ambivalentes Inklusion-ExklusionVerhältnis zwischen dem Individuum und der kollektiven Zeit in der Gestalt der sozial geltenden moralischen Werte und Verhaltensnormen hervor. Ein solches Verbrechen ist den materiellen oder persönlichen Interessen enthoben; ihm kommt vordergründig symbolischer Wert zu, bei dem sich die Pole der subjektiven Zeiterfahrung und der kollektiven Zeit nicht mehr gegenüberstehen, sondern ineinander umkehren. Eine solche Umkehrung wird im Roman auf der Bildebene, in zwei Visionen Ulrichs inszeniert. In der räumlichen Inversion, die Ulrich in Leinsdorfs Palast erlebt, kehren sich zwei Theaterbühnen des Inneren und Äußeren ineinander, die Menschenmenge schreitet direkt durch den Protagonisten hindurch. In Ulrichs Traum, den er am Ende der Episode in seinem Haus hat, wird eine Handlungslogik vorgestellt, die auf den

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Historische Zeit im Narrativ

sinnlichen Eindrücken beruht und den Charakter eines universalen Gleichnisses trägt. Eine solche Handlung bedarf keiner vermittelnden Struktur von symbolischen Übertragungen und Wiedereinschreibungen des Subjekts in den Horizont der kollektiven Zeit und wird in der Fortsetzung des Romans in der Geschichte des Inzests zwischen Ulrich und seiner Schwester Agathe fortgeführt. Warum sich der Verfasser des »Mann ohne Eigenschaften« für die Fortsetzung des Romans zugunsten der vierten Möglichkeit – der Inzestgeschichte zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe – entscheidet, kann in der vorliegenden Arbeit nicht hinreichend erklärt werden. Die Andeutung des Inzests bleibt an dieser Stelle zunächst undeutlich. Vorerst werden im Roman sorgfältig drei konkurrierende Optionen demontiert, von denen jede eine Art subversiven Verhaltens darstellt und in dem Romanprojekt von Beginn an angelegt wurde. Für den Stand, den die Erzählung des »Mann ohne Eigenschaften« an diesem Punkt erreicht, bieten jedoch weder die Befreiung des Prostituiertenmörders Moosbruggers, noch der Mord an Arnheim noch der Ehebruch mit Clarisse eine adäquate Fortsetzungsoption. Die gegenseitige Umkehrung der subjektiven und kollektiven Zeiterfahrung im Traum des Protagonisten setzt die Übertragungs- und Wiedereinschreibungsmuster der historischen Zeit außer Kraft, die in der vorliegenden Untersuchung als produktiver Erzählmechanismus des ersten Romanbuchs betrachtet wurde. Mit ihrer Stilllegung fängt der Prozess der Vereinfachung der Erzählweise an, die Irmgard Honnef-Becker thematisiert hat: »Die Konzentration auf die Geschwister führt anscheinend zu einer Abnahme der Vielfalt der Erzähltechniken«.164 Damit nimmt jedoch gleichzeitig auch die Distanzierung vom politischen Geschehen ab. Das Ereignis des Krieges rückt näher, wenn der Protagonist plötzlich merkt: »Wie mit einem Blick durch ein rasch geöffnetes Fenster fühlte er, was ihn wirklich umgab: die Kanonen, die Geschäfte Europas« (MoE/B2/259). Die Dringlichkeit, mit der die Belange der politischen Geschichte an den Leib des Protagonisten heranrücken, verbindet sich mit der Kritik an der Art der Ideengeschichte, die das erste Buch des Romans dominierte: Die Vorstellung, daß sich Menschen, die in dieser Weise lebten, je zu einer überlegten Navigation ihres geistigen Schicksals zusammentun könnten, war einfach nicht zu bilden, und Ulrich mußte einsehen, daß sich auch die geschichtliche Entwicklung niemals in einer solchen planenden Verbindung der Ideen vollzogen habe, wie sie im Geist des einzelnen Menschen zur Not möglich ist, sondern stets vergeudend und so verschwenderisch, als hätte sie die Faust eines groben Spielers auf den Tisch geworfen. (MoE/B2/259) Diese Absage an die Idee einer »planenden Verbindung der Ideen«, die sogar für den Einzelnen fraglich, geschweige denn kollektiv möglich ist, hängt mit der allgemeineren Kritik »dieses Denken[s] nach theoretischer Art« zusammen. Durch die ironische Distanzierung von allem, was »verdächtig an eine gewisse ›Enquete zur Fassung eines leitenden Beschlusses und Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung‹ [erinnerte]« (MoE/B2/259), werden in der Erzählung alternative Handlungsmus-

164 Honnef-Becker: Ulrich lächelte, S. 58.

4. Narration

ter heraufbeschworen, deren Findung einen Umschwung der bisher etablierten Erzählweise des »Mann ohne Eigenschaften« nach sich ziehen müsste. Als Hinweis darauf, in welche Richtung die neue Konzeptualisierung verläuft, kann der Dialog der Geschwister Ulrich und Agathe an der Schwedenschanze betrachtet werden. Die Gegend, wo im Dreißigjährigen Krieg schwedische Truppen platziert wurden, lösen bei Ulrich keine Anwandlungen von Patriotismus aus, wie man es von einem herkömmlichen historischen Roman erwarten könnte. Der Protagonist versetzt sich hingegen in den Kriegsfeind und bewundert »ein herrliches Gefühl in diesen schwedischen Abenteurern«, »wenn sie nach wochenlangem Traben an einem solchen Ort anlangten und aus dem Sattel zum ersten Mal ihre Beute erblickten!« (MoE/B2/114) Das Erreichen des Ziels wird von Ulrich als ein »abenteuerlicher Augenblick« aufgefasst, »wo das Geschehen mit uns durchgeht« (MoE/B2/114). Obwohl solche Augenblicke an sich sinnlos sind, erwecken sie das Gefühl des planmäßigen Geschehens, das »mit uns durchgeht«: Man ist unzufrieden mit seiner Lage; man denkt unaufhörlich daran, sie zu ändern, und faßt einen Vorsatz nach dem andern, ohne ihn auszuführen; endlich gibt man es auf: und mit einemmal hat man sich umgedreht! Eigentlich müßte man sagen, man ist umgedreht worden. Nach keinem anderen Muster handelt man sowohl in der Leidenschaft als auch in den lang geplanten Entschlüssen. (MoE/B2/115) In dieser Passage wird das Muster variiert, das im ersten Buch des Romans der Entwicklung von Gedanken galt. Genauso unerwartet wie der Eintritt des Gedankens gestaltet sich der Eintritt einer Handlung, egal ob man »in der Leidenschaft« oder nach »den lang geplanten Entschlüssen« handelt. Besser ließe sich die Verschiebung der narrativen Grundlage der Erzählung kaum beschreiben: Sie setzt an die Stelle der komplexen Übergänge zwischen den Instanzen der Zeiterfahrung einen Handlungsablauf, der als Ergebnis eines psychischen Automatismus gedacht wird. Diese Transformation des Handlungsbegriffs zeigt, dass sich die Handlung des zweiten Buchs keineswegs als private Geschichte zwischen Ulrich und Agathe verstehen lässt. Obwohl sich die Erzählung vorwiegend von den Mustern der Salonerzählung entfernt, werden die Begegnung und die Gespräche der Geschwister im Garten mit Inhalten aufgeladen, die weit entfernt von der privat-familiären Semantik liegen. Berndt Hüppauf hat bereits 1971 darauf hingewiesen, dass »der ›andere Zustand‹ kein privates Problem der Geschwister [ist]« und »in die Zeit hinein[gehört]«.165 Diese These wurde von der jüngsten Forschung bekräftigt, so weist Norbert Christian Wolf 2011 darauf, dass die Intimität des »anderen Zustands« nicht in Widerspruch zu sozialen Verbindungen überhaupt, sondern zu den herkömmlichen Vorstellungen eines scharfen Antagonismus zwischen nivellierender Gesellschaft auf der einen und subjektiver Authentizität auf der anderen Seite [steht].166 Somit überspielt die Problematik des ›anderen Zustands‹ exakt die Gegenüberstellung zwischen dem Subjekt und dem Sozium; die Struktur der Bezüge zwischen ihnen ver165 Hüppauf: Von sozialer Utopie zur Mystik, S. 144. 166 Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 952.

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Historische Zeit im Narrativ

ändert sich, die Geschichte der Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe entwickelt sich zu einem multimodalen Unternehmen, das die überkommenen Polaritäten des Seinesgleichen u.a. durch ein alternatives Modell ersetzen soll. Die Figur der Schwester steht in einem gedanklichen Kontinuum zu Ulrich, welches »sogar die ›Urheberschaft‹ von Gedanken und Gefühlen verschwimmen lassen«167 , und spielt in ihrer Weiblichkeit für die oben besprochene Nivellierung der Oppositionen zwischen der kollektiven und subjektiven Zeit insoweit eine Rolle, als sie in ihrer Biografie »die geschlechtsspezifische Teilung zwischen öffentlich und privat« radikalisiert und in der Konsequenz das »typisch weibliche Sozialisationsmuster« ablegt.168 Wohin diese Entwicklung auch führen könnte oder sollte, macht sich lange vor dem Tod des Autors eine gegenläufige Entwicklung bemerkbar, die den Übergang zur Handlung behindert. Wie Walter Fanta schreibt, steht in der Fortzsetzung der Inzestgeschichte die Methapher der Reise dem Bild des Gartens entgegen: Ein dynamisches Prinzip liegt im Leben und in der Erzählung in der Reise, sie ist Bewegung, in ihr wird alles erst sein, sie beruht auf ungewissen Plänen. Der Garten bildet den Kontrapunkt dazu. Im Garten herrscht Statik, Starre.169 Vom Gleichgewicht beider Möglichkeiten ist das Kapitel »Atemzüge eines Sommertags« gezeichnet; es steht am Ende der Entwicklung von Musils letzten Jahren, im Verlaufe welcher »die Erzählbewegung von der Schreibbewegung aufgesogen [wird].170 Das Anhalten der zeitlichen Dynamik wird im Kapitel als eine Vermischung der Gezeiten im Bild des vom Blütenschnee übersäten Gartens inszeniert, in dem, wie zunächst Hartmut Böhme aufgefallen ist, eine »Verräumlichung der Zeit« stattfindet.171 Das Thema der Geschwisterliebe wird mit der Sprache der Mystik kontaminiert; in der Zeitstruktur der Letzteren dominiert die Ewigkeit der göttlichen Ekstase, die auf einem direkten Wege, ohne die Umleitung durch die sozietär geprägte Wissenschaftspraxis zur Erkenntnis führen soll. In der Ewigkeit wird die Bewegung der Zeit aufgehoben; mit der Stillegung der Zeitprogression wird aber auch die Erzählprogression unmöglich. Die Reise der Geschwister und der Vollzug des Inzests werden suspendiert. Wie die Fortsetzung der Geschichte des Mannes ohne Eigenschaften aussehen könnte und inwieweit sie in eine »Beziehung zu der Zeit gesetzt werden« kann,172 bleibt offen.

167 Ebd., S. 947. 168 Ebd., S. 742-743. 169 Fanta, Walter: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans »Der Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil, Klagenfurt: Drava 2015, S. 349, H.i.O. 170 Ebd., S. 336-337. 171 Böhme: Die »Zeit ohne Eigenschaften«, S. 29. 172 Vgl. hierbei die Option der verstärkten Anbindung der Inzestgeschichte zwischen Ulrich und Agathe an die »Zeit«, die in Musils Notizen aus dem Jahr 1932 angesprochen wird: »Schilderung der auf den Krieg zutreibenden Zeit muß die Unterlage geben, auf der U/Ag spielt, die Problematik des aZ-Kreises muß in stärkere Beziehung zu der der Zeit gesetzt werden, damit man sie versteht u. nicht bloß für eine Extravaganz hält.« (II/8/70. Musil, Klagenfurter Edition, Transkriptionen & Faksimiles, datiert 1932)

4. Narration

4.2

Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«: »Sein ganzes Leben lang hatte diese verdammte phantastische Wirklichkeit ihn gehindert, sich selbst zu finden…«173

Die Ansätze zum Vergleich zwischen Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« und Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«, die ich in der Einleitung aufgeführt habe, hoben die Ähnlichkeit beider Protagonisten »ohne Eigenschaften« hervor. In meiner Lektüre von Gorʹkijs und Musils Romanen erkläre ich diese Ähnlichkeit durch die Verankerung beider Protagonisten in der abstrakten historischen Zeit des Ideenwandels, vor deren Hintergrund der Protagonist einen Auftrag erfüllt. Ich sehe die Erzählmodalitäten beider Romane von der Aufgabe beeinflusst, die kulturelle Realität im Modus der historischen Zeit in einen Handlungsraum zu verwandeln. Eine solche Anlage des Romans stellt die Erzähler vor ähnliche Problemstellungen in Bezug auf die Erzähltechnik. An erster Stelle ist hierbei die Unzugänglichkeit der kollektiven Zeit aus der Perspektive des Subjekts zu nennen. In beiden Romanen wird die kollektive Zeit als abstrakte Zeit des Wandels in den Geschmacksvorlieben, in der Moral und im Ideenbestand inszeniert. Einen solchen Epochenbegriff pflegt der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« mit dem Begriff »Geist« und dem Attribut »geistig« zu bezeichnen. In Gorʹkijs Roman entspricht ihm eher der Begriff des Kulturellen, der ähnlich wie Musils Roman Künste, Wissenschaften, Massen- und politische Kultur einschließt. Die Inszenierung dieser »phantastischen Wirklichkeit« in den ersten Kapiteln des »Klim Samgin« wird im ersten Kapitel untersucht. Besonders die Szenen von Samgins früher Jugend sind durch die Präsentation unterschiedlicher Kulturkonzepte geprägt; der Auftrag der Kulturdiagnose verwandelt sich im dritten Kapitel mit Samgins Umzug nach St. Petersburg in eine sujettragende Struktur. Im zweiten Kapitel untersuche ich die Anfänge dieses Sujets und definiere es in der Parallellektüre zum »Mann ohne Eigenschaften« als Sujet der Suche nach einer Idee für die russische Revolution. In seiner Dynamik ist dieses Sujet auf die spezifische Funktionalität von Dialogen und Polylogen im Roman angewiesen, die ich mit der essayistischen Erzähltechnik des »Mann ohne Eigenschaften« vergleiche. Zusammen mit der biografischen Linie des Protagonisten ergibt sich im Roman die doppelte Sujetführung; auf ihre Logik und ihren Verlauf gehe ich im dritten Kapitel ein. Neben den Fragen der Fabelkomposition spreche ich die zentralen Befunde über das Werden der russischen Revolution an, die im »Klim Samgin« zum Ausdruck gebracht werden. Zum Abschluss beobachte ich im Kapitel die Demontage der historischen Zeit, die in Gorʹkijs Roman – ähnlich wie in den letzten Kapiteln des ersten Buchs vom »Mann ohne Eigenschaften« – im Massengeschehen der ersten russischen Revolution von 1905 stattfindet, und gebe einen Ausblick auf die alternativen Möglichkeiten der Romanfortsetzung, die sich außerhalb des Paradigmas der historischen Zeit anbieten.

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KS/B2/1094.

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Historische Zeit im Narrativ

4.2.1

Kultur als Lebenswirklichkeit – die abstrakte historische Zeit in den ersten Kapiteln des Romans

Am Anfang des »Klim Samgin« steht die Exposition der Romanhandlung in zwei Kapiteln, die sich auf die Zeit von der Geburt des Protagonisten bis zum Abschluss des Gymnasiums beziehen. An dieser Stelle scheint »Klim Samgin« am wenigsten mit dem Aufbau des »Mann ohne Eigenschaften« vergleichbar, da vorwiegend szenisch, mit einem großen Aufgebot an Dialogen erzählt wird. Jedoch besitzt dieser Romanteil die gleiche Funktionalität wie die ersten Kapitel des »Mann ohne Eigenschaften«: Er führt durch eine Anzahl von Episoden aus der Kindheit und Jugend des Protagonisten in die fiktive Wirklichkeit ein, die den Charakter der kulturellen Wirklichkeit trägt und durch den Wandel der Weltentwürfe, Ideen und Ideologeme definiert ist. Sie wird von Gorʹkij als Lebensrealität der intellektuellen Schicht in Russland inszeniert, die im Nachklang der Narodniki-Bewegung den Imperativ der Selbstaufopferung für das Volk nicht mehr so ernst nimmt und nach neuen Ideal- und Führungsbildern sucht. Die Aufgabe des Protagonisten besteht darin, sich in diesem höchst diffusen ideologischen Feld zu orientieren. Samgin wohnt dabei von klein auf den ideologischen Diskussionen im Salon seiner Eltern bei; die Konstruktion dieser spezifischen Beobachterrolle und des Konflikts rund um die fiktive Persönlichkeit des Protagonisten erfolgt unter dem Rückgriff auf die Problematik des Erfindens, die Samgin prägt. Gleichzeitig bietet das Sich-Erfinden ein Merkmal der kulturellen Realität, die im Roman in der Diskrepanz zwischen dem Idealen und dem Alltäglichen betrachtet wird.

4.2.1.1

Die Namensgebung und das Essay

Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin« fängt in gemächlich-epischem Ton mit der Geburt des Protagonisten an, wobei die Jahreszeit – Herbst – zusammen mit der Datierungsangabe im Untertitel des Romans »Vierzig Jahre«174 auf den Herbst 1917 und somit auf das Ereignis der Oktoberrevolution hinweist. Eine solche temporale Rahmung bietet einen ähnlichen Erzählgriff, wie er im »Mann ohne Eigenschaften« anhand der Datierung August 1913 vorgenommen wurde, die auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 hindeutet. Obwohl die Dauer der Zeitspanne in beiden Romanen unterschiedlich lang ausfällt, stellt das Vorausgreifen auf die zukünftige gesellschaftliche Krise und Demontage des Imperiums am Ende der Erzählung eine wichtige temporale Charakteristik beider Romane dar. In Gorʹkijs Roman wird sie als eine zeitliche Übereinstimmung zwischen dem Lebenslauf des Protagonisten und dem Werden der russischen Revolution interpretiert, der auf seinem Lebensweg unterschiedliche Stationen ihrer Entwicklung durchläuft. Ihre Darstellung ist eng an Samgins Wahrnehmungshorizont gebunden: Der Leser erfährt nichts, was Samgin nicht sehen/wissen kann.175 174

175

Vgl. Zu den religiösen Konnotationen dieses Untertitels: »Certainly the use of ›forty years‹ in Gorkyʹs subtitle imparts religious overtones to this account of Klim Samgin’s wanderings.« (Scherr, Barry P.: Maxim Gorky, Boston, Mass.: Twayne Publ. 1988, S. 109) Laut Helene Imendörffer stand die Entscheidung zum personalen Roman nicht von Anfang an fest, sondern reifte erst während der Arbeit an »Klim Samgin« heran. Imendörffer führt eine Reihe von Beispielen an, in denen die Erzählperspektive von einer Figur auf die andere überspringt. Beispielhaft dafür ist laut Imendörffer auch die essayistische Einstiegspartie, die im vorliegenden

4. Narration

Doch steht der Protagonist, der die Funktion der Fokalisierung der romaninternen Wirklichkeit übernehmen soll, vorerst noch nicht zur Verfügung. Andrej Sinjavskij hat diese erzähltechnische Behinderung treffend auf den Punkt gebracht: »Klim ist zu klein, damit in seiner Wahrnehmung […] komplexe Epochenphänomene dargestellt werden könnten«.176 Zwar wäre die Beobachtung der fiktiven Welt aus der Perspektive des neugeborenen Kindes erzähltechnisch zumindest denkbar; doch ist die Realität des »Klim Samgin«, die im Modus der Ideengeschichte entfaltet werden soll, durch eine solche Perspektive nicht einmal ansatzweise erzählerisch greifbar. Vom neugeborenen Samgin führt zunächst kein Weg auf die Ebene der kollektiven Zeit. Der Erzähler des »Klim Samgin« steht also – eher zufällig als bewusst – vor dem gleichen Dilemma, das der Erzähler der ersten Kapitel des »Mann ohne Eigenschaften« bei seinem Spiel mit den Lesererwartungen ironisch adressiert: die Wahrnehmung der kollektiven Zeit. Diese Problematik wird im »Mann ohne Eigenschaften« durch die Einführung des beobachtenden Protagonisten und die Entfaltung des Epochennarrativs in den anschließenden Kapiteln in ein narratives Muster übersetzt, dass sich quer durch den Roman wiederholt und die kollektive Zeit, wenn auch nicht intelligibel, so zumindest erzählbar macht. Im Gegensatz dazu bleibt in »Klim Samgin« die Stelle der fokalisierenden Instanz von Anfang an nicht unbesetzt und wird vom Erzähler auf zwei unterschiedliche Weisen ausgefüllt: verhüllt in der Szene der Namensgebung des Protagonisten sowie unmittelbar in einer essayistischen Passage, in welcher der Erzähler den kulturellen Bestand der Zeit zusammenfasst, in die der Protagonist hineingeboren wird. In der Szene der Namensgebung kurz nach der Geburt von Klim Samgin nimmt sein Vater, der – so der erste Satz des Romans – »das Originelle« liebt, einen Namen nach dem anderen durch und kommt schließlich auf den Namen »Samson«, der für ihn eine bestimmte Bedeutung hat: »Er […] lauschte lächelnd dem bösen Pfeifen des Herbstwindes, dem kläglichen Quäken des Kindes. ›Ja, Samson! Das Volk braucht Helden.‹« (KS/B1/7) Unmittelbar nach der Geburt des Protagonisten kündigt sich also die ideologische Umgebung an, in die er symbolisch durch den Namen »Samson« – »das Volk braucht Helden« – eingeschrieben werden muss. Das Ideal des Dienstes am Volk wird an der Stelle zusätzlich durch die Anwesenheit der Hebamme präsent, die eine große Autorität in der Bewegung der Narodniki besitzt; doch anstatt seinen Sohn mit dem Namen »Samson« diesem politischen Programm einzuschreiben, ändert Samgins Vater seine Absicht und nennt seinen Sohn »Klim«. An diesem Namen haftet zwar das gleiche Pathos der Volksanbetung – er wird von einigen Familienmitgliedern explizit als »zu einfach, bäuerlich« abgewertet.177 Doch wird der Name gleichzeitig mit dem Wort »Keil«

176 177

Kapitel analysiert wird (Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 167-168). Allerdings bleibt unklar, warum Gorʹkij diese Textpartie in ihrer prominenten Platzierung am Anfang des Romans nachträglich nicht bearbeitet und an der Wahrnehmung Samgins ausgerichtet hat. Синявский: О художественной структуре, S. 139-140, Fußnote 4. Der Name »Klim« wird im Roman vermutlich wegen seiner Verbreitung unter der Landbevölkerung als bäuerlich gewertet, geht jedoch auf das lateinische »Clemens« zurück und bedeutet »gnädig, der Sanftmütige«, vgl. Горбаневский, М.В.: Ономастика в художественной литературе. Филологические этюды, Москва: Изд. УДН 1988, S. 50-51.

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Historische Zeit im Narrativ

(russ. »клин«) assoziiert und enthält die semantische Komponente des Beengt-Seins und des Sich-Eindrängens zwischen zwei Seiten. An einer späteren Stelle werden die Implikationen dieses Namens treffend bezeichnet: »Er hatte es gelernt, seine Meinung geschickt zwischen ja und nein zu stellen« (KS/B1/81). Das Einzelgängertum des Protagonisten wird zusätzlich durch den Familiennamen »Samgin« (russ. »сам« – »Selbst«) hervorgehoben.178 Gleichzeitig bezeichnet der Name »Klim« einen, der in der Enge seiner Psyche die Fülle der romaninternen Realität bündelt und fokalisiert. Doch bevor der Protagonist die dafür notwendige Reife erlangt, springt der Erzähler für die Dauer von zwei Seiten ein und fasst in einem essayistischen Fragment den Bestand der Zeit zusammen, die auf die frühe Kindheit von Samgin fällt. Dieses essayistische Fragment nach der Art des »Mann ohne Eigenschaften« stellt für die Erzählung des »Klim Samgin« eine absolute Ausnahme und daher einen interessanten Sonderfall dar. Die Situation, in der sich der Erzähler direkt zu Wort meldet und seine Sicht auf die epochalen Zustände darlegt, gibt ein anschauliches Beispiel dafür, wie der Roman ohne die spätere durchgängige Perspektivierung durch die Figur von Samgin aussehen könnte. In demselben Ton, den man aus den publizistischen Schriften Gorʹkijs kennt, fasst der Erzähler den Verlauf und den Nachklang der politischen Bewegung der Narodniki-Generation zusammen, die er als »Zeit des verzweifelten Kampfes um Freiheit und Kultur« (KS/B1/8) bezeichnet. Damit wird in der Erzählung das Thema der symbolischen Hinterlassenschaft der Vorgängergeneration weitergeführt und als Frage nach der Fortsetzung der politischen Linie und dem Befolgen der Gebote der Väter gestellt. Die Ziele der Narodniki-Bewegung werden vom Erzähler als Verteidigung der Kultur bezeichnet. Die Formulierung »Zeit des verzweifelten Kampfes um Freiheit und Kultur« weicht einige Zeilen später dem Wortlaut »die um die Freiheit der Kultur kämpften« (KS/B1/9), und so liegt die Verbindung zwischen politischer Freiheit und Kultur auf der Hand, um die es dem Erzähler des »Klim Samgin« geht. Im Lichte dieses Ideals erscheinen die propagandistische Aufklärung des Dorfes sowie die Terroranschläge und der Mord an dem Zaren Alexander II. als Tätigkeit einer ganzen Generation russischer Intellektueller im Dienste der Kultur, die vom Erzähler umso stärker hochgehalten wird, als der »Kampf gegen den riesenhaften, seelenlosen Mechanismus der Zarenmacht« zur Zeit von Samgins früher Kindheit in einer Sackgasse endete. Der Niedergang der Narodniki-Bewegung wird als Autoritätsverlust in der Bevölkerung beschrieben: »Viele schlossen unverzüglich und wohlüberlegt ihre Türen vor den Übriggebliebenen jener Gruppe von Helden, die gestern noch Begeisterung erregt hatten, heute aber nur kompromittieren konnten« (KS/B1/9). Doch zeigen sich die wahren Ausmaße dieses Niedergangs an der Verschiebung der gesellschaftlichen Polemik von der zentralen Frage der Narodniki-Bewegung – der »Be178

Vgl. auch die Interpretation der zweiten Silbe des Namens »Samgin« von Marianne Girod, die »gin« auf das Verb »gibnutʹ, dialektal: ginutʹ« (deutsch »eingehen, hinschwinden«) zurückführt und den Namen wie folgt interpretiert: »Einer der sich selbst zugrunde richtet.« (Girod: Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«, S. 114) Vgl. außerdem die Darstellung der Genese des Namens Klim Samgin über mehrere Zwischenstufen bei Турута, И.И.: »В творческой лаборатории А. М. Горького. Авторская правка антропонимов«, in: Карпенко, М.А. (Hg.), Русское языкознание. Республиканский межведомственный научный сборник. Вып. 16, Киев: Вища школа 1988, S. 70-76.

4. Narration

deutung der Persönlichkeit für den Entwicklungsgang der Geschichte« (KS/B1/10) – zu den Fragen der Selbsterkenntnis und des individuellen Seins in Folge Herbert Spencers und Friedrich Nietzsches. Die geistige Dimension dieser Niederlage wird durch Referenzen auf Fëdor Dostoevskij (»Demütige dich, stolzer Mensch!«) und Lev Tolstoj mit seiner Aufforderung, »dem Übel nicht zu widerstehen«, verstärkt zum Ausdruck gebracht. Die Abkehr vom aktiven politischen Geschehen und die Hinwendung zur Selbsterkenntnis hält der Erzähler »in einem Land, in dem die Mehrzahl der Herren ebensolche Sklaven waren wie ihre Diener« (KS/B1/9) offenbar für eine weniger erfreuliche Tendenz. Bedeutsam ist jedoch nicht so sehr eine solch explizite Stellungnahme des Erzählers, die angesichts Gorʹkijs politischem Engagement weniger überrascht, wie die Art, wie der Erzähler diese Entwicklungen ausmacht. Sie stellen ungeachtet der inhaltlichen Differenz eine Analogie zu dem Vorgehen des Erzählers des »Mann ohne Eigenschaften« dar, für den sich – wie man bereits gesehen hat – der kollektive Wandel aus der Dimension der »sozialen Zwangsvorstellungen« und Wunschbilder ableitet. Der Erzähler des »Klim Samgin« greift dieselbe Materie des flüchtigen »man glaubte« auf, indem er literarische Vorlieben als Zeichen der Zeit interpretiert. Die Ablösung der Begeisterung für Nikolaj Nekrasov und Volksliteratur, die den führenden literarischen Trend der Narodniki-Generation bildete, durch Dostoevskij und Tolstoj signalisiert für den Romanerzähler zwar eine Niederlage der Idee der aktiven Beteiligung an der politischen Geschichte, ihre Schilderung eröffnet aber gleichzeitig den Zugriff auf die mentalitätsgeschichtliche Dimension der Zeit um die Jahrhundertwende. Mit dem Wechsel der geistigen Mode geht auch ein stilistischer Wandel einher. Die Geschichte der Narodniki-Generation mit ihrem pamphletistischen Tonfall verlieh den Figuren, die als Helden und Opferbringer dargestellt wurden, eine gewisse Monumentalität. Diese Geschichte der politischen Taten und großen Entbehrungen wird in »Klim Samgin« nicht mehr erzählt: Sie bricht nach der zweiseitigen essayistischen Partie ab, um im Roman nie wieder in Erscheinung zu treten. Dies lässt sich in gewisser Weise als Glücksfall für den Roman interpretieren. Durch die zweifache Verschiebung – vom Namen Samson zu Klim und von der Perspektive des essayistischen Erzählers zur Fokalisierung durch den Protagonisten – wird das Muster der pathetisch-heroischen Erzählung mit seinem prognostizierbaren Verlauf gegen die satirisch-groteske, weitaus intrikatere Sichtweise auf die Entstehung der russischen Revolution eingetauscht. Die satirisch-groteske Perspektive macht sich sofort bemerkbar, wenn Samgin die Rolle des Fokalisierers im Roman übernimmt. Am Anfang erscheint die Komik beinahe selbstverständlich, da die fiktive Welt durch die Augen des Kindes Samgin verfremdet wird. Doch unterscheidet sich die Realität, mit der sich Samgin bereits im zarten Alter auseinandersetzen muss, nicht wesentlich von der Welt der Salondebatten, in welcher sich der erwachsene Protagonist bewegt. Zu den ersten Lebenseindrücken Samgins gehört das Erscheinen der Gäste im Wohnzimmer seines Elternhauses. Jeder der Gäste tritt auf seine eigentümliche Art und Weise in das Wohnzimmer ein, was der Szene einen dramaturgischen Charakter gibt. Zunächst geht es um »irgendwelche unfrohen, ungeselligen Leute«, die »sich in die Zimmerecken, ins Halbdunkel [setzten], wenig [sprachen] und unangenehm [lächelten]«. (KS/B1/10) Sie sehen für Klim »wie Soldaten ein und derselben Kompanie«

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aus, und ihre Ähnlichkeit wird durch die ehrfürchtige Haltung vor der Hebamme verstärkt, die im Zimmer »majestätisch« erscheint. Nach ihr kommt »breitschultrig und vollbärtig« der Mieter Warawka herunter, der sich »schwerfällig, vorsichtig« bewegt und vorher sorgfältig den Stuhl [prüft], ob er auch fest genug sei« (KS/B1/11). Doktor Somow erscheint mit seiner Musterfrage, ob »alle wohlauf« seien, und »schr[eite]t ins Zimmer«; danach »erscheint hinter seinem Rücken« seine Frau, die sich »vor allen Anwesenden im Zimmer wie vor den Heiligenbildern in der Kirche« verneigt. »Unauffällig und unerwartet« verdichtet sich irgendwo »in der Ecke, im Halbdunkeln« die Gestalt von Samgins Lehrer, dem Philosophen Tomilin auf, worauf die letzte Figur – »das stets aufgeregte Fräulein Tanja Kulikowa« – ins Zimmer »hineinrennt«. An der Portraitierung der Erwachsenen, die scharfsinnig Details ihres Verhaltens aufzeichnet und sie ins Groteske verdreht, zeigt sich bereits beim ersten Aufleuchten im Roman die Schlüsseleigenschaft von Samgins Bewusstsein – der Hang zum Lächerlichen und Absurden. Die groteske Verzerrung dient der Orientierung im Halbdunkel des Salons, wo sich seltsame Figuren bewegen und unendliche und hitzige Gespräche miteinander führen. Von seinen ersten Schritten an fungiert der Protagonist als Beobachter der Salondiskussionen im Hintergrund, kann aber auch bereits als Kind aktiv an ihnen teilnehmen, wenn er Anekdoten oder politische Satiren auf die Regierung vorträgt. Die Beobachterposition, aber auch das Sammeln von Anekdoten, Satiren und Karikaturen bleibt Samgin im Laufe des gesamten Romans erhalten. Das Haus wird dabei als ein Ort aufgefasst, der zwar mit der psychischen Realität des Protagonisten korreliert (der heranwachsende Samgin merkt, dass auch das Haus mitwächst, und dass sich in ihm unbekannte Ecken auftun), aber nie vollständig ihm gehört. Das Haus der Eltern Samgins sowie alle Häuser und Wohnungen, in denen sich Samgin im Laufe der Romanhandlung aufhält, sind von vornherein von zahlreichem Figurenpersonal bewohnt. Die Funktionalität dieser Orte ist im Roman an Tätigkeiten eines schöngeistigen Salons gebunden, in dem Begegnungen und Gespräche stattfinden. Das Haus spiegelt dabei insoweit die kollektive Zeit, als es in seinen Wänden Gespräche rund um Ideen und gesellschaftliche Trends beherbergt. Darin werden literarische Moden oder aktuelle wissenschaftliche Theorien neben politischen Programmen und Prognosen diskutiert. Eine solche Auffassung der kollektiven Zeit als Domäne des Geistes, der sich anhand der Kleidermoden, Ideentrends und publizistischen Schlagworten zeigt, ist auch im »Mann ohne Eigenschaften« vertreten, wenngleich in einer viel expliziteren Form der essayistischen Passagen. Der Erzähler des »Klim Samgin« hingegen bleibt nach dem essayistischen Einstieg und der Einführung des Elternhauses Samgins weitgehend versteckt hinter den Kulissen des Romans.

4.2.1.2

Die Gebote der Väter: Selbstaufopferung im Dienste des Volkes

Von seinen ersten Schritten an wird Samgin im Salon seiner Eltern in die Atmosphäre der Diskussionen im Nachklang der Narodniki-Bewegung getaucht, die von starker Skepsis gegenüber den Zielen der Bewegung geprägt ist. Die Narodniki sehen ihre Mission in der Volksaufklärung und versuchen, dieses Ziel mithilfe von Propaganda, der Ansiedlung von Propagandisten als Lehrer, Ärzte u.ä. in den Dörfern sowie der Gründung eigener Kolonien, bis hin zu organisierten Terroranschlägen auf die Regie-

4. Narration

rungsmitglieder zu erreichen. Doch erfährt man von diesen Aktivitäten der NarodnikiBewegung im Roman wenig; stattdessen rückt ihr Schlüsselparadigma – das Volk (russ. »народ«) – in den Vordergrund und wird aus der Perspektive des Kindes ironisch gebrochen. Der kleine Samgin erlebt das Volk während eines Volksmarktes als eine bunte Menge, die sich – anstatt zu leiden – amüsiert. Also zieht er den Schluss, dass das Volk aus seiner unmittelbaren Umgebung nichts mit dem leidenden Volk der Literatur und der geselligen Gesprächsrunden im Haus seiner Eltern zu tun hat. Doch findet er eine Figur, die für ihn das leidende Volk vertritt: der Obdachlose Vavilov, ein starker Greis, der bettelnd in der Stadt umherzieht und Erwachsenen als Drohbild für ihre Kinder dient. Die Ironie ist in diesem Fall Bestandteil einer literarischen Polemik: Sie zieht eine Abgrenzungslinie gegen die Schriftsteller der Narodniki-Generation, in deren Milieu Gorʹkij seine literarische Laufbahn antritt. Dass sein Geschichtsbewusstsein in den Narodniki-Zirkeln geformt wurde, beschreibt Ljudmila Spiridonova in ihrer Untersuchung »Maksim Gorʹkij. Dialog mit der Geschichte«. Spiridonova schildert detailliert Gorʹkijs allmähliche Distanzierung vom Gedankengut der Narodniki und seine Kritik an der Idealisierung des Volkes in der zeitgenössischen Literatur.179 Die Schriftsteller unter den Narodniki stellten das ländliche und patriarchale Leben der Bauern verklärt dar. Die Namen von Innokentij Omulevskij, Nikolaj Zlatovratskij und Gleb Uspenskij finden im »Klim Samgin« mehrmals Erwähnung, oft in einer ironischen Brechung. Karikiert wird vor allem die behauptete Volksnähe der Narodniki: So muss der Schriftsteller Katin, der Erzählungen aus dem Leben des einfachen »Volkes« verfasst, der ironischen Aussage einer Figur nach Bastschuhe anziehen, weil das für die Inspiration notwendig sei. Der Autor des »Klim Samgin« nutzt also die Wahrnehmung Samgins, um ironische Kritik am Volksverständnis der Narodniki-Literatur zu üben. Der Protagonist muss sich dabei bereits im Kindesalter mit der Existenz von Ideologemen auseinandersetzen. So prägt das Denkparadigma des Volkes die Beziehung Samgins zu seinem Vater, der seinem Sohn nicht nur einen volkstümlichen Namen gibt, sondern ihm die moralische Pflicht nahe legt, sich für das Volk zu opfern. Die biblische Erzählung von Abraham und Isaak erklärt Iwan Samgin im allegorischen Sinne als eine Parabel über das Volk und die Intellektuellen, die dazu verpflichtet sind, das Volk durch Aufopferung von seinen Leiden zu befreien: »Gott ist das Volk, Abraham – der Führer des Volks; er opfert seinen Sohn nicht Gott, sondern dem Volk. Siehst du, wie einfach das ist?« Ja, das war sehr einfach, aber es gefiel dem Jungen nicht. Nach einigem Überlegen fragte er: »Du sagst doch, das Volk ist ein Märtyrer?« »Na ja! Darum fordert es auch Opfer. Alle Märtyrer fordern Opfer, alle und immer.« »Warum?« »Närrchen! Um nicht leiden zu müssen. Das heißt, damit man das Volk lehrt, zu leben, ohne zu leiden«. (KS/B1/20)

179

Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 11-16.

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Historische Zeit im Narrativ

Die Erklärung ist zwar einfach, sie gefällt Klim jedoch nicht: Durch die politisierte Interpretation des biblischen Sujets und die kindlich-naiven Fragen Klims rückt das leidende Volk, das die Opfer verlangt, damit es nicht leiden muss, in ein komisches Licht. Die Komik steigert sich, wenn der Vater die Allegorie auf Familienangehörige und Bekannte erweitert: Klim dachte von neuem nach und fragte dann vorsichtig: »Bist du Führer des Volkes?« Diesmal überlegte der Vater und kniff dabei ein Auge zu. Doch er überlegte nicht lange. »Siehst du, wir sind alle Isaaks. Ja. Zum Beispiel Onkel Jakow, der verbannt wurde, Marija Romanowna und überhaupt – unsere Bekannten. Nun, nicht alle, aber die Mehrzahl der Intellektuellen ist verpflichtet, ihre Kräfte dem Volk zu opfern…« Der Vater redete lang, doch der Sohn hörte gar nicht mehr zu. Von diesem Abend an erschien ihm das Volk in einem neuen, nicht weniger nebelhaften, jedoch noch etwas unheimlicheren Licht als vorher. (KS/B1/20, kursiv – m. Ü., fehlt bei Ruoff) Der Vater muss über seine Antwort nicht lange nachdenken, da sie ihm bereits auf der Zunge liegt: Sein Bruder Jakov, seine Freunde und Bekannten nehmen an der Narodniki-Bewegung teil und erleben dabei politische Repressionen von Regierungsseite. Auch Klim scheint für die Rolle eines Revolutionärs prädestiniert zu sein; doch bereits dem kleinen Klim gefällt die Rolle des Opfers nicht. Die Geschichte von Abraham und Isaak, in der die Figuren des Gottes und des Vaters für den Sohn zwei lebensbedrohliche Instanzen darstellen, geht als festes Leitmotiv in den Roman über und signalisiert für den erwachsenen Samgin eine gefährliche Lage zwischen dem anonymen, zur Quasi-Gottheit stilisierten Volk und zahlreichen politisch engagierten Intellektuellen, die sich und andere im Dienste ihres Glaubens opfern. In der sowjetischen Rezeption des Romans wurde dieses Motiv folgerichtig als Begründung der »objektiv antirevolutionären, volksfremden Position« von Samgin verstanden,180 da die Kritik von der imperativischen Verpflichtung zum politischen Engagement ausging. Nach der politischen Wende der 1990er Jahre wurde in der Forschung die Frage aufgeworfen, ob dieses Motiv nicht Gorʹkijs eigene Zweifel zum Ausdruck bringt, dass die »russische Intelligenz« zum Opfer der Geschichte« werden könnte.181 Damit wurde eine neutralere Perspektive auf das Opfer-Motiv in Gorʹkijs Roman ermöglicht, die seine Funktion hinterfragt. Wie N.V. Nekorkina darlegte, führt der Einsatz solcher »symbolisch-allegorischen Verallgemeinerungen« zu einer Verdichtung des Romantextes, der kompakt ist und trotzdem komplex und »polyphon« wirkt.182 Das Opfer-Motiv dient im Roman also zum einen dazu, die Aufgabe des Opferbringens abzuwehren und sich vom gedanklichen Erbe der älteren Generation zu distan180 Вайнберг, И.И.: »Литературные мотивы в романе ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Михайловский, Б.В./Тагер, Е.Б. (Hg.), Горьковские чтения. 1958-1959, Москва: Издательство АН СССР 1961, S. 324-349, hier S. 348. 181 Колобаева, Л.А.: »›Жизнь Клима Самгина‹. Автор и герой«, in: Келдыш, В.А. (Hg.), Неизвестный Горький. (К 125-летию со дня рождения), Москва: Наследие 1994, S. 287-300, hier S. 299. 182 Некоркина, Н.В.: »Характер сюжетно-композиционной мотивации в ›Жизни Клима Самгина‹ М. Горького«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), Горьковские чтения – 88. Материал конференции »M. Горький-художник и современность«, Горький: Изд.-во ГГУ 1988, S. 99-106, hier S. 106.

4. Narration

zieren. Zum anderen wird das Motiv für den Erzähler zum Mittel, den Protagonisten erneut auf die Probe zu stellen. Zur ersten Probe kommt es bereits in Samgins Kindheit: Der kleine Klim sieht tatenlos zu, wie sein Spielfreund Boris Warawka beim Schlittschuhlaufen durch das Eis bricht und ertrinkt. Die Hilfestellung würde Klims eigenes Leben in Gefahr bringen, deshalb beobachtet er bloß, wie Boris im eiskalten Wasser versinkt. Die herangeeilten Helfer können den Jungen nicht entdecken und fragen verwundert, ob es ihn überhaupt gab. Der Satz »Ist denn ein Junge dagewesen, vielleicht war gar kein Junge da?« (KS/B1/77) wird im weiteren Verlauf des Romans von Samgin immer wieder ins Gedächtnis gerufen. Wie Barry Scherr zu Recht hervorhob, weist die Szene auf die Unfähigkeit Samgins hin, selbstlos zu handeln.183 Der Satz »Ist denn ein Junge da gewesen?« macht die Taktik der Schuldverdrängung des Protagonisten kenntlich, der zum selbstlosen Handeln nicht fähig ist. »Als ein magischer Spruch, der die Fragwürdigkeit des Menschen ahnen lässt«,184 taucht er vor allem in den Situationen auf, wenn der Protagonist zu einer eindeutigen Stellungnahme gedrängt wird, und kann als Mittel zur kritischen Hinterfragung von Idealen und Leitbildern gelesen werden. Im letzteren Sinn ist der Satz »Byl li malčik?« in der russischen Kultur verbreitet und wird dann zitiert, wenn Zweifel an der Existenz abstrakter Begrifflichkeiten, Leitbilder oder unzureichend dokumentierter Tatsachen bestehen. So setzte der Schriftsteller und Publizist Dmitrij Bykov diesen Spruch spielerisch ein, als er seine Monografie über Gorʹkij mit »Ist denn ein Gorʹkij da gewesen?« (»Byl li Gorʹkij?«)betitelte, in der er sich mit dem Propagandabild des sowjetischen Schriftstellers, des Begründers des sozialistischen Realismus und seinem Untergang in der Perestrojka auseinandersetzte.185

4.2.1.3

Das Erfinden des Selbst

Die Fähigkeit Samgins, Ideale und Leitbilder zu hinterfragen, ist essenziell für die Darstellung der Salonrealität, die vom Wechsel gesellschaftlicher Trends in Form von Vorlieben für bestimmte Gesprächsthemen geprägt ist. Samgin achtet von früher Kindheit an auf die Art des Sprechens und differenziert zwischen unterschiedlichen Formen der Selbstinszenierung der Redner. »Zweifellos der Klügste von allen« (KS/B1/16) ist daher einer, der nie jemandem zustimmt und jeden belehrt. Auch die bildlichen Vergleiche der Worte mit »Bier- und Kwaßschaum« und »Ladenschildern« (KS/B1/16) sind für den Beobachtungsmodus von Samgin typisch und treten im Roman in Form von zahlreichen gegenständlichen Analogien der gesprochenen und geschriebenen Worte auf. Die Gegenständlichkeit der Worte geht dabei mit einer Konzeption des Hauptprotagonisten einher, die seine Identität und seinen Charakter als erdacht und erfunden darstellt. Eine Schlüsselfunktion kommt hierbei dem Motiv des Erfindens zu. Der kleine Klim beginnt »ziemlich früh zu merken, daß die Wahrheit der Erwachsenen etwas Unwahres, Erdachtes enthielt«. (KS/B1/18) Das betrifft nicht nur solche ideologischen Konzepte wie das Volk, sondern auch Selbstdarstellungen der Erwachsenen. So betreibt

183 Scherr: Maxim Gorky, S. 108. 184 Rühle: Literatur und Revolution, S. 34. 185 Быков, Д.Л.: Был ли Горький?, Москва: АСТ 2008.

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Historische Zeit im Narrativ

Samgins Großvater eine Waisenschule, über deren Bedeutung er gerne spricht, die jedoch Klim bei einem Besucht enttäuscht: »Es schickte sich zwar nicht, den Großvater für einen Schwadroneur zu halten, aber Klim tat es«. (KS/B1/21) Auch die Erzählungen der Großmutter über ihre glanzvolle Vergangenheit enttäuschen Samgin, der sich in seiner Meinung verfestigt: »Ja, es war alles nicht so, wie die Erwachsenen es erzählten« (KS/B1/22). Vor allem merkt Klim, dass die Erwachsenen nicht nur etwas über sich, sondern auch Geschichten über ihn selbst erfinden, an die er sich nicht erinnern kann: Aus dem, was Vater, Mutter und Großmutter den Gästen erzählten, erfuhr Klim nicht wenig Erstaunliches und Wichtiges über sich: Es stellte sich heraus, daß er sich, als er noch ganz klein gewesen war, schon auffällig von seinen Altersgenossen unterschieden hatte. (KS/B1/12) Das Werden von Samgins Persönlichkeit wird im Roman als Erfinden des Kindes Samgins durch die Familienangehörigen erzählt, die ihn als einen außergewöhnlichen Jungen darstellen. Samgin kann sich nicht entsinnen, »wann er eigentlich gemerkt hatte, daß man ihn erdachte«, und fängt an, »sich zu erdenken« und sich »seine besten Einfälle« zu merken. (KS/B1/15) Um zu gefallen, verwendet er mehrmals die gleichen Geschichten und übernimmt sie von anderen Kindern. Dabei erklärt der Vater Samgin, dass »alles Schöne auf Erden erdacht sei« (KS/B1/14). Der Sohn merkt also, dass auch »die Spielsachen, das Konfekt, die Bilderbücher, die Verse, alles [erfunden war].« (KS/B1/15) Diese ironische Pointe deutet auf die für die Poetik des Romans äußerst relevante Frage nach dem Status des Erfindens und der Fiktion. Die fiktive Wirklichkeit des Romans ist auf die Darstellung von Phänomenen spezialisiert, die einen abstrakten Charakter haben und nicht ohne weiteres auf ihren Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt hin geprüft werden können. Dieser Realität wird ein Protagonist entgegengestellt, der zunächst durch die Angehörigen und dann durch sich selbst erdacht wird und einen Persönlichkeitsentwurf bietet, der sich in seiner Virtualität mit dem spezifischen Charakter der fiktiven Wirklichkeit des Romans trifft. Samgin wird auch in seinen reifen Jahren permanent von der Angst heimgesucht, er könnte sein Selbst verlieren, mit einem Doppelgänger verwechselt werden oder in einer Menschenmenge untergehen. Wie Armin Knigge zu Recht betonte, ist grundsätzlich zu fragen, inwieweit »der Held« […] überhaupt als eine geschlossene psycho-physische Einheit, als eine Person also, angesehen werden kann. Problematisch ist diese Auffassung schon allein deshalb, weil der Persönlichkeitsverlust (das Fehlen von »Eigenschaften«) zu den Grundzügen des Helden im modernen Roman gehört.186 Im Kontext dieser Untersuchung erscheinen diese Zweifel durchaus berechtigt. Sowohl in »Klim Samgin« als auch im »Mann ohne Eigenschaften« werden den Protagonisten Charaktereigenschaften von außen als Aufprägungen der kollektiven Denk- und Imaginationspraxis auferlegt, wobei sich der eigenschaftslose Protagonist permanent in der Situation des Ichverlustes befindet. In Musils Roman entspringt die Romanhandlung der biografischen Krise des Protagonisten Ulrich, der in einen Zwist mit seiner Zeit 186 Knigge: Der Autor und sein Held, S. 148.

4. Narration

gerät. In »Klim Samgin« ist die Figur des Protagonisten von Anfang an krisenhaft und wird in Form von verschiedenen entfremdeten Entwürfen seines Selbst präsentiert, die durch Angehörige und Bekannte erstellt werden. Außer diesen fremden Zuschreibungen existiert im Roman keine andere Konzeption der Psyche des Protagonisten und seiner Charaktereigenschaften. Obwohl Klim als Kind »selbstvergessen spielen« (KS/B1/25) kann, fühlt er sich beim Spielen von ihnen beobachtet und passt sich den Erwartungen an: »Es schien ihm immer, als beobachteten ihn die Erwachsenen und erwarteten von ihm besondere Worte und ein besonderes Verhalten« (KS/B1/25). Die Funktion des »erfundenen« Protagonisten besteht in der Beobachtung von Salondiskussionen; ähnlich wie Ulrich im »Mann ohne Eigenschaften« läuft er dabei Gefahr, in der Erzählung nicht mehr als Figur greifbar zu werden, sich in der flüchtigen Materie der Romandialoge als stummer Beobachter aufzulösen. Wenn »die leere Seele« Samgins – so der ursprüngliche Titel des Romans – vom Leser dennoch als ein Persönlichkeitsentwurf wahrgenommen wird, so spielen dafür grundsätzlich zwei Faktoren eine Rolle. Der erste Faktor – Samgins Abweichen von den Geboten der Vätergeneration – wurde oben bereits erläutert: Der Protagonist bewegt sich im Horizont des kollektiven Wandels, in dem die Vorliebe für heroische Taten und der Imperativ zur Selbstaufopferung der Intellektuellen im Dienste des Volkes plötzlich an Bedeutung verlieren. Der Niedergang der Narodniki-Bewegung mit ihrem heroischen Pathos bringt den Protagonisten im Kontext der Gebote der Väter quasi um sein Schicksal; die Geschichte vom Intellektuellen Samgin weicht von dem Muster ab, in dem er sich für das Wohl der Gemeinschaft aufopfern sollte. Diese Abweichung wird dem Roman durch das permanente Aufrufen des Opfermotivs eingeschrieben. Der zweite Faktor besteht in der Fähigkeit Samgins, auch anderen schwierigen Situationen der moralischen Wahl, in die er vor allem in seinem privaten Umfeld gerät, zu entkommen. Der Protagonist wird besonders greifbar, wenn er niederträchtig handelt, ohne dies bewusst zu tun oder es gar zu merken. So wird er während des Spielens von der Mutter Warawkas, die krank im Bett liegt und das Spiel der Kinder beobachtet, über seine eigene Mutter ausgefragt, die mit dem Vater Warawkas ins Theater gefahren ist. Indem Klim die Fragen beantwortet, verrät er seine Mutter, die eine Affäre mit Warawka hat, und steht als Verräter da, bevor er überhaupt die Fähigkeit besitzt, das Verhältnis seiner Mutter zum Vater Warawkas zu hinterfragen und seinen Verrat bewusst zu begehen. In diesem Zustand wird der Protagonist im weiteren Verlauf des Romans konserviert: Auch dem erwachsenen Samgin wird die Fähigkeit fehlen, die Konsequenzen seiner Handlungen vorherzusehen. Stattdessen wird Samgin als jemand dargestellt, der über die klaren Hinweise hinwegsieht, um keine Verantwortung für die eigenen Taten zu tragen. So hört er wohl das böse Flüstern der eifersüchtigen Glafira Warawka, interpretiert es aber als Zeichen dafür, dass sie gefährlich sei und etwas erfinde. Eine ähnliche Konstellation der moralischen Wahl, an der Samgin ahnungslos vorbeigeht, bietet im ersten Buch des Romans eine weitere Episode aus Samgins Zeit am Gymnasium. Er verrät den Schüler Inokow, der das Fenster des Inspektors einschlug, tut dies allerdings indirekt, indem er einen Freund über den Täter ausfragt und den Schatten des Inspektors ignoriert, der hinter der Ecke hervorschaut. Der moralischen Wahl und der Strafe, der Samgin auf diese Art und Weise entkommt, muss sich hingegen Samgins Gegenspieler Boris Warawka stellen, der im Militärinternat von den an-

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Historische Zeit im Narrativ

deren Schülern übel zugerichtet wird, die ihn fälschlicherweise des Verrats an seinen Kameraden beschuldigen. Samgin nimmt das schwere Leiden seines Spielgenossen, das angesichts seiner Unschuld noch gesteigert wird, als Anlass zum Spott. Diese Fähigkeit des Protagonisten, Situationen der moralischen Wahl auszublenden, wurde in der Rezeptionsgeschichte oft zu Ungunsten des Protagonisten ausgelegt und relativ problemlos auf die Belange der russischen Revolution übertragen, wenn es galt, Samgin als Renegaten zu stigmatisieren. Mit einer solch wuchtigen Rhetorik spielte Andrej Sinjavskij in seinem Aufsatz über »Klim Samgin«, in dem er zwar musterhaft die Dogmen der sowjetischen Samgin-Forschung reproduzierte, doch unterschwellig eine ketzerische Botschaft einschleuste: Nimmt man an, dass Samgin in seiner Beeinflussung durch monarchistische Ideen wie der Historiker Koslow die Schwarze Hundert anführen oder in seiner Feindschaft gegenüber der Vernunft neben Marina Zotowa an den Ritualen der Chlysty teilnehmen oder in seinen idealistischen Ansichten zum religiösen Heuchlertum von Lidija Warawka vordringen würde, dann sieht man klar: bei einem derart scharfen, bestimmten Bekenntnis zu einer reaktionären Richtung könnte Samgin die zentrale Rolle des »Spiegels« in der Figurenkomposition des Romans kaum erfüllen.187 Laut Sinjavskij muss Samgins Figur zwielichtig bleiben, da eine satirische oder ideologische Zuspitzung verhindern würde, dass er die zentrale Funktion eines »Spiegels« ausführt, in dem sich alle – oft radikale und sich gegenseitig ausschließende geistige Tendenzen der vorrevolutionären Zeit – gleichsam erblicken lassen.188 Damit verlagert Sinjavskij die Frage nach der moralischen Haltung des Protagonisten auf eine andere Ebene. Er weist zu Recht darauf hin, dass ein Protagonist mit einem klaren ideologischen Bekenntnis kaum neutral beobachten könnte. Es besteht also offensichtlich eine Korellation zwischen der »unbestimmten«, »verwaschenen« ideologischen Position Samgins und der fiktiven Realität des Romans, der die Breite der russischen Geistesgeschichte reflektieren soll. Die zentrale Rolle des Protagonisten Samgin hob Helene Imendörffer in ihrer detaillierten narratologischen Studie zur »perspektivischen Struktur« des »Klim Samgin« hervor. Imendörffer sah in »Klim Samgin« einen Bewusstseinsroman, dessen zentrale Problematik im »Verhältnis von Bewußtsein und Wirklichkeit« liegt.189 Imendörffer folgt in ihren Ausführungen keinem spontanen und unreflektierten Wirklichkeitsbegriff und wirft bereits am Anfang der Untersuchung die Frage auf: »Was aber ist im Roman »real« zu nennen?«190 Sie definiert Wirklichkeit explizit als »alles, was an den Helden von außen herantritt, d.h. sinnlich wahrgenommen wird«.191 Auffällig an dieser

187 Синявский: О художественной структуре, S. 135-136. 188 Das Verfahren der Spiegelung wird in der Forschung als zentrales Element der Figurenkomposition in »Klim Samgin« betrachtet, vgl. Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 17-18, 102. M. Ermakova hat dieses Verfahren auf das Phänomen des Doppelgängertums in Dostoevskijs Romanen zurückgeführt. (Ермакова: Традиции Достоевского в русской прозе, 109ff.) 189 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 59. 190 Ebd., S. 36. 191 Ebd., S. 61.

4. Narration

Definition ist die Tatsache, dass das Bewusstsein des Protagonisten, das sich irgendwo »innen« befindet und Eindrücke der Umwelt empfängt, keinen Status des Wirklichen besitzt. Diese Annahme läuft jedoch der von Imendörffer proklamierten Nähe von »Klim Samgin« zum Bewusstseinsroman zuwider. Erscheint die fiktive Wirklichkeit des Romans als phänomenale Welt von Samgins Bewusstsein, so muss man darauf schließen, dass diese Welt in den Begriffen der Untersuchung von Imendörffer unwirklich ist. Hingegen sind aus dieser Perspektive die Phänomene als wirklich anzusehen, die sich außerhalb des Bewusstseins von Samgin und somit auch außerhalb der Romanerzählung befinden. Diese abstrakte Kasuistik rund um den Wirklichkeitsbegriff soll an dieser Stelle erlaubt sein, denn sie hat konkrete Auswirkungen auf den Verlauf der narratologischen Erzählanalyse. Geht es Imendörffer darum, zu bestimmen, wann das Bewusstsein des Protagonisten hervortritt, so unterscheidet sie grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung und Verarbeitung der Wirklichkeit. Das erste bezieht sich auf die Formeln, mit denen der Protagonist als optisches, akustisches oder wertendes Wahrnehmungszentrum kenntlich gemacht wird. Das zweite schließt Reflexion und Rede ein, die Imendörffer als Verarbeitung der wahrgenommenen Wirklichkeit versteht: »Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist […] Auseinandersetzung mit dem sinnlich Wahrgenommenen, seine Umsetzung in bzw. Bewältigung durch Rede und Reflexion«.192 Also stellt sie Samgins Bewusstsein der »außerhalb des Bewußtseins des Helden vermittelte[n] Wirklichkeit«193 entgegen, die sie im Roman in erster Linie durch szenisches Erzählen und Dialoge repräsentiert sieht. Laut Imendörffer stellt der Dialog als »bewußtseinsunabhängige Darbietungsform« ein Mittel dar, »die Rede einer anderen Person ungebrochen, also nicht in der Wiedergabe durch ein aufnehmendes Bewußtsein gebrochen, mitzuteilen«.194 Besonders den Polylog sieht sie als »im personalen Roman […] ein sehr naheliegendes Verfahren« an, da »er noch stärker als der Dialog die Gelegenheit gibt, das personale Medium weitgehend auszuschalten«.195 Aus der Differenz zwischen Samgins Bewusstsein und der in Szenen und Dialogen »hervortretenden Wirklichkeit« ergibt sich für Imendörffer ein Spannungsfeld zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten, das der Distanzierung des Erzählers gegenüber seinem Protagonisten dient. Diese Argumentationsweise, die zunächst logisch erscheint, wird von der Verfasserin selbst untergraben, wenn sie in ihrer genauen Analyse wesentliche Textbefunde aufzeichnet. Sie geht von dem Hervortreten der bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit im Romantext aus und muss gleichzeitig feststellen, dass die Darstellung der Szenen im ersten Kapitel »einer szenisch nicht gebundenen Reflexion folgt« (wessen Reflexion?).196 Sie betrachtet die Umsetzung von Dialogen in Szenen und weist ausdrücklich auf die Details hin, die Samgin dort als Beobachter kennzeichnen, wo er der zentralen Annahme der Forscherin zufolge zurücktreten sollte.197 Folgt man Imendörffers These, 192 Ebd., S. 62. 193 Ebd., 137ff. 194 Ebd., S. 138. Imendörffer verweist außerdem auf »Realismus und Naturalismus«, die »den Dialog so geschätzt und als besonders ›wirklichkeitsnah‹ empfunden haben.« (Ebd., S. 139) 195 Ebd., S. 144. 196 Ebd., S. 130. 197 Ebd., 140ff.

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dass die Rede nicht als Wirklichkeitsdarstellung, sondern als Reflexion der Wirklichkeit aufzufassen ist, so müssen in der Konsequenz auch die Äußerungen anderer Figuren als »Verarbeitung« der Wirklichkeit gelten und der Roman also neben der Wahrnehmung des Protagonisten von hunderten weiteren Figuren geprägt sein. Dann können aber Dialoge nicht als »hervortretende Wirklichkeit« gelten und Samgins Reflexion und Rede entgegengestellt werden. Vor allem widerspricht sich Imendörffer aber dann, wenn sie von einem »starke[n] Gegengewicht« spricht, das Gorʹkij »in dem stark auf eine einzige Figur zentrierten Roman« geschaffen habe.198 Hier stellt sich insbesondere die Frage, warum Gorʹkij, der laut Imendörffer einen Bewusstseinsroman schreibt, in ihm ein dermaßen starkes Gegengewicht anstrebt und seiner eigenen Absicht zuwiderläuft. Diese Paradoxien entstehen in der wertvollen, einfallsreichen und zudem noch der einzigen narratologischen Studie zum Roman aus dem Grund, weil hier Reflexion und Figurenrede aus der Wirklichkeitsdarstellung ausgeklammert werden. Der Vorstellung, dass nur sinnliche Eindrücke als real gelten, läuft der Roman – ähnlich wie Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« – zuwider, indem er auf weiten Strecken kaum eine andere Realität als die Darstellung von Rednern, Gesprächsstoffen und Diskussionstaktiken bietet. Eine bessere Lösung bietet Sinjavskij, der das Spezifische des Romans durch die Aufgabe bedingt sah, die Geistesgeschichte der vorrevolutionären Zeit zu erzählen.199 Gorʹkij leitet sein Verständnis der kollektiven Zeit nicht davon ab, was im lebensweltlichen Sinne als »real« gilt, sondern nimmt seine eigene Interpretation der wesentlichen Faktoren der kollektiven Prozesse vor. Wie oben bereits angesprochen wurde und unten noch zu zeigen sein wird, werden im Prozess der narrativen Selektion am Anfang des Romans die Weichen dafür gestellt, was als »real« und erzählwürdig gilt. Laut Armin Knigge ist Klim Samgin besonders durch »seine Fähigkeit« ausgezeichnet, »den in bestimmte Formeln geprägten Zeitgeist aufzunehmen und ihn mit dem unterschiedslosen Interesse eines ›Sammlers‹ zu speichern«.200 In seiner Wahrnehmung wird die spezifische Realität des Zeitgeistes aus Wahrnehmungen, Erinnerungen, Reflexionen des Protagonisten sowie aus einzelnen Gesprächspartikeln zusammenmontiert. Doch behält Imendörffer zweifelsohne bei ihrem Leseeindruck Recht, dass die Figur Samgins in den Dialogpartien des Romans zurückzutreten scheint. Auch wenn diese Passagen keineswegs als »Wiedergabe« von Gesprächen zu verstehen sind und einer starken Selektion und Raffung unterliegen, drängen sie die Präsenz des Protagonisten in den Hintergrund. Einen ähnlichen Effekt habe ich in meiner Analyse des »Mann ohne Eigenschaften« als erzähltechnisches Problem beschrieben, das im Versinken des reflektierenden Protagonisten in der Materie der kollektiven Denkpraxis besteht. Für »Klim Samgin« hat diesen Effekt Jürgen Rühle beschrieben, als er in seiner Untersuchung auf den besonderen Status der Figur Samgins hinwies:

198 Ebd., S. 144. Dabei polemisiert Imendörffer gegen das Dogma der sowjetischen Gorʹkij-Forschung, im Roman eine »Gegenwelt« zu suchen. (Ebd., S. 35) 199 Sinjavskijs Ansatz wird von Imendörffer als nicht überzeugend verworfen, vgl. ebd., S. 167. 200 Knigge: Der Autor und sein Held, S. 149.

4. Narration

Klim ist im Grunde nichts als der Brennpunkt eines solchen Systems von Spiegeln, ähnlich der Geistererscheinung, die ein Magier in den leeren Raum projiziert. Klim hat keine eigene Substanz, er existiert nur in seinen Reflexen zur Umwelt […].201 Ähnlich wie Rühle problematisiert Tatjana Gavriš in ihrer Dissertation zu »Klim Samgin« wiederholt die Zersplitterung des Protagonisten unter dem Druck der zeitgenössischen Wirklichkeit.202 Sie bewertet diese Zersplitterung als Symptom des Verlustes der menschlichen Einheit in der Moderne; im Gegensatz dazu betone ich, dass sich Samgin vor allem in seinen Beobachtungen des ideologischen Umfeldes aufzulösen droht. Das stellt den Erzähler vor die Herausforderung, ihn als Figur zu gestalten. Einer ähnlichen Notwendigkeit, den Protagonisten vor dem Hintergrund der abstrakten historischen Zeit ausreichend zu konturieren, begegnet der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« durch die affektive Aufladung neutraler Gedankengänge, die Ulrich stark als einen erlebenden und emotional beweglichen Protagonisten kenntlich machen. Hingegen wird Samgin, dessen Bewusstsein sich aus der Montage von Gesprächen, Dialogen und Zitaten zusammensetzt, in Gorʹkijs Roman als Figur wahrnehmbar, sobald sein Verhalten moralisch verwerflich erscheint. Bezüglich der fiktiven Biografie des Protagonisten wird man als Leser permanent mit moralischen Fehltritten oder zumindest sehr fragwürdigen Situationen konfrontiert, welche die Dominanz von Samgins Wahrnehmung im Roman hinterfragen und sie ironisch als Prozess der Wirklichkeitsentfremdung reflektieren. Auf die Deutung dieser Textpartien hat sich, wie Armin Knigge formulierte, die sowjetische Gorʹkij-Forschung festgefahren und perpetuierte jahrzehntelang die gleiche, feststehende Lesart: Nach dieser Auffassung werden die Beobachtungen und die wertenden Kommentare Klim Samgins von der übergeordneten Instanz des »objektiven« (d.h. parteilichen) Autors mittels eines Systems indirekter Gegendarstellungen (z.B. Widersprüche in den Äußerungen und im Verhalten des Helden, Urteile anderer Personen u.ä.) permanent als Falsifikationen »entlarvt«.203 Um sich von diesem Schema, welches weitgehend ausgedient hat, zu lösen, soll an dieser Stelle insbesondere auf die Funktionalität von ambivalenten Stellen im Roman hingewiesen werden. Die Bewertung von Samgins Verhalten (und nicht, wie von Imendörffer behauptet, bloß seiner »Bewußtseinsvorgänge«204 ) setzt einen Mechanismus in Gang, der die Übereinstimmung zwischen Samgins Reflexionen und Handlungen hinterfragt. Dadurch tritt die Persönlichkeit Samgins weitaus schärfer zutage, als es bei einem Protagonisten möglich wäre, der nur das Wahre tut und spricht. Dass zwischen Klugheit und Niederträchtigkeit bei Gorʹkij eine konzeptuelle Nähe besteht, wies eine linguistische Untersuchung der Reihe »klug – dumm – wunderlich« in Gorʹkijs Wortschatz nach. Ihre Autoren heben hervor, dass in Gorʹkijs Stücken

201 202 203 204

Rühle: Literatur und Revolution, S. 36. Гавриш: »Жизнь Клима Самгина«, S. 11, 92, 132, 140, 187. Knigge: Der Autor und sein Held, S. 145. Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 108.

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kluge Menschen unmoralische Handlungen begehen: Sie verbreiten falsche Gerüchte, vertreiben Verwandte und schaden ihnen, versuchen, die Reichen auszunutzen oder machen Luft zu Geld.205 Diese Beobachtung lässt sich auf »Klim Samgin« übertragen. In der Paradoxie, dass Samgin die gemeinsame Handlungsebene mit seinen Zeitgenossen erreicht, wenn er sich niederträchtig verhält, liegt der humoristische Zug von »Klim Samgin«. Der ironischen Äußerung Gorʹkijs zufolge sollte gerade diese Konstellation dem Autor den Fluch der Intellektuellen für die Ewigkeit einbringen (TIP/45). Die Sorge Gorʹkijs darüber, Samgin übertrieben karikiert dargestellt zu haben,206 weist auf das Bemühen um eine sanfte Ironie hin, was von der sowjetischen Forschung allerdings mit tödlichem Ernst aufgenommen wurde. Diese Ironie schließt die Tendenz zur selbstironischen Haltung ein: Indem Gorʹkij in seinem Roman kritisch den Prozess der symbolischen Kodierung der Wirklichkeit durch die Vertreter der intellektuellen Schicht betrachtet, kann er sich selbst wohl kaum vollständig aus diesem Milieu ausnehmen.207 Zu berücksichtigen wäre außerdem die Tatsache, dass Samgins Beobachtungen des Habitus von Rednern auf Gorʹkijs Beobachtungen zurückgehen; der Protagonist bietet dem Autor die Gelegenheit, sie erzählerisch zu inszenieren. Somit lassen sich die Zweifel von Helene Imendörffer aufheben, »ob es legitim ist, Klim Samgin die Welt so ›dichterisch‹ sehen zu lassen«.208 Da die romaninterne Wirklichkeit aus der Perspektive des durch andere Figuren erfundenen und sich selbst erfindenden Protagonisten gestaltet wird, bieten sich dem Romanerzähler unbegrenzte Gestaltungsspielräume, die er durchaus auszunutzen weiß.

4.2.1.4

Samgins Jugendfreunde: Kulturbegriff und Liebessemantik

Neben dem Protagonisten Samgin spielen seine Jugendfreunde eine große Rolle in der Komposition der Erzählung. Die Mitglieder dieser Gruppe begleiten den Protagonisten im Verlauf des gesamten Romans, teilen und kommentieren die gleichen Erlebnisse, einige davon werden in einzelnen Episoden zu seinen Doppelgängern stilisiert. Diese Figurengruppe wird im zweiten Romankapitel, das der Schulzeit und der Jugend des Protagonisten bis zum Abschluss des Gymnasiums gewidmet ist, durch den Rückgriff auf das Motiv der Zeitgenossenschaft konstituiert. Die Jugendfreunde nehmen an Gesprächen teil, in welchen unterschwellig ein Streit um die Grundlagen der Kultur geführt wird, und werden in dieser Episode in einige Liebesgeschichten verwickelt, 205 Борисова, М.Б./Бахмутова, Н.И./Хижняк, Л.Г.: »Концептуальный ряд ›умный‹ – ›дурак‹ – ›чудак‹ как фрагмент идеологического словаря М. Горького«, in: Герд, А.С./Лутовинова, И.С. (Hg.), Межкафедральный словарный кабинет имени проф. Б. А. Ларина, Санкт-Петербург: СПбГУ 2004, S. 47-56, hier S. 50. 206 Vgl. »Mir scheint, ich habe Samgin überzogen dargestellt, was ich nicht beabsichtigte und nicht will.« (Zitat im Original: »А Самгина я, кажется, уже перемучил, чего вовсе не хотел и не хочу,« aus einem Brief Gorʹkijs, zit.n. POČK, S. 86). 207 Vgl. Jürgen Rühles Hinweis darauf, dass Gorʹkij sich trotz seiner Kritik daran mit dem zeitgenössischen intellektuellen Milieu identifizierte. Vor diesem Hintergrund liest Rühle den Roman als »Abrechnung mit sich selbst« oder »ein[en] Akt der Selbstverständigung und Selbstkritik«. (Rühle: Literatur und Revolution, S. 37-38) 208 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 115.

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die unterschiedliche Auffassungen vom Wesen der Kultur spiegeln. Durch die semantischen Zusammenhänge, welche die Liebesmotive im Kapitel mit der durchgängig präsenten Problematik der Kulturdefinition eingehen, wird der Streit um Kultur in eine szenische Erzählung umgesetzt und in Form der Liebeskonflikte zugespitzt. Betrachten wir diese Erzähltechnik im Einzelnen. Im zweiten Romankapitel wird eine große Anzahl von Liebesgeschichten erzählt: Die Affäre der Mutter Samgins mit dem Vermieter Warawka und ihre Trennung vom Vater Samgins; Lidija Warawkas Liebe zu Igorʹ Turobojew und später zu Konstantin Makarow; Iwan Dronows Liebesaffäre mit der Weißnäherin Margarita; das Verhältnis des Philosophen Tomilin mit einer Witwe; und schließlich die Ehe des Schriftstellers Katin. Diese Verdichtung der Liebessujets auf etwa hundert Seiten Text wird durch Zitate zum Thema Liebe verstärkt.209 Auch populäre Genres des Volkslieds, der Anekdote und eine satirische Paraphrase Giuseppe Verdis »La donna è mobile« finden Eingang in die Romanerzählung, die von Liebessujets und Allusionen auf das Thema übersättigt ist. Formal lässt sich diese Dichte durch die Jugend des Protagonisten erklären, der in drei von fünf der Liebesgeschichten die Rolle des Dritten spielt. Am Anfang des Kapitels werden einer kurzen Charakterisierung von Samgin210 zwei ausführliche Portraits seiner Freunde Makarow und Dronow nachgestellt, die – im Unterschied zu Samgin – beide sowohl begabter sind, als auch früher ein sexuelles Verlangen nach Frauen empfinden. Diese Verbindung zwischen Begabung und ausgeprägtem sexuellen Temperament ist signifikant, da sich an ihm bereits am Anfang des Kapitels der Zusammenhang zwischen der Problematik der Liebe, des sexuellen Begehrens und der Aneignung von Kultur in der Gestalt von Wissen und Bildung zeigt. Mit seinem »plattgedrückten Schädel«, krummen Beinen, breiten Schultern und Knochen wirkt Iwan Dronow als komische Gestalt, der in den Augen Samgins ein Buckel »Vollendung verliehen hätte« (KS/B1/79). Dronows Zimmer bietet eine chaotische Anhäufung von Gegenständen (»Schachteln, Herbarblätter, Mineralproben und Bücher«), was auf den Anspruch ihres Bewohners hinweist, ein Universalgenie in der Art Lomonosovs zu werden. Den Kopf seines Freundes vergleicht Samgin mit einer »alles verschlingende[n] Müllgrube«, wodurch nicht nur sein Neid auf Dronow angedeutet, sondern auch die Stilistik des Niederen rund um Dronows Figur verstärkt wird. Der Freund liest alles, was ihm in die Hände kommt, von Buckle und Darwin bis hin zu den Werken der Kirchenväter und einer »Genealogischen Geschichte der Tataren«. Diese Fähigkeit, »unersättlich »geistige Nahrung« zu verschlingen« korrespondiert mit Dronows

209 Zitiert wird aus Lev Tolstojs »Anna Karenina« und »Die Kreutzersonate«, Gustav Flauberts »Madame Bovary«, Guy de Maupassants »Fort comme la mort«, Arthur Schopenhauers »Metaphysik der Geschlechtsliebe«, Nikolaj Černyševskijs »Was tun?«, Ivan Turgenevs »Erste Liebe«, Aleksandr Puškins »Der Mohr Peters des Großen«, aus der Anthologie »Triumphe der Frauen« mit den Werken von Ovid, Francesco Petrarka, Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio sowie aus den zeitgenössischen Ratgebern für Jugendliche (Menšikovs »Über die Liebe« und Tarnovskijs »Geschlechtsreife, ihre Entwicklung, Anomalien und Krankheiten«). Vgl. dazu den detaillierten Überblick über literarische Allusionen im Roman bei Вай нберг: Литературные мотивы. 210 Samgins Äußeres wird im Roman äußerst selten dargestellt. Wie Helene Imendörffer zu Recht betonte, ist »in einem Roman mit einem Helden, der Wahrnehmungszentrum ist«, »die Wiedergabe [des] Äußeren problematisch«. (Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 106)

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besonderem Appetit beim Essen und wird von Samgin auch auf sein Liebesverhältnis zu Margarita übertragen, wenn Klim sich vorstellt, »wie Dronow beim Küssen schmatzte« (KS/B1/103). In der grotesk-komischen Figur Dronows verschränken sich mehrmals die Merkmale des Niederen – Liebe zur Prostituierten, gastronomischer Appetit, possenhafte Szenen – mit der Fähigkeit, Wissen anzusammeln, und mit dem Anspruch auf Genialität. Im Gegensatz dazu ist die Figur von Konstantin Makarow von Glanz umgeben. Er ist »wohlgebaut und kräftig«, hat »einen leichten, gleitenden Gang wie ein Artist«, seine »dunkelblonden und hellen« Haarschöpfe, die er entgegen den Schulvorschriften nicht kurz schneiden lässt, ragen auf seinem »verbeulten Schädel« nach allen Seiten. Sein Gesicht ist als »nicht russisch«, »scharf umrissen« beschrieben, mit »braunen, freundlich lächelnden Augen« und einem »unlustigen Lächeln schöner, ausgeprägter Lippen« (KS/B1/80). Durch seine Lernerfolge »bezaubert« er die Lehrer, ist eine »Zierde des Gymnasiums« und ein Held für die Gymnasiasten, da er zum einen kaltblütig gegen die Schulregeln verstoßen kann und zum anderen in seinem Alter bereits »trank, rauchte und auch in den schmutzigen Schenken Billard spielte« (KS/B1/80). Aufgrund seines Aussehens, das an dieser und späteren Stellen im Roman ausdrücklich als schön bezeichnet wird, und seiner Talente hat Makarow durchaus Erfolg bei Mädchen, doch er kann ihn nicht ausnutzen. Es scheint, als vertrete Makarow im Gegensatz zu Dronow, bei dem Wissensdurst und sexueller Appetit einhergehen, eine andere Semantik in Bezug auf Sexualität und Liebe, die es ihm nicht erlaubt, seine »niederen Triebe« auszuleben. Dieses Verbot spricht Makarow in einem Gespräch mit Samgin an: »Dieser Trieb, mein Lieber, hat etwas bis zu Tränen, bis zum Ekel vor dir selbst Kränkendes« (KS/B1/82). Der Trieb lässt den Menschen laut Makarow zu einem Tier degradieren: »Ich will mich nicht wie ein Rüde fühlen, ich werde schwermütig und bekomme Selbstmordgedanken, so sieht es aus!« (KS/B1/83) In einer weiteren Analogie zwischen Sexualität und Tierverhalten werden weitere Tierarten aufgeführt: Eine Eselsstimmung. Alles ist unwichtig, außer dem einen. Man fühlt sich nicht als Mensch, sondern nur als eines der menschlichen Organe. Kränkend und widerlich. Als wenn ein Aufseher ermahnte: Du bist ein Hahn, geh also zu deinen Hennen. Ich aber will eine Henne und will auch wieder nicht. (KS/B1/115) Diese Auffassung der Sexualität als ein tierisches Verlangen teilt Makarow mit seiner Geliebten Lidija Warawka. Ähnlich wie Dronows Geliebte Margarita das KomischGroteske ihres Liebhabers spiegelt, wird Lidija vom tierischen Triebverhalten angeekelt: Es war sonderbar, daß sie alle ihre Katzen davon gejagt hatte und daß sich überhaupt in ihrem Verhalten zu Tieren ein krankhafter Ekel zeigte. Wenn sie ein Pferd wiehern hörte, fuhr sie zusammen, verzog das Gesicht und hüllte ihre Brust fest in den Schal; Hunde erweckten bei ihr Widerwillen; sogar Hähne und Tauben waren ihr offenkundig unangenehm. (KS/B1/91) Lidijas Ekel vor den Tieren steht dabei in einem Kontrast zu den früheren Erklärungen des Mädchens, Kinder »werden von den Mamas zur Welt gebracht, wie bei den Katzen« und sie werde »auch Jungen und Mädchen kriegen« (KS/B1/27). Die semantische Nähe zwischen Sexualität und Tierverhalten wird außerdem signalisiert, wenn Lidija von der

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schwangeren Frau des Schriftstellers Katin spricht und sich darüber aufregt, dass sie ihr »fortwährend den Rücken [streichelte], als ob ich eine Katze wäre«. Erschien die Symbolik der Haustiere und des Kindergebärens in der Kindheit Lidijas als natürlich, so wird sie nun von explizitem Ekel begleitet: »Und dann dieser Bauch bei ihr… ich vertrage keine schwangeren Frauen!« (KS/B1/97-98) Sowohl Lidija als auch Makarow erwähnen dabei vor allem domestizierte Tiere, die in unmittelbarer Nähe zum Menschen stehen. Niemals kommt in dieser Reihe ein wildes Tier vor und nie wird Sexualität mit Trieben der wilden Natur, Zügellosigkeit oder Freiheit in Verbindung gebracht. Die semantische Nachbarschaft der Haus- und Nutztiere weist der Sexualität einen Platz im Lebenszyklus zu, der auf Ernährung und Reproduktion beschränkt ist. In ihrer Nähe zum Menschen sind Katzen, Hühner, Esel, Hunde, Pferde an der Dimension des alltäglichen Lebens beteiligt und nehmen durch den regelmäßigen Vollzug der Sexualität an der kleinen, beschränkten und im engsten Sinne privaten Lebensdimension teil. Die Domestikation stellt als Erstellung alltäglicher Routinen eine kulturelle Handlung dar; gleichzeitig gerät sie im Zeichen des Ordinären und Regelmäßigen in einen Gegensatz zu den höheren kulturellen Ansprüchen, die sich über den Alltag erheben. So erkennt Makarow im »Hang zur Frau« ein absterbendes Gefühl: »[…] vielleicht haben wir absterbende Gefühle. Stell dir vor, der Hang zur Frau wäre ein agonisierendes Gefühl, daher wäre es so schmerzlich, so beharrlich, wie?« (KS/B1/119) Weitere Argumente entlehnt Makarow der Anthologie »Triumphe der Frauen«: » ›Der Sieg über den Idealismus war zugleich ein Sieg über die Frau‹. Da ist die Wahrheit! Die Höhe der Kultur wird an der Einstellung zur Frau gemessen – verstehst du?« (KS/B1/120) Die Reflexion über Liebe dient der Diagnose des kulturellen Zustands, der laut Makarow im Idealismus die höchste Stufe erreicht hat und sich im Niedergang befindet. Der Kontrast zwischen der Liebessemantik der Hochkultur, die Makarow und Lidija vertreten, und der sexuellen Alltagspraxis wird zusätzlich durch die Figur des Zimmerwirtes von Makarow gespiegelt, der am Wochenende regelmäßig zunächst das Freudenhaus und danach das Bad besucht. Die Notwendigkeit der nachträglichen Reinigung weist hierbei auf eine moralische Beschmutzung hin; dass sich der Zimmerwirt trotz seiner höheren Bedürfnisse in einer erniedrigenden und alltäglichen Routinespirale befindet, wird dadurch signalisiert, dass er Geige lernen will, aber seit Jahren nur Übungen spielt, weil es seiner Auffassung nach dem Gehör schadet, wenn man zu früh anfängt, Stücke zu spielen. Die Analogie zwischen dem geordneten sexuellen Verhältnis mit Prostituierten und dem Üben auf der Geige äußert Makarow in einem Protestausruf: »Ich will keine Übungen spielen« (KS/B1/115). Als Bordellbesucher gehört der Zimmerwirt der gleichen Klasse wie Iwan Dronow an, der in seinen komisch-bouffonen Zügen und dem Verhältnis zu der heimlichen Prostituierten Margarita das Ordinäre verkörpert und von Makarow als »Pferd« (KS/B1/80) oder »ein Vieh« (KS/B1/114) bezeichnet wird. Gleichzeitig bieten sowohl Dronow als auch der Zimmerwirt wichtige Bezugspunkte für Makarow, der sogar ausdrücklich anmerkt, dass Dronow »etwas für mich aufreizend Unbegreifliches an sich [hat], und das will ich begreifen« (KS/B1/81). Das Balancieren an der Grenze zwischen der hohen Moral des Idealismus und den niederen und ordinären Trieben geht beinahe tödlich aus, wenn Makarow einen Selbstmordversuch unternimmt, allerdings von Samgin gerettet wird.

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Diesen Selbstmordversuch könnte man als Lebensverzicht unter dem Zeichen der Erhabenheit interpretieren, die alles Platte und Niedere des Lebens, also auch die Sexualität abstreift. Eine ähnliche Erklärung dieses Selbstmordes gibt Lidija auf den Vorwurf Samgins hin, sie hätte eine Romanze mit Makarow: »Denkst du denn ernsthaft, daß ich… daß ich mit Makarow ein solches Verhältnis habe? Und begreifst du nicht, daß ich das nicht will… und daß er sich deswegen erschießen wollte?« (KS/B1/10) Lidijas endgültige Abweisung und Makarows versuchter Selbstmord lösen den Konflikt auf und versetzen beide Verliebte in den Szenen der Genesung des Bettlägerigen in ein entrücktes, idyllisches Licht. Die Veränderung des Verhältnisses zwischen Lidija und Makarow spring auf Makarows Zimmerwirt über, der speziell zum Empfang Makarows nach der ärztlichen Behandlung endlich ein »Musikstückchen« auf seiner Geige spielt. Samgin nimmt insoweit an beiden Lebensgeschichten teil, als er heimlich Lidija anbetet und mit Dronows Geliebter Margarita schläft. Er bewegt sich in einem Feld zwischen beiden Jugendfreunden, in dem es neben den Polen des Alltäglich-Niederen und Idealistischen andere markante Interpretationen des Verhältnisses von Sexualität, Liebe und Kultur gibt. Dabei heben sich insbesondere drei Figuren – der Ingenieur Warawka, der Philosoph Tomilin und der Schriftsteller Katin – ab, mit deren Präsentation in der Erzählung solche Aspekte wie kulturelle Aufklärung, Arbeit, Erkenntnis, Schönheit und gesellschaftliches Engagement zusammenhängen. Der Ingenieur und Großhändler Warawka spielt im zweiten Romankapitel insoweit eine große Rolle, als er zur Gestaltung der Liebessujets beiträgt. Er verhindert die Liebe seiner nicht volljährigen Tochter Lidija zu Turobojew und überwacht ihr Verhältnis mit Makarow. Als Liebhaber der Mutter Samgins verdrängt Warawka den Vater aus dem Haus, der zusammen mit dem Bruder Dmitrij und dem Großvater aus der Stadt wegzieht. Die Intrige des Kapitels besteht jedoch darin, dass Klim aufgrund seiner Gefühle für Lidija die Beziehung zwischen seiner Mutter und Lidijas Vater zu zerstören droht, weshalb seine Mutter die Weißnäherin Margarita für die Liebesdienste an ihrem Sohn engagiert. Warawkas Äußerung darüber, dass Klim »kein Romantiker« und »nicht dumm«, sondern bloß das Dienstmädchen im Haus »so eine Vogelscheuche« sei (KS/B1/129), legt die Vermutung nahe, dass Warawka die Mutter Samgins auf diese Idee bringt. Schließlich droht Warawka Margaritas Geliebten Dronow nach Rjazan zu versetzen, weshalb die beleidigte Margarita das Verhältnis mit Klim beendet. Warawka gehört zu den interessantesten Figuren im Roman, vor allem weil er in seiner aphoristischen Ausdrucksweise eine liberal-aufklärerische Ideologie europäischer Prägung zum Ausdruck bringt. Er wird im Kapitel als Erbauer steinerner Häuser präsentiert; der Städtebau wird von ihm seinerseits mit dem Kulturbau aussoziiert: Zehn Städte würde ich bauen. Eine Stadt, meine Liebe, ist ein Bienenstock, in einer Stadt speichert sich der Honig der Kultur. Wir müssen die Hälfte vom Dorfrußland in die Städte aufsaugen, dann werden wir zu leben anfangen. (KS/B1/155) Der Bau von steinernen Städten steht symbolisch für den kulturellen Fortschritt, da sich in den Städten »der Honig der Kultur« speichert. Der Sinn der Kultur liegt laut Warawka nicht in der oberflächlichen Bildung, sondern in der fleißigen Arbeit:

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Kultur, das sind vorläufig Bücher, Bilder, ein wenig Musik und sehr wenig Wissenschaft. Die Kultiviertheit eines Häufchens von Menschen, die sich als »Salz der Erde«, als »Ritter des Geistes« und so weiter bezeichnen, kommt nur darin zum Ausdruck, daß sie nicht laut und unflätig fluchen und daß sie mit Ironie vom Wasserklosett reden. […] Kultur, meine Teuere, das ist Liebe zur Arbeit, und zwar ebenso unbezähmbar gierig wie die Liebe zur Frau… (KS/B1/167) Tamara Belova schrieb über die Nähe zwischen diesen Ansichten Warawkas und Gorʹkijs Einstellung zum westlichen Europa und verfolgte das Thema im Roman bis hin zu Samgins Reisen nach Europa im vierten Buch.211 Im Gegensatz dazu sah N.V. Nekorkina die symbolische Dimension der Figur, deren Name sie auf die neutestamentarische Figur von Barabbas (russ. »Варавва«) zurückführt, als Hinweis auf Gorʹkijs Bewertung der räuberischen Natur der russischen Bourgeoisie an.212 Dabei legt Gorʹkij Warawka seinen eigenen Aphorismus aus dem dritten Teil seiner Autobiografie »Meine Universitäten« in den Mund, wonach die Liebe zur Arbeit mit der »unbezähmbar gierigen Liebe zur Frau« verglichen wird.213 Demnach behält eher Belova Recht, wobei die Charakterisierung der Kultur als Liebes- und Arbeitslust eine mittlere Position im Streit um Kultur und Liebe markiert, bei welcher das aufklärerische Pathos der Hochkultur auf utilitäre Güter (Häuser, technischen Fortschritt, Arbeit) projiziert wird.214 Der praktische Erfolg des Stadterbauers Warawka geht mit einem Erfolg im Privatleben einher: Er schafft es nicht nur, Samgins Mutter ihrem Ehemann auszuspannen, sondern siegt auch über einen weiteren Konkurrenten, den Philosophen Tomilin. Warawka versteht Menschenliebe entgegen der christlichen Auffassung der Nächstenliebe als eine tätige Liebe zum Mitmenschen und Verpflichtung, zu seinem Wohlergehen beizutragen: […] diese Menschenliebe […] hat nichts zu bedeuten und ist nichts wert ohne Haß, ohne Ekel vor dem Schmutz, in dem der Nächste lebt. Schließlich darf man auch nicht vergessen, daß sich das geistige Leben nur auf der Grundlage materiellen Wohlergehens erfolgreich entfalten kann. (KS/B1/167) Laut Warawka erfordert die Menschenliebe, in die bestehende Ordnung der Dinge aus »Ekel vor dem Schmutz« einzugreifen, wobei das »materielle Wohlergehen« geistigen

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Vgl. Белова, Т. Д.: »›Запад – Восток‹ как один из смыслообразующих мотивов в книге М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Демченко, А.А. (Hg.), Изучение литературы в вузе. Сборник статей, Саратов: Научная книга 2007, S. 115-127, hier S. 122. 212 Некоркина: Характер сюжетно-композиционной мотивации, bes. S. 104ff. 213 Zitat im Original: »Работали играя, с весёлым увлечением детей, с той пьяной радостью делать, слаще которой только объятие женщины.« (Г-25/B16/28) 214 Es erscheint dabei nur auf den ersten Blick unlogisch, dass dieses Pathos im Roman einem Vertreter der Oberschicht in den Mund gelegt wird. Auch wenn das Pathos der aktiven Umgestaltung der Welt durch die Arbeit in der sowjetischen Ära als Primat der Arbeiterklasse gesehen wurde, weist der Roman im Gegensatz zur Propaganda eine interessante Detailtreue auf: Die Ideologie der »unbezähmbar gierigen Arbeitsliebe« wird exakt demjenigen in den Mund gelegt, der als Ingenieur den Bau verwaltet, jedoch nicht mit eigener Hand anpacken muss und täglich mit der Arbeitsrealität konfrontiert wird, in der Arbeiter »wie die Sargmacher arbeiten, hastig, nachlässig« (KS/B1/155).

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Fortschritt garantiert. Seine Worte richten sich gegen den zivilisatorischen Anspruch der Intellektuellen, die nichts als »Häufchen von Menschen« sind und sich mit den Bezeichnungen »Salz der Erde« oder »Ritter des Geistes« (KS/B1/167) schmücken. Sie fordern politische »Bildung« des Volkes, ohne zu seinem Wohlstand beizutragen, und hegen laut Warawka den absurden Glauben, »man könne mit der Logik der Worte die Logik der Geschichte beeinflussen« (KS/B1/166). Mit diesen Worten ironisiert Warawka über die Versammlungen beim Schriftsteller Katin. Katin kommt aus dem Narodniki-Milieu, spezialisiert sich auf die Darstellung der »kindlich gutmütige[n] Bauern« (KS/B1/113) und propagiert das Ideal der Freiheit. Sein Äußeres mit dem Russenhemd, Stiefeln und einem Haarschnitt »à la Muschik« wirkt karikaturhaft, die Ironie wird noch deutlicher, wenn die Rhetorik des Schriftstellers parodiert wird: Er erzählte begeistert von der Schönheit der Wälder und Felder, vom patriarchalischen Wesen des Dorflebens, von der Zähigkeit der Bäuerinnen und dem Verstand der Bauern, von der schlichten, weisen Seele des Volkes und davon, wie die Stadt diese Seele vergiftet. (KS/B1/92) Die wuchtige Rhetorik des Schriftstellers wird bildlich durch die Figur seiner »immer schwangeren Frau« reflektiert, die nur tote Kinder zur Welt bringt und somit metaphorisch für ein nicht einlösbares Versprechen der Fruchtbarkeit steht. Diese Analogie gipfelt im Gespräch zwischen Katin und Samgin während der Niederkunft seiner Frau. Im Augenblick, in dem bei seiner Frau die Geburtswehen einsetzen, spricht Katin über die Rückkehr von Samgins Onkel Jakow aus dem politischen Exil. Er verlässt das Zimmer mit dem Ausruf »Jetzt fliegen endlich nach und nach die alten Adler zusammen!« und bittet seinen Gesprächspartner, auf ihn zu warten, da es »bei ihr schnell« geht. Zurück in dem Raum, »brüstet [er] sich«: »Sie gebiert bemerkenswert leicht, aber die Kinder bleiben nicht am Leben!« Daraufhin bezeichnet Katin den Onkel Samgins als einen der »Matrosen auf dem Schiff der russischen Geschichte«, welche »die Fahrt des Schiffes zu den Gestaden der Freiheit und Wahrheit« beschleunigen (KS/B1/113). Die Analogie zwischen den Geburtswehen, aufgeblasener Rhetorik und Totgeburten wirkt in der Passage dermaßen überzogen, dass man zweifeln könnte, ob der Romanautor doch nicht etwas anderes damit sagen will. Doch deutet auch eine weitere Stelle in diese Richtung, bei der Samgins Freund Makarow Katins Redeweise kommentiert: »[…] als er beobachtete, wie der Schriftsteller sich wand und krümmte, sagte er zu Lidija: »Sehen Sie, mit welchen Mühen die Wahrheit geboren wird?« KS/B1/97). Die groteske Analogie zwischen dem physiologischen und rhetorischen Gebären bietet einerseits ein Symptom von Gorʹkijs unversöhnlicher Verbitterung gegen die Rhetorik der Narodniki-Schriftsteller, die sich selbst voreilig als Volksfreunde und politische Führer feiern. Andererseits bietet sie ein weiteres Beispiel für das Auftreten des narrativen Musters, welches das zweite Romankapitel prägt und oben bereits als wiederkehrender Zusammenhang zwischen Liebe, Sexualität und Kultur beschrieben wurde. Auch Samgins Onkel Jakow, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Seitenbau einzieht, versteht das politische Engagement im Dienste des Volkes als Merkmal der Kultur und merkt, als er das Fehlen der Untergrundbewegung in der Stadt realisiert, erstaunt an: »Verwildert seid ihr« (KS/B1/124). Die politische Aktivität bietet für Jakow

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Samgin gleichzeitig aber auch einen Ersatz für die Frauenliebe, da er nach den Worten von Samgins Mutter in seiner Jugend »ein Tänzer, ein Spaßvogel« war und plötzlich nach einer unglücklichen Liebe »ins Volk, zu den Sektierern ging« (KS/B1/125). Die Abwendung vom privaten Glück zugunsten des Wohls des Volks, wie sie bei Onkel Jakow und in den Kreisen der revolutionär gestimmten Intellektuellen gepflegt wird, läuft aber gefühlsmäßig auf eine paradoxe Verteilung der Liebe und des Hasses hinaus, bei der – wie Lidija anmerkt – »alles irgendwie auf den Kopf gestellt« ist: »Mir scheint, sie sprechen von der Liebe zum Volk mit Haß, vom Haß gegen die Zarenmacht aber mit Liebe. Wenigstens höre ich das so.« (KS/B1/127) Diesen Worten lauscht Klim Samgin mit Neid, scheint doch Lidija das zu sagen, »was er empfand, wofür er aber noch keine Worte gefunden hatte« (KS/B1/127). In der Wohnung von Katin, die mit Bildern der russischen demokratischen Schriftsteller ausgeschmückt ist, »weht« Samgin »trostlose Armut entgegen, nicht die, die den Schriftsteller hinderte, die Miete pünktlich zu zahlen, sondern irgendeine andere, unheilbare, beängstigende, doch zugleich rührende Armut« (KS/B1/113). Dieses Motiv der »unheilbaren und rührenden Armut« bezieht sich nicht auf die schlechten Finanzen des Schriftstellers, sondern auf den Imperativ des selbstlosen Dienens und der Hingabe, die dem Intellektuellen in diesen gesellschaftlichen Kreisen auferlegt wird. Die Distanzierung Samgins und seiner Jugendfreunde von der Linie der russischen Intellektuellen, die auf die Bequemlichkeiten des Alltags und auf die Freuden des privaten Lebens zugunsten der aufklärerischen Mission, des Altruismus und des Exils verzichteten, wird in der Gesellschaft um den Schriftsteller Katin explizit als ein »Verrat der Kinder an dem heiligen Vermächtnis der Väter« (KS/B1/93) gebrandmarkt. Das Belehren der »Kinder« über die »Pflichten der Intelligenz« verweist auf das Muster der Generationenfolge; dieses wird zur rhetorischen Konstruktion von Gruppenzugehörigkeit verwendet, die wenig mit den Fragen der biologischen und privaten Nachfolgerschaft innerhalb einer Familie zu tun hat, sei es die Gebote der Väter oder – im Falle Samgins – eher seines Onkels. Über die »Pflichten der Intelligenz« werden Samgin und seine Jugendfreunde von einem Mann aufgeklärt, »der einer Amme glich« und das Los der russischen Intelligenz im »Gefängnis, Verbannung, Zuchthaus, Folter, Galgen« sieht. Dabei kommentiert Samgin ironisch: Die Worte Zuchthaus, Folter, Galgen gebrauchte er so häufig und einfach, als wären es gewöhnliche, gängige Ausdrücke; Klim gewöhnte sich daran, sie zu hören, ohne den furchtbaren Inhalt dieser Worte zu empfinden. (KS/B1/96) Die Abgedroschenheit des Vokabulars weist auf die Frage, ob Klim und seine Freunde sich als Nachfolger der Generation verstehen, die davon ausging, dass »Revolution nicht mit Pausen gemacht wird« (KS/B1/124). Die Zugehörigkeit zur russischen »Intelligenz« beinhaltet dabei etwas qualitativ anderes als nur Bildung oder Reflexionsfähigkeit; ihr Begriff bezieht sich vielmehr auf die emotionalen Qualitäten wie Begeisterungsfähigkeit, Idealismus, Opferwilligkeit, oppositionelle Haltung gegenüber der Regierung sowie auf Nivellierung des Alltags und der Bequemlichkeit zugunsten politischer und kultureller Ziele.

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Ein kritisches Fazit aus der Beobachtung der Zusammenkünfte im Seitenbau, das die gedankliche Schwäche der russischen Intelligenz hervorhebt, zieht der Philosoph Tomilin: »Aufrichtiges Interesse für das Volk können nur Industrielle, Ehrgeizige und Sozialisten empfinden. Volk ist ein Thema, das mich nicht interessiert.« […] »Russisch gibt es nichts zu lesen«, erklärte er. »Auf russisch wird zwar interessant empfunden, aber erfolglos, abhängig, unoriginell gedacht. Das russische Denken ist zutiefst gefühlsmäßig und darum grob. Das Denken ist nur dann fruchtbar, wenn es vom Zweifel bewegt wird. […] Bei uns streben alle zum Glauben. Völlig gleichgültig, woran, sei es an die rettende Kraft des Unglaubens, an Christus, an die Chemie, an das Volk. […] Es gibt bei uns keine Menschen, die sich zu der Unrast unabhängiger Denkarbeit verurteilt haben.« (KS/B1/149-150) Im Gegensatz zur Emotionalität der russischen Intellektuellen frönt Tomilin in seiner spekulativen Erkenntnisphilosophie dem reinen Gedanken und unterwirft alles dem Zweifel. Dabei geraten das Volk (»ein Thema, das mich nicht interessiert« KS/B1/149) und die Schönheit (»Schönheit ist gerade Unwahrheit« KS/B1/139) ins Visier seiner Kritik. Die Schönheit erklärt er aus dem Schamgefühl des Menschen, der »keinem Bock, keinem Kaninchen gleichen will« (KS/B1/139), und somit begegnet man erneut einer Analogie zwischen dem Menschen und den domestizierten Tieren, die semantisch für den routinemäßigen und anspruchslosen Vollzug der sexuellen Begierde stehen. Dass sich der Mensch dabei der Schönheit als Selbsttäuschung bedient, um sich über sein Nutztierdasein hinwegzutäuschen, wird vom Philosophen als allgemeiner idealistischer Zug der russischen Kultur aufgefasst, die dem kritischen Gedanken an sich keinen Wert einräumt. Tomilin will aber auch ausdrücklich nicht als Materialist eingeschätzt werden, da für ihn der Gedanke durch den utilitären Zweck verdorben wird: Der absolute, reine Wert eines Gedankens geht unverzüglich verloren, sobald der Prozeß seiner praktischen Ausbeutung beginnt. Hüte, Schirme, Nachtmützen, Brillen und Klistierspritzen – das ist es, was kraft unserer Neigung zur Ruhe, Ordnung und Gleichgewicht aus dem reinen Gedanken hergestellt wird. (KS/B1/111) Die Gegenstände, die Tomilin sorgsam aufzählt, bieten eine ganze Reihe von Alltagsgegenständen, unter denen kein einziger Mechanismus oder andere Formen der produktiven Kraftverwendung vorkommen. Als praktische Lebensbegleiter entsprechen sie der menschlichen »Neigung zur Ruhe, Ordnung und Gleichgewicht«. Die Nennung von »Klistierspritzen« bringt in dieser Reihe die Ironie Tomilins auf den Punkt, der in seinem alltäglichen Leben, seiner Kleidung und Wohnungseinrichtung bescheiden und sogar nachlässig ist. Im Lichte seiner Verneinung des Alltäglichen, das im Roman die Erfahrung der Sexualität steuert, hat es eine Logik, wenn Klims Mutter den Lebemann Warawka dem einsamen Philosophen vorzieht; im Gegenzug bietet Tomilins Herabwürdigung des Schönen und des Utilitären eine Revanche an seiner gescheiterten Liebe. Die explizite gedankliche Nähe zwischen der sexuellen Lust und dem Denken entsteht, wenn Tomilin auch das Denken kritisch hinterfragt: »Es ist durchaus anzunehmen, daß ein übermäßig entwickeltes Gehirn eine ebensolche Mißbildung ist wie ein erweiterter Magen oder ein übermäßig großer Phallus.« (KS/B1/138)

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Diese Gedanken entstehen in der Zeit, als Tomilin ein Verhältnis mit der Witwe seines Hauswirts anfängt. Diese Witwe trifft Samgin auf den Flurstufen zu Tomilins Zimmer, wo sie den Zugang zu seiner Tür, die früher für seine Schüler immer offen stand, bewacht. Bei einem kurzen Gespräch fallen Samgin »ihr Ammenbusen« und vor allem ihre »Schafsaugen« auf, die zweimal erwähnt werden. Die Umsorgung durch die mütterlich aussehende Frau mit dem Ammenbusen und den Schafsaugen bezeichnet den Anfang der Domestizierung des Philosophen, dessen geschlossene Tür das Erlangen des privaten Lebensraums signalisiert. Vollendet wird dieser Prozess im nächsten Kapitel, wenn Samgin Tomilin in seinem Haus in der Anwesenheit der Frau und zahlreicher Katzen besucht, wobei die Frau Samgin beim Weggehen einen »Katerspilzchen aufsetzt« (KS/B1/359), d.h. ein Härchen vom Katzenfell, das den Besucher zurück in das Haus führen soll. Die Sexualität erscheint somit im Text des zweiten Kapitels eng an die Dimension des Alltäglichen und des Animalischen in Form der Haustiere mit ihrem Reproduktionszyklus gebunden; in dieser Hinsicht ist es nur folgerichtig, dass Schönheit hier kaum etwas mit sexueller Attraktivität zu tun hat. So hat der hässliche Iwan Dronow den Erfolg bei Margarita, der Klim versagt bleibt, und Lidija, die an mehreren Stellen als nicht schön bezeichnet wird, wird von Turobojew, Samgin und Makarow angebetet, während die Schönheit ihrer Freundin Alina Telepnjowa kein erotisches Begehren weckt. Besonders die Schönheit von Alina wird in einem entrückten Licht als »Quelle der Beunruhigung« (KS/B1/133) und sogar als eine »Strafe« (KS/B1/135) für das Mädchen dargestellt. Dabei kommt der Figur Alinas, die in dieser Episode nur flüchtig erwähnt wird, später im Roman eine viel wichtigere Bedeutung als Lidija zu. Vor allem stellt Alina eine Art Doppelgänger Samgins dar, da sie ständig die eigene Haltung kontrolliert und gezwungen ist, »alle Menschen als Spiegel zu betrachten«, worin Samgin eine Ähnlichkeit mit sich selbst vermutet (»manchmal kam er dunkel darauf, daß er mit ihr etwas gemein hätte«, KS/B1/135). Die Schönheit Alinas kann deshalb eine Analogie zur Selbstdarstellung Samgins bieten, da Schönheit im Roman nicht als etwas quasi-Natürliches und Gegebenes gilt, sondern als Wahrnehmungsschema der Dimension des kollektiven Lebens eingeschrieben wird. Das Schönheitsideal wird dadurch auf der gleichen Ebene angesiedelt, auf der Vorstellungen des Wahren und des Moralischen neben politischen Idealen und Programmen kursieren. Eine solche Auffassung des Kollektiven ist durchaus vergleichbar mit der Betrachtung des gemeinschaftlichen Lebens als Domäne der sozialen Zwangsvorstellungen, moralischer Grundsätze und Schönheitsideale im »Mann ohne Eigenschaften«, wobei Alinas vorbildliche und entfremdete Schönheit in ihrem Wesen und in überraschend vielen Details der Figur von Leona aus dem »Mann ohne Eigenschaften« ähnelt: das Singen und Vortragen von Gedichten, die bei ihrem theatralischen Effekt »seelenlos«, »unlebendig«, »undeutlich, von ihrer Samtstimme zerknetet« (KS/B1/134) klingen, die Zukunft als Halbweltdame, schließlich ihr großer Appetit (»sie essen religiös, Alinotschka! Sie essen nicht wie wir Sterbliche, Sie kommunizieren« KS/B1/134) und sogar die Bestimmung der Ordnung der Getränke und Speisen am Tisch. Bei diesen Überschneidungen in den Details liegt die Vermutung besonders nahe, dass sowohl Gorʹkij, als auch Musil hier ein typisches Verhaltensmuster ihrer Zeit

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Historische Zeit im Narrativ

aufgreifen und aufarbeiten. Die Wahrnehmung beider Figuren ist durch den Kontrast zwischen der Schönheit als Ideal der Hochkultur und dem Niederen in der Gestalt des Berufs (Schauspielerin, Sängerin, Kokotte) geprägt; das Essen stellt in diesem Kontext eine alltägliche körperliche Handlung dar, deren feierlicher Vollzug den Bereich der hohen Ideale und der sittlichen Moral travestiert. Die Figuren der Jugendfreunde Samgins – Makarow, Lidija, Dronow und Alina – begleiten Samgin im Verlauf der gesamten Romanhandlung und bieten, ähnlich wie die Figuren von Walter und Clarisse im »Mann ohne Eigenschaften«, ein Bindeglied zwischen der biografischen Dimension des Protagonisten und dem Bereich des kollektiven »Man« der Epoche, indem sie dem Protagonisten als Gesprächspartner dienen. Durch sie wird die historische Zeit in »Klim Samgin« zu einer Zeit der Begegnungen und Gespräche, die kaum die Ebene des privaten Alltags betreffen, sondern sich auf der Ebene weltanschaulicher Konflikte abspielen. Samgin beneidet seine Freunde vor allem dann, wenn sie ihre Gedanken treffend auf den Punkt bringen. Diese Fähigkeit macht sie dem Medium des Salons gewachsen und erlaubt es ihnen, dort eigenständige Positionen zu beziehen. Ihre Zeitgenossenschaft gestaltet sich also als Konkurrenz um den treffenden Ausdruck, mittels dessen sie im Kontext der abstrakten historischen Zeit agieren. Gleichzeitig wird Samgins Verhältnis mit der Geliebten Iwan Dronows, Margarita, als Abstreifen der Salonidentität und der Notwendigkeit, sich zu verstellen, geschildert. Neben der Schlichtheit und Gemütlichkeit von Margaritas Wohnung trägt dazu ihr einladender Spruch »Nun, ins Bettchen« bei, der sich von Besuch zu Besuch wiederholt und dem sexuellen Vollzug den Charakter einer Routinehandlung verleiht. In Margaritas Wohnung wird das Sexuelle in den Alltag eingeordnet; ihr Zimmer wird von Samgin detailliert und genüßlich als ein geordnetes Dasein wahrgenommen, in dem alle Gegenstände, »Kästchen und Döschen« (KS/B1/132) an ihrem Platz stehen. Samgins Stimmung während seiner Aufenthalte bei Margarita ist harmonisch, da er sich nicht als kluger Gesprächspartner inszenieren muss. Er ist insoweit »der Wirklichkeit und Klims gewohnter Welt entrückt« (KS/B1/132), als Margaritas Zimmer tatsächlich den Gegenpol zur Realität darstellt, die der Protagonist in seinem Elternhaus erlebt und die ihm weniger häuslich vorkommt (»nach fünf, sechs Zusammenkünften fühlte er sich bei Margarita mehr zu Hause als in seinem Zimmer« KS/B1/132). Margaritas Universum ist von den Fragen des hohen Geistes, den kulturellen Ansprüchen und der Politik isoliert und steht im Kontrast zu den Vorlesungen über die Natur des Universums, denen Samgin im Seitenbau seines Hauses, in der Wohnung des Schriftstellers Katin beiwohnt und die »von dem gewaltigen Baß« eines Verfassers populärwissenschaftlicher Broschüren vorgetragen werden: Er sprang mitten ins Zimmer, wankte wie ein Betrunkener, beschrieb mit den Händen Kreise und Ellipsen in der Luft und sprach von Affen, vom prähistorischen Menschen, vom Mechanismus des Weltalls so sicher, als hätte er selbst das Weltall erschaffen, die Milchstraße hineingesät, die Sternbilder angezündet und die Planeten in Bewegung gesetzt. (KS/B1/110) Im Unterschied zur Gegenständlichkeit von Margaritas Zimmer wird das Bild des Universums in der zitierten Passage durch das Element des Wortes gebrochen. Samgin

4. Narration

fallen vor allem die wuchtige Rhetorik und die Selbstinszenierung des Redners auf, der ekstatisch »wie ein Betrunkener« spricht, »als hätte er selbst das Weltall erschaffen«. Als Beobachter interessiert sich Samgin mehr für die Selbstpräsentation der Redner als für den Inhalt ihrer Rede: »Wie sie sprachen, interessierte ihn mehr als das, wovon sie sprachen« (KS/B1/110). Im Salon ist er zum Zuhören und Beobachten gezwungen und entkommt diesem Zwang nur in Margaritas Wohnung, wo er in das geordnete Dasein eintaucht und den Sexualakt als eine Routinehandlung vollzieht. Die Vorliebe Samgins für das alltägliche und domestizierte Dasein jenseits von den Ansprüchen der Hochkultur prägt auch weiterhin die Darstellung von Samgins Begegnungen mit Frauen. Seine zahlreiche Liebesaffären haben den zeitgenössischen Leser verwundert. So äußerte Dalmat Lutochin in einem Brief an Gorʹkij seine Bestürzung darüber, dass sich der leidenschaftslose Samgin zu den Frauen hingezogen fühlt. Darauf antwortete ihm Gorʹkij, dass selbstverliebte Menschen mit einem schwachen Willen dazu neigen, sich in der Frau wie in einem Spiegel zu betrachten.215 Indem Samgin Frauen für seine Selbstinszenierung benutzt, meidet er die üblichen Attribute der Liebe und Verehrung der Frau, was den Eindruck eines kalten Temperaments macht. Beachtet man jedoch seine besondere Erregbarkeit an solchen Details wie die Beschaffenheit des Bettes und die Wohnungseinrichtung, so folgen Samgins zahlreiche Liebesaffären einer gewissen Logik. Besonders stark wirkt auf ihn das Ambiente, wenn es – wie in seiner Affäre mit Nikonowa – ärmlich und abgenutzt erscheint. Das Nützliche und Abgenutzte geht mit dem gesteigerten Lustgefühl einher, da die Sexualität im Roman semantisch in die Domäne der Domestikation und des Alltags gehört. Samgins Vorliebe für das Alltägliche bietet eine unerschöpfliche Quelle der Ironie im Hinblick auf den Protagonisten, der sich gerade dann als ein äußerst origineller Denker vorkommt, wenn er zu besonders platten Schlussfolgerungen gelangt: Die Liebe war bekanntlich ein Instinkt wie Hunger, Durst, Scham – wer aber nimmt sich denn aus Hunger oder Durst oder deshalb, weil er keine Hose besitzt, das Leben? In den Minuten solcher Betrachtungen, allein mit sich selbst, fühlte Klim sich klüger, stärker und eigenartiger als alle Menschen, die er kannte. (KS/B1/174) Im Lichte des buffonesken Vergleichs zwischen Liebe und fehlender Hose ergibt Makarows versuchter Selbstmord keinen Sinn. Der Satz bringt Samgin besondere Genugtuung; signifikant ist dabei, dass sich das Selbstwertgefühl des Protagonisten an der Fähigkeit bemisst, eine originelle Phrase zu formulieren. Daran zeigt sich die Grundeigenschaft der fiktiven Realität des »Klim Samgin«, eine Realität des gesprochenen und geschriebenen Wortes zu sein, in der ein glücklich formuliertes bon mot, ein originell formulierter Gedanke wesentliche Bedingung der Existenz von Figuren darstellt, von denen manche in der Erzählung nur für einen Moment erscheinen, um einen Satz einzuwerfen. An der existentiellen Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein im Medium des geistigen Austausches driftet Samgin permanent in die Richtung des Nicht-Seins ab, da er – wie er selbst kommentiert – Schwierigkeiten hat, eigene Gedanken zu formulieren, und darauf angewiesen ist, sich fremde Gedanken auszuleihen, um zu sein. Andere fassen 215

Vgl. Gorʹkijs Brief an Dalmat Lutochin (21.09.1927). Горький, Неизданная переписка, S. 432.

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Historische Zeit im Narrativ

es immer besser als Samgin und werden von ihm deshalb beneidet. Die fehlende Eloquenz sieht er im Vergleich zu seinen Freunden Makarow und Dronow als eine höhere Eigenschaft: Er gab zu, daß Makarow, Dronow und noch einige Gymnasiasten in Worten klüger waren als er, war aber selbst überzeugt, daß er klüger war als sie, nicht in Worten, sondern irgendwie anders, solider, tiefer. (KS/B1/104) Die Selbsteinbildung Samgins auf sich selbst wird im Roman durchaus ironisch markiert, da seine »solidere und tiefere« Klugheit lediglich darin besteht, dass Samgin auf einer prinzipiell anderen Ebene als die der inhaltlichen Diskussion angesiedelt ist und auswertet, wer, warum und wie spricht. Als Kritiker fremder Gedankenpraxis ist der Protagonist in der kollektiven symbolischen Praxis als der eigentlichen Realität des Romans verankert, in der bestimmte Vorstellungen von der Mission der Intellektuellen, konkurrierende Definitionen der Kultur, kulturkritische Ansätze, Schönheitsvorstellungen kursieren. Die Analyse des Kapitels zeigt also deutlich, dass in diesem Textabschnitt divergierende Kulturdefinitionen in sämtlichen Liebesgeschichten durch- und gegeneinander ausgespielt werden; dadurch wird die fiktive Wirklichkeit des »Klim Samgin« als kulturelle Wirklichkeit in verschiedenen Facetten beleuchtet, ihre semantischen Grenzen werden markiert. Die Dimension des Alltäglichen und Privaten wird dabei als eine niedere gekennzeichnet und an den Rand der Erzählung gedrängt. Diese Verdrängung wirkt sich nicht nur auf die Darstellung des Protagonisten, sondern auch anderer Figuren sowie auf die Komposition des Romans als Ganzes aus. Wie Jürgen Rühle betonte, ist »Klim Samgin« kein historischer Roman im herkömmlichen Sinne, weil die »Personen« darin nicht mehr der »Geschichte« gegenübergestellt werden, sondern darin aufgehen: Geschichte und Individualität integrieren einander so vollständig, daß ein historischmenschliches Kontinuum entsteht. Geschichte und Individualität treten zueinander in ein Verhältnis der Komplementarität, das nicht mehr aufzulösen, nicht auseinanderzurechnen ist.216 Dieser Eindruck einer totalen Integration der Figuren in das Bild der kollektiven Dynamik entsteht im Roman dadurch, dass seine Figuren kaum über eine private Dimension verfügen. Als ein Bereich der alltäglichen Routinen, der durch den Mechanismus der Triebe und ihrer Erfüllung gesteuert wird, wird das Private entweder von der Erzählung ausgeklammert oder dazu verwendet, andere Inhalte zu transportieren, wie es u.a. in den zitierten Beispielen des Schriftstellers Katin oder des Philosophen Tomilin der Fall ist. Samgin, der in seinen Liebesbeziehungen die Semantik des Alltäglichen und Niederen vertritt, lässt auch die Eigenschaft vermissen, auf dem Feld der kulturellen Produktion kreativ tätig zu sein, kann durch diese periphere Platzierung jedoch die Funktion der Kritik und Reflexion übernehmen. Dabei überspielt die Dimension der abstrakten historischen Zeit insoweit die Darstellung des Privaten, als sich Letzteres nur dann zu zeigen hat, wenn es etwas zum 216

Rühle: Literatur und Revolution, S. 31.

4. Narration

ideologischen Profil der Figur beiträgt. In diesem Verfahren liegt die Denkökonomie von Gorʹkijs Roman, in dem Erzählelemente dort ausspart werden, wo sie nicht zum symbolisch geschlossenen Horizont der Handlung beitragen. In dieser Hinsicht wies M.Ja. Ermakova auf die Besonderheit von »Klim Samgin« hin, in dem die Alltagsdarstellung fast vollständig fehlt und »die Liebeskollisionen auf das Minimum beschränkt sind, wobei auch sie nur eine Hilfsrolle für die Präzisierung der gemeinsamen Idee spielen, die die Figuren bewegt«.217 Diese These wird von meiner Analyse des zweiten Romankapitels bestätigt: Den Liebesgeschichten, die hier erzählt werden, fehlen oft entscheidende Details und die konsequente Durchgestaltung von Anfang bis Ende. Auch überwinden die meisten Liebesgeschichten, die im zweiten Kapitel erzählt werden, kaum die Schwelle zum nächsten Romankapitel. Diese Zäsur wird jedoch von der Auseinandersetzung rund um den Kulturbegriff mit einer Leichtigkeit überschritten, die mit aller Deutlichkeit die Tatsache beweist, dass die Kongruenz der amorph erscheinenden Handlung auf dieser Ebene liegt. Die Frage nach der Definition der Kultur transformiert sich im dritten Kapitel in ein Handlungsmuster, das den Roman entscheidend prägt. Im Mittelpunkt dieser Handlung steht die Frage nach der Begründung der russischen Revolution als Projekt einer kulturellen Neuerung, das zu einer Umgestaltung der kulturellen und geistigen Landschaft führen soll.

4.2.2

Marxismus und Décadence – die Entstehung der russischen Revolution als Sujet der geistigen Suche

Samgins Umzug nach St. Petersburg eröffnet im Roman ein neues Kapitel im direkten und übertragenen Sinne des Wortes. Ausgehend von den Eigenschaften und Prämissen der fiktiven Welt, die – wie im letzten Kapitel dargestellt wurde – am Anfang des Romans festgelegt wurden, wird im Roman eine Sujetlinie gezeichnet, die die Entstehung der russischen Revolution darstellt. Samgin muss sich zwar bereits in seiner Kindheit und während der Zeit am Gymnasium mit dem politisch aktiven Milieu auseinandersetzen, in St. Petersburg begegnet er jedoch zum ersten Mal den Akteuren, die sich aktiv an politischer Agitation beteiligen, sowie dem Gedankengut, das diese Aktivitäten untermauert. In der St. Petersburger Episode des Romans wird der Marxismus in einen Kontext mit der europäischen Décadance gestellt und zeigt sich von einer spezifischen Seite als Programm der kulturellen Reform, die ausgehend vom positivistischen Pathos der ökonomischen Lehre eine umfassende Umgestaltung der Kultur und des Menschen anstrebt. Die Platzierung des marxistischen Gedankenguts im Kontext der Kulturkritik der Décadance führt zur Etablierung einer solchen Perspektive, in der die Revolution als eine geistige Tat absolut notwendig erscheint und nur noch eine wirksame Idee fehlt, die zur gesellschaftlichen Konsolidierung und zur Überwindung der kulturellen Krise führen soll.

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Ермакова: Традиции Достоевского в русской прозе, S. 104.

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Historische Zeit im Narrativ

4.2.2.1

Der Raum der Geschichte

Die Anfänge des Sujets der russischen Revolution werden räumlich durch den Umzug Samgins nach St. Petersburg markiert. Nach seinem Aussteigen aus dem Zug gerät der Protagonist in den Stadtraum, der sich in seiner Wahrnehmung in den Raum der Geschichte verwandelt. Es passiert nicht etwa deshalb, weil er darin bestimmte Gebäude, Monumente und andere Spuren der Zeit erkennt (er wird sie erst später auf seinen Stadtspaziergängen erkunden),218 oder weil das Stadtbild auf die zukünftige Revolution, deren Hauptschauplatz die Stadt im Jahr 1917 sein wird, vorausdeutet, sondern weil sich die Stadt vor den Augen Samgins in ein Modell der menschlichen Kollektivität verwandelt. Diese Transformation der Stadt in ein Modell der historischen Gemeinschaft ist äußerst signifikant. Wie Helene Imendörffer betonte, stellt die Darstellung St. Petersburgs »die ausführlichste Großstadtschilderung« im Roman dar, »ist ausdrücklich auf Samgin bezogen und folgt Samgins Wahrnehmungen und Reflexionen während einer Fahrt durch die Stadt«.219 Vor der nebligen Stadtkulisse bewegen sich Tausende von Menschen; das Auffällige an der Stadtbeschreibung besteht in der Verwandlung der Fußgänger auf den Straßen in die abstrakte Vorstellung von »Willen«, die sich in einem weitgehend abstrahierten Stadtraum bewegen, aus dem alle konkreten und individuellen Züge herausgelöscht sind: Die rasche Gangart der Menschen erweckte in Klim einen trostlosen Gedanken: All diese Hunderte und Tausende kleiner Willen rennen, sich begegnend und wieder auseinandergehend, zu ihren Zielen, die wahrscheinlich unwesentlich, aber jedem von ihnen klar sind. Man konnte sich einbilden, der herbe Nebel sei der warme Atem der Menschen und nur durch ihr Herumlaufen sei alles in der Stadt mit der Feuchtigkeit beschlagen. Er hatte auf einmal Angst, sich in dieser Masse kleiner Menschen zu verlieren […]. (KS/B1/179) Die Stadtbewohner werden in ihrer Masse vom Protagonisten als »Hunderte und Tausende kleiner Willen« wahrgenommen. Jede von ihnen folgt ihren »unwesentlichen« Zielen, wobei die Richtung des Ganzen unklar bleibt. In diesem Modell des Kollektivs werden Individuen auf ein abstraktes Verhaltensschema reduziert. Samgins Angst, in ihrer Menge unterzugehen, entsteht nicht etwa als Gefühl, sich im Gassengewirr einer geografisch unbekannten Stadt zu verlaufen, sondern weil er sich im Raum der Geschichte umgeben von namenlosen Willen sieht. Das Verständnis des Willens als einer elementaren Einheit kollektiver Prozesse entlehnt Gorʹkij der Philosophie von Arthur Schopenhauer;220 diese »kleinen« Willen häufen sich auf der Ebene privater Interes-

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L.K. Oljander wies darauf hin, dass diese Passagen des »Klim Samgin« noch kaum als »St. Petersburger Text« untersucht worden sind. (Оляндер, Л.К.: »Роман М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹ и социокультурный контекст начала и конца ХХ века«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-2004. Материалы международной конференции »Творчество Максима Горького в социокультурном контексте эпохи«, Нижний Новгород: ННГУ 2006, S. 62-70, hier S. 63) 219 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 69. 220 Zur Beeinflussung Gorʹkijs durch Arthur Schopenhauer vgl. Филоненко, М.А.: »Философские искания М. Горького в романе ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Филатов, В.В. (Hg.), Гуманитарные

4. Narration

sen von »kleine[n] Menschen« bloß an, können kaum Einfluss auf das kollektive Leben ausüben und werden zum Material der »Geschichte«: [Samgin] erinnerte sich an einen der zahllosen Aphorismen Warawkas – den bedrohlichen Ausspruch: »Die Mehrzahl der Menschen ist dazu da, sich demütig ihrer Bestimmung zu fügen, Rohstoff der Geschichte zu sein. Sie brauchen, ebenso wie die Hanffaser, nicht darüber nachzudenken, wie dick und wie fest das Seil werden soll, das aus ihnen gedreht wird, und wozu es gebraucht wird.« (KS/B1/179) Vor der nebligen Stadtkulisse St. Petersburgs dreht also eine unbekannte Kraft aus menschlichen Willen »das Seil« für unbekannte Zwecke; einzelne Menschen können dabei als »Rohstoff der Geschichte« kaum frei über ihr Leben verfügen. Dieses Bild wird im nächsten Schritt verändert, als Samgin anmerkt, dass ein anderer »abgedroschener« Vergleich Warawkas, »die Stadt sei ein Bienenstock«, zu dieser Stadt nicht passe (KS/B1/179). Das Bild des Gemeinschaftslebens lässt sich in Samgins Augen besser durch die Metapher der elektrischen Ladung begreifen: Diese gespenstischen Lichter ließen sich besser auslöschen durch Worte des großköpfigen Verfassers populärwissenschaftlicher Bücher; der hatte einmal im Seitenbau bei Katin feurig zu beweisen gesucht, das Denken und der Wille des Menschen seien elektrochemische Erscheinungen und die Konzentrierung des Willens um eine Idee könne Wunder wirken, gerade aus solch einer Konzentrierung seien die höchst dynamischen Epochen, die Kreuzzüge, die Renaissance, die Große Revolution und ähnliche Explosionen der Willensenergie zu erklären. (KS/B1/180) Warawkas Vergleich der Stadt mit dem Bienenstock, in dem sich »der Honig der Kultur speichert« (KS/B1/155), greift nicht, weil das Stadtbild in Samgins Augen keine zweckmäßige Funktionsverteilung aufweist. In den chaotischen Bewegungsabläufen lässt sich die Wirkung einer unsichtbaren Kraft nach dem Beispiel der Elektrizität spüren. Diese Kraft entsteht durch die Konzentration von menschlichen Willen und entlädt sich in großen historischen Epochen. Wie in der Gorʹkij-Forschung bereits mehrfach thematisiert wurde, hatte der Autor des Romans eine persönliche Neigung zu solchen Visionen der kollektiven Dynamik. Laut S.I. Suchich glaubte Gorʹkij daran, dass der Mensch eine Art »Apparat« darstellt, der die materielle Energie in die psychische verwandelt, bis sich die gesamte materielle Welt in der reinen »Psyche« auflöst.221 Wie M.S. Agurskij nachwies, entlehnte Gorʹkij diese Vorstellungen zeitgenössischen parapsychologischen Studien, mit deren Autoren Gorʹkij den »energetischen Kollektivismus« gemein hatte: »[…] die Aufgabe des historischen Prozesses sieht Gorʹkij in der Befreiung der gebundenen Atomenergie […] als Ergebnis der zielgerichteten Energiebefreiung durch den Menschen selbst«.222 и социальные науки. Межвузовский сборник научных трудов, Магнитогорск 2007, S. 187-191, hier S. 188-189. 221 Сухих, С.И.: »›Жизнь Клима Самгина‹ М. Горького и ›Философия общего дела‹ Н.Ф. Федорова«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), М. Горький и вопросы литературных жанров. Межвузовский сборник, Горький: Изд.-во ГГУ 1978, S. 3-38, hier S. 12. 222 Агурский, М.С.: »Великий еретик. Горький как религиозный мыслитель«, in: Вопросы философии (1991), S. 54-74, hier S. 59.

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Die Willen konzentrieren sich dabei um nichts anderes als um eine Idee herum, die einzelne Willen anzieht und auf sie akkumulierend einwirkt. Die Konzentration der Willen um eine Idee223 leitet Transformationsprozesse in Form von »höchst dynamischen Epochen« ein. Mit dem Stadtbild St. Petersburgs wird also am Anfang des dritten Kapitels ein Raum kollektiver Prozesse angelegt, in dem das Auftreten einer mächtigen Idee einzelne Willen anziehen und zur gesellschaftlichen Wende führen soll. Doch welche Idee vermag eine solche Wirkung in der Masse anonymer Willen vor der nebligen Stadtkulisse zu erzielen? Der Raum der Geschichte wird als Diskussionsraum über eine solche Idee konstruiert; trotz der Feindlichkeit der Stadt und der sie bewohnenden Menschen, die Samgin als bitteren Mundgeschmack wahrnimmt, fasst er den Beschluss zu bleiben, da er in den gemeinsamen Gesprächsrunden Aufmerksamkeit bekommt. Er beginnt, von der Zukunft zu träumen, in der er »einmal monumental dastehen würde« (KS/B1/192). Samgin durchsetzt fremdes Gedankengut mit einem skeptischen Lächeln; vor allem Frauen fangen an, sich für ihn zu interessieren. Das Spiel mit der Fremdwahrnehmung wird am Ende der Episode entlarvt, als er in betrunkenem Zustand offen spricht. Doch setzt dieses Spiel bei Samgin eine aufmerksame Beobachtung der sprechenden und zuhörenden Figuren voraus und weist dem Protagonisten eine wichtige Position im Raum der Geschichte zu, der als gemeinsamer Gesprächs- und Reflexionsraum angelegt ist. Die Auffassung der Kollektivität, die in Gorʹkijs Roman vertreten wird, ist dabei eng an die Materie des Gesprächs – oft eines Polylogs – gebunden, das spezifische Züge trägt. Als »verzweigter, ununterbrochener Dialog«224 gilt der Roman bereits seit längerer Zeit in der Forschung, in der permanent auf die zentrale Rolle von Dialogen hingewiesen wird.225 Der Dialog wird dabei als Hauptmittel der »Personendarstellung« behandelt: Die Inszenierung der Figurenrede wird syntaktisch, lexikalisch und sprachlich differenziert226 sowie durch die akustische Charakteristik der Ausdrucksweise227 und die visuelle Charakteristik von »Mimik, Gestik und der Körperhaltung«228 begleitet. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden in der jüngsten Untersuchung von Alena Markovič zusammengefasst, die zu Recht auf einen besonderen Status der kommunikativen Akte im Roman hinweist: Die ereignishafte Seite des Lebens [von Figuren] spielt sich außerhalb des Textes ab. Jedoch stellen die passiven Figuren des Werks schon immer sprechende Figuren dar,

223 In diese Richtung weist auch der Kommentar Gorʹkijs zum Buch des Parapsychologen Naum Kotik aus einem Brief: »Der Gedanke und der Wille sind das Gleiche!« Zit. nach ebd., S. 64. 224 Колобаева: »Жизнь Клима Самгина«, S. 288. 225 Als einer der ersten hat Andrej Sinjavskij diesen Aspekt systematisch untersucht und einen Zusammenhang zum ideengeschichtlichen Ansatz hergestellt, vgl. Синявский: О художественной структуре, S. 161ff. 226 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 108. 227 Vgl. Полищук, Т.В.: »Синэстезический образ как способ выражения авторской субъектности (на примере романа М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹)«, in: Вестник Амурского государственного университета. Серия »Гуманитарные науки« (2004), S. 112-114, hier S. 113. 228 Королькова, А.В.: »Глаголы ЛСГ мимики, жеста и позы в романе М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹ (Функционально-поведенческий аспект)«, in: Сидоренко, К.П. (Hg.), Русская языковая ситуация в синхронии и диахронии, Санкт-Петербург: РПГУ 2005, S. 116-120, hier S. 117-118.

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die in der Atmosphäre des Gedankens leben, und die Situation der Begegnung, des Streits, der Unterhaltung wird zu einem Ereignis, das gegenüber jedem anderen Ereignis gleichberechtigt ist.229 Der Leseeindruck, dass sich das »Leben« der Figuren mit ihren Ereignissen irgendwo außerhalb des Romantextes abspielt, entsteht dadurch, dass die Situation des Gesprächs, oft eines Polylogs die existentielle Realität der Romanfiguren darstellt. Dabei kennen die Figuren – wie Andrej Sinjavskij hervorhob – keine » ›ungezwungene‹ Unterhaltung über unbedeutende Alltagsthemen«,230 sonderngehen »sofort zur Hauptsache – ihren Prinzipien und Überzeugungen« über.Aufdiese Art und Weise schaffen es laut Sinjavskij sogar die episodischen Figuren, einen Beitrag zu einer politischen oder philosophischen Frage zu liefern.231 Dass sich die Struktur der Dialoge in Gorʹkijs Roman dabei nur begrenzt als Kommunikation begreifen lässt, macht Markovič in den Kapiteln ihrer Untersuchung deutlich, in denen sie von der »Degradierung der Kommunikation«, dem »kommunikativen Fiasko«, der »kommunikativen Krise« und der »Maximalgrenze des kommunikativen Scheiterns« spricht.232 Die Gründe für eine solche umfassende Krise der Kommunikation im Roman sieht Markovič in der »historischen« Situation des russischen Zarenreiches, in dem der gemeinsame Kode verlorenging, der die Übertragung der Information von einem Adressaten zum anderen ermöglicht hätte.233 Eine solch massive Beeinträchtigung erweckt allerdings die Frage, ob es denn in Gorʹkijs Roman tatsächlich um Kommunikation geht. In diese Richtung weisen auch die Zweifel, die Markovič an der Funktion der Gesprächssituationen äußert: Im »Leben des Klim Samgin« entsteht das Gefühl, dass im ganzen Roman, der durch Monologe, Dialoge, Polyloge geprägt ist, nicht die Hauptfunktion jeden Streites erfüllt wird: die Wahrheitsfindung.234 Somit vermissen Dialoge in Gorʹkijs Roman nicht nur einen gemeinsamen Kode, sondern verfehlen auch die zentrale Funktion des Dialogs, die Ermittlung von Wahrheit. Dieser Lektüreeindruck wurde auch von Jürgen Rühle vermerkt: Man meint, wenn man die zahlreichen Dialoge des Romans liest, einen verwirrenden Lärm zu hören, eine Vieltönigkeit, als redeten viele Leute gleichzeitig. Man weiß kaum, wer spricht und warum, man kann weder Beginn noch Ausgang der Gespräche verfolgen, ja, es handelt sich überhaupt nicht mehr um richtiggehende Gespräche, sondern nur noch um Dialogfetzen, die konfuse und quälende Engramme ins Gehirn ritzen.235 Insbesondere stimme ich der Beobachtung Rühles zu, dass es in Gorʹkijs Roman nicht um vollständige und -wertige Dialoge handelt. Sie haben nur im entfernten Sinne etwas mit dem sokratischen Dialog zu tun: In »Klim Samgins« zahlreichen Dialogpartien kann 229 230 231 232 233 234 235

Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 20. Синявский: О художественной структуре, S. 173. Ebd., S. 169. Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 36, 65, 121, 183. Ebd., S. 210-211. Ebd., S. 118. Rühle: Literatur und Revolution, S. 36.

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man selten von einer Entwicklung oder konsequenten Verfolgung eines Sachverhaltes ausgehen; stattdessen finden darin permanent Ankündigungen von Positionen statt, die auch in ihrem polemischen Potenzial für sich stehen bleiben. Zum anderen erweisen sich viele Episoden, die auf den ersten Blick den Eindruck eines Dialogs erwecken, bei genauerem Hinsehen oft als keine Dialoge, sondern entstehen aus der Montage mehrerer, an unterschiedlichen Plätzen zu unterschiedlichen Momenten vorgetragener Äußerungen, die mit Samgins Reflexionen und Erinnerungen kombiniert werden. Diese Montageverfahren behandelte Helene Imendörffer als Aussparung, die von Gorʹkij bei der Dialogdarstellung dann verwendet wird, »wenn er Klim Samgins Gedanken abschweifen und ihn so die Rede anderer Personen überhören läßt«.236 Als ihre Variante bezeichnete sie »die erinnerte Szene, die in eine szenische gebundene Reflexion des Helden eingefügt ist […]«,237 sowie den »Iterativbericht«, der »den Reflexionen und Wahrnehmungen des Helden« folgt.238 Insbesondere Letzteres trifft auf viele Erzählsegmente des Romans zu, die als Montage aus mehreren, sich allabendlich wiederholenden Gesprächen dagestellt werden. Auch L.F. Kiseleva hat auf den Patchwork-Charakter solcher Textpartien hingewiesen und bezeichnete sie als »eigentümliche Kombinationen der direkten Rede (der anwesenden Figuren), indirekten Rede (des Autors) und der erlebten Rede«, die »graphisch ihren Charakter behalten und bizarre Kombinationen eingehen«.239 Laut Kiseleva werden diese Elemente durcheinander gereiht, ohne ihre Autonomie einzubüßen und sich mit anderen zu vermischen.240 Gleichzeitig betrachtete sie den Erzählstil des »Klim Samgin« als Produkt der Zerstörung der epischen Illusion, wie sie von Robert Musil im »Mann ohne Eigenschaften« beschrieben wurde, und bemängelte die Zerrissenheit des Sujets, das Fehlen von Motivierungen beim Auftreten von Figuren, von denen manche unbekannt sind und in einem unklaren Verhältnis zum Protagonisten stehen. Das erweckt laut Kiseleva den Eindruck, als »lege« Gorʹkij einzelne Szenen und Figuren nebeneinander, ohne eine kausale Verknüpfung zu konstruieren.241 Die Kongruenz des Romantextes sah Kiseleva durch die motivische Ebene begründet, wo sie durch »Verbindungen universellerer Natur« organisiert wird und dadurch »Harmonie, Ordnung und Logik« erhält.242 Wie Kiseleva zu Recht unter Rückgriff auf Gorʹkijs poetologische Selbstkommentare formuliert, geht es in Gorʹkijs Roman um das Sujet eines besonderen Charakters, das nicht »ausschließlich durch die Entwicklungslogik der Ereignisse oder Charaktere« bedingt ist.243 An ihre Stelle tritt laut Kiseleva die motivische Verknüpfung als eine »komplexe, modernisierte Form der künstlerischen Struktur«, »die für das Epos der Alten charakteristisch war«.244 Führt man die Struktur des Romans auf die Muster der »Ilias« und Odyssee« zurück, so lässt sich m.E. die 236 237 238 239 240 241 242 243 244

Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 88. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. Киселева: Внутренняя организация, S. 108. Ebd. Ebd., S. 102. Ebd., S. 129. Ebd., S. 114. Киселева, Л.Ф.: Русский роман советской эпохи: Судьбы »большого стиля«. Дисс. на соиск. уч. степ. д. ф. н., Москва 1992, S. 14.

4. Narration

Innovation der Romanform kaum begreifen, die von Musil und Gorʹkij in Distanz zum epischen Erzählen betrieben wird. Im Arrangement der Dialoge, die mehrheitlich keiner kommunikativen Logik unterliegen, lässt sich eine spezifische Interaktionsebene zwischen den Figuren erkennen; wie ich im Weiteren zeige, wird in dieser Interaktion das genuin literarische Potenzial dafür eingesetzt, eine bestimmte kollektive Dynamik erzählerisch zu gestalten. Die besondere Fähigkeit der Literatur, das Zusammenspiel der Menschen zu durchschauen, wird gerade in der St. Petersburger Episode mehrmals angesprochen. So merkt Samgin, der »immer mehr danach durstete, die Menschen zu verstehen«, dass »ein Roman ihm in dieser Hinsicht mehr gäbe als ein wissenschaftliches Buch und eine Vorlesung« (KS/B1/195). Dabei wünscht sich Samgin insbesondere, er würde verstehen, »was diese Menschen miteinander verbinden mochte« (KS/B1/196). Mit diesem Hinweis ist dem Roman und insbesondere der St. Petersburger Episode eine Lektürerichtung vorgegeben. Auch wenn man das Vermögen des Protagonisten, das Verhältnis der Gesprächsteilnehmer zueinander zu verstehen, als gering einschätzt, so weisen seine Bemühungen, Repliken, Redeweisen, Blicke und Gesten einzelner Figuren zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen, auf das Vorhandensein einer Interaktionsebene, die vom Leser adäquat entschlüsselt werden soll. Wie oben bereits argumentiert wurde, setzt Musil die essayistische Erzähltechnik an mehreren Stellen für die Formulierung einer zusammenfassenden Betrachtung des »Zeitgeistes« ein. Dadurch erschafft er eine komprimierte und ökonomische Darstellung, bei welcher der Erzähler gelegentlich auch »Stimmen« und Positionen referiert. Vor allem liegt aber die erzählerische Leistung des »Mann ohne Eigenschaften« darin, Gedanken in der narrativen Struktur ereignishaft zu machen und die Logik der kollektiven Ideengestaltung narrativ zu gestalten. Würde Gorʹkij in seinem Roman eine solche ökonomische Ausdrucksweise anstreben, müsste er über kurz oder lang zu essayistischen Erzählverfahren greifen und verwendet sie in der Not, wie oben ausgeführt wurde, am Anfang des Romans. Doch nähert sich Gorʹkij der gleichen Aufgabe, kollektiven Ideenwandel zu erzählen, in seinem Roman auf einem anderen Wege. Er macht auf einem halben Weg zur essayistischen Raffung eine Wendung in Richtung der Vielstimmigkeit und setzt für die Inszenierung der kollektiven Dynamik eine fein kalkulierte Mischung aus Dialogpartien und Reflexionssequenzen ein. Für Gorʹkijs Erzählweise ist eine Verdichtung der zunächst eher beiläufig wirkenden Repliken zu einem zentralen Konflikt charakteristisch. Wiederkehrende Motive werden in Dialogen und Repliken variiert und bilden die wichtigste Ebene der Interaktion zwischen Figuren. Interessante Beobachtungen der Vielstimmigkeit in Gorʹkijs Roman machte Andrej Sinjavskij. Er bemerkt, das »der Autor bloß einzelne Repliken oder ihre Teile fixiert und alle verbindenden Glieder in der Erzählung auslässt«.Dieses Verfahren ermöglicht laut Sinjavskij eine direkte Verbindung zwischen den »Ideen selbst, die in einem Nacheinander aufeinander treffen, sich verschränken und entwickeln«. Dadurch kommt der Idee eine gewisse Autonomie zu, was u.a. daran zu erkennen ist, dass die Idee als »einziges Attribut mancher Charaktere fungiert: es wird nur eine Replik präsentiert, wobei andere Züge und Charaktereigenschaften – persönliche Biografie, Por-

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Historische Zeit im Narrativ

trait, Name – fehlen können«.245 Selektiert, ausgewertet und montiert werden solche Repliken in der Darstellung von Samgins Bewusstsein, in dem mehrere Opponenten – manchmal unbekannterweise – aufeinander treffen. Auch Alena Markovič registriert in ihrer Untersuchung die Tatsache, dass manch ein präsentierter Glaubensentwurf nicht von direkten, sondern von erinnerten oder imaginierten Opponenten bestritten wird, die das Bewusstsein Samgins bevölkern.246 In der Wahrnehmung Samgins wird ein Disput inszeniert, der sich wohl in dieser Form nirgends abgespielt hat und abspielen konnte. Die Übergänge zwischen den einzelnen Repliken, erinnerten Gegenargumenten, Beobachtungen und Reflexionen sind fließend; ihr Zusammenhang wurde in der Forschung als »assoziative« oder »thematische« Verknüpfung beschrieben,247 durch welche die herkömmlichen Verfahren der Fabelkomposition außer Kraft gesetzt werden.248 Diese Art von Komposition stellt einen Interpreten vor große Herausforderungen, die in der Forschung u.a. durch die Lektüre entlang selektierten Motiven und Assoziationen angegangen wurde. So hat sich in der sowjetischen Forschung die These durchgesetzt, man könne anhand der leitmotivischen Beschreibungen der Menschenmenge das zentrale Sujet des Romans ausmachen, der vom Erwachen des Volkes zur Revolution und seinem Verwandeln in eine organisierte Masse handelt.249 In seiner Vielfältigkeit generiert Gorʹkijs Roman einen solch massiven Überschuss an Möglichkeiten der thematisch-assoziativen Verknüpfung, dass sich hieraus viele Interpretationsansätze ableiten lassen. Entgegen einer solchen Lesart wird in der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen, dass in »Klim Samgin« bei all seiner Vielstimmigkeit doch ein Sujet entwickelt wird, das sich quer durch die Dialogpartien des Romans zieht. So wie es in Bezug auf den »Mann ohne Eigenschaften« mit der Ereignishaftigkeit des Gedankens der Fall war, ist es in Bezug auf Gorʹkijs Roman um die Äußerungen der Romanfiguren und den Aufbau der Dialogsequenzen nicht so einfach bestellt. Man muss sich vor allem von der Annahme befreien, dass sich die Funktion der Romanfiguren darauf beschränkt, in ihren Äußerungen bestimmte ideologische Positionen zum Ausdruck zu bringen, die der Leser zu erkennen und korrekt zu bewerten hat. Auf diese Weise wurde oft in der sowjetischen Rezeption verfahren, indem den Figuren bestimmte Bezeichnungen wie »Marxist«, »Dekadent«, »Liberaler«, »Bourgeois« etc. attribuiert und der Roman als getreue Wiedergabe ideologischer Positionen einer gewissen Zeitperiode charakterisiert wurde. Ein Beispiel dieses Vorgehens liefert Sinjavskij, der u.a. das Erscheinen von Stepan Kutusow in der St. Petersburger Episode des Romans dadurch erklärt, dass zur gleichen Zeit der Marxismus im öffentlichen Leben Russlands

245 246 247 248 249

Синявский: О художественной структуре, S. 162. Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 75. Imendörffer: »Klim Samgin«, S. 936. Киселева: Внутренняя организация, 129ff. Vgl. Спиридонова-Евстигнеева, Л.А.: »Движение текста – движение образа. К вопросу о ›генетическом‹ анализе текста«, in: Генезис художественного произведения. Материалы советско-французского коллоквиума, Москва: Наука 1986, S. 110-115; Сабат, А.Н.: Идейнохудожественная функция портрета в романе М. Горького »Жизнь Клима Самгина«. Автореф. дисс. на соиск. уч. степ. к. ф. н., Киев 1982.

4. Narration

erschien.250 Obwohl man solchen Figuren wie Kutusow durchaus geistesgeschichtliche Relevanz zuerkennen kann, tendiert diese Betrachtungsweise dazu, den Roman auf die panoramatische Darstellung des »ideologischen Kampfes« zu reduzieren. Wie ich im Verlauf der weiteren Analyse zeige, werden in der Inszenierung des St. Petersburger Konversationszirkels, in dem Samgin verkehrt, Anfänge für den Handlungsaufbau des gesamten Roman gelegt. Der Erzähler führt in das marxistische Lager wichtige Differenzierungen ein und entlockt dem Spiel ideologischer Nuancen das Potenzial für die Gestaltung einer Handlung. Um diese Handlung nachzuvollziehen, muss auf die Gesprächsfetzen und Unterhaltungsszenen in Gorʹkijs Roman ein anderes Gewicht gelegt werden. Dann tritt der Konflikt, der sich im Raum der Geschichte abspielt, mit aller Deutlichkeit zum Vorschein.

4.2.2.2

Kultur in der Krise: Marxismus und Décadance

In den Dia- und Polylogen des dritten Romankapitels spielen neben dem Beobachter Samgin vier Figuren – Stepan Kutusow, Igorʹ Turobojew, Dmitrij Samgin und Serafima Nechajewa – eine zentrale Rolle. Sie werden von drei weiteren Figuren – Marina Premirowa, Jelisaweta Spiwak und Wladimir Ljutow (am Ende des Kapitels) flankiert. Alle diese Figuren werden im weiteren Verlauf der Romanerzählung wichtige Rollen spielen. Ihre Versammlung in einem knappen Fragment weist auf eine besondere Funktion dieser Episode hin. Wie ich im Weiteren zeige, wird hier die Revolution ausgehend von der Vorstellung einer akuten kulturellen Krise als ein Auftrag definiert, eine Idee für eine umfassende kulturelle Reform zu finden. Das Verständnis der Revolution als einer geistigen Tat, die auf die kulturelle Umgestaltung der Gesellschaft hin ausgerichtet ist, kündigt Gorʹkij – wie bereits oben ausgeführt wurde – schon am Anfang des Romans in seiner Interpretation der Ergebnisse der Narodniki-Bewegung an, die er als einen »Kampf um die Freiheit der Kultur« (KS/B1/9) charakterisiert. Dass eine Massenbewegung der Intellektuellen keinen anderen Zweck als die kulturelle Aufklärung der Bevölkerung haben kann, erscheint somit in »Klim Samgin« als selbstverständlich, mag jedoch einen verwirrenden Eindruck bei einem Leser hervorrufen, der an den Roman mit der Erwartung herantritt, hier würde die Entstehung der russischen Revolution durch die Tätigkeit der marxistischen Untergrundbewegung (Verteilen von Flugblättern, Aufbau einer geheimen Organisation, Demonstrationen, Terrorakten, mündliche Propaganda etc.) dargestellt. Im gesamten Roman findet man lediglich Anspielungen darauf; so lässt sich erahnen, dass Dmitrij Samgin Agitationsarbeit unter den Fabrikarbeitern betreibt, diese Andeutungen werden in der Episode jedoch sehr subtil gestaltet: lediglich die Bilder von Fabrikröhren signalisieren atmosphärisch die Anwesenheit der revolutionären Arbeiterschaft. Eine solche Verdrängung der politischen Entwicklungen an die Peripherie des Romans lässt sich zum einen durch die Detailtreue und zum anderen durch die selektive Wahrnehmung erklären, mit der sich Gorʹkij an die Zeit um die Jahrhundertwende erinnert. In dieser Hinsicht ist ein Briefzitat von Gorʹkij an Semjon Kanatčikov einschlägig, 250 Eine solche doppelte Motivierung – durch persönliche Bekanntschaft und den Bezug zu den geistesgeschichtlichen Phänomenen der Zeit – ist laut Sinjavskij typisch für den gesamten Roman, vgl. Синявский : О художественной структуре, S. 143.

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in dem sich Gorʹkij bei dem Herausgeber für die Zusendung der Bände »Proletarskaja revoljucija« bedankt und seinen Lektüreeindruck über die Darstellung der Anfänge des Marxismus in Russland schildert: Sie haben mir zu einem wichtigen Zeitpunkt eine Bereicherung gebracht. Ich lese, und in meinem Gedächtnis tauchen einer nach dem anderen Menschen auf, die ich vor 2025 Jahren kannte, als man sich nicht vorstellen konnte, dass diese Menschen in Russland und in der Welt eine solch grandiose Rolle spielen werden.251 Der Brief wird 1925 verfasst, als Gorʹkij am ersten Buch des Romans arbeitet, und verweist beinahe ketzerisch auf die periphere Rolle des revolutionären Marxismus in Russland. In der Zeit um 1900 war es laut Gorʹkij kaum vorstellbar, dass »diese Menschen« einmal eine so »grandiose« Rolle spielen könnten. Den öffentlichen Kontext dieser Zeit sieht Gorʹkij durch etwas anderes dominiert, das er im Roman durch eine lose Kette von Salongesprächen, deren Verhältnis zum Ereignis der russischen Revolution auf den ersten Blick nicht klar ist, gestaltet. Im Kontext des Salons, wo es laut Samgin »wie überall nichts gibt, worüber nicht gestritten würde« (KS/B1/186), wird eine Auseinandersetzung inszeniert, in welcher der Marxismus als ein Programm kultureller Reform besprochen wird. Diese Wende wird im Roman durch die Konfrontation des Marxismus mit dem Gedankengut der Décadance eingeleitet; beide Denkrichtungen werden in der kulturkritischen Diskussion über den Charakter der kulturellen Krise und den Perspektiven ihrer Überwindung miteinander verschränkt. In der Polemik wird marxistisches Gedankengut auf zwei Figuren – Stepan Kutusow und Dmitrij Samgin – aufgeteilt; das Gleiche geschieht mit dem gedanklichen Erbe der europäischen Décadance, das an zwei Figuren – Serafima Nechajewa252 und Igor Turobojew – delegiert wird. Die Logik dieser Verteilung kommt in der Inszenierung der Gespräche zum Ausdruck, in denen Kutusow Nechajewa, die von der Literatur der französischen Décadance schwärmt, ausdrücklich ignoriert und Dmitrij Samgin eine Auseinandersetzung mit ihr überlässt. Als ebenbürtigen Gesprächspartner betrachtet Kutusow Turobojew, dessen Dandysmus sowie seine skeptische und kulturkritische Haltung auf bestimmte Seiten der europäischen Décadance referieren. Nechajewa und Turobojew haben äußerliche Gemeinsamkeiten: Neben ihrer Tuberkuloseerkrankung fallen ihre dunkel umrandeten Augen als wichtiges äußerliches Merkmal auf. Die Kontroverse zwischen Kutusow und Turobojew zeichnet sich bereits beim ersten Erscheinen Samgins im Salon ab, bevor beide in Person vorgestellt werden: »Ich kann mir keinen freien Menschen vorstellen, der nicht das Recht und den Wunsch zur Macht über seine Nächsten hätte.«

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Gorʹkijs Brief an S. I. Kanatčikov vom 29.12.1925, zit. n. Бялик, Б.А.: »Письмо М. Горького – Канатчикову«, in: Вопросы литературы (1957), S. 189-190, hier S. 189. 252 In der Forschung wurde vor allem Serafima Nechajewa, die ausgiebig aus der zeitgenössischen französischen Literatur zitiert, als »Vertreterin« der Décadance angesehen, vgl. Вайнберг, И.И.: »Русское декадентство и литература реакции на страницах ›Жизни Клима Самгина‹«, in: Тагер, Е.Б. (Hg.), Горьковские чтения. 1964-1965. Горький и русская литература начала ХХ века, Москва: Издательство АН СССР 1966, S. 356-374, hier 356ff.

4. Narration

»Zum Teufel, wozu braucht man Macht, wenn das Privateigentum abgeschafft ist?« rief mit wohltönendem Bariton der bärtige Student. (KS/B1/184) Die Abschaffung des Privateigentums soll laut Kutusow das Streben nach Macht unnötig machen; damit ist das Programm einer Reform angekündigt, die über die Veränderung ökonomischer Strukturen auf die Konstanten kultureller Prozesse einwirken soll. Kutusow polemisiert mit Turobojew, der als Skeptiker auf dem Willen zur Macht beharrt, die dem »freien Menschen« innewohnt. Dieser Wunsch erscheint Turobojew in einer nietzscheanischen Sichtweise als »das Recht« zur Macht, das aus der Freiheit des Subjekts resultiert. Damit bringt er ein Argument gegen die marxistische Betrachtungsweise der Kultur, die sie als »Überbau« dem Primat ökonomischer Interessen unterstellt und den Einfluss solcher menschlicher Universalien wie des Willens zur Macht verharmlost. Dass der Wille zur Macht nicht automatisch durch die Abschaffung des Privateigentums abgeschafft wird, war wohl am Ende der 1920er Jahre, als sich die Anführer der bolschewistischen Partei gegenseitig bekämpften, für einen unterrichteten Zeitzeugen wie Gorʹkij relativ offensichtlich. Diese Kritik des Marxismus mindert Gorʹkijs persönliches Engagement dafür kaum. In seiner Untersuchung, die manches in der marxistischen Auslegung Gorʹkijs in Frage stellt, betonte S.I. Suchich zu Recht: Für Gorʹkij als Revolutionär und Ideologen war die Idee der Revolution in ihrer marxistischen Variante unbestreitbar, da sie die Menschen und die menschliche Vernunft zur Freiheit und zum Licht führen sollte.253 Das hindert Gorʹkij jedoch kaum daran, sich im Roman kritisch mit den ausgewählten Prämissen des Marxismus auseinanderzusetzen. Dabei geht es vordergründig um sein Programm der kulturellen Erneuerung; ins Visier der Kritik geraten das Verständnis der Kultur als Überbau, die Instrumentalisierung des positivistischen Pathos der Wissenschaftlichkeit zu politischen Zwecken sowie die Argumentationstaktik der Marxisten. So wird in einem Dialog, bei dem Kutusow und Turobojew »wie Damespieler einander an einem Tisch gegenüber« sitzen, das positivistische Pathos des Marxismus hinterfragt: »Wenn sich nun plötzlich herausstellt, daß der Zufall ein Pseudonym des Satans ist?« »Ich glaube nicht an Teufel«, sagte Kutusow ernst […]. (KS/B1/190) Diese Repliken, die auf den ersten Blick kryptisch anmuten, lassen sich als ironische Provokation von Turobojew aufschließen, der den Zufall als »Teufelswerk« über das Konstruieren wissenschaftlicher Kausalitäten stellt, wie es im positivistisch – und atheistisch – angehauchten Marxismus die Regel ist. Der Ernst, der trotz der Ironie Kutusows Ausdruck innewohnt, sowie sein »abfälliger Blick« (KS/B1/190), mit dem er daraufhin Turobojew ansieht, deuten auf die Wichtigkeit dieser Polemik. In ihrem weiteren Verlauf kritisiert Dmitrij Samgin Turobojews Position als »uralten und längst überholten« »Gedanken von dem schädlichen Einfluß der Wissenschaft auf die Sitten« (KS/B1/190), den Turobojew dem Tolstojanertum entlehne. Klim Samgin äußert

253 Сухих: »Жизнь Клима Самгина« М. Горького и »Философия общего дела« Н. Ф. Федорова, S. 34.

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sich zum Tolstojanertum als einem Versuch, »zur Einfalt zurückzukehren« (KS/B1/190), worauf Kutusow in zufriedenes Gelächter ausbricht. Auch Turobojew pflichtet Samgins Aphorismus bei, kehrt ihn aber ironisch um: »Zur Einfalt zurückzukehren – das ist nicht übel gesagt. Ich denke, daß das für uns unvermeidlich ist, ob wir nun von Lew Tolstoj oder von Nikolai Michailowskij ausgehen.« »Wenn man aber von Marx ausgeht?« fragte Kutusow belustigt. »An den Fabrikkessel als Rettungsmittel für Rußland glaube ich nicht.« (KS/B1/190191) Turobojew hält die Rückkehr zur Einfalt für unvermeidlich und erwähnt auch Nikolai Michailowskij, einen Ideologen der Narodniki-Bewegung. Dass Turobojew die Ideologie der Narodniki als Vereinfachung ansieht, gefällt Kutusow, der als Marxist in Konkurrenz zur Narodniki-Bewegung steht. Doch löst Turobojews aphoristische Ablehnung des Marxismus als eines Glaubens »an den Fabrikkessel als Rettungsmittel für Rußland« bei Kutusow ein Bedauern aus, mit dem er in der Folge über Turobojew spricht: »Ein kluger Bursche. Er ist giftig!« (KS/B1/191). Die Giftigkeit von Turobojews Thesen liegt insbesondere darin, den Marxismus als etwas anzusehen, woran man glauben sollte. Damit zieht er sein positivistisches Pathos in Zweifel; er tut dies auch in einer weiteren Diskussion mit Kutusow am Flügel: Am Flügel tönte die angenehme Stimme Kutusows: »Schon Galen wußte, daß die Seele ihren Sitz im Gehirn hat…« »Singen Sie mit dem Gehirn so innig?« fragte Turobojew. (KS/B1/186) Turobojew verspottet die Argumentationsweise Kutusows, der auf den altgriechischen Arztes Galenos referiert, um in Gänze überzeugender zu wirken. Die Zweifel an der wissenschaftlichen Erkenntnis des Menschen werden von Serafima Nechajewa (Tochter eines Professors der Physiologie!) aufgenommen und von Turobojew erneut bekräftigt: »Das Bestreben des Gelehrten, die Naturerscheinungen zu analysieren, entspricht in seinem Wert dem Spiel eines Kindes, das die Spielsachen zerbricht, um zu sehen, was sich in ihrem Innern befindet…« »Ist das nicht banal, gnädiges Fräulein?« fragte von weitem mit zusammengezogenen Brauen Kutusow, wobei er sich am Bart zupfte. Sie antwortete ihm nicht, das übernahm Turobojew, der träge sagte: »Im Innern zeigt sich dann gewöhnlich etwas Unerkennbares oder irgend so ein Zeug wie der Kampf ums Dasein…« (KS/B1/223) Beide Opponenten Kutusows setzen das Pathos der Wissenschaftlichkeit herab, indem sie den Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse hinterfragen. Turobojew zweifelt ironisch die zentrale positivistische Annahme an, »den Kampf ums Dasein« als Triebkraft der Evolution zu betrachten, und bezeichnet ihn als »so ein Zeug« (russ. »какая-нибудь дрянь«), das der Anstrengung nicht wert ist. Die zusammengezogenen Brauen Kutusows und sein Zupfen am Bart signalisieren seine Bestürzung, denn ohne den positivistischen Glauben an die Wissenschaft und Aufklärung ist die von ihm angestrebte gesellschaftliche Wende nicht zu denken. Dieser Glaube wird von Kutusow in einer têteà-tête Unterhaltung mit Marina Premirowa verteidigt:

4. Narration

»Wir verfügen nur über eine Kraft, die uns wirklich umwandeln kann, das ist die Kraft der Wissenschaft…« […] »Und die Kunst?« »Sie tröstet, aber sie erzieht nicht…« (KS/B1/217) Laut Kutusow spendet die Kunst Trost und bietet keine Quelle der gesellschaftlichen Veränderung. Um als solche zu gelten, müsse sie Menschen erziehen. Dass Kutusow dabei das positivistische Pathos lediglich für politische Zwecke insrumentalisiert, zeigt sich an den unterschiedlichen Reaktionen von Stepan Kutusow und Dmitrij Samgin auf die Zweifel, die Klim an der Wissenschaftlichkeit marxistischer Verallgemeinerungen äußert: »Im Grunde haben wir wohl kaum das Recht, so entschiedene Schlüsse über das menschliche Leben zu ziehen. Bei Zehntausenden wissen wir bestenfalls, wie hundert von ihnen leben, reden aber, als hätten wir das Leben aller erforscht«. Der Bruder stimmte ihm bei: »Ein richtiger Gedanke.« Kutusow jedoch fragte: »Wirklich?« Hierauf begann er wieder vom Prozeß der Klassenspaltung, von der entscheidenden Rolle des ökonomischen Faktors zu reden. (KS/B1/191) Beide Figuren bewerten Samgins Äußerung unterschiedlich: Kutusow stellt ihr die Thesen marxistischer Lehre entgegen, während Dmitrij Samgin sie als richtig bezeichnet. Der Letztere wird in der Episode als ein Polyhistor, »sowohl Naturwissenschaftler als auch Philologe« (KS/B1/189) charakterisiert. Im weiteren Verlauf der Episode setzt Marina Premirowa Kutusow auseinander, dass Dmitrij studieren und Professor werden soll, statt sich in den Augen der Regierung durch politische Agitation zu kompromittieren. Im zweiten Buch des Romans erfährt man, dass Dmitrij, der wegen politischer Aktivitäten in das provinzielle Exil geschickt wird, Ethnologe wird und also tatsächlich anfängt, Menschen eingehender zu studieren. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Prägung Dmitrijs tendiert Kutusow kaum zur Forschung, sondern ist daran interessiert, die Theorie »vom Prozeß der Klassenspaltung« und »von der entscheidenden Rolle des ökonomischen Faktors« zu verbreiten. Dass diese Weltsicht per se als eine Art des Glaubens anzusehen ist, meint Serafima Nechajewa, die sie nebenbei auch als einen schlechten Literaturstil bewertet: Volk, Arbeiterklasse, Sozialismus, Bebel – ich habe »Die Frau« von ihm gelesen, mein Gott, wie langweilig das ist! In Paris und Genf traf ich Sozialisten, das sind Menschen, die sich bewußt beschränken. Sie haben etwas mit Mönchen gemein, beide sind nicht frei von Heuchelei. Sie ähneln alle mehr oder weniger Kutusow, doch ohne seine komische, bäuerliche Nachsicht gegen Leute, die er nicht verstehen kann oder will. Kutusow selber ist nicht dumm und scheint aufrichtig an alles, was er sagt, zu glauben, aber das Kutusowtum, all diese nebelhaften Dinge wie: Volk, Massen, Führer – wie tötend das alles ist! (KS/B1/204) Im symbolistischen Denkhorizont stellen menschliche Universalien wie Leben und Tod eine konkrete Lebensrealität dar, die Begriffe der Politökonomie wie »Volk, Massen, Führer« fungieren hingegen als »nebelhafte Dinge«, die bloß langweilig sind. Sozialisten bezeichnet Nechajewa als eine Art Mönche, die sich zum einen »bewußt beschrän-

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ken«, zum anderen ihre Glaubenssätze heuchlerisch für evidente Wahrheit ausgeben wollen. Die Art und Weise, wie dieses Argument eingeführt ist, ist typisch für die Gestaltung der Dialogpartien im Roman: Nechajewa spricht mit Samgin und wird von den anderen Figuren nicht gehört, ihre Aussage wird jedoch von Samgin erinnert und trägt zur Inszenierung des Konflikts bei, der sich in Samgins Wahrnehmung abspielt. Der Protagonist sammelt Bruchstücke von Unterhaltungen, Gesten und Äußerungen, scheitert jedoch daran, sie zu einem vollständigen Bild zusammen zu setzen. Das fehlende Etwas findet in den quälenden Gedanken Samgins Ausdruck, die der Unmöglichkeit, die Menschen zu verstehen, gelten. Dieser Auftrag wird implizit dem Leser zugeteilt, der Samgins Wahrnehmung folgt und die kryptische Verschlüsselung der abgebrochenen Dialoge und die Logik des Nebeneinanders von Repliken auflösen muss. Dass Sozialisten und insbesondere Marxisten als Adepten eines Glaubens anzusehen sind, wird am Ende der Episode erneut hervorgehoben, als Wladimir Ljutow in einem Gespräch mit Samgin Marx als »einen Glaubenslehrer, stark wie neunzigprozentiger Wodka« charakterisiert, mit dem »man nicht quasselt« (KS/B1/239). Besonders der letzte Kommentar erweist sich als richtig, sieht man sich die rhetorische Präsentation des Marxismus im Kapitel an. In den vielen Diskussionen, die – wie bereits ausgeführt – die Prämissen der marxistischen Lehre hinterfragen, zeigt sich insbesondere Kutusow als wenig diskussionsfähig. Die Worte seiner Opponenten wertet er als banal oder als unzeitgemäß ab. Auch die Einwände, die Samgin am Ende der Episode gegen Kutusows Glauben an die Massen anbringen wird, werden mit einem einzigen Stichwort – »eine alte Geschichte« (KS/B1/229) – zurückgewiesen. Der sowjetischen Forschung, die Kutusow gegenüber äußerst wohlgesonnen war, erschien diese Art des Argumentierens als die einzig überzeugende im ganzen Roman. So betont Kasatkina die »Festigkeit« von Kutusows Worten, die auch das Zitieren des fremden Vokabulars nicht zu destabilisieren (»abschwächen«, »verunsichern«) vermag.254 Dieser Stabilität des Wortes entspricht laut Kasatkina auch die körperliche Monumentalität der Figur – eine verbreitete Ansicht in der sowjetischen Forschung, die im Marxisten Kutusow den eigentlichen »Protagonisten der Epoche« sah.255 Das Erscheinungsbild Kutusows trägt im Roman tatsächlich spezifische Züge, doch ist es um ihre Bewertung m.E. nicht so einfach bestellt. Als »ungewöhnlich«, »gediegen« und sogar »vollkommen« erscheint sie in erster Linie Samgin, was die sowjetische Forschung misstrauisch stimmen müsste. Als Beispiel die folgende Passage: Unter all den Menschen, die Klim begegnet waren, machte der Müllerssohn auf ihn den Eindruck eines in seiner Vollkommenheit ganz ungewöhnlichen Wesens. Samgin bemerkte an ihm nichts Überflüssiges, Erfundenes, nichts, das zu denken erlaubt hätte: dieser Mensch ist nicht so, wie er scheint. Seine etwas grobe Sprechweise, die schwerfälligen Gesten, das herablassende und gutmütige Lächeln in den Bart hinein, die schöne Stimme – das alles war gediegen aufeinander abgestimmt und jedes einzelne unentbehrlich wie die Bestandteile für eine Maschine. Klim erinnerte sich sogar 254 Касаткина: К вопросу о слове в полифоническом романе, S. 27. 255 Vgl. u.a. bei Sinjavskij: »Kutusow ist der Protagonist der Epoche, den der selbsternannte Protagonist – der nichtige und erbärmliche Klim Samgin – nicht vergessen kann.« (Синявский : О художественной структуре, S. 154)

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an die Verszeile eines jungen, aber schon recht bekannten Dichters: Es liegt Schönheit in der Lokomotive. (KS/B1/212)256 Die »Vollkommenheit« von Kutusows Erscheinung wird von Samgin als das Fehlen vom »Überflüssigen« und »Erdachten« definiert. Kutusows Schönheit wird als die Schönheit einer Maschine beschrieben, in der die einzelnen Glieder perfekt aufeinander abgestimmt sind. Sie wird in der St. Petersburger Episode von einer weiblichen Figur gespiegelt, jedoch nicht von Kutusows Geliebten Marina Premirowa, deren kräftige Formen, die sie umspannenden Kleider, ihre »detonierende Stimme« und aggressive Gestik von Samgin mehrmals ins Lächerliche gezogen werden.257 Erst beim Erscheinen im letzten, unabgeschlossenen Teil des Romans wird Marina als ideale Schönheit beschrieben und kommentiert diese Tatsache wie folgt: »[…] den Dienern eines Kults geziemen Schönheit und Würde« (KS/B3/309). Diese Bemerkung, die im Roman erst viel später erscheint, weist auf den kultischen Charakter der Schönheit hin. Übertragen auf den Kontext der St. Petersburger Episode, in der gerade die Frage danach, ob Marxismus als Wissenschaft oder Glauben zu verstehen ist, eine wichtige Rolle spielt, wirft diese Äußerung ein Schlaglicht auf die Inszenierung sowohl der Figur von Kutusow, als auch der Musikerfrau und Tochter eines Kreisadelmarschalls, Jelisaweta Spiwak, der körperliche Vollkommenheit und Grazie verliehen wird. »Die Spiwak, das ist was! Sie ist schwer zu verstehen« (KS/B1/189), – sagt Dmitrij Samgin über diese geheimnisvolle Figur, die – wie man im nächsten Kapitel erfahren wird – eine konspirierende Revolutionärin des marxistischen Flügels ist. Im Gegensatz zu Dmirtij Samgin, der die marxistischen Thesen polemisch verteidigt, spricht Spiwak in der gesamten Episode nur wenige Worte; ihre harmonische Einstimmigkeit mit Kutusow findet ihren finalen Ausdruck im vorzüglichen Duettsingen, mit dem beide Salongäste bezaubern. Auf der schönen Singstimme – und nicht etwa auf dem Vorrang seiner Ideen – fußt Kutusows Autorität im Freundeskreis. Die Sprechweise, Gesten und das Lächeln des »Müllersohns« sind »gediegen aufeinander abgestimmt« und »unentbehrlich«. Auch Spiwaks Formen zeichnen sich durch die besondere Plastizität und Grazie aus. Beide Figuren sind in ihrer Plastizität in der fiktiven Wirklichkeit körperlich betont und stark präsent; sie besetzen außerdem rhetorisch die Domäne der Gegenwart als Domäne der politischen Tat, die nicht von Ideen, sondern vom Bewusstsein der aktuellen Anforderungen und Notwendigkeiten geprägt ist. Sie werden von der grotesken Verzerrung durch »Samgins Brille« ausgenommen, nicht bloß weil beide Marxisten sind, sondern weil sie durch ihren Glauben über die Dimension der geistigen Auseinandersetzungen, deren Erscheinungen und Personen im Roman durchgängig als »erdacht« und »erfunden« markiert sind und groteske Züge annehmen, erhaben sind.

256 Der Quellennachweis zum verzerrten Zitat aus einem Gedicht von Dmitrij Merežkovskij wurde von Iosif Vajnberg mühsam aufgeklärt. (Вай нберг, И.И.: »Рукописи как первооснова исследования«, in: Генезис художественного произведения. Материалы советско-французского коллоквиума, Москва: ИМЛИ РАН 1986, S. 95-109, hier S. 98) 257 Vgl. Флоря, А. В.: »Об авторском приеме введения персонажа в художественный текст. Марина Премирова в ›Жизни Клима Самгина‹«, in: Поцепня, Д.М. (Hg.), Словоупотребление и стиль писателя, Санкт-Петербург: СПбГУ 2006, S. 43-50.

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Doch büßen beide Figuren dadurch an Entwicklungspotenzial ein, bleiben im Verlauf der Romanhandlung statisch. Sie führen eine Tätigkeit aus, die stets hinter dem Horizont der Romanhandlung bleibt und im Roman nicht erzählt wird. In dieser Hinsicht war der Lektüreeindruck der sowjetischen Forschung vollkommen richtig, wenn sie den Roman zwischen zwei Welten angesiedelt sah, so u.a. Kiseleva: Dieser Dualismus [zwischen Samgin und Kutusow] bringt im Roman zwei unterschiedliche, wenn auch scheinbar ähnliche Welten zusammen: lebendig und unlebendig, real und gespenstisch, die Welt der Erscheinungen, Lebewesen, Gegenständen und die Welt ihrer Schatten.258 Dieser eindrucksvollen Formulierung stimme ich mit dem Zusatz zu, dass in »Klim Samgin« diese Hierarchie der Welten umgedreht ist. Wie S.I. Suchich betonte, erscheint in der fiktiven Welt des »Klim Samgin« »das marxistische Axiom vom Dasein, welches das Bewusstsein definiert, als eine ziemlich ephemerische theoretische Konstruktion, da in dieser Welt das Bewusstsein in einem größerem Maße das Dasein prägt«.259 Die »gespenstische« Realität von Ideen und Worten ist in den Begriffen des Romans als primäre Wirklichkeit zu verstehen, die die »Welt der Erscheinungen, Lebewesen und Gegenstände« in den Schatten drängt. In dieser Realität werden auch die Thesen der marxistischen Lehre selten laut und klingen darin eher farb- und ausdruckslos. So merkt Samgin, dass »Kutusows schöne Stimme nicht mit dem Leseton [harmonierte], in dem er langweilige Worte und Zahlen vorbrachte« (KS/B1/191). Seine Thesen verlieren ihre Anziehungskraft, wenn sie sich in der Domäne des kollektiven Ideenaustausches behaupten müssen, wo sie der Pluralität der Ansichten ausgeliefert sind. Kutusows rhetorische Strategie besteht zum einen – wie bereits besprochen – darin, auf das Unzeitgemäße der Thesen seiner Opponenten hinzuweisen,260 und zum anderen – wie Andrej Sinjavskij auffiel – darin, es seinen Gesprächspartnern zu vergelten, indem er sie auf »größere Maßstäbe« und »allgemeinere Kategorien« zurückführt: […] er spricht nicht über Samgin, sondern über die bürgerliche Intellektuellen im Ganzen, nicht von Preiß, sondern vom »legalen Marxismus« überhaupt, nicht von Berdnikov, sondern über die Politik der gesamten imperialistischen Bourgeoisie.261 Diese Ausdrucksweise, bei der sich Kutusow nicht mit seinem Gesprächspartner, sondern »mit sich selbst« unterhält,262 wurde in der Untersuchung von Alena Markovič kritisch kommentiert: Kutusows Repliken stellen im logischen Sinn des Wortes keine Antithese zur vorgeschlagenen These dar […], seine Antwort besteht in der Bewertung, nicht in einer Ge-

258 Киселева: Внутренняя организация, S. 111. 259 Сухих, С.И.: Заблуждение и прозрение Максима Горького, Нижний Новгород: Изд-во Нижний Новгород 1992, S. 160. 260 Als »Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution« betitelte Gorʹkij seine Polemik gegen die Bolschewiken im Jahre 1917/18. 261 Синявский: О художественной структуре, S. 149. 262 Ebd., S. 153.

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genthese. Ein solch permanentes Ausweichen ist auch für andere Bolschewiken charakteristisch.263 Als eine Art Glaubenslehre versperrt sich der Marxismus im Roman dem Dialog, wird von der Polemik ausgenommen und an die Grenze der Romanerzählung gedrängt. So wies A.Ja. Tararaev, der die Evolution der Figur von Kutusow anhand des handschriftlichen Materials nachverfolgte, die nachträgliche Eliminierung von Repliken Kutusows aus dem Romantext nach.264 Dialoge mit der Beteiligung Kutusows werden in der Regel verkürzt, oft lediglich in Stichworten wiedergegeben: Hierauf begann er wieder vom Prozeß der Klassenspaltung, von der entscheidenden Rolle des ökonomischen Faktors zu reden. (KS/B1/191) Dann begann Kutusow langweilig von Agrarpolitik, von der Adelsbank, vom Wachstum der Industrie zu sprechen. (KS/B1/213) Neben diesen offensichtlichen Kürzungen werden Kutusows Repliken in Samgins Reflexion referiert, der sie als »Predigten« bezeichnet und dabei vor allem auf ihre Wirkung eingeht: […] Kutusows Predigten wurden immer aufdringlicher und gröber. Klim fühlte, daß Kutusow imstande war, nicht nur den weichen Dmitrij, sondern auch ihn selbst sich geistig untertänig zu machen. Kutusow zu widersprechen war schwierig, er schaute einem gerade in die Augen, sein Blick war kalt, in seinem Bart regte sich ein beleidigendes Lächeln. Er sagte: »Sie denken naiv, Samgin. In Ihrem Kopf herrscht ein Durcheinander. Man kann nicht klug werden: Was sind Sie? Ein Idealist? Nein. Ein Skeptiker? Sie sehen nicht danach aus. Na, und wann hätten Sie Jüngling auch Skepsis erwerben sollen?« (KS/B1/213) Die Eindringlichkeit von Kutusows Worten wird in der Passage auf zweifache Art signalisiert: zum einen durch den Blick und das Lächeln Kutusows, die das Widersprechen schwierig machen, zum anderen durch seine Bemühung, den Gesprächspartner einem ideologischen Lager zuzuordnen, um auf diese Weise mit ihm fertig zu werden. Der für Kutusow ideologisch schwer greifbare Samgin kann ihm mangels eigener Position nicht die Stirn bieten und fühlt die drohende Gefahr, ihm »geistig untertänig« zu werden, der er nur dadurch entkommt, dass er sich zur Abwehr einige Thesen von Nechajewa ausleiht: Alles, was die Nechajewa sagte, könne ihm als gute Waffe zu seiner Verteidigung dienen. Das alles stand sehr fest dem »Kutusowtum« entgegen. Die sozialen Fragen waren nicht der Rede wert neben der Tragödie des individuellen Seins. (KS/B1/213) Es ist bemerkenswert, dass der Protagonist nicht die eine Position gegen die andere abwägt, sondern nach einer Taktik sucht, die es ihm erlaubt, dem Druck von Kutusows Argumenten auszuweichen. In seiner Affäre mit Nechajewa eignet sich Samgin die 263 Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 145. 264 Тарараев, А.Я.: »О работе М. Горького над языком романа ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Михайловский, Б.В./Петров, С.М./Фетисов, М.И. (Hg.), Горьковские чтения. 1949-1951, Москва: Издательство АН СССР 1954, S. 385-405, hier S. 395.

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Haltung eines Menschen an, den die »Tragödie des individuellen Seins« mehr als »die sozialen Fragen« beschäftigen. Somit wird im Roman die Romanze der russischen Intellektuellen mit der Décadence problematisiert, die einerseits der Distanzierung vom Erbe der politisch engagierten Vätergeneration dient und andererseits keineswegs von einer Überzeugung und schon gar nicht von Leidenschaft geprägt ist. Die Details, die Samgin während seiner Besuche bei Nechajewa auffallen, fügen sich zu einem humoristischen Bild der Rednerin zusammen, welche die Vorliebe zu melancholischen Weltbetrachtungen mit verstärktem Spirituosen- und Süßigkeitenkonsum verbindet: Beim Tee bekam Samgin zu hören, das Wahre und Ewige liege in der Tiefe der Seele verborgen, alles Äußere dagegen, die ganze Welt, sei nur eine verwickelte Kette von Mißerfolgen, Irrtümern, abstoßenden Ungeschicklichkeiten und kläglichen Versuchen, die ideale Schönheit jener Welt zum Ausdruck zu bringen, die in den Seelen auserwählter Menschen existiere. »Oh, ich habe ganz vergessen…«, rief sie, vom Sofa hochschnellend, holte aus einem Schränkchen eine Flasche Wein, Likör, eine Schachtel Schokolade und Biskuits, verteilte alles auf dem Tisch, dann stützte sie die Ellenbogen auf die Tischplatte, wobei sie die dünnen Arme entblößte, und fragte: »Können Sie über die Nutzlosigkeit des Daseins nachdenken?« Klim hätte lächeln mögen, er beherrschte sich aber und antwortete gesetzt: »Das wühlt manchmal sehr auf/das bewegt mich manchmal sehr.« (KS/B1/203, kursiv – m. Ü., bei Ruoff fehlerhaft »das ist manchmal sehr anstrengend«) Durch den Kontrast zwischen der Rhetorik des Jenseits und dem durch Luxusgüter wie Likör und Wein beladenen Tisch, wird die Literatur der Décadance als eine Redeweise diskreditiert, die bei ihrem allegorischen Charakter die schöne Muße entschuldigt. Vor allem kann diese Rhetorik leicht von Samgin ausgeliehen werden, der damit seinen wahren Widerstand gegen Kutusow kaschiert. In einem Gespräch mit Nechajewa bringt er ihn auf den Punkt: »Ich begreife, daß das Leben übermäßig kompliziert ist, aber Kutusow beabsichtigt nicht, es zu vereinfachen, sondern zu verunstalten.« (KS/B1/217218) Das Bedürfnis nach der Reduktion übermäßiger Komplexität wird fortan zentral für Samgins Positionierung gegenüber unterschiedlichen ideologischen Lagern. Trotz der Ironie und der Kritik, die im dritten Kapitel sowohl dem marxistischen Gedankengut, als auch der – vor allem literarischen – Décadance gilt, darf hier nicht der Eindruck entstehen, dass in Gorʹkijs Text beide Denkrichtungen sarkastisch desavouiert werden. Gerade an ihrer Opposition, die in der Episode äußerst scharfe Züge annimmt, zeigt sich eine fundamentale Kongruenz. Sie wurde von V. Piskunov wie folgt beschrieben: Eine frappierende Gemeinsamkeit: die heimlichsten Gedanken über die Kunst von Gorʹkij und von seinen Antagonisten aus dem Lager der russischen Décadance, die gegen den Positivismus gerichtet sind, schließen eine gemeinsame Bedingung ein, den Menschen über den äußeren Umständen des Daseins zu erheben.265 Tatsächlich könnte man in der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Décadance die prinzipielle Übereinkunft über die Reformbedürftigkeit des kollektiven Ge265 Пискунов: Завещание, S. 18.

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meinwesens entdecken, doch ist aus meiner Sicht dahingestellt, ob es auf eine »Erhebung« des Menschen hinausläuft. Vielmehr registriert Gorʹkij im dritten Kapitel einen ähnlichen Befund über die Kultur der Jahrhundertwende, wie er im »Mann ohne Eigenschaften« zur biografischen Erfahrung des Protagonisten wurde: den Lauf ins Leere des positivistischen Pathos der Menschenerkenntnis und seine Ablösung durch »den unscharfen Typus Mensch«, der den kühnen Vorhaben des »mathematischen Menschen« eine nebulöse Weltsicht entgegenstellte. Auf den gemeinsamen geistesgeschichtlichen Kontext zwischen Gorʹkijs und Musils Roman weisen neben der gemeinsamen Referenz auf Maurice Maeterlinck, den Diotima im »Mann ohne Eigenschaften« zitiert und Nechajewa Samgin ausleiht, die gelben Calmann-Levy Bände, die in Diotimas Salon auf dem Tisch, in Nechajewas Wohnung unter dem Tisch liegen. Die Editionen des französischen Verlags, der für seine Ausgaben der zeitgenössischen Literatur berühmt war, werden von Nechajewa nervös mit dem Fuß getreten. So verweist der Romanerzähler ironisch auf die Basis, auf der die Emotionen und Worte der Rednerin fußen. Sie favorisiert die symbolhaft-verschlüsselte Ausdrucksweise der literarischen Décadance: »[…] allzu unverhüllte Worte gelangen nicht bis zu meiner Seele.« (KS/B1/206). Eine solche Seelenrhetorik, wie sie von Diotima in Musils Roman gepflegt wird, wird von Nechajewa vertreten, wenn sie dem wenig sprechenden Klim die »Achtung vor den Geheimnissen [der] Seele« (KS/B1/222) attestiert. Dass zwischen der Vorliebe für die französische Dichtung und der Rationalitätsskepsis ein Zusammenhang besteht, wird von Turobojew angemerkt, der sich in seiner Replik, mit der er sich von Nechajewas Begeisterung über die Dichtung von Jean Lahor und Edmond Rostand distanziert, relativ direkt dazu äußert: »Das ist aufzufassen als Anzeichen einer Übersättigung der Kleinbürger mit billigem Rationalismus. Das ist der Anfang vom Ende einer sehr unbegabten Epoche« (KS/B1/197). Damit beschreibt er das Dahinsinken des positivistischen Pathos und seine Ablösung durch die Dichtung der Décadance, die in der breiten Bevölkerung an Anerkennung gewinnt,266 als Symptome einer Krise, die epochale Maßstäbe annimmt. »Les Aveugles« von Maurice Maeterlinck werden von Turobojew als »eine Allegorie zur Belehrung von Schülern der Oberstufe« bezeichnet, die »recht geschickt gemacht ist«: »Die Blinden sind die heutige Menschheit, unter den Blindenführern kann man – je nach Wunsch – Verstand oder Glauben verstehen« (KS/B1/210). Trotz seiner scheinbaren Beiläufigkeit weist dieser Kommentar auf die zentrale Problematik der Episode – den Gegensatz zwischen dem Verstand und dem Glauben, die auch die Präsentation des marxistischen Gedankenguts prägt. Dabei erscheint die Frage danach, ob Marxismus als Wissenschaft oder als Glaubenslehre aufzufassen ist, sekundär gegenüber der Frage, ob die »erblindete« Menschheit sich durch die Wissenschaft oder durch den Glauben leiten lässt. In Turobojews ironischer Bewertung kann man sich »je nach Wunsch« beliebig für das eine oder andere entscheiden.

266 Iosif Vajnberg bewertet »Klim Samgin« als »in künstlerischer Form festgehaltene Soziologie der literarischen Geschmäcke, lebendiges Bild des realen Schicksals literarischer Richtungen in der Wahrnehmung des russischen Lesers am Beginn des Jahrhunderts.« (Вай нберг: Русское декадентство, S. 356. Zur Präsentation literarischer Décadance im Roman insbes. S. 358-359)

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Dass die Gründe der aufkommenden kulturellen Krise auf einer tieferen Ebene als dem Gegensatz zwischen dem positivistischen Rationalismus und der »kleinbürgerlichen Übersättigung« zu suchen sind, geht aus dem finalen Beitrag Turobojews in der Szene der Osternacht hervor. In der Unterhaltung am Festtisch werden die versteckten Konfrontationen der Episode bei ausgiebigem Alkoholkonsum auf die Spitze getrieben. In der finalen Diskussion zwischen Kutusow und Turobojew stellt der Letzterer sein Verständnis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krise ausdrücklich ernst, ohne die gewohnte Ironie zur Diskussion: […] Kutusow [stand], die Rockschöße zurückgeschlagen und die Hände in den Taschen, wie ein Denkmal mitten im Zimmer und [hörte] mit hochgezogenen Brauen den Reden von Turobojew zu. Klim sah Turobojew zum erstenmal sprechen ohne das übliche Lächeln und die Grimassen, die sein schönes Gesicht entstellten. »Es ist ganz klar, daß die Kultur zugrunde geht, denn die Menschen haben sich angewöhnt, auf Kosten fremder Kraft zu leben, und diese Gewohnheit hat alle Klassen, alle menschlichen Beziehungen und Handlungen durchdrungen. Ich verstehe durchaus: diese Gewohnheit rührt von dem Wunsch des Menschen her, sich die Arbeit zu erleichtern. Aber sie ist ihm zur zweiten Natur geworden und hat nicht nur abscheuliche Formen angenommen, sondern untergräbt den tiefen Sinn der Arbeit, ihre Poesie.« Kutusow lächelte freundlich: »Sie sind ein Idealist, Turobojew. Und ein Romantiker. Das ist aber schon ganz unzeitgemäß.« (KS/B1/227-228) Obwohl Turobojews Thesen marxistisch anmuten, da er solche Begriffe wie »Klassen« oder »Ausbeutung« verwendet, werden darin die Grundsätze der politischen Ökonomie neu interpretiert. In der Ausbeutung erkennt Turobojew die Ursache einer kulturellen Krise, die »alle menschlichen Beziehungen und Handlungen« durchdringt. Der Untergang der Kultur findet dadurch statt, dass der »tiefe Sinn der Arbeit, ihre Poesie« untergraben wird. Ein solches Verständnis der kulturellen Krise kommt dem Autor Gorʹkij äußerst nahe. Die Tatsache, dass Gorʹkij diese Gedanken dem einzigen Vertreter des Adels im Roman in den Mund legt, lässt an der traditionellen Lesart des Romans zweifeln, in der Kutusow als der einzige »positive« Held und Sprachrohr des Autors fungiert. Kutusow, der in der oben zitierten Passage in einem monumentalen Licht erscheint, »wie ein Denkmal mitten im Zimmer« stehend, verfährt in seiner Argumentation gegen Turobojew auf die gewohnte Weise, indem er ihn als einen »Idealisten«, »Romantiker« und überhaupt als »unzeitgemäß« bezeichnet. Doch liegt die Ironie der Konstellation Kutusow-Turobojew darin, dass Kutusow des »klugen Burschen« (KS/B1/191) als eines ebenbürtigen Gesprächspartners bedarf und ihn zu schätzen weiß. Warum das so ist, lässt sich kaum erklären, wenn man Kutusow bloß als Repräsentanten des Marxismus versteht. Auf Samgins direkte Frage hin, was Kutusow an Turobojew gefalle, antwortet dieser wie folgt: »In bestimmter Dosis sind Säuren für den Organismus genauso unentbehrlich wie Salz. Ich ziehe Tschaadajewsche Gesinnung der süßlichen Weisheit gewisser literarischer Glöckner vor.«

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Das wurde im Beisein Dmitrijs gesagt, der hastig erläuterte: »Turobojew ist interessant als Vertreter einer absterbenden Klasse.« Kutusow blickte ihn lächelnd an und spendete ihm Beifall: »Richtig, Mitja!« Samgin fand das Lächeln nicht schmeichelhaft für den Bruder. (KS/B1/196-197) In seiner Antwort zieht Kutusow eine Analogie zwischen Turobojew und dem Ideologen der prowestlicher Richtung Pëtr Čaadaev, der wegen seiner ironischen und kritischen Haltung der russischen Wirklichkeit gegenüber bekannt ist. Seine Säure und sein Salz sind nach Kutusow der »süßlichen Weisheit gewisser literarischer Glöckner« vorzuziehen; dadurch wird Turobojew, der keiner schriftstellerischen Tätigkeit nachgeht und erst später im Roman als Journalist tätig sein wird, in den literarischen Kontext eingeordnet. Diese Bewertung mutet kryptisch an, lässt sich jedoch vor dem Hintergrund der Vermutung aufschließen, dass hinter der Figur Turobojews teilweise der Romanautor selbst steht, dessen Pseudonym »der Bittere« (russ. »Горький«) auf bestimmte Geschmacksempfindungen, die sich im übertragenen Sinne als Herausforderung des öffentlichen Geschmacks verstehen lassen, referiert. Kutusows Interesse an Turobojew liegt also ein Interesse an der schönen Literatur zu Grunde. Dabei zeigt sich Kutusow als jemand, der auch selbst ironisch über Plattitüden des Marxismus, wie sie in dem Beitrag von Dmitrij Samgin zum Ausdruck kommen, lächeln kann. Das ausdrückliche Werben Kutusows um Turobojew lässt sich als verschlüsselter Hinweis auf Gorʹkijs eigenes Verhältnis mit dem marxistischen Lager der russischen Gesellschaft verstehen. So wie Lenin den Roman »Mutter« positiv bewertete, da er der Erziehungsarbeit unter den Arbeitern dienlich sei, schreibt Kutusow der Kunst eine erzieherische Funktion zu. Auch Kutusows Haltung bei seinem Dialog mit Turobojew – »die Rockschöße zurückgeschlagen und die Hände in den Taschen« – verweist auf eine beliebte Gesprächspose Lenins. In der Episode werden zwei Taktiken vorgeführt, um marxistische Argumente abzuwehren: zum einen explizit ironisch anhand Samgins Taktik, griffige Sprüche der literarischen Décadance auszuleihen und Kutusows Repliken entgegenzustellen, und zum anderen auf einer subtileren Ebene anhand des Konflikts zwischen Kutusow und Turobojew, in dem es um die Begründung einer kulturellen Reform geht, welche die Kultur aus der Krise retten soll. Eine noch tiefere Ebene dieses Konflikts zeigt sich aber, wenn man die Beziehung zwischen Turobojew und Jelisaweta Spiwak beachtet. Dass Turobojew der geheimen Marxistin »den Hof macht, und, wie es scheint, nicht hoffnungslos« (KS/B1/189), sagt bereits am Anfang der Episode Dmitrij Samgin. Später deutet Nechajewa eine Beziehung zwischen den beiden an: »Sonderbar, daß die kalte, engherzige Spiwak sich für ihn [Turobojew] begeistert« (KS/B1/200). Schließlich erlebt Samgin eine Szene, bei der Spiwak Turobojew ein geheimes Zeichen durch das dreifache Klopfen mit einem Stuhlbein gibt. Diese subtil gehaltenen Zeichen deuten auf eine Liebesaffäre; bei eingehender Betrachtung zeigt sich, dass Spiwaks Interesse an Turobojew parallel zu Kutusows Versuchen, ihn für den Marxismus zu gewinnen, thematisiert wird und das Ende ihres Verhältnisses mit der Enttäuschung Kutusows über Turobojew zusammenfällt. In der Szene der Osternacht bemerkt Samgin mit Staunen eine Auseinandersetzung zwischen der »schweigsamen« Spiwak und Turobojew, in der

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es um die Schönheit des Kaukasusgebirges geht. Während die erste die Natur des Kaukasus begeistert lobt, kommentiert Turobojew »träge«: Das Interessanteste im Kaukasus ist das tragische Brüllen der Esel. Offenbar begreifen nur sie, wie sinnlos diese Anhäufung von Steinen, Gletschern und Schluchten und die ganze gepriesene Großartigkeit der Gebirgsnatur ist. (KS/B1/226) Der Streit, bei dem es um ein scheinbar harmloses Thema geht, verwundert Samgin, da sich Turobojew über Spiwak offensichtlich lustig macht und »wohl überhaupt nicht [wünscht], daß sie in seiner Gegenwart mit anderen spräche.« (KS/B1226) In der Konstellation Spiwak/Turobojew/Kutusow bleibt die Schönheit Spiwaks, die ihrer Figur die Überzeugungskraft einer Glaubensführerin verleiht, das letzte Argument zugunsten des aktiven politischen Engagements für die proletarische Revolution, das von Turobojew in der Szene der Osternacht abgelehnt wird. Die Bemühungen beider, den Kulturkritiker Turobojew als Mitstreiter zu gewinnen, scheitern an der ironischen Haltung des Letzteren, der es zwar verstehe, »daß es vorteilhafter wäre, sich dem Leben von links anzupassen«, dazu aber nicht fähig sei (KS/B1/196). Obwohl Turobojew Einblick in den krisenhaften Zustand der Kultur und in die Ursachen der Krise besitzt, zögert er am Übergang zum politischen Handeln und deutet dadurch auf eine Schwachstelle der marxistischen Ideologie. Ihr fehlt eine wirksame Idee, um die sich die menschlichen Willen versammeln und die Revolution nicht als politisches Ereignis, sondern als eine kulturelle Erneuerung gestalten würden. Die Suche nach einer solchen Idee wird in Salongesprächen geführt, in denen die Gesprächspartner von vorne herein von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugt sind.

4.2.2.3

Die Notwendigkeit der Revolution

Dass die Überzeugung von der Notwendigkeit der Revolution in »Klim Samgin« a priori gilt, zeigt sich deutlich an der Bestrafung, die Klim Samgin ereilt, als er sie in Zweifel zieht. Auf den ersten Blick erscheinen Samgins Worte weit weniger radikaler als manch ein Diskussionsbeitrag in Premirows Salon: Seit meiner Kindheit höre ich vom Volk, von der Notwendigkeit einer Revolution, von alledem, wovon die Menschen sprechen, um sich einander klüger zu zeigen, als sie es in Wirklichkeit sind. Wer – wer spricht davon? Die Intelligenz. (KS/B1/228) Samgin sieht das Heraufbeschwören der Revolution als ein geläufiges Ritual unter Intellektuellen an. Als er von Turobojew an seinen Onkel erinnert wird, der in einem neuen Prozess eine weitere Gefängnisstrafe bekam, wird Samgin noch konkreter und lauter: Klim schrie: »Was wollen Sie sagen? Man Onkel ist ebensolch ein Zerfallsprodukt der obersten Gesellschaftsschichten wie Sie selbst… wie die ganze Intelligenz. Sie findet keinen Platz im Leben und ist darum…« (KS/B1/229) Seine These, dass der Glaube an die Notwendigkeit der Revolution aus dem Treiben der Intellektuellen entsteht, die mit dem Leben unzufrieden sind, bekräftigt Samgin mit dem marxistisch anmutenden Argument des Verfalls der »obersten Gesellschafts-

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schicht«, was Kutusow neugierig macht. Doch äußert sich Samgin nicht zugunsten der Revolution, sondern plädiert für eine Evolution als Gesetz des Volkslebens: »Das Volk selbst macht nie Revolution, es wird von den Führern dazu getrieben. Es fügt sich ihnen eine Zeit lang, aber bald beginnt es, sich den Ideen, die ihm von außen aufgezwungen werden, zu widersetzen. Das Volk weiß und fühlt, daß sein einziges Gesetz die Evolution ist. Die Führer suchen auf alle mögliche Art, dieses Gesetz zu verletzen. Das ist die Lehre, die uns die Geschichte erteilt…« Eine interessante Geschichte«, sagte Turobojew. »Eine sehr alte«, setzte Kutusow hinzu und erhob sich. »Nun, es wird Zeit, daß ich gehe.« (KS/B1/229) Samgin problematisiert die Tätigkeit von Führern, die dem Volk Ideen aufzwingen; für ihn stellt eine Idee immer schon etwas Aufgezwungenes dar, was an das Volk von außen herangetragen wird und natürlichen Widerstand hervorruft. Kutusow betrachtet diese These als »eine sehr alte« Geschichte, die der Diskussion nicht wert ist. Darauf reagiert Samgin schroff – alle Worte »entschwinden« (KS/B1/229) ihm – und greift Kutusow persönlich an: »Sie haben die unangenehme Angewohnheit, Kutusow, mit vorgestelltem linkem Bein dazustehen. Das bedeutet: Sie halten sich schon für einen Führer und denken an Ihr Standbild…« »Um in Schnee und Regen zu stehen«, murmelte Dmitrij Samgin, den Arm um den Bruder legend. Klim stieß ihn mit der Schulter zurück und fuhr kreischend fort: »Doch bei ihrem Glauben, Kutusow, können Sie nicht auf die Rolle eines Führers Anspruch erheben. Marx gestattet das nicht, es gibt keine Führer, die Geschichte wird von den Massen gemacht. Lew Tolstoi hat diese irrtümliche Idee verständlicher und einfacher als Marx entwickelt, lesen Sie mal ›Krieg und Frieden‹.« Klim stieß den Bruder von neuem zurück. »Lesen Sie es! Nebenbei bemerkt haben Sie denselben Familiennamen wie der Heerführer, den die Armee kommandierte.« (KS/B1/229-230, Hervorgehobenes in meiner Übersetzung, bei Ruoff fehlerhaft als »der«). Als einer, der die Rolle eines Führers ausüben will, posiert Kutusow laut Samgin bereits wie für sein eigenes Standbild, indem er beim Sprechen das linke Bein vorstellt. Diese Haltung erscheint genauso lächerlich wie unlogisch, da die marxistische Lehre die Masse als Medium der Geschichte betrachtet. Dieser Ansatz scheint Samgin besser in Tolstojs »Krieg und Frieden« formuliert zu sein; er macht ein Wortspiel mit dem Namen Kutusow, über das keiner der Anwesenden lacht. Auffällig ist dabei die Taktik seines Bruders, der mehrere Versuche unternimmt, Samgin am Sprechen zu hindern: zunächst durch eine ironische Unterbrechung (»um in Schnee und Regen zu stehen«) und in der Folge vermutlich körperlich, da Samgin ihn mehrmals zurückstößt. Als Samgin am nächsten Morgen aufwacht, ohne sich an den weiteren Verlauf des Gesprächs erinnern zu können, begegnet er den Vorwürfen seines Bruders, laut denen Samgin »auf einmal so etwas Kindisches« vorbrachte, dass man nun nicht weiß, »was man von dir halten soll« (KS/B1/230). In der Darstellung Dmitrijs erscheint Samgins Tirade in einem komischen Licht als kindisches Gerede eines Betrunkenen, gegen das sich keine Polemik oder Einwände lohnen. Samgin hätte so gesprochen, »als wenn sich in ein

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Orchester ein fremder Musiker eingeschlichen und aus Mutwillen nicht das mitgespielt hätte, was alle anderen spielen« (KS/B1/230). Indem Samgin die Notwendigkeit der Revolution als Produkt der Redetätigkeit von Intellektuellen darstellt und die Möglichkeit der Volksführung im Geiste einer Idee anzweifelt, vergreift er sich vor versammelter Gesellschaft im Ton und wird daraufhin aus ihr verbannt. Das Unangemessene und sogar Gemeine seines Benehmens wird zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass Samgin in seiner gereizten Stimmung dem Bruder verrät, dass Kutusow ein Liebesverhältnis mit der Marina hat, die sein Bruder anbetet, und seine Erzählung mit dem Spruch abschließt: »Sie wird ihn natürlich bevorzugen…« (KS/B1/231). Die ideologische Gemeinheit Samgins, der nicht an die Sache der Revolution glaubt und in seinen Ansichten tief konservativ ist, fällt also mit seiner moralischen Gemeinheit zusammen, bei der er absichtlich die Gefühle seines Bruders verletzt. Auch wenn sich Samgin gleich dafür schämen muss, dem Bruder die Geschichte über Marina und Kutusow erzählt zu haben, gibt es für ihn fortan keine Möglichkeit einer Entschuldigung oder des Rücktritts – er wird von der Gesellschaft ausgestoßen, wo keiner mit ihm sprechen will, und verlässt bald darauf die Stadt, aus der ihn Fabrikgeräusche verjagen: Von seinem Fenster aus sah Klim über die Dächer hinweg die drohend zum Himmel erhobenen Finger der Fabrikschlote; sie erinnerten ihn an die geschichtlichen Voraussagen und Prophezeiungen Kutusows, erinnerten ihn an den spitzgesichtigen Arbeiter, der feiertags geheimnisvoll über die Hintertreppe zu seinem Bruder Dmitrij kam […]. Zuweilen schien es, als besäße der drückende Rauch der Fabrikschlote eine sonderbare Eigenschaft, als wollte er die Stadt, über die er aufstieg und zerrann, zerfressen. (KS/B1/233) In […] dem vielstimmigen Heulen der Fabriksirenen, das am frühen Morgen den Schlaf zerriß, hörte Klim etwas, das ihn aus der Stadt trieb. Er merkte, daß in ihm Gedanken, Bilder und Vergleiche entstanden, die seinem Wesen nicht entsprachen. Wenn er über den Schloßplatz oder daran entlang ging, sah er nur wenige Passanten über das kahle Pflaster eilen, während er sich gewünscht hätte, daß eine bunte, freudig lärmende Menschenmenge den Platz füllte. Die Alexandersäule erinnerte unangenehm an einen Fabrikschornstein […]. (KS/B1/234) Das Bild der künftigen Massenunruhen in der Stadt wird visuell durch Fabrikschornsteine und akustisch durch Fabrikgeräusche intoniert. Da Kutusow nicht mehr mit ihm spricht, bekommt Samgin die Gelegenheit, sich selbständig mit dem Marxismus auseinanderzusetzen und favorisiert ihn nun vor der Lehre der Narodniki, da er in den Gesetzen der politischen Ökonomie die Annäherung an »das Gesetz der allmählichen und friedlichen Entwicklung« sieht. Diese Auslegung des Marxismus setzt er dem politischen Aktivismus entgegen: Laut Samgin gab »ihre jugendliche Dummheit« »diese[n] geschwätzigen Leutchen« »den vermessenen Wunsch ein, den in Jahrhunderten festgelegten, gleichmäßigen Fortlauf des Lebens anzutreiben, anzupeitschen« (KS/B1/235). Samgin glaubt nicht an die Umsetzung dieser Ideen in der Praxis der revolutionären Bewegung und fürchtet sich vor der politischen Manipulation durch die »Führer des Volkes«, die ihn – wie vom Vater erklärt – als Opfer auf den Altar des Volkes legen werden. Dabei bezeichnet er die Anführer der Aufstandsbewegungen als »Feinde der

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Kultur« (KS/B1/235), was ihn in einen permanenten Widerspruch zu dem »durchgängig ideologisierten Leben der Gesellschaft im XX. Jahrhundert« bringt, das laut L.P. Egorova in »Klim Samgin« als einem »ideologischen Roman im höchsten Sinne des Wortes« dargestellt wird.267 Obwohl Samgin am Ende der Episode die Stadt verlässt, trägt er weiterhin deutliche Spuren des Aufenthalts im Raum der Geschichte. Er nimmt kaum an politischen Aktivitäten teil, wird aber von anderen Figuren als ein konspirierender Revolutionär angesehen. Bereits auf seiner Durchreise in Moskau wird Samgin von Makarow und Ljutow für einen Marxisten gehalten, ohne dass er selbst ein Wort darüber verliert. Es ist für ihn auch deshalb besonders einfach, in der Gesellschaft für einen Marxisten zu gelten, da man »mit Marx« – Ljutows treffendem Ausdruck nach – »nicht quasselt« (KS/B1/239), weshalb der schweigsame Samgin automatisch für einen Marxisten gehalten wird. Samgin gehört aber auch deshalb zum Umfeld, in dem die Idee für eine russische Revolution gesucht wird, da er darin eine Funktion zu erfüllen hat. Am Ende des Kapitels erinnert sich Samgin an Turobojews Worte: Auf alle Fragen, Samgin, gibt es nur zwei Antworten: ja und nein. Sie wollen anscheinend eine dritte ausdenken? Das ist der Wunsch der meisten Menschen, doch bis jetzt ist es noch niemandem gelungen, ihn zu verwirklichen. (KS/B1/248). Der ironische Kommentar wertet Samgins Dazwischengehen zwischen unterschiedliche Lager als Prozess der Suche nach einer Alternative, die es real nicht gibt. Auf diesem Weg bedarf Samgin keiner Führer und stellt sich im letzten Satz des Kapitels die rhetorische Frage: »Wozu brauche ich Turobojew, wozu Kutusow?« (KS/B1/248).

4.2.3

Das doppelte Sujet

In der St. Petersburger Episode werden im Roman zwei Sujetlinien angelegt: zum einen geht es um die Suche nach einer Idee für die Revolution, die als kulturelle Erneuerung gedacht wird, und zum anderen um die Suche nach der Möglichkeit einer alternativen, weder bejahenden noch verneinenden Haltung gegenüber dem ideologischen und politischen Druck. Entlang dieser Linien entwickelt sich die Handlung des Romans, bis sie die Schwelle zwischen dem zweiten und dritten Band erreicht. Diese doppelte Sujetführung lässt sich als eine Variation der Struktur begreifen, die ich im Theoriekapitel der vorliegenden Arbeit als basales Muster der Erzählungen im Modus der historischen Zeit charakterisiert habe. Das doppelte Sujet stellt eine Wechselbeziehung zwischen der subjektiven Zeitwahrnehmung und der kollektiven Dynamik her, indem eine permanente Übertragung zwischen dem subjektiven Horizont der Figuren und der in Diskussionen und Reflexionen objektivierten kulturellen Realität stattfindet. Dieses doppelte Sujet darf nicht mit der These von dem »doppelten Zentrum« des Romans verwechselt werden, gegen das S.I. Suchich polemisierte. Laut Suchich diente diese These als ein Mittel, den »unbequemen und sogar ›unanständigen‹ Protagonisten« loszuwerden und ihn zu einer peripheren Gestalt herabzusetzen. In den Mittelpunkt 267 Егорова: »Жизнь Клима Самгина«: современные аспекты изучения, S. 381.

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Historische Zeit im Narrativ

der Betrachtung rückte das Erwachen der revolutionären Massen unter der Führung Kutusows. Dafür nahm die Forschung laut Suchich das Argument in Kauf, dass Gorʹkij im Roman sein Darstellungsziel erreiche, obwohl er dafür einen ungeeigneten Protagonisten wählte.268 Dieser Kritik schließe ich mich ausdrücklich an. Wie oben bereits ausgeführt, sehe ich die Figur von Kutusow und anderen Bolschewiken nicht als ein zweites Zentrum, sondern als Peripherie der Romanhandlung an. In ihrem Mittelpunkt steht die kulturelle Genese der russischen Revolution, die im »Klim Samgin« ein eigenständiges Sujet bildet. Dieses Sujet wird im Werdegang des Protagonisten gespiegelt, für den die geistigen Debatten rund um die russische Revolution existentielle Realität darstellen. Helene Imendörffer interpretierte diese komplexe, doppelte Struktur im Zeichen eines Widerspruchs zwischen dem historischen Roman und dem Roman des Bewusstseins. Laut Imendörffer werden im Roman durch die Kombination beider Genres »auch die in »Klim Samgin« enthaltenen Elemente eines Bildungsromans überwunden«.269 Aus dieser Perspektive erscheint der Roman als ein Konglomerat unterschiedlicher Ausprägungen des Genres, die sich gegenseitig negieren. Obwohl der Beobachtung, dass »der Bildungs- und Entwicklungsgedanke im ›Klim Samgin‹ nicht mehr tragend« ist,270 grundsätzlich zuzustimmen ist, sehe ich in der forcierten Bewusstseinsdarstellung keinen Anlass, seine Zugehörigkeit zum Genre des historischen Romans in Zweifel zu ziehen. Gorʹkij bedient sich der subjektiven Zeitwahrnehmung des Protagonisten, um den Prozess der Entstehung der russischen Revolution zu reflektieren, und stellt dabei die Auseinandersetzungen rund um die Idee der Revolution in den Fokus der Darstellung. Dadurch erschafft er einen etwas ungewöhnlichen historischen Roman, der nicht den Mustern der politischen Geschichte folgt. Doch statt wie Imendörffer Samgins Lebensgeschichte pauschal dem »Ablauf der Geschichte« entgegenzustellen,271 konzentriere ich mich auf die sorgfältig ausgestaltete Erzählebene, auf der sich die Debatten um die Idee der künftigen Revolution abspielen. Laut Jürgen Rühle ist »Klim Samgin« gerade deshalb nicht als »historischer Roman im herkömmlichen Sinne« zu verstehen, da […] Geschichte hier, wie die Bezeichnung Powest nur unzulänglich ausdrückt, eine andere und tiefergreifende Funktion [hat]: sie ist den Personen nicht mehr gegenübergestellt als Lebensraum, Bewährungsfeld, Umweltfaktor, sondern geht in ihnen auf. […] Die Geschichte macht die Menschen – so wie sie wiederum Geschichte machen.272 Dieser Eindruck der Verfügbarkeit der Geschichte entsteht nicht etwa dadurch, dass die Figuren als bedeutende Persönlichkeiten Einfluss auf das politische Leben ausüben,

268 269 270 271

Сухих: Заблуждение и прозрение, 124, 127-129. Imendörffer: »Klim Samgin«, S. 938. Ebd. So Imendörffer: »In ›Klim Samgin‹ kehrt Gorʹkij nur teilweise zur Lebensgeschichte zurück. Diese gerät zunächst in Konflikt mit dem Ablauf von Geschichte. Beide jedoch, also Lebensgeschichte und Ablauf von Geschichte, vermögen für das aufnehmende Bewußtsein das Material nicht zu organisieren.« (Ebd, S. 936) 272 Rühle: Literatur und Revolution, S. 31. Zur Verschränkung beider Aspekte in »Klim Samgin« vgl. Горбаневский: Ономастика в художественной литературе, S. 48.

4. Narration

sondern dadurch, dass sie als Intellektuelle durch ihre Argumente direkt zur Suche nach einer Idee für die russische Revolution beitragen. In diesem Handlungsraum, dessen Anlage im Roman oben ausführlich diskutiert wurde, verschränkt sich die Suche nach einer Idee der russischen Revolution mit dem Leben Samgins aufs innigste. So spricht Suchich von einem »absoluten historisch-menschlichen Kontinuum« des Romans, in dem […] Geschichte und Psychologie, Mensch und Ereignis enger miteinander verschränkt sind, als es in jedem anderen Werk der russischen und sowjetischen Literatur einschließlich »Krieg und Frieden« und »Der stille Don« der Fall war.273 Die enge Verknüpfung zwischen den beiden Sujetlinien gab in der Forschung den Anlass zu metaphorischen Umschreibungen und bildlichen Vergleichen. A.V. Barmin spricht in dieser Hinsicht von einer »doppelten Gestalt der Zeit«, von einer »durchgängigen gegenseitigen Aufreihung von der Gestalt des Protagonisten und der Zeitgestalt«, von »einer Verflechtung von Zeiten« und »einer doppelten Spirale, die in gegensätzliche Richtungen verläuft«274 . Laut V.S. Voronin befinden sich »die leere Seele des Protagonisten und vierzig Jahre der russischen Geschichte in einer seltsamen ›verwüstenden Gleichung‹« (russ. »в некотором странном опустошающем уравнении«).275 In einer anderen Publikation verwendet er für die Bezeichnung dieses Zusammenhangs das Bild eines »chronometrischen Ereigniskonus«, dessen Boden »die Geschichte« und dessen Spitze »Samgin« darstellt.276 An diese Thesen Voronins knüpfte E.G. Belousova in ihrer Beschreibung des »unikalen gegenläufigen Wesens« von Gorʹkijs Roman an.277 In der vorliegenden Untersuchung kann das Potenzial dieser Formulierungen und bildlichen Vergleiche kaum ausgeschöpft werden; sie lassen vermuten, dass die zukünftigen Untersuchungen der Poetik des Romans noch viel Neues ans Licht bringen werden. Der Zusammenhang zwischen Samgins Lebensgeschichte und der Suche nach einer Idee für die russische Revolution wird im vorliegenden Kapitel als das doppelte Sujet des Romans untersucht. Dabei wird es zum einen um ausgewählte Stationen der Entwicklung beider Sujetlinien und zum anderen um die Verknüpfungen zwischen ihnen gehen. Durch die Beschreibung der Komposition dieses doppelten Handlungsbogens soll das Verständnis des »kolossalen, auf den ersten Blick sperrigen künstlerischen Systems«278 von Gorʹkijs Roman im Zeichen der Gestaltung der historischen Zeit erweitert und die in ihm geschilderte Genese der russischen Revolution analysiert werden.

273 Сухих: Заблуждение и прозрение, S. 148. Vgl. die Thesen des gleichen Autors zum Heranreifen dieser Struktur in früheren Werken Gorʹkijs: Сухих, С.И.: »Жизнь Клима Самгина‹ и эволюция романной формы в творчестве М. Горького«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-1997. Материалы международной конференции »М. Горький и ХХ век«, Нижний Новгород: ННГУ 1997, S. 63-68, hier S. 65. 274 Бармин, А. В.: »Время в композиции эпопеи«, in: Синенко, В.С. (Hg.), Поэтика русской советской прозы. Межвузовский научный сборник, Уфа: Башкирский ун-т 1987, S. 26-35, hier S. 31. 275 Воронин, В.С.: »Законы« фантазии и абсурда в трагическом мироощущении русской литературы ХХ в. Дисс. на соиск. зван. уч. степ. д. ф. н., Волгоград 2002, S. 61. 276 Воронин: Художественное время, S. 5. 277 Белоусова: Своеобразие художественного мира »Жизни Клима Самгина«, S. 24. 278 Синявский: О художественной структуре, S. 132.

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Historische Zeit im Narrativ

4.2.3.1

Russische Revolution: Der Intellekt und die Motivation zum Handeln

Das Wort »Revolution« ist auf den Seiten von »Klim Samgin« allgegenwärtig, und der dahinter stehende Begriff spaltet sich in mehrere Schichten. Die Revolution wird durch politische Programme unterschiedlicher Richtungen, darunter auch diverser Ausprägungen des russischen Marxismus, angekündigt, es wird in zahlreichen Gesprächen über die Notwendigkeit und den möglichen Verlauf der künftigen politischen und sozialen Wende diskutiert. Dieses Wort markiert außerdem den Endpunkt, auf den die Erzählung zuläuft, spaltet sich jedoch auch in dieser Eigenschaft in zwei verschiedene Ereignisse: das angedachte Ende im Geschehen der Oktoberrevolution 1917 und die einzige tatsächlich erzählte Episode revolutionärer Ereignisse – die russische Revolution von 1905. Vor dem Hintergrund dieser Mehrdeutigkeit verstehe ich die russische Revolution im Roman in erster Linie als Projekt der russischen Intellektuellen für die umfassende kulturelle Umgestaltung des Landes. Dieses Sujet besitzt Ähnlichkeit zu Musils Parallelaktion, die als eine Suche nach der großen Idee, die der Welt das wahre Wesen Österreichs zeigen sollte, konzipiert wurde. Auch wenn die Parallelaktion rein fiktiv ist und sich die Bezeichnung »russische Revolution« auf belegbare politische Ereignisse bezieht, ist die Parallelaktion in der fiktiven Realität des »Mann ohne Eigenschaften« durchaus real; genauso nimmt die russische Revolution in Gorʹkijs Erzählung Züge der fiktiven Realität an. In beiden Romanen wird vom Prozess der Suche nach einer konsolidierenden Idee berichtet; das Scheitern dieser Suche zieht die Reflexion über den gesellschaftlichen Umgang mit Ideen nach sich. Im doppelten Sujet des »Mann ohne Eigenschaften« wird der Umgang mit Ideen als eine anthropologische Konstante einer Kritik unterzogen. Hingegen werden Gorʹkijs Beobachtungen der kollektiven Ideendynamik durch das spezifische Selbstverständnis der russischen Intellektuellen oder »intelligencija« gebrochen. Diese in der russischen Literatur und Publizistik mehrfach besprochene soziale Gruppe wird von Gorʹkij, wie Andrej Sinjavskij thematisierte, neu interpretiert: »Die gestrigen Kaufleute Ostrowskijs fangen an, mit Nietzsches Aphorismen zu sprechen […]. Čechovs Intellektuelle verteilten sich auf unterschiedliche Parteien«.279 Es besteht – wie Helene Imendörffer zu Recht betonte, […] ein Zusammenhang zwischen Gorʹkijs Auseinandersetzung mit der Intelligenz und der Tatsache, daß er von seiner Geschichtskonzeption her mit »Klim Samgin« ein umfangreiches Kapitel russischer Philosophiegeschichte, Literatur- und Kunstdiskussion, also Ideengeschichte und nicht etwa Sozialgeschichte vorlegt.280 In dieser Hinsicht liefert Gorʹkijs Roman einen Befund über das Verhalten eines Kollektivs, der in sich tief gespalten ist und gleichzeitig die einzig mögliche Quelle der Idee für die russische Revolution sein könnte. In der Mitte dieses Kollektivs konstituiert sich ein Typ, für dessen Bezeichnung Anna Sabat die Formulierung Samgins, »Leute mit verdrehten Gehirnen« (KS/B2/748), übernimmt und als »die ›weißen Raben‹ 279 Ebd., S. 174. 280 Imendörffer: »Klim Samgin«, S. 929.

4. Narration

der bürgerlichen Gesellschaft, Religionsprediger, Redner, Karnevalsfiguren, Dekadente« bezeichnet.281 Laut Sabat werden dabei insbesondere Redner als »verdrehte Leute« mit »übertriebener Gestik und reicher Mimik« ausgestattet.282 Die Äußerung, das Sprechen, die rhetorische Strategie wird im Roman, dessen Hauptinhalt von V.I. Žilcov treffend als »Geschichte einer Idee«283 bezeichnet wurde, zur Existenzform der Figuren und führt dazu, dass sich ihre Darstellung nach der Logik einer Ideenevolution richtet und sprunghaft verläuft.284 Diese Hinwendung zur Geistesgeschichte der russischen Revolution lässt sich am besten anhand der Unschärfe begreifen, mit der im Roman von politischen Ereignissen berichtet wird und die in der Forschung zum Roman bereits mehrheitlich aufgefallen ist. So u.a. L.F. Kiseleva: […] in diesem Roman, der von Gorʹkij als Chronik der russischen Geschichte über vierzig Jahre hinweg bezeichnet wurde, werden viele wichtige Ereignisse nicht einmal erwähnt, von anderen wird nur beiläufig und aus einem nebensächlichen Anlass gesprochen, sie fliegen vorbei, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.285 Laut I.I. Vajnberg besteht die Besonderheit von Gorʹkijs Roman darin, dass seine Gestalten »doppelte Staatsangehörigkeit« – sowohl in der »realen Welt« als auch in der »fiktiven Welt« – besitzen.286 Die Vermischung von Fakten mit Fiktion dient laut Vajnberg dazu, dem Fiktiven den Status einer »bedingungslosen und konkreten historischen Realität« zu verleihen.287 Die von Gorʹkij eingestreuten Details aus dem Bereich der politischen Geschichte haben demnach also eine Signalfunktion; auch weitere textgenetische Forschungsbefunde verweisen darauf, dass Gorʹkij mit den Hinweisen auf bestimmte Ereignisse (vor allem aber auf das Erscheinen von Büchern!) eine grobe Datierung der Handlung beabsichtigte.288 A.V. Florja ging in seiner jüngeren Publikation so weit, hinter der »trügerischen Materialität« von Gorʹkijs Text eine programmatische Verzerrung und »falsche Informativität«289 zu erkennen:

281 Сабат: Сатирический портрет, S. 87. 282 Ebd., S. 88. 283 Жильцов, В.И.: »О композиционной роли ›мысли народной‹ в ›Жизни Клима Самгина‹«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), Горький и вопросы художественного мастерства. Межвузовский сборник, Горький: Изд.-во ГГУ 1986, S. 67-78, hier S. 75. 284 Сабат: Идейно-художественная функция, S. 10. 285 Киселева: Внутренняя организация, S. 105. 286 Вайнберг: Рукописи как первооснова исследования, S. 101. 287 Ebd., S. 105. 288 Andrej Sinjavskij behauptete, dass man die Handlung auf jeder Romanseite mit der Genauigkeit bis zu einem Monat und manchmal bis zu einem Tag datieren kann (Синявский : О художественной структуре, S. 145). In der gleichen Zeit beschrieb I. M. Kasatkina, die Gorʹkijs persönliche Bibliothek untersuchte, dass Gorʹkij diese »Dokumentierung der Chronik« vor allem anhand der Hinweise auf Bucherscheinungen vornahm. (Касаткина, И.М.: »О пометах Горького на книгах его личной библиотеки в Горках«, in: Бялик, Б.А./Михайловский, Б.В./Самарин, Р.М. (Hg.), Горьковские чтения. 1953-1957, Москва: Издательство Академии Наук СССР 1959, S. 717729, hier S. 724) 289 Флоря: Иллюзорная стилистика, S. 206.

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Historische Zeit im Narrativ

Gorʹkij schreibt über vieles, was allgemein bekannt ist, aber es lässt sich aus irgendeinem Grund schwer wiedererkennen, obwohl es an sich und in der Literatur oft erinnert wurde«.290 Laut Florja findet im Roman eine absichtliche Verzerrung vieler Zitate statt, der Text wird durch nichtssagende Details überladen, die auch ein informierter Leser kaum zu entziffern vermag: »Gorʹkij spinnt einen komplexes Netz aus Zeichen, die sich als Metazeichen, d.h. Zeichen zweiter Ordnung erweisen […]«.291 Als signifikant erweisen sich dabei nicht die Ereignisse, sondern ihre Interpretationen, nicht die bekannten Zitate, sondern ihre Verzerrungen. Laut Helene Imendörffer wird im Roman auch die »historische Szene« meistens reflexiv gebrochen,292 »historische Fakten« werden »mithilfe des Botenberichts« mitgeteilt.293 Alena Markovič schrieb, dass die »historischen Ereignisse« zusätzlich zur Reflexion Samgins in den Äußerungen anderer Figuren bewertet und perspektivisch ausgerichtet werden.294 Das Besondere von Gorʹkijs Roman liegt laut Markovič nicht in der Darstellung der »realen historischen Ereignisse«, sondern in ihrer Aufarbeitung in den Dialogen des Romans.295 Da die Romanerzählung dabei vor allem auf kulturelle Realität referiert, wird sie laut Barry Scherr zu einer Art »virtual history of Russian intellectual life during the years before the revolution«.296 Diese virtuelle Geschichte, die sich als »historische Realität« tarnt, interpretiere ich im vorliegenden Kapitel als ein dynamisches Sujet und setze mich dadurch von der These ab, dass es in Gorʹkijs Roman »kein einheitliches Sujet« gebe,297 dass er sich durch eine »Vernachlässigung der Fabel« und das Fehlen eines »Spannungsbogen[s], der den ganzen Roman umfängt«, auszeichne.298 Ein solcher Bogen fehlt tatsächlich auf der Ebene der privaten Lebensverwicklungen der Figuren. Laut Suchich besitzen »die Tatsachen und Ereignisse des privaten Lebens, wie zum Beispiel Verhaftung oder Liebesaffäre« bloß eine Nebenbedeutung gegenüber den Ereignissen, welche die Figuren »persönlich kaum betreffen (das Erscheinen einer neuen Theorie, Idee, eines Buchs)«.299 Im Roman »gehen Figuren, die in keiner direkten Verbindung zueinander stehen, komplexe Beziehungen ein«,300 was der fiktiven Realität einen ephemeren Charakter verleiht: Die Welt der Erscheinungen […] wird irreal, gespenstisch, materielle Werte büßen an Bedeutung ein; die Welt der Ideen, die im »Klim Samgin« sowohl als »Figuren« als auch

290 291 292 293 294

295 296 297 298 299 300

Ebd., S. 207. Ebd., S. 204. Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 71. Ebd., S. 143. Маркович, А.В.: »Взаимодействие точек зрения персонажей первого тома книги М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Красовская, С.И. (Hg.), Проблемы художественного миромоделирования в русской литературе. Сборник научных трудов, Благовещенск: БГПУ 2006, S. 126-137, hier S. 132. Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 16. Scherr: Maxim Gorky, S. 109. Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 103. Ebd., S. 92. Сухих: »Жизнь Клима Самгина« М. Горького и »Философия общего дела« Н. Ф. Федорова, S. 43. Ebd.

4. Narration

als »Umstände« »agieren«, wird zu einer realen und schonungslosen, wahrhaft »materiellen« Kraft.301 Doch wird im Roman durchaus ein Sujet entfaltet, das, ähnlich wie in Musils »Mann ohne Eigenschaften«, auf die Darstellung der Geistesgeschichte spezialisiert ist. Gorʹkijs »Legitimation und historische Ableitung der siegreichen Revolution«302 erfolgt durch eine Art Kulturkritik. Im Umlauf der Ideen und Programme kultureller Erneuerung zeichnet sich ein Prozess ab, den die zeitgenössische Kritik als »Totenmesse der Intelligenz« (russ. »панихида о русской интеллигенции«303 ) bezeichnete. Samgins Teilnahme am Sujet der russischen Revolution wird als Anwesenheit bei einem ausufernden Gespräch inszeniert, in dem Intellektuelle ihre Ideen über das Potenzial und den Charakter der russischen Revolution austauschen und über die Rolle der Intellektuellen in diesem Prozess nachdenken. In ihrer Polemik stellen skeptische Stimmen wie die des Philosophen Tomilins, der die Intellektuellen als »Organ der Vernunft« bezeichnet und darin eine »psychische Kraft« sieht, die jenseits des politischen Programms der reinen Erkenntnis dienen und den »durchaus natürlichen Anarchismus der Volksmassen« regulieren soll (KS/B2/530), eine seltene Ausnahme dar. Die Mehrheit der Stimmen befürwortet die Revolution und will sie als eine bewusste Tat im Dienste der kulturellen Erneuerung anstoßen. Die Suche nach einer ultimativen Idee, die zur Auslösung der revolutionären Ereignisse führen könnte, verknüpft die zentralen und peripheren Figuren des Romans, die »kaum miteinander durch familiäre Verhältnisse, eine Intrige, gemeinsame Tätigkeit verbunden sind und aus irgendeinem Grund ständig aufeinander treffen«, zu einem »relativ engen Kreis«.304 Laut V. Piskunov scheinen sie dazu »verdammt, die gemeinsame Idee zu finden, die die Anfänge mit den Enden verknüpfen und die Welt erklären soll«.305 Die Suche nach einer Begründung, die alle Zweifel an der Notwendigkeit der Revolution ausräumen wird, ergibt ein komplexes Sujet. Es erstreckt sich etwa über tausend Seiten, und scheitert früh genug, damit dieses Scheitern noch vor der politischen Wende als Ergebnis einer bestimmten Ideendynamik innerhalb der russischen Gesellschaft offenbar wird. Bei der Darstellung dieser Ideendynamik lässt sich Gorʹkij von der Frage nach der Motivierung der zukünftigen Revolution leiten. Wie ich im vorliegenden Kapitel zeige, wird die Motivation unterschiedlicher Figuren von ihnen selbst und vom Protagonisten Samgin reflektiert. Letzterer verwandelt sich vom Gegner zum Befürworter der Revolution – wenn auch aus spezifischen Gründen. Indem die Motivation unterschiedlicher Figuren hinterfragt wird, transformiert sich der Roman, der laut Alena Markovič bloß formal die Züge des Bewusstseinsromans trägt, in eine »komplexere Struktur, in der viele unterschiedlichen psychischen Realitäten zusammenwirken«.306 In der Folge 301 Сухих, С.И.: »Жизнь Клима Самгина« в контексте мирровозренческих и художественных исканий М. Горького. Дисс. на соиск. уч. ст. д. ф. н., Екатеринбург 1993, S. 44. 302 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 924. 303 Diese Formulierung aus der Zeitung »Rulʹ« wurde von Gorʹkij selbst in seinem Brief an Fjodor Gladkov aufgegriffen (POČK/75). 304 Киселева: Внутренняя организация, S. 104. 305 Пискунов: Завещание, S. 14. 306 Маркович: Взаимодействие точек зрения, S. 137.

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werde ich diese Struktur unter fünf Gesichtspunkten interpretieren: die Polemik rund um die Motivation der Intellektuellen und des Volkes in der russischen Revolution; die Figur des Revolutionärs als eine Projektionsfläche von Ängsten und Sehnsüchten; die Diskussion über die Rolle der Leidenschaft in der Geschichte im Rahmen einer Karnevalsszene; die Ungreifbarkeit von Motivierungen, wie sie in den drei Dialogen Samgins mit dem Agenten der Geheimpolizei Mitrofanow problematisiert wird; und die Kritik am Kulturverständnis der Vertreter der bolschewistischen Partei. Die Schlüsselfrage: Russische »intelligencija« und das Volk Nach der Rückkehr aus St. Petersburg in seine Heimatstadt wohnt Samgin Unterhaltungen einer Gruppe von Freunden bei. Dabei streiten Wladimir Ljutow und Igorʹ Turobojew zum einen über das Verhältnis zwischen russischen Intellektuellen und dem Volk und werben zum anderen um die Gunst von Alina Telepnjowa, die am Ende der Episode ihren Bräutigam Ljutow verlässt und mit Turobojew nach Paris durchbrennt. Am Rande der Episode werden solche politischen Ereignisse wie die Bildung der Protestorganisation »narodnoe pravo« oder Verhaftungen von Intelektuellen, die Verstärkung der Zensur sowie die Bauernaufstände erwähnt, doch wird von keinem dieser Ereignisse Näheres berichtet. Über mehrere Seiten wird hier – ähnlich wie in der St. Petersburger Episode – ein verzweigter Dialog geführt, in dessen Mittelpunkt die Gründe, aus welchen sich Intellektuelle an der Revolution beteiligen könnten, stehen. Den Anfang der Gesprächsserie bildet eine Unterhaltung zwischen Wladimir Ljutow und dem Ingenieur und Bauunternehmer Warawka, der sich darüber wundert, dass Ljutow die Agitation unter den Arbeitern befürwortet. Da Warawka Industrialisierung und Urbanisierung als Mechanismen des Kulturfortschrittes versteht, empört ihn das Einflößen der »Feindschaft gegen die Industriellen« (KS/B1/299) als eine antikulturelle Handlung. Ljutow provoziert seinen Gesprächspartner mit einem paradoxen Satz: »Nehmen Sie hinzu, daß der Klassenhaß unvermeidlich die Kulturentwicklung aufhält, wie das an dem Beispiel Europas ersichtlich ist…« (KS/B1/299).307 Dabei steht außer Zweifel, dass Europa den Gesprächspartnern (und Gorʹkij selbst) als kulturellfortschrittlich gilt; Ljutows ironischer Satz beinhaltet also eher einen Hinweis darauf, dass »der Klassenhaß« in Europa zum kulturellen Fortschritt beigetragen hat. Daraufhin befragt Warawka Ljutow direkt nach seinen persönlichen Beweggründen: »Aber die Motive? Ihre Motive? […] Was veranlaßt Sie, die Feindschaft anzuerkennen…« »Mein Familienname«, kreischte Ljutow. »Ich hasse grimmig die Langeweile des Lebens…« (KS/B1/299) Ljutows Antwort scheint unernst und spielt auf den Familiennamen »Ljutow« (deutsch: »der Grimmige«) an. Doch neben Langweile und Lust an extraordinären Taten sieht Ljutow sein Ideal in der »Freiheit« und liefert seine Vision dieses umstrittenen Begriffs: Erlauben Sie einem Menschen, alle Wonne und allen Schrecken – ja, Schrecken! – der Freiheit des Handelns auszukosten. Erlauben Sie es ohne Einschränkung… […] Und dann wird er sich kraft seines eigenen Willen selber beschränken. Er ist ein Feigling,

307 In der Übersetzung von Ruoff ist der Satz fehlerhaft als Replik Warawkas gekennzeichnet.

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der Mensch – er ist gierig. Er ist klug, weil er ein Feigling ist, ja gerade deshalb. Erlauben Sie ihm, sich selbst zu erschrecken. Gestatten Sie dies, und Sie werden ganz vortreffliche, sanftmütige Menschen, tüchtige Menschen vor sich haben, die sich selbst und einander unverzüglich beschränken, bändigen und sich dem Gott eines Lebens in Frieden und Wohlstand hingeben werden… (KS/B1/300) In Ljutows Augen legitimiert sich der gesellschaftliche Umbruch durch das menschliche Bedürfnis, an die eigenen Grenzen zu stoßen und sie auszutesten. Die Freiheit birgt also laut Ljutow eine metaphysische Verlockung, sowohl für den Einzelnen, als auch für die Volksmasse. Seine Behauptung wird kritisch aufgenommen; der anwesende Turobojew sieht darin ein negatives Beispiel der russischen Denkpraxis: Bei uns gibt es erstaunlich viele Leute, die, wenn sie einen fremden Gedanken übernommen haben, außerstande sind, sogar anscheinend Angst haben, ihn zu überprüfen, von sich aus Korrekturen an ihm vorzunehmen, im Gegenteil, sie sind nur bestrebt, ihn geradezumachen, zuzuspitzen und über die Grenzen der Logik, über die Grenzen des Möglichen hinauszutragen. Es scheint mir überhaupt, daß das Denken für den Russen etwas Ungewohntes und sogar Beängstigendes, wenn auch verlockendes ist. Diese Unfähigkeit, den Verstand zu gebrauchen, erweckt bei den einen Angst vor ihm oder Feindschaft gegen ihn und bewirkt bei den anderen ein sklavisches Sichfügen in sein Spiel, ein Spiel, das die Menschen sehr oft verdirbt. (KS/B1/301) Der russische Umgang mit den Gedanken zeichnet sich laut Turobojew dadurch aus, dass ein fremder Gedanke kaum kritisch auf die Probe gestellt würde. Die Vernunft unterliege dem Spiel der Gedanken und gehe darin unter. In dieser »barbarischen Gier nach Gedanken« sieht Turobojew die Quelle solcher »Kuriositäten« wie »Voltairianer, die Leibeigene besitzen, darwinistische Pfaffenkinder, Idealisten aus den Reihen der Kaufmannschaft erster Gilde und Marxisten aus dem gleichen Stand« (KS/B1/301). Damit verwickelt sich Turobojew in eine Polemik mit Ljutow, der darauf hinweist, dass auch Turobojew »nicht selbständig« denke und seine Thesen Pëtr Čaadaev entlehne. Darauf erwidert Turobojew, dass der Letztere »auf Rußland mit den Augen eines klugen und Rußland liebenden Europäers« blickte (KS/B1/301). Auf Ljutows Versuch, »ein standesgemäßes Denken« zu hinterfragen, antwortet Turobojew mit dem Satz »Es wird behauptet, ein anderes sei unmöglich…« (KS/B1/302) und spielt damit ironisch die These, dass die Klassenzugehörigkeit das Denken präge, gegen den am Marxismus interessierten Kaufmann Ljutow aus. Der Schlagabtausch bringt ein Paradoxon zum Ausdruck: Lässt man sich von der These der Dominanz des Unter- über den Überbau leiten, so kann die Motivation zur Revolution dem standesgemäßen Denken der Adeligen, Kaufleute etc. kaum entspringen, die eher eine Konservierung der gegebenen Verhältnisse anstreben sollten. Dass es jedoch auf das geistige Klima des vorrevolutionären Russland kaum zutrifft, ist ein Befund, der in Gorʹkijs Roman vielseitig thematisiert wird. Ein Beispiel dafür liefert die Figur Ljutows, der wie sein Prototyp – der Kaufmann und Mäzen Savva Morozov – un-

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terschiedliche, auch terroristische Untergruppen heimlich subventioniert.308 Gorʹkijs Ljutow liefert hierfür eine komplexe Begründung: Wir irren im Dickicht der Vernunft herum oder fliehen vor ihr als erschreckte Dummköpfe. […] Aber das kommt daher, weil wir ein metaphysisches Volk sind. Bei uns steckt in jedem Statistiker des Semstwo ein Pythagoras, und unser Statistiker nimmt Marx auf wie Swedenborg oder Jakob Böhme. […] Es ist leeres Geschwätz, daß der Deutsche ein geborener Philosoph sei. Das ist Unsinn! […] Der Deutsche philosophiert maschinell, gewerbsmäßig, feiertags. Wir hingegen tun es leidenschaftlich, selbstmörderisch, Tag und Nacht und im Schlaf und am Busen der Geliebten und auf dem Sterbebett. Eigentlich philosophieren wir nicht, weil das bei uns, müßt ihr wissen, nicht aus dem Verstand, sondern aus der Phantasie kommt, wir denken nicht, sondern träumen mit aller Kraft der Naturbestialität. (KS/B1/305) Die Fähigkeit, Marx im mystischen Sinne wie Swedenborg zu lesen, zeichnet laut Ljutow die russischen Intellektuellen als Teil eines Volks aus, das einen Hang zum Philosophieren besitzt, es aber nicht aus Vernunft, sondern aus der Phantasie heraus tut. Im Anschluss an diese These nennt Ljutow eine Reihe von Beispielen: die Volkssekten, Selbstverbrennungen der Altgläubigen, Terroranschläge von Nečaev, die Vertreter des radikal konservativen Gedankenguts Konstantin Leontʹev und Konstantin Pobedonoscev. In einem Atemzug genannt, sollen sie Ljutows These vom angeborenen Hang zur Metaphysik des russischen Volkes belegen, der sowohl die mystischen Strömungen im Volk, als auch den politischen Radikalismus des konservativen und des anarchistischen Schlags erkläre. In diesem Kontext erscheint auch die Revolution als Protest gegen »die Langweile des Lebens« legitim. »Die Kraft der Naturbestialität« setzt ungebändigte psychische Kräfte im Akt der Phantasie frei und durchdringt das Leben »Tag und Nacht und im Schlaf und am Busen der Geliebten und auf dem Sterbebett«. Die Revolution zu erleben bedeutet dabei, sie sich auszudenken – so wie sie in der oben zitierten Passage als »Wonne, Schrecken und Freiheit des Handelns« imaginiert wird. Die zitierte Passage ist auch deshalb besonders interessant, weil das russische Volk und die russischen Intellektuellen darin zusammengedacht werden und laut Ljutow den Hang zur Metaphysik teilen. Dabei werden die Volksbewegungen und Sekten gegenüber der Tätigkeit der Intellektuellen als bedeutsamer eingeschätzt. Die Letzteren scheinen mit ihrer westlichen Ausbildung und den russischen Wurzeln dazu verurteilt, im »Dickicht der Vernunft« zu irren oder »vor ihr als erschreckte Dummköpfe« zu fliehen. Laut Ljutow sind die Intellektuellen in Russland sogar überflüssig: Wozu, hol’s der Teufel, brauchen wir unsere Intelligenz, bei einem solchen Bauern? Das ist dasselbe wie Dorfhütten mit Perlmutt verzieren. Edelmut, Herzlichkeit, Romantik und dergleichen Pepermente, die Fähigkeit, in Gefängnissen zu sitzen, in todbringenden Verbannungsorten zu leben, rührende Erzählungen und Artikelchen zu schreiben.

308 Zu Savva Morozov als Prototyp Ljutows vgl. Матевосян, Е.Р.: »А. М. Горький и Савва Морозов«, in: Известия РАН. Серия литературы и языка 54 (1995), S. 65.

4. Narration

Märtyrer, Heilige und so weiter. Im großen und ganzen – ungebetene Gäste. (KS/B1/323324) Aus Ljutows Sicht erwecken Intellektuelle bei all ihrer Tugendhaftigkeit bloß den Eindruck »ungebetener Gäste« und sind lediglich dazu fähig, »rührende Erzählungen« oder »Artikelchen« zu schreiben, die zum Leben der Bevölkerungsmehrheit nicht wesentlich beitragen. Ein Beispiel hierfür sieht er auch in der Tätigkeit der terroristischen Untergruppe der Narodowolzen, die in seinen Augen den literarischen Beispielen (Gustave Aimard und Mayne Reid) folgt und nicht besonders erfolgreich ist (»Die Pistolen schießen am Ziel vorbei, die Minen explodieren nicht, von zehn Bömbchen platzt nur eine und – zur unrechten Zeit« KS/B1/324). Mit solchen »Taschenmessern« lässt sich Russland laut Ljutow nicht »anspitzen«, das »mit dem Beil behau[en]« werden muss. Das Volk wird dabei als eine Art Rohmaterial angesehen, doch ist »dieses ehrenwerte Holzscheit, während es hier herumlag, bereits morsch geworden«. Man könnte es »noch im Ofen verbrennen«, um »das Leben mit Wärme und Licht zu bereichern, um es erglühen zu lassen« (KS/B1/324). Die herbeigesehnte Revolution erweist sich somit als ein Akt der Selbstzerstörung des Volkes, aus dem nur einige wenige aufsteigen werden: »Stellen Sie sich vor«, vernahm Klim die vor Erregung trunkene Stimme Ljutows, »stellen Sie sich vor, daß von hundert Millionen russischer Hirne und Herzen zehn, na, sagen wird, fünf mit aller Wucht der ihnen innewohnenden Energie arbeiten?« (KS/B1/325) In der Revolution soll also das Volk wie in einem gigantischen Schmelztiegel selbstzerstörerisch aufbrennen und der Energie von wenigen (zehn, fünf) »Hirne[n] und Herzen« zur vollen geistigen Entfaltung verhelfen. Dieses eindrucksvolle Bild verweist auf das Verständnis der Revolution als einer energetischen Entladung der Willensenergie, das am Anfang der St. Peterburger Episode stand. Der gesellschaftliche Umsturz wird von Ljutow als Befreiung eines Potenzials gedacht, das in der Vorstellungskraft des russischen Menschen liegt. Das Volk sei demnach also fähig, in der Revolution weiter als die Buchgelehrten zu gehen. Es verfügt über eine unbegrenzte Vorstellungskraft, die es u.a. in seinem Umgang mit der gebildeten Schicht demonstriert. Ein Beispiel hierfür bietet die Szene, in der ein Bauer auf einem kleinen Fluss für die schöne Gesellschaft einen Wels-Fang inszeniert. Im Fluss gibt es offensichtlich keine Welse und das gesamte Vorgehen des Bauern hat einen unglaubwürdigen Charakter. So soll der Wels laut dem Bauern einen Topf mit heißem Brei schlucken, der in seinem Inneren platzen und brennen soll, woraufhin der Bauer den Fisch harpunieren könne. Während des Fangs ist kein Wels zu sehen; doch tut der Bauer so, als ob er den Wels lediglich verfehlt hätte, und wird für seine Kunst und Phantasie von den Herren belohnt. Beim Wels-Fang sind alle wichtigen Gesprächspartner – Ljutow, Turobojew, aber auch Warawka – zugegen und brechen in lautes Gelächter aus. Auch der Bauer lacht, verweigert aber konsequent das Zugeständnis, die Herrschaften belogen zu haben. Viktor Šklovskij wies darauf hin, dass Gorʹkij diese Geschichte Honoré Balzacs »Les Paysans« entlehnte.309 Doch im Unterschied zu dem Journalisten Émile Blondet, der bei

309 Vgl. Girod: Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«, S. 20-21.

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dem angeblichen Otterfang naiv mitmacht, scheinen sich Ljutow und Turobojew über den Betrug im Klaren zu sein und amüsieren sich an der Kunstfertigkeit und Phantasie des Bauern. Laut Ljutow belehrt der Bauer die Zuschauer: »Jetzt würden Sie doch nicht mehr an den Wels glauben, nicht wahr?« (KS/B1/313). In Gorʹkijs Interpretation wird Balzacs anekdotische Geschichte zur komplexen Parabel über das Zusammenleben der einfachen und der gebildeten Schicht, wobei die Bauern willig etwas vorgaukeln, was von den Herrschaften als ein Beleg für ihre Erfindungsgabe und sonstige Talente aufgenommen und entsprechend belohnt wird. Eine solche Darstellung der Bauern in »Klim Samgin« steht im Kontrast zu den Bauernfiguren zeitgenössischer Literatur u.a. von Lev Tolstoj, worauf G.S. Zajceva hinwies. Tolstoj stellt Bauern als »Träger gesunder Moralität, Lebensweisheit«, »ehrliche, kluge und fleißige Menschen« dem parasitären Dasein der Oberschichten gegenüber. Bauernfiguren bei Gorʹkij sind laut Zajceva wesentlich komplexer.310 So ist die Darstellung des Bauern in der Szene des Wels-Fangs durch das metareflexive Motiv des Erfindens gebrochen.311 Dadurch wird der Bauer im Roman als »Volksfigur«, d.h. als ein Konstrukt der schönen Literatur kenntlich gemacht. Dass auch Anton Čechov und Nikolaj Leskov dem literarischen Volksbild misstrauten, kommentiert im gleichen Kapitel nebenbei der Schriftsteller Inokow (KS/B1/270-271). Im Gorʹkijs Roman wird das Volk als mehrfach gespiegelte Projektion den Denkstrukturen der Bildungsschicht eingeschrieben. Das Sujet der Suche nach einer Idee für die russische Revolution wird in der Szene des Wels-Fanges als Prozess des Fangens von etwas parodiert, das es real nicht gibt, dem aber das Fangen – überzeugend ausgeführt – einen Realitätsstatus verleiht. »Vielleicht fingen alle Menschen einen nicht vorhandenen Wels, wissend, daß der Wels nicht vorhanden war, dies aber voreinander verbergend?« (KS/B2/884) – fragt sich Samgin später bei der Erinnerung an den Bauern, an dem »etwas Allegorisches und Tröstliches« zu sein scheint. Zwar stellt sich Gorʹkij mit der Erwähnung Čechovs und Leskovs in eine Reihe von Schriftstellern, die den russischen Alltag darstellten, ohne an der zeitgenössischen literarischen Volksbegeisterung teilzunehmen, andererseits lässt er Inokow an dieser Stelle das Misstrauen Čechovs »gegen den Menschen, gegen das Volk« als das Fehlen einer allgemeinen Idee bemängeln (KS/B1/271). Dass die russische Gier nach fremdem Gedankengut durch das Fehlen »organisierender Ideen« zu erklären sei, vermutet auch Turobojew in seiner Polemik mit Ljutow (KS/B1/301). Anders als sein Gesprächspartner, der nach metaphysischen Wurzeln der Revolution sucht, widmet sich Turobojew der Kritik der Vernunft und versteht die Revolution als eine geistige Tat, welche den Gang der Zeit beschleunigt und dem Erkenntnisdrang entspringt: Ich spreche von Menschen, denen das Leben zu eng ist und die die Ereignisse zu beschleunigen suchen. Cortez und Kolumbus sind doch auch Verkünder des Volkswillens, Professor Mendelejew ist nicht weniger Revolutionär als Karl Marx. Neugier ist eben Tapferkeit. Wenn Neugier jedoch eine Leidenschaft wird, dann ist es Liebe. (KS/B1/303) 310 Зайцева, Г.С.: »Концепция крестьянского характера в ›Жизни Клима Самгина‹«, in: Кузьмичев, И.К. (Hg.), М. Горький и вопросы литературных жанров. Межвузовский сборник, Горький: Изд.-во ГГУ 1978, S. 39-60, hier S. 45. 311 Ebd., S. 48.

4. Narration

In der Passage wird die Revolution in eine Reihe mit den geografischen und wissenschaftlichen Entdeckungen gestellt, weil sie dazu dient, die Enge des Lebens zu überwinden. Soll Revolution der vernunftgeleiteten Erkenntnislust oder dem spontanen psychischen Drang, eigene Grenzen auszutesten, entspringen? Wahrscheinlich würden diese Revolutionen unterschiedlich ausfallen und ausgehen. Doch bei allen Unterschieden vollziehen Ljutow und Turobojew die gleiche Denkoperation, indem sie die Revolution aus subjektiven Motiven ableiten. Unabhängig davon, ob der gesellschaftliche Umsturz der Vorstellungskraft des russischen Volkes oder der Leidenschaft und Neugier der gebildeten Schicht entspringen soll, projizieren Ljutow und Turobojew psychische Eigenschaften auf das Verhalten von Kollektiva. Auf diese Weise werden das Volk oder die Intellektuellen psychologisiert und zu einem handelnden Akteur inszeniert. Die Übertragungsmuster der historischen Zeit wirken auch im Denkinstrument der Generationenfolge, das sich anhand der Figuren von Ljutow und Turobojew manifestiert. Beide erklären einen ausdrücklichen Verzicht auf die eigene Fortpflanzung, die von den beiden als ideologische Nachfolgerschaft der Vätergeneration verweigert wird. So bezeichnet sich Ljutow als ein »Opfer […] für die Sünden meiner Väter« und ist davon überzeugt, dass die kommenden Generationen ein Monument zum Gedenken an die »Vorfahren« errichten wird, »die für die Sünden und Fehler der Väter zugrunde gingen« (KS/B1/399). Dabei werden die Ersteren im Gegensatz zu den »Vätern« nicht als »Kinder«, sondern abstrakt als »Menschen der Zukunft« bezeichnet. Auch Turobojew, der seine adeligen Vorfahren zwar nicht als »dumm verbrecherisch« (KS/B1/343), sondern als Werkzeuge der Geschichte ansieht, verzichtet auf die Fortführung der Ahnenreihe. In der Episode werben beide um die Gunst von Alina Telepnjowa, die am Ende mit Turobojew nach Paris durchbrennt, dort das Metier einer Kokotte erlernt, um zurück in Russland mit beiden Männern ein Verhältnis zu führen. Ihre Entscheidung rechtfertigt Alina als einen ausdrücklichen Verzicht auf Ehe, Familienleben und Kinder, da sie dafür zu schön sei und die schönen Seiten des Lebens auskosten wolle. Diese Dreieckskonstellation bleibt in der Erzählung bis Turobojews Tod in den Wirren der russischen Revolution von 1905 bestehen. Die Figuren von Alina und ihren beiden Liebhabern Ljutow und Turobojew tragen wesentlich zur Entwicklung der Fabel der russischen Revolution bei. Die Szenen der Gespräche, der Trinkgelage bis hin zum Begräbnis Turobojews und Ljutows Selbstmord ergeben das Daseinsmuster von Zeitgenossen, die die Frage nach der Revolution fortwährend erheben, ohne es endgültig lösen zu können. Die Teilhabe am gemeinsamen Schicksal, wie es für das Denkinstrument der Generationenfolge im Modus der historischen Zeit typisch ist, wird dabei als das Verwickeltsein in ein gemeinsames Gespräch gestaltet. »Weshalb war er Revolutionär geworden?«312 Wird die russische Revolution im Roman als Prozess ihrer Erfindung erzählt, so fungiert darin die Figur des Revolutionärs als eine Projektionsfläche von Wünschen und Ängsten und wirkt umso irrealer, als die eigentlichen Mitglieder der Untergrundorganisationen im Roman nur selten in den Vordergrund rücken. Trotzdem wird die Frage nach dem Sinn ihrer Tätigkeit von unterschied312

KS/B1/356.

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lichen Figuren erhoben. So findet Samgin, dass sein Bruder, der wegen Propaganda unter den Arbeitern verhaftet wurde, kaum für die Rolle eines Revolutionärs passt: Weshalb war er, der Bruder, Revolutionär geworden? In der Kindheit war er farblos gewesen […]. Die Nechajewa hatte richtig gesagt, daß er ein ungebildeter Mann sei. Sein Körper war schwer, nicht klug. Ein Revolutionär muß gewandt, klug und böse sein. (KS/B1/356) Samgin stattet das Bild des Revolutionärs mit bestimmten Charaktereigenschaften sowie körperlichen Zügen aus. Die Beherrschung des eigenen Körpers wird dabei neben der Beherrschung des eigenen Geistes (»klug«) und der Fähigkeit, seinen Willen durchzusetzen oder sogar gewalttätig zu sein (»böse«), genannt. An einer späteren Stelle kommt noch das Attribut »ohne eigene Note« (KS/B2/594) hinzu, das den Revolutionär als einen Menschen ohne Persönlichkeit charakterisiert, da er sein Leben in den Dienst der Untergrundtätigkeit stellt und unsichtbar wird. Neben dieser narzisstischen Selbstprojektion Samgins werden von ihm und anderen Figuren auch alternative Vermutungen über die Motive der Revolutionäre erwogen. Dabei wird die Revolution zum einen als Dienst am Volk und als die Hingabe des »kleinen Mannes« verstanden, der sich aus persönlichen Motiven (Unglück, Hässlichkeit, Krankheit usw.) der Revolution widmet. Zum anderen wird die Revolution als Dienst am Geist und die Bereitschaft, sich schwerer Aufgaben anzunehmen, aufgefasst. Neben der oben besprochenen Motivierung der Revolution durch die Phantasie (Ljutow) sowie durch die Entdeckungslust (Turobojew) werden andere psychologische Gründe herangezogen und die Kluft zwischen der subjektiven Zeitwahrnehmung und der kollektiven Zeit permanent umspielt. Als erstes sind in dieser Reihe die unterschiedlichen Motive zu nennen, die Samgin bei Aktivisten im Untergrund beobachtet. Sie üben ihre Tätigkeit als unscheinbare »Diener« der Revolution aus und opfern sich für eine Sache, deren Notwendigkeit für Samgin keineswegs überzeugend ist. Samgins Beobachtungen beziehen sich vorrangig auf Frauen, die in ein bestimmtes Milieu geraten und dort selbstlos für das Wohl ihrer Mitmenschen sorgen, wie Tanja Kulikowa, die in Samgins Elternhaus zum Freundeskreis gehörte und gleichzeitig Aufgaben einer Hausdienerin erfüllte. In der Reihe solcher Diener steht auch die Figur der Ljubaša Somowa, die sich durch einen ungebändigten Enthusiasmus auszeichnet. Wie alle Figuren von Samgins Jugendfreunden ist diese Figur außerordentlich opak und verändert sich sprungartig: gerade noch für die Narodniki aktiv, bejubelt sie das Erscheinen des Untergrundmanifestes der sozialdemokratischen Partei, äußert sich gegen den Marxismus, lernt aber auch den Marxisten Kutusow kennen und hat mit ihm der flüchtigen Andeutung nach eine Affäre, unterstützt Prediger aller Arten, weil für das Dorf jede Idee gut sei, und beendet ihren Lebenslauf in der Partei der Sozialrevolutionäre. Der von Ljubaša organisierte Fluss der verbotenen Literatur, geheime Botschaften, Spendensammeln für das Rote Kreuz u.s.w. zieht auch Samgin in ihren Bann. Eine kritische Sicht auf die Motivation der politischen Opposition im Roman äußert Kutusow. Laut Kutusow sind »wohl überhaupt keine« Revolutionäre da, weil keine der verbreiteten Motivationen einen echten Revolutionär ergibt:

4. Narration

Revolutionäre aus Langerweile am Leben, aus Verwegenheit, aus Romantik, nach dem Evangelium, das alles ist schlechtes Pulver. Der Intellektuelle, der sich rächen will für die Mißerfolge seines Lebens, dafür, daß er nirgends einen Platz für sich finden kann, für eine zufällige Verhaftung und einen Monat Gefängnis – auch der ist kein Revolutionär. (KS/B2/547) Diese Worte richten sich gegen die Bewegung der Narodniki, mit denen die aufkommenden russischen Marxisten um die Aufmerksamkeit konkurrieren. Die Narodniki leiten die Notwendigkeit der Revolution aus der Liebe zum Volk ab und erheben den Revolutionär in den Status eines Helden. Im Gegensatz dazu erscheint die marxistische Lehre trocken, wie u.a. der Dorfpropagandist Dolganow bemängelt: Der Gedanke, daß »das Bewußtsein durch das Sein bedingt werde«, ist ein sehr schädlicher Gedanke, denn er macht den Menschen zum mechanischen Empfänger der Eindrücke des Seins und vermag nicht zu erklären, durch welche Kraft der gefügige Sklave der Wirklichkeit diese verändert. Die Wirklichkeit ist ja nie besser gewesen als der Mensch – und wird es nicht sein! –, während er stets mit ihr unzufrieden war und sein wird. (KS/B2/673-674) Der Wunsch, die Wirklichkeit zu verändern, ist laut Dolganow entscheidend für das Auslösen der Aktivität im Volk, das »den Wert der politischen Freiheit fühlt« (KS/B2/674). Mit ihren flammenden Reden für das Wohl und die Seele des Volkes stellen die Narodniki eine ernst zu nehmende politische Kraft dar, die dem Marxismus die notwendigen menschlichen Ressourcen abzieht. Gorʹkijs Roman liefert einen Befund über die Konkurrenz beider Strömungen, welche die Revolution anführen wollen. Im Gegensatz zu der blumigen Narodniki-Rhetorik wollen die Marxisten betont trocken wirken, so Kutusow: Die Eigentümlichkeiten des nationalen Geistes: Dorfgemeinde, Schalmeien, eingesalzene Pilze, gepreßter Kaviar, Plinsen, Samowar, die ganze Poesie des Dorfes und die gräfliche Lehre von der bäuerlichen Einfachheit, das alles, Samgin, ist einfältiges Zeug. […] Und von den Augenblickshelden muß auch Abschied genommen werden, denn es ist Heldentum fürs ganze Leben erforderlich, das Heldentum eines Schwerarbeiters, des Arbeiters der Revolution. Wenn Sie zu solchem Heldentum nicht fähig sind – treten Sie beiseite. (KS/B2/549) Kutusow fordert die Selbstaufopferung im Geiste des alltäglichen Heldentums »für das ganze Leben«, das sich aus reiner Überzeugung von der Notwendigkeit der Revolution speist. Das unterscheidet ihn u.a. von dem Kreis gemäßigter legaler Marxisten um den Ökonomen Preiß, deren Mitglieder die Wirtschaft des Landes studieren und »mit sichtlicher Begeisterung« »die Mengen an Erdöl, Getreide, Zucker, Fett, Hanf und beliebigem russischen Rohstoff« errechnen (KS/B2/607). Dass die ökonomische Lehre bei ihrer Trockenheit und der materialistischen Perspektive die Menschen kaum zur Revolution motiviert, kritisiert eine Nebenfigur, Onkel Mischa, der sich zwischen beiden Lagern zerrisen sieht: Die Rolle des ökonomischen Faktors erkenne ich an, aber auch die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Und dann – der Materialismus: er ist wie man ihn auch

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auslegen mag, eine pessimistische Lehre, Revolutionen jedoch sind stets von Optimisten gemacht worden. Ohne sozialen Idealismus, ohne das Pathos der Menschenliebe läßt sich keine Revolution machen, das Pathos des Materialismus aber wird Zynismus. (KS/B2/686) Damit spricht Onkel Mischa ein Dilemma des politischen Marxismus an, der bei allem Pessimismus der Lehre vom Über- und Unterbau eine zielgerichtete Veränderung der sozialen Verhältnisse anstrebt und dabei an nichts mehr, als an die Notwendigkeit des Kampfes appellieren kann. Die »pessimistische Lehre« des Materialismus steht laut Onkel Mischa im Widerspruch dazu, dass man für eine Revolution einen gewissen Optimismus braucht. Ähnliche Kritik am Marxismus äußert der Diakon Ipatjewskij, ein abtrünniger Geistlicher. Er interpretiert den Marxismus als eine Lehre von der Liebe zu den Menschen; als Lebensopfer im Dienste dieses Ideals fasst der Diakon den Tod seines eigenen Sohns auf, der Marxist war und in einem Gefängnis tödlich erkrankte. »Diese Liebe« in Christus als »das herrlichste dieser Welt« steht für ihn über der marxistischen Begründung der Liebe aus der »Wissenschaft«: »Das ist bei ihnen nicht weit und nicht klar«.(KS/B2/747) Das christliche Weltbild dient auch einigen weiteren Figuren zur Erklärung dafür, warum Revolutionen gemacht werden. So äußert Lidija Warawka die Meinung, dass »Revolutionen aus Barmherzigkeit gemacht« werden (KS/B2/645). Ein gewisser Anton Wassiljewitsch Berendejew, der »an die Unvermeidbarkeit der Revolution« glaubt, behauptet, dass »die Revolution unbedingt mit einer religiösen Reformation zusammenfallen [muß]« (KS/B2/608), denn nur so können die Intellektuellen ihre Aufgabe erfüllen, »die Revolution zu organisieren, in ihre Spontaneität die ganze Kraft unseres Bewußtseins hineinzutragen, mit unserem Willen den unvermeidlichen Anarchismus der Massen einzudämmen…« (KS/B2/609). Eine noch originellere Interpretation der Frage nach der Berechtigung, in das Leben der breiten Bevölkerungsmasse einzugreifen, liefert Samgins Sekretär Kumow, der in den Intellektuellen die Botschafter des Geistes erkennt: »Man muß unterscheiden: Geist!« Er hob die schmale, kraftlose Hand zum Kopf. »Und die Seele!« Seine Hand senkte sich weich aufs Knie. »Erinnern Sie sich, was Christus gesagt hat. ›In deine Hände befehle ich meinen Geist‹, aber nicht die Seele. Und dann: ›Den Geist löschet nicht aus.‹ Der Geist wird vom praktischen Verstand nicht verführt, doch die Seele ist verführt. […] Das Volk lebt überhaupt nicht mit Geist, es ist falsch, das zu meinen. Das Volk ist eine seelische, vernünftige, praktische Kraft, die ganz auf irdischen Interessen beruht. Mit Geist lebt die Intelligenz, darum gilt sie auch als unpraktisch. […] Die Intelligenz geht dorthin, wo es schlechter, schwerer ist.« (KS/B2/846) Laut Kumow schöpfen die Intellektuellen aus dem christlichen Geist, weshalb sie dorthin gehen, »wo es schlechter, schwerer ist«, und tragen den Geist in das beseelte, aber geistlose Volk. In diesen Ansichten vermischt sich der deutsche Idealismus mit der Lehre der russischen Sekte der Duchoboren. Solche Visionen einer religiösen Renaissance der Gesellschaft in der Revolution werden im Roman von den Stimmen begleitet, die die Revolution jenseits allen Pathos als eine Aufgabe betrachten, der man sich aus Lan-

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geweile (»Karten spielen haben wir satt, kommt, laßt und Revolution machen« (Inokow, KS/B2/989), aus Hass oder persönlichem Ehrgeiz (Samgins Bruder Dmitrij, KS/B2/929, 998) widmet. Eine skurrile pseudowissenschaftliche Motivierung liefert ein Arzt, der in einem marxistischen Zirkel lehrt, dass »nur der Sozialismus eine normale und freie Entfaltung der Willensenergie herbeiführen [kann]« (KS/B2/985). Diese These erinnert an das Bild des historischen Raums in der St. Petersburger Episode, wo die historische Konzentration von Willen zum Antrieb der Geschichte erklärt wurde. Aus einer solchen Konzentration der Willenskräfte um die Idee der Revolution ergibt sich im Roman das Sujet der Suche nach einer verbindlichen Motivation für die russische Revolution, das unterschiedliche Episoden des zweiten Buches als kunstvoll aufgespannter Bogen zusammenhält. Ritter und Dummköpfe Dieser Bogen erreicht seinen Gipfel in der Mitte des zweiten Bandes in der Szene des Karnevals, der die Suche nach dem Motiv für den Übergang zwischen dem Denken und dem Handeln auf einer symbolisch-verschlüsselten Ebene eingeschrieben ist. Das Spiel der Karnevalsmasken bietet in dieser Hinsicht weitaus mehr als leichten Zeitvertreib. Die ganze Veranstaltung dient der Sammlung von Geld zugunsten einer politischen Untergrundgruppe. Während des Tanzens und Singens wird heftig über die Rolle der Leidenschaft in der Geschichte diskutiert. Bereits Kostüme setzten Akzente: Der anwesende Marxist Kutusow ist als mittelalterlicher Zunftmeister verkleidet, und seine Mitstreiterin Lubaša Somowa, die mit den Revolutionären sympathisiert und sich politisch engagiert, erscheint als ein Bauernmädchen; Ljutow, der die nationale Eigenart des russischen Volks propagiert, trägt das Kostüm eines russischen Bojaren. Samgin verkleidet sich als Alchemist und durchschreitet die Räume mit einem düsteren Gesichtsausdruck. Die Kostüme der Figuren werden bereits am Anfang der Episode zum Gegenstand der kritischen Reflexion. So äußert der Jurist Tagilskij, der selbst als Feuerwehrmann verkleidet ist, sein Staunen über die Praxis des Verkleidens und die beliebteste Art von Kostümen: »Die amüsieren sich«, murmelte Tagilskij. »Haben sich umgezogen und – sind lustig. Aber schauen Sie doch, Alchimist[sic!], wieviel Pierrots, Clowns und überhaupt – Dummköpfe hier sind! Was bedeutet das?« (KS/B2/730) Die fröhlich-ausgelassene Atmosphäre des Karnevals mit den traditionellen Figuren der Dummköpfe gibt Tagilskij Anlass zur Ironie, die sich unterschwellig auf die Versammlung bezieht und bitter ernst ist. Die tanzende, verkleidete Gesellschaft dient als Modellbild der vorrevolutionären Gesellschaft; in ihrer Menge wird die Frage nach der Motivierung der Revolution gestellt und auf die Spitze getrieben. Dazu tragen auch so scheinbar harmlose Vorgänge wie das Singen bei. Als Kutusow zur Unterhaltung des Publikums eine Romanze vorsingt, entzündet sich im Publikum ein Streit, wobei nicht der gesungene Inhalt, sondern die Art des Vorsingens für Aufregung sorgt. Obwohl Kutusow schön und stimmig singt, klingt seine Stimme »irgendwie zu feierlich« und »mechanisch«, wodurch das Publikum und vor allem Ljutow außerordentlich betroffen werden:

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»Psch!« zischte Ljutow und schob den Säbel auf den Rücken, wo er wie ein Schweif hängenblieb. Er biß die Zähne zusammen, in seinem Gesicht wölbten sich knöcherne Beulen vor, Schweiß glänzte an seinen Schläfen, und sein linkes Bein zuckte unter dem Kaftan. […] Kutusow sang: »Laßt nach, Erregungen der Leidenschaft!«, worauf Ljutow zu ihm stürzte und mitten ins Geschrei und Händeklatschen hinein kreischte: »Erlauben Sie, entschuldigen Sie… Sie haben eine ganz kapitale Stimme – jawohl!« Ljutow keuchte vor Erregung, er trat von einem Bein aufs andere, sein Bärtchen drängte sich auf Kutusows Gesicht zu, er schwang das Taschentuch und schrie: »Aber so singt man nicht! So geht das nicht! […] Sie leugnen den Sinn der Romanzen, Sie scheinen ihn sogar zu ironisieren…« (KS/B2/732) In der zitierten Passage ist Ljutow extrem aufgeregt: er beißt die Zähne zusammen, schwitzt, lässt das Bein zucken und stürzt sich endlich mit heftigen Widerworten in die klatschende Menge, um lauten Einspruch gegen den Gesang zu erheben. Dass es dabei um mehr als Singmanier geht, wird deutlich, wenn die Diskussion um leidenschaftsloses Singen prompt zum Thema der Leidenschaft in der Geschichte übergeht: »Es war gut, aber nicht so, wie es sein sollte. Sie singen vom Leiden, von Erregungen der Leidenschaft…« »Nun, wissen Sie, ich bin nicht hinter Würze her; mir schmeckt meine Kohlsuppe auch ohne Pfeffer«, sagte Kutusow lächelnd. »Ich liebe die Musik, nicht die Worte, die für sie gemacht sind…« […] »Erlauben Sie – wie ist das aufzufassen?« fragte der Schriftsteller streng, während Kutusow vom Publikum zum Büffet gedrängt wurde. »Die Geschichte wird durch Leidenschaften, durch Leiden geschaffen…« (KS/B2/733) Kutusows Singen negiert ironisch den Sinn der Romanze, was durch die saloppe Formulierung »mir schmeckt meine Kohlsuppe auch ohne Pfeffer« betont wird. Von der sowjetischen Forschung wurden Kutusows Repliken als Ausdruck einer »volksnahen«, »einfachen und bildhaften«, aber »nicht überladenen« Ausdrucksweise gewertet.313 Dieser Sprechstil lässt sich mit seiner Singmanier vergleichen. In dieser gelangt nur die Musik, nicht aber die Worte zur vollen Geltung. Das leidenschaftslose Singen und das schlichte Sprechen Kutusows markieren den Bruch mit den Konventionen einer Gesellschaft, die bis in den gängigen Ausdruck der Leidenschaft in einer Romanze hinein korrupt ist. Der Sänger, der sich leidenschaftslos der Worte bedient, um an der Musik teilzuhaben, bringt eine Motivation zum Ausdruck, welche die kulturelle Kontinuität zwischen der bestehenden und zukünftigen Gesellschaft radikal in Frage stellt. Im Fortlauf der Diskussion hinterfragt Ljutow auch die Verkleidung eines der Teilnehmer als Ritter: »Da hat sich einer als Ritter kostümiert – weshalb? Weshalb gerade als Ritter?« (KS/B2/733) Der Ritter steht idealtypisch für solche Tugenden wie Heldentum, Mut und Stärke; dass dieses Kostüm von der Gesellschaft der Intellektuellen während des Karnevals missbraucht wird, erläutert Kutusow: »Die achtziger Jahre haben deutlich gezeigt, daß die Intelligenz in ihrer Masse gar nicht revolutionär ist…« 313

Vgl. Тарараев: О работе М. Горького над языком романа »Жизнь Клима Самгина«, 391ff.

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»Das ist nicht wahr!« »Richtig!« sagte Tagilskij, der den Helm in der Hand hielt wie ein blinder Bettler die Schale. Samgin […] hörte dabei zu, wie Kutusow ruhig und widerwillig sagte: »Jetzt, da der Marxismus die Intelligenz der Ränge und der Titel beraubt hat, die sie sich unrechtmäßig zulegte…« (KS/B2/734) In der zitierten Passage wird die Motivation der handelnden Akteure in Frage gestellt: Intellektuelle sind laut Kutusow nicht »revolutionär«, ihr Tun lässt sich als Äußerung desselben Verkleidungstriebs verstehen, dem die aufregende Wirkung der Karnevalskostüme entspringt. Sie sollen nun der »Ränge und Titel« beraubt werden; zum Teil legen sie sie aber auch selbstkritisch und freiwillig ab, so u.a. wenn Tagilskij an der oben zitierten Stelle »den Helm in der Hand wie ein blinder Bettler die Schale [hält]«. Dabei ist es auffällig, dass Kutusow, der sich so entschieden davon distanziert, sich rege am Karnevalsgeschehen mit dem Singen, Tanzen und Possenreißen beteiligt. Verkleidet als mittelalterlicher Zunftmeister, gibt er sich als bescheidener Arbeiter der zukünftigen Revolution und erscheint im zweideutigen Licht als ein Intellektueller, der sich von dieser Gruppe distanziert, jedoch ihren Habitus weiter teilt. In dieser Hinsicht stimme ich Aleksandr Ėtkinds Bemerkung zu, der Kutusow zu Recht als »einen abstrakten Protagonisten« bezeichnete, der »bloß ein weiterer Intellektueller mit seltsamen Ansichten blieb, welche es in diesem Roman zu Tausenden gibt«, und »so wie die anderen meistens über Bücher spricht«.314 »Der Augenblick der Entlarvung«315 Die Perspektiven der zukünftigen Revolution werden während Samgins Dienstreisen in die Provinz wiederholt kritisch hinterfragt. Er kommt mit »Kaufleuten, Kleinbürgern und Geistlichen« sowie mit Beamten in Berührung und zieht das Fazit, dass man sich kaum vorstellen kann, »daß Millionen solcher Menschen denen folgen würden, die von einem allgemeinen Glück träumten und alles schon Bestehende einem wohl kaum Möglichen zuliebe zerstören wollten« (KS/B2/794). Die Überzeugung, dass der Volksaufstand durch propagandistische Tätigkeit nicht herbeigeführt werden kann, lässt Samgin die Aufträge seiner politisch aktiven Freunde bedenkenlos ausführen: [Er] nahm von Ljubascha Bücher, Broschüren und mündliche Aufträge für Dorfschullehrer und Semstwostatistiker entgegen, die einsam auf den Dörfern inmitten ungebildeter Bauern und in kleinen Städten unter standhaften Menschen verloren waren; er nahm sie mit, überzeugt davon, daß man dieses modrige Leben durch Papiere nicht in Brand stecken kann. (KS/B2/796) Das Verlorensein der Dorfschullehrer und Semstwostatistiker in der Provinz, unter den Bauern, überzeugt Samgin von der Standfestigkeit des Lebens. Die Kluft zwischen dem 314

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Эткинд, А.М.: Хлыст. Секты, литература и революция, Москва: Новое литературное обозрение 1998, S. 503-504. Gespräche über Bücher tragen in »Klim Samgin« wesentlich zum Bild der abstrakten historischen Zeit bei. So wies Iosif Vajnberg darauf hin, dass insbesondere die Zeit der Reaktion von Gorʹkij »durchgängig durch literarische Fakten dargestellt wird.« (Вайнберг: Русское декадентство, S. 363) KS/B2/891.

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Historische Zeit im Narrativ

provinziellen Leben und der Praxis der Intellektuellen in den Städten scheint unüberwindbar, die Revolution auf dem Wege der Begeisterung für eine Idee unglaubwürdig. Es erscheint kaum möglich, dass das »modrige Leben« durch die Agitation für ein abstraktes Leitbild in Brand gesteckt werden kann. Anders steht es um die von Samgin beobachteten »überflüssigen Menschen«, »die nicht wissen, was sie tun sollen, oder vielleicht nichts tun wollen«, »an den Dampferanlegestellen oder auf den Eisenbahnstationen [sitzen oder liegen], an den Ufern der Flüsse und am Meer wie am Tisch [sitzen], und alle auf irgend etwas [warten]« (KS/B2/787). Diese Menschen beunruhigen Samgin, stellen sich ihm in den Weg oder provozieren ihn. »Gerade mit solchen rechnen die Revolutionäre« (KS/B2/781) – denkt Samgin. Gorʹkijs Interesse an diesem Menschentyp ist in seinem Frühwerk deutlich belegt; V.K. Šenšin verwies in dieser Hinsicht auf eine Gemeinsamkeit zwischen Gorʹkij und Dostoevskij, die beide »in Parias und Renegaten« als einem »Menschentyp, der alle sozialen Bindungen zerrissen hat« »die Gelegenheit zur nackten Darstellung vieler menschlicher Potenzen, vor allem der geistigen sahen«.316 Die Figuren der Landstreicher im Roman deuten auf das unverbrauchte geistige Potenzial, das als symptomatisch für die russische Gesellschaft vor der Revolution gilt. Dieses Potenzial wird in den drei Gesprächen Samgins mit dem Agenten der Kriminalpolizei Mitrofanow thematisiert, bei denen es sich um die Motivation menschlicher Handlungen im Allgemeinen und der künftigen Revolution im Besonderen handelt. Das erste Gespräch beginnt als eine harmlose Auseinandersetzung rund um die Darstellung von Menschen und Ereignissen in der schönen Literatur. Mitrofanow, der als Agent der Kriminalpolizei im Moskauer Verbrechermilieu Ermittlungen führt, ist auch Liebhaber von Detektiv- und Abenteuerromanen und kann sich wenig für die »gepriesenen Schriftsteller« begeistern: »Die gepriesenen Schriftsteller wie beispielsweise Tolstoi sind für mich prosaisch, phantasielos«, sagte er. »Was ist daran, wenn irgendein Iwan Iljitsch erkrankt und stirbt oder wenn Frau Posnyschewa ihrem Mann untreu wird? Alltägliche Vorfälle lehren uns nichts. […] Wenn etwas aus Notwendigkeit getan wird, kann man daran keine Freude finden. Was ist an einem Schuster Interessantes, solange er Stiefel macht? Wenn er aber jemanden ermordet und sich versteckt…« (KS/B2/797) Tolstoj vermag auf die Phantasie von Mitrofanow weniger einzuwirken, dem es nicht um Lebenserkenntnis, sondern um das Besondere geht. Laut Mitrofanow gilt generell für das menschliche Leben, dass »wenn etwas aus Notwendigkeit getan wird, man daran keine Freude finden [wird]«. Die Notwendigkeit, das Alltägliche und das Ordinäre wie die Arbeit eines Schusters, ist nicht der Rede wert, solange nicht ein außergewöhnlicher Fall wie Mord eintritt. Die Phantasie des Menschen wird durch das Besondere, den Einzelfall geweckt. Samgin hält die Worte Mitrofanows für ein Zeichen der Naivität, die für ihn etwas Rührendes hat, und gewinnt Mitrofanow zunehmend als Vertrauensperson, in deren Gegenwart er seinen Gedanken freien Lauf lassen kann. Während des nächsten vertraulichen Gesprächs zwischen Samgin und Mitrofanow geht es um die Frage, ob die 316

Шеншин: Тип »героя-идеолога«, S. 35.

4. Narration

Revolution in Russland möglich sei, wofür Mitrofanow eine originelle gesellschaftliche Diagnose liefert: Die Mutlosigkeit nimmt zu und… […] Ich will Ihnen gestehen: Wissen Sie, ich tröste mich damit, daß dies nichts ausmacht, daß es gut gehen wird, denn wir sind ein kluges Volk! Aber ich sehe, es gibt immer Leute, die aus Mutlosigkeit den Verstand verlieren. Flüchtet man vor Kälte in eine Teestube oder Schenke und hört zu, wovon gesprochen wird, was zeigt sich da? Alle wetteifern mit Erzählungen von dem elenden Dasein, die Menschen erwägen, wer es schwerer hat. Sie versteigern sich bis zur Prahlerei, bis zur Wut. Mir geht es schlechter! Nein, du lügst, mir! Das ist doch ein Prahlen zur Rechtfertigung künftiger Taten… (KS/B2/860) Laut Mitrofanow ist die Nähe des gesellschaftlichen Umbruchs durch die allgemeine Mutlosigkeit zu spüren, bei der Menschen miteinander darum wetteifern, »wer es schwerer hat«. Diese Prahlerei mit der Aussichtslosigkeit dient aus Mitrofanows Sicht der »Rechtfertigung künftiger Taten«. Die Mutlosigkeit als gesellschaftliches Symptom hat ihre Kehrseite in der Gewaltbereitschaft, die sich anhand der Lust zeigt, die künftigen Taten durch das Elend im Hier und Jetzt zu rechtfertigen. In dieser Darstellung kehrt sich die zeitliche Ordnung von Ursache und Folge um: Das künftige Ereignis beeinflusst das Verhalten der Menschen im Hier und Jetzt und ist dadurch in der Gegenwart zu erkennen. Dieser Beobachtung werden etwas später die Überlegungen Mitrofanows zur Unverständlichkeit der menschlichen Taten beim gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft hinzugefügt. Hierfür nennt er einige Beispiele, so unter anderem wie folgt: Die Taten sind nicht zu verstehen. Jermakow, Pferdezüchter und auf seinem Gebiet eine Kapazität, begann aus Überfluß an Mitteln ein zweistöckiges Altersheim für Frauen zu bauen, ein Gebäude mit Hauskirche und dergleichen mehr. Plötzlich stürzte das Gerüst ein, wobei mehrere Personen schwer verletzt wurden. Ein verständlicher Vorfall. Aber Jermakow untersagte danach den Bau der Kirche und gab das Haus, als es fertiggestellt war, zum allgemeinen Gespött als anstößiges Lokal her, als maison publique, wie die Franzosen aus Delikatesse zu sagen pflegen. Ich könnte Ihnen Dutzende solcher Beispiele erzählen. Worauf haben es die Menschen abgesehen? Ich begreife es nicht. Und man beginnt zu denken, es gebe keinen Menschen ohne Trick, man erwartet von jedem, er werde sich im nächsten Augenblick auf den Kopf stellen. (KS/B2/891) Der Bau einer gottgefälligen Einrichtung endet als »maison publique«: Die moralische Paradoxie dieses Beispiels sieht Mitrofanow als symptomatisch für die Gesellschaft an, in der »die Taten nicht zu verstehen [sind]« und es nicht zu bestimmen ist, »worauf es die Menschen abgesehen [haben]«. Da es »keinen Menschen ohne Trick« gebe und jeder sich »im nächsten Augenblick auf den Kopf stellen« könne, ist es laut Mitrofanow nicht mehr möglich, die menschlichen Taten zu verstehen. Sie entstehen nicht aus der Notwendigkeit, sondern aus einem Überschuss an Phantasie. Dies soll auch sein nächstes Beispiel belegen, bei dem ein Dieb nach dem erfolgreichen Verlauf eines Einbruchs die Gewohnheit hatte, durch das Zimmer auf Händen zu spazieren. Wird der Überschuss an Phantasie nicht verbraucht, führt es zur Mutlosigkeit oder – wie Mitrofanow nachfolgend erklärt – zur Langeweile:

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Historische Zeit im Narrativ

Mitrofanow seufzte schwer, stand auf und fragte: »Sie denken, es ist alles ganz einfach? Die Menschen gingen verschiedenen Berufen nach, äßen, besuchten Gastwirtschaften, den Zirkus, das Theater – und sonst nichts weiter? […] das ist nur Hülle, Schale, innen aber ist Langweile. Das übliche im Leben ist Heuchelei, aber mal kommt der Augenblick der Entlarvung und – der Mensch stellt sich auf den Kopf.« (KS/B2/891) Die Heuchelei des Lebens – der Beruf, die Besuche der Essens- und Unterhaltungseinrichtungen sind laut Mitrofanow nur »Hülle, Schale«, unter der sich die Langweile verbirgt. Diese nicht »ganz einfache« Lebensordnung wird im »Augenblick der Entlarvung« durchbrochen, der für jeden individuell, aber auch kollektiv in Form eines gesellschaftlichen Umbruchs zu denken ist. S.I. Suchich wertete diese Gesprächsszenen als eine Überwindung des »LukaKomplexes« in Gorʹkijs Werk.317 Diese Interpretation erscheint u.a. deshalb naheliegend, weil Mitrofanow selbst über die Aufführung von Gorʹkijs Theaterstück »Nachtasyl« spricht. Er erkennt sich sogar selbst in der Figur von Luka. Darüber hinaus verweist er laut Suchich als Provokateur der Geheimpolizei auf den General Sergej Zubatov. Doch obwohl die Worte des Geheimagenten eine »tröstende Wirkung« auf Samgin ausüben, liegt die Pointe der Szene nicht, wie Suchich moniert, in der endgültigen Diskreditierung dieser Figur, sondern darin, dass nicht der Geheimagent Samgin, sondern Samgin selbst den unter die Intellektuellen gemischten Provokateur über die Revolution befragt: »Sie, Iwan Petrovitsch, sind doch ein einfacher, ehrlicher Russe… (…) Sagen Sie mir also: Was meinen Sie, wird es bei uns zu einer Revolution kommen?« Mitrofanow hob den Kopf und flüsterte: »Unbedingt. Es wird einen ganz riesengroßen Aufruhr geben.« (KS/B2/859) Mitrofanows Antwort lässt sich als Gegenprovokation verstehen, die jedoch insoweit ins Leere läuft, als sich der konservative Samgin dadurch kaum zu unvorsichtigen Äußerungen bewegen lässt. Andererseits wäre es – wie S.I. Suchich zu Recht hervorhob – »falsch, in »Klim Samgin« die dem Autor nahen Gedanken nur bei Kutusow oder anderen Revolutionären zu suchen – sie können auch von Figuren geäußert werden, die dem Autor fern oder sogar feindlich erscheinen«.318 Also äußert Mitrofanow den gleichen Befund über die Revolution aus Langerweile am Leben, wie u.a. Kutusow an einer anderen Stelle im Roman (KS/B2/547). Die Begründung der Revolution als Ausbruch von Mutlosigkeit und Langeweile und als ein »Augenblick der Entlarvung« lässt sich in den Kontext von Gorʹkijs Poetik einordnen. T.P. Ledneva beschrieb das Sujet, das um ein einziges existentielles Ereignis herum aufgebaut ist, als insgesamt typisch in Gorʹkijs Werk. Dabei entwickelt sich die Handlung nicht im traditionellen Sinne über solche strukturellen Elemente wie Einleitung, Hauptteil, Höhepunkt, Schluss,319 sondern stellt ein Ereignis in den Mittelpunkt, dass die »geheime, unergründete Triebfeder des menschlichen Bewusstseins« in Gang 317 318 319

Сухих: »Жизнь Клима Самгина« М. Горького и »Философия общего дела« Н. Ф. Федорова, S. 39. Ebd., S. 22. Auch V.K. Šenšin verwies darauf, dass Gorʹkij kaum die Reduktion des Menschen zu einem »blanken soziologischen« Typ befürwortete (vgl. Шеншин: Тип »героя-идеолога«, S. 19). Леднева: Авторская позиция, S. 89.

4. Narration

setzt.320 Dem entspricht die Konzeption der Figuren als »existentielle Typen«, die laut V.V. Zamanskaja als »Träger verborgener Kräfte« fungieren und diese Kräfte in einer »existentiellen Situation« freisetzen.321 In »Klim Samgin« wird die russische Revolution also als »Augenblick der Entlarvung« (KS/B2/891) für die Bevölkerung des ganzen Landes prognostiziert. Dass das Potenzial an Phantasie nicht realisiert wird und droht, sich in Gewalt zu entladen, wird am Ende des zweiten Buchs wiederholt festgestellt. So suchen die Besucher in den frivolen Aufführungen des berühmten Kabaretts des Franzosen Aumont Ablenkung von den Sorgen des Tages. Samgin beobachtet die Menschenmenge mit Staunen, denkt angesichts der Fülle an Gold und Diamanten, die an den Damen prunken, an die gegenwärtigen politischen Probleme und hält sie dem Bild der sich amüsierenden Gesellschaft entgegen: Man könnte sich nicht vorstellen, was und wie diese Väter, diese Mütter über Studenten dachten, die man unter die Soldaten stecken wollte, über Rußland, in dem sich immer mehr revolutionär gesinnte Menschen herumtrieben […]. Als Samgin hierüber nachdachte, hielt er sich einen Augenblick für fähig, aufzustehen und irgendwelche bedrohenden Worte herauszuschreien, er stellte sich sogar vor, wie Dutzende bestürzter, erschrockener Gesichter sich ihm zuwenden würden. (KS/B2/818) Es ist unklar, was das Publikum über die politische Unruhe im Lande denkt und ob es überhaupt darüber nachdenkt. Restaurant- und Kabarettbesuche verdecken die Langweile, die Menschen in dem »entlarvenden Augenblick« zu unerhörten Taten treibt. Die Realität stellt sich auf den Kopf, wenn »ein Nachkomme von Teilfürsten« (Turobojew) angesichts der Theateraufführung von der Bombe des Anarchisten Ravachol »beifällig« spricht und den Weg des Terrors befürwortet (KS/B2/818). Der symbolische Überschuss der Persönlichkeit verlangt nach einem Ausbruch aus dem sozialen Raster. Der Fürst, der die Tat eines Anarchisten wohlwollend betrachtet, ein Kaufmann, der die terroristischen Gruppierungen unterstützt, eine Adelige, die zur Marxistin wird und im Exil stirbt, ein Geistlicher, der durch den konsequenten Glauben zum Atheisten wird, eine reiche Kaufmannstochter, die freiwillig zur Sanitäterin wird und in den Krieg zieht – solche Figuren, die aus ihren sozialen Rollen ausbrechen und in ihre Gegenbilder umschlagen, kommen in »Klim Samgin« nicht nur außerordentlich oft vor, sondern ergeben in ihrer Gesamtheit ein interessantes Muster der gesellschaftlichen Desintegration noch lange vor der ersehnten sozialen Wende. Im dissoziierenden ideologischen Raster erweist sich die Begründung der politischen Aktivität von Parteien oder einzelnen Menschen als unmöglich, die gewöhnlichen Erklärungen durch die soziale Struktur oder die Kapitalverhältnisse greifen nicht. Die Revolution bricht als quasi-psychische Reaktion aus und wird vorerst durch Ablenkungen und unbestimmtes Warten suspendiert. Dieses Potenzial ist lange vor dem Eintritt

320 Ермакова, М.Я.: »М. Горький и модернизм начала ХХ века«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-1992. Материалы конференции »Ранний М. Горький«, Нижний Новгород: ННГУ 1993, S. 38-42, hier S. 39. 321 Заманская, В.В.: Экзистенциальная традиция в русской литературе ХХ века: Диалоги на страницах столетий, Москва: Флинта 2002, S. 194.

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des politischen Ereignisses zu spüren. Es manifestiert sich insbesondere in der euphorischen Reaktion auf studentische Terroranschläge, die Samgin wiederholt registriert: Nach Verlauf einiger Tage war Samgin überzeugt, daß es in Moskau keine gesund denkenden Menschen gebe, denn er hatte niemanden getroffen, der über die Ermordung des Ministers entrüstet gewesen wäre. Die Studenten gingen mit Siegermiene durch die Straßen. (KS/B2/825) In drei Tagen überzeugte sich Samgin, daß Sipjagins Tod die Leute weit mehr belebte und freute als der Tod Bogolepows. Die allgemeine Stimmung schien ihm der Stimmung eines Theaterpublikums nach dem ersten Akt eines Dramas zu gleichen, das sehr interessant war. (KS/B2/903) Die Befriedigung und erwartungsvolle Aufregung, mit der die Gesellschaft auf tragische Ereignisse reagiert, befremden scheinbar nur Samgin, der diese Freude in der von Not nicht betroffenen Bevölkerungsschicht beobachtet. Die Gesellschaft, in der es »keine gesund denkenden Menschen gebe«, reagiert mit Freude auf die Symptome der gesellschaftlichen Krise: Sie sprachen davon, daß Rußland rasch reicher werde, […] daß eine neue Schicht Industrieller entstehe, denen die Interessen der Kultur, der Kunst und Politik nicht fremd wären. Samgin fand, man sollte hierüber mit Freude, mit Befriedigung und letztlich mit Neid auf fremden Erfolg sprechen, aber er hörte aus diesen Gesprächen nur Feindseligkeit heraus. Mit Freude jedoch sprach man von Studentenunruhen und Arbeiterstreiks, von der Verarmung der Dörfer und der Talentlosigkeit der Beamtenschaft. (KS/B2/813) Diese in Samgins Augen unlogische Reaktion wird daran fest gemacht, wie »man« über etwas spricht und nicht daran, »was« man sagt. Die Feindseligkeit gegenüber dem Bemühen der Industriellen, in die Kultur und in die Kunst zu investieren, und die Freude, mit der man über politische Unruhe und Armut spricht, weist auf die Isolierung der intellektuellen Schicht hin. Als gesellschaftliche Enklave, die scheinbar autonom und in sich geschlossen ist, scheitert diese Gemeinschaft jedoch daran, eine Idee für die von ihr herbeigesehnte Revolution zu finden. Dass zwischen Wort und Tat eine unüberbrückbare Kluft liegt, wird am Ende des zweiten Buchs von Diakon Ipatjewskij beklagt: »Alles nur Worte, Christus ist auch ein totes Wort« (KS/B2/896). Zu diesem Fazit kommt der abtrünnige Geistliche, als er nach seinem Bericht über die Niederschlagung von Bauernaufständen bemerkt, dass seine Zuhörer das »alles für Artikel, für die Zeitungen« verwenden und »zu Buchstaben, zu Worten« verarbeiten. Aus dieser Realität führt kein Weg hinaus: In ihr kann die Revolution nicht als Tat begangen werden, sondern sie kann sich nur irgendwie ereignen.322

322 Als ein solches leeres Ereignis wird die Revolution von Gorʹkij im Jahr 1917 in seinen »Unzeitgemäßen Gedanken« reflektiert; dort betont er mit Nachdruck, dass die russische Revolution kein Ergebnis planmäßiger Aktivität gewesen sei, sondern dass das marode Gebäude der Zarenmacht von alleine eingestürzt sei. Dass »das russische Volk sich mit der Freiheit [vermählt] hat«, stellt also keine Wunschheirat dar, sondern passiere, nachdem nichts anderes übrig geblieben sei. Vgl. Gorʹkij: Unzeitgemäße Gedanken, S. 7ff.

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Bolschewismus und Kultur Wie oben bereits thematisiert wurde, steht die politische Aktivität der Marxisten an der Peripherie der Romanerzählung. In den Fokus gerät jedoch das marxistische Programm der kulturellen Erneuerung, das ich zum Abschluss des vorliegenden Kapitels betrachte. Gorʹkijs Kritik am russischen Marxismus und vor allem am Bolschewismus wurde erst von der neueren Forschung untersucht; ihre Interpretation stellt eine Herausforderung dar, da sie auf einen literatur- und realpolitischen Komplex in Gorʹkijs Biografie hinweist, dessen objektive wissenschaftliche Bewertung u.a. die Publikation und Erschließung unveröffentlichter und zensierter Quellen voraussetzt. Einen wertvollen Beitrag dazu leistete E.N. Nikitin, der Gorʹkijs persönliche Stellungnahme zu diversen Vertretern und Richtungen des russischen Sozialismus und Marxismus anhand des unveröffentlichten Briefwechsels Gorʹkijs in zwei wissenschaftlichen Aufsätzen untersuchte.323 Leider wurden diese wertvollen Erkenntnisse kaum auf die Interpretation des »Klim Samgin« übertragen, obwohl der Roman ein erstaunlich differenziertes Bild des sozialistischen Lagers liefert. Vor allem die Beobachtungen des Bolschewismus tragen wesentlich zum Befund über das Scheitern der russischen Intellektuellen auf ihrer Suche nach einer Idee für die russische Revolution bei. In seinem Aufsatz führt Nikitin aus, warum Gorʹkij die Persönlichkeiten von Ivan Skvorcov-Stepanov und Leonid Krasin (beides Prototypen des Bolschewiken Kutusow im Romans) negativ bewertet. Sie werden von Gorʹkij als Glaubensadepten von Marx und seinem Werk »Das Kapital« und eingebildete Wahrheitshüter letzter Instanz dargestellt.324 Im Roman wird »das Kutusowtum« als eine spezifische Taktik problematisiert, die dazu dient, geistige Komplexität zu reduzieren und sich über die Realität zu stellen. In dieser Hinsicht befindet sich der Antagonist Kutusow in einem Wettbewerb mit Samgin: Beide suchen nach einer philosophischen Strategie, die der ideologischen Vereinnahmung durch das gesprochene und geschriebene Wort einen Riegel vorschieben soll. Bei ihrem Umeinanderkreisen im Roman wird Kutusow sowohl zum tatsächlichen, als auch zum mentalen Gesprächspartner Samgins. Die Kongruenz beider Figuren zeigt sich besonders daran, dass Samgin sich ohne besondere Überzeugung für die Ideologie auf die radikalere Seite Kutusows schlägt, als die marxistische Partei in Russland in zwei Flügel zerfällt. Während gemäßigte Marxisten an den Grundlagen der politischen Ökonomie festhalten und die Revolution als ein noch weit entferntes Ergebnis der wirtschaftlichen und sozialen Evolution ansehen, streben radikale Revolutionäre die direkte Machtübernahme an. So beschuldigt der Ökonom Preiß Kutusow, »die künstliche Fabrikation irgendwelcher Sturmvögel« zu propagieren. Darauf ruft Kutusows Anhänger Pojarkow wütend aus: »Evolution? Ersticken werden sie in dieser Evolution, jawohl! Das ist Lakaientum der Wirklichkeit gegenüber, ihr aber muß man die Knochen brechen« (KS/B2/907). Angesichts dieser starken Worte könnte man über Samgins paradoxe Wende staunen. Samgin vertritt

323 Vgl. Никитин, Е.Н.: »М. Горький и марксизм«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-1992 г. Материалы конференции »Ранний М. Горький«, Нижний Новгород: ННГУ 1993, S. 69-72. Vgl. auch Hinweise auf Gorʹkijs Kritik an der Auslegung des Marxismus durch Gleb Struve und Michail Tugan-Baranovskij und auf den ausdrücklichen Verzicht Gorʹkijs, den Primat der ökonomischen Verhältnisse anzuerkennen in: Никитин: Максим Горький и россий ские социалисты (1897-1917). 324 Никитин: М. Горький и марксизм, S. 71-72.

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sonst moderate und fast konservative politische Ansichten, in diesem Streit befürwortet er jedoch den radikalen Flügel: Lenins Schüler bringen zweifellos Klarheit in den Wirrwarr der Ansichten über die Revolution. […] Lenin hat vorzüglich begriffen, daß die Idee der Revolution so herausgeschält und zugespitzt werden muß, daß sie alles Fremdartige abstößt. (KS/B2/940) Im »Wirrwarr der Ansichten über die Revolution« hebt sich Lenins Partei gerade dadurch ab, dass sie die Revolution nicht im Geiste einer Idee betreibt. Sie macht die Revolution selbst zur Idee und favorisiert dadurch reine Destruktion. An einer früheren Stelle wird diese Taktik von Samgin als Möglichkeit aufgefasst, die gesellschaftliche Atmosphäre zu bereinigen: »Starke Menschen, kräftige Hände müssen die Macht ergreifen und Rußland von dem beißenden Menschenstaub säubern, der am Leben und Atmen hindert« (KS/B2/861). »Menschenstaub« steht dabei für Intellektuelle, die in ihrer Wortproduktion den Staub der Ideen hochwirbeln; dieser Wortstaub hindert in seinem phantastischen, grotesken Charakter »am Leben und Atmen«. In der Abschaffung dieser Realität zwecks Eindeutigkeit, Klarheit und Führung seitens »starker Menschen, kräftiger Hände« fallen die Ziele von Samgin und Kutusow zusammen. Jürgen Rühle hob zu Recht hervor, dass »Klim Samgin« als »die Abrechnung Gorkis mit sich selbst«325 und ein »Akt der Selbstverständigung und Selbstkritik«326 zu verstehen sei: […] je enger Gorʹkij mit Lenin und den Bolschewisten in Kontakt kam, desto mehr erwachte in ihm selber der kritische Geist des Intellektuellen. Es war ihm unmöglich, den schrecklichen Vereinfachungen zu folgen, die die bolschewistische Parteilinie vorschrieb. Die Entfremdung Gorkis von Lenin, seinem langjährigen Freund, wuchs 1917 bis zur Feindseligkeit.327 Dass diese Feindschaft durch den Grad der Vereinfachung begründet war, mit der Lenin an die Lösung geistiger Fragen heranging, betont Ljubov Sumatochina in ihrem Aufsatz zum Motiv der Vereinfachung in »Klim Samgin«. Sie weist direkt darauf, dass Gorʹkij Vereinfachung als einen »aggressiven Ansatz, draufgängerische Tendenz zur Nivellierung der Werte verstand, die einen Untergang der Kultur mit nach sich zieht«.328 Eine Variante einer solchen Vereinfachung sah Gorʹkij laut Sumatochina neben der Weltanschauung des Spießbürgers in der Aktivität der Bolschewiken und insbesondere Lenins, dessen Gestalt in Gorʹkijs Schriften oft das Attribut »einfach« verliehen wird.329 Laut Sumatochina wird in »Klim Samgin« die »historische Gesetzmäßigkeit des Sieges einer einfachen Idee, die mehrere willensstarke Menschen um sich vereinte«, demonstriert und gleichzeitig »auf die gefährlichen Seiten der Vereinfachung des Lebens, die der Marxismus anbietet«, hingewiesen.330 325 326 327 328

Rühle: Literatur und Revolution, S. 37. Ebd., S. 38-39. Ebd., S. 38. Суматохина, Л.В.: »Мотив ›упрощения жизни‹ в повести А. М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Литературный календарь: книги дня (2011), S. 56-57, hier S. 57. 329 Ebd., S. 60. 330 Ebd., S. 63.

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Die gefährliche Seite des Bolschewismus wird dabei im Programm der kulturellen Erneuerung gesehen, das keine Kontinuitäten in der Entwicklung nach der gesellschaftlichen Wende vorsieht. So die oben besprochene Diskussion rund um die Singmanier von Kutusow, die leidenschaftslos der Musik folgt und den konventionellen Gefühlsausdruck verwirft. In die gleiche Richtung weist auch der Satz von Jelisaweta Spiwak, wenn sie auf die Replik von Samgins Mutter, alle Menschen seien Despoten, erwidert, dass dies in einer Gesellschaft, »die auf despotischen Grundsätzen beruht, ganz natürlich« sei (KS/B2/982). Diese beiläufig eingeworfenen Sätze bringen im Roman eine Vision der gesellschaftlichen Wende zum Ausdruck, die einen vollständigen Bruch mit der existierenden Gesellschaft beinhaltet – eine Ansicht, deren katastrophale Folgen für das kulturelle Leben Gorʹkij wohl bewusst war. Davon zeugt u.a. der Streit um die Fragen der Kultur und der Revolution, den Gorʹkij mit Lenin führte und vor dessen Hintergrund L.A. Kolobaeva die »Schonungslosigkeit« der Figur von Kutusow in »Klim Samgin« kommentierte.331 A.A. Gazizova schreibt in ihrem Aufsatz »Der neue Gorʹkij« gar darüber, dass der »tätige, sozial aktive Mensch«, der »Held der Revolution sein möchte und den Titel des ›wahren Lebensbegründers‹ anstrebt«, Gorʹkij zur Entstehungszeit des »Klim Samgin« weitgehend enttäuschte.332 Die Enttäuschung resultiert nicht nur aus der Tatsache, dass die »marxistische These über das Dasein, das das Bewusstsein definiert, vor dem Hintergrund von Gorʹkijs Glauben an die schöpferische und umgestaltende Kraft der Vernunft verblasst«.333 Ins Visier von Gorʹkijs Kritik gerät im Roman die Praxis der Einordnung von Menschen in Mitstreiter und Feinde, wie das folgende Zitat veranschaulicht: »Revolution ist nicht morgen«, antwortete Kutusow […]. »Bis dahin werden wahrscheinlich einige sich in Menschen verwandeln, die fähig sind, irgend etwas Vernünftiges zu tun, die meisten aber werden, wie anzunehmen, sich der Revolution passiv oder aktiv widersetzen und dabei zugrunde gehen.« »Bei Ihnen ist alles einfach«, sagte Warwara scheinbar beifällig. Samgin murmelte mürrisch: »Na, das ist nicht sehr einfach.« »Was denn sonst?« fragte Kutusow lächelnd. »In der Revolution […] wird das Gesetz der Logik vom ausgeschlossenen Dritten erbarmungslos in Kraft treten: ja oder nein.« Samgin wollte sagen: das ist grausam, und hätte gern noch vieles gesagt […]. (KS/B2/913) Die Revolution wird von Kutusow also als ein Moment der eindeutigen Entscheidung verstanden, bei der die Intellektuellen ihre Farbe bekennen und – die meisten – zugrunde gehen werden. Als vollständiger Bruch mit dem existierenden intellektuellen Milieu wird die Revolution auch von den »geradlinigen jungen Männer[n]« (KS/B2/940) verstanden, deren Erscheinen Samgin am Ende des zweiten Buchs erstaunt vermerkt: Es waren irgendwelche »Wunderkinder« aufgetaucht, eines von ihnen, ein kräftiger Bursche von zwanzig Jahren, glatt und flink wie ein Aal […]. Samgin sagte einmal in 331 Колобаева: »Жизнь Клима Самгина«, S. 292-293 und 297-298. 332 Газизова, А.А.: »Новый Горький«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-1992. Материалы конференции »Ранний М. Горький«, Нижний Новгород: ННГУ 1993, S. 101-106, hier S. 103. 333 Сухих: »Жизнь Клима Самгина« М. Горького и »Философия общего дела« Н. Ф. Федорова, S. 12.

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seiner Gegenwart: »Ein Revolutionär ist vor allem ein gesellschaftlich tätiger Mensch«. Da fragte dieser Aal mit ironischem Lächeln: »Im Interesse welcher Gesellschaft ist denn so ein Revolutionär tätig? Wenn im Interesse der heutigen Klassengesellschaft, warum ist er dann Revolutionär und nicht Konterrevolutionär?« (KS/B2/936) Wird durch die Kritik an der »heutigen Klassengesellschaft« jede Verbindlichkeit in Bezug auf die gegenwärtige Gesellschaft abgelehnt, so erscheint die Revolution als ein Nullpunkt, von dem aus alle sozialen Verhältnisse anders zu denken sind. Dieses Ziel wird von Menschen aus unterschiedlichen Motiven verfolgt. Auch Klim Samgin fühlt sich »zu guter Letzt« dieser Idee der Revolution verbunden, da »jene Menschen am einfachsten und verständlichsten sind, die beschlossen haben, all Grundlagen [des Lebens] zu ändern, all seine Stützen zu zerstören«. (KS/B2/988) In dieser Hinsicht bietet GorʹkijsRoman,wie S.I. Suchichtreffend formulierte, weder eine »Rechtfertigung« nocheine »Entlarvung« des Bolschewismus: Er zeigt, was Bolschewismus ist und warum er sich als einzige Kraft erwiesen hat, die imstande war, das Schicksal Russlands zu wenden. Das ist ein Ergebnis der »eisernen Logik« der Lehre, des unerschütterlichen Glaubens daran, dass man im Recht ist, der unverwüstlichen Härte beim Handeln, der Kompromisslosigkeit, der Attraktivität der Ideen und Lösungen für die Masse.334 Es stimmt also wohl, dass Gorʹki, der in seinem Roman eine »Auseinandersetzung mit der Intelligenz auf einer höheren Stufe« beabsichtigte, »den intellektuellen Standpunkt nicht mehr als bürgerliche Klassenborniertheit abtun« konnte.335 Er revidiert die geistige Geschichte der russischen Revolution in Form der Suche nach einer verbindlichen Motivation für die gesellschaftliche Wende; ihr Ausbleiben führt dazu, dass das Potenzial der menschlichen Phantasie von der Idee der reinen Destruktion gebündelt wird. Die Revolution wird nicht als eine Tat im Dienste einer konsolidierenden Idee begangen, sondern bricht als eine spontane Reaktion aus. Diese Negativbilanz der Handlung schlägt sich in der anschließenden Darstellung der ersten russischen Revolution nieder, die als eine Abfolge von Bildern gestaltet wird und die Atmosphäre des kollektiven Umbruchs zum Ausdruck bringt. Samgin, der diesen Ereignissen beiwohnt und sogar dem Romanautor persönlich begegnet, erlebt in dieser Episode eine wichtige Wende. Um sie zu erschließen, muss ich nachfolgend zunächst den zweiten Erzählstrang des Romans – den Lebenslauf des Protagonisten – analysieren.

4.2.3.2

Leben in Erwartung der Revolution Mein Leben ist ein Monolog; doch ich denke in Dialogen, wobei ich stets irgendwem etwas zu beweisen suche. Als lebte in mir irgendein Fremder, Feindlicher, der jeden meiner Gedanken überwacht und vor dem ich mich fürchte. (KS/B4/373)

334 Ebd., S. 34. 335 Rühle: Literatur und Revolution, S. 38-39.

4. Narration

So gut wie keine Forschungsarbeit über »Klim Samgin« geht am Protagonisten vorbei – der Roman scheint so geschrieben zu sein, dass er zu seiner Bewertung förmlich einlädt. Unzählige Situationen, in denen Samgins innerer Monolog seine Falschheit bezeugt, sein Verhältnis zu Frauen alles andere als ritterlich aussieht und das fehlende Mitgefühl gegenüber anderen Figuren eindeutige Rückschlüsse auf den Charakter des Protagonisten erlaubt, lenken das Bewusstsein der Leser, darunter auch professioneller Interpreten, in die Richtung der moralischen Be- und Verurteilung. Wie ich oben bereits angesprochen habe, erfüllt diese permanente moralische Ausleuchtung des Protagonisten einen bestimmten Zweck. Da der Roman auf die »objektive« und wertneutrale Darstellung hin ausgerichtet ist, bedarf es eines Protagonisten ohne besonders feste Überzeugungen, der die Fülle der kulturellen Realität in seinem Bewusstsein spiegeln kann. Samgin erfüllt diese Funktion so gut, dass sein Bewusstsein von dieser Realität beinahe aufgelöst wird; das moralisch anstößige Benehmen macht ihn als Figur erst greifbar, verleiht seinem Charakter eine individuelle Gestalt. Im Rahmen dieses Kapitels setze mich mit der Frage auseinander, was dabei mit Samgin passiert bzw. welche Funktionen er in der Romanerzählung übernimmt. Das Leben Samgins – wenn man das überhaupt als »Leben« im ursprünglichen Sinne des Wortes bezeichnen kann – spielt sich vor dem Hintergrund der Gespräche ab, in denen er selbst äußerst selten spricht. Die privaten Momente seiner Biografie wie Liebesaffären, Heirat und Trennung von seiner Frau, Studium und Berufsleben, Tod der Familienangehörigen, Wechsel in den Freundschaftsbeziehungen sowie das Altern wirken kaum auf ihn ein. Andrej Sinjavskij sprach diesbezüglich von einem »wandelbaren, aber in seinem Wesen unveränderlichen Charakter Samgins«.336 Das trifft insoweit zu, als die privaten Ereignisse den Protagonisten weit weniger als ein neues bon mot beeinflussen. Wie oben thematisiert wurde, entspringt die Sujetlinie des Protagonisten dem Impuls, eine alternative Haltung gegenüber der kulturellen Realität zu entwickeln, die weder ein eindeutiges politisches Engagement noch seine eindeutige Ablehnung bedeutet. Hinter dieser Aufgabe steht der Anspruch auf die geistige Autonomie: Ähnlich wie Musils Ulrich wird Samgin von keinen privaten Interessen, sondern vom Verlangen nach Bedeutsamkeit im Kontext des kollektiven Ganzen angetrieben. Dieses Verlangen erwacht in der Kindheit des Protagonisten und wird in weiteren Lebensabschnitten als Streben nach einer festen Positionierung der eigenen Meinung in Salongesprächen vertreten, in denen der Protagonist zunächst angehört, dann als bedeutsam eingeschätzt werden will. Dieser Vorsatz entwickelt sich über den Wunsch, einen eigenen Salon zu besitzen, und über journalistische und schriftstellerische Schreibversuche zum Traum, eine eigene Zeitung herauszugeben. Bei seinem Anspruch darauf, das Ideenleben der Salons zu beherrschen, wird Samgin im Roman ausdrücklich als Plagiator dargestellt, der den Eindruck der eigenen Originalität durch kunstvolle Manipulation erzeugt. Anders als Ulrich im »Mann ohne Eigenschaften«, der Gedankenexperimente durchführt, Utopien entwirft und einen Vorschlag an die Parallelaktion formuliert, kann Samgin weder einen originellen Ge-

336 Синявский: О художественной структуре, S. 137.

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danken fassen, noch einen Beitrag zur Suche nach der Idee für die russische Revolution leisten. Das Sujet des Protagonisten entwickelt sich also nicht über originelle Gedankeneinfälle oder Utopien sondern über eine Reihe persönlicher Krisen Samgins, welche das Gefühl des Drucks, der Nötigung und der Bedrohung durch das fremde Gedankengut zum Ausdruck bringen. Im ersten Teil des vorliegenden Kapitels untersuche ich die narrative Inszenierung dieser Krisen und zeige, dass sie das subjektive Bewusstsein des Protagonisten in ein Verhältnis zur kollektiven Zeit bringen und dadurch der historischen Zeit des »Klim Samgin« eine eindeutige emotionale Färbung verleihen: Sie machen sie als Zeit der ideologischen Verunsicherung und Vereinnahmung kenntlich. Die Beherrschung der abstrakten historischen Zeit erfordert erhebliches kreatives Potenzial; mangels eines solchen ist der Protagonist auf die Manipulation des fremden Gedankenguts angewiesen und wird an mehreren Stellen des Romans als ein unbegabter Plagiator dargestellt, der in seiner Denk- und Schreibpraxis Anleihen bei anderen Figuren nimmt. Dabei entwickelt Samgin im Laufe der Erzählung den Wunsch nach einer Reduktion der geistigen Komplexität. Seine Evolution in diese Richtung geht mit der oben diskutierten Entwicklung der kollektiven Debatten rund um die Idee für die russische Revolution einher. Setzt sich in ihrem Verlauf die Partei der Bolschewiki durch, welche diese Idee auf die reine Destruktion der existierenden Gesellschaft reduziert, so schließt sich auch Samgin, wie ich im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels darstelle, diesem Flügel des russischen Marxismus an, da er sich von der künftigen Revolution eine Vereinfachung des kulturellen Lebens verspricht. Wenn Samgin auch keinen eigenen Ansatz zur Bewältigung der chaotischen kulturellen Wirklichkeit entwickeln kann, so registriert sein Bewusstsein umso deutlicher die Situationen kollektiver Katastrophen und Massenunglücke, deren Serie den Roman durchzieht und deren Sinn unklar bleibt. Der Protagonist nimmt diese Ereignisse auf der bildlichen Ebene wahr, bevor sie überhaupt erst passieren. Im dritten Teil des vorliegenden Kapitels untersuche ich die gegenseitige narrative Kongruenz zwischen der Wahrnehmung des Protagonisten und der Darstellung von Massenunglücksszenen. Im vierten Teil gehe ich auf die Szene der Osternacht ein, in der die Vorahnung eines Massenunglücks nicht eingelöst wird. In dieser Szene wird der Protagonist mit dem Bild der Menschenmasse konfrontiert, die in religiöser Ektase zu einer Einheit verschmilzt. Diese Darstellung enthält eine Vision der idealen Sozietät, die auf der Basis des kollektiven Glaubens an eine Idee vereint wird; vor ihrem Hintergrund wird sich Samgin der Dimensionen seiner Lebenskrise bewusst. »Versäuerung« der Wahrnehmung Die Dominanz der Reflexionen Samgins im Roman wurde von der Kritik und Forschung oft betont. Helene Imendörffer stellte dabei eine Tendenz zur Steigerung fest: Das Ausmaß der Reflexionen nimmt mit Fortgang des Romans zu und ist im dritten Band des Romans besonders groß, wo streckenweise jede dargestellte Szene in anschließendem Alleinsein von Samgin reflektiert wird.337

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Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 78.

4. Narration

Laut Imendörffer kann ein solcher Protagonist kein »Held« oder »aktiver Handlungsträger« mehr sein; der Darstellungsfokus verschiebt sich auf »seine ständige Auseinandersetzung mit der Umwelt, mit der Wirklichkeit«.338 Bei dieser Auseinandersetzung mit der »Wirklichkeit« geht es Samgin im engsten Sinne darum, die Einwirkung des fremden Gedankenguts auf das eigene Innenleben einzuschränken. Die Gespräche, die in der »Wirklichkeit« des Romans dominieren, werden von ihm als schmerzvolle Angriffe auf die Autonomie des eigenen Selbst wahrgenommen, und lösen persönliche Krisen aus, bei denen sich der Protagonist bis in sein körperliches Befinden hinein betroffen fühlt. Der Auftrag der Menschenbeobachtung, der Samgin als Protagonisten des Romans zukommt, wird als äußerer Zwang und Druck der Welt auf sein Ich empfunden, das dem Protagonisten selbst als überfüllt und sogar »verstopft« erscheint: Manchmal kam es Samgin vor, als wäre der Raum für seine Eindrücke – das, was man die Seele nennt – verstopft durch diese Grübeleien und durch alles, was er wußte und gesehen hatte, verstopft fürs ganze Leben und so, daß er bereits nichts mehr von außen auszunehmen vermochte, sondern nur den festen Knäuel des Erlebten abwickeln konnte. Es müßte ein Glück sein, diesen Knäuel bis ans Ende abzuwickeln. (KS/B1/362) Die Erlebnisse, die sich in Samgins Bewusstsein nebeneinander häufen oder zu einem Knäuel verwickeln, gehen auf »alles, was er wußte und gesehen hatte« zurück, was im Roman soviel wie die kulturelle Realität des geschriebenen und gesprochenen Wortes bedeutet. Der Druck dieser Realität lässt den Protagonisten die Frage nach seinem Ich, dem, »was man die Seele nennt«, stellen. Beide Instanzen der Zeit stehen sich in Samgins Bewusstsein entgegen: Die kollektive Zeit dringt in den Wahrnehmungshorizont des Protagonisten und droht, ihn vollständig auszufüllen. Das Verlangen, im Fluss der kollektiven Zeit zu bestehen und eigenen Handlungsraum zu gewinnen, wird zur Signatur der historischen Zeit und verleitet Samgin dazu, seine Meinung offen kundzugeben: Gleich darauf entbrannte der Wunsch, diesen Knäuel bis zum Äußersten zu vergrößern, derart, daß er, wenn er alles in ihm, die ganze Leere ausgefüllt und irgendein starkes, dreistes Gefühl erzeugt hatte, Klim Samgin gestattete, den Menschen zuzurufen: »He, ihr! Ich weiß nichts, begreife nichts, glaube an nichts und – sage es euch ehrlich! Aber ihr alle stellt euch gläubig, ihr seid Lügner, seid Lakaien simpelster Wahrheiten, die gar keine Wahrheiten sind, sondern Gerümpel, Kehricht, zerbrochene Möbel, durchgesessene Stühle.« (KS/B1/362) »Irgendein starkes, dreistes Gefühl«, das den Protagonisten dazu anstiftet, den Menschen »Ich weiß nichts, begreife nichts, glaube an nichts und – sage es euch ehrlich!« zuzurufen, markiert in emotionaler Hinsicht die Spannung zwischen dem Bestand der kollektiven Zeit und der subjektiven Zeit von Samgins »Leben«. Je tiefer der Protagonist in die kulturelle Realität eintaucht, desto ausgeprägter wird sein Bedürfnis danach, »mit aller erdenklicher Genauigkeit die Grenzen seiner Persönlichkeit festzusetzen« 338 Ebd., S. 93.

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(KS/B1/366). Dabei wird Samgin von einem Generalverdacht an sich selbst begleitet, der u.a. den »zufälligen Gedanken« gilt: Er traute den zufälligen Gedanken nicht, die zuweilen von außen her, ohne Zusammenhang mit einer bestimmten Person oder einem Buch, bei ihm auftauchten. Was von anderen Menschen stammte, mit seiner Grundstimmung im Einklang stand und sich dem Gedächtnis leicht zu eigen machen ließ, schien ihm zuverlässiger als diese plötzlich aufflackernden, vagabundierenden Gedanken, die etwas Gefährliches an sich hatten, als wollten sie ihn von dem Vorrat schon dauerhaft angeeigneter Ansichten losreißen und entführen. (KS/B1/258) Die Selbstverständlichkeit, mit der Samgin sich fremdes Gedankengut aneignet, führt zu Zweifeln an den eigenen Gedanken, die von Samgin als »zufällig«, »unerwartet«, »unzuverlässig« und scheinbar »von außen her« angetragen wahrgenommen werden. In dieser Situation empfindet der Protagonist das Bedürfnis, sich »gegen den Ansturm von Ansichten« zu wehren, wobei ihm mal die fremden, angeeigneten Gedanken als zuverlässiger im Vergleich zu den eigenen und »zufälligen« erscheinen, mal gelten gerade sie als Bedrohung. Eine solche Desorientierung führt zum Bewusstsein der Notwendigkeit, die Grenzen des eigenen Ich durch das Annehmen einer bestimmten Idee zu definieren, doch endet auch dieser Ansatz in einem Dilemma: Ja, es ist Zeit, irgendeine Idee anzunehmen […]. Man muß einen gewissen Kern in der Seele haben, und dann wird sich rings um ihn alles das bilden, was die Persönlichkeit von allen anderen abgrenzt, sie mit einem scharfen Strich zeichnet. Die Bestimmtheit einer Persönlichkeit wird dadurch erreicht, daß der Mensch immer ein und dasselbe sagt – das ist klar. Die Persönlichkeit ist ein Komplex fest eingeprägter Ansichten, das ist ein Originalwortschatz. Jedoch fand Samgin, die bekannten Ideen sichtend, keine, die ihm passen würde, und konnte sie nicht finden, da es nicht um das Anleihen des Fremden, sondern um die Fabrizierung des Eigenen ging. Alle Ideen sind alleine deshalb schlecht, weil sie fremd sind […]. (KS/B1/354, kursiv – m. Ü., Passage fehlt bei Ruoff) In der zitierten Passage erscheint die Persönlichkeit als ein »Komplex fest eingeprägter Ansichten« und als »Originalwortschatz«. Diese Definition entspricht der Erzählweise des »Klim Samgin«, in dem Figuren montageartig aus ihren Äußerungen und den grotesk akzentuierten Details des Äußeren zusammengesetzt werden. Dabei erhalten bestimmte Ideen durch die Zuweisung zu Figuren als Redeinstanzen zwar den Aufdruck der Autorschaft, doch ist sich Samgin gleichzeitig dessen bewusst, dass sie nicht erfunden, sondern angenommen werden. Eine Idee soll »die Persönlichkeit […] mit einem scharfen Strich zeichne[n]«, doch eignet sich für Samgin keine, da sie alle »fremd« sind. »Wahrhaftig, ich werde, wie mir scheint, von alledem noch krank…« (KS/B2/355) – befürchtet der Protagonist und erkrankt gleich darauf tatsächlich an einer »Versäuerung« (KS/B1/361), einer Krankheit seltsamer Natur, bei der der psychische Konflikt Samgins bis in seinen Körper hinein dringt: Im Laufe ganzer fünf Wochen vermochte Doktor Ljubomudrow die Krankheit des Patienten nicht recht festzustellen, während der Patient nicht begreifen konnte, ob er physisch krank sei oder ob ihn der Abscheu vor dem Leben, vor den Menschen um-

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geworfen habe. Er war nicht wehleidig, doch schien es ihm zuweilen, als wirkte in seinem Körper eine scharfe Säure, die die Muskeln erhitzte und die Lebenskraft aus ihnen auskochte. (KS/B1/361) In der Folge wird Samgins Krankheit als eine Form schwerer Misanthropie beschrieben, die sich nicht nur auf den Geist, sondern auch auf den Körper des Protagonisten auswirkt. Die körperliche Schwäche korreliert dabei mit der Abscheu vor Menschen, wobei in erster Linie ihre Worte auf Samgin bedrückend wirken: Er hatte keine Lust, Menschen anzusehen, es war ihm unangenehm, ihre Stimmen zu hören, er wußte von vornherein, was die Mutter, Warawka, der unentschlossene Arzt und dieser gelbgesichtige Flanellmensch da, sein Nachbar im Abteil, und der schmierige Achsenöler mit dem langstieligen Hammer in der Hand sagen würden. (KS/B1/361) Samgins Misanthropie entzündet sich an der Banalität und Prädiktabilität der Worte und wird in der Folge auf das Aussehen von Menschen übertragen: Die Menschen erregten ihn schon allein dadurch, daß sie existierten, sich bewegten, umherblickten und redeten. Jeder von ihnen tat seiner Einbildungskraft Gewalt an, indem er ihn zwang, darüber nachzudenken, wozu er nötig sei. Es erhoben sich unsinnige Fragen: Weshalb rasiert sich dieser Mann mit den starken Backenknochen den Bart, weshalb geht jener mit einem Stock, obwohl er kräftige, ebenmäßige Beine hat? Eine Frau hat sich die Lippen grell angemalt und um die Augen herum geschminkt, dadurch scheint ihre Nase blutlos, grau und zum Gesicht nicht passend klein. Niemand will ihr sagen, daß sie ihr Gesicht verunstaltet hat, und Klim will es auch nicht. Er vermerkte mit Scharfblick und Gier das Häßliche, Lächerliche und Abstoßende an den Menschen, was ihm gestattete, über jeden boshaft und geringschätzig zu urteilen. Zugleich jedoch fühlte er dunkel, daß diese seine aufdringlichen Grübeleien krankhaft, unsinnig und kraftlos waren, und fühlte das ihre Einförmigkeit ihn immer mehr ermüdete. (KS/B1/361-362) Interessant ist in der zitierten Passage die Tatsache, dass die Einbildungskraft Samgins insbesondere durch die getroffenen Menschen herausgefordert wird. Fühlt sich Samgin gezwungen, über die Existenz der Menschen nachzudenken, so hinterfragt er ihren Sinn, indem er »mit Scharfblick und Gier das Häßliche, Lächerliche und Abstoßende an den Menschen« vermerkt. A.S. Jugaj hat die Darstellungsweise, bei der sich Details, die an sich nichts Außergewöhnliches oder Phantastisches haben, zu einem grotesken und skurrilen Bild verdichten, als typisch für die Poetik von »Klim Samgin« beschrieben. Laut Jugaj liegt im grotesken Bild, das »ohne offensichtliche Phantastik oder Wirklichkeitsdeformation«339 auskommt und durch die Kontrastierung von »neutralen« Zügen erzeugt wird, eine erzählerische Innovation von Gorʹkijs Roman. Durch dieses Verfah-

339 Югай, А.С.: Характеры в их изобразительном воплощении в романе М. Горького »Жизнь Клима Самгина«. Проблема гротескного портрета. Автореф. дисс. на соиск. уч. степ. к. ф. н., Москва 1989, S. 9.

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ren bekommt das Äußere der Figuren einen »künstlichen und unnatürlichen« Charakter.340 Diesem Befund füge ich hinzu, dass der Eindruck der Künstlichkeit in »Klim Samgin« dadurch verstärkt wird, dass Samgin neben der Gestik und Mimik von Figuren besonders auf ihre Bekleidung, Frisur und andere Details achtet, welche auf den Geschmack der Figur hinweisen. Die oben zitierte Passage kann als Beispiel dafür dienen. Der abrasierte Bart, der die starken Backenknochen kaschieren könnte, der bei den starken Beinen unnötige Stock, der offensichtlich als Modegegenstand getragen wird, sowie die grellen Farben, mit denen die Dame ihr Gesicht angemalt hat, sind als Symptome der gesellschaftlichen Verstellungskunst zu verstehen, mit dem das Äußere eines Menschen an das soziale System angepasst wird. Gerade diese Kunstgriffe werden zur Zielscheibe von Samgins satirisch-grotesker Beobachtungsgabe, die ihm zwar Genugtuung, jedoch auch die Erkenntnis bringt, dass diese »aufdringlichen Grübeleien krankhaft, unsinnig und kraftlos« sind. Die groteske Verzerrung durch »Samgins Brille« bietet dem Erzähler jedoch durchaus Vorteile bei der Gestaltung der fiktiven Realität des »Klim Samgin«. Als idealer Beobachter nimmt Samgin nicht nur auf, was die anderen sagen, sondern registriert aufmerksam die Eigenarten der Sprech- und Ausdrucksweise der Redner einschließlich des Tons und der Gestik. Dadurch werden abstrakte Inhalte in das Medium der Erzählung mit ihren Figuren übersetzt, und die Sprecher (und nicht das Gesprochene) treten erst überhaupt als Figuren im Roman auf. Ansichten bekommen so ihre Gesichter und werden in eine Interaktion mit dem Protagonisten und anderen Figuren involviert. Diesem Vorgehen entspricht die Auffassung des Protagonisten, dass jeder Mensch als »System von Sätzen« zu begreifen sei: Samgin wurde in seiner Ansicht bestärkt: der Mensch ist ein System von Sätzen. Bisweilen merkte er, daß diese Ansicht nicht den ganzen Menschen beleuchtete, aber: »Keine Regel ohne Ausnahme!« Dieser Ausspruch sah weitsichtig voraus, daß es Menschen gebe, die sich ausnehmend geschickt in Paradeworte kleideten, was sie trotzdem nur zur Schaffung ihres Systems von Sätzen führte, zu nichts weiter. Wahrscheinlich waren auch ganz gescheite Menschen möglich, die eine Festigkeit ihrer Meinungen anstrebten, den Zustand von Gläubigen erreichten und, in ihrer geistigen Entwicklung zurückbleibend, verdummten. (KS/B2/529) Die Alternativen, die sich Samgin bei dieser Denkweise anbieten, sind nicht besonders zahlreich: Entweder kleidet sich ein Mensch in gängige »Paradeworte« und erschafft sein eigenes »System von Sätzen« oder er bemüht sich um die »Festigkeit seiner Meinungen«, erreicht den »Zustand des Gläubigen« und »verdummt«. In beiden Fällen ist der Mensch dadurch zu verstehen, was und wie er spricht; das entspricht genau der Erzählweise des »Klim Samgin«, wo permanent Positionen angekündigt, Meinungen geäußert, Repliken eingeworfen werden. Diese kulturelle Realität ruft bei Samgin den Widerstand hervor, der zum metaphorischen Vergleich der Gedanken mit der unpassenden Kleidung führt:

340 Ebd., S. 10.

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Laßt mich in Ruhe. Fruchtloses Grübeln – wie hieß das doch deutsch? Grübelsucht. Weshalb bin ich verpflichtet, über Ideen, Menschen, Geschehnisse nachzudenken, die mich nicht interessieren, weshalb? Ich fühle mich immerzu in fremder Kleidung: mal ist sie mir zu weit, sie gleitet mir von den Schultern, bald ist sie eng, sie behindert Wachstum. […] die Unzufriedenheit mit sich selbst verwandelte sich in ein Gefühl der Feindschaft gegen sich und noch gegen jemand anderen, der ihn wie eine Schachfigur von einem Feld zu dem anderen schob. (KS/B2/551-552) Der Widerstand Samgins richtet sich gegen die Verpflichtung, über »Ideen, Menschen, Geschehnisse« nachzudenken, die Samgin mit dem deutschen Wort »Grübelsucht« benennt. Die fehlende Identifikation und das Gefühl der Entfremdung werden in der oben zitierten Passage durch den metaphorischen Vergleich der Gedanken mit der »fremden Kleidung« zum Ausdruck gebracht, die den Protagonisten mal beengt, mal von seinen Schultern rutscht. Samgin zeichnet sich durch das beinahe krankhafte Bemühen um die Unabhängigkeit seines Denkens aus, doch möchte er – durchaus im ironischen Sinn – nicht im Handeln, sondern im Denken unabhängig bleiben. Die Ironie des Autors ist dabei äußerst ambivalent und wurde oft negativ als Hinweis auf den Individualismus des Protagonisten bezogen. Hingegen hat Jürgen Rühle diese Fähigkeit Samgins, eine reflexive Distanz zu fremden Ideen aufzubauen, weitgehend positiv gewertet: Durch viele unauffällige Details lässt Gorki seinen Helden unsympathisch erscheinen. Das Bild ändert sich jedoch im Laufe der Handlung. Samgin wird mit zahllosen Personen konfrontiert, mit Menschen, die ihm an Charakterstärke, Begabung, Schönheit oft überlegen sind, trotzdem gelingt es ihm in jedem Fall, über kurz oder lang auch bei ihnen ein Phrasensystem zu entlarven. Dadurch gerät er, auch in den Augen des Lesers, in eine Position der Stärke.341 Also bietet die Figur Samgins vielleicht – anders als in der sowjetischen Forschung angenommen wurde – doch mehr als eine Karikatur eines mittelmäßigen Intellektuellen. Laut Helene Imendörffer liegt insbesondere in der umfassenden Darstellung des Bewusstseins eine wichtige Voraussetzung für eine positive Identifikation des Lesers mit Samgin: Die Identifikation, die zur Bewußtseinsdarstellung und zur ausführlichen Darstellung […] nötig ist, bringt es mit sich, daß Samgin dem Leser streckenweise durchaus sympathisch zu erscheinen vermag. Dies ist wohl besonders im dritten Buch des Romans der Fall.342 In seiner Ambiguität bietet Samgin eine experimentelle Figur, welche die Möglichkeit und die Grenzen des unabhängigen Denkens testet und in Frage stellt. Muss der Romanprotagonist laut Bachtin einer Prüfung unterzogen werden, so wird Samgin laut Ljudmila Spiridonova von Gorʹkij »durch die Prüfung des Volkstümlertums, des Mar-

341 Rühle: Literatur und Revolution, S. 42. 342 Imendörffer: »Klim Samgin«, S. 944.

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xismus, des Struvismus, des Vechovtums, des Nihilismus« geführt.343 Diese Prüfung des Protagonisten durch eine ganze Reihe von intellektuellen Trends führt im Roman nicht zur Endeckung eines passenden Phrasensystems und nicht zur Konstruktion seines eigenen. Stattdessen wächst die Unzufriedenheit Samgins mit sich selbst; dadurch wird die Kluft zwischen dem Protagonisten und der ideologischen Realität umspielt. Der Protagonist kann mit seinem Umfeld nie vollständig harmonieren und empfindet das »Gefühl der Feindschaft gegen sich und noch gegen jemand anderen«, welches wiederholt thematisiert wird und auf die Bruchzone der Erfahrung zwischen der Zeit des Protagonisten und der ihn umgebenden kulturellen Realität hin deutet. Plagiator Alena Markovič wies in ihrer jüngsten Untersuchung auf den existentiellen Status des Wortes und der Kommunikation für Samgin hin: […] für den Protagonisten stellt das Wort das Synonym der Tat dar, und die Kommunikation bekommt nicht bloß den Status eines Ereignisses, sondern wird zum wichtigsten Ereignis des Lebens, zur Form und zum Sinn des Seins.344 Doch bei aller Wichtigkeit einer solchen Selbstbehauptung bleibt es Samgin verwehrt, ein »eigenes Wort zu finden« und zum »Mitglied der Kommunikation« zu werden.345 Markovič verweist zu Recht auf zahlreiche Stellen im Roman hin, bei denen andere Figuren von Samgin beneidet werden, da sie einen Gedanken treffend in Worte fassen.346 Der Protagonist fragt sich bisweilen bestürzt, ob er dumm oder unbegabt sei,347 doch hat diese Unfähigkeit Samgins zum eigenständigen Denken im Roman ihre Logik, denn Ideen sind im Roman schon immer fremdes Gedankengut und werden durch die Perspektive mehrerer Figuren gebrochen. Andrej Sinjavskij erkannte in dieser Eigenschaft des Romans die Abwandlung des für den russischen Roman traditionellen Doppelgängertums.348 Anstatt von Figuren werden im Roman Gedanken verdoppelt und gespiegelt, da sie keine individuelle Leistung, sondern das Ergebnis kollektiver Denkarbeit darstellen. Dadurch lässt sich das Dilemma rund um die moralische Bewertung Samgins als die Frage umformulieren, ob man als denkender Mensch schon immer dazu prädestiniert ist, unter die Wirkung von fremden Ideen zu fallen und in ihrem Geist aktiv zu handeln, oder man für sich individuelle Handlungsfreiheit beanspruchen kann, die jedoch gleichzeitig Unproduktivität, Einsamkeit und moralischen Niedergang bedeutet. Es ist interessant, dass dieses Dilemma Samgin mit dem Bolschewiken Kutusow verbindet. So empfindet Samgin nach einem Verhör durch einen Oberst der Geheimpolizei, bei dem er den ideologischen Wortmanipulationen konservativer Richtung ausgesetzt wird, das Bedürfnis, mit Kutusow über das Verhör zu sprechen, befürchtet aber 343 Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 129. Vgl. außerdem Spiridonovas ausführliche Analyse der Parallelen zwischen der Figur Samgins und dem Kreis der Zeitschrift »Vechi«, ebd., S. 136ff. 344 Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 36. 345 Ebd., S. 210. 346 Ebd., S. 71. 347 Vgl. »Im Grunde bin ich doch unbegabt« (KS/B1/295); »Ich bin doch nicht dumm?« (KS/B1/297, 413) 348 Синявский: О художественной структуре, S. 133.

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gleichzeitig, dass diese Gelegenheit von Letzterem ausgenutzt werden kann, um ihn auf seine Seite zu ziehen: Das Leben ist eine ununterbrochene Vergewaltigung des Menschen, dachte Samgin […]. Der einzige Mensch, dem ich davon erzählen könnte, ist Kutusow. Aber er wird mich auf die andere Seite drängen… (KS/B2/701) Es mag überraschen, dass Samgin den ihm sonst antipathischen Kutusow bei dieser Gelegenheit als einzige Person seines Vertrauens sieht, die ihn verstehen könnte. Die »ununterbrochene Vergewaltigung des Menschen« bezieht sich auf die Existenz innerhalb der geistigen und kulturellen Realität, der Welt der Ideen und Gedanken, die von Gespräch zu Gespräch weitergetragen und vermehrt werden. In diesem Kontext kann Kutusow Samgin insoweit verstehen, als er – wie bereits besprochen wurde – dieser Realität stets im Modus des »einfachen«, »bäuerlichen« und »volkstümlichen« Redens entgegentritt. Im Gegensatz zu ihm wählt Samgin die Strategie der Manipulation fremder Ideen und Aphorismen, doch teilen beide Figuren die Ebene des Meta-Diskurses über die romaninterne Wirklichkeit als ebenbürtige Gesprächspartner und konkurrieren um die Bedeutsamkeit im Kontext der kollektiven Zeit. Ähnliche Züge trägt auch der Konflikt zwischen dem Protagonisten der Parallelaktion Paul Arnheim und Ulrich im »Mann ohne Eigenschaften«, bei dem sich beide Figuren auf dem Feld der symbolischen Produktion betätigen und sich besonders nah stehen, da sie zwei konkurrierende Sprech- und Denktaktiken darstellen. Arnheims dilettantischem Zusammenfügen dieser Realität zu einem »Geheimnis des Ganzen« stellt Ulrich höchste Präzision und Versuche einer Korrektur an der kollektiven Denkpraxis entgegen. Gorʹkij macht in seinem Roman ähnliche Beobachtungen des Denkens als eines Phänomens, dessen Produkte – Gedanken und Ideen – schon immer kollektiver Natur sind und sich aus unterschiedlichen Denkrichtungen und -traditionen ableiten lassen. Dieses fast postmoderne Lebensgefühl hat für den Protagonisten des »Klim Samgin« weitaus pessimistischere Konsequenzen: Samgin, der die Unabhängigkeit gegenüber allen Denksystemen anstrebt, bleibt somit keine Möglichkeit der produktiven Entfaltung eigener Gedanken, sondern lediglich die Funktion der Kritik des fremden Gedankenguts übrig, welches ihm als besondere Bedrängnis erscheint. Angesichts dieser Bedrohung erscheint Gorʹkijs Protagonist machtlos; L.F. Kiseleva hob den Kontrast zwischen der scheinbar uneingeschränkten Macht des Protagonisten, dessen Bewusstsein alle Ereignisse des Romans akkumuliert, und seiner absoluten Machtlosigkeit, den Ablauf der Erzählung zu beeinflussen, hervor. Laut Kiseleva verweigert der Romanautor seinem Protagonisten bewusst eine Einflussnahme;349 anders als der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften«, der Ulrich auf seinen Gedankenexperimenten begleitet, wird Samgin vom Erzähler wiederholt vor die gleiche Wahl gestellt, wobei der Protagonisten immer wieder aufs Neue verweigert, sich einer Denkrichtung anzuschließen, und dadurch keine Gedanken produktiv entwickeln kann. Der Eindruck, dass es in den Begriffen des »Klim Samgin« für die Entfaltung des kreativen Potenzials erforderlich ist, sich mit einer gesellschaftlichen Tendenz oder ei349 Киселева: Внутренняя организация, S. 111.

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ner politischen Partei zu solidarisieren, ist auch nach der politischen Wende in der Gorʹkij-Forschung gegenwärtig, man lese u.a. bei Markovič: »Die Zeit, in der Samgin lebte, diktierte seine Bedingungen, wobei ein Mensch für eine erfolgreiche Sozialisierung zum Träger einer Idee, eines Gedankens werden musste«.350 Die »aggressive« »Atmosphäre des Gedankens« in »Klim Samgin« wurde auch von S.I. Suchich problematisiert, der insbesondere darauf verwies, dass sie »den Menschen unterdrückt, unterwirft, so dass es komfortabler erscheint, der freiwillige ›Gefangene‹ eines Gedanken zu sein, als der ›Gewalt der Ideen‹ zu widerstehen.«351 Auch M.S. Agurskij betonte, dass Gorʹkijs Vorstellung der gemeinschaftlichen Noosphäre (der Begriff von V.I. Vernadskij) »keinen Platz für Persönlichkeit« bietet.352 Angesichts dieser Beobachtungen lässt sich Gorʹkijs Roman als ein Universum begreifen, in dem unabhängige Denkpraxis unmöglich ist. Wenn das Schreiben also für Samgin laut Helene Imendörffer »in besonders starkem Maße eine Form der möglichen Bewältigung von Wirklichkeit« bietet,353 nimmt es unter den gegebenen Umständen die Form des schriftstellerischen Plagiats an. Als Plagiator erweist sich Samgin bereits bei seinen ersten journalistischen Versuchen in der Zeitung »Novyj kraj«. Sein Aufsatz enthält einige Formulierungen des Schriftstellers Inokows, die »an zwei bis drei Stellen« »fast buchstäblich wiedergegeben waren«, wobei sich Samgin selbst bestürzt fragt: »Wie habe ich das zulassen können?« (KS/B2/527) Obwohl Samgins Plagiat von keinem – einschließlich Inokow selbst – bemerkt wird, ist es Samgin selbst mehr als bewusst und verdirbt ihm die Freude an den Glückwünschen »zum Beginn der schriftstellerischen Laufbahn« (KS/b2/527). Er kopiert in seinen Gesprächsbeiträgen die Thesen oder den Ton anderer Figuren (zum Beispiel Warawkas, Kutusows usw.), erweist sich in der Schreibpraxis als Plagiator und ist sogar in seinen privaten Aufzeichnungen darauf angewiesen, einen fremden Stil zu imitieren (»er hatte Robinsons anspruchslose Witzigkeit übernommen…« KS/B2/587). Wenn Samgin die Frage nach seinem Platz im Leben stellt, erwägt er als erstes die Möglichkeit zu schreiben, verwirft sie aber, da sich ihm lediglich zwei Optionen – die politische Propaganda oder der Stil der Décadance – anbieten: Doch – wo ist mein Platz in dieser Phantastik? Ich sollte mich in irgendein Provinznest verkriechen, einsam leben, zu schreiben versuchen… Er fühlte, daß das ebenso nichts für ihn war wie die Rolle eines Propagandisten untern Arbeitern oder die eines der Freunde seiner Frau, der Schreihälse über Kosmos und Eros, über Gott und Tod. Er hatte eine organische Abneigung gegen diese Menschen schöner Worte, die offenbar ernsthaft glaubten, nicht nur Europäer, sondern auch Pariser zu sein. […] Sie erregten ihn dadurch, daß sie wagten, über soziale Fragen geringschätzig zu spotten; sie waren offensichtlich auf irgendeine Weise dem Chaos jener Ideen entronnen oder entwachsen, an die er zwangsläufig denken mußte und die ihn quälten und beim Leben störten. Es vor sich selbst verbergend, sah er ein, daß diese Menschen sehr ge-

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Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 89. Сухих: Заблуждение и прозрение, S. 165. Агурский: Великий еретик, S. 62. Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 115.

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bildet waren und daß er im Vergleich zu ihnen ein Unwissender war. Letzten Endes sprachen sie von Dingen, an die zu denken er kein Bedürfnis hatte. (KS/B2/878) Samgins Gedanken laufen auf zwei Alternativen hinaus: politische Propaganda oder die Dichtung der Décadance mit ihrem Interesse an metaphysischen Fragestellungen. Beide Optionen werden, wie oben bereits besprochen wurde, am Ursprung des Romansujets in der St. Petersburger Episode gegeneinander abgewogen und in der zitierten Passage erneut aufgerufen. Doch findet Samgin weder »die Rolle eines Propagandisten unter Arbeitern« noch die »der Schreihälse über Kosmos und Eros, über Gott und Tod« verlockend. Besonders die Letzteren schlägt er aus dem Grunde aus, weil sie »über soziale Fragen geringschätzig spotten« und so »dem Chaos jener Ideen« entrinnen, »an die er zwangsläufig denken musste und die ihn quälten und beim Leben störten«. Wenn Samgin sich also tatsächlich »in irgendein Provinznest verkriechen, einsam leben, zu schreiben versuchen« sollte, so würden ihn in erster Linie nicht das Spiel mit »schönen Worten«, für das er zu unwissend sei, und nicht die Propaganda, sondern »soziale Fragen« beschäftigen, die ihn als »Chaos der Ideen« am Leben hindern. Wenn die Figur Samgins überhaupt einen Ansatz zum Vergleich mit Gorʹkijs Persönlichkeit bietet, so sind es solche Stellen, an welchen der Protagonist das Schreiben als Möglichkeit für sich erwägt. Sie liefern einen interessanten Befund über das Selbstverständnis eines Erzählers, der den Dienst an der Propaganda für sich ausschlägt, sich aber angesichts »sozialer Fragen« nicht dem Spiel mit menschlichen Universalien widmen kann. Als Letztes bleibt eine solche Auslegung der »sozialen Fragen«, bei der sie als »Chaos der Ideen« interpretiert werden, also eine kulturkritische Richtung, die Gorʹkij mit seinem letzten Romans einschlägt. Der Weg des Protagonisten in dieser Realität kann dabei insoweit als »Niedergang und Degradation«354 verstanden werden, als der zu keiner kreativen Tätigkeit geeignete Samgin einen Hang zur »Vereinfachung« entwickelt und sich davon die Lösung der quälenden Fragen verspricht. Das macht sich insbesondere am Ende des zweiten Bandes bemerkbar, als die Frage nach der Motivation der Menschen durch Ideen ins Leere läuft und von der Erkenntnis abgelöst ist, dass in der Gesellschaft ein unverbrauchtes Potenzial an Phantasie reift, welches der künftigen Revolution als Brennstoff dienen wird. Sah der Protagonist am Anfang des Romans in Kutusows »Vereinfachung« einen Versuch, das Leben zu »verunstalten« (KS/B1/218), so entwickelt er am Ende des zweiten Buchs die Hoffnung auf eine Reduktion der geistigen Komplexität in der Revolution. So beantwortet er die Frage von Ljubascha Somowa ohne Nachdenken und belegt seine Antwort mit wohlüberlegten Beispielen: »Der Klassenstandpunkt streicht völlig die Humanität, nicht wahr?« »Ganz richtig […], Humanität und Kampf sind einander ausschließende Begriffe. Eine vollkommen richtige Vorstellung von Klassenkampf hatten nur Rasin und Pugatschow, die Schöpfer des »erbarmungs- und schonungslosen russischen Aufruhrs«. Unter unseren Intellektuellen begriff allein Netschajew, was die Revolution vom Menschen verlangt«. (KS/B2/648)

354 Синявский: О художественной структуре, S. 137.

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Samgin erwähnt u.a. den Namen des russischen Terroristen, des Begründers der terroristischen Partei »Narodnaja Rasprava« Sergej Nečaev als Beispiel eines Intellektuellen, welcher die Revolution vor jegliche Fragen der Moral stellte. Er verbindet mit der Revolution zunehmend die Hoffnung auf die Läuterung des kulturellen Klimas und projiziert diese Hoffnung am Ende des zweiten Bandes, kurz vor dem Ausbruch der Ereignisse der ersten russischen Revolution in die Figur Kutusows: »Wir brauchen solche Menschen wie Kutusow – Menschen, die in einer Idee stecken, meinetwegen durch sie sogar etwas häßlich beschränkt, durch ihren Glauben verblendet sind…« »Wozu das?« fragte Tatjana und sah ihn mißtrauisch an. »Um uns zu befreien von allen möglichen überflüssigen Menschen, von den Liebhabern einer Romantik bloßer Worte, von unserer Neigung zu allerhand Ketzereien und Moden, von der geistigen Zügellosigkeit…« (KS/B2/844) Kutusows Projekt der kulturellen Erneuerung durch einen absoluten Neuanfang bringt Samgin die Hoffnung, sich der »überflüssigen Menschen« zu entledigen. Die kulturelle Wende, die mit der Revolution eintreten soll, beschreibt Samgin als eine Abwendung von der »Romantik bloßer Worte« und »allerhand Ketzereien und Moden«, »geistiger Zügellosigkeit«. Er jubelt der kommenden Revolution entgegen, da sie das Versprechen enthält, die bestehende kulturelle Wirklichkeit abzuschaffen. Ljubov Sumatochina wies darauf hin, dass Samgins Bestreben, das Leben zu vereinfachen, in einem Gegensatz zur Strategie des Romanautors steht: »Er zeigt das Leben als komplexes und widersprüchliches Chaos. Es kann weder durch eine Ideologie noch durch eine künstlerische Konzeption der Zeit erklärt werden, die im Roman präsentiert werden.«355 Wenn Samgin die Reduktion der geistigen Komplexität als den letzten Ausweg für sich sieht, läuft Gorʹkijs Roman in seiner Fülle einem solchen Bestreben diametral entgegen. Als eine gigantische, über mehr als zweitausend Seiten inszenierte Erinnerung akkumuliert Gorʹkijs Roman zahlreiche Beobachtungen von Ideen, Ideologien, Denkmustern, geistigen Trends, kommunikativen Strategien und menschlichen Typen und schützt diesen Vorrat vor dem Vergessen. Den aus Samgins Augen »überflüssigen Menschen« und der chaotischen Realität gilt bei aller Kritik die Sympathie des Autors, was man alleine daran erkennen kann, dass Gorʹkij diesem Erzählstoff die letzten Jahre seines Lebens und Schaffens widmet. Der Schriftsteller, der sich ähnlich wie Samgin über die Ausmaße der dargestellten Realität beklagt, die ihren Verfasser zu verschlucken droht,356 weist in der Figur Samgins auf einen feinen Unterschied zwischen seiner eigenen Erzählweise, die sich fremder Worte, Ideen und Positionen bedient, und dem Plagiat hin. Zum einen weist er die Herkunft dieser Ideen im Roman durch eine Zuordnung zu den Figuren aus; zum anderen deutet er durch Kritik an Samgin auf die Notwendigkeit einer kreativen

355 Суматохина: Мотив »упрощения жизни«, S. 64. 356 Vgl. Briefzitat: »›Samgin‹ verzehrt mich. Niemals habe ich so tief meine Verantwortung vor der Wirklichkeit empfunden, die ich darzustellen versuche. Ihr Umfang und Chaos sind so, dass mir manchmal scheint: ich werde verrückt.« (TIP/69-70)

4. Narration

Leistung hin, welche bei all ihrer Komplexität die einzige Möglichkeit der Orientierung bietet, die nicht auf die katastrophale Vereinfachung hinausläuft. »Ein Moment aus seinem Leben war verschwunden«357 – Massenunglücksszenen in der Wahrnehmung Samgins Samgin, der über keine kreativen Ressourcen für die Verarbeitung der romaninternen Realität verfügt, registriert besonders empfindlich das Auftreten von Massenunglücken, die im Roman eine in sich geschlossene Serie von Ereignissen bilden. In Musils Roman findet sich lediglich eine ähnliche Szene: Ulrichs Erinnerung an die Rennbahn-Episode, in der die aufgebrachte Menge die Kassen plündert. In »Klim Samgin« tauchen Szenen mit Massenunglücken, die nur im Fall des Chodynka-Unglücks auf belegbare Ereignisse zurückgehen, meistens aber frei erfunden sind, mitten in der Diskussion rund um die Idee und Motivierung der russischen Revolution auf. Als erste in dieser Reihe kann man die Szene des Hochziehens einer Glocke bezeichnen, bei dem plötzlich eins der Seile reißt, sich um den Hals eines der Ziehenden wickelt und ihm den Hals bricht. Dieser Unfall ruiniert den Sinn des feierlichen Rituals, der – wie Samgin von Anfang an merkt – merkwürdig-traurig anmutet. Statt eines »heidnischen Jubels, wilden Geschreis« oder »etwas Komischem«, was laut Samgin am Platz wäre, breitet sich in der Menschenmenge »feierliche Stille« aus, in der man das Pfeifen des reißenden Seils deutlich hören kann. Nach dem Vorfall kann nicht geklärt werden, wem die Schuld an dem Unfall zuzuschreiben ist, seine Bedeutung bleibt unbestimmt. Er lässt sich als eine dunkle Prophezeiung verstehen, die keiner der Anwesenden interpretieren kann. Ähnlich ratlos sind die Figuren des Romans während des Chodynka-Unglücks. Die Verteilung von Naschereien und Geschenken an die Moskauer Bevölkerung anlässlich der Krönung des Zaren Nikolaus II. endete in einer Massenpanik, bei der mehrere Hundert Menschen gestorben sind und verletzt wurden. Dieses Ereignis der politischen Geschichte findet Eingang in Gorʹkijs Roman, wird aber aus der Distanz, vor allem als postume Berichte mehrerer Zeugen dargestellt. Wie Helene Imedörffer bemerkte, ist Samgin »nicht nur nicht Augenzeuge der Ereignisse auf dem Chodynkafeld, er wird sogar als Beobachter aus der Ferne – wenn auch nur für die Dauer der wiederum auffallend kurzen Repliken – zurückgedrängt.«358 Diese Perspektive wählt Gorʹkij, wie E.N. Pozdnin nachgewiesen hat, auch in seinen Publikationen unmittelbar nach dem Ereignis.359 Im Roman laufen Berichte zahlreicher Figuren auf das Konstatieren der Unbegreiflichkeit des traumatischen Ereignisses hinaus, an dem gleichzeitig »alle schuld« sind und keiner. Bei all ihrer Gesprächigkeit, die man fast als Welterklärungswut bezeichnen könnte, scheitert die Schicksalsgemeinschaft der russischen Intellektuellen im Roman daran, eine hinreichende Orientierung in solchen Szenen des Massenunglücks zu gewinnen.

357 KS/B1/340. 358 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 141. 359 Позднин, Е.Н.: »К истории создания сцены Ходынской катастрофы в романе-эпопее М. Горького ›Жизнь Клима Самгина‹«, in: Кузьмичев, И. К. (Hg.), Горьковские чтения – 88. Материал конференции »М. Горький-художник и современность«, Горький: Изд.-во ГГУ 1988, S. 107-113, hier S. 12.

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In ihrer traumatischen Natur verschließen sie sich der Deutung; sie haben keine Konsequenzen für den Verlauf der Handlung und reißen Löcher in die Romanerzählung. Wie Helene Imendörffer in ihrer Untersuchung der perspektivischen Struktur des Romans feststellte, setzt auf solchen »Handlungshöhepunkten […] Samgins Wahrnehmungsvermögen häufig aus«.360 Imendörffer interpretierte es als Zeichen einer »Überforderung von Bewußtsein durch Wirklichkeit«,361 dem hierbei »Wahrnehmungsformeln [fehlen]«362 . So klafft im Mittelpunkt der Episode des Hochziehens einer Glocke ein Bruch in Bewusstsein Samgins, bei dem »ein Moment aus dem Leben« des Protagonisten buchstäblich verschwindet, »ohne das Bewußtsein beschwert zu haben« (KS/B1/340). Im Gegensatz dazu sehe ich solche Lakunen und Brüche in der Wahrnehmung des Protagonisten nicht als Symptom des Zurückweichens angesichts der traumatischen Realität, sondern als Zeichen einer starken Gebundenheit solcher Szenen an das Bewusstsein Samgins an. Die erschwerte, verhinderte, verschwimmende Wahrnehmung solcher Szenen weist sie ausdrücklich als eine durch die Perspektive des Protagonisten gebrochene aus. Zusätzlich spricht für diese Interpretation die Tatsache, dass Samgin solche Unglücksszenen bereits ablaufen sieht, bevor sie überhaupt passieren. Als Beispiel kann der Einsturz eines Kasernenbaus dienen, den Samgin zusammen mit dem jungen Schriftsteller Inokow erlebt. Am Anfang der Szene steht die in Sonne getauchte Landschaft, die der Protagonist zusammen mit Inokow beschreitet. Trotz dieses ruhigen Landschaftsbildes scheint Samgin das Unglück zu ahnen und wird wenige Sekunden vor dem Einsturz der Mauer von einer Vision heimgesucht: Dieser tiefe Erdspalt und das riesengroße Bauwerk daneben, ein Bauwerk, das von kleinen Menschlein errichtet wurde, hatten etwas Unvereinbares; Samgin dachte daran, daß man viele Tausende solcher kleinen bunten Gestalten benötigen würde, um die Schlucht bis zum Rand zu füllen. (KS/B2/555) In Samgins Phantasie füllt sich der »tiefe Erdspalt« mit Körpern, und wenige Zeilen später beginnt eine detaillierte Beschreibung des Einsturzes, des Falls der Menschenfiguren, der Verstümmelungen. Beim erhöhten Tempo der Erzählung gleitet die Vision des Protagonisten fließend in die Szene über und wird von der ausführlichen Schilderung des tatsächlichen Unglücks verdrängt; umso frappierender ist die Korrelation zwischen dem Phantasma des Protagonisten und der fiktiven Wirklichkeit des Romans, wenn man genau hin sieht. Das imaginierte Bild fängt an, sich in der fiktiven Wirklichkeit des Romans zu realisieren. Dabei gelangt die Darstellung des Bewusstseins von Samgin in dieser Szene zu seiner größten Ausdruckskraft: Die Wahrnehmung des Unglücks aus der Perspektive des Protagonisten ist brüchig, weist Widersprüche auf und wird als solches ausgewiesen und problematisiert: Ein paar Sekunden begriff Klim nicht, was er sah. Ihm schien, der blaue Fleck des Himmels habe, in sich erhebend, der Mauer einen Stoß versetzt und beginne, sich

360 Imendörffer: Die perspektivische Struktur, S. 65. 361 Ebd., S. 66. 362 Ebd., S. 127.

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über ihr vergrößernd, auf sie zu drücken, sie umzuwerfen. […] Daß die Mauer zusammenbrach, begriff Samgin erst, als die Mauerer von ihr weg in das herabrutschende Chaos aus Stangen und Brettern hinabzuspringen begannen […] Samgin fing an zu laufen, er spürte, daß der Erdboden unter ihm einen Sprung machte und zugleich das einstürzende Gebäude rasch an ihn herantrug. (KS/B2/555) Die Wahrnehmung des Protagonisten wird in der Passage durch Hinweise (»ein Paar Sekunden begriff Klim nicht…«, »…begriff Samgin erst…«) und durch die detaillierte Beschreibung einzelner Sinneseindrücke simuliert. Das Wirklichkeitsbild erscheint somit destabilisiert, brüchig, gebunden an die Wahrnehmung des Protagonisten, der mitten im Geschehen steht. Dabei wird das Motiv der sich krümmenden Körper, die Samgin in seiner Vision sieht, an dieser Stelle plastisch und akustisch variiert: Es war nicht zu glauben, daß Menschen so schnell, in so unnatürlich verrenkten Stellungen durch die Luft fliegen und mit einem derart lauten Aufschlag niederfallen konnten, und daß Klim ihn trotz des Krachens, Knarrens und vielstimmigen Schreckgeschreis hörte. (KS/B2/556) Die Körper in unnatürlichen, »verrenkten Stellungen« sowie die verstümmelten oder toten Körper dominieren das Bewußtsein Samgins auch im weiteren Verlauf der Szene. Durch das Geräusch des Aufprallens von Körpern, das für Samgin alle anderen Geräusche übertönt, wird die Szene akustisch begleitet. Die Einschränkung von Samgins Perspektive wird des Weiteren durch eine markante Störung in seiner Raumwahrnehmung hervorgehoben, als Samgin an die Unglücksstelle heranläuft, obwohl er denkt, in die entgegengesetzte Richtung gelaufen zu sein. Es ist auffällig, dass Samgin sich gerade an der Figur des Schriftsteller Inokow orientiert. Inokow begleitet den Protagonisten nicht nur, sondern setzt durch seine Kommentare wichtige Akzente bei der Beurteilung des Geschehenen. Dabei geht es Inokow nicht vordergründig um die Kritik an den Arbeitsbedingungen oder der Bauweise, obwohl dies in der Szene des Einsturzes von betroffenen Arbeitern problematisiert wird, sondern um die Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung. Ihr problematischer Charakter wird von Inokow im Nachklang der Szene angesprochen: »So ein Blödsinn«, murmelte Inokow nachdenklich […]. »Ihnen kommt es vor, als seien Sie sonstwohin gelaufen, mir aber flimmert ein Holzspänchen vor den Augen, solch ein graues Spänchen – als sei es abgeschossen worden, sie stöhnen, schreien, und ins Gedächtnis ist ein Spänchen eingedrungen. Diese Sächelchen… solche Spänchen… weiß der Teufel, was das ist.« […] »Spänchen, Splitter… Irgend so ein Staub in der Seele« (KS/B1/559) Die Wahrnehmung des Unglücks erscheint problematisch, da komische Details wie die falsche Wahl der Laufrichtung oder »ein graues Spänchen« von der kollektiven Tragödie ablenken und anfangen, die Wahrnehmung zu dominieren. Diese Details, die sich in das Bewusstsein einprägen, werden von Inokow als »Blödsinn« bezeichnet. »Weiß der Teufel, was das ist« – mit dieser Bemerkung wird die Unsicherheit, aber auch große Aufmerksamkeit markiert, die Inokow diesem Wahrnehmungsphänomen schenkt. Dieses Zitat kann als Kommentar zur narrativen Gestaltung der Szene gelesen wer-

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den, bei der die Illusion der fiktiven Wirklichkeit durch den selektierenden Einsatz von einprägsamen Details erzeugt wird. Die Metareflexion wird in der Szene dem Schriftsteller Inokow in den Mund gelegt und wird zusätzlich durch seinen letzten Satz »Spänchen, Splitter… Irgend so ein Staub in der Seele« hervorgehoben, in dem das Motiv des Staubs, das im Roman als textinterner Marker des geschriebenen und gesprochenen Wortes fungiert, auftaucht.363 Das Vorwissen Samgins über die Katastrophe, die enge Fokalisierung durch den Protagonisten, die ausdrückliche Problematisierung seiner zeitlichen, räumlichen und akustischen Wahrnehmung verdichten sich in Inokows Kommentar zur Frage nach dem illusorischen Charakter der Wahrnehmung und ihrer Nachbildung im Erzähltext. Das Bewusstsein des Protagonisten liefert das Bild der Realität und wird gleichzeitig als Vermittlungsmedium problematisiert. Wenige Seiten darauf wird diese Metareflexion in einer weiteren Gesprächsszene zwischen Samgin und Inokow fortgeführt. Während des Gesprächs verbindet Inokow seine Gedanken über die Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung mit der Kritik der menschlichen Moral. Dabei wird das Motiv der entstellten Körper in der Szene erneut aufgenommen, da Inokow ein bronzenes PressPapier – die Statuette einer Frau – verstümmelt, indem er ihr ein Bein abbricht: »Die Wirklichkeit ist eine abscheuliche Sache«, seufzte er, während er das Bein an den Bauch zu biegen versuchte und es schließlich abbrach. »Die Menschen prallen vor ihr zurück – merken Sie das? Sie schnellen zur Seite.« Er sah Klim an, klopfte mit dem Bronzebeinchen auf den Marmor und sagte: »Wie die Arbeiter herunterfielen, wie? Die Wirklichkeit, zum Teufel noch mal… Ich habe, wissen Sie, so eine… höchst helle Leere im Kopf, und in der Leere flimmern Ziegel und kleine Gestalten… Kindergestalten.« (KS/B2/573) Das Gespräch über Philosophie und Literatur wird von Inokow durch eine Bemerkung über den »abscheulichen« Charakter der Wirklichkeit in den Bereich der moralischen Beurteilung der menschlichen Taten – »die Menschen prallen vor [der Wirklichkeit] zurück« – gelenkt. Die Bewegung des Zurückprallens oder das »Schnellen zur Seite« dienen dabei der metaphorischen Charakterisierung der Flucht vor der Realität, die als »abscheuliche Sache« einen traumatischen Charakter hat. Das kollektive Unglück – »die Wirklichkeit, zum Teufel noch mal« – verursacht eine »höchst helle Leere im Kopf«, um die herum Details wie »Ziegel und kleine Gestalten« sowie Worte in der Gestalt von Spänchen, Splittern und Staub flimmern und doch nicht an ihr Wesen heran kommen. In diesen Worten Inokows erkennt Samgin »nichts Erdichtetes, sogar etwas seinen Gedanken verwandtes« (KS/B2/573). Das Massenunglück erweist sich als eine alternative Wirklichkeit, zu welcher man nur dann gelangt, wenn Worte aussetzen. Das Bewusstsein dafür, dass diese Realität in jedem Augenblick zum Ausbruch gelangen kann, begleitet den Protagonisten obsessiv, der traumatische Ereignisse oft bereits vor dem unmittelbaren Ausbruch vor seinem inneren Auge sehen kann. So imaginiert Samgin im ersten Buch unmittelbar vor dem Masenunglück auf dem Chodynka-Feld den »Andrang der dunklen Menschenströme«, lange bevor die Menschen auf dem Chodynka-Feld beginnen, sich gegenseitig zu erdrücken. (KS/B1/426) Am Ende 363 Vgl. Kapitel 4. 2. 4. »Geh durch den Staub« der vorliegenden Arbeit.

4. Narration

des zweiten Bandes verdichten sich solche Visionen: In einem Alptraum erlebt Samgin Vorausdeutungen auf die traumatischen Ereignisse des »blutigen Sonntags« und wird in der Folge nachts von den Visionen der Bauernaufstände geplagt, die sich über das brennende Land ergießen. Wenn die betroffene Gesellschaft im Roman daran versagt, diesen Ereignissen postum einen Sinn zu geben, werden sie von Samgin geahnt, noch bevor sie sich ereignen, und in Form von Bildern imaginiert. In seiner Habilitationsschrift über »Klim Samgin« wies V.S. Voronin darauf hin, dass solche Visionen Samgins »die Geschichte voraussagen«: In der zoologischen Erfülltheit von Klim liegt seine Verwandtschaft mit der gesamten Menschheit über die Bewegung der niederen Form der Materie begründet; sie lässt ihn die künftigen, beinahe zoologischen Blutbäder der Menschen vorausahnen.364 Obwohl Voronins Hinweise auf die »zoologische Erfülltheit« von Samgin und »die Bewegung der niederen Form der Materie« eher kryptisch anmuten, bietet die These, dass diese Szenen auf den Ausbruch der Revolution und des Bürgerkrieges in Russland verweisen, eine naheliegende Erklärung. Im Gegenteil dazu hat eine friedliche und opferlose kollektive Szene im Roman fast immer den Charakter einer unglaubwürdigen Inszenierung. Als Beispiel hierfür könnte man die Episode der Ausstellung in Nižnij Novgorod nennen, deren feierliche Präsentation von Produktionen und Erfindungen aus dem ganzen Lande vom Schriftsteller Inokow an mehreren Stellen desillusionierend als Trug und Schein disqualifiziert wird. So stellen die Erfindungen russischer Meister schlechte Holzkopien westlicher Apparate wie Klavier oder Fahrrad dar, die Produktionswege der präsentierten Stoffe sind absurd, auch Bilder des russischen Malers Michail Vrubel stellen Sujets der russischen Folklore auf französische Art dar. Die Realität der Ausstellungspavillons ist eine Inszenierung: Die den Zaren begrüßende Volksmenge besteht aus sorgfältig selektierten, vertrauenswürdigen Bürgern; die auf russisch-mittelalterliche Manier verkleideten, hochwüchsigen Soldaten nennen auf die Frage des Zaren hin deutsche Namen. Die Auskostung solcher Momente zieht das Ereignis in ein satirisches Licht, macht es aber intelligibel und besonders stimmig im Kontext der romaninternen Wirklichkeit, in der Ideen, Inszenierungen, Projektionen und Wunschbilder seltsam real sind, wohingegen die traumatischen, opferreichen Massenereignisse am Nullpunkt der Erzählung liegen. Ostergebet und religiöse Ekstase als Modell der Kollektivität Eine Ausnahme davon bietet die Szene des Ostergebets im Kreml: Zwar fängt sie ebenfalls mit Samgins Vision des kollektiven Unglücks an, doch wird diese Vorahnung nicht eingelöst. Nach dem kollektiven Jubel, bei dem auch Samgin in gehobene Stimmung verfällt, wird sich Samgin seiner Lebenskrise bewusst. Zum Abschluss des vorliegenden Kapitels gehe ich auf diese wichtige Stelle im Roman ein und deute Samgins persönliche Krise vor dem Hintergrund der rituellen Zusammenkunft im Moskauer Kreml und dem Thema der Auferstehung Christi.

364 Воронин: Художественное время, S. 9.

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Am Anfang der Szene wird die Menschenmenge im Moskauer Kreml beschrieben; die Beschreibung geht in die Vision Samgins über: Klim Samgin dachte: Fiele der Turm um, so kämen Hunderte ums Leben – Leute aus dem Ochotnij rjad, aus Kitai Gorod, vom Arbat und von der Ordynka, die Menschen aus den Stücken Ostrowskijs. Und weitere Hunderte würden in ihrer Todesangst einander verletzen und erdrücken. Oder wenn irgend etwas anderes Entsetzliches diesen fest zusammengepreßten Körper sprengte, so würde er, zerstört, alles ringsum zerstören, die Gebäude, die Kathedrale und die Mauern des Kremls. (KS/B2/806) In Samgins Bewusstsein wird ein Phantasma hinsichtlich der vernichtenden Kraft der menschlichen Masse entfaltet, die sowohl gegen Stadtbauten, als auch gegen die Menschen selbst gerichtet ist. Die Identität der Individuen, die Samgin aufgrund ihrer geografischen Zugehörigkeit zu den Bezirken Moskaus (Ochotnij rjad, Kitai Gorod, Arbat und Ordynka) sowie aufgrund literarischer Vorlagen (Theaterstücke Aleksandr Ostrovskijs) definiert, würde durch den Fall des Turms aufgelöst und durch die »fest zusammengepreßten Körper« verdrängt werden. Diese Möglichkeit könnte im nächsten Augenblick – ähnlich wie die Szene des Kaserneneinsturzes – zum Ausbruch gelangen, doch stattdessen versinkt die Menschenmenge in Gebetsekstase: Und plötzlich wurde vom schwarzen Himmel eine Riesenschale mit tiefstem kupfernem Klang herabgekippt, irgend etwas krachte unsinnig, wie ein Kanonenschuß, die Stille explodierte, in die Finsternis flutete Licht, und ein Lächeln der Freude, strahlende Augen wurden sichtbar, der ganze Kreml flammte in grellen Lichtern auf, feierlich und stürmisch schwebte Glockengeläut über Moskau, und über der Menge flatterten wie ein Vogelschwarm Tausende bekreuzigender Hände, auf die Treppenstufen der Kathedrale trat die goldene Geistlichkeit heraus, ein Mann mit buntschillerndem Kopf segnete die Menschen mit flammendem Kreuz, und eine tausendzüngige Stimme sagte dreimal tief, erschütternd und überzeugt: »Er ist wahrhaftig auferstanden«. (KS/B2/807) Der Übergang von den düsteren Visionen Samgins zu ihrer Auflösung im Bild der kollektiven Ekstase wird akustisch durch Glockengeläut markiert, die Szene wird dabei optisch ausgeleuchtet: angefangen mit dem Licht, das »in die Finsternis flutete«, über das »Lächeln der Freude«, die »strahlende[n] Augen« und die »grelle[n] Lichter« des Kreml bis hin zu der »goldenen Geistlichkeit« sowie dem »flammenden Kreuz«. Dadurch wird auf der bildlichen Ebene die Metapher des aufstrahlenden Lichts im Dunkeln realisiert, das in der biblischen Darstellung für Christus steht. Menschen werden von diesem Licht ergriffen, ihre Hände »flattern« in der Geste der Bekreuzigens »wie ein Vogelschwarm« »über der Menge« und die »tausendzüngige Stimme« wiederholt die Worte des Gebets. Die Menschenmenge verwandelt sich beim Ostergebet in einen gigantischen Körper, was im Gegensatz zur Zerlegung einzelner Körper in den Szenen des Massenunglücks steht. Die religiöse Ekstase dient dabei als ein Modell der idealen Sozietät; der Augenblick wird vom Kriminalagenten Mitrofanow als ein besonderer Moment der Einigung beschrieben:

4. Narration

»Ein Augenblick ist das! Nirgends in der Welt kann man das so wie wir, nicht? Für alle! Es ist doch schön, Klim Iwanytsch, daß es so etwas gibt wie dieses: für alle! Und – über allen, das gleiche für Bettler und Könige, wie mein Lieber? So ist das bei uns…« […] Samgin mußte daran denken, daß ihm früher die Freude über Christi Auferstehung als lächerliche Heuchelei vorgekommen war, während er jetzt aus irgend einem Grund nichts Lächerliches und Heuchlerisches daran fand, sondern sogar selbst ungewöhnlich gerührt und erfreut war. Als er um sich blickte, sah er, daß alles Schreckliche, Bedrückende, verschwunden war. (KS/B2/808) Die Menschenmenge verwandelt sich nach der Nachricht von der Auferstehung Christi in einen leuchtenden und jubelnden Körper; diese Wirkung ist laut Mitrofanow in der gleichen Botschaft für alle und jeden einzeln – »für Bettler und Könige« – begründet. Auch Samgin unterliegt der Wirkung des kollektiven Gebets, der für ihn »alles Schreckliche, Bedrückende« auflöst. So wird in der Szene die kollektive Ergriffenheit als Alternative zur kollektiven Vernichtung und der um sich schlagenden, blinden Menschenmenge unterbreitet. Wie O.A. Bogdanova in ihrer Lektüre von Gorʹkijs Roman »Die Mutter« nachwies, zeichnet Gorʹkij als Autor der Traum von einer kollektiven Einheit aus, besonders im Gegensatz zu Dostoevskij. Der Polyphonie der Weltanschauungen, die unter den Intellektuellen herrscht, setzt Gorʹkij laut Bogdanova die Solidarität der Arbeiterklasse und die Idee der Gerechtigkeit entgegen.365 Im »Klim Samgin«, der im Umfang der dargestellten Debatten unter den Intellektuellen alle anderen Werke Gorʹkijs übertrifft, wird der Traum von der kollektiven Einheit weniger durch die Gruppen von Arbeitern als durch die Darstellung von Predigten und Gebeten repräsentiert. Neben den Szenen der außerkirchlichen Predigten gehören die Figuren der Sektierer und Häretiker dazu, unter denen der von der Kirche ausgeschlossene Diakon Ipatjewskij wohl am wichtigsten erscheint, sowie eine ganze Reihe selbsternannter Lehrer und Prediger. Samgin, der mit den kirchlichen Ritualen zwar vertraut ist, sie aber als Heuchelei betrachtet, muss sich im Laufe der Handlung wiederholt mit solchen spontanen, von der Dogmatik der Kirche unabhängigen Glaubensphänomenen auseinandersetzen. Bei einer besonders ausführlichen Predigtszene aus dem ersten Band – der Predigt im Keller eines Moskauer Hauses – beginnt das Bild der Realität Samgins auf eine besonders eindringliche Art und Weise zu verschwimmen. Dieser inszenierte Bruch in der Realitätswahrnehmung markiert die Grenzen von Samgins Realität und den Übergang zu einem alternativen Weltbild, der von einem Glaubensentwurf kollektiver Natur geprägt ist und auf anderen Prinzipien als den reflexiven und kontemplativen Grundlagen des intellektuellen Lebens aufbaut. Darunter ist der Glaube an die geistige Kraft des Menschen, welcher die Welt nach seinem Willen gestaltet, der wohl am schwersten er- und begründbare Grundsatz, der Samgin im Gedächtnis haften bleibt: Der Stein ist dumm. Auch der Baum ist dumm. Und jegliches Wachsen ist zwecklos ohne den Menschen. Wenn jedoch unsere klugen Hände dieses dumme Material berühren, so entstehen Häuser zum Wohnen, Straßen, Brücken und allerhand Sachen, Maschinen und Spielereien wie Damespiele oder Karten und Trompeten. (KS/B1/392) 365 Богданова: »Идеологическое слово« в прозе Ф. М. Достоевского и А. М. Горького, S. 46.

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Die »klugen Hände«, die den dummen Stein und Baum in »allerhand Sachen« verwandeln können, bieten eine Instanz des intrinsisch motivierten Handelns, für die kein Kopf mehr erforderlich ist. Dies wird von einem Prediger deklariert, der nur wenige Finger an beiden Händen hat und dem das Umblättern in den eigenen Aufzeichnungen schwer fällt. Samgin sieht in den Worten des Predigers eine Ähnlichkeit zu den Ideen Kutusows und flieht aus der Predigt; in den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt jedoch nicht so sehr der Inhalt, wie das Bedürfnis der Menschen nach einer kollektiven Belehrung. Wenn Gorʹkij also im Roman, wie Ljudmila Spiridonova betonte, das »Thema des schöpferischen kollektiven Selbstbewusstseins zum Abschluss bringt«, so führt es ihn – entgegen der Annahme von Spiridonova – kaum zum »marxistischen Verständnis der Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte«,366 sondern zum Nachdenken über die religiöse Ekstase als einem Modell der idealen Kollektivität, in der Menschen ungeachtet ihrer sozialen Position durch eine Idee ergriffen werden und zu einem beseelten Körper verfließen. In dieser Hinsicht schließe ich mich der These von V. Piskunov an, wonach weder die Menschenmenge noch – wie in den sowjetischen Forschungen zum Roman oft behauptet wurde – die Masse, sondern »ein Kollektiv der Persönlichkeiten« nach Gorʹkij »die Verwandlung eines einzelnen Individuums aus dem Objekt der Geschichte in ihr Subjekt garantiert«.367 Eine solche ideale »Annäherung zwischen der persönlichen Zeit der Figur und der epischen Zeit der Geschichte«368 ist im Bild der ekstatisch betenden Menschenmenge angelegt. Zusätzlich verweist diese Szene auf die anderen biblischen Motive, die vor allem für das Sujet Samgins zentrale Bedeutung haben. Als erstes ist hierbei das Motiv Abrahams und Isaaks zu nennen, das – wie oben dargelegt wurde – im Roman die Notwendigkeit des Opferbringens und der Selbstaufopferung der Intellektuellen im Dienste des Volkes hinterfragt. Ein Bindeglied in der Reihe der biblischen Motive erscheint im Roman, als Samgin als der auferstandene Lazarus bezeichnet wird. Als sich Samgin an einer späteren Stelle daran erinnert, merkt er ausdrücklich an, dass »die neutestamentlichen Legenden von der Auferstehung der Toten irgendwie unvollkommen seien, sie sagten weder dem Verstand noch dem Herzen etwas« (KS/B2/696). Für Gorʹkij besaß das Motiv der Auferstehung nachweislich eine große persönliche Bedeutung.369 Die Dringlichkeit der Frage nach der Auferstehung von den Toten ist durch die Opferproblematik der Abraham-Isaak-Geschichte besonders akut; die Aufopferung des Sohnes, die in der Geschichte vom Tod und der Auferstehung Christi vollzogen wird, schließt die Kette von biblischen Assoziationen, die man also wie folgt darstellen kann: Opfer (Abraham und Isaak) – Auferstehung (Lazarus) – Opfer/Auferstehung (Christus). In der Nacht des Ostergebets singt der betrunkene Samgin die Worte von der Auferstehung Christi nach und spürt ihre Wirkung auf sich: Er trat an den Tisch, trank ein Glas Portwein und sah, die Hände auf dem Rücken, zum Fenster hinaus, zum Himmel, dem weißen Stern, der in dem Blau kaum zu merken 366 367 368 369

Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 134. Пискунов: Завещание, S. 24. Ebd. Агурский: Великий еретик, 61ff.

4. Narration

war, und zur Flamme der Laterne am Haustor. In seiner Erinnerung tönten unablässig die Worte: »Christus ist auferstanden von den Toten…« Klim sah sich um und sang leise: »Er besiegte durch sein Sterben den Tod.« Oder – hat besiegt? Fragte er ernst mit halblauter Stimme jemanden, dann wiederholte er mit leisem Tenor: »Hat durch sein Sterben den Tod besiegt.« […] Er hätte gern laut gesungen, feierlich, wie man in der Kirche singt. Und so, daß Warwara aus ihrem Zimmer gekommen wäre, weißgekleidet, wie zur Trauung. (KS/B2/811) Auch wenn sich Samgin nicht genau an den Wortlaut des Gebets erinnern kann, wirkt sich sein Vorsingen ähnlich wie beim kollektiven Gebet in Kreml aus. Samgin will diese Worte »laut und feierlich«, wie in der Kirche vorsingen, so dass seine Frau Warwara »weißgekleidet, wie zur Trauung« kommt. Doch im nächsten Augenblick muss Samgin weinen, indem er seines eigenen Lebens gedenkt: »Sehr töricht, aber begreiflich! Mitrofanow weint, wenn er betrunken ist, und ich singe«, rechtfertigte er sich und schloß fest und verschämt die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Mit geschlossenen Augen ertastete er die Stuhllehne und setzte sich vorsichtig, indem er jedes Geräusch zu vermeiden suchte. Jetzt wünschte er nicht mehr, daß Warwara käme, er fürchtete es sogar, weil ihm die Tränen dennoch unter den Wimpern hervorrannen. Klim Samgin trocknete sie hastig mit dem Taschentuch ab und dachte: In meinem Leben ist irgend etwas… nicht so, nicht in Ordnung. (KS/B2/811-812) Angesichts der Gebetszeilen von dem Sieg Christi über den Tod wird sich Samgin der Tragik seiner Existenz bewusst. Sein Leben, das »nicht so, nicht in Ordnung« ist, wird dabei im Zeichen der Fragen nach dem Glauben an das Höhere, der (Selbst-)Aufopferung für das Wohl der Menschen und der Möglichkeit einer wundersamen Auferstehung hinterfragt. Diese Einbindung der biblischen Motive in einem Roman über die russische Revolution scheint auf den ersten Blick etwas unlogisch, doch zeigen gerade die jüngsten Untersuchungen zu Gorʹkijs Biografie und Werk diese bisher durch das Bild des proletarischen Schriftstellers verdeckte Seite von Gorʹkij als Denker, der davon träumt, das Potenzial des Evangeliums und vor allem der religiösen Ekstase für das Erreichen der kollektiven Harmonie zu nutzen.370 In vielen Werken Gorʹkijs, unter denen die »Beichte« wohl das ausdrucksvollste Beispiel bietet, wird das Leben als eine ekstatische Suche nach der existentiellen Wahrheit dargestellt, die sich dem Protagonisten am Ende nicht als der Glaube an Gott oder das Übernatürliche, sondern an die Berufung des Menschen und an seine Würde offenbart.371 Im Roman »Klim Samgin« wird diese Fragestellung erneut aufgerufen und bezieht sich nun nicht auf die individuelle Einsicht, sondern auf den kollektiven Glauben an die Göttlichkeit des Menschen und die Kraft seines Geistes.

370 Gedanken über die Notwendigkeit einer »neuen Religion, die den neuen Formen des gesellschaftlichen Lebens entsprechen muss«, hatte Gorʹkij, wie Ludmila Spiridonova nachweist, bereits vor seiner Teilnahme am Kreis der Gotterbauer beschäftigt. (Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 17) 371 Vgl. Агурский: Великий еретик, S. 67.

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Historische Zeit im Narrativ

Im Bild der Tausend sich bekreuzigenden Hände, die beim Ostergebet im Kreml über die Menge flattern, wird eine religiös-mystische Ergriffenheit durch die Botschaft von der Auferstehung Christi als ein Mechanismus präsentiert, dank dem ein menschliches Kollektiv erleuchtet und beseelt wird. Dieses Erlebnis kündigt eine Wende im Sujet des Protagonisten an, der sich dessen bewusst wird, dass »in meinem Leben irgend etwas… nicht so, nicht in Ordnung« ist. Diese Wende lässt sich als Übergang von der Frage nach den Handlungsoptionen angesichts der sozialen Wirklichkeit als einer beweglichen, wandelbaren Realität, die durch das Wort geformt wird, zur Suche nach Grundlagen der harmonischen Sozietät in der religiös-mystischen Erfahrung bezeichnen, die im dritten Buch des Romans mit der Figur der Sektiererin Marina Zotowa zusammenhängt. Diese Ablösung wird durch die Transformation der Fabelstruktur eingeleitet, die am Übergang vom zweiten zum dritten Buch des Romans stattfindet und das doppelte Sujet der russische Revolution und des Lebens Samgins in eine eindimensionale Struktur überführt. Mit der Analyse dieser Textpartie, in der die historische Zeit in »Klim Samgin« stillgelegt wird, schließe ich meine Romanlektüre im nächsten Kapitel ab.

4.2.4

»Er wird für eine kurze Zeit befreit«372 – der Protagonist im Geschehen der ersten russischen Revolution

Am Ende des zweiten und dem Anfang des dritten Buchs des Romans befinden sich ungefähr zweihundert Seiten Text, die sich auf das Geschehen der russischen Revolution von 1905 beziehen. Auf diese Ereignisse läuft – wie Andrej Sinjavskij zu Recht hervorhob – die Handlung des ersten und zweiten Buchs zu;373 jedoch wird die Interpretation dieser Textpartie erheblich durch Unstimmigkeiten und die allgemeine Diffusität des Textes erschwert. Im Abriss der Entstehungsgeschichte, der in Gorʹkijs gesammelten Werken geliefert wird, werden die Überfüllung des zweiten Buchs mit dem Erzählstoff und Schwierigkeiten Gorʹkijs erwähnt, diesen Teil des Romans abzuschließen. Der Autor beeilt sich, das Manuskript schneller in die Publikation zu geben; einzelne Fragmente werden aber auch in Zeitschriften veröffentlicht. In dieser Situation sieht sich Gorʹkij gezwungen, einen Teil der Episode in das dritte Buch auszulagern; dadurch greift die Handlung des zweiten Buchs mit der gesetzten Zeitspanne zwischen 1897 und 1907 auf das dritte Buch über (Г-25/B23/406). V.S. Voronin wies auf die außerordentliche Widersprüchlichkeit von Samgins Äußerungen und Verhalten in diesen Episoden hin374 – ein Befund, auf den ich unten zu sprechen komme. L.N. Smirnova, die Gorʹkijs Manuskripte zum Anfang des dritten Buchs erforschte, schrieb, dass Gorʹkij mehr als zwei Jahre mit großen Unterbrechungen an diesen hundert Seiten Text gearbeitet und mindestens fünf verschiedene Redaktionen der Episode des Moskauer Aufstandes erschaffen hat.375 Das legt die Vermutung nahe, dass das auf 372 373 374 375

TIP/50. Синявский: О художественной структуре, S. 155. Воронин: Фантазия и абсурд, S. 389-390. Смирнова, Л.Н.: »От романа-хроники к роману-эпопее. Работа Горького над эпизодами Московского восстания«, in: Генезис художественного произведения. Материалы советскофранцузского коллоквиума, Москва: ИМЛИ РАН 1986, S. 89-94, hier S. 89.

4. Narration

zwei Bücher aufgeteilte Textsegment im Allgemeinen unter den Arbeitsunterbrechungen gelitten und in seiner ersten Hälfte doch etwas vorzeitig in die Publikation musste. Für die Behandlung dieser problematischen Textpartie wurde in der Forschung traditionell nur ein Weg eingeschlagen. Bereits 1958 machte Andrej Sinjavskij den Vorschlag, das Sujet des Romans entlang der signifikanten politischen Ereignisse zu lesen.376 Gerade am Umbruch zwischen dem zweiten und dritten Buch erscheint dieser Weg als naheliegend, verweist der Text doch auf belegbare politische Ereignisse und stellt manche davon sogar dar. Doch fällt es aufgrund der Darstellung dieser Ereignisse in Gorʹkijs Roman eher schwer, sie zu enträtseln. Ein Leser, der über Allgemeinwissen in Bezug auf die russische Revolution von 1905 verfügt, wird im Roman das Ereignis des »blutigen Sonntags«, größere Manifestationen wie die anlässlich des Begräbnisses von Nikolaj Bauman sowie das Ereignis der Verfassungserklärung identifizieren können, doch finden parallel dazu andere, von Gorʹkij frei erfundene Szenen von Straßenkämpfen statt, es werden Unruhen im Land stichwortartig, oft in Form trügerischer Gerüchte referiert. Ein sachkundiger Leser wird Schwierigkeiten haben, in diesem Durcheinander von Szenen und Berichten die politischen Entwicklungen nachzuvollziehen, die dokumentarisch belegt sind, und sie von den Ereignissen zu trennen, die den »Tatsachen« nachempfunden oder als falsche Gerüchte eingestreut sind. Zudem könnte man sich an manchen Stellen fragen, welche Ereignisse von Gorʹkij bewusst oder unbewusst ausgelassen werden. So erfolgt die Darstellung des Moskauer Aufstandes aus einer peripheren Perspektive, der Aufstand in der Fabrik von Nikolaj Schmidt (russ. »красная пресня«), der traditionell zu den zentralen Ereignissen gezählt wird, wird in Nebensätzen erwähnt. Berichtet Gorʹkij nur von den Ereignissen, denen er persönlich beiwohnte? Oder erachtet er etwas Anderes für mitteilungswert? Eine Untersuchung dieser Fragen steht noch aus und kann in der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden. Außerdem wäre es bei Gorʹkijs Zeugnis über die Ereignisse der ersten russischen Revolution m.E. schwierig, auf das historiografische Wissen über sie zurückzugreifen. Zum einen ist ein distanziertes Urteil über den Verlauf und Erfolg der Revolution in Gorʹkijs Text nicht vorhanden; der Text reflektiert verstärkt die Situation der Verunsicherung in Bezug auf den Status des Ereignisses, wobei den Beteiligten nicht immer klar ist, ob es sich bei den kollektiven Unruhen tatsächlich um eine Revolution handelt. Zum anderen besteht in dieser Hinsicht die Gefahr, dass die ohnehin brüchige Botschaft dieser Episode im Kontext der »großen Erzählungen« über die erste und die zweite russische Revolution, die von der sowjetischen Historiografie lange genug unter dem ideologischen Standpunkt produziert wurden, untergeht. Um nachzuspüren, was hinter Gorʹkijs Interpretation der politischen Ereignisse der ersten russischen Revolution steht, habe ich mich dafür entschieden, der Logik der Erzählung zu folgen und die Untersuchung des doppelten Sujets fortzusetzen. Doch stellte ich unerwartet fest, dass das komplexe doppelte Sujet der Suche nach einer Idee für die russische Revolution und des Lebens von Samgin an dieser Stelle an seine Grenzen kommt und die Romanerzählung ihre Qualität ändert. Die Ursache dafür liegt darin,

376 Синявский: О художественной структуре, S. 154.

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Historische Zeit im Narrativ

dass beide Linien – ähnlich wie am Ende des ersten Bandes von Musils Roman – bereits vor dem Eintreten der politischen Ereignisse ihr Erklärungspotenzial erschöpfen. Die Motivierung der Revolution durch eine konsolidierende Idee, die im intellektuellen Umfeld gefunden oder geformt werden könnte, läuft noch vor dem Ausbruch der ersten russischen Revolution ins Leere. Der Protagonist Samgin schließt an diese negative Bilanz an und erträumt sich von der künftigen Revolution eine Vereinfachung und eine Läuterung des geistigen Klimas. Durch dieses Fazit kommt das doppelte Sujet des Romans zum Abschluss. Nach dem Ausfall dieses produktiven Mechanismus, der den internen Sinnhorizont des Romans bildete und einen Erklärungsansatz für kollektive Prozesse bot, muss die Erzählung eine ähnliche Schwelle überwinden wie jene, die in Musils Roman zwischen dem ersten und zweiten Band liegt und die Handlung des Romans auf eine andere Ebene verlagert, auf der sich die Pole der subjektiven und der kollektiven Zeit ineinander kehren. So wird an dieser Stelle in »Klim Samgin« ähnlich zur »räumlichen Inversion«, die der Protagonist des »Mann ohne Eigenschaften« erlebt, als die demonstrierende Menschenmenge hinter den Fenstern des Palais in sein Inneres kehrt und Menschen durch ihn hindurchschreiten, wiederholt darauf hingewiesen, dass der Protagonist das kollektive Geschehen vollständig ohne jegliche reflexive Distanz in seine Seele aufnehmen soll. Dadurch büßt das Bewusstsein des Protagonisten an Distanz zum kollektiven Geschehen ein. Parallel dazu findet an der Schwelle zwischen dem zweiten und dritten Buch – ähnlich wie in Musils Roman – die Suche nach alternativen Möglichkeiten der Romanfortsetzung statt. Die Bilder der kollektiven Gewaltausbrüche, die in der Episode gehäuft vorkommen, kaschieren dabei einen Übergang, der sich am besten durch den Kontrast zwischen dem Anfang und dem Ende der Episode verdeutlichen lässt. Am Anfang der Reihe steht die Szene der Agitation des Pfarrers Gapon unter den Arbeitern für die Teilnahme an der friedlichen Manifestation, die in der Folge gewaltsam unterdrückt wird. An ihrem Ende findet man den Protagonisten abseits der großen Politik in einer provinziellen Stadt, wo er sich als Rechtsanwalt im Auftrag seiner Bekannten aus der Jugend – Marina Zotowa (Premirowa) – hauptsächlich um ihre Geschäfte kümmert. Zwischen diesen beiden Punkten liegt eine Reihe ereignishafter Momente, die den Protagonisten von der Bühne des politischen Geschehens herabführen und die Handlung des Romans in die Geschichte der Beziehung zwischen Samgin und Zotowa überleiten. Diese Transformation wird von zwei Traumerlebnissen des Protagonisten am Anfang und am Ende der Episode gesäumt. Diese Träume stehen in einem Homologieverhältnis zueinander und lassen sich als Hinweise auf die signifikanten Verschiebungen der erzähltragenden Substanz interpretieren. In der Folge beschreibe ich Samgins Weg durch die russische Revolution von 1905 als einen Weg zwischen zwei Träumen. Wie Gorʹkij selbst betonte, wird Samgin insbesondere in den Episoden des Moskauer Aufstandes »für eine kurze Zeit befreit« (TIP/50). Diese Befreiung findet durch das Abstreifen zahlreicher, sich oft widersprechender Positionierungen gegenüber den Ereignissen statt, die von Samgin Schritt für Schritt fallen gelassen werden. Die Erfahrung der ersten russischen Revolution wird dabei als ein »Weg zur letzten Wahrheit« gestaltet: Dieser Weg führt vom ersten Traum, der auf der symbolischen Ebene das Verhältnis zwischen Führern und Masse reflektiert, über die Konstatierung der Führungs- und Ziello-

4. Narration

sigkeit des Geschehens zu einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen dem Verstand, der Schönheit und der Moral. Diese Evolution, die mit dem zweiten Traum von der Aufspaltung des Protagonisten in mehrere Doppelgänger endet, rekapituliere ich unten in wesentlichen Zügen.

4.2.4.1

Masse und Führer

Das politische Ereignis des 9. Januars 1905 oder des »blutigen Sonntags«, als eine friedliche Arbeiterdemonstration in St. Petersburg gewaltsam unterdrückt wurde, schließt im Roman die Erzählung über die Suche nach einer Idee für die russische Revolution ab. Der Übergang von den ausufernden Gesprächen des intellektuellen Milieus zu den Bildern der politischen Unruhe wird durch die Frage nach den Führern der Masse gestaltet. Die Erzählung greift dieses Thema auf mehrfache Art und Weise auf: Samgin wohnt der Agitationsszene durch den Pfarrer Georgij Gapon, den Anführer der Demonstration, bei und hinterfragt seine Führungsrolle; danach äußert Samgin einige Gedanken über den Zaren als einen »gleichgültigen« Führer und erlebt einen Traum, der auf der symbolischen Ebene das Dilemma zwischen den selbsternannten Führern des Volkes unter den Intellektuellen und dem Körper der Masse zuspitzt. Die Darstellung des Pfarrers Gapon ist in satirisch-grotesken Tönen gehalten, wobei u.a. ein Vergleich des Pfarrers mit einem schwarzen Komiker gezogen wird, der einen Hahn auf der Bühne fängt. Gapons Rede, in der er die Arbeiter dazu motiviert, an der friedlichen Manifestation am Zarenpalais teilzunehmen, richtet sich gegen die Lehre vom Klassenkampf, da Gapon »Feindschaft« nicht als Gesetz auffassen will: »Armut erzeugt Neid, werden wir sagen, der Neid – Feindschaft, aber Feindschaft ist kein Gesetz, Feindschaft ist nicht das Wahre…« […] »Er ist ein Mensch!« rief der Pope und schwang die Ärmel des Priesterrocks hoch. »Er ist gerecht! Er wird die Wahrheit eures Grams verstehen und wird den Leuten, die von eurem Schweiß, von eurem Blut leben, sagen… wird ihnen sein Wort sagen… ein Wort der Kraft – glaubt mir!« (KS/B2/993) In seiner Rede macht Gapon den Zaren als Person (»Er ist ein Mensch!«) zum Adressaten einer direkten Ansprache und appelliert an seine Fähigkeit, »die Wahrheit eures Grams [zu] verstehen«. Der Glaube an die persönliche Fähigkeit des politischen Führers, »ein Wort der Kraft« zu sagen, wird durch die groteske Gestalt des Pfarrers, der in einem ekstatischen Zustand zappelt und schreit, ironisch desavouiert. Angesichts einer solchen Darstellung stellt sich die Frage, wie es Gapon gelingen konnte, eine nicht unerhebliche Anzahl der Arbeiter zur Teilnahme an der Manifestation zu bewegen. Dieser Frage begegnet der Erzähler, indem er darauf hinweist, dass Gapon durch seine Rhetorik bloß die Kräfte entfesselt, die in der Masse bereits liegen und von ihm nicht beherrscht werden können. Das Bild seiner Predigt wird durch »die angelaufene Brille« von Samgin vermittelt – ein charakteristisches Verfahren für die Predigtszenen im Roman, bei denen, wie ich oben ausgeführt habe, das Verschwimmen des Bildes in der Wahrnehmung Samgins den Übergang zu einer alternativen Realität, die von einem Glaubensentwurf kollektiver Natur geprägt ist, markiert. Dieser Glaube nimmt die Form des unerschütterlichen Bedürfnisses nach sozialer Gerechtigkeit an, was durch die Zwischenrufe und die Stim-

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Historische Zeit im Narrativ

mung der Arbeitermasse signalisiert wird, in der einzelne Menschenkörper in einander fließen: Ja, die Arbeiter saßen zu dritt auf zwei Stühlen, saßen einander auf dem Schoß und bildeten ein so geschlossenes Ganzes, daß Samgin durch die angelaufene Brille auf einigen Schultern zwei Köpfe sah. (KS/B2/993) […] Arbeiter, die Schulter an Schulter und sogar gleichsam Wange an Wange rings um ihn standen. Es ergab sich irgendwie eine kompakte Masse gleichmäßig verfinsterter Gesichter mit einer unregelmäßigen, gebrochenen Linie von Augen, die gleichermaßen angespannt auf die braune Gestalt des Pfäffchens gerichtet waren. (KS/B2/994) An den zitierten Stellen wird die Solidarität der Arbeiter durch ihre körperliche Haltung zum Ausdruck gebracht. Auch wenn sich Gapon zum Führer dieser Masse aufschwingt, gilt er bereits während seiner Rede für Samgin nicht als Führer der Arbeitermasse. Hingegen bezeichnet Samgin einen Arbeiter als »Führer«, der alle anderen überragt und die Rede von Gapon laut kommentiert. Das Verhältnis zwischen Gapon, der Arbeitermasse und dem aus ihrer Mitte aufsteigenden Führer wird im Anschluss an die Predigtszene bildlich im Traum des Protagonisten dargestellt, der nach dem Besuch der Versammlung im krankhaften Delirium liegt: Da tauchten aus der Dunkelheit das kahle Gesicht, der ölige Schädel auf, und in den Ohren dröhnte die wuchtige Stimme: »Das Leben kennen wir!« Unter diesen Kopf stellten sich Dutzende, Hunderte von Menschen, und es entstand ein tausendarmiger Körper mit einem Kopf. Der Führer, dachte Samgin lächelnd […]. Der kleine braune Pope hüpfte herum. Sein Körper spaltete sich in einzelne Personen, und diese nahmen die bekannten Gestalten des dreifingerigen Predigers, Diomidows, des Schauermanns, des Ofensetzers aus dem Dorf und anderer mutwilliger Menschen an, die sich dem Schicksal nicht fügten. […] das heiße Kupfer [des Samowars] widerspiegelte zugleich mit seinem Gesicht irgendwelche Streifen und Flecken, sie verwandelten sich wieder in Menschen, deren jeder sich in Dutzende und Hunderte seinesgleichen vervielfältigte, es entstand eine dichte Masse gleicher Gestalten, ihre Köpfe hüpften wie Kaffeebohnen auf der heißen Pfanne, wie Tausende von Funken glühten verschiedenfarbige Augen auf, und es erklang ein leise stöhnendes Raunen… »Weiß der Teufel, wie… allein ich bin«, sagte Klim laut. (KS/B2/996) Der Traum Samgins überlässt dem »Popen« den Platz an der Seite der Arbeitermasse, wo er sich in mehrere Gestalten der Prediger und »anderer mutwilliger Menschen […], die sich dem Schicksal nicht fügten«, aufspaltet. Armin Knigge hat auf die herausgehobene Position von Träumen hingewiesen, die als Element des Phantastischen das Spätwerk Gorʹkijs prägen.377 Diesen Befund sehe ich an der Platzierung des oben zitierten Traums vom Körper der Masse am Beginn der Episode der ersten russischen Revolution bestätigt. Dabei werden im Traum Samgins wichtige Differenzierungen vorgenommen: Die Masse der Arbeiter wird als ein gigantischer Körper mit nur einem Kopf den

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Knigge: Gorʹkij – ein Surrealist, S. 199.

4. Narration

selbst ernannten Anführern des Volkes entgegengestellt, von denen am Ende der Passage bloß die »wie Kaffeebohnen« hüpfenden Köpfe mit »verschiedenfarbigen Augen« übrig bleiben. Somit wird in der Passage der Gegensatz zwischen den Führern, die aus der Masse geboren werden und ihr eine Richtung geben, und den Intellektuellen, die auch eine Masse von »Köpfen« bilden und sich chaotisch bewegen, inszeniert. Die Frage danach, inwieweit Intellektuelle in der ersten russischen Revolution die Führungsrolle übernehmen können, wird also noch vor dem Ausbruch des politischen Ereignisses negativ beantwortet. Zwischen den beiden Lagern kommt sich Samgin außerordentlich einsam vor (»Weiß der Teufel, wie… allein ich bin«). Diese Einsamkeit kann einerseits im Zeichen der Exklusion, andererseits im Zeichen der Exklusivität gedeutet werden, auf die Samgin im Gespräch mit seinem Bruder Dmitrij zu sprechen kommt, wenn es darum geht, die Position des Zaren gegenüber dem Geschehen im Land zu erklären. Samgin sieht seine Gleichgültigkeit durch seine herausgehobene Stellung begründet: »Aber ich kann mir, wenn du willst, vorstellen, warum er… Grund hätte, gleichgültig zu sein« […]. »Gleichgültig wie ein Mensch, dem man von Kind auf einredete, daß er ein Ausnahmegeschöpf sei«, sagte er und fühlte sich einem Gedanken nahe, der ihm sehr wertvoll war. »Verstehst du? Ein Ausnahmegeschöpf. Du wirst zugeben, daß es einem Menschen, der in der Überzeugung von der Unbeschränktheit seines Willens aufgezogen wurde, schwerfällt, sich mit Forderungen nach Beschränkung seines Willens zu versöhnen. Ihm aber widerfuhr das gleich nach seiner Thronbesteigung…« (KS/B2/1000) Laut Samgin erhält einer, dem »von Kind auf« eingeredet wurde, er sei ein Ausnahmegeschöpf, die Berechtigung zur Gleichgültigkeit, wenn er auf Einschränkungen der Wirklichkeit trifft. Samgin sieht im Zaren als einem politischen Führer lediglich einen Beobachter, der im Wirrwarr der politischen Ereignisse zwar wiederholt Widersprüche entdeckt, sie aber in sich aufnimmt, wodurch sie »sich in seiner Seele irgendwie aus[gleichen]«: »Er sieht sich von unfähigen Leuten, von Feiglingen, Abenteurern und Mikrozephalen wie Witte umgeben […] und Pobedonoszew – überhaupt von grotesk unheimlichen Fratzen. Er sieht das Volk, das ihm Hurra zuruft, doch dann ruiniert er die Wirtschaft des Landes, und die Gouverneure müssen dieses Volk verprügeln. Er sieht die Studenten auf Knien vor seinem Palais, diese Studenten wurden vor kurzem unter die Soldaten gesteckt; er weiß, daß sich aus der Mitte der Studentenschaft die Mehrzahl der Revolutionäre rekrutiert. Ihm ist bekannt, daß Zehntausende von Arbeitern zum Denkmal seines Großvaters zogen, um vor ihm Hurra zu schreien, und daß in Rußland eine sozialistische, eine Arbeiterpartei gegründet worden ist und daß das Ziel dieser Partei nicht nur die Vernichtung der Selbstherrschaft ist […], sondern die Vernichtung der Klassenordnung. Das alles wird nicht erklärt, sondern… gleicht sich in seiner Seele irgendwie aus…« […] »Aus diesem Ausgleichen sich widersprechender Erscheinungen kann vollständige Gleichgültigkeit… dem Leben gegenüber entstehen. Und sogar Menschenverachtung.« Jetzt begriff er, daß er nicht vom Zaren, sondern von sich selbst sprach. (KS/B2/1000-1001)

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Historische Zeit im Narrativ

Am Ende seiner Rede begreift Samgin das, was dem Leser schon längst offensichtlich ist: Wenn Samgin den Zaren als jemanden charakterisiert, der von klein auf als ein »Ausnahmegeschöpf« behandelt wird und als Beobachter der Unruhen im Lande fungiert, spricht er in erster Linie von sich selbst. Dabei überträgt er auf den Zaren die eigene Unmöglichkeit, die Motivation unterschiedlicher Akteure zu verstehen. Wie Samgin ist der Zar in seiner Beobachtung der Widersprüche und Paradoxien im Land darauf angewiesen, das Geschehen als solches jenseits der rationalen Logik in die psychische Einheit seines Ichs – die Seele – aufzunehmen. Ihrer Logik nach ist diese Ausdehnung des inneren privaten Raums auf das kollektive Geschehen im Lande mit Ulrichs »räumlicher Inversion« vergleichbar, als die demonstrierende Menge auf den Straßen ins Innere des Zimmers kippte und sich die Raumverhältnisse zwischen Innen und Außen gegenseitig aufhoben. Das, was dem »Mann ohne Eigenschaften« die Existenz des dritten Raums offenbarte, gibt Samgin längst keinen Anlass, seine Wahrnehmungsstrukturen explizit zu analysieren. Durch die Konfrontation mit den Bewegungen der Massen und mit zahlreichen Gewalterfahrungen verliert die Figur des Protagonisten ihre Konsistenz. Samgin steht nicht mehr einem Kollektiv seiner Zeitgenossen gegenüber, welche die russische Revolution erfinden wollen, sondern wird den traumatischen Bildern der politischen Krise ausgeliefert und muss sich vorwiegend allein den Weg durch sie bahnen. Ab hier wird die komplexe vermittelnde Struktur der historischen Zeit, deren Präsenz durch die Gefühle des Drucks, der ideologischen Nötigung und Vereinnahmung signalisiert wurde, schrittweise demontiert. Bei der Schilderung der Ereignisse des 9. Januars 1905 greift Gorʹkij auf eigene Erlebnisse zurück und erschafft dadurch – wie Bohuslav Ilek zu Recht hervorhob – äußerst lebhafte und dramatische Szenen.378 Samgin schließt sich der Demonstration an und spürt die Wirkung der »Wärme der Menge« auf sich, um im nächsten Augenblick zu sehen, wie Soldaten auf die Menschenmenge schießen. Er flieht und begegnet in der Wohnung von Savva Morozov dem Romanautor in Person,379 beobachtet, wie Georgij Gapon in die Wohnung gebracht wird, und nimmt ein Gespräch zwischen Morozow und Gorʹkij wahr, in dem es um Gapon als Führer geht: »Ein Führer, wie?« (Morozow) – »Kränkung ohne Haß, Klagen ohne Zorn« (KS/B2/1027). Neben diesem ironischen Wortwechsel nimmt Samgin die Körperhaltung Gorʹkijs wahr, der sich scheinbar kaum beherrschen kann, um Gapon nicht anzuschreien. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, an dem Gapon ohne Priesterbekleidung und Bart sein nervöses Gesicht zeigt, wird es deutlich, dass er keineswegs als Führer der Masse zu verstehen ist. Angesichts der Äußerung Turobojews, dass sich um Gapon herum Menschen »meist hoher Qualifikation« (KS/B2/995) versammeln, lässt sich vermuten, dass Gapon ein Provokateur der Geheimpolizei ist. Doch befragt auch ein Vertreter der

378 Ilek, Bohuslav: »Gorkij a Klim Samgin. Klim Samgin jako typ a konstrukce«, in: Československá rusistika X (1965), S. 141-144, hier S. 143. 379 Laut Marianne Girod begegnet Samgin dem als Soldaten verkleideten Gorʹkij bereits einige Seiten früher in der Episode mit der roten Flagge, die Gorʹkij dem Bolschewiken Anton Vojtkevic wegnimmt und unter seinem Mantel versteckt, »um die Umstehenden nicht sinnlos zu gefährden.« (Girod: Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«, S. 33-34)

4. Narration

Geheimpolizei – der Oberst Wassiljew – Samgin nach seiner Meinung über Gapon und teilt ihm mit, dass Gapon nach seiner Kenntnis »eine Null« ist (KS/B2/1046). Wassiljew hält dies für wesentlich bedrohlicher: »Aber das ist ja noch schlimmer, wenn er eine Null ist, schlimmer! Eine Null – und führt das Polizeidepartement, den Stadthauptmann, Zehntausende von Arbeitern und – Sie, und auch Sie an der Nase herum!« (KS/B2/1046) In der Szene, die sich in Gorʹkijs Wohnung abspielt, wird Gapon von Gorʹkij mehrfach dazu angehalten, »keinerlei Legenden« (KS/B2/1028), »keinerlei Märchen« (KS/B2/1029) zu produzieren und sich in der Gesellschaft zu zeigen, um Gerüchte zu vermeiden. Zusammen mit Gapon und Gorʹkij verlässt Samgin die Wohnung und verliert die beiden auf der Straße aus den Augen. Der Gedanke, die Samgin nun beschäftigt, ist die Frage nach dem Umgang mit dem Erlebten, im Verhältnis zu welchem jeder Erklärungsversuch scheitert: […] das Denken kostete Mühe, die Gedanken hinderten ihn, dieser gespannten Stille zu lauschen, in der alles Brüllen und Heulen des entsetzlichen Tages, all seine Worte, all sein Schreien und Stöhnen schlau verdichtet und versteckt war, dieser Stille, in der die böse Bereitschaft verborgen lag, alle Schrecknisse zu wiederholen, um den Menschen bis zum Wahnsinn zu erschrecken. Der Pope ist eine Null. Und alle Zeugen, Schriftsteller, Soldaten und Arbeiter, Mörder, Opfer und Zuschauer sind es. Alle sind unbedeutend, unglücklich, überlegte Samgin hastig, um die Angst etwas zu verringern, die ihn beleidigend bedrückte. (KS/B2/1031) Einen nach dem anderen bezeichnet Samgin den »Popen«, »alle Zeugen«, »Schriftsteller« und die anderen Beteiligten an dem Drama einschließlich Opfer und Täter als unwichtig und unglücklich. Das Ereignis des »blutigen Sonntags« erscheint somit als ein bedeutungsloser Zusammenhang unglücklicher Akteure, wobei keinem die Schuld zugeschrieben werden kann. Die Wahrnehmung Samgins, in der sich unterschiedliche Eindrücke ausgleichen, erlaubt keine Schuldzuweisung; vielmehr spitzt sich in ihr der Gegensatz zwischen dem Gewaltpotenzial der Masse und dem Verhalten der Intellektuellen zu, die für sich zwar die Führungsrolle beanspruchen, das Geschehen jedoch weder lenken noch verstehen können. Der Aufruf Gapons an die Arbeiter wird von Samgin als ein solch riskanter Versuch verstanden, die Arbeiter zu Unruhen anzustiften, ohne die Folgen ihres Aufstandes zu bedenken: Irgendwo, in der Wärme behaglicher Wohnungen, sitzen Minister, Militärs und Beamte; in anderen Wohnungen geraten Schriftsteller, Männer der Öffentlichkeit und Humanisten, denen dieser Tag erbarmungslos ihre Schwäche gezeigt hat, in Widerstreit, schreien hysterisch und springen aufeinander los wie Spatzen. Die Führer! rief Samgin innerlich, aber so, daß er den Ausruf außerhalb seiner selbst hörte und sich sogar umblickte. Und der Zar? Dieses kleine Menschlein wird wohl kaum ruhig Tee trinken… Und Samgin kam der Gedanke, der Zar laufe im Schrecken über das Begangene ebenso krampfhaft umher wie Gapon. (KS/B2/1032-1033) In der zitierten Passage werden Gapon und der Zar als zwei Akteure dargestellt, die das Geschehen zwar verschulden, aber nicht verantworten können, was u.a. im Bild des »krampfhaften« Umherlaufens von beiden »im Schrecken über das Begangene« zum Ausdruck gebracht wird. Neben ihnen beherbergt die Stadt als Hort der selbst-

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ernannten »Führer« des Volkes »Schriftsteller, Männer der Öffentlichkeit und Humanisten«, die bei ihrer offensichtlichen Schwäche nicht dazu fähig sind, die Kraft der Masse zu lenken. Diese Schwäche liegt laut Samgins Beschreibung darin, dass sie hysterisch schreien und aufeinander »wie Spatzen« springen. Die Meinungsverschiedenheit wird hier also als eine entscheidende Schwäche beschrieben; es berührt Samgin so sehr, dass er seinen inneren Aufschrei »außerhalb seiner selbst« hört – diese Umkehrung der Innen- und Außerverhältnisse signalisiert Aufregung, sie zeigt aber auch, wie stark der Protagonist persönlich von dem Geschehen im Land affiziert wird. Diese psychische Verstörung legt den Anfang einer ganzen Serie von Selbstbetrachtungen und Selbstgesprächen, die Samgin im Geschehen der ersten russischen Revolution führt. Bereits an dieser Stelle im Roman wird klar, wie eng sich die Wahrnehmung der Ereignisse mit der Wahrnehmung seines Selbst zusammenschließt. Das traumatische Geschehen führt zu einer »Entrüstung über sich selbst«, die gleichzeitig als Entrüstung »über all die Erlebnisse dieses Tages« und als Unzufriedenheit mit dem Leben, das sich »in ein eintöniges, endloses Drama« (KS/B2/1033) verwandelt, aufgefasst wird.

4.2.4.2

»Ich bin vielleicht der nüchternste Mensch in Russland«380

Einige Wochen, die Samgin daraufhin in Moskau und der Provinz verbringt, erwecken den Eindruck einer äußerst lebhaften Handlung. Auf Samgins Erfolg als Redner, der den »blutigen Sonntag« detailreich schildert, folgt ein Aufenthalt im Gefängnis mit anschließender Freilassung, danach werden in der Erzählung Bilder der Straßenkämpfe in der Provinz, Feierlichkeiten anlässlich der vom Zaren zugestandenen Verfassung und schließlich Nikolaj Baumans Begräbnis inszeniert. Diese Episoden führen uns einen Protagonisten vor, der sich laut V.S. Voronin als eine »außerordentlich vielseitige« Persönlichkeit erweist381 und sich äußerst widersprüchlich verhält. Diese Widersprüchlichkeit deute ich als Symptom der Auflösung des Figurenkonzeptes Samgin. Samgin nimmt das gesamte Geschehen im Land in sich auf und soll dabei mehrere Verhaltensmuster der russischen Intellektuellen demonstrieren, um sich von ihnen als möglichen Varianten der Romanfortsetzung zu lösen. Zunächst betätigt sich Samgin als Redner, der sich in einer Reihe von Vorträgen darum bemüht, den Schrecken der Ereignisse wiederzugeben und seinen Zuhörern Angst vor Massenunruhen einzuflößen. Samgin wird jedoch von dieser Tätigkeit schnell enttäuscht, da die Wirkung seiner Rede nicht lange anhält: Den Leuten war unheimlich zumute. Dennoch sah er: Die Angst hält nicht lange in Menschen vor, die überzeugt sind, sie könnten die Wirklichkeit ändern und bändigen. Welch ein Leichtsinn, dachte er und wurde erbittert gegen die Kecken. (KS/B2/1038) Obwohl Samgins Rhetorik zweifelsohne die Menschen erreicht, bleibt sie im Ganzen wirkungslos, da in den Menschen die Angst durch die Überzeugung beruhigt wird, »sie könnten die Wirklichkeit ändern und bändigen«. Im Rausch der Reden versucht Samgin den Gedanken daran zu verdrängen, »was ihn daran hinderte, so zu leben, wie diese

380 KS/B2/1103. 381 Воронин: Фантазия и абсурд, S. 389-390.

4. Narration

Leute lebten« (KS/B2/1037). Diesmal wird die Distanz zwischen Samgin und seinen Zuhörern ausdrücklich bedeutender als die Angst eingeschätzt, »er könnte sich unter den Leuten verlieren, an deren Nichtigkeit er nicht zweifelte« (KS/B2/1037). Diese Angst, sich in den Salongesprächen unter Seinesgleichen zu verlieren, weicht der Erkenntnis, dass das Sprechen und insbesondere solche rhetorischen Verfahren, die das Gesagte aphoristisch zuspitzen oder verallgemeinern, der Verdrängung des traumatischen Erlebnisses dienen. Sie stehen im Zeichen eines Glaubens, man könnte »die Wirklichkeit ändern und bändigen« und werden von Samgin als das Vermögen beschrieben, »sich gegen die Wirklichkeit durch ein fast undurchdringliches Gitter von Worten« abzuzäunen und »über das Entsetzliche der realen Tatsachen hinweg in irgend etwas anderes Entsetzliches hineinzublicken, das sie sich vielleicht nur einbilden oder erfunden haben, um bequemer zu leben« (KS/B2/1037). Diese Fähigkeit, sich mithilfe des Sprechens über die traumatische Wirklichkeit zu erheben, repräsentiert Samgin selbst als Figur, die von der Problematik des Erfindens des eigenen Selbst im Medium des Wortes von Kindheit an begleitet wird. Indem der Protagonist bemerkt, »daß alles, was er gesehen hatte, umso weniger furchtbar für ihn wurde, je schöner er es darstellte« (KS/B2/1037-1038), löst er sich von diesem Muster, der in der Folge auf zwei weitere Figuren aus dem Umkreis von Samgins Frau – Bragin und Rjachin – delegiert wird. Der Erste will den Eindruck erwecken, dass er über alles gut unterrichtet sei, und verbreitet zu diesem Zweck wahre und falsche Gerüchte. »Noch dümmer« ist jedoch der Zweite, der sich laut Samgin »das Ziel gesetzt hatte, ›Beruhigung in die Gesellschaft zu tragen‹« und deshalb Anekdoten erzählt, welche die Massenunruhen als harmlos darstellen (KS/B2/1081-1082). Samgin, der sich als Redner dieser Täuschungsmanövers bewusst wird, wird daraufhin mit der Strategie der Bolschewiki konfrontiert, die sich betont schlicht äußern. Samgin verfasst für ihre Zeitung mehrere publizistische Aufsätze, doch kritisiert die Redakteurin Spiwak seinen Aufsatz über den »blutigen Sonntag« als »eine erschreckende Sache für Spießer«; der Bolschewik Kornew will daraus »die Ausschmückungen« streichen und publizieren (KS/B2/1038); als Samgin anlässlich des Todes von Kornew selbst ein Flugblatt verfasst, hält ihn Spiwak nur im »kritischen Teil« für geglückt (KS/B2/1078). Die Vereinfachung wird als eine rhetorische Strategie der Bolschewiki auch durch den kurzen Auftritt Kutusows kenntlich gemacht, der die Ereignisse des »blutigen Sonntags« als eine sinnvolle Etappe auf dem Weg der Vorbereitung der russischen Revolution resümiert: [Kutusow]: »Die Lektion ist teuer bezahlt. Aber das, was sie lehren muß, hätten wir durch mündliche oder schriftliche Propaganda selbst in zehn Jahren nicht erreicht. Und im Lauf von zehn Jahren wären weit mehr – und höchst wertvolle – Arbeiter zugrunde gegangen als in zwei Tagen…« »In Riga sind auch viele erschossen worden«, erinnerte Dunajew. Kutusow sah ihm ins Gesicht, strich sich über den Bart und sagte halblaut: »Gewehre sind ja dazu da, um auf Menschen zu schießen. Gewehre werden aber bekanntlich von Arbeitern hergestellt.« Dunajews Gesicht erblühte wieder zu dem Lachen, das Klim schon kannte. »Ganz einfach!« sagte er. (KS/B2/1041)

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Historische Zeit im Narrativ

Das Gespräch zwischen Kutusow und seinem Anhänger Dunajew vermittelt eine einfache Botschaft, die das Gesicht des Letzteren zum » Lachen erblüh[en]« lässt. Samgin kennt dieses Lachen, das die Einfachheit von Kutusows Antworten hervorruft. Kutusows Lösung, die dem Massentod den Sinn einer »teueren Lektion« auf dem Weg zum Regierungsumsturz verleiht, wird im Roman durchaus kritisch bewertet. Samgin wird zum Mitläufer der bolschewistischen Partei aus der Überzeugung heraus, dass »die Revolution notwendig« sei, »um die Revolutionäre zu vernichten« (KS/B2/1038). Dabei meint Samgin wohl nicht nur die konkrete Partei der Bolschewiki, sondern alle Parteien, die den Wechsel der existierenden Regierung und eine gesellschaftliche Reform anstreben. So läuft er bei einer Kundgebung der jungen Bolschewiki tatsächlich auch mit, weil er zufällig in die gleiche Richtung muss. Es ist interessant, dass Samgin sich an dieser Stelle verdoppelt: An seine Seite tritt der Rechtsanwalt Prawdin, der Samgin in die Manifestation hineinzieht. Angesichts der drohenden Gewaltauseinandersetzung mit den Vertretern der rechtkonservativen Partei schleicht sich Prawdin unter dem Vorwand, er müsse sich Schuhe binden, in einen Laden weg und zerrt Samgin mit nach sich. Durch diese Aufspaltung wird das Mitläufertum eines Intellektuellen, der die Beteiligung an der Demonstration für seine moralische Pflicht erachtet, jedoch rasch verschwindet, wenn die Lage bedenklich wird, an eine andere Figur als Samgin delegiert. Eine weitere Alternative, die sich für Samgin aus dem Erfolg seiner Reden ergibt, wird als »unbestimmte Hoffnung auf einen leitenden Platz [im] Leben« (KS/B2/1039) beschrieben. Sie verbindet sich mit der Vision von dem Zusammenschluss der gesamten »Intelligenz« und scheitert am »keuschen Wunsch, für seine Hoffnungen und Träume keine Formel zu suchen« (KS/B2/1044). Diese Handlungsoption wird relativ schnell fallen gelassen, bleibt »unbestimmt«, findet »keine Formel« und wird auf andere Figuren übertragen. An einer späteren Stelle wird Samgin in der Zeitung auf den Bericht über die Gründung einer liberalen Partei stoßen, in deren Vorstand sein ehemaliger Patron, ein bekannter Jurist aufgenommen wird. An dieser Stelle leuchtet Samgins Vision einer Partei »erfahrene[r] Politiker, talentierte[r] Menschen« kurz auf und wird von den erschreckenden Bildern der »sozialen Revolution« verdrängt (KS/B2/1095), von denen ihn die Hoffnungen auf die neue Partei offensichtlich nicht befreien können. Samgin löst sich außerdem von einem weiteren Muster, das eine alternative Haltung gegenüber dem traumatischen Geschehen bieten könnte. Es hängt mit der Figur des Historiker Koslow zusammen, der in seiner erzählerischen Darbietung der Stadtgeschichte den Alltag des Spießbürgers verklärte. Samgin beobachtet, wie der Historiker die Demonstration der rechtsradikalen Partei anführt, und stellt ihm die Taktik von Spießbürgern entgegen, die sich kaum auf die Straße wagen und sich hinter geschlossenen Türen bewaffnen: Auch war es kränkend, daß die von Koslow so schön geschilderten Menschen der schmalen Gassen, der stillen Häuschen, Menschen, deren standfestes Leben Samgin einstmals bewundert hatte, sich jetzt wie gleichgültige Zuschauer gefährlicher Wahnsinnstaten benahmen. Sie saßen daheim, die Tore verschlossen, und luden Gewehre mit Schrott, als wollten sie Krähen schießen, während ein mit Regenschirm bewaff-

4. Narration

neter siebzigjähriger alter Mann […] auf die Straße gegangen [war], um für [seine] Überzeugung einzustehen. (KS/B2/1064) Bei der Beobachtung der Straßenkämpfe, in denen Rechtsradikale auf die Bolschewiki treffen, empört Samgin nicht so sehr der unmittelbare Ausbruch der sozialen Gewalt wie die Tatsache, dass beide Lager ungeachtet ihrer Unterschiede eine relativ kleine Masse darstellen. Dass eine Zeitung die Zahl der Rechtsradikalen nachträglich pathetisch auf Tausende beziffert, bezeichnet Samgin ausdrücklich als Lüge (KS/B2/1078). Der »graue Tag« der Demonstration trifft Samgin »persönlich tiefer« als der 9. Januar, da an ihm so etwas wie der Wunsch des Protagonisten nach dem alltäglichen Leben jenseits der Politik scheitert. Samgin, der sich bisher für die Poesie des »kleinen Lebens« und der »sauberen Häuser« begeisterte, fühlt sich verwirrt: Halunken, beschimpfte Samgin die Spießbürger und hatte das unbestimmte Gefühl, daß ein Widerspruch darin liege, wenn ihr Verhalten ihn kränkte. Er fühlte sich überhaupt verwirrt, zerschlagen, schwach. (KS/B2/1064) Der Protagonist, der keine Überzeugungen hat, sich aber dem ideologischen Kampf nicht entziehen kann, verabschiedet sich vom seinem Traum von der Idylle des Alltags. Die Loslösung von diesem Denkmuster führt zu einem tiefen Zwiespalt des Protagonisten, der sich gekränkt und verwirrt vorkommt. Der Sinnverlust wird bereits während der Demonstration mit den Worten »Sinnlos, sinnlos« (KS/B2/1062) angedeutet und verursacht eine Entfremdung Samgins von seinen eigenen Gedanken, die auf der bildlichen Ebene zum Ausdruck gebracht wird: »[…] er dachte und sah seine Gedanken als eine Staubschicht an der Oberfläche dunklen, kalten Wassers, ein solches Häutchen ist nach windigen Tagen manchmal auf Teichen zu sehen.« (KS/B2/1065) Seine Eindrücke werden von Samgin als »trübe Flecken menschlicher Gesichter, allerhand Worte, Schreie und Gesten – de[n] Kehricht eines stürmischen Tages« (KS/B2/1065) wahrgenommen, die nicht verarbeitet werden können. Eine weitere Alternative wird am »fröhlichen Tag der Verfassung« vorgestellt, an dem Samgin zusammen mit Ljutow einer Versammlung im Restaurant beiwohnt. Die Freude über die Verkündung der Verfassung, in der Wort- und Versammlungsfreiheit gesetzlich festgehalten werden, wird durch den Gesang von Fjodor Schaljapin unterbrochen. An dieser Stelle werden die Musik und das Singen erneut zu einer Metapher politischer Prozesse. Das Lied »Dubinuschka« verleiht Schalajpins Figur in der Wahrnehmung Samgins monumentale Züge: Der Sänger, der einen »steingrauen Rock« trägt, erhebt sich über den Menschen »wie ein Monument« und scheint mit seinem Gesang noch in die Höhe zu wachsen: Jetzt sah er Fjodor Schaljapin auf einem Tisch stehen, über den Menschen, wie ein Monument. […] Es lag etwas Unheimliches darin, daß dieser Mensch gewöhnlich war wie alle hier im Schein der Lichter, im Rauch; das Unheimliche war, daß er ebenso einfach war wie alle Menschen und – ihnen doch nicht glich. Sein Gesicht erregte mehr Furcht als alle Gesichter, die er auf der Bühne gezeigt hatte. Er sang und – wuchs. Jetzt hatte er sich bis zum tiefsten Wesen seiner Seele demaskiert, und dieses Wesen war Rache am Zaren, an den Herren, brüllende, erbarmungslose Rache eines gigantischen

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Geschöpfes. […] Samgin setzte sich, griff sich an den Kopf und bedeckte die Ohren. (KS/B2/1102) Die Stimmungsmodulationen des Sängers, der das berühmte Volkslied »Dubinuschka« singt, erwecken den Eindruck eines »gigantischen Geschöpfes«, das sich zur »Rache am Zaren, an den Herren« erhebt.382 Der Mensch Schlajpin mit seinem gewöhnlichen Aussehen demaskiert sich beim Singen, das »tiefste Wesen seiner Seele« wird dabei als ein zur Rache aufbegehrendes Geschöpf spürbar. Die Versammelten jubeln dem Lied entgegen; laut Ljutow sind es »Selbstmörder«, die sich selbst »die Totenmesse« lesen (KS/B2/1102). Das selbstmörderische Heraufbeschwören der Revolution, die die Versammelten kaum beherrschen können, bestätigt Ljutow in seinem nationalen Stolz: »Wer kann das? Rußland kann das!« (KS/B2/1102). Im Gegensatz dazu empfindet Samgin keinen Stolz, sondern ein tiefes »Mitleid mit diesen Menschen, die nicht wußten oder vergessen hatten, daß es tausendköpfige Menschenmengen gibt, daß sie durch die Straßen Moskaus gehen und alles darin mit den Augen Fremder ansehen« (KS/B2/1103). Es ist bemerkenswert, dass die fremden Horden, die als »gigantisches Wesen«, die »tausendköpfige Menschenmenge«, die die Stadt »mit den Augen Fremder ansehen«, keine Kriegsfeinde, sondern die Bevölkerung des gleichen Landes darstellen. Ihre Fremdartigkeit rührt vom Unterschied in der Bildung her; Armut wird dabei nicht als ökonomischer Faktor, sondern als Entfremdung von der Kultur verstanden. In Samgins Vision wird die Stadt als Ort der Zivilisation von der fremden Masse bedroht; bereits an einer früheren Stelle, als Inokow den Wunsch äußert, man sollte die aufständischen Soldaten am »blutigen Sonntag« in die Stadt loslassen und sie demolieren lassen, fragt sich Samgin: »Wozu ist es notwendig, daß Petersburg demoliert wird?« (KS/B2/1054). Da er weder der Revolutionsbegeisterung noch dem nationalen Stolz verfällt, löst die Vorausahnung, dass die in der Stadt versammelten intellektuellen Kräfte dem Ansturm der Massen zum Opfer fallen werden, eine Reihe weiterer Alpträume und Schreckensvisionen aus, die Samgin während des Moskauer Aufstandes verfolgen. Samgin durchläuft also sämtliche Stationen, an denen verschiedene Verhaltensmuster der Intellektuellen als Plausibilisierungsschemata kenntlich gemacht werden, um die kollektiven traumatischen Erlebnisse einordnen. Der Protagonist löst sich von diesen Mustern durch die reflexive Distanz, die in der Erzählung aufgebaut wird. Die fortschreitende Loslösung von dem Muster, das das Konzept des Protagonisten in seinen Anfängen prägte, kommt zum einen in der steigenden Widersprüchlichkeit im Verhalten des Protagonisten zum Vorschein und wird zum anderen als Ich- und Wirklichkeitsverlust inszeniert, den Samgin vor dem Hintergrund seiner Eindrücke erlebt: Samgin fühlte, daß die Eindrücke der letzten Monate ihn mit einer Kraft von sich selbst losgerissen hatten, der er nicht widerstehen konnte. War das gut oder schlimm? Manchmal schien es ihm schlimm. Gapon war zweifellos ein unglückliches Opfer der Unterordnung unter die Wirklichkeit, der Berauschung an ihr. Der Zar aber stand außerhalb der Wirklichkeit und war vermutlich auch unglücklich… (KS/B2/1069) 382 Vgl. zu den drei Singszenen von Dubinuschka bei Синявский: О художественной структуре, S. 145-147.

4. Narration

Auffällig ist der Begriff der Wirklichkeit, den Samgin in der zitierten Passage entwickelt. Gapon, den Samgin in der Wirklichkeit gefangen sieht, stellt für ihn ein Opfer der Berauschung dar, die sich als die Berauschung an der eigenen Rhetorik verstehen lässt. Gapon, der bei seinen früheren Auftritten im Roman ausdrücklich als ein kaum zurechnungsfähiger, von dem Klang seiner eigenen Worte verzauberter Redner dargestellt wird, ist in dieser Realität der Worte gefangen; hingegen steht der Zar als politische Figur »außerhalb der Wirklichkeit«. Die Entfremdung Samgin von der Wirklichkeit der Worte wird an einer anderen Stelle anhand der Selbstbetrachtung des Protagonisten im Spiegel zum Ausdruck gebracht: Er zündete sich eine Zigarette an und blies Rauchstrahlen gegen den Spiegel, der leicht gräuliche Rauch verwischte für Sekunden das Gesicht, indem er sich gekräuselt auf dem Glas ausbreitete, dann zeigte er wieder die toten Brillenkreislein, die knorplige Nase, die schmalen Lippen und das spitze Pinselchen des dunklen Bartes. »Nun, was ist?« fragte Samgin, fuhr zusammen und sah sich um; es war unangenehm, daß er ziemlich laut und mit Erbitterung gefragt hatte. (KS/B2/1083) In dieser für den Roman insgesamt eher seltenen Darstellung des Äußeren von Samgin, der das Verschwinden und das Wiedererscheinen seines Gesichts auf der Oberfläche des Spiegels beobachtet, wird die erzählerische Transformation der Figur von Samgin, die am Ende des zweiten Buch stattfindet, auf der bildlichen Ebene extrapoliert: So wie das Gesicht Samgins vom Rauch verhüllt wird und verschwindet, wird sein Konzept in der Erzählung aufgelöst und aus der Wirklichkeit des gesprochenen und geschriebenen Wortes verdrängt, um in der Erzählung in einer neuen Qualität aufzutauchen. Dabei wird die Psyche des Protagonisten auf das gesamte Geschehen im Land projiziert, er nimmt alles in sich auf, verliert sich in Widersprüchen. Bei einer Demonstrationsszenen erlebt Samgin einen stürmischen Stimmungswechsel. Als es den Demonstrierenden gelingt, einen Polizisten zu entwaffnen, empfindet er »Dankbarkeit, Achtung vor den Leuten, die hätten töten können, jedoch nicht getötet hatten« (KS/B2/1088). Nach dieser bescheidenen Freude betrachtet Samgin den Kampf der Menge mit den Kosaken und schreit plötzlich laut, ohne dass ihn jemand im allgemeinen Lärm hört, die Worte »Untersteht euch, ihr Wilden!« (KS/B2/1089). Ist der letzte Kampf auf den Hausdächern vorbei, so hat er das Gefühl, »bei dem allen war nichts Furchtbares, doch es war dabei etwas anderes, das er nicht begreifen konnte« (KS/B2/1092). Schließlich endet das Ganze in einem Vergleich des Geschehens mit einer Theateraufführung, die Samgin versöhnlich stimmt: Im Allgemeinen empfand er die Befriedigung eines Menschen, der eine Theaterprobe gesehen hat und nun überzeugt ist, daß das Stück keine Stellen enthält, die auf die Nerven gehen, und seine Aufführung durchaus nicht übel ausfallen wird. (KS/B2/10921093) Bedenkt man, dass dieser Satz einen Schlussstrich unter die Ereignisse zieht, als der Protagonist einen regen Stimmungswechsel und sogar einen affektiven Ausbruch erlebt, so muss man die innere Konsistenz von Samgin als Figur anzweifeln. Seine Auflösung wird als anwachsende Unzufriedenheit Samgins mit sich selbst und als Selbstent-

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Historische Zeit im Narrativ

fremdung thematisiert, sie äußert sich in der Erzählung zusätzlich im stetigen Wechsel der Gefühlszustände und im Fehlen einer bestimmten Perspektive auf die Ereignisse. Diese Entwicklung endet in der Etablierung einer flächendeckenden Übereinstimmung zwischen der Psyche Samgins und dem Land: Letzten Endes war er vollkommen überzeugt, daß alles, was im Lande geschah, ihm den Weg zu sich selbst säubere. Sein ganzes Leben lang hatte diese verdammte phantastische Wirklichkeit ihn gehindert, sich selbst zu finden, indem sie in ihn hineinsickerte und ihn zwang, über sie nachzudenken, ihm jedoch nicht erlaubte, als ein von ihren Gewalttaten freier Mensch über ihr zu stehen. (KS/B2/1094) Die Befreiung des Protagonisten aus den Zwängen der historischen Zeit als der »verdammten phantastischen Wirklichkeit« der ideologischen Debatten findet in der Erzählung statt, indem er von den Aufgaben einer distanzierten Betrachtung befreit wird und die kollektiv signifikanten Ereignisse im Land direkt, ohne die vermittelnde Struktur der historischen Zeit, in seine Psyche aufnimmt. Von den Versuchen, diese Ereignisse logisch zu ordnen, ihnen einen anderen Sinn als den des traumatischen Ausbruchs der Feindschaft, »die in [Menschen] herangereift ist« (KS/B2/1080), zu verleihen, löst sich Samgin bei seiner Beobachtung des intellektuellen Milieus, die gleichzeitig eine Selbstbeobachtung darstellt. Die Explikation der Feindschaft aus dem Bereich der ideologischen Auseinandersetzungen in den Bereich der körperlichen Gewalt soll ein Ende der »phantastischen« Wirklichkeit legen, in der sich Samgin gefangen sieht. Als langjähriger Beobachter dieser Wirklichkeit wird sich Samgin seiner Müdigkeit bewusst, die von ihm gleichsam als Müdigkeit des ganzen Landes interpretiert wird: Als Samgin im Bett lag, beobachtete er, wie der Rauch seiner Zigarette das Halbdunkel des Zimmers verdichtete, wie die Flamme der Kerze blühte, und dachte daran, daß Moskau, Rußland in diesen Jahren sozialen Terrors […] natürlich ermüdet sei. Ermüdet war auch er, Klim Samgin, von allem, was er gesehen, gehört und was er gelesen hatte, wobei er sich gezwungen hatte, keine Wortfäden abreißen zu lassen, die ihn mit Menschen eines bestimmten »Systems von Sätzen« verbanden und zu ihnen hinzogen. Ja, er war auch ermüdet, und jetzt schien ihm, er sei in einer irgendwie erhabenen, symbolischen Art und Weise ermüdet; er trage in sich nicht nur seine eigene langjährige Müdigkeit, sondern die jahrhundertealte Müdigkeit aller Opfer der russischen Geschichte, aller, die gewaltsam an ihren »Zuchthauskarren« geschmiedet sind. Und nun begann der Vorabend der Ruhe, der wirkliche »Anfang vom Ende«. (KS/B2/1113) Die Müdigkeit des Landes nach den Jahren des »sozialen Terrors« betrachtet Samgin analog zu seiner eigenen Müdigkeit davon, »keine Wortfäden abreißen zu lassen«, die »ihn mit Menschen eines bestimmten ›Systems von Sätzen‹ verbanden«. Die intellektuelle Anstrengung, das Gespräch mit verschiedenen Gesprächspartnern aufrechtzuerhalten, betrachtet Samgin im Zeichen der eigenen »Erhabenheit« und identifiziert sich mit allen Opfern der russischen Geschichte. Diejenigen, die ihr Leben der Revolutionsidee opfern, sind »gewaltsam« an den »Zuchthauskarren« der russischen Geschichte »geschmiedet« und können am »Anfang vom Ende« davon befreit werden.

4. Narration

Mit dem Verkünden der Verfassung sollen die Rechte, die bisher nur in den polemischen Gesprächen der Intellektuellen existierten, gesetzlich festgelegt werden. Die Hoffnung auf eine parlamentarische Lösung der internen Spannungen im Land bietet eine weitere Option für Samgin; zu ihrem Sinnbild wird die Manifestation beim Begräbnis des Bolschewiken Nikolaj Bauman. Diese Szene, die das erste Buch des Romans abschließt, wurde von Ljudmila Spiridonova als der Höhepunkt gedeutet, in dem die Evolution des Bildes der Menschenmasse kulminiert. Laut Spiridonova streicht Gorʹkij das Wort »Menge« und ersetzt es durch »Masse«, wodurch er seiner Darstellung den Eindruck der größeren Einheitlichkeit verleihen will. Außerdem erfindet er die Formulierung »die tragische Parade der Massen« und verwendet zur Beschreibung der Manifestation den Vergleich mit dem Leviathan.383 Doch indem das Motiv der Masse in der Episode variiert wird, ist grundsätzlich anzuzweifeln, dass es – wie Spiridonova behauptet – das Bild der revolutionären Massen zum Ausdruck bringt. Es geht dabei weniger um die Metaphorik der Einheit wie um die Stimmung, welche Samgin in der Menschenmenge auffangen will. Sie psychologisiert die Masse und positioniert sie als einen kollektiven Akteur im Horizont der historischen Zeit. Die Qualität der Stimmung, von der die Menschenmenge geleitet wird, wird während der Arbeiterdemonstration am »blutigen Sonntag« als Wärme, während der Versammlung im Saal des »Moskauer Hofs« bei Schalajpins Gesang hingegen als suizidale Stimmung beschrieben. Die Ironie der Szene des Begräbnisses von Bauman besteht darin, dass der tausendfüßige Leviathan in der »inneren Harmonie und Übereinstimmung« die Idee der Revolution niederstampft. Diese Stimmung der Menschenmasse spürt Samgin aufmerksam auf und bekommt einen »humoristischen« Einfall: »So ist es: hier dankt man schweigend und feierlich einem Menschen dafür, daß er gestorben ist…« (KS/B2/1115) Obwohl Samgin diesen unschicklichen Gedanken, der den politischen Agitator Bauman in einem äußerst komischen Licht erscheinen lässt, alsbald durch eine neue pathetische Formulierung verdrängt, kommt er in Gestalt fremder Worte erneut auf ihn zu: Samgin fühlte, daß jeder einzelne von ihnen den gleichen Gedanken, ein und dasselbe Wort in sich trug, ein treffendes Wörtchen, das stets, in jeder Menschenmenge die Stimmung genau beschreibt. Er wartete beharrlich auf dieses Wort, und es wurde ausgesprochen. Es war die Antwort auf die Frage einer dicken, rotwangigen Frau, die sich aus der Tür eines Ladens herauslehnte; sie hatte die runden blauen Äugelchen erstaunt aufgerissen und fragte laut: »Ach du meine Güte, wer wird denn da beerdigt?« »Die Revolution, Tantchen«, wurde ihr ruhig und laut geantwortet. (KS/B2/1116) Die Feierlichkeit, mit der die Totenprozession begangen wird, bekommt in diesem Satz eine treffende Erklärung. Als »Beerdigung der Revolution« (KS/B2/1117) wird das Begräbnis von Intellektuellen gefeiert, die eine allgemeine Ermüdung angesichts der politischen Unruhen (»die Anarchie, die Pogrome!« KS/B2/1116) im Land empfinden. Diese Befriedigung verleiht der Kundgebung einen paradoxen Charakter, der in Samgins Gedanken deutlich zum Vorschein tritt, als der Protagonist anfängt, Formulierungen für einen Zeittungsaufsatz zu sammeln: 383 Спиридонова-Евстигнеева: Движение текста, S. 114.

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Historische Zeit im Narrativ

Ja, man trägt das Vergangene, das Überholte zu Grabe. Diese erstaunliche Prozession ist eine Apotheose der gesellschaftlichen Bewegung. Und dieses schleifende Geräusch ist nicht das mechanische Werk von Füßen, sondern das äußerst vernünftige Werk der Geschichte. (KS/B2/1117) Dass »eine Apotheose der gesellschaftlichen Bewegung« darauf hinausläuft, dass die Idee der Revolution mit der »schleifenden« Bewegung der Füße »äußerst vernünftig« niedergetreten wird, ist als sarkastische Botschaft in der zitierten Passage kaum zu überhören. Bemerkenswert ist außerdem, dass Samgin an dieser Stelle erneut auf eine »beruhigende« rhetorische Strategie zurückgreift und dabei wohl ein weiteres Verhaltensmuster der russischen Intellektuellen demonstriert, die sich durch eine bestimmte Argumentation von traumatischen Erfahrungen kollektiver Unruhe befreien. Nachdem Samgin diese Formulierungen gefunden hat, fühlt er sich »vollständig frei von allen Ängsten und Beunruhigungen« (KS/B2/1121). Diese ironisch zusammengefasste Sachlage schließt den Bericht über die Irrungen der Intellektuellen auf der Suche nach einer Idee für die russische Revolution ab; die »Intelligenz« erscheint weitgehend vereint in dem Wunsch, die Revolution zu begraben. Die Erwartung, dass die Revolution nun tatsächlich beendet ist, wird jedoch am Anfang des dritten Buchs mit dem Ausbruch des Moskauer Aufstandes enttäuscht. V.S. Voronin hat zu Recht auf den Widerspruch in der Positionierung des Protagonisten gegenüber der Revolution am Ende des zweiten und am Anfang des dritten Buchs hingewiesen.384 Die Zufriedenheit Samgins weicht schlagartig dem Wunsch, die Leidenschaften [mögen] aufflammen, mag alles zum Teufel gehen, all diese Häuschen, kleinen Wohnungen, die vollgestopft sich mit Sich-um-das-Volk-Sorgenden, mit Buchstabengelehrten, Kritikern, Analytikern. (KS/B3/10) Die Befreiung von der »phantastischen Wirklichkeit«, die sich der Protagonist vom Aufstand erhofft, bringt ihn erneut in die Nähe der Anführer des Aufstandes, der Partei der Bolschewiki. Samgin, der sich im Zuge der traumatischen Erlebnisse des »blutigen Sonntags« von allen alternativen Haltungen in Bezug auf das Ereignis der Revolution befreit hat, wird auf eine Substanz reduziert, die im weiteren Verlauf der Romanhandlung sein einziges Ich werden soll. In seiner Wohnung zwischen den Barrikaden erlebt er ein Geschehen qualitativ anderen Charakters als die Wirklichkeit von Salonkonversationen. Diesen Weg Samgins »zur letzten Freiheit« (KS/B3/33) betrachte ich zum Abschluss meiner Romananalyse.

4.2.4.3

Der Verstand zwischen Moral und Schönheit

Wie ich oben dargestellt habe, vollzieht sich die Loslösung Samgins von den Elementen des alten Figurenkonzeptes durch die Reflexion der Argumentations- und Schreibtaktiken der Intellektuellen. Das Sprechen und Schreiben geraten dabei als Mittel der Realitätsbewältigung in den Verdacht der Realitätsflucht, wenn einerseits zu schön und andererseits zu schlicht formuliert wird. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein weites Feld der literarischen Produktion; dieses wird an dieser Stelle im Roman als eine

384 Воронин: Фантазия и абсурд, S. 389-390.

4. Narration

Schnittstelle zwischen der rational-moralischen Durchleuchtung des Geschehens und dem sinnlichen Eindruck, der das Gesamtbild in seiner Schönheit erfasst, reflektiert. Um diese Wende zu verstehen, muss man erneut zum Abschluss des zweiten Buchs zurückkehren, wo sie zunächst angedeutet wird. Dort wird eine überraschende, von dem politischen Geschehen zunächst weit entfernt liegende Problematik präsentiert. Sie läuft auf die Kritik des Verstandes als Grundlage des literarischen Schreibens hinaus, bei der die Verwirrung des Verstandes zwischen der Moral und der Schönheit reflektiert wird. Wie ich unten ausführe, wird diese Kritik in der Beziehung zwischen Samgin und zwei weiteren Figuren – Samgins Jugendfreunden Dronow und Inokow – aufgenommen und in den Szenen des Moskauer Aufstandes in der Beobachtung des Geschehens, seiner Theatralik und seiner Moral weitergeführt. Am Ende dieser Entwicklung stehen ein anderer Protagonist und eine andere Handlung, die in der Geschichte des Verhältnisses zwischen Samgin und der Sektiererin Marina Zotowa weitergeführt werden soll. Das literarische Schreiben als Bewältigungsstrategie Der Anfang dieser Reflexion wird in den Szenen des Gefängnisaufenthaltes von Samgin gelegt. Während Samgin dem Gesang der gefangenen Kriminellen lauscht, denkt er über die Verwirrung des Verstandes durch die Schönheit nach: Vielleicht sind das Mörder oder mindestens Diebe, aber sie singen schön, dachte Samgin […]. Diese Mischung von Gutem und Bösem in einem Menschen verwirrt den Verstand sehr… […] Tolstoi hat recht, wenn er dem Verstand nicht traut, ihm feind ist. Dostojewskij hat auch den Verstand nicht gemocht. Das ist überhaupt für Russen charakteristisch… (KS/B2/1048-1049) Wenn Verbrecher, die Mörder oder Diebe sein mögen, schön singen, gerät der Verstand in den Zwiespalt zwischen dem Guten und dem Bösen. Die Schönheit des Gesanges hat die Kraft, die Welt jenseits der moralischen Kategorien zu verklären, wobei sich der Verstand als keine verlässliche Instanz der Urteilsbildung erweist. Nicht zufällig dient dabei die Literatur als Fallstudie, denn die Stelle verweist auf die zentrale poetologische Problematik der zweiten Hälfte des Romans. Nachdem die Ereignisse der ersten russischen Revolution abklingen, wird Samgin der Frage nach dem Verhältnis der russischen Literatur zum Verstand in seiner Schrift über »Russische Kunst und Intellekt: Gogol, Dostoevskij und Tolstoi in ihrem Verhältnis zum Verstand« (KS/B3/285-286) nachgehen. Literatur gerät in einen Widerspruch zum Verstand, weil sie in ihrem universellen Anspruch der Wirklichkeit mit ihren Diskrepanzen verpflichtet ist. Armin Knigge hat auf das »Modell der Widersprüchlichkeit« als das führende Paradigma der GorʹkijForschung hingewiesen, die dem Autor permanent widersprüchliches Verhalten und Denken attestiert. Knigge vermutet zu Recht, dass der Sinn dieser Widersprüche wahrscheinlich im »Modell der Widersprüchlichkeit« als einer Verweigerung liegt, sich »rationalen Entscheidungen« zu unterwerfen.385 Aus dieser Perspektive müsste man in der 385 Книгге, Армин: »Новый или ›вечный‹ Горький? О проблемах интерпретации личности и творчества писателя«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-2002. Материалы международ-

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Historische Zeit im Narrativ

Gorʹkij-Forschung wohl weniger die Widersprüchlichkeit des Menschen Gorʹkijs beklagen wie die Ambivalenz seiner Betrachtungsweise der Wirklichkeit hochhalten. Der Verstand, der zwischen der Moral und der Schönheit gefangen ist, bietet die Grundlage für die Erzählweise, bei der das Geschehen in seinem Ganzen, in seinen Widersprüchen und Paradoxien darstellt werden soll. Es findet eine Verschiebung des Blickwinkels statt: Nachdem das Erklärungspotenzial der historischen Zeit ausgeschöpft ist, wird der Protagonist aus der Situation der permanenten Bedrohung durch die kollektive Gedankenpraxis erlöst und muss das Geschehen im Lande als Ganzes ohne kritische Distanz in sich aufnehmen. In der Erzählung wird dabei verstärkt das Potenzial der Literatur verhandelt, den Widerspruch zwischen der Moral und der Schönheit im sprachlich ausgeformten Bild des Geschehens zu schlichten und als Orientierungs- und Bewältigungsstrategie des kollektiven Geschehens zu dienen. Diese Problematik verdichtet sich rund um die Gefängnisepisode Samgins und wird anhand eines Detektivsujets entfaltet und zugespitzt. Kurz nach dem Abend, als er über die Verwirrung des Verstandes durch die Schönheit des Gesanges sinniert, erfährt Samgin von der Ermordung des Oberst der Geheimnispolizei Wassiljew. Auf seine Frage hin, wer der Täter sei, klopft sein gut unterrichteter Nachbar durch die Wand: »Begreiflich. Nicht erwischt.« (KS/B2/1049) Vermutlich kennt er den Täter, gibt aber Samgin keinen Namen bekannt. Des Mordes werden auch die zwei Jugendfreude Samgins – der Zeitungsreporter Dronow und der Schriftsteller Inokow – verdächtigt; nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis führt Samgin mit den beiden Freunden Gespräche, bei denen sie die eigene Schreibpraxis kommentieren. Sehen wir uns diese komplexe, verschlüsselte Episode etwas detaillierter an. Nach dem Bericht über den Mord erinnert sich Samgin spontan an einen Spaziergang mit Inokow, bei dem beide eine alte Ratte gesehen haben. Inokow hielt Samgin davon ab, die Ratte mit einem Stück Ziegel zu erschlagen. »Einen Menschen aber kann Inokow töten«, denkt Samgin dabei (KS/B2/1050). Diese Erinnerung lenkt den Verdacht auf Inokow, wobei die Gründe für das Verbrechen unklar bleiben. Als Iwan Dronow im Gefängnis erscheint, kommt Samgin nicht auf den Verdacht, dass er der Täter sein könnte, und erfährt erst bei seiner Aussprache mit ihm, dass auch er verdächtigt wurde. Bei dem Gespräch verneint Dronow seine Schuld, fragt aber Samgin, ob er es glauben würde, und gibt auf die Verneinung Samgins hin einen geheimnisvollen Satz von sich: »Bei meinen Bekannten hat der Sohn, ein wohlgesitteter kleiner Junge, ein halbes Jahr kleine Geldbeträge gestohlen, sie aber verdächtigten die Dienstboten…« (KS/B2/1077) Diesen Satz interpretiert Samgin als »ein indirektes Geständnis«; die Mordgeschichte bewegt ihn persönlich stark, weil er von Dronow erfährt, dass Wassiljew in Moskau »eine Geliebte in der Partei gehabt« hat. Der Protagonist überzeugt sich dabei, »daß es das Gefühl eines Stiches ins Herz tatsächlich gibt«, denn diese Frau könnte seine ehemalige Geliebte Nikonowa sein (KS/B2/1077). Der ungeklärte Mord bringt also fünf Figuren des Romans – Samgin, Wassiljew, Dronow, Inokow und Nikonowa – in ein Verhältnis zueinander, das sich aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen nicht vollständig aufschließen lässt. »Klim ной конференции »Максим Горький и литературные искания ХХ столетия«, Нижний Новгород: ННГУ 2004, S. 22-34, hier S. 31-32.

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Samgin« ist schließlich kein Detektivroman; Elemente einer Fabel, die »kunstvoll verdunkelt ist« (KS/B2/938), werden hier eingesetzt, um einer abstrakten Auseinandersetzung rund um die Verbindung zwischen Verstand, Moral und Schönheit Dynamik zu verleihen. In der Geschichte der Ermordung von Wassiljew und der Verdächtigung von Inokow und Dronow wird die Schlüsselfrage der ersten zwei Romanbücher, was Menschen zu einer Revolution bewegen könnte, in die Frage nach der Berechtigung zum Töten übersetzt. Diese Problematik lässt sich in Anlehnung an Dostoevskij als Frage auffassen, ob ein Mord an jemandem berechtigt sei, der das Leiden anderer verursacht. Sie ist für das Thema der Revolution insoweit wichtig, als sie die Gewaltanwendung gegenüber dem »Feind« (dem Oberst der Geheimnispolizei) legitimiert. Ein so motivierter Mord kann Dronow wohl kaum zugemutet werden, obwohl er in seinem Gespräch mit Samgin am Rande eines Zugeständnisses balanciert. Dafür kommt vor allem Inokow in Frage, der in den Zügen seines Äußeren und in seiner Biografie, die von Wanderungen quer durch Russland geprägt ist, an Gorʹkij selbst erinnert. Dass Inokow doch »den Oberst Wassiljew niedergeknallt hat« (KS/B3/147), ruft Dronow an einer späteren Stelle Samgin zu. Interessant ist nicht die Tatsache an sich, dass das Alter Ego Gorʹkijs im Roman den Mord begeht; das Besondere an dieser Geschichte ist die Verbindung zwischen der moralischen Frage nach der Berechtigung zum Töten und der Reflexion über die Literatur als das Medium, das Moral mit Schönheit verbindet. Im gleichen Gespräch mit Samgin, in dem es um den Mord an Wassiljew geht, bittet Dronow Samgin um Protektion bei seinem Umzug nach Moskau. Als er auf taube Ohren stößt, wirft er Samgin vor, er sei nichts, »eine Platzpatrone, um Krähen zu verscheuchen!«: »Deine Artikelchen und Rezensionen sind Stroh! Ich aber bin talentiert!« (KS/B2/1074) Sein Talent möchte Dronow anhand einiger bildlicher Vergleiche demonstrieren: Die Kaserne ist ein Geschwür auf der Erde, ein Furunkel – siehst du? Der Baum ist eine Fontäne, die als dicker Strahl aus der Erde springt und in der Kluft zu Tropfen flüssigen Goldes zerfällt. Du siehst das nicht, ich sehe es. Wie? (KS/B2/1075) In der Fähigkeit, bildhafte Vergleiche zu formulieren, sieht Dronow sein schriftstellerisches Talent begründet. Das Schöne und das Hässliche, das von Dronow in der Landschaft entdeckt wird, bietet die Grundlage für die Entfaltung des schöpferischen Potenzials des Wortes. Auch Inokows Stil zeichnet sich durch Bildhaftigkeit aus, so sein Bericht über einen Bahnhofsüberfall durch die aufständischen Soldaten: Das ist großartig, Samgin! Wie ein Orkan: Mit Donner, mit Rauch und mit Geheul kam der Zug auf der Station an, und alle Wagons spien sofort Soldaten aus. Die Soldaten in Krämpfen, wie vergiftete, und sofort brach unflätiges Fluchen los, stöhnte auf, Scheiben klirrten, alles krachte, knarrte – genau als ob sie in Feindesland eingebrochen wären! (KS/B2/1053) Die physiologischen Metaphern wirken im russischen Original noch stärker, so heißt es hier buchstäblich »alle Wagons erbrachen Soldaten« (russ. »все вагоны сразу стошнило солдатами«). Die bildhafte Sprachverwendung verwandelt einen Ausbruch der Gewalt in ein ästhetisch durchgeformtes Ereignis; diese paradoxe Schönheit wird vom

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Schriftsteller Inokow zum Ausdruck gebracht. Im Gegensatz zu Lidija Warawka, die laut Inokow von der Plünderung einer Bahnstation erzählt, »als wäre die Station ihr Gutshof« (KS/B2/1053), will er durch die bildhafte literarische Sprache, die mit einzigartigen Vergleichen angereichert ist, der Schönheit des stürmischen Moments Ausdruck geben. Das Poetische der Gewalt steht dabei keineswegs im Dienste eines politischen Programms. Inokow weist ausdrücklich darauf hin, dass er sich zu keinem politischen Lager bekennt: »Sind sie Sozialrevolutionär?« fragte Samgin. »Nein«, sagte Inokow und schüttelte den Kopf. »Auch zu den Sozialdemokraten zieht es mich nicht. Bolschewiki, Menschewiki – das sagt weder meiner Seele noch meinem Kopf zu. Vermutlich so etwas wie ein Anarchist…« (KS/B2/1052-1053) Das Anarchistische in Inokows Position resultiert nicht aus seinen politischen Überzeugungen, sondern lässt sich als ein künstlerisches Programm begreifen, in dessen Zentrum eine bestimmte Vorstellung von moralischem Verhalten steht. So erzählt er Samgin, dass Menschen in Russland anfangen, den Revolutionär richtig zu verstehen: Er wurde auf der Straße als Revolutionär bezeichnet, als er in einer Prügelei für den Schwächeren eintrat (KS/B2/1052). Versteht man Revolutionär als einen, der sich ritterlich verhält und die Rechte der Schwächeren verteidigt, so bietet die Revolution eine moralische Tat im Dienste des Guten, die man auch dann befürworten kann, wenn man weder den politischen Aktivismus befürwortet noch einen Regierungsumsturz anstrebt. Der Dichter ist zur Aufrichtigkeit verpflichtet, was für Inokow allerdings – wie Samgin erinnert – auch bedeutet, das Schöne zu sehen und zu versprachlichen: In Samgins Erinnerung flammte jetzt gleichsam ein Streichholz auf und beleuchtete einen stillen Abend und am Ende einer Straße, über einem Feld feuerrote, üppige Wolken; er geht mit Inokow ihnen entgegen, und plötzlich kommt wie aus den Wolken; er geht mit Inokow ihnen entgegen, und plötzlich kommt wie aus den Wolken wunderschön ein goldschimmerndes Roß mit schlanken Fesseln angesprengt, auf dem Roß – ein weißer Reiter. In diesem Augenblick rollt ein bärtiger Bauer ein leeres Faß aus einem Tor heraus; das goldene Roß wirft den Kopf hoch, bäumt sich auf und schlägt dann mit den Vorderhufen auf das Kopfpflaster, daß die Funken sprühen, Inokow bleibt stehen und murmelt albern: Aufrichtigkeit…« Dann seufzt er: »Ach, wie schön…« (KS/B2/989-990) Das Bild des weißen Reiters auf einem goldschimmernden Ross wird von Inokow zunächst mit der »Aufrichtigkeit« und dann erst mit Schönheit assoziiert. Es ist bemerkenswert, dass das poetische Bild einen weißen Reiter auf dem Pferd darstellt, der als sinnliche Verkörperung des Kriegers dient und zugleich das Bezwingen der tierischen Natur des Pferdes symbolisiert. Das Schönheitsideal bezieht sich dabei nicht auf die sinnliche Schönheit einer Frau, wie sie oft zum Gegenstand der poetischen Darstellung wird, sondern auf die Einheit des Instinktes und des Verstandes. Die Balance dazwischen ergibt die Möglichkeit einer moralischen Orientierung und wird im Bild der gezähmten Kraft, die Funken aus dem Kopfsteinpflaster schlägt, zum Ausdruck gebracht.

4. Narration

Das Poetische des Aufstandes Diese Kraft des Reiters für den aktiven Kampf bereitzustellen, lässt sich als die Aufgabe der Episoden des Moskauer Aufstandes verstehen. Aus Smirnovas entstehungsgeschichtlicher Studie dieser Textpartie geht hervor, dass die ersten Entwürfe eine Aneinanderreihung loser Szenen darstellen, in denen Samgin sein Haus verlässt, durch die Stadt wandert und keinerlei Verbindung zwischen den Menschen auf den Barrikaden erkennt. Smirnova vermutet, dass diese Szenen auf Gorʹkijs persönliche Erfahrung des Moskauer Aufstandes zurückgehen. Gorʹkij hielt sich Ende 1905 in Moskau auf386 und suchte vermutlich ähnlich wie Samgin die Antwort auf die Frage, was seine Funktion in diesem Geschehen sei: Er fühlte sich von neuem und nun bereits schmerzend scharf betrogen, einsam und dazu verurteilt, über alles nachzudenken. Ist gerade das meine Funktion? fragte er sich. Nach Lamarck schafft die Funktion ein Organ. Das Organ welcher Funktion ist der Mensch, wenn man ihm den Geschlechtstrieb nimmt? Tolstoi hat recht mit seinem Haß gegen den Verstand. (KS/B3/10) Die Kritik des Verstandes, die Samgin zum ersten Mal nach seiner Gefängnisepisode aufnimmt, sieht in ihm ein Organ der Erkenntnis, das in der Isolation vom Geschlechtstrieb fragwürdig wird. Erwähnt wird dabei Lev Tolstoj mit »seinem Haß gegen den Verstand« und der Aufmerksamkeit für die irrationalen Grundlagen des kollektiven Lebens. Diese Annäherung Gorʹkijs an Tolstoj in den Szenen des Moskauer Aufstandes wurde von N.N. Žegalov als stilistische Anleihe interpretiert. Laut Žegalov steht die Darstellung in der »Tradition von Tolstojs Realismus«, da sich Gorʹkij »zurückhaltend«, »fernab der Pathetik« dem Alltag der Aufständischen widmet. »Keine Reden und schöne Gesten« – stattdessen das Bewusstsein der Pflicht und der Todesgefahr, bei der »sich das Wesen von jedem zeigt«.387 Dieser Lektüreeindruck, der das Fehlen des heroischen Pathos hervorhebt, weist auf enttäuschte Lesererwartungen hin, in den Szenen des Aufstandes eine Darbietung nach den Mustern des sowjetischen Realismus zu finden. Gorʹkijs »Zurückhaltung« wird von Žegalov im Zeichen der stilistischen Anleihe durch Tolstoj interpretiert; doch lässt es sich einfacher dadurch erklären, dass die Ereignisse des Moskauer Aufstandes für Gorʹkij als ihren Zeugen keinen finalen Sinn einer heroischen Tat besitzen, sondern eine künstlerische Herausforderung darstellen, das Geschehen mit den Mitteln einer Erzählung zu begreifen. Bei dieser Aufgabe wird Tolstoj deshalb zum Gewährsmann Gorʹkijs, da seine Zweifel an der Fähigkeit des Verstandes, das Geschehen rational zu durchleuchten, zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der spontanen Moral der Aufständischen führen. Der literarische Gang zwischen den Barrikaden in Gorʹkijs Roman dient der moralischen Orientierung in der Situation einer Gewaltanwendung, die nicht durch Affekt oder Vernunftkalkül, sondern durch die Logik kollektiver Prozesse herbeigeführt wird.

386 Смирнова: От романа-хроники к роману-эпопее, S. 91. Zu Gorʹkijs Aufenthalt in Moskau während der geschilderten Ereignisse vgl. Girod: Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin«, S. 45-47. 387 Жегалов, Н.Н.: »Великое, вечно живое… Традиции русской классики в творчестве Горького«, in: Вопросы литературы (1984), S. 53-89, hier S. 85.

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Laut Smirnova wird die lose Kette von Barrikadengängen Samgins, wie sie in den ersten Entwürfen gestaltet wird, durch die Einführung der Figuren von Samgins Jugendfreunden Ljubaša Somowa und Konstantin Makarow als »philosophierenden Helden« erweitert.388 Es ist signifikant, dass beide Figuren dabei explizit die Problematik der Moral ansprechen und ihre eigene Position in einen Kontrast zur Behandlung der gleichen Fragen durch die Organisatoren des Aufstandes, die Bolschewiki stellen. So bezeichnet Samgins Jugendfreund Makarow den Bolschewiken Kutusow, den er unter dem Namen »Borodin« kennt, als einen »mathematisch vereinfachten« und »sphärischen Menschen«: »Wie eine große Kugel – man kann ihn nicht greifen, nicht umfassen« (KS/B3/40). Das Ungreifbare von Kutusow und seinen Mitstreitern besteht für Makarow im fehlenden Verständnis für die Probleme der Moral: Für ihn… ja und für sie überhaupt, gibt es keine Moralprobleme. Sie haben ihre eigene Moral… […] Im Grunde genommen ist das keine Moral, sondern sozusagen ein System biosozialer Hygiene. Möglicherweise haben sie recht, wenn sie sich weit mehr für Menschen halten als ich, du und überhaupt Leute unseres Schlages. Aber mit ihnen vom Menschen, vom Individuum zu sprechen ist ganz zwecklos. Borodin sagte zu mir: »Mensch, das kommt erst später.« − »Wann denn?« − »Wenn der Boden für sein freies Wachstum gepflügt sein wird«. Ein anderer, eine recht griesgrämige Persönlichkeit, sagt: »Den Menschen gibt es noch nicht, sondern nur zutiefst ergebene Diener. Mit diesem Ihrem Menschen«, sagt er, »verdecken Sie das Licht. Mensch, Moral und Gesellschaft, das sind die drei Bäume, hinter denen Sie den Wald nicht sehen«. Das sind Leute, mein Lieber, die sehr gut aufeinander abgestimmt sind. (KS/B3/40) Kutusows »System biosozialer Hygiene« suspendiert die herkömmlichen Moralkategorien bis zum Moment, wenn der »Boden« »gepflügt sein wird«; die Bolschewiki halten sich selbst deshalb »weit mehr für Menschen«, als die anderen Intellektuellen wie Makarow, die als »zutiefst ergebene Diener« im Wald der menschlichen Moral herumirren. Ein Beispiel dafür liefert in der Erzählung Ljubaša Somowa, die laut dem Bolschewiken Alexej Gogin »Volkstümlerveranlagung, christliche Gefühle nicht loswerden« könne (KS/B3/102) und sich, nachdem sie auf einen Angreifer geschossen hatte, in einem Zwiespalt befindet: […] schwatzt bis jetzt dummes Zeug über das Recht zur Tötung bewußt und unbewußt Handelnder. Daraus geht hervor, daß man sie, Ljubascha töten dürfe, denn sie handele bewußt, sie selbst jedoch habe als solche kein Recht, Gesindel zu töten, von dem sie überfallen werde. (KS/B3/102) Der ironische Ton, in dem Alexej über das »Geschwätz« und »Wortgefechte« spricht, die Ljubascha mit seiner Schwester führt, zeichnet ihn als jemand aus, der sich längst über solche Fragestellungen erhaben sieht. In dieser Hinsicht präsentieren die Szenen des Moskauer Aufstandes einen Konflikt zwischen den Bolschewiki als Organisatoren des Aufstandes und den Intellektuellen alten Schlags, die den »veralteten« moralischen Vorstellungen folgen und sich selbst dem Feind ausliefern, indem sie sich – zumindest gedanklich – das Recht auf Gewaltanwendung absprechen. 388 Смирнова: От романа-хроники к роману-эпопее, S. 92-94.

4. Narration

Diese Auseinandersetzung hat jedoch auch eine dritte Seite – die bewaffneten Arbeiter auf den Barrikaden, die auf Regierungssoldaten schießen und versuchen, dies in moralischer Hinsicht spontan, ohne Anlehnung an ein politisches Programm oder an eine Philosophie zu begründen. Mit ihnen wird Samgin in den Szenen des Moskauer Aufstandes auffällig oft konfrontiert und beobachtet sie auf der Barrikade in seinem Hof und in seiner Küche, wo sie verpflegt werden. Die Frage nach der Berechtigung zum Töten wird akut, wenn es um das Schießen auf die anonyme Menge heranrückender Soldaten geht; noch dringlicher stellt sie sich jedoch bei der Gefangennahme von zwei Soldaten und des Polizeiagenten Mitrofanow, die um ihr Leben flehen. Ein Soldat besteht auf seiner rechtmäßigen Freilassung, da er als Soldat von der regierenden Macht mit dem Recht ausgestattet sei, auf die anderen zu schießen, und also seine Pflicht erfülle. Der Junge Lawruschka, der sich den Aufständischen angeschlossen hat, tritt dafür ein, alle umzubringen: »Sie sind viele, wir aber nur eine Handvoll…« (KS/B3/63). Als Samgin diese Worte hört, fühlt »er es kalt unter seiner Haut rieseln« und gibt dem Jungen insoweit Recht, als »man erbarmungslos kämpfen« muss (KS/B3/64). Der erbarmungslose Kampf scheint also moralische Fragestellungen auszuschließen; doch versucht Samgins Hausdienerin, wenigstens den einen Soldaten zu retten, da er harmlos und bloß »dumm« sei. Dabei akzeptiert sie die Notwendigkeit, den zweiten, ihr und Samgin bekannten Soldaten zu töten, da er alle im Falle einer Niederdrückung des Aufstandes an die Polizei verraten würde. Ihre Position begründet sie mit folgenden Worten: »Jedem tut es um sich selbst leid«, sagte sie […] »So ist das Leben.« (KS/B3/65). Solche Versuche, das Töten in einer Art Überlebensmoral zu begründen, finden u.a. in den Gesprächen statt, die sich in Samgins Küche zwischen Samgins Koch und einem Kupferschmied abspielen. Samgin, der diese Gespräche beobachtet, wird zum Zeugen einer Auseinandersetzung um die Fragen der Kampfmoral, die die Aufständischen und ihre Helfer untereinander austragen, und kommt zu der Schlussfolgerung: »In der Tat – ein geheimnisvolles Volk. Ein Volk, das vor allem das Problem der Moral zu lösen versucht. Die Marxisten irren sich sehr…« (KS/B3/67). Die Fragen der Moral können also gerade in der Situation einer direkten Gewaltanwendung nicht suspendiert werden; wenn die bolschewistischen Anführer des Aufstandes hierbei auf eine Leitlinie verzichten, wird die Kampfmoral auf den Barrikaden von den Aufständischen selbst verhandelt, die in einer Reihe moralischer Dispute das eigene und fremde Recht auf das Leben verteidigen und abstreiten.389

389 Neben den Arbeitern auf den Barrikaden reflektiert Samgin in seinen Träumen die andere Seite der ersten russischen Revolution – die Bauernaufstände, die sich als »Ströme schwarzer Lava« über das Land ergießen (KS/B3/32). Die Erforschung von Gorʹkijs Publizistik hat zahlreiche Befunde dazu erbracht, dass er die Grausamkeit der russischen Revolution vor allem durch die Grausamkeit der russischen Bauern erklärte, vgl. Колобаева: »Жизнь Клима Самгина«, S. 290-292, Ревякина: Русские писатели в Сорренто (1924-1933): Диалоги и противостояние, Примочкина, Н.Н.: »Антиномия ›Восток – Запад‹ в мировоззрении и творчестве М. Горького«, in: Известия РАН. Серия литературы и языка (2005), S. 10-21, hier 18ff. Laut Evgenij Dobrenko kritisierte Gorʹkij an der Position der Bolschewiki nicht die »Ideologie«, sondern die Tatsache, dass »sie die tierischen Instinkte des russischen Bauern entfesselten, der das Land mit Blut übergoss und die zarten Wüchse des proletarischen Bewusstsein auszutreten drohte.« (Добренко, Е.А.: »Горький и другие«, in: Новое литературное обозрение 80 (2006), S. 344-353, hier S. 351). Dabei stimmt wohl die These von

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In der Erzählung wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die Handlungen der Aufständischen sich kaum in den Begriffen der marxistischen Lehre verstehen lassen, obwohl die Bolschewiki damit in ihrer Propaganda operieren. Eine Verwirrung des Verstandes liegt für Samgin auf beiden Seiten vor. Zum einen befinden sich die Anführer des Aufstandes als Intellektuelle in einem Widerspruch zur marxistischen Lehre von der »Unerschütterlichkeit der Klassenpsyche«, da sie Interessen einer anderen Klasse vertreten: »Die Arbeiter kann man verstehen, die Kutusows sind unverständlich…« (KS/B3/103). Zum anderen betont Samgin, dass das »Klassenbewußtsein […] nur die Oberschicht der Bourgeoisie« (KS/B3/117) und nicht die Arbeiter besitzen. Die Interaktion zwischen Bolschewiki und Arbeitern beruht also laut Samgin nicht auf einer rationalen Argumentation, sondern auf einem Glauben: »Wenn er die Gesichter dieser Leute ansah, [dachte er], sie seien von einem Glauben an Unmögliches angesteckt, einem Glauben, den er nur als Wahnsinn auffassen konnte« (KS/B3/75-76). Das Errichten von Barrikaden wird von Samgin von Beginn an als eine theatralische Handlung reflektiert, die nicht ernst als Revolution zu begreifen ist: »Sein Verstand klammerte sich hartnäckig an das Unbedeutende, Lächerliche, an alles, was der nächtlichen Arbeit im Dienst des Todes den Anstrich einer Vorstellung von Liebhabern dramatischer Kunst verlieh« (KS/B3/29). Die Analogie mit dem Theater dient Samgin offensichtlich dazu, das Geschehen zu verharmlosen; sie lässt sich aber auch deshalb auf die Ereignisse des Moskauer Aufstandes übertragen, weil die vorwiegend szenische Erzählung dieser Textpartie, die durch kurze Dialoge unterbrochen wird, sich dramatisch auf die Lösung moralischer Fragen zuspitzt. An die Stelle der langsamen, sich in Gesprächen und Reflexionen entwickelnden Handlung rund um die Idee der russischen Revolution, welche die Erzählung im ersten und zweiten Buch des Romans dominierte, treten kurze Szenen und Dialoge. Dem bewaffneten Aufstand muss Samgin wiederholt irrationale Freude und Lebhaftigkeit attestieren. Er wird von Menschen als eine große Stadtfeier begangen, in der neugierige Flaneure die Barrikaden besichtigen, um später Umwege um sie zu schlagen und sie sogar eigenhändig zu reparieren und zu befestigen. Je stärker dabei die irrationale Komponente im menschlichen Benehmen hervorgehoben wird, desto fraglicher wird die Ratio und desto stärker wird die implizite Frage nach etwas, was die menschlichen Handlungen motiviert, sich aber nicht im unmittelbaren Nutzen erschöpft. Die Wirkung des »Glaubens an Unmögliches« auf die Stadtbewohner lässt sich in einer Analogie mit der Szene der kollektiven Ekstase während des Ostergebets begreifen. Das Poetische des Aufstandes liegt nicht in seiner Heroik, sondern darin, dass er als eine kollektive und beinahe kultische Handlung die Stadtbewohner miteinander verbindet; seine Theatralik lässt Akteure und Zuschauer zu einer Einheit verschmelzen, die in einer gehobenen, feierlichen Stimmung, im Gefühl der menschlichen Einigung

Natalʹja Primočkina, dass die Kollektivierung der 1930-er Jahre Gorʹkij von seinen Ängsten gegenüber dem »dunklen Element der Bauernmasse« befreite (Примочкина 2005, S. 20). Dafür spricht auch die Tatsache, dass diese Gedanken im Roman an Samgin delegiert werden; dieses »Phantom« wird laut Suchich im Roman »nicht materialisiert« (Сухих: »Жизнь Клима Самгина« М. Горького и »Философия общего дела« Н. Ф. Федорова, S. 40).

4. Narration

zum Ausdruck kommt. Diese Stimmung erscheint Samgin zwar »leichtsinnig«, doch er vermisst sie, nachdem der Aufstand beendet ist: Samgin dachte mit Befremden, mit Selbstironie, daß es ihm angenehmer wäre, im Haus und auch auf der Straße wieder die Verteidiger der Barrikade zu sehen, die deutliche, weiche Stimme des Genossen Jakow zu hören. […] Ihm fehlten überhaupt Menschen, sogar jene, die ihm früher unangenehm, überflüssig vorgekommen waren. Tag und Nacht jagte durch die Straße und über die Dächer ein nicht starker, aber aufdringlicher Wind und richtete zwischen Häusern und Menschen Mauern der Entfremdung auf; diese Mauern waren unsichtbar, machten sich aber dadurch fühlbar, wie schweigsam die Einwohner geworden waren, wie mißtrauisch und finster sie sich musterten und wie eilig sie bei Begegnungen nach verschiedenen Seiten auswichen. (KS/B3/95-96) Nach der Unterdrückung des Aufstandes wird die menschliche Gemeinschaft, die durch ihn ins Leben gerufen war, beendet. »Mauern der Entfremdung« trennen Menschen, die sich gegenseitig misstrauen und ausweichen. Die Niederlage des Moskauer Aufstandes und der ersten russischen Revolution wird somit in Gorʹkijs Roman als Zerfall der menschlichen Einheit bewertet. Das rational nicht erklärbare Gefühl der Einigung bot eine Orientierungshilfe für den Verstand, der im Geschehen der Revolution zwischen Schönheit und Moral schwankte. Die Inszenierung dieser Einheit quasi-religiöser Natur verweist auf frühere Gebets- und Predigtszenen im Roman; besonders ihr Niedergang macht deutlich, dass die Revolution nicht auf Ideen, sondern auf dem Potenzial des kollektiven Glaubens, das alleine die Menschen vereinen könnte, aufbauen muss. Von der historischen Zeit zur überzeitlichen Gnosis Die Erfahrung einer rational unergründbaren menschlichen Einheit, die nach der Niederlage des Aufstandes beendet ist, leitet zur Fortsetzung des Romans in den Gesprächen zwischen Samgin und Marina Zotowa über, in denen es um die Grundlagen einer solchen Einigung von Menschen im Geist geht. Diese Gespräche erinnern nicht zuletzt wegen Rückgriffe auf die Lehre des Gnostizismus und auf die Literatur und Praxis russischer Sektierer an die »heiligen Gespräche« zwischen Ulrich und Agathe im »Mann ohne Eigenschaften«; die literarische Inszenierung der ekstatischen Einheit von Verstand und Instinkt erfolgt in beiden Fällen durch die Einführung einer weiblichen Figur aus der Vergangenheit des Protagonisten, welche auf die Unzulänglichkeit der Reflexion und die Notwendigkeit des Handelns weist. In diesen Episoden geht die Erzählung weit über das Paradigma der historischen Zeit hinaus. Beruht sie in ihrer vermittelnden Struktur auf der Wirkung der Übertragungs- und Wiedereinschreibungsverfahren, so greifen in den Gesprächen Samgins mit Zotowa die Fragen der Führung von Massen und der Erkenntnis direkt ineinander. Die Distanz zwischen der subjektiven Zeiterfahrung und kollektiver Zeit, die im Roman anhand der Frage der Motivierung der Revolution und des Verhältnisses zwischen Masse und Führer überbrückt wurde, wird verwischt. Als geistige Anführerin bietet die Sektiererin Zotowa das Beispiel einer vollkommenen Versöhnung zwischen dem Verstand und dem Leben, den Ideen und der Praxis. Die Verbindung dieser

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Pole wird nicht mehr als ein Problem gedacht, sondern wird außerhalb der zeitlichen Progression in einem mystischen Ritual hergestellt und gefeiert. Das Verfahren, welches den Protagonisten aus der historischen Zeit in die Dimension der gnostisch-mystischen Erkenntnis hinauskatapultiert, erstreckt sich in Gorʹkijs Roman über das gesamte Geschehen der ersten russischen Revolution, also über mehr als 200 Seiten. Wie Barmin formulierte, »höhlt die historische Zeit die Zeit des Protagonisten aus, umspült und verschluckt sie vollends«.390 Eine solche Auflösung des Figurenkonzepts von Samgin, der an der kritischen Distanz zu den Salondebatten einbüßt und das ganze Geschehen im Land in seine Seele aufnehmen soll, bedeutet gleichzeitig die Demontage der historischen Zeit im Roman. Die komplexe Struktur der Bezüge zwischen der kollektiven Ideenpraxis und dem Leben des Protagonisten wird schrittweise, durch die Abspaltung einzelner Fortsetzungsvariaten im Geschehen der ersten russischen Revolution stillgelegt; die Erzählung richtet sich auf die Problematik der menschlichen Einheit im Geist aus. Das Problem der kollektiven Kampfmoral erweist sich dabei in den Szenen des Moskauer Aufstandes als Drehscheibe, in der die zentralen Elemente des poetologischen Romankonzeptes – der Verstand, die Moral und die Schönheit – ineinander verfließen. Die Revolution wird dabei nicht mehr als ein Projekt politischer, kulturellen oder geistigen Erneuerung der Gesellschaft gedacht; sie wird vom Protagonisten als eine persönliche Aufgabe verinnerlicht. Besonders dringlich wird sie, nachdem Samgin bei einer nächtlichen Zugfahrt mit dem Oberleutnant spricht, der die Truppen anleitet, welche den Aufstand gewaltsam unterdrücken. Die Problematik der Kampfmoral zeigt sich im Gespräch mit dem Oberleutnant von der anderen Seite der Barrikade als Unmöglichkeit, die Gewaltanwendung zu legitimieren. Der Oberleutnant erlebt in einer weiteren Szene einen affektiven Ausbruch, schießt um sich und bringt sich schließlich um. Laut den Worten aus dem Publikum sei die Revolution nun beendet; für den Protagonisten hingegen ist ihre Bilanz noch offen: Zugleich mit dem betrunkenen Gebrüll des Oberleutnants erklangen in seinem Gedächtnis die Worte […] davon, daß die Revolution beendet sei. Das ist Lüge! rief Samgin innerlich. Sie ist nicht beendet. Sie kann nicht beendet sein, solange man nicht aufhört, mein Ich zu martern… (KS/B3/138) Der moralische Konflikt rund um das Recht der Gewaltanwendung in der Revolution, der zuletzt im »betrunkenen Gebrüll des Oberstleutnants« angesprochen wurde, wird an dieser Stelle mit dem persönlichen Martyrium von Samgin in Verbindung gebracht; so wird Revolution zur Aufgabe, die Lösung für den existentiellen Konflikt zu finden. Der Protagonist zieht bereits einige Seiten früher das Fazit seines »Lebens«, indem er feststellt, dass er »nichts zu bedauern« habe, »fremd der Wirklichkeit« sei und sich »über ihr wie auf einem Seil bewege« (KS/B3/117). Selbst die eigene Gegenwart, die Straße hinter dem Fenster, auf der ein hoher Offizier und Polizisten vorbeizeihen, erscheint Samgin nicht als »lebendige Wirklichkeit, sondern nur Erinnerung« (KS/B3/118). Später merkt Samgin ausdrücklich an, dass »die Tatsachen des politischen Lebens«, »alles,

390 Бармин: Время в композиции эпопеи, S. 30.

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wovon die Zeitungen beunruhigt schrieben, bereits in der Vergangenheit geschehen« seien (KS/B3/234). Neben der zeitlichen Zäsur wird der Übergang zur neuen Zeitqualität am Ende der Episode auf der symbolischen Ebene durch den zweiten Traum des Protagonisten markiert. Dieser Traum ähnelt dem ersten Traum dadurch, dass in beiden das Motiv der Singularität/Pluralität des Körpers, des Zusammenwachsens und der Spaltung eine zentrale Rolle spielt. Doch anders als im ersten Traum, wo Körper der Arbeiter zu einem einköpfigen Körper zusammenwuchsen, erlebt Samgin im zweiten Traum, wie sein eigener Körper in eine Vielzahl von Doppelgängern gespalten wird. Zunächst sieht sich Samgin in der Begleitung von einem Doppelgänger: Mit stürmischer Geschwindigkeit, wie sie nur in Träumen möglich ist, sah Samgin sich auf einer menschenleeren, ausgefahrenen Straße zwischen zwei Reihen alter Birken, neben ihm schritt noch ein Klim Samgin. Es war ein sonniger Tag, die Sonne brannte ihm heiß auf den Rücken, aber weder Klim noch sein Doppelgänger, noch die Bäume warfen Schatten, und das war sehr beunruhigend. Der Doppelgänger schwieg, er stieß Samgin mit der Schulter in die Gruben und Furchen der Straße, stieß ihn gegen die Bäume, er störte Klim so beim Gehen, daß er ihm auch einen Stoß versetzte; daraufhin fiel er Samgin vor die Füße, umschlang sie und begann wild zu schreien. Da Samgin merkte, daß auch er fiel, packte er den Weggefährten, hob ihn auf und fühlte, daß er gewichtlos war wie ein Schatten. Aber er war ebenso gekleidet wie der wirkliche, lebendige Samgin, und darum mußte er, mußte er irgendwelches Gewicht haben! (KS/B3/127-128) Weder Samgin noch sein Doppelgänger wirft einen Schatten; vermutlich ist der Doppelgänger sein Schatten, der sich gegenüber dem Besitzer verselbständigt. »Gewichtlos wie ein Schatten« schafft es der Doppelgänger doch, Samgin am Gehen zu hindern. Der Alptraum vom gewicht- und schattenlosen Doppelgänger, der sicht- und fühlbar, aber irreal ist, verwandelt sich in eine Kampfszene, in der sich die Gegner ständig vermehren: Samgin hob ihn empor und schleuderte ihn von sich fort, auf die Erde, er zerbarst in Stücke und vervielfältigte sich sofort rings um Samgin in Dutzende von Gestalten, die ihm vollkommen glichen; sie umringten ihn, liefen alle eilig mit ihm, und obwohl sie alle gewichtlos, durchsichtig waren wie ein Schatten, bedrängten sie ihn entsetzlich, stießen ihn, schlugen ihn von der Straße und trieben ihn vorwärts, es wurden ihrer immer mehr, sie waren alle heiß, und Samgin bekam keine Luft inmitten ihrer stummen, lautlosen Menge. (KS/B3/128) Samgins Doppelgänger vermehren sich und bilden eine Masse, die ihn am Gehen behindert und in eine bestimmte Richtung lenkt. Diese Masse entsteht, ähnlich wie es in Samgins erstem Traum geschah, durch Aufsplitterung einer Figur in mehrere, doch anders als bei der Masse von Köpfen, die im ersten Traum chaotisch herumgehüpft sind, handeln Samgins Doppelgänger in Übereinstimmung miteinander. Ihre Aufgabe besteht offensichtlich darin, den Protagonisten in eine bestimmte Richtung zu lenken:

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Historische Zeit im Narrativ

Er schleuderte sie von sich, quetschte sie, zerriß sie mit den Händen, die Leute platzten in seinen Händen wie Seifenblasen; eine Sekunde lang sah Samgin sich als Sieger, doch in der nächsten hatten seine Doppelgänger sich zahllos vermehrt, umringten ihn von neuem und trieben ihn durch den schattenlosen Raum zu dem rauchfarbenen Himmel, der sich mit einer dichten, dunkelblauen Wolkenmasse auf die Erde stützte, und im Mittelpunkt der Wolken loderte eine andere Sonne, riesengroß, mit einer unrichtigen, abgeplatteten Form, wie ein Ofenschlund – auf dieser Sonne hüpften schwarze Kügelchen. (KS/B3/128) Der Weg, der Samgin durch seine Doppelgänger gewiesen wird, führt »durch den schattenlosen Raum« zum »rauchfarbenen Himmel« und zu »einer anderen Sonne«, die offensichtlich eine Gefahr für den Protagonisten darstellt und ihn als »Ofenschlund« zu verschlucken droht. Die phantastische Landschaft, in der sich Samgins Doppelgänger bewegen, weist auf die Veränderung der Handlungsstruktur. Der Vorgang, bei dem der Protagonist im Geschehen der ersten russischen Revolution Teile seines Figurenkonzeptes abspaltete, spiegelt sich darin auf der bildlichen Ebene als der Kampf mit dem eigenen Schatten und die Vermehrung von Doppelgängern. Es sind die Entwürfe von Samgins Selbst, die in die Realität der abstrakten historischen Zeit, der Zeit der ideologischen Auseinandersetzungen und der schöngeistigen Konversation gehören. Gewichtlos und durchsichtig erscheinen sie im »schattenlosen Raum«, durch den der weitere Weg Samgins in der zweiten Romanhälfte führt. Die Darstellung dieses Raums ist perspektivisch auf die »andere Sonne« hin ausgerichtet, die keine Schatten wirft und in ihrem beängstigenden Charakter die neue Qualität zeigt, die der Revolution im Sujet des Romans zukommt. Sie ist nicht mehr als Ereignis einer kulturellen Erneuerung, sondern als »Ofenschlund«, als absoluter Nullpunkt aufgefasst, der die Existenz des Protagonisten bedroht. Wenn Samgins Schatten bei ihrer Gewichtslosigkeit doch die Kraft besitzen, ihn zu bedrängen und auf die lodernde Sonne hin zu lenken, so wird dadurch die Funktion von Samgins Reflexionen im weiteren Verlauf der Romanhandlung bezeichnet. Sie kommt noch deutlicher zum Vorschein, wenn sich Samgins Traum wenige Seiten darauf wiederholt, wobei seine Doppelgänger diesmal Handflächen statt Gesichter haben: Samgin […] schloß die Augen, und sofort erstand vor ihm das Bild des nächtlichen Alptraums, der Reigen seiner Doppelgänger begann zu kreisen, aber jetzt waren es schon nicht mehr Schatten, sondern Menschen, ebenso gekleidet wie er, sie kreisten langsam und ohne ihn zu streifen; es war sehr unangenehm zu sehen, daß sie keine Gesichter hatten, an Stelle des Gesichts hatte jeder so etwas wie eine Handfläche, sie schienen daher wie dreihändig. (KS/B3/132) Samgins Doppelgänger sind im zweiten Traum Samgins keine Schatten mehr. Ihre »realere« Existenz wird durch Platzierung der dritten Hand an Stelle des Gesichts markiert. Ersetzen Hände an der zitierten Stelle das Gesicht, so lässt es sich als ein Hinweis auf den neuen Status der Reflexion verstehen, die sich im Roman nicht mehr auf die Materie des Wortes beschränkt, sondern in die Handlung umgesetzt werden soll. Ging Samgin in der ersten Romanhälfte zwischen seinen Schatten, so fragt man sich, wer dieser neue Protagonist ist, der – von den bisherigen Elementen seines Fi-

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gurenkonzepts gereinigt – mit seinen Schatten und Doppelgängern kämpft? Diese Figur, die bisher als eine Funktion des ideologischen Umfeldes konzipiert wurde, wird von der linearen zeitlichen Progression der historischen Zeit losgelöst. Die Zeit kommt zum Stillstand, zerfällt in einzelne Momentaufnahmen des Protagonisten, ähnlich wie Ulrich im »Mann ohne Eigenschaften« im Traum eine Reihe von statischen Bildern seines Selbst betrachtet. Das Ich, das weder der privaten noch kollektiven Zeit angehört, besitzt auch in »Klim Samgin« keine zeitliche Ausdehnung und keine individuellen Züge mehr. Es ist auf das Minimum einer Handlungsinstanz reduziert, die den Konflikt zwischen dem Verstand, der Schönheit und der Moral als eine nun auch von der Zeit abstrahierte Gleichung von der Gnosis lösen muss.

4.2.5

Zwischenfazit: Historische Zeit im Roman »Klim Samgin«

Einer der ersten Leser von »Klim Samgin«, der Schriftsteller Vladimir Zazubrin schrieb Gorʹkij in einem Brief, der Roman sei »schrecklicher als Dostoevskijs ›Dämonen‹«: In »Dämonen« machen Menschen etwas, aber hier ist nur Plauderei. Für russische Intelligenz dieser Jahre ist es geradezu ein Todesurteil. […] Das Schreckliche am Roman besteht in der Enthüllung der furchtbaren Leere und Untätigkeit, welche die Menschen hinter dem unendlichen Geschwätz verbargen. (POČK/76) Dass diese »Plauderei«, das »Geschwätz« und die »furchtbare Leere« in Gorʹkijs Roman eine differenzierte Diagnose der gesellschaftlichen Situation beinhalten und die Evolution der Revolutionsidee als einen Prozess ihrer Degradation darstellen, hat sich im Verlauf meiner Analyse gezeigt. Laut seinem Verfasser soll der Roman die »von uns an die Geschichte gebrachten Hekatomben« (TIP/47) schildern; er kann laut Aleksandr Ėtkind als »trauriges Denkmal für die Selbsterniedrigung der russischen ›Intelligenzia‹, als ein klinisches Bild ihrer suizidalen Neigungen« gelesen werden.391 Diese Darstellung hat, wie Ėtkind zu Recht anmerkt, die Züge einer Selbstanzeige, die sowohl auf den Protagonisten als auch auf den Autor selbst deutet. Gorʹkijs persönliche Situation der »doppelten Gefangenschaft« hat S.I. Suchich treffend als »Unfreiheit von der Idee der Revolution, auf die er nicht verzichten konnte und wollte« und die »Unfreiheit, die in der Welt durch die Revolution selbst entstand«, beschrieben.392 Die Spuren der »tiefen Transformation« und der »Überwindung des ›historischen Irrtums‹«, die Gorʹkij laut Suchich in dieser Situation durchmacht,393 sehe ich darin, dass Gorʹkij eigene Gedanken und Träume, darunter die Idee einer »Internationalen der Intellektuellen«,394 aber auch die Ängste dieser Zeit – so die Angst vor massiven und grausamen Bauernaufständen –an Samgin delegiert und einer Kritik unterzieht. Bei all dem ambivalenten Schwanken zwischen »Ja« und »Nein«, zwischen dem aktiven Bekenntnis zur Revolutionsidee und ihrer entschiedenen Ablehnung, tendiert sein Protagonist am Ende dazu, den politischen Radikalismus zu befürworten und sich auf die Seite der bolschewistischen Partei zu schlagen. 391 392 393 394

Эткинд: Хлыст, S. 504. Сухих: »Жизнь Клима Самгина« М. Горького и »Философия общего дела« Н. Ф. Федорова, S. 6. Ebd., S. 29. Vgl. Спиридонова: М. Горький: Диалог с историей, S. 138.

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Historische Zeit im Narrativ

Diese Evolution des Protagonisten nimmt ihren Anfang in der Auseinandersetzung mit der Generation der »Väter«, die von den »Kindern« das selbstlose Aufopfern im Dienste des Volkes fordert. Anhand der polemischen Stärke, mit der sich Samgin und einige weitere Figuren von den »Geboten der Väter« distanzieren und die Opferrolle explizit verweigern, lässt sich der Zwang begreifen, der auf der diachronen Achse der Generationenfolge von den »Vorfahren« auf die »Nachfolger« ausgeübt wird. Dieser Zwang greift auf das nächste Glied der Generationskette über, wenn die Verweigerung der Nachfolgerschaft gegenüber den Vorfahren zu dem bewussten Verzicht auf die Fortsetzung in den Nachkommen führt. Die Figuren aus dem Kinder- und Jugendumfeld des Protagonisten bilden durch die Teilhabe an den gleichen Gesprächen und Diskussionen zu den gleichen Themen eine Gemeinschaft von Zeitgenossen, die um eine treffende Formulierung konkurrieren. Das Denkinstrument der Generationenfolge bezieht sich – ähnlich wie im »Mann ohne Eigenschaften« – kaum noch auf das Private. In den ersten Kapiteln von Gorʹkijs Roman wird ein komplexes Bedeutungsnetz gesponnen, welches die kulturelle Realität im Spannungsfeld zwischen der Hochkultur und dem Alltag ansiedelt. Die fiktive Wirklichkeit des Romans ist in erster Linie die Realität der ideologischen Konflikte und wird anhand der Montage von Dialogrepliken konstruiert, die in Gorʹkijs Roman die gleiche Funktion erfüllen, wie die essayistische Zeitbetrachtung im »Mann ohne Eigenschaften«. In diesen Textpartien häufen sich Ankündigungen von Positionen, wobei manch eine Romanfigur lediglich für eine oder zwei Repliken im Roman erscheint. In dieser Hinsicht könnte man von einer Beeinflussung Gorʹkijs durch die Erzähltechnik Dostoevskijs sprechen; allerdings betrifft sie nicht die umstrittene Polyphonie von Gorʹkijs Romanen, sondern, wie M.Ja. Ermakova herausarbeitete, die Darstellung der kollektiven Dynamik im Medium des Gesprächs: »Dostoevskij typisierte den Prozess des Brodelns, der Bewegung des Lebens, die sich noch im Zustand des ›Chaos‹ befindet, in dem der Künstler die sich noch kaum abzeichnende Entwicklungstendenz aufgreift.«395 Gorʹkij entwickelt dieses Verfahren weiter, indem er ausufernde Dialoge auf ein Gesprächsschema reduziert, das sich allabendlich wiederholt und in Form ausgewählter Aphorismen und Schlagworte zusammengefasst wird. Es führt zu einer verdichteten Darstellung ideologischer Konflikte, die im Roman kaleidoskopisch im Umlauf der Gesichter, Thesen und Redegewohnheiten inszeniert und in der Wahrnehmung des Protagonisten kritisch, satirisch oder sogar grotesk gebrochen werden. Den umkämpften Gegenstand der Diskussionen bildet die Idee der Revolution, deren Notwendigkeit de facto außer Frage steht. Sie wird im Roman jedoch nicht primär als politischer Umsturz, sondern als Aufgabe einer kulturellen Erneuerung definiert. Im Dienste einer solchen Erneuerung muss eine Idee gefunden werden, welche die Willen einzelner Menschen akkumulieren und zu einer kulturellen und gesellschaftlichen Wende führen soll. M. Ja. Ermakova sah in »Klim Samgin« den »am meisten rationalistischen« und »intellektuellen« Roman Gorʹkijs, den vor allem die »Grundfragen, die Fragen des mensch-

395 Ермакова: Традиции Достоевского в русской прозе, S. 107.

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lichen Geistes« interessierten.396 S.I. Suchich wies darauf, dass »Klim Samgin« gleichsam als »ideologischer« und »antiideologischer« Roman interpretiert werden muss: Dieser Roman handelt von der Allmächtigkeit und Machtlosigkeit der Vernunft, von der schöpferischen und zerstörenden Kraft des Gedankens, von ihrer befreienden Wirkung und der Gewalt, die sie über das Leben und über den Menschen ausüben, von der Tyrannei der Ideen und vom Bewusstsein, welches das Dasein formt, um es gleichzeitig zu zerstören und sogar sich selbst auszulöschen.397 Daran schließe ich an und sehe diese Betrachtungsweise der ideologischen Realität in der Darstellung der kulturellen Wirklichkeit als einer dynamischen Sphäre verankert. Im »Roman der Ideen, die durch viele Perspektiven gebrochen werden«398 wird die russische Geistesgeschichte als Frage nach der Motivierung der Revolution, als Tat im Dienste einer kulturellen Erneuerung betrachtet. Dafür wird ein breites Spektrum von Angeboten unterbreitet: Der positiven Motivierung in Form von selbstloser Dienerschaft, der heldenhaften Aufopferung, Menschenliebe, Phantasie, dem Erkenntnisdrang, der Neugier und Liebe, der geistigen Vollendung und religiösen Reformation stehen Ansätze der negativen Motivierung in Form von Langweile, Ehrgeiz, Hass, privatem Scheitern etc. gegenüber. Dabei macht sich die fortschreitende Spaltung der Ansichten, Parteien und Gruppen bemerkbar. Je näher das Ereignis der russischen Revolution heranrückt, desto weiter laufen diese Motivierungen auseinander und desto stärker schrumpft die Möglichkeit, eine letztgültige Begründung zu finden. In Gorʹkijs Roman verfehlen die Intellektuellen die Aufgabe, das gesellschaftliche Potenzial, das in Samgins Gesprächen mit dem Geheimpolizeiagenten Mitrofanow als Hang zur Phantasie und zu unberechenbaren Handlungen reflektiert wird, im Dienste einer kulturellen Wende zu bündeln. An den unmissverständlich ironischen Tönen, in denen diese Geschichte von Gorʹkij erzählt wird, lässt sich laut Natalija Primočkina die persönliche Enttäuschung des Schriftstellers erkennen.399 Sie ist umso größer, als Gorʹkij dem Intellekt und den Intellektuellen als seinen Trägern wesentlich mehr zumutete. Wie L.P. Egorova herausarbeitete, täuscht die oft marxistisch anmutende Rhetorik in Gorʹkijs Werk darüber hinweg, dass er in seinem Verständnis der Geschichte wesentlich von Friedrich Nietzsche beeinflusst wurde. Er verstand die Zukunft als »etwas, was vom menschlichen Willen abhängig ist« und suchte in Nietzsches Nachfolge die Möglichkeit einer Überwindung der Geschichte als »jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ›Geschichte‹ hiess«.400 In diesem Verständnis der Geschichte als etwas, was durch die schöpferische Kraft des Intellekts aufgehoben werden muss, steht er Robert Musil außerordentlich nahe.

396 397 398 399 400

Ebd., S. 103-104. Сухих: Заблуждение и прозрение, S. 156. Маркович: С кем спорил Клим Самгин, S. 120. Примочкина: Антиномия »Восток – Запад«, S. 21. Егорова, Л.П.: »М. Горкий и Ф. Ницше«, in: Зайцева, Г. С. (Hg.), Горьковские чтения-1992. Материалы конференции »Ранний М. Горький«, Нижний Новгород: ННГУ 1993, S. 65-69, hier S. 67. Zitat Nietzsches nach Nietzsche, Friedrich: »Jenseits von Gut und Böse«, in: Colli, Giorgio/MüllerLauter, Wolfgang/Gerhardt, Volker (Hg.). Nietzsche, Friedrich, Werke, Berlin: de Gruyter 1968, S. 3255, hier S. 128.

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Historische Zeit im Narrativ

Wird dieser Auftrag von Musil an den Protagonisten Ulrich delegiert, der Ansätze dazu in seinen Gedanken und Gesprächen entwickelt, so entzieht Gorʹkij Klim Samgin, der diese Aufgabe verweigert, jede schöpferische Potenz und stellt ihn als einen Plagiator dar, der mangels eigener Erfindungskraft auf die Manipulation mit fremdem Gedankengut angewiesen ist. Mit diesem Entzug, der im Roman satirische Züge annimmt, wird noch dringlicher als bei Musil auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Leben und vor allem die kollektive Ideenpraxis nicht dem Zufall zu überlassen. Das Scheitern der russischen Intellektuellen auf der Suche nach einer Idee für die russische Revolution wird am Vorabend der ersten russischen Revolution endgültig diagnostiziert, als Terroranschläge auf die Minister und andere Angehörige des Staatsapparats auf freudige Akzeptanz der intellektuellen Schicht stoßen. Der autonome Bereich der Kultur scheint mit keiner anderen Lebensrealität mehr zusammenzuhängen; sein chaotisches Treiben erschöpft sich im Heraufbeschwören einer Wende, für die nach wie vor ein positives Leitbild fehlt. Aus der Realität der geistigen Debatten führt kein Weg mehr hinaus: in ihr kann die Revolution nicht als Tat begangen werden, sondern sie kann sich nur irgendwie ereignen. Die emotionale Wirkung dieses Sujets hat S.I. Suchich in seinem Lektüreeindruck eindringlich festgehalten, der »Klim Samgin« als ein »finsteres und sogar grausames Werk« bezeichnete: Das Leben ist böse, die Perspektiven sind beängstigend und muten kaum geruhsamoptimistisch an; die Sorge um den Menschen, der sich auf dem Markt von Ideen in eine Tauschmünze verwandelt, überkommt den Leser des Romans […].401 Eine interessante Nebendiagnose dieser Prozesse stellen die Beobachtungen an der Taktik der Mitglieder der bolschewistischen Partei (»Kutusowtum«) dar, die im intellektuellen Milieu eine zwielichtige Position einnehmen. Der bolschewistische Anführer Kutusow beteiligt sich am Fortgang der Diskussionen rund um die Perspektiven der künftigen Revolution, sein politischer Tätigkeitsbereich liegt dabei hinter dem Horizont der fiktiven Welt und wird ausgeblendet. Er fasst die Idee der Revolution als eine reine Zerstörung der existierenden Kultur auf, die in ihrem korrupten Wesen kein positives Ideal für die künftige Wende hervorbringen kann. Das »Kutusowtum« hält keine Idee für die bevorstehende kulturelle Erneuerung bereit und sieht sie als automatische Folge der politischen Machtübernahme und der Abschaffung des Privateigentums. Somit wird die Aufgabe der kulturellen Erneuerung bis auf Weiteres aufgeschoben; dieses Argumentationsmuster, das zwischen den Fragen trennt, die auf der Tagesagenda stehen und für die es noch zu früh sei, zeichnet den Auftritt der Bolschewiken im Roman aus. Sie besetzen argumentativ die Domäne der Gegenwart und erscheinen im Roman lediglich punktuell, um die konkurrierenden Ansichten und Argumente als unzeitgemäß abzuwenden. Die existierende kulturelle Realität wird von ihnen als durchgängig korrupt abgelehnt; als Vertreter der politisch radikalen »Intelligenzia« bemühen sich die Bolschewiki darum, das kulturelle Erbe der »alten«, darunter auch der politisch aktiven Narodniki-Bewegung, über Bord zu werfen. In der Gegenwart, in der Gorʹkij von Stalin zum Kulturpapst der Sowjetunion inszeniert wird, wird diese ketzerische Botschaft subversiv in den Roman gelegt. Wurde 401 Сухих: »Жизнь Клима Самгина« М. Горького и »Философия общего дела« Н. Ф. Федорова, S. 38.

4. Narration

die Entstehung der russischen Revolution in der Geschichte der KPR als ein planmäßiges Ergebnis der politischen Tätigkeit der bolschewistischen Partei betrachtet, so legt Gorʹkij ein Zeugnis darüber ab, dass diese Partei aufgrund ihrer kulturellen und moralischen Ungebundenheit das Potenzial besaß, sich des Einsturzes der Zarenmacht zu bedienen. Dass Gorʹkij die Machtübernahme durch die Bolschewiki im Oktober 1917 als einen solchen Übergriff wertete, ist in seinen »Unzeitgemäßen Gedanken über Kultur und Revolution« in aller Deutlichkeit dokumentiert. Im Roman delegiert er diese Erfahrung an unterschiedliche Figuren und macht sie insbesondere durch die Art und Weise kenntlich, wie sich Samgin an sie anschließt, indem er in seiner Kritik des Ideenchaos der Gegenwart zur Befürwortung der bolschewistischen Partei tendiert, da sie in ihrem destruktiven Vorhaben eine klare Führung anbietet und das Versprechen einer solchen Revolution macht, die mit der bedrückenden Komplexität der geistigen Debatten aufräumen soll. Ähnlich wie Ulrich im »Mann ohne Eigenschaften« ist Klim Samgin in seiner Biografie und darüber hinaus in seiner Wahrnehmung der Lebensrealität an die Materie des geistigen Austausches gebunden. Doch wird die Fabel um den Protagonisten Samgin im Unterschied zu Musils Ulrich als Geschichte einer misslungenen Flucht aus dieser Realität gestaltet, bei der sich Samgin des manipulativen Potenzials fremder Formulierungen bedient und daran scheitert. Am Ende tendiert er zum politischen Radikalismus, da die kommende Revolution das Versprechen enthält, die störende kulturelle Realität zu beseitigen. Die implizite Bewertung des Protagonisten, die hiermit im Roman angelegt wird, trägt ambivalente Züge. Zusätzlich zu der Fähigkeit, die geistige Realität in seiner Wahrnehmung zu akkumulieren und kritisch zu hinterfragen, wird die Figur Samgins zum Träger der Kritik an der Geschichtserzählung und am Wort als Medium der Wirklichkeitsrepräsentation. Die Übernahme dieser Funktionen wurde im Kapitel »Reflexion« der vorliegenden Arbeit besprochen, wobei ich eine Annäherung zwischen Samgin und dem Erzähler des Romans feststelle. In meiner Analyse der narrativen Struktur des Romans habe ich diese Beobachtung erweitert. Zwar wird die Fähigkeit, unterschiedliche Gesprächspositionen ironisch-distanziert aufzunehmen, negativ als das Fehlen der Urteilskraft auf die Persönlichkeit des Protagonisten bezogen. Doch beteiligt sich Samgin als Beobachter der Sprechenden und Schreibenden an der Gestaltung der fiktiven Wirklichkeit des Romans und nähert sich somit dem Standpunkt des Erzählers an. Diese Ambivalenz ist in der historischen Zeit des Romans verankert. Die erzählerische Vermittlung zwischen den Polen der kollektiven Ideenpraxis und ihrer Reflexion im individuellen Bewusstsein wird vom Gefühl der Nötigung, des äußeren Drucks, der Angst einer Vereinnahmung begleitet. Diese permanente Bedrohung wird nicht als physische Gefahr, sondern als potenzielle Gefährdung durch fremdes Gedankengut beschrieben. Samgins Angst, in fremden Äußerungen unterzugehen, wird besonders angesichts der Figuren hervorgehoben, die als begabte Redner und originelle Denker dargestellt werden. Vor allem überzeugendes Sprechen stellt die Daseinsform der Figuren in der abstrakten historischen Zeit des Romans dar; Samgin, der als talentloser Plagiator durch die geistige Landschaft des vorrevolutionären Russlands wandert, fragt sich bisweilen bestürzt, ob er denn dumm sei. Die Fähigkeit zu originellen Formulierungen

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Historische Zeit im Narrativ

wird von ihm als eine existentielle Eigenschaft wahrgenommen, die sein Überleben in der geistigen Landschaft sichert. Der Protagonist und der Romanautor üben also beide Kritik an der geistigen Realität, die Gorʹkij als Kulturschaffender, der über einen längeren Zeitraum der bolschewistischen Partei nahestand und sich mental mit der Aufgabe der künftigen Revolution auseinandersetzte, der Figur des Protagonisten einschrieb. Samgins negative kritische Bilanz wird im Zusammenhang mit dem Vorhaben formuliert, selbst als Schriftsteller tätig zu werden. Dabei verwirft Samgin sowohl das platte politische Engagement als auch den Stil der literarischen Décandance, da ihn »soziale Fragen« zu sehr beschäftigen, die er jedoch als »Chaos der Ideen« interpretiert (KS/B2/878). Als eine Auseinandersetzung mit dieser »sozialen« Problematik in Romanform kann Gorʹkijs Roman gelesen werden, in dem das Politische konsequent im Kulturellen aufgelöst wird. In der Figur Samgins, die eine immense Konstruktionsleistung in der Romanerzählung darstellt, wird die Funktion der Kritik dieser Realität abgespaltet, ohne mit den entsprechenden kreativen Ressourcen ihrer Verarbeitung ausgestattet zu sein. Die »leere Seele« Samgins macht sein Bewusstsein besonders affin für die Ereignisse und Visionen, die sich am Rand der »phantastischen« ideologischen Wirklichkeit abspielen und als eine Art alternative, traumatische Realität in die Romanerzählung implantiert werden. Solche Szenen kollektiver Unglücke und Visionen der kollektiven Zerstörung, bei denen sich plündernde Menschenströme über die russischen Städte und Landschaften ergießen, ergeben im Roman eine ganze Reihe und verweigern sich einer reflexiven Aufarbeitung. Das Besondere an der Figur Samgins besteht darin, dass er solche Ereignisse oft schon vor seinem inneren Auge kommen sieht, bevor sie sich überhaupt ereignen. Diese Episodenabfolge scheint direkt zu dem Ereignis der russischen Revolution am Ende des Romans zu führen und weist als eine dunkle Prophezeiung auf ihr destruktives Potenzial hin. Doch wird ihre Kette an einer Stelle unterbrochen, an der die Möglichkeit eines alternativen kollektiven Daseins andeutet wird. Bei der feierlichen Inszenierung des Ostergebets im Kreml versinkt die Menschenmenge in eine euphorische Stimmung, wird durch den Glauben an die Auferstehung Christi beseelt und bietet ein Bild durchgeistigter Kollektivität, das sich stark von anderen Formationen des Kollektiven im Roman unterscheidet. Dabei geht es nicht primär um den religiösen Inhalt, sondern um die Möglichkeit einer Übertragung von Ideen auf das Kollektiv, die durch die uniforme Geste des Sich-Bekreuzigens und die Metaphorik des Lichtergießens über die Menge signalisiert wird. Die Erfahrung dieser Kollektivität leitet eine Wende im Sujet des Protagonisten ein, der sich dessen bewusst wird, dass »in meinem Leben irgend etwas… nicht so, nicht in Ordnung« ist (KS/B2/812). Diese Wende habe ich als Verschiebung der Handlungsstruktur von der Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit als einer beweglichen, wandelbaren Realität, die durch das Wort geformt wird, zur Suche nach Grundlagen der harmonischen Sozietät in der religiös-mystischen Erfahrung beschrieben. Von der Szene des Ostergebets ziehen sich im Roman zwei Linien durch. Die erste führt zur Episode der Arbeiterdemonstration unter der Anführung des Pfarrers Georgij Gapon, die eine religiöse Union der Arbeiter mit dem Zaren anstrebte. Die zweite hängt mit der Figur von Marina Zotowa zusammen, die im dritten Buch eingeführt wird und als Anführerin der Sekte

4. Narration

»Chlysty« gnostisches Gedankengut in den Roman einbringt. Während im ersten Fall die Figur Gapons und sein Anspruch auf die geistige Anführung der Massen als unrechtmäßige und anmaßende Geste abgewertet wird, wird der Anspruch von Zotowa in der Erzählung ausführlicher begründet und ambivalenter dargestellt. Der Wechsel in den gnostisch-utopischen Modus wird durch die Demontage der historischen Zeit im Roman eingeleitet. Bereits Andrej Sinjavskij wies auf die »Veränderbarkeit, Fließen, Beweglichkeit des Romansujets« hin, das über den Rahmen des Erzählten hinaus auf etwas Unbekanntes verweist.402 Die Verweise auf die Veränderungen in der Qualität der Handlung häufen sich am Umbruch zwischen dem zweiten und dritten Buch des Romans in den Episoden der ersten russischen Revolution. Während sich in der Romanerzählung die Massenszenen der Demonstrationen, Straßenkämpfe und des Moskauer Aufstandes häufen, wird die Struktur des Romans verändert: Wurde die historische Zeit durch Übertragungen und Wiedereinschreibungen in der Kluft zwischen der Wahrnehmung des Protagonisten und dem Bild der ideologischen Realität entfaltet, so nimmt Samgin bei seiner Vertiefung in die politischen Ereignisse »in seine Seele« alles auf, was im Lande geschieht. Diese Ausdehnung der Instanz des Protagonisten auf die Dimension des kollektiven Geschehens im ganzen Land folgt der gleichen Logik wie die »räumliche Inversion« Ulrichs im »Mann ohne Eigenschaften«. Innen und Außen, die subjektive und kollektive Zeit kehren sich ineinander, das System der Bezüge dazwischen wird aufhoben. In »Klim Samgin« wird diese Wende zusätzlich dadurch signalisiert, dass die in den ersten Büchern so präsenten Angstgefühle Samgins angesichts der kulturellen Wirklichkeit nachlassen und besonders in den Szenen des Moskauer Aufstandes dem Gefühl der kollektiven Einigung beim Errichten von Barrikaden weichen. Einen anderen Hinweis auf die veränderte Qualität der Handlung liefert der zweite Traum Samgins, in dem sein Körper in eine Menge Doppelgänger gespalten wird. Er reflektiert auf der bildlichen Ebene die Notwendigkeit, ein neues Handlungskonzept für die Figur Samgins aufzustellen. Mit dem Umzug Samgins nach Rusʹgorod ändert die Romanhandlung endgültig ihre Qualität, indem die abstrakte historische Zeit, die die ersten zwei Bücher des Romans dominierte, zum Stillstand kommt. Das Potenzial der Begegnung zwischen Samgin und Zotowa für die Fortsetzung des Romans kann an dieser Stelle kaum adäquat bewertet werden, da hierbei eine ausführliche Untersuchung des abschließenden, größtenteils nicht autorisierten Romanteils notwendig ist. Die aktuellen Forschungen zum Roman weisen immer nachdrücklicher auf die herausgehobene Bedeutung der Figur von Zotowa hin, die sogar als der eigentliche Protagonist des Romans bezeichnet wurde.403 Als »Charakter ohne Subtext, eine Frau, wie es sie noch nie in der Literatur gegeben hat«404 stellt Zotowa laut Ėtkind eine experimentelle Figur dar. Ob diese Figur – wie Ėtkind schreibt – in der Szene des

402 Синявский: О художественной структуре, S. 155. 403 Vgl. Эткинд: Хлыст, S. 496; Флоря: Об авторском приеме, S. 46. 404 Эткинд: Хлыст, S. 498.

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Chlysty-Rituals auf das Potenzial der Volkskultur, das in der russischen Revolution siegte, verweist,405 kann in der vorliegenden Untersuchung nicht nachgewiesen werden.

405 Ebd., S. 500. Vor allem muss in dieser Hinsicht zusätzlich geklärt werden, was unter »Volkskultur« verstanden wird, denn in »Klim Samgin« wird das Volk, wie oben ausführlich dargelegt wurde, vielfach als ideologisches Konstrukt kenntlich gemacht und einer Kritik unterzogen.

5. Fazit und Forschungsausblick

Hat »der Geist seine eigene Geschichte« oder ist es eine Art Illusion, die Robert Musil als »Hauptidee« seines Lebens bezeichnete1 und so eindrucksvoll im »Mann ohne Eigenschaften« inzenierte? Auch bei Maxim Gorʹkijs Bericht über die Entstehung der russischen Revolution geht es vordergründig um »die russischen Menschen, die wie niemand sonst ihr Leben zu erfinden verstehen, ja, sich selbst erfinden«.2 In beiden Romanen wird also zumindest so erzählt, als hätte der Zeitgeist seine eigene Logik, die lange vor dem Ausbruch politischer Ereignisse auf den krisenhaften Zustand der Gesellschaft verweist. Die Krise macht sich dabei nicht erst am katastrophalen Verlauf des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution, sondern bereits an der Euphorie bemerkbar, mit der Intellektuelle auf die Perspektive des Welt- und Bürgerkrieges reagierten. Diese Erfahrung des Rausches, den die Grausamkeiten des politischen Geschehens schnell mäßigten, hat Russland – wie Gorʹkijs Roman zeigt – mit Europa geteilt. Musil und Gorʹkij setzen sich mit den Phänomenen auseinander, die hinter den Fokus wissenschaftlicher Geschichtsbetrachtung fallen, und demonstrieren, dass Literatur über wirkungsvolle Ressourcen für die Reflexion der Zeitgeschichte verfügt. Wie im Kapitel »Reflexion« dargelegt wurde, rückt die Problematik der Geschichtserzählung sowohl in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« als auch in Maksim Gorʹkijs »Das Leben des Klim Samgin« in den Mittelpunkt der Kritik. Damit nehmen sie vorweg, was in der interdisziplinären Debatte der letzten Jahrzehnte verstärkt betont wurde, nämlich dass Geschichte eine Art Erzählung darstellt. In beiden Romanen wird das Potenzial des Narrativs verhandelt, die Dimension des kollektiven Wandels erzählerisch zu gestalten. Es geht dabei nicht um die Vermittlung von Informationen (Daten, Ereignissen, Fakten), sondern um das Potenzial der Erzählung, einen alternativen Zugang zur kollektiven Vergangenheit auf der Ebene kollektiv signifikanter Abstraktionen zu eröffnen. Die Aufgabe, der kollektiven Zeit der Ideen die

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Notiz 69, Heft 33: Autobiografie (1937-1942). Musil, Klagenfurter Edition, Band 17. Brief an Stefan Zweig. Gorʹkij, Unveröffentlichtes Material und Abhandlungen zu »Klim Samgin«, S. 41.

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Historische Zeit im Narrativ

Form einer Fabel zu verleihen, bringt die Verfahren der historischen Zeit in beiden Romanen in die größte Spannung. Dadurch wird die Problematik der historischen Zeit sichtbarer als in konventionellen Geschichtsnarrativen. Beide Romanciers wenden die Verfahren der historischen Zeit an, um die »phantastische Wirklichkeit« oder »Unwirklichkeit«, die in beiden Romanen reflexiv und ironisch gebrochen wird, in der Erzählung zunächst als fiktive Realität zu gestalten. Die spezifische Interpretation der kollektiven Zeit als der abstrakten historischen Zeit des Geistes dringt in die Grundlagen der fiktiven Romanwelt ein und macht Prozesse der Selektion und der Zuweisung von Eigenschaften sichtbar, die ich in Anschluss an Paul Ricœurs Modell der dreifachen mimēsis als die erste Stufe der Fabelkomposition bezeichnet habe. Das, was in der Erzählung auf der Stufe der mimēsis II als ein Vorrat an Tatsachen, Ereignissen und Figuren erscheint, wird auf der pränarrativen Stufe der mimēsis I aus dem Überangebot an Möglichkeiten selektiert. Dieses Verfahren der Selektion erlaubt es sowohl Musil als auch Gorʹkij eine fiktive Wirklichkeit zu inszenieren, die trotz ihres abstrakten Charakters erzählt wird. Auf der Basis dieser fiktiven Wirklichkeit wird in beiden Romanen ein spezifisches, doppetes Sujet entwickelt: Der Handlung, die sich im Medium der Kultur abspielt, wird die Biografie eines Protagonisten entgegengestellt, die vom dem Drang nach Bedeutsamkeit geprägt wird. Sind die Wege zur Realisierung des menschlichen Potenzials, das in Musils Roman als Möglichkeitssinn, die »passive Phantasie unausgefüllter Räume« (KS/B1/50) und in Gorʹkijs Roman analog dazu als Übermaß an Erfindungskraft beschrieben wird, versperrt, so führt es – so lässt sich die Bilanz der Handlung beider Romane abstrahieren – zu einer Inflation des Geistigen. Die Anfänge dieser Entwicklung erkennen beide Romanerzähler in der Ablösung des positivistischen Pathos der wissenschaftlichen Welterkenntnis durch die Décadance. Diese weltanschauliche Wende wird in beiden Romanen problematisiert. Die Beobachtung der Prozesse, die durch diese kulturelle Wende ausgelöst wurden, wird in beiden Romanen in Form der Suche nach einer krönenden Idee der Parallelaktion (Musil) oder der konsolidierenden Idee für die russische Revolution (Gorʹkij) entfaltet. Die Vergangenheit wird in beiden Romanen also nicht als ein Ideenvorrat oder –bestand betrachtet, den es auszuwerten und in Ideenlager zu ordnen gilt, sondern als eine Dimension, die von einer eigentümlichen zeitlichen Dynamik, von Paradoxien und Widersprüchen geprägt ist. Der Zustand des Ideenchaos hat seine Gegenseite im Ideal der Ordnung. Wie Josef Strutz in Bezug auf den »Mann ohne Eigenschaften« formulierte, verbinden sich im Ordnungsbegriff Politik und Kultur (Geist); denn die Praxis zu ordnen, Lebensmöglichkeiten zu wählen, muß zu Widersprüchen führen. […] Kultur stünde hier als Vermittlungsinstanz zur Verfügung, als Medium, das die sinnvolle Reflexion der Lebensmöglichkeiten tragen könnte.3

3

Strutz, Josef: »Robert Musil und die Politik. Der Mann ohne Eigenschaften als ›Morallaboratorium‹«, in: Strutz, Josef (Hg.), Robert Musil und die kulturellen Tendenzen seiner Zeit. Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1982 im Musil-Haus, Klagenfurt, München: Fink 1983, S. 160-171, hier S. 170.

5. Fazit und Forschungsausblick

Dieses Potenzial der Kultur wird in beiden Romanen verhandelt, wobei das Ideenchaos als quasi-natürlicher Zustand von Ideen und diskursiven Praktiken, der kaum gebündelt und beherrscht werden kann, präsentiert wird. Der geschilderte Weg führt in beiden Romanen vom Traum der Verwirklichung eines hohen Kulturideals zur Erwartung einer Erlösung von der geistigen Komplexität, zur Hoffnung auf eine Vereinfachung des Lebens. Der Krieg als Nullpunkt der Reflexion und die Revolution als ein unbegründeter voluntaristischer Akt sollen mit dem chaotischen Geist der Epoche aufräumen, wenn die anderen Wege versagen. Hinsichtlich des analytischen Vorgehens hat sich im Verlauf der Analysen Ricœurs These bestätigt, dass der Zugang zur kollektiven Zeit über die subjektive Zeiterfahrung kostruiert und ermöglicht wird. Die Zeit des Alltags und des Körpers, die phänomenologische Zeit des subjektiven Bewusstseins, die biografische Zeit bieten in Musils und Gorʹkijs Romanen den Ausgangspunkt für die Erkenntnis der kollektiven Dynamik. Die Erweiterung der subjektiven Zeitwahrnehmung in Richtung kollektiver Zeit findet statt, indem der Protagonist die kollektive Zeit in seiner Biografie reflektiert. Der Mann ohne Eigenschaften, Ulrich, spiegelt in seiner Biografie kollektive Träume, in denen das Wesen der kollektiven Zeit liegt. Klim Samgin ist mit dieser Realität durch das Motiv des Erfindens verbunden und entsteht als Figur, indem er von anderen Figuren gespiegelt und »erfunden« wird. Die Inszenierung existentieller Krisen gibt in beiden Romanen wiederholt den Anlass dazu, die Instanz des Protagonisten in der abstrakten historischen Zeit der Romane zu verankern. Die affektiven Ausbrüche Ulrichs im »Mann ohne Eigenschaften« oder die Gefühle des Drucks und der Nötigung in »Klim Samgin« folgen dem Schema, bei dem der Protagonist als ein quasi-erlebendes Ich mit der kollektiven Ideenpraxis konfrontiert wird. Dabei findet in beiden Romanen ein Denkinstrument der historischen Zeit – die Vorstellung einer Generationenfolge – Verwendung, wird jedoch spezifisch interpretiert. Die Schicksalsgemeinschaft der Figuren wird nicht wie im herkömmlichen historischen Roman als gemeinsame Erfahrung politischer Umbrüche, Kriege o. ä., sondern als Konkurrenz um die geistige Bedeutsamkeit und kreative Potenz inszeniert. Daran zeigt sich der abstrakte Charakter der historischen Zeit in beiden Romanen. Sie wird in beiden Romanen als Zeit des Geschmacks, der geistigen Trends und Diskussionen erzählt, wofür beide Erzähler spezifische Erzähltechniken einsetzen. Der Erzähler des »Mann ohne Eigenschaften« tendiert dazu, sie im Medium des Essays pointiert darzustellen, während der Erzähler des »Klim Samgin« auf kunstvoll manipulierte Dialoge zurückgreift. Im Vergleich zur durchgeformten essayistischen Komposition des »Mann ohne Eigenschaften« liegt die Muskulatur von Gorʹkijs Roman tiefer unter der Oberfläche, ist aber nicht weniger kräftig. Eine Beobachtung, die Wolfdietrich Rasch in Bezug auf den »Mann ohne Eigenschaften« machte, könnte auf Gorʹkijs Roman ausgedehnt werden: »Die paradoxe Forderung, das nicht Erzählbare dennoch zu erzählen, hat zur Folge, daß kein einziger Satz mehr naiv gebildet werden kann«.4 Büßt der Erzähler im »Mann ohne Eigenschaften« angesichts der reflexiven Durchdringung und der ironischen Erzählhaltung an Naivität

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Rasch: »Der Mann ohne Eigenschaften«‹, S. 80.

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Historische Zeit im Narrativ

ein, so rückt auch die Erzählung in »Klim Samgin« vom Paradigma des verlässlichen Erzählens ab. Der Roman changiert an der Grenze zwischen der Fremd- und Selbstwahrnehmung Samgins, die ironisch entfremdet wird, ohne dass ein Erzähler eine verlässliche Wahrnehmungs- und Bewertungsinstanz bieten würde. In dieser Hinsicht wird die fiktive Realität des »Klim Samgin« noch mehr als in Musils Roman destabilisiert, wo laut Walter Fanta bei aller Ironie »unüberhörbar und durchlaufend eine Stimme mit einer ›Meinung‹ [erhebt], die im Text nirgends auf Widerspruch stösst und ständig genußvoll wiederholt, dass alles nicht so sei, wie es scheine.«5 Die Versuche der Protagonisten, die kollektive Denkpraxis durch Reflexion, Kritik und – im Fall des »Mann ohne Eigenschaften« – durch die Formulierung der eigenen Reformvorschläge zu bewältigen, sollen die historische Zeit dem Einfluss des Individuums unterwerfen. Bemerkenswert ist dabei nicht die Resultativität solcher Versuche. Obwohl Ulrich in Musils Roman im Unterschied zu Klim Samgin eigene Strategien hierfür erarbeitet, bleiben sie ähnlich ergebnislos wie wiederholte Versuche Samgins, eigene Gedanken zu formulieren, und unterliegen einer Logik, die mit der Plagiatsproblematik in »Klim Samgin« vergleichbar ist. Sobald der Protagonist einen Gedanken in einer fertigen Form zur Sprache bringt, wird sie vom Protagonisten entfremdet, versinkt in der Materie des kollektiven Gedankenaustausches und kann – nicht immer wie von Ulrich gewünscht – von anderen Figuren angeeignet werden. Der Prozess der Individuation im Denken und Sprechen ist also von vornherein zum Scheitern verurteilt, da diese Tätigkeit an der Schwelle zwischen dem subjektiven Bewusstsein und den kollektiven Prozessen und somit in der historischen Zeit angesiedelt ist. Die kulturelle Wirklichkeit, auf deren Darstellung sich beide Romane spezialisieren, stellt einen chaotischen Umlauf von Ideen, Vorstellungen und Projektionen auf die Zukunft dar und absorbiert jeglichen Versuch des Individuums, sich ihrer zu bemächtigen. »Klim Samgin« ist diese Einsicht in Form einer beinahe postmodernen Ironie eingeschrieben. Momente der Ohnmacht, des Bewusstseins der eigenen Wirkungslosigkeit und Belanglosigkeit markieren auch im »Mann ohne Eigenschaften« wichtige Wendepunkte der Handlung rund um den Protagonisten Ulrich. Den Gegenpol zur subjektiven Zeitwahrnehmung des Protagonisten bilden kollektive Akteure, die in der Erzählung zu Quasi-Figuren inszeniert werden. Solche kollektiven Akteure, darunter Vertreter von Berufsgruppen oder politischer Parteien, Kollektiva wie »Volk« oder »Menschheit« oder Menschenmasse während der Versammlungen oder Demonstrationen, werden in beiden Romanen psychologisiert, indem ihnen Verhaltensmuster, Denkgewohnheiten und Emotionen zugeschrieben werden. Die narrative Präsentation solcher Quasi-Figuren gehört zum Repertoire der historischen Zeit. Den wichtigsten Akteur kollektiver Prozesse stellen in beiden Romanen Intellektuelle dar. In Gorʹkijs Roman werden sie als eine soziale Gruppe, in Musils Roman als eine Anzahl von Berufsgruppen (Wissenschaftler, Journalisten, Dichter, Juristen, Psychologen etc.) präsentiert, verdrängen die Figuren der politischen Führer an den Rand der Erzählung und dominieren in der abstrakten kollektiven Zeit beider Romane. Die Realisierung der historischen Zeit ist in einem besonderen Maße an den linearen Verlauf der Erzählung gebunden. Dass der Roman als Genre diese Art der Zeiter5

Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 377.

5. Fazit und Forschungsausblick

fahrung ermöglicht hat, stellt das zentrale Argument von Bachtin dar. Doch wird die Sukzessivität bzw. Unwiederholbarkeit von Zeitmomenten im Kontext der narrativen Innovationen des XX. Jahrhunderts oft als unterkomplex angesehen. Dagegen lässt sich einwenden, dass gerade in der doppelten linearen Struktur der historischen Zeit das Potenzial einer Komplexitätssteigerung liegt, da die historische Zeit die Zwischenräume zwischen der subjektiven, lebensweltlichen und privaten Zeiterfahrung und der kollektiven Zeitdynamik erkundet. In ihrer Komplexität und ihrer ambivalenten Perspektive auf die Vergangenheit demonstrieren Musils und Gorʹkijs Romane das Potenzial dieser Erzählform für die Beschreibung des kollektiven Wandels. Doch gehen auch ihre Darstellungen, in welchen der lineare Verlauf der historischen Zeit in die Zukunft als ein offener Erwartungshorizont gestaltet wird, auf den die Wünsche, Projektionen und Prognosen von Figuren gerichtet sind, über die Grenzen der historischen Zeit hinaus. Die Ereignisse des Kriegsausbruchs und der Revolution rücken im Fortgang des Erzählens in immer weitere Ferne; die Romanerzählung verändert ihre Qualität. Ich habe dieser Entwicklung Rechnung getragen und die sorgfältige Demontage der historischen Zeit beschrieben, die im »Mann ohne Eigenschaften« am Ende des ersten Buchs und in »Klim Samgin« am Umbruch zwischen dem zweiten und dritten Band stattfindet. Die Demontage der historischen Zeit wird in beiden Romanen von der Suche nach einem neuen Handlungskonzept begleitet. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Bühnenmetaphorik: Beide Romanciers, die sich auch als Theaterautoren betätigten, binden das theatralische Geschehen, die Bühne und das Schauspiel als Metaphern der Handlung ein, die im Vergleich zu der abstrakten historischen Zeit auf anderen Prinzipien als der verstandesgeleiteten Reflexion und Kritik basiert. Außerdem werden an der Übergangsstelle in beiden Romanen Träume von der körperlichen Aufspaltung des Protagonisten in Doppelgänger platziert, die auf die Veränderung der Handlungsstruktur hindeuten. Eine zentrale Bedeutung wird am Übergang zum neuartigen Handlungskonzept dem Verhältnis zwischen der Gewalt und der Moral zugewiesen, wobei die Gewaltausübung sowohl konkret als eine gemeinsame Interaktionsebene zwischen den Zeitgenossen als auch abstrakt als ein integrativer Bestandteil des ästhetischen Konzepts beider Romane reflektiert wird. Nachdem die Polaritäten der historischen Zeit im Schmelztigel dieser Episoden ausgelöscht werden, ändert die Romanerzählung ihre Qualität: Sie taucht in die Verstandeskritik und den Gnostizismus (»Klim Samgin«) oder in die Suche nach einem Modell der »ekstatischen Sozietät«6 (»Mann ohne Eigenschaften«) hinein; die lineare zeitliche Dynamik wird in der Dimension des ekstatischen Augenblicks der mystischen Erfahrung oder des gnostischen Rituals aufgehoben. Vermutlich folgt der Übergang von der abstrakten historischen Zeit zur gnostischen Utopie einer gewissen Logik. So muss laut Cornelia Blasberg ein Zeit-Roman […]formal einem Bewußtsein von Zeitlichkeit Ausdruck verleihen, das erzählerisch noch nicht geschaffen ist; inhaltlich einem utopischen Denkwillen ge-

6

Fragment »Atemzüge eines Sommertages«, Zwischenfortsetzung 1937-1939/Fortsetzung der Druckfahnenkapitel. Musil, Klagenfurter Edition, Band 3.

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Historische Zeit im Narrativ

nügen, der Gegenwart im Licht ihrer immanenten Möglichkeiten aufscheinen lassen kann. Der Richtungsimpuls in die Zukunft ist mit hoher Intellektualität und Abstraktheit der Darstellung verbunden.7 Auf die Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen der Geschichte und der Utopie durch die hohe Abstraktionsebene der Darstellung zu erklären, verwies auch Frank Maier-Solgk, der Musils Roman im Zeichen einer Beeinflussung durch die Poetik von Novalis las, dem Musil »die Idee des poetischen Telos einer geschichtsphilosophischen Spekulation« entlehne.8 Die zeitlose utopische Projektion setzt die bisher in der Erzählung dominierenden Oppositionen zwischen der subjektiven Zeitwahrnehmung und der kollektiven Zeit außer Kraft. In der Zeit des mystischen Augenblicks (Musil) oder des ekstatischen Rituals (Gorʹkij) geht es nicht mehr um eine Erkenntnis der Vergangenheit, sondern um das Modell einer alternativen Sozietät und eines anderen Menschen. Es ist bemerkenswert, dass die führende Rolle bei der Formulierung eines kulturellen Neuansatzes in beiden Romanen den weiblichen Figuren, der vergessenen Schwester Agathe im »Mann ohne Eigenschaften« sowie der vergessenen Bekannten aus Samgins Jugend, Marina Zotowa zukommt. Dadurch richten sich beide Romanautoren gegen die überkommene Polarität zwischen den Geschlechtern, der den Männern das Öffentliche, den Frauen das Private vorbehält. Wie Norbert Christian Wolf zu Recht betonte, entsteht zwischen den Figuren von Ulrich und Agathe eine Oszillation, bei welcher »die emotional begabtere Agathe den blinden Fleck ihres Bruders, nämlich die Absolutsetzung seines ›männlich‹-intellektualistischen Spielsinns« obejktiviert.9 Das Gleiche lässt sich für das Paar Samgin und Zotowa behaupten, bei dem die Letztere wiederholt auf den Intellektualismus und emotionale Blindheit von Samgin hinweist. Ob Samgin ungekehrt auf die blinden Flecke von Zotowas Paradigma hindeutet, so wie Ulrich den »detachierten romantischen Negativismus à la Nietzsche« von Agathe überwindet10 , ist kaum eindeutig und sollte durch Untersuchungen zur Fortsetzung des »Klim Samgin« geklärt werden.11 In der vorliegenden Untersuchung wurde die historische Zeit zum ersten Mal systematisch definiert und bei der Analyse von Maksim Gorʹkijs »Klim Samgin« und Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« angewendet. Dabei habe ich mich mit nur einer Form – der abstrakten historischen Zeit – auseinandergesetzt, die in Gorʹkijs und Musils Romanen als die Zeit der kollektiven Denkpraxis kritisch ausgeleuchtet wird. Das Fazit meiner Romananalysen schließe ich mit einem Ausblick auf die Problematik der historischen Zeit im Allgemeinen, die mit der vorliegenden Untersuchung keineswegs ausgeschöpft ist, sondern einer Erweiterung, Präzisierung und Klärung bedarf. 7 8 9 10 11

Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 2. Maier-Solgk: Sinn für Geschichte, S. 20. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 766. Ebd., S. 766. Im Gegensatz zu der verlässlichen Textbasis in Bezug auf die Fortzsetzung des »Mann ohne Eigenschaften«, die durch die hypertextuelle Gesamtausgabe von Musils Nachlass am Musil-Institut Klagenfurt geschaffen wurde, an der sich die vorliegende Studie orientiert, stammt die Buchausgabe des letzten Teils von »Klim Samgin« aus sowjetischen Zeiten, als sich die ideologische Perspektive auf die Auswahl der Fragmente für die Publikation auswirken konnte. Eine umfassende Auswertung nachgelassener Schriften, die am Gorʹkij-Institut in Moskau archiviert sind, steht noch aus.

5. Fazit und Forschungsausblick

Sieht man von den Bemühungen Gorʹkijs und Musils ab, die Vergangenheit in einem Alleingang und in einer Distanz zu vorhandenen Erklärungsmustern zu interpretieren, so lässt sich fragen, welche Muster sich beispielsweise für die Darstellung der politischen Geschichte quer über die Grenzen des literarischen und wissenschaftlichen Schreibens ergeben. Gibt es Unterschiede oder Gradationen zwischen den populären literarischen Genres und der Hochliteratur, unter den wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und kontrafaktischen Darstellungen innerhalb der Historiografie? In welchem Verhältnis stehen diese Ausprägungen der historischen Zeit zu den Zeitmodellen des Epos, der Apokalypse und der folkloristischen Zeit. Doch letztendlich geht es bei der historischen Zeit um die zentrale Frage, mittels welcher Erzählverfahren und in welches Verhältnis der Mensch zu seiner sozialen Umwelt gesetzt wird: Geht er darin auf, kann er reflexive oder kritische Distanz dazu beziehen, auf welche Art und Weise? Die zwei Antworten auf diese Frage, die Musil und Gorʹkij mit ihren Erzählungen über die Bewältigungsversuche der kollektiven Zeit durch Ulrich und Samgin liefern, sind in dieser Hinsicht sicherlich nicht das letzte Wort.

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6. Literaturverzeichnis

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Maksim Gor'kij Der Roman »Das Leben des Klim Samgin« in deutscher Übersetzung: Maxim Gorki, Klim Samgin. Übers. von Hans Ruoff. In vier Bänden. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1982. Der Roman »Das Leben des Klim Samgin«, zit. in meiner Übersetzung nach dem russischen Original, veröffentlicht in den Gesammelten Werken Gorʹkijs: Горький, Максим, Полное собрание сочинений. Художественные произведения в двадцати пяти томах. Москва: Наука 1968-1975, Band 21-25. Apparat und Werkkommentar zu »Klim Samgin« in der gleichen Ausgabe der Gesammelten Werke in meiner Übersetzung (Sigle Г-25), darin insbesondere »Zur Entstehungsgeschichte des Werks« (russ. »К творческой истории произведения«, Sigle TIP), Band 25, S. 41-70, und »Erste Rezeption durch Leser und Literaturkritik« (russ. »Первые отклики читателей и критики«, Sigle POČK), Band 25, S. 71-110. Ausgewählte Briefe und Material aus Gorʹkijs Nachlass in meiner Übersetzung nach der Ausgabe der Gesammelten Werke (Sigle Г-30): Горький, Максим, Собрание

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Historische Zeit im Narrativ

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