Historische Sprachwissenschaft als philologische Kulturwissenschaft 9783737004473, 9783847104476, 9783847004479

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Historische Sprachwissenschaft als philologische Kulturwissenschaft
 9783737004473, 9783847104476, 9783847004479

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Michael Bernsen / Elmar Eggert / Angela Schrott (Hg.)

Historische Sprachwissenschaft als philologische Kulturwissenschaft

Festschrift für Franz Lebsanft zum 60. Geburtstag

V& R unipress Bonn University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0447-6 ISBN 978-3-8470-0447-9 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0447-3 (V& R eLibary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.  2015, V& R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort ........................................................................................................................ 11

I. Historische Sprachwissenschaft: Traditionen, Perspektiven, Vermittlungen Wulf Oesterreicher Zum Status der romanistischen Linguistik – Gegen ihre ‚Verächter‘ ............... 15 Reinhold F. Glei Historische Sprachwissenschaft, historisch betrachtet – Das Beispiel von Theodor Biblianders De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius (1548) ..................... 41 Sebastian Greußlich Philologie als Kulturwissenschaft, reflexive Interdisziplinarität und Sprachgeschichte – zwei Fallbeispiele ............................................................. 55 Dietmar Osthus Zur Vorstellung von Sprachgeschichte und Sprachentwicklung in der frühen Neuzeit: Fauchet, Aldrete und Nunes de Leão ............................. 71 Roland Alexander Ißler Die Gabe des Alphabets – Antike Ursprungserzählungen und romanische Nachklänge des mythischen Narrativs von Kadmos als Kulturstifter und Überbringer der Schrift ................................ 85 Claudia Wich-Reif Frühe volkssprachige Grammatikschreibung kontrastiv: Deutsch – Spanisch ................................................................................. 97

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Inhalt

Ludwig Fesenmeier / Anke Grutschus Historische romanische Sprachwissenschaft zwischen Tradition und Employability. Ein Blick in neuere Lehrwerke ......................... 109 Alf Monjour Lingüística histórica aplicada. Toledo, Isabel, Águila Roja y el problema de la lengua en la ficción televisiva española de corte seudohistórico ............ 129

II. Sprachkultur und Geschichte der Sprachkultur Johannes Kabatek Sprachkultur und Akkomodation .......................................................................... 165 Monika Wingender Sprachenpolitik in der Russischen Föderation. Zur Simulation der Implementierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in Russland ......................... 179 Claudia Polzin-Haumann Die „Proposition de loi constitutionnelle visant à ratifier la Charte européenne des langues régionales ou minoritaires“ – Ein neues Kapitel in der Diskussion um die Charta in Frankreich? ............ 195 Wolfgang Asholt Zwischen Straßburg und Bonn: Ernst Robert Curtius und die Entdeckung der (französischen) Gegenwartsliteratur ........................ 209 Elmar Eggert Neue Beobachtungen zur Sprachkultur in der Bretagne ................................... 225 Felix Tacke „Substituyendo el ‚frac‘ o el ‚smoking‘ por la democrática chaqueta“: Zur Kultivierung der Aussprache im Spanischen ........................... 241

III. Sprachgeschichte und historische Varietätenlinguistik Maria Selig Mittelalterlicher Sprachausbau, Überdachungsprozesse und sprachliche Normen: Fokussierte „Dialekte“ und instabile Ausbauvarietäten ................... 259

Inhalt

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Albrecht Greule Romanische Sprachrelikte in Bayern ...................................................................... 281 Francisco A. Marcos-Marín Sobre ciertas características que contribuyen a la configuración del español de San Antonio, Tejas ......................................... 291 Jörn Albrecht Der Katrin ihren Freund hab ich glatt abgehängt – ‚Primärer‘ vs. ‚sekundärer‘ Substandard. Ein Beitrag zur historischen Varietätenlinguistik ................................................ 305 Marco García García Entwicklung und historischer Stillstand – zur DOM im Spanischen .............. 317 Óscar Loureda / Lola Pons Rodríguez Sobre la creación de las partículas discursivas en español: tradicionalidad y gramaticalización .................................................. 335 Steven N. Dworkin El valor analítico de las primeras documentaciones en los diccionarios etimológicos ............................................ 353 Ingrid Neumann-Holzschuh Early Louisiana French Correspondence. Auf den Spuren des Kolonialfranzösischen im 18. und 19. Jh. ......................... 363 Gerald Bernhard Einblicke in Sprecherbiographien von Walsern im Tessin und im Ossola-Tal ................................................................... 379 Thomas Krefeld Sprachliche Variation im kommunikativen Raum: Neun Anhaltspunkte .................................................................................................. 393 Wolfgang Schweickard iopeagi, murluc bassi, peiudur – Verderbte Turzismen in den Habiti antichi et moderni von Cesare Vecellio ......................................... 405

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Inhalt

IV. Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte: Diskurse, Texte, Traditionen Raymund Wilhelm Die Geschichte eines individuellen Textes als Gegenstand sprachhistorischer Forschung – Traditionen der altlombardischen Alexiuslegende ......................................... 413 Annette Gerstenberg Perspektiven einer länder- und textsortenvergleichenden Nachrichten-Geschichte ........................................... 427 Martin Kött Interview im Spaziergang – eine journalistische Texttradition im Wandel .................................................. 439 Frankwalt Möhren Jésus le forgeron – Analyse de signification et savoir extralinguistique ........................................ 451 Angela Schrott Präsente Schreiber(innen). Nähe und Lebendigkeit in privaten Briefen aus diskurstraditioneller Sicht ............................................. 479

V. Sprach- und Kommunikationsgeschichte aus literaturwissenschaftlicher Sicht Michael Bernsen Douce France – Frankreichs heimliche Nationalhymne und ihre Wurzeln ......................................................................... 501 Mechthild Albert Wissensvermittlung und Konversationsrhetorik in Lope de Vegas Novelas a Marcia Leonarda und Francisco Rodrigues Lobos Corte en aldea ............................................... 515 Rainer Zaiser Saluto – Salute: Der Gruß der Dame und das Heil der Liebenden – Zur semantischen Transformation eines Motivs in der italienischen Liebesdichtung des Mittelalters .......................................... 529

Inhalt

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VI. Wissen und Sprache: Textgeschichte, Übersetzung, Wissenstransfer Manfred Eikelmann / Arne Schumacher Paratexte in der Klassiker-Rezeption – Zum experimentellen Textstatus der spätmittelalterlichen deutschen Übersetzungen der Consolatio Philosophiae des Boethius ............. 545 Désirée Cremer Die providentia und das liberum arbitrium in französischen Consolatio-Übersetzungen – Zur Wiedergabe der boethianischen Konzepte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit .............. 567 Wiltrud Mihatsch Referenzielle Besonderheiten von Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten ..................................... 579 Martin G. Becker Informationsstruktur und Satzanordnung in der Vulgata und den frühen volkssprachlichen Bibelübersetzungen von Lefèvre d’Etaples und Casiodoro de Reina ........................ 601 Heidi Aschenberg Sprachgeschichtsschreibung und Übersetzung – eine Skizze ............................ 631 Monika Schmitz-Emans Das Wörterbuch als literarisches Format – Zu Spielformen und Poetik diktionaristischer Schreibweisen ....................... 645 Carsten Sinner Zur Bedeutung von Wörterbüchern und wissenschaftlichen Abhandlungen für den Umgang mit Gallizismen im Portugiesischen – Das Beispiel von port. marna, marne, marno .................... 663 Raúl Sánchez Prieto Visibilidad dialectal en la web social – herramientas para su determinación .................................................................. 677

Vorwort

Die Geschichtlichkeit und Kulturalität der Sprache und des Sprechens ist eine Grundkonstante des Nachdenkens über Sprache. Franz Lebsanfts Schriften sind wesentlich von dieser Erkenntnis und ihren philologischen Traditionen geprägt. Ein durchgängiges Anliegen, das seine Schriften durchzieht, ist daher die Wahrung und Weiterentwicklung philologischer Herangehensweisen, die sich auch in der Öffnung seines Werks zur Literaturwissenschaft zeigt. Der vorliegende Band, den wir unserem Lehrer und Kollegen Franz Lebsanft als Festgabe zu seinem 60. Geburtstag widmen, versucht, den in seinen Schriften präsenten Spannungsbogen von alter und neuer Philologie abzubilden. Die Beiträge behandeln die Bereiche der historischen Sprachwissenschaft, der Sprachkultur und Geschichte der Sprachkultur, der Sprachgeschichte und historischen Varietätenlinguistik, der Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte in Diskursen, Texten und Traditionen, ferner das Verhältnis von Wissen und Sprache in der Überlieferung von Texten und Übersetzungen sowie die Bereiche der Sprach- und Kommunikationsgeschichte aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Das Spektrum der versammelten Beiträge repräsentiert die aktuellen Positionen einer historischen Sprachwissenschaft, die sich als philologische Kulturwissenschaft versteht. Damit wollen wir der herausgehobenen Bedeutung gerecht werden, die Reflexionen zu den Modellen und Paradigmen der historischen Sprachwissenschaft in Franz Lebsanfts Schriften haben. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, theoretische und methodische Standpunkte der historischen Sprach- und Kulturwissenschaft abzubilden und zu illustrieren, welchen Themen und Fokussetzungen sich diese Wissenschaften aktuell zuwenden und welche Aufgaben sie innerhalb und außerhalb der Romanistik für sich formulieren. Dadurch wird die Standortbestimmung der historischen romanistischen Forschung, v.a. gegenüber anderen linguistischen Herangehensweisen der Sprachwissenschaft, geschärft. Unser herzlicher Dank als Herausgeber gilt zuerst den Beiträgerinnen und Beiträgern des Bandes, die sich alle mit viel Offenheit und großem Engagement

Vorwort

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auf das Konzept des Bandes eingelassen haben. Allen Mitwirkenden, die das Erscheinen dieses Bandes ermöglicht haben, danken wir sehr herzlich für vielfältige Unterstützung und Hilfe. Zu nennen ist hier zunächst die verlegerische Betreuung durch den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht / Bonn University Press, für die wir insbesondere Ruth Vachek und ihren Kollegen und Kolleginnen sehr verbunden sind. Herzlich danken wollen wir ferner Désirée Cremer und Felix Tacke für die kritische Lektüre der Endfassung des Bandes. Unser besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns bei der redaktionellen Arbeit tatkräftig unterstützt haben. Zu nennen sind hier Sandra Issel-Dombert und Tanja Krasny in Kassel; Carin Jung, Dina Diercks, Maria Erben und Milan Herold in Bonn sowie Britta Steinke und Benjamin Peter in Kiel, die großen Anteil an der Endredaktion des Bandes haben. Bonn, Kiel und Kassel, im April 2015 Michael Bernsen, Elmar Eggert, Angela Schrott

I.

Historische Sprachwissenschaft: Traditionen, Perspektiven, Vermittlungen

Wulf Oesterreicher Zum Status der romanistischen Linguistik – Gegen ihre ‚Verächter‘

„There seems to exist little, if any, respect for Romance linguistics among theoretical linguists.“ Jurgen Klausenburger (2010: 6) „In domo Patris mei mansiones multae sunt.“ Joh 14, 2

1. Problemskizze Aktuell gibt es in der Romanistik durchaus bedenkliche Entwicklungen, und in der romanistischen Linguistik stehen kontrovers diskutierte Fragen im Raum. Die Beschäftigung mit ihnen ist zur Zeit deswegen wichtig, weil im Selbstverständnis der Philologien und im Universitätsbereich, auch außerhalb der Romanistik, Unsicherheiten und Fehlentwicklungen zu diagnostizieren sind, die durch die folgenden Reflexionen, so hoffe ich, deutlichere Konturen gewinnen. Vor allem im Umkreis der US-amerikanischen Zeitschrift La Corónica. A Journal of Medieval Hispanic Languages, Literatures and Cultures, die im Frühjahr 2003 unter dem provokanten Titel „Historical Romance Linguistics: The Death of a Discipline?“ in einem von Steven N. Dworkin verantworteten „Critical Cluster“ eine Reihe von renommierten Linguisten zu Wort kommen ließ, 1 hat sich anschließend eine Diskussion entwickelt, die in verschiedenen Publikationen auch außerhalb der Zeitschrift wichtige Probleme der romanistischen Linguistik thematisierte, insgesamt aber „the presumable death of a discipline“ 1 Die Nummer 31/2 enthält Beiträge von Steven N. Dworkin, Jerry R. Craddock, María Teresa Echenique, Johannes Kabatek, Peter Koch, Michele Loporcaro, Jens Lüdtke, René Pellen, Ralph J. Penny, Joel Rini, John Charles Smith, Dieter Wanner, Kenneth Wireback und Roger Wright (vorwiegend, aber nicht nur von Hispanisten).

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Wulf Oesterreicher

eher nicht bestätigen wollte. Auch Franz Lebsanft hat hierzu Stellung genommen und widersprach 2005 in einem Artikel mit dem programmatischen Titel „Historical Romance Linguistics: The Future of a Discipline“ den in La Corónica 2003 angesprochenen kritischen Ansichten: 2 Historical Romance Linguistics is a ‚vital‘ and ‚evolving‘ discipline. This vitality, it seems, is impressively represented by the recent, multifaceted Lexikon der Romanistischen Linguistik (Holtus, Metzeltin, and Schmitt 1988-2001) and the new Romanische Sprachgeschichte (Ernst, Gleßgen, Schmitt, and Schweickard 2003-). So, why continue the debate, if tout va bien dans le meilleur des mondes? As I see it, there is a discrepancy between the ‚vitality‘ of excellent research represented by the work of distinguished scholars, and the uncertainties that surround the discipline in its epistemological and academic surroundings – not only in the US, but also in Europe (Lebsanft 2005: 202).3

Um diese ‚epistemological and academic uncertainties‘ und die damit verbundenen Formen einer ‚Gefährdung‘ soll es in meinem Beitrag gehen. Diese uncertainties sind auch im Prospekt und dem Titel der Festgabe Historische Sprachwissenschaft als philologische Kulturwissenschaft in der Romanistik sichtbar, deren Zielrichtung zweifellos positiv zu beurteilen ist; nach meinem Dafürhalten ist sie freilich zu ungenau und defensiv strukturiert, enthält zu viele Kompromisse und Zweideutigkeiten und lässt wichtige Grundsatzentscheidungen ungeklärt. Damit ergeben sich aber unnötigerweise Angriffspunkte für eine Fundamentalkritik durch die zahlreichen Gegner und ‚Verächter‘ der romanistischen, vor allem komparatistisch und diachronisch orientierten Sprachwissenschaft, die im Motto Nr. 1 zum Ausdruck kommt. 4 Ihnen 2 Als Herausgeber der Romanischen Forschungen hat Lebsanft übrigens das Thema aufgegriffen und auch einschlägige Artikel von Meisel/Schwarze 2003, Kramer 2004, Loporcaro 2005 und Wilhelm 2010 veröffentlicht, vgl. dazu Lebsanft 2012. Die kritischen Punkte werden in Klausenburger 2010 zusammenfassend besprochen, vgl. Anm. 4. 3 Zu den angesprochenen ‚epistemological and academic uncertainties‘ meldeten sich neben Lebsanft nach 2003 auch noch Martin Maiden, John M. Lipski, David Pharies, Emilio Ridruejo, Pedro Álvarez de la Miranda, Rocío Caravedo, Concepción Company Company, Rolf Eberenz, José Luis Girón, John N. Green, Jürgen Meisel, Christoph Schwarze, Michele Loporcaro und Jurgen Klausenburger mit unterschiedlich relevanten Beiträgen zu Wort. So greift etwa, wie wir sehen werden, die gutgemeinte ‚Verteidigung‘ der romanistischen Linguistik von John Lipski zu kurz und geht wissenschaftssystematisch in eine falsche Richtung; Steven N. Dworkin beschreibt sie folgendermaßen: „While conceding that traditional comparative historical Romance linguistics may be virtually dead in North American universities, John Lipski seeks to identify new and promising reasearch paradigms […]. Much of the relevant work is devoted to varieties of Spanish, Portuguese, French and Italian spoken outside Europe. Lipski identifies as one of the highest research priorities that should command our attention the assembly of a comprehensive history of colonial Latin American Spanish […]“ (Dworkin 2005: 128). 4 Die dramatischen Verluste der Attraktivität der Romanistik kommen in den von mir frei nachformulierten Punkten zum Ausdruck, die Jurgen Klausenburger 2010: 1-14, bes. 6 als für die USamerikanischen Universitäten kennzeichnend aufgelistet hat und die teilweise auch in Europa (und Deutschland) von den Befürwortern des Bologna-Prozesses billigend in Kauf genommen

Zum Status der romanistischen Linguistik – Gegen ihre ‚Verächter‘

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kann nur durch eine grundsätzliche, offensive Reaktion auf die Fehlinterpretationen der theoretischen Positionen der Kritik der Wind aus den Segeln genommen werden, was unserem Jubilar sicherlich gefallen wird. Trotzdem ist aber natürlich zu befürchten, dass diese Kritiker der romanistischen Linguistik, die vor allem ihr eigenes ‚Revier‘ markieren wollen und in schneidigem Ton Theoriedefizite, Traditionalismus, Kommunikationsverweigerung und Provinzialismus diagnostizieren, 5 sich von ihrer ‚Kanonenbootpolitik der Einschüchterung‘ nicht abbringen lassen werden... Bei den angesprochenen kritischen Angriffspunkten handelt es sich nicht allein um das Konzept der ‚Romania in Vergangenheit und Gegenwart‘, das in der Tat häufig noch als Ideologem funktionalisiert wird, um die Fragen nach der ‚Romanischen Philologie‘ als Fach und nach den damit verbundenen institutionellen und bildungspolitischen Zusammenhängen oder nach der Stellung der romanistischen Linguistik als Disziplin in den Neuphilologien, um die Kritik an ihrer grundsätzlichen komparatistischen und historischen Orientierung und an den als elitistisch gebrandmarkten Ansprüchen ihrer abschreckenden Sprachenvielzahl – letztlich geht es nämlich um für die linguistische Arbeit insgesamt zentrale sprachtheoretische, philosophisch-wissenschaftstheoretische, wissenschaftssystematische und akademisch-institutionelle, bildungspolitische Problemfelder. Die speziell die Romanistik betreffenden Fragen, die, wie deutlich werden wird, jedoch gerade auch für die Linguistik insgesamt wichtig sind, werden außerhalb der deutschsprachigen Länder, wo bekanntlich kaum eine institutionalisierte Romanistik anzutreffen ist, in der Regel mit Unverständnis betrachtet. 6 Sie werden inzwischen jedoch auch von deutschen werden: (a) Sprachgeschichte ist in den Fachorientierungen Spanische, Französische und Italienische Literatur nicht mehr vertreten; (b) Romanistik und romanistische Linguistik sind verhältnismäßig stark von Stelleneinzügen und Umwidmungen von Professuren betroffen; (c) Kenntnisse mehrerer romanischer Sprachen und des Lateinischen sind bei Studierenden kaum mehr gegeben; (d) das Fach gilt daher auch als elitistisch; (e) die Lehrenden sind vom Alter her (und als white males!) nicht besonders attraktiv; (f) in den letzten Jahren sind in den USA keine modernen Einführungen oder Handbücher mehr erschienen (vgl. aber immerhin Alkire/Rosen 2010, auch Wanner 2006; die wenigen romanistischen Werke von amerikanischen Kollegen sind fast durchweg in europäischen Verlagen erschienen, vor allem Amsterdam, Cambridge, Berlin); (g) für die Publikationen im Fach werden außerdem häufig romanische Sprachen gefordert, was für die angloamerikanische Welt ein Zeichen von Arroganz ist. Fatal ist (h) aber besonders auch die Tatsache, die uns noch beschäftigen wird und die Klausenburger folgendermaßen formuliert (vgl. Motto Nr. 1): „There seems to exist little, if any, respect for Romance linguistics among theoretical linguists“ (Klausenburger 2010: 6). 5 Die unter diesen Begriffen fassbaren Kritiken bilden – unterschiedlich verteilt und gewichtet – gewissermaßen den basso continuo in vielen der Beiträge in La Corónica; vgl. auch die zusammenfassenden „Further reflections on ‚Historical Romance Linguistics: The Death of a Discipline‘?“ von Dworkin 2005. 6 Als rühmliche Ausnahmen sind hier unsere italienischen Freunde vor allem in Neapel, Rom, Padua, Pisa oder auch in Bergamo zu nennen, die die Tradition der ‚Altmeister‘ Alberto Vàrvaro

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Wulf Oesterreicher

Romanisten teilweise äußerst missverständlich und parteilich dargestellt und überraschend unterkomplex konzipiert. 7 So werden wissenschaftstheoretische, wissenschaftssystematische, wissenschaftsorganisatorische, bildungspolitische, rezeptions- und wirkungsbezogene Fragen verwechselt, wenn eine kulturwissenschaftlich sehr offene Sprachgeschichte und die philologische Textarbeit generell gegen die angebliche Theorielastigkeit allgemein sprachwissenschaftlicher Positionen ausgespielt werden, wenn die romanistische Linguistik als Hilfswissenschaft der Philologie bezeichnet wird, wenn eine gespenstische Diskussion um die Rolle des Besonderen und des Allgemeinen in der romanistischen Linguistik geführt wird, wenn gar die Existenz einer ‚linguistischen Romanistik‘ postuliert und diese der ‚romanistischen Linguistik‘ entgegengesetzt wird, wenn die durchaus fragwürdigen bildungspolitischen Optionen des Bologna-Prozesses und nordamerikanische ‚Spezialprobleme‘ auf europäische, besonders deutsche Verhältnisse projiziert werden, 8 wenn sich Kollegen um die Rezeption der romanistischen Linguistik sorgen, also um ihren „impact outside of German-speaking Europe“, und dann als Remedur den Rat geben, man solle sich doch einfach um die heute angesaten Themen der grammatischen und kognitiven Aspekte von Sprache

oder Lorenzo Renzi effektiv und kompetent fortsetzen: Man vergleiche etwa den von Roberto Antonelli, Paolo Canettieri und Arianna Punzi 2012 an der Sapienza herausgegebenen umfänglichen Band Fra Autore e Lettore. La filologia romanza nel XXI secolo fra l’Europa e il mondo oder den nicht nur für Latinisten und Romanisten wichtigen, 2013 in Florenz erschienenen Sonderband von Renovatio et Traditio Plurilinguismo e diglossia nella Tarda Antichità e nel Medio Evo; dieser von Piera Molinelli und Federica Guerini publizierte und mit einer bemerkenswert dichten Einleitung versehene Band enthält u.a. Beiträge von Carmen Codoñer, Michel Banniard, Pierluigi Cuzzolin, Roger Wright und Rosanna Sornicola. Demgegenüber reproduzieren die befremdlichen Mäkeleien von Michele Loporcaro 2005 am Manuale di linguistica e filologia romanza (2003) von Lorenzo Renzi und Alvise Andreose die in Anm. 4 angedeuteten, für die Befürworter des Bologna-Prozesses und US-amerikanischer Positionen charakteristischen Fehleinschätzungen, die Loporcaro positiv in der Bezeichnung nuova università fasst. Auch in Großbritannien gibt es wichtige Vertreter der historischen romanistischen Linguistik, man denke nur an die 2011 und 2013 erschienenen, von Martin Maiden, John Charles Smith und Adam Ledgeway herausgegebenen zwei Bände von The Cambridge History of the Romance Languages. Für Spanien und weite Teile der Filología Hispánica kann man wohl sagen, dass sie zumindest in stetem und fruchtbarem Kontakt mit der deutschsprachigen romanistischen Linguistik stehen, wobei dies gerade auch für die jüngeren Linguisten gilt; vgl. dazu Oesterreicher 2011a. 7 Man vergleiche hierzu vor allem die Positionen von Jürgen Meisel und Christoph Schwarze 2003 einerseits und Johannes Kramer 2004 andererseits, vgl. dazu auch Lebsanft 2012. Zu den Fachkonzeptionen unserer romanistischen Literaturwissenschaftler möchte ich mich hier nicht äußern... 8 Vgl. noch einmal Dworkin 2005: 126, auch Loporcaro 2005 und Klausenburger 2010: 6.

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kümmern – die romanistische Linguistik „should consider itself part of general linguistics“ 9 und solle am besten auch jede Bindung an die Philologie lösen. 10 Bei derartigen Stellungnahmen ist ersichtlich, dass eine wissenschaftstheoretische Reflexion auf die sprachtheoretisch dimensionierten gegenstandsbezogenen Grundlagen der Disziplin Sprachwissenschaft, auf ihre metatheoretischen Optionen in Methodologie und Präsentationstheorie sowie auf die intradisziplinären sachbezogenen Gliederungen der Linguistik fehlt. Damit wird einem für die Sprachwissenschaft insgesamt dramatisch zu nennenden Erkenntnisverzicht Vorschub geleistet. Diese und andere Fragen haben mich nicht erst in letzter Zeit beschäftigt 11 und es ist nun zusätzlich eine schöne Koinzidenz, dass soeben ein KongressSammelband im Wilhelm Fink Verlag erschienen ist, den Maria Selig und ich herausgegeben haben. Er trägt den Titel Geschichtlichkeit von Sprache und Text. Philologien – Disziplingenese – Historiographie und enthält auch für die angedeuteten Problemstellungen wertvolle Informationen und einschlägige Klarstellungen. 12 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Herausarbeitung des paradigmatischen Kerns der Sprachwissenschaft für die Disziplin Linguistik notwendig ist und gerade auch die Vielfalt intradisziplinärer Ausfaltungen impliziert und zu legitimieren vermag. Zu diesen intradisziplinären Partialisierungen gehört gegenstandsbezogen nun eben auch eine romanistische Linguistik, die bezüglich der verschiedenen Ebenen der einzelsprachlichen Strukturierung selbstverständlich synchronisch und diachronisch betrieben werden muss, will man die fundamentalen sprachtheoretischen Optionen der Sprachwissenschaft nicht verfehlen. Gleichzeitig werden durch eine derartige grundlegende Bestimmung – gegenüber der grassierenden Beliebigkeit von ‚Öffnungen‘ in der linguistischen Forschung – überhaupt erst echte interdisziplinäre Kooperationen 9 Mit den beiden englischen Zitaten referiert Dworkin 2005: 126 die Überzeugungen von Meisel/Schwarze 2003. 10 Vgl. auch die Kritik von Lebsanft an Meisel und Schwarze, die eine linguistique romane et générale befürworten, „en contact très étroit avec les sciences cognitives et en même temps totalement coupée de ses origines philologiques“; wie wir noch sehen werden, ist allerdings auch die von Lebsanft erwähnte Gegenposition, nämlich die einer „linguistique romane au service de la philologie“ (Lebsanft 2012: 179) inakzeptabel. 11 Vgl. bes. Oesterreicher 2009, 2010, 2014a und 2014b, aber auch schon 1979. 12 Im Band vergleiche man besonders die Einleitung von Oesterreicher/Selig 2014a, auch den Beitrag Oesterreicher 2014a. Zurecht betont Lebsanft: „After a long period of anti- or ahistoric approaches to the humanities during a good part of the last century, we do not witness, at the outset of this new century, the returning of historical, but of evolutionary thinking“ (2005: 203); die Differenz zwischen historischem Denken und dem Konzept der Geschichtlichkeit von Sprache und Text einerseits und einer „bloß“ evolutionären Begrifflichkeit andererseits wird besonders deutlich im Buch von William Croft Explaining Language Change. An Evolutionary Approach aus dem Jahr 2000; vgl. dazu insgesamt Oesterreicher 2005, auch 2001a und 2001b.

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ermöglicht, die fest im Sprachwissenschaftlichen verankert bleiben und die sich nicht mit den vielfach unreflektiert und vorschnell vorgenommenen regionalund kulturwissenschaftlichen Ausgriffen und den Anbiederungen bestimmter Linguisten bei den Kognitionswissenschaften, der Neurologie, der Hirnforschung, der Informatik usw. ‚vertragen‘. Vor allem aber ergibt sich aus diesen Überlegungen wissenschaftspragmatisch ein wichtiges Argument für den Verbleib der Disziplin romanistische Linguistik im Fach Romanistik, also der Romanischen Philologie. 13

2. Theoretische Orientierung 2.1. Das Drei-Ebenen-Modell

Als theoretischen Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu den eben angesprochenen Problemfeldern und Problemkonfigurationen wähle ich den bekannten von Eugenio Coseriu stammenden, inzwischen weiterentwickelten Gedanken des Drei-Ebenen-Modells des Sprachlichen. 14 Ich skizziere knapp den sprachtheoretischen Grundgedanken, der im Blick auf einige der oben kritisch angedeuteten Positionen rasch zu wesentlichen Klärungen führt. Nach Coseriu kann man die Sprache bestimmen als eine universelle menschliche Tätigkeit, die individuell ausgeübt wird, dabei aber immer historisch bestimmten Techniken folgt. Aus dieser sprachtheoretischen Bestimmung ergibt sich grundsätzlich, dass Sprachliches auf drei Ebenen oder in drei Perspektivierungen betrachtet werden kann, die Coseriu als aktuell, historisch und universell bezeichnet. Es ist für das Verständnis des Funktionierens der Sprache entscheidend, dass die aus dem Sprachbegriff deduzierbaren Ebenen und Sachbereiche analytisch getrennt werden können. Diese Ebenen des Sprachlichen lassen sich, mit einer Coseriu präzisierenden Erweiterung auf der historischen Ebene, in folgendem Schema durch vier Gegenstandsbereiche visualisieren, wobei die sukzessive Determination des Sprachlichen, von den allgemeinsten Kennzeichen des Sprechens (A) über die zweifach zu bestimmenden Determinanten der historischen Ebene (B) und (C)

13 Vgl. dazu unten die Abschnitte 3. und 4. Wie man sehen wird, sind meine Argumente aber gerade nicht einfach als Verlängerung der Diskussionen des letzten Jh.s, um die so genannte Einheit des Faches zu betrachten; dies müsste gegenüber Lebsanft 2005: 202-203 und Dworkin 2005: 126-127 deutlicher herausgestellt werden; vgl. auch Oesterreicher 2009 und 2014a: 302-317. 14 Vgl. dazu und zum Folgenden etwa Coseriu 1981: 35-47, Koch/Oesterreicher 2011: 3-19, auch Beiträge in Schrott/Völker 2005.

Zum Status der romanistischen Linguistik – Gegen ihre ‚Verächter‘

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bis hin zur Konkretion im individuellen, aktuellen, einmaligen Diskurs oder Text (D) in den Pfeilen zum Ausdruck kommt. Universelle Ebene:

menschliche Sprechtätigkeit (A)

Historische Ebene: Einzelsprache (B) Diskurstradition (C) Aktuelle Ebene:

individueller Diskurs/Text (D)

Abbildung 1: Das Drei-Ebenen-Modell des Sprachlichen

Das Schema lässt sich auch umgekehrt lesen, was für die linguistische Methodologie entscheidend ist. Denn der individuelle Diskurs/Text (D), also die konkrete, sinnlich wahrnehmbare phonische oder graphische Äußerung, ist ja in jedem Fall unvermeidlicher Ausgangspunkt aller Erkenntnisziele auf der historischen Ebene der Sprachen, Idiome und Varietäten (B) sowie der Diskurstraditionen (C), und natürlich auch Referenzpunkt für (A). Dieser Punkt ist auch wissenschaftssystematisch wichtig, da für diskursiv-sprachvariationelle, historisch-komparative, philologisch-textbezogene, korpuslinguistische, sprachpsychologische und soziolinguistische Fragestellungen gerade diese Verankerung im konkreten Sprachgebrauch – allerdings in sehr unterschiedlicher Weise – zentrale Bedeutung besitzt. Entscheidend ist für die Sprachwissenschaft und ihre gegenstandsbezogene Zentrierung in Bereich (B), dass die individuellen, aktuellen Daten der Ebene (D) zwar immer Ausgangspunkt, gewissermaßen Forschungsmaterialien sind; ihre Betrachtung ist aber gerade nicht das Erkenntnisziel der Linguistik. 15 Es ist evident, dass sich alle generisch-essentiellen Universalien 16 der menschlichen Sprache, also die Semantizität, die Alterität, die Exteriorität, die Historizität, die Kreativität und die Diskursivität auf den drei Ebenen in jeweils unterschiedlicher Weise ausprägen und zu durchaus spezifischen Fragen führen. Der im Modell vorgestellte sprachtheoretische Gesamtzusammenhang kann also nicht einfach als Gegenstand der Linguistik postuliert werden. Dies bedeutet, dass sich ganz unterschiedliche Disziplinen ebenfalls auf Teile der vier genannten Großbereiche beziehen, die damit ihrerseits Räume für spezifische Forschungsthemen bieten, die einer linguistisch-interdisziplinären Forschung

15 Dies hat Hans-Martin Gauger verschiedentlich mit der notwendigen Klarheit herausgestellt, vgl. etwa Gauger 1981: 12-13. 16 Vgl. Coseriu 1974, Oesterreicher 1979: 224-256, 2001, 2005 und vor allem auch Beiträge in Haspelmath et al. 2001.

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offen stehen müssen. 17 Damit ist aber auch klar, dass die Disziplin Sprachwissenschaft, die sich bekanntlich historisch gegenüber der antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen, vor allem philosophischen und philologischen Sprachreflexion und Sprachbeschreibung etwa um 1800 ‚autonomisiert‘ hat, 18 keinesfalls als ‚die Wissenschaft von der Sprache‘ definiert werden darf, wie dies gelegentlich in Missachtung sprachtheoretischer Grundgegebenheiten geschieht. Auch in Disziplinen wie Philosophie und Logik, Soziologie, Jurisprudenz, Pädagogik, Psychologie, Medizin, in der Informatik, in den Kognitionswissenschaften und anderen ist eine ernstzunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache, mithin eine wissenschaftliche Sprachforschung, anzutreffen, die aber gerade nicht der Sprachwissenschaft subsumiert werden darf, da sie andere Erkenntnisinteressen verfolgt, andere Formalobjekte besitzt und anders arbeitet. Im Unterschied zu den Wissenschaften, die sich mit den anderen drei im Ebenenmodell angeführten Problemfeldern beschäftigen, behandelt die Sprachwissenschaft fast allein den Problembereich (B), also die historisch gewordenen Sprachtechniken. In den zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsorientierungen, die in den Bereichen (A), (C) und (D) arbeiten, ist die Linguistik in ihrer Forschung gegenstandsbezogen von Fall zu Fall auf die Kooperation mit verschiedenen einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen und Fächern angewiesen. Die dabei notwendige reflexive Interdisziplinarität stärkt zusätzlich auch die intradisziplinäre Vielfalt der Linguistik. Es ist wissenschaftstheoretisch und wissenschaftssystematisch daher in höchstem Maße fragwürdig, die notwendigen Präzisierungen der Relationen im Gesamtbereich des Drei-EbenenModells des Diskursiv-Sprachlichen durch die Verwendung der Plurale Sprachwissenschaften, sciences du langage bzw. language sciences oder die erschlichene, häufig nur postulatorische Integration in die so genannten cognitive sciences zu unterlaufen, sie ‚einzuebnen‘ und damit die angedeutete Gesamtproblematik zu verunklären. Die dadurch vollzogenen gegenstandsbezogenen Ausblendungen und unkritisch-dogmatischen Partialisierungen des skizzierten sprachtheoretischen Gesamtzusammenhangs, die wir als solutions de facilité betrachten müssen, sind für Fehlentwicklungen nicht nur innerhalb der Linguistik verantwortlich, sondern führen eben auch zu einer häufig bloß plakativen PseudoInterdisziplinarität. 19

17 Wo dies nicht beachtet wird, ergeben sich gravierende Konfusionen, vgl. etwa Beiträge in Linke/Ortner/Portmann-Tselikas 2003 oder Erhard 2004, genauer vor allem Oesterreicher 2009 und 2014a: 293-294 und 302-306. 18 Vgl. Christmann 1977 und 1985, Gauger 1981, Oesterreicher 2013: 301-311. 19 Zu den genannten Punkten vgl. vor allem Oesterreicher 2009.

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2.2. Relationierung der Ebenen

Um Status und Ort der sprachlichen Techniken, Regeln und Normen (B) besser beurteilen zu können, wollen wir – dies macht Abbildung 1 ja schon deutlich – diese kurz in ihrer dreifachen Relationierung bestimmen. Auf der Ebene der sprachlichen Techniken werden den Sprachbenutzern sozusagen die historisch gewordenen Mittelstrukturen an die Hand gegeben, die die Linguistik synchronisch und diachronisch erforscht; diese werden in den Bereichen (A), (C) und (D) genutzt und teilweise von diesen Bereichen unterschiedlich determiniert; genau hier kommen auch die Kooperationen mit anderen Disziplinen ins Spiel. Wichtig ist, dass dabei die Sprachen, Idiome und Varietäten immer als Resultate kontingenter einzelsprachlicher und kommunikativ-diskursiver Entwicklungen mit ihren Elementen, Regeln und Normen ein verallgemeinertes soziales Wissen darstellen, das erstens Variation aufweist und zweitens per definitionem historisch fortbildbar, also grundsätzlich geschichtlicher Veränderung unterworfen ist. Insofern ist beispielsweise der gern benutzte Ausdruck „the paradox of linguistic change“ eine naive Beurteilung sprachlicher Verhältnisse. 20 Außerdem genügen experimentell-quantitativ arbeitende Forschungen in der Regel nicht den genannten Anforderungen. Es sei nochmals gesagt, dass für die Linguistik die Kooperation mit den Forschungsfeldern (A), (C) und (D) insofern und allein in dem Ausmaß notwendig ist, als diese Kooperationen für die Analyse und Beschreibung der sprachlichen Techniken Relevanz besitzen: So sind, um nur einige Beispiele zu geben, kognitive Aspekte für eine adäquate Darstellung von Etymologien, von sprachlicher Innovation und von Grammatikalisierungsvorgängen oder soziohistorische Fakten für die Grammatik, Semantik und Lexikologie dann linguistisch relevant, wenn sie zum Verständnis der jeweiligen Sprachtechnik oder der dieser zugrunde liegenden sprachhistorischen Prozesse beitragen. 21 Dies gilt gerade auch für die Sprachgeschichte, die weder mit der sogenannten ‚Historischen Grammatik‘ identifiziert werden darf, noch auch Sprachkulturen als ganze zu fokussieren vermag. Letztere werden aber natürlich dort relevant, wo sie zu den bekannten ausbaubezogenen sprachlichen Diversifizierungen und Restrukturierungen führen. Die Literatur ist hier eine wichtige Ausbausäule, sie steht aber eben nur neben Recht, Religion, Wissenschaft usw. Kurz: Sprachgeschichte ist 20 Vgl. einige Beiträge in Detges/Waltereit 2008; diesbezüglich wichtig ist Winter-Froemel 2008. 21 In dieser Hinsicht vorbildlich sind die Arbeiten von Peter Koch, die kognitive Kategorisierungen immer im angesprochenen Sinne funktionalisieren (Koch 2001, 2005, 2008). Vgl. hierzu auch Blank 1997, Blank/Koch 2003, Koch/Oesterreicher 1996, Oesterreicher 2004, auch Beiträge in Delbecque 2002, Blumenthal/Tyvaert 2003, Lebsanft/Gleßgen 2004 und Stehl 2005. Zu den Prozessen der unsichtbaren Hand vgl. Keller 1990, zur Grammatikalisierungstheorie vor allem Lehmann 2005, Detges 2001, allgemein auch Wurzel 1997.

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mithin allein denkbar als ein soziokultureller, mehrdimensional eingebetteter objektsprachlicher Prozess mit seinen Etappen und Stadien, und die hier sichtbare ‚Geschichtstiefe‘ ist sprachtheoretisch begründet. In diesem objektsprachlichen Prozess werden die sprachlichen Varietäten und Idiome als durch Regeln und Normen definierte sprachliche Techniken, die in bestimmten Räumen und zu bestimmten Zwecken in Diskurstraditionen und den diesen entsprechenden Diskursdomänen funktionieren, in eben diesen Verwendungen von den Sprechern und Sprechergruppen historisch fortgebildet. 22 Diese objektsprachlichen Prozesse, die Innovation und Wandel beinhalten, werden übrigens vom Sprachbewusstsein der Sprecher begleitet, das gelegentlich in die Klarheit historisch greifbarer Bewusstseinsformen tritt und dann natürlich auch vom Linguisten zu berücksichtigen ist. Die sprachlichen Techniken sollen jetzt kurz auf Aspekte der Sprechtätigkeit (A) bezogen werden, die als universelle Aktivität des Sprechens Leistungen wie Referentialisierung, Prädizierung, raum-zeitliche und personale deiktische Orientierung, Kontextnutzung, motivationale und argumentative Finalisierungen von Äußerungen fundiert und steuert. Diese Leistungen sind als universale Voraussetzung für die einzelsprachlichen Mittelstrukturen und die diskurstraditionell mitbestimmten Strategien der Produktion, Rezeption und Transmission von Diskursen und Texten im Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen zu betrachten; sie sind gerade auch für den Sprachvergleich und typologische Fragen unabdingbarer Hintergrund. Diese Strategien kommen also in Sprechregeln zum Ausdruck, in denen es um allgemeinste Kennzeichen von Leistungen wie etwas äußern, etwas als etwas erkennen und benennen, etwas über etwas aussagen, einen Sachverhalt zeitlich einordnen, Sachverhalte und kommunikative Größen lokalisieren, Sachverhalte gewichten und sie diskursiv ordnen, bestimmte Sprechakte vollziehen usw. geht. Diese universellen Sprechleistungen sind voll und ganz – um einen glücklichen Ausdruck von Arnold Gehlen zu verwenden – in die Vollzüge des „menschlichen Gesamtleistungsaufbaus“ 23 integriert, der eben volitional-motivationale, affektive und kognitive, aber auch artikulatorisch-motorische, auditive und visuelle Komponenten umfasst. Es ist evident, dass diese Komponenten auf keinen Fall als nur-sprachlich 22 Eine moderne Konzeption der Sprachgeschichte repräsentieren zahlreiche Beiträge in Ernst u.a. 2003-2009, in Aschenberg/Wilhelm 2003, Schrott/Völker 2005 und in Hafner/Oesterreicher 2007. Wichtig sind vor allem Koch 2002 und 2010. Zur Kritik an der große Teile der diachronischen Forschung und der traditionellen Sprachgeschichtsschreibung immer noch prägenden ‚invertierten Teleologie‘ vgl. Oesterreicher 2007a. Zum Zusammenhang von Sprachwandel, Varietätenwandel und Sprachgeschichte vgl. auch Oesterreicher 2001a und 2001b. Nicht immer wird übrigens der Unterschied zwischen ‚Sprachgeschichte‘ und ‚Historischer Grammatik‘ richtig konzeptualisiert, vgl. aktuell etwa Kaiser 2014. 23 Vgl. Gehlen 1971.

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begriffen werden können, was wiederum verständlich macht, warum die Sprachwissenschaft für die Behandlung bestimmter Fragen auf der universellen Ebene des Sprechens in ihren spezifischen Forschungsbemühungen naturgemäß und ganz grundsätzlich auf eine Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften verwiesen ist; sie muss mit Phonetik und Physiologie, Anatomie und Biologie, Neurologie, mit den Kognitionswissenschaften und der Psychologie, mit den Kommunikationswissenschaften, der Soziologie und insbesondere der Wissenssoziologie, mit Semiotik, Logik, Anthropologie und anderen mehr im angedeuteten Sinne zusammenarbeiten. Für die Sprachwissenschaft entscheidend ist dabei immer die schon erwähnte grundsätzliche Einsicht, dass sich gemäß dem Universale der Historizität die universalen Leistungen der Sprechtätigkeit in den historischen Einzelsprachen und ihren Techniken, Regeln und Normen unterschiedlich ausprägen. Dies erfordert, dass für linguistische Untersuchungsbereiche wie Phonologie, Morphologie und Syntax oder lexikologische Fragen, für die Varietätenlinguistik, die Soziolinguistik, die historische Grammatik, die Sprachgeschichte, die Etymologie, die Dialektologie, die Sprachtypologie, die kontrastive Linguistik, die Grammatikalisierungsforschung, für Sprachwandeltheorien, für die Spracherwerbsforschung, aber auch für die so genannte Formallinguistik und die Universalgrammatik usw. im Rahmen der Linguistik – je nach Erkenntnisinteressen, Problemperspektivierungen, Idealisierungen und Abstraktionsniveaus – unterschiedliche Gegenstandsbereiche abgegrenzt werden müssen, die als sekundäre Partialisierungen des umfassenden Formalobjekts der Linguistik zu betrachten sind und im Falle der romanistischen Linguistik naturgemäß weiteren Determinationen unterliegen. Alle diese weiteren Partialisierungen können jeweils legitimiert werden. In diesem Sinne ist die Linguistik durch die mansiones definiert, auf die das Motto Nr. 2 anspielt. Im Unterschied zu den für (B) konstitutiven Regeln und Normen der sprachlichen Techniken sind Diskurstraditionen mit ihren Regeln (C) bekanntlich nicht an Sprachgemeinschaften gebunden, stehen aber zu den historischen Einzelsprachen und ihren Varietäten insofern in einer ‚ausgezeichneten Beziehung‘, als durch die Diskurstraditionen und Diskursdomänen im Rahmen einer sozialen Semiotik sowohl Versprachlichungstypik wie auch Varietätenwahl notwendig mitbestimmt werden. 24 Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Bestimmung der Philologie und der textwissenschaftlichen Arbeit, aber auch die Einsicht, dass die historische Sprachwissenschaft nicht einfach als

24 Vgl. hierzu Schlieben-Lange 1983: 138-148, Frank/Haye/Tophinke 1997, Koch 1997, SchmidtRiese 1997, Oesterreicher 1997, 2007b und 2014b, Steger 1998, Fritz/Jucker/Lebsanft 1999, Reich 2002, Schrott/Völker 2003, Aschenberg/Wilhelm 2005.

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‚philologische Kulturwissenschaft‘ definiert oder gar als Hilfswissenschaft der Philologie betrachtet werden darf. Die auf der aktuellen Ebene angesiedelten Einzeldiskurse (D), die Sprechtätigkeitsaspekte aufweisen und immer als Aktualisierungen von sprachlichen Techniken sowie als Manifestationen von Diskurs- und Textmodellen zu betrachten sind, bieten für eine Vielzahl von Disziplinen Forschungsgegenstände. Als individualisierte, kommunikativ situierte und kontextualisierte Diskursexemplare stellen sie, im Rahmen der erwähnten Vorgaben, konkrete referentielle Bezüge zur außersprachlichen Wirklichkeit her – oder verweigern gerade dies in bestimmten Diskursen. 25 Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass hier grundsätzlich auch der Ort ist, wo zentral historisch-hermeneutische und philologische Aktivitäten beheimatet sind. Vor allem ist dabei zu beachten, dass die Überlieferungsgeschichte von Texten einen besonderen Zugriff auf die Texte notwendig macht. 26 Auf der einen Seite bedeutet dies, dass die Einmaligkeit individueller Diskurse, die in der Literaturwissenschaft (etwa bei der Interpretation eines Gedichts oder eines Romans), den Rechtswissenschaften (bei einem Testament oder einer Urteilsbegründung), der Psychoanalyse (einem Therapiegespräch), einem Problemfall des Spracherwerbs usw. durchaus Erkenntnisziel sein muss, für die Linguistik, wie schon angesprochen, materialer Ausgangspunkt, aber grundsätzlich nie selbst schon als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen betrachtet werden kann. Andererseits gilt aber wie schon besprochen, dass die Linguistik, entsprechend ihrer jeweiligen Erkenntnisziele und Fragehorizonte, auch in diesem Problemfeld die Kooperation mit anderen Diskurs- und Textwissenschaften suchen muss, da sie sich a) um eine valide Charakterisierung ihrer empirischen Ausgangsmaterialien bezüglich der sprachlichen Techniken, Regeln und Normen bemühen muss und ihrerseits b) diesen Wissenschaften wichtige Einsichten zu bieten hat. Die Notwendigkeit dieser Kooperation ist unmittelbar evident bei einer Betrachtung der konzeptionell gestaffelten Kommunikationsformen, deren Untersuchung von der Forschung zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit und zu den Diskurs- und Texttraditionen vorangetrieben wird und die gerade nicht allein sprachbezogen erfolgen kann, sondern auf umfassende Diskursdomänen wie Recht, Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Religion und Literatur im Rahmen einer sozialen Semiotik Bezug nehmen muss. Hier ist darauf hinzuweisen, dass die so genannte Korpuslinguistik es bei diesem Punkt häufig an 25 Vgl. dazu Oesterreicher 2014b. 26 Hier ist naturgemäß die Diskussion der sogenannten New Philology besonders interessant, zu der Franz Lebsanft und Martin-Dietrich Gleßgen ebenfalls beigetragen haben (Gleßgen, Lebsanft 1997); vgl. auch Lebsanft 2012: 178.

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der notwendigen methodologischen Einsicht und begrifflichen Genauigkeit fehlen lässt, was dann zu methodisch unzulässigen vorschnellen Generalisierungen und fragwürdigen Ergebnissen führt. Der individuelle, aktuelle Diskurs/Text ist nämlich in jedem Fall ein Geschehen, bei dem in unterschiedlicher Gewichtung sprachliche und nichtsprachliche Vollzüge schon immer gemeinsam erscheinen. In ihm liegt, wie Uli Reich sagt, ein „diskursives Ensemble“ 27 vor, in dem – abgekürzt gesprochen – aktualisierte Formen von Sprache, Wissen und Situation „diskursiv geklammert sind“, also gewissermaßen synthetisiert erscheinen. Der Diskurs kann dabei in verschiedenste Bedeutungs- und Wirkzusammenhänge einrücken, die durch Vorgaben der Diskurstraditionen ihre Rahmung und Bestimmtheit gewinnen. Auch die Diskurstraditionen sind ja ihrerseits jeweils durch historische Konfigurationen von Sprache, Wissen und Situation konstituiert und modelliert. Das bedeutet, dass etwa in Konversationen erscheinende alltagsrhetorische Techniken und Verfahren, religiöse oder juristische Diskurstypen oder literarisches Fingieren ganz unterschiedliche Verbalisierungstypen, Finalitäten und Wissenskontexte voraussetzen. 28 Die in einem Handbuch der Logik in einem Syllogismus erscheinenden Namen Sokrates oder Alexander referieren natürlich auf keine Personen des griechischen Altertums; Ähnliches gilt übrigens – jetzt in einem grammatiktheoretischen Kontext – auch für den berühmten oder berüchtigten Satz Coulourless green ideas sleep furiously von Noam Chomsky, mit dem zu linguistischen Demonstrationszwecken sehr vermittelt – für Linguisten aber eindeutig – auf bestimmte sprachliche Regelverletzungen referiert wird…

3. Der paradigmatische Kern der Disziplin Sprachwissenschaft – intradisziplinäre Vielfalt und gelingende interdisziplinäre Forschung 3.1. Zum Formalobjekt der Linguistik

Nach diesen Klärungen sei nun darauf eingegangen, warum auf der historischen Ebene die Frage nach den sprachlichen Techniken, Elementen und Einheiten, Regeln und Normen für die Linguistik zentral ist. Diese den Bereich (B) konstituierenden Fakten sind – wissenschaftstheoretisch gesprochen – das die Sprachwissenschaft konstituierende umfassende Formalobjekt, und die Untersuchung der hier behandelten Fakten macht gewissermaßen das Herzstück der Disziplin Linguistik aus. 27 Vgl. Reich 2002. 28 Vgl. dazu genauer Oesterreicher 2001, 2009, 2014a und 2014b.

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Aus dieser Bestimmung des paradigmatischen Zentralbereichs der Linguistik ergibt sich als erste wichtige Einsicht, dass intradisziplinär vielfältige gegenstandsbezogene Ausfaltungen des allgemeinen Formalobjekts der Linguistik, ‚sprachliche Techniken, Regeln und Normen‘, existieren, die als interne sekundäre Partialisierungen des Gegenstandsbereichs nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen; sie sind sprachtheoretisch-gegenstandsbezogen begründet und konstituieren den Reichtum der Linguistik bezüglich wichtiger Aspekte der Sprachrealität und des Sprachbegriffs. Die angedeutete Konzeption historisch gewordener sprachlicher Normen und Techniken als ein überindividuelles, in Diskursen und Texten zum Ausdruck kommendes generalisiertes Regelwissen liegt mithin allen Teilbereichen der Linguistik, ungeachtet ihrer jeweils partikulären Gegenstandsbestimmungen, ihren Interessenorientierungen und Methoden fundierend zugrunde. Dies ist die differentia specifica der Linguistik im Verhältnis zu anderen Disziplinen, die ebenfalls eine Sprachforschung betreiben. Dieser Gedanke ist für viele Linguisten leider noch gewöhnungsbedürftig, denn das Gesagte gilt natürlich ebenso für datenverliebte Korpuslinguisten, die häufig den Schritt vom Bereich (D) zu (B) scheuen, wie auch für die ‚Allgemeine Sprachwissenschaft‘, für verschiedene Ausprägungen der Sprachtypologie oder der so genannten ‚Theoretischen Linguistik‘, für deren abstrakte Kategorisierungen, die weithin von der sprachlichen Variabilität absehen (müssen), das sprachliche Material und eine allerdings sehr spezifisch formierte Empirie ebenfalls legitimiert werden kann. Auch wenn es zuerst einmal sehr überraschend wirken mag, gilt nämlich, dass alle empirischen oder theoretischen sprachwissenschaftlichen synchronischen und diachronischen Forschungsbemühungen im genannten generellen Formalobjekt der Linguistik fundiert sind und diesbezüglich notwendig wesentliche, weitergehende sprachtheoretische Präzisierungen und Optionen artikulieren. Dies bedeutet: Grammatiker, Phonologen und Phonetiker, Syntaxforscher, Sprachhistoriker, Etymologen und Lexikologen, Sprachwandeltheoretiker, Grammatikalisierungsforscher, Dialektologen, Varietätenlinguisten, Soziolinguisten, Korpuslinguisten, Sprachtypologen, auch Generativisten und andere Formallinguisten – sie alle beziehen sich mit ihren disziplininternen, also mit ihren intradisziplinären Partialisierungen, die in den unterschiedlich formierten Gegenstandsorientierungen, Erkenntnisinteressen sowie in unterschiedlichen Abstraktionsrichtungen und Abstraktionsniveaus zum Ausdruck kommen, letztlich jeweils auf Aspekte des generellen Formalobjekts der Linguistik. Entscheidend ist wissenschaftstheoretisch hier aber die Forderung, dass diese intradisziplinären Partialisierungen grundsätzlich reflexiv einholbar bleiben müssen. Sie dürfen nicht dezisionistisch gesetzt, abgeschirmt und der Dis-

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kussion entzogen werden, wollen sich die linguistischen Teildisziplinen nicht dem Vorwurf eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses aussetzen. Aus diesem Grund gibt es zuerst einmal auch keine ‚Verbote‘ bei sektoralen linguistischen Optionen – allerdings besteht grundsätzlich ein Rechtfertigungsdruck, denn diese Optionen müssen im Rahmen der disziplinären Grundbestimmungen ihre immer nur relative Legitimität durch die reflexive Bestimmung von Gegenstandsaspekten, Erkenntnisinteressen und von Leistung und Grenzen des jeweiligen Ansatzes nachweisen können. Es ist evident, dass mit einer solchen Perspektivierung der Linguistik schon eine ganze Reihe der oben bezüglich der romanistischen Linguistik als kritisch angesehenen Positionen als bloße Scheinfragen einer Auflösung näher gebracht sind. 3.2. Matrix-Komponenten für die wissenschaftliche Arbeit

Wenn man nun noch genauer danach fragt, was die Sprachwissenschaft von der verschiedentlich angesprochenen heutigen nachbarwissenschaftlichen Sprachforschung und vor allem von den Formen der Sprachbetrachtung vor 1800 unterscheidet, die im Rahmen der Philologie in großer Gelehrsamkeit sprachliche Materialien zusammengetragen hat und auch zu interessanten Erkenntnissen kam, dann kann man in Anlehnung an Thomas S. Kuhn (1962) sagen, dass um 1800 eine disziplinäre Matrix entwickelt wurde, die für die wissenschaftliche Arbeit einer scientific community Prinzipien, Modelle, Werte und Methoden vorgibt. Für die Disziplin Sprachwissenschaft seien vier Matrix-Komponenten, die für unsere Diskussion zentral sind und teilweise in anderer Perspektivierung schon erwähnt wurden, kurz angesprochen: 29 (1) Der objekttheoretische Bereich der Sprachwissenschaft ist in einer umfassenden Sprachtheorie zentriert, die im Drei-Ebenen-Modell sichtbar wurde und auf die sich auch die Sprachkonzeptionen in den sekundären und weiteren Partialisierungen der Linguistik mit ihren Gegenstandsbestimmungen notwendigerweise beziehen. In diesem Sinne ist eine auf den Begriff der menschlichen Sprache zielende Sprachtheorie Voraussetzung, aber eben nicht einfach Teil der Sprachwissenschaft. (2) Dagegen beschäftigt sich die Theorie der Sprachwissenschaft als metalinguistischer Bereich der Disziplin mit den je nach Gegenstandsbestimmungen 29 Es ist erstaunlich, dass diese wissenschaftstheoretischen und wissenschaftssystematischen Fragen, die seit den 70er Jahren des letzten Jh. die Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften in Atem gehalten haben, heute fast völlig ‚weggerutscht‘ sind; zu diesem Problemkomplex vgl. Oesterreicher 2014a: 313-314. Für die Linguistik waren wichtig die Diskussionen in Lieb 1970, van der Velde 1974, Itkonen 1978, 1999 und 2003, Botha 1989; vgl. auch Oesterreicher 1979: 1546, 257-297.

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und Interessenausrichtungen unterschiedlichen Formalobjekten innerhalb der Linguistik, die als Partialisierungen und Idealisierungen jeweils Gegenstandsspezifikationen und unterschiedliche Kategorisierungen erforderlich machen. Weitergehende gegenstandsbezogene Spezifikationen sind nun – natürlich – für die romanistische Linguistik definitorisch, die eine Einschränkung auf romanische Sprachen vollzieht, sie sind auch in den Qualifikationen diachronisch, synchronisch usw. manifest. Das Gesagte schließt aber gerade nicht aus – denn wir bewegen uns ja immer im Rahmen der Disziplin Linguistik –, dass überall dort, wo es im Sinne des Drei-EbenenModells sinnvoll und notwendig ist, auch allgemein-linguistische Kategorisierungen zum Einsatz kommen können/müssen. (3) Zur Theorie der Spracherforschung oder der Methodologie gehören dann die den Gegenstand Sprache, so wie er in den ‚Teil-Linguistiken‘ und ihren weiteren Partialisierungen jeweils konzipiert wird, betreffenden spezifischen Verfahren der Erkenntnisgewinnung, die von der einfachen Introspektion über die Empirien systematischer Sprecherbefragungen, verschiedene Typen der Feldforschung und verschiedene Elizitierungsverfahren, die unterschiedlichsten Belegtypen und Korpuszusammenstellungen aus Aufnahmen, Transkriptionen, Texten und anderen Daten bis hin zu statistischen Orientierungen und bestimmten deduktiven Verfahren reichen können; diese Verfahren sind immer im Blick auf die jeweils vorgenommenen Partialisierungen zu bestimmen. Es versteht sich von selbst, dass dabei etwa von der Sprachtypologie oder bestimmten formallinguistischen Konzeptionen natürlich kein genuines Interesse an varietäten- oder soziolinguistischen Fragen erwartet werden darf. Und bei der Untersuchung älterer Sprachstufen und bei diachronischen Forschungsorientierungen kommt naturgemäß den graphischen, diskursiv-textuellen Belegen sowie verlässlichen Editionen größte Bedeutung zu; der Bezug zur philologischen Praxis ist für linguistische Forschung dieses Zuschnitts in diesem klar umrissenen Feld für eine valide Datengewinnung und die entsprechenden Textinterpretationen teilweise unverzichtbar, ohne dass diese Diachronie deshalb schon als ‚philologische Kulturwissenschaft‘ definiert werden darf oder generell für die Linguistik eine ‚Rephilologisierung‘ eingefordert werden dürfte. (4) Die Theorie der Sprachbeschreibung oder Repräsentationstheorie beschäftigt sich mit allen Arten von (einfachen oder komplexen) gegenstandsbezogenen Feststellungen, die sich in der Sprachwissenschaft treffen lassen und die mit unterschiedlichsten materiellen, also phonischen und graphischen, auch logisch-deduktiven oder mathematisch-formalen Verfahren zur Darstellung gebracht werden können. Als eine Ausprägung im Rahmen einer so verstandenen umfassenden Theorie der Sprachbeschreibung muss übrigens

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auch die im generativen oder anders formallinguistischen Kontext florierende sogenannte Grammatiktheorie mit ihren Darstellungsprinzipien und -verfahren aufgefasst werden. Und auf die Darstellung beziehen sich gerade auch die erwähnten Ratschläge, die romanistische Linguistik „should consider itself as part of general linguistics“, denn dabei würden die synchronischen und diachronischen Ergebnisse genuin einzelsprachlicher und komparatistischer romanistischer Forschung in verschiedenen Repräsentationskontexten eine reine Belegfunktion erfüllen. Leistung und Grenzen der repräsentationstheoretischen Optionen der Grammatiktheorien sind also ebenfalls kritisch zu reflektieren. Ein Instrumentarium, das die Grundlinien einer sochen mehrdimensionalen, hierarchischen Struktur berücksichtigt und das Gefüge ihrer verschiedenen Ebenen wissenschaftstheoretisch ausarbeitet, kann in dem hier entfalteten Zusammenhang intradisziplinär als ‚Maßstab‘ für den Vergleich von Linguistikkonzeptionen eingesetzt werden 30 und damit Konflikte und Scheindiskussionen relativieren und entschärfen. Dieses Instrumentarium kann aber natürlich auch Entscheidungen über die Zugehörigkeit zu einem ‚Paradigma‘ im Sinne einer wissenschaftsgeschichtlichen Heuristik begründen, es kann also auch für die Geschichte der Linguistik fruchtbar gemacht werden. 31 Schließlich vermag es auch echte interdisziplinäre Kooperationen der Linguistik zu steuern. 3.3. Fächer – Disziplinen

Nach diesen Ausführungen zur Disziplin Sprachwissenschaft ist es evident, dass im heutigen akademisch-universitären Bereich Philologien Fächer, aber natürlich keine wissenschaftlichen Disziplinen sind: Wo dies nicht beachtet wird, ergeben sich schwerwiegende Irrtümer. 32 Dieser Hinweis ist deswegen so wichtig, 30 Die Leistungsfähigkeit der vorgestellten Unterscheidungen habe ich exemplarisch an den beiden dogmatisch vertretenen Positionen der Ethnolinguistik und der Universalgrammatik im Streit um das Buch von Daniel E. Everett Don’t Sleep, There Are Snakes. Life and Language in the Amazonian Jungle (2008) nachzuweisen versucht, vgl. Oesterreicher 2011b. 31 Hier ist die Geschichte der hegemonialen Ansprüche des historisch-vergleichenden ‚Paradigmas‘ im 19. Jh. instruktiv (vgl. Auroux 1988, Oesterreicher 2013), das in den letzten Jahrzehnten des Jh.s gegenstandsbezogen sukzessive durch Dialektologie und Sprachgeographie, die neue Etymologie (étymologie histoire du mot), die Kreolistik, die Sprachstilistik und andere Orientierungen in Frage gestellt wurde; diese Richtungen sind bekanntlich im 20. Jh. durch das Aufkommen des hegemonialen Strukturalismus mit seinen verschiedenen Spielarten teilweise marginalisiert worden, vgl. Gauger 1981: 45-94. 32 Die Unterscheidung zwischen Fächern und Disziplinen ist, wie wir gesehen haben, im angloamerikanischen Sprachraum offensichtlich nicht geläufig, was auch einige der in den Anm. 1 und 3 angeführten Arbeiten negativ prägt.

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weil neben traditionellen Fächern wie etwa der Ethnologie gegenwärtig gerade auch die sogenannten Medienwissenschaften, Regionalstudien oder die Kulturwissenschaften insgesamt keinen wissenschaftlich-disziplinären Status beanspruchen können: Als an durchaus wichtigen, aber sehr offenen Sachthemen – so genannten Querschnittsthemen – interessierte Fächer gehen sie im besten Fall in einer tragfähigen interdisziplinären Forschung Verbindungen mit unterschiedlichen Disziplinen ein. Diese Tatsachenkonstellationen gelten aber nicht allein für die Ethnologie, die Kulturwissenschaften usw., wo sich notwendigerweise die unterschiedlichsten Disziplinen ein Stelldichein geben; sie sind, in spezifischerem Zuschnitt, auch für die Fächer Romanistik, Germanistik usw. kennzeichnend, wo mindestens Linguistik und Literaturwissenschaft (wie auch immer letztere definiert wird) vertreten sind und wo bekanntlich häufig auch Landeskunden, Didaktiken und andere Ausrichtungen eine Rolle spielen. Damit ist wohl auch klar geworden, warum ich weder der Bestimmung der historischen romanistischen Sprachwissenschaft als philologischer Kulturwissenschaft noch auch dem Alarmismus einer befürchteten muerte anunciada der historischen romanistischen Linguistik – die in der damit zusammenhängenden Diskussion übrigens zu Unrecht einfach als ‚Disziplin‘ bezeichnet wird – beitreten kann.

4. Schlussbemerkung Die besprochenen disziplinären, intradisziplinären und interdisziplinären Problemkonstellationen gilt es, in den Geisteswissenschaften, aber auch in den so genannten Sozialwissenschaften ins Licht der wissenschaftstheoretischen und wissenschaftssystematischen Aufmerksamkeit zu rücken. 33 Voluntaristische Setzungen, bei denen die angedeuteten Konstitutionsprozesse der jeweiligen Disziplin ausgeblendet werden, also Leistung und Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und deren intern-disziplinäre Ausrichtungen und Theorieoptionen nicht mehr thematisiert werden, sind Beispiele einer Reflexionsverweigerung, die ein positivistisches Wissenschaftsverständnis definiert. 34 Diese Reflexionsverweigerung ist deshalb für schwere Schäden im Wissenschaftsbetrieb verantwortlich, weil sie zu zwei grundsätzlichen fallacies führt, die schon genannt wurden: Sie verhindert (a) intradisziplinäre Reflexion und (b) reflexive Interdisziplinarität. Denn wenn es in der Linguistik zu unhinterfragten Verabsolutierungen bestimmter metalinguistischer Optionen kommt und sich Teile der Disziplin in einer non-splendid isolation einrichten, sind 33 Vgl. dazu Beiträge in Oesterreicher/Selig 2014b. 34 Vgl. Oesterreicher 1979: 15-46 und 2014b: 293-294.

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intradisziplinäre Fehlentwicklungen unvermeidlich; sie können übrigens teilweise direkt auch zu bildungspolitisch-institutioneller Fremdbestimmung führen. Andererseits werden gesellschaftlich relevante Forschungsfelder und thematische Kooperationen ausgeblendet, wenn Anschlussflächen zwischen Disziplinen nicht mehr offen konzipiert werden können; dieser Punkt ist für die Sprachwissenschaft – die ja unter einem dramatischen Bedeutungsverlust leidet – deshalb so wichtig, weil die Öffentlichkeit nur unter dieser Voraussetzung von der Bedeutung ihrer Arbeit überzeugt werden könnte. Zur Vermeidung beider fallacies ist die Diskussion der sprachtheoretischen Zusammenhänge im Drei-Ebenen-Modell als entscheidendes Korrektiv zu betrachten. Trotz der disziplinären und fachstrukturellen Unterschiedlichkeiten in unseren Philologien, die nicht eingeebnet werden dürfen, sprechen wissenschaftssystematische und forschungspragmatische Gründe klar für unsere umfassende romanistische Linguistik und für die Verortung der Linguistik in den philologischen Fachstrukturen als universitärer Organisationsform, hier also im Fach Romanistik. Einzelphilologien sollen zentral Linguistik und Literaturwissenschaft umfassen und eben auch andere text- und kulturwissenschaftliche Forschungen einbeziehen können. Dergestalt positioniert und solide im skizzierten geisteswissenschaftlichen Forschungskontext verankert können die Philologien als Fächer bei wichtigen Querschnittsthemen echte interdisziplinäre Gespräche anregen, anleiten und kritisch begleiten. 35 Nachdem offene Forschungsfelder in der Vergangenheit, etwa im Strukturalismus und der theoretischen Linguistik, ‚erfolgreich‘ verdrängt wurden, inzwischen aber – nicht nur in den Regionalstudien, Medien- und Kulturwissenschaften – modisch-beliebig forciert werden, 36 ist das wachsende Bewusstsein von der Wichtigkeit umfassender geisteswissenschaftlicher Themen und von den hohen Anforderungen an die dafür notwendige reflexiv-interdisziplinäre 35 Zu diesem Problem habe ich, so denke ich, für die Linguistik weiterführende Vorschläge und wichtige Kategorisierungen geleistet, vgl. vor allem Oesterreicher 2009, 2014a und 2014b. 36 Eine aktuelle Sumpfblüte derartiger Positionen ist die folgende Verlagsankündigung; das Buch von Stefan Niklas heißt Die Kopfhörerin. Mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung und wird folgendermaßen vorgestellt: „Ob in der Straßenbahn oder beim Joggen, ob mit großen Hörern am Kopf oder ganz kleinen Stöpseln direkt im Ohr: Mobiles Musikhören mit portablen Abspielgeräten – kurz: Kopfhören – ist aus dem großstädtischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Doch was bedeutet es überhaupt, seine Umwelt kopfhörend wahrzunehmen und welche Form von Erfahrung lässt einen das Kopfhören machen? Mithilfe der idealtypischen Figur der Kopfhörerin unternimmt es die Untersuchung, die individuelle Erfahrung des mobilen Musikhörens philosophisch zu klären. Mobile Musik ist nicht bloß ein Betäubungsmittel, sondern lässt die Kopfhörerin ästhetische Erfahrungen von ganz eigener Art machen. Denn die Erfahrung des Kopfhörens bedeutet eine synthetische Synästhesie, die spezifische Korrespondenzen von Wahrnehmung und Imagination erzeugt. Das Kopfhören ist der Versuch einer kulturwissenschaftlichen Philosophie und philosophischen Kulturwissenschaft, die Alltagsphänomene und philosophische Probleme gleichermaßen verstehen will und dafür wechselseitig aufeinander bezieht“.

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Forschung teilweise auch bei Linguisten als movens der Bemühungen auszumachen, die Sprachreflexion zu schärfen, das historische Denken zu stärken, formallinguistische und datenverliebte Sprachuntersuchungen aus ihrem Isolationismus herauszuführen und die pseudo-interdisziplinären Beliebigkeiten bestimmter Forschungsoptionen kritisch zu betrachten. Wo diese echt interdisziplinären Bemühungen gelingen, die letztlich die Sinnstrukturen der historischen Lebenswelten und damit die Geschichtlichkeit von Sprache und Text als gemeinsames Fundament unserer geisteswissenschaftlichen Disziplinen und Fächer erweisen, kann die Stellung der Linguistik gestärkt und gleichzeitig die verbreitete, in der Regel wohlfeile Kritik an den Philologien wirksam abgewehrt werden.

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Reinhold F. Glei Historische Sprachwissenschaft, historisch betrachtet ─ Das Beispiel von Theodor Biblianders De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius (1548)

1. Zur Entstehung von De ratione Die Motivation zur Abfassung seiner umfangreichen Schrift Über das gemeinsame Prinzip aller Sprachen und Schriftzeichen, die 1548 bei Christoph Froschauer in Zürich gedruckt wurde, liegt nach eigener Aussage des reformierten Theologen und Hebraisten Theodor Buchmann, gräzisiert Bibliander (1505–1564), in den Worten des Paulus im Ersten Korintherbrief: Bleibt auf dem Weg der Liebe! Strebt nach den Geistesgaben, vor allem aber danach, prophetisch zu reden. Wer in Zungen redet, spricht nicht zu Menschen, sondern zu Gott. Denn niemand versteht ihn. Er redet im Geist von Geheimnissen. Wer dagegen prophetisch redet, spricht zu den Menschen: Er erbaut, ermutigt, tröstet. Wer in Zungen redet, baut sich selbst auf; wer aber prophetisch redet, baut die Gemeinde auf. […] Komme ich jetzt zu euch, liebe Brüder und Schwestern, und rede in Zungen, was nützt es euch, wenn ich nicht mit einer Offenbarung, einer Erkenntnis, einer Prophetie oder einer Lehre komme und zu euch rede? (1 Kor 14,1-6; Übersetzung der Zürcher Bibel).

Bibliander interpretiert den paulinischen Gegensatz von Glossolalie und Prophetie als Gegensatz von mystisch-irrationalem Idiolekt und kommunikativrationaler Predigt. Um die Wahrheit des Evangeliums allen Menschen, die durch ihre gemeinsame Abkunft von Adam und ihre gemeinsame, von Gott verliehene Vernunft verwandt sind, zu vermitteln, bedarf es nicht der enthusiasmierten, ekstatischen Zungenrede, sondern einer handfesten Wissenschaft von den Sprachen (studium linguarum). Die Voraussetzung dafür, fremde Sprachen zu verstehen, zu erlernen und zu lehren, ist die Existenz eines gemeinsamen Prinzips, das allen Sprachen zugrunde liegt. Dieses Prinzip aufzudecken und zu beschreiben, ist nach Bibliander Aufgabe der „Sprachenwissenschaft“, die so programmatisch zur „Sprachwissenschaft“ wird.

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Es ist hier nicht der Ort, auf den Lebenslauf Biblianders näher einzugehen. 1 Für die Einordnung von De ratione ist es ausreichend, sich Biblianders Tätigkeit als Professor an der Hohen Schule (auch „Prophezei“ [!] oder „Schola Tigurina“ genannt) von Zürich in Erinnerung zu rufen, an die er 1532 als Nachfolger Zwinglis berufen worden war. Seine Hauptaufgabe war die Erklärung des Alten Testaments auf der Grundlage des hebräischen Urtextes (Hebraica veritas) und der Septuaginta. Die Bibelstudien führten zu vertieften, komparatistischen Untersuchungen des Hebräischen (und Aramäischen) im Vergleich mit dem Griechischen, Lateinischen und Deutschen, daneben eventuell auch mit dem Polnischen, das Bibliander wahrscheinlich während seiner Tätigkeit in Schlesien (1527–29) erlernt hatte. 1535 veröffentlichte er eine hebräische Grammatik, die nachweisen sollte, dass sich das Hebräische nach denselben linguistischen Prinzipien beschreiben ließ wie das Griechische und Lateinische. Daneben beschäftigte sich Bibliander auch mit dem Islam und dem Arabischen und brachte 1543 ein dreibändiges Konvolut antiislamischer Schriften heraus, zusam-men mit der lateinischen Koranübersetzung, die Robert von Ketton 1143 für Petrus Venerabilis angefertigt hatte. 2 1548 schließlich erschien die Schrift De ratione, in der Bibliander die Frucht seiner jahrelangen sprachwissenschaftlichen Forschungen darlegte und mit umfangreichen Zitationen aus der antiken und zeitgenössischen Quellenliteratur untermauerte. Sein Ziel war aber letztlich pastoraler Natur: die Predigt der christlichen Wahrheit, die Aufhebung der religiösen Gegensätze und eine allgemeine Verständigung und ‚Wiedervereinigung‘ aller Menschen. Symbol und gleichzeitig Mittel dieser universalen Heilsidee ist für ihn die gemeinsame Sprache der Menschheit, die nach Babel verloren ging, in einem gemeinsamen Prinzip aller Sprachen aber weiterlebt.

2. Aufbau und Inhalt, Ziel und Methode von De ratione Bibliander nennt seine Schrift commentarius. Darunter versteht man seit der Antike eine Sammlung von Notizen, die als Grundlage für die Ausarbeitung eines literarischen (meist historiographischen) Werks dienen. Der commentarius selbst ist also (noch) kein literarisches Werk, sondern allenfalls eine Vorstufe dazu; gleichwohl wurde die Form des commentarius von verschiedenen Autoren dazu benutzt, unter dem Anschein einer bloßen ‚Faktensammlung‘ ohne literarische Stilisierung eine bestimmte Sicht der Dinge zu 1 Vgl. Christ-von Wedel 2005: 19-60, Amirav/Kirn 2011: XV-XIX. Zum allgemeinen Hintergrund Burnett 2012. 2 Zu Biblianders Islamstudien vgl. umfassend Bobzin 1995.

Theodor Biblianders De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius (1548)

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vermitteln: Das Paradebeispiel sind Caesars Commentarii de bello Gallico, die eine scheinbar objektive Darstellung der Ereignisse im Gallischen Krieg (58-52 v. Chr.) geben, in Wahrheit aber eine Propagandaschrift in eigener Sache darstellen. Andererseits erfährt der Begriff in der Spätantike eine Ausweitung hin zu einer heute gebräuchlichen Bedeutung des Wortes Kommentar: Ein commentarius ist danach eine Materialsammlung (ohne literarische Ambitionen) zur Erklärung eines literarischen oder wissenschaftlichen Werks. So verfasste etwa der Neuplatoniker Macrobius um 400 n. Chr. einen ‚Kommentar‘ zum Somnium Scipionis Ciceros, der freilich nicht bloß stichwortartig, sondern durchaus elaboriert formuliert ist. Durch die Bezeichnung commentarius umgibt Bibliander sein Werk also einerseits mit der Aura der Bescheidenheit, andererseits mit der der Objektivität: Es handelt sich demnach ‚bloß‘ um eine Art Entwurf, der dürre Fakten enthält, nicht um eine ausgearbeitete theoretische Abhandlung. Tatsächlich macht das Werk auf weite Strecken hin diesen Eindruck, weshalb es gemeinhin als unvollendet betrachtet wird. Es besteht aus drei in der Druckausgabe von 1548 nicht näher bezeichneten, sehr unterschiedlichen Teilen: einem materialen Teil über die zugrunde liegenden Sprachen, einem formalen Teil über das gemeinsame Prinzip aller Sprachen, der dem Gesamtwerk den Namen gab, und einem theologischen Teil über die Wahrheit des Christentums. In allen drei Teilen sind verschiedene Kapitel breit ausgeführt, andere dagegen nur sehr knapp skizziert; besonders augenfällig ist dies im zweiten Teil, der der längste und in 24 Bücher aufgeteilt ist, in dem aber nur die Bücher 1 und 2 (sowie in Ansätzen Buch 3) ausformuliert, alle übrigen nur im Entwurf beschrieben sind. Das wirkt auf den ersten Blick unvollendet, hat aber Methode, denn erstens hätte für Bibliander keine Notwendigkeit bestanden, das Werk auch unfertig zu veröffentlichen, und zweitens passt es eben zur Stilisierung eines angeblich unstilisierten commentarius. Insbesondere im zweiten Teil vermeidet der Autor dadurch Eintönigkeit und den Eindruck einer stereotypen Anwendung seiner Methode auf den Gegenstand: Der Leser ist dem Autor geradezu dankbar, dass er die Ausführungen der Bücher 1 und 2 nicht noch in ähnlicher Form für wietere 22 Bücher über sich ergehen lassen muss. Dennoch ist das Werk noch lang genug. In der Druckausgabe von 1548 umfasst der erste Teil ca. 80, der zweite Teil etwas über 100 und der dritte Teil knapp 40 Seiten. Das Vorwort an die „Leiter der christlichen Kirche“, datiert Zürich, den 6. März 1548, präsentiert ein vollständiges Werk, mit Inhaltsangabe und Anhang (polyglotte Versionen verschiedener liturgischer Texte, darunter das Vaterunser in 14 verschiedenen Sprachen). Das Ziel seines Werkes formuliert Bibliander gleich zu Beginn im ersten Satz:

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Proposui […] scribere methodum et rationem, qua non modo literatae illae et a praeclaris ingeniis excultae linguae, verumetiam rudes et barbarae linguae omnium nationum comprehendi possint totae et apto quidem ordine, nec non rectius explicari et percipi facilius et accomodari melius ad omnem usum scribendi et dicendi, qua denique ratione linguae omnes perspici et iudicari exactius queant et conferri mutuum vel totae vel in qualibet parte (Bibliander 1548: 1, Amirav/Kirn 2011: 20). (‚Ich habe mir vorgenommen, eine Methode bzw. ein Prinzip zu beschreiben, mit dem nicht nur die bekannten Literatur- und Bildungssprachen, sondern auch die primitiven und barbarischen Sprachen aller Völker in ihrer Gesamtheit und in passender Reihenfolge erfasst, korrekter erklärt, leichter gelernt und besser an den schriftlichen und mündlichen Gebrauch angepasst werden können – ein Prinzip, mit dem schließlich alle Sprachen durchschaut, exakter beurteilt und sei es insgesamt oder teilweise miteinander verglichen werden können.‘)

Dieses ehrgeizige Ziel will Bibliander erreichen, indem er auf eine „einfache, aus den Quellen der Natur abgeleitete Methode“ rekurriert: Aggredior autem ostendere methodum certam et facilem et derivatam ex naturae fontibus, qua artes logicae grammatica, dialectica, rhetorica, quibus tota vis et usus tum rationis tum orationis explicantur, in unum veluti corpus artis coniunctae quibusvis linguis tractandis et versandis accomodari possint (Bibliander 1548: 1, Amirav/Kirn 2011: 20). (‚Ich will aber eine sichere, einfache und aus den Quellen der Natur abgeleitete Methode aufzeigen, mit der die sprachlichen Disziplinen (Grammatik, Dialektik und Rhetorik), die die ganze Macht und den Gebrauch von Vernunft und Sprache entfalten, gleichsam zu einer einzigen Disziplin verbunden und so der Analyse und Anwendung beliebiger Sprachen angepasst werden können.‘)

Aus diesen einleitenden Bemerkungen werden bereits einige axiomatische Annahmen Biblianders ersichtlich. Erstens: Es gibt einen natürlichen Ursprung nicht nur von Sprachen bzw. Sprache, sondern auch von Sprachbeschreibung, d.h. die Sprachwissenschaft ist in der Sprache bereits mit angelegt. Zweitens: Diese Metasprache ist universal und basiert auf dem sprachlichen Zweig der Freien Künste, dem Trivium; zur Anwendung auf beliebige Sprachen muss (und kann) sie entsprechend modifiziert werden. Drittens: Vernunft (Denken) und Sprache stehen in einem untrennbaren Verhältnis zueinander, d.h. Sprache repräsentiert Denken. Diese Axiome beschreiben eine universalistische Sprachtheorie, die auf die Annahme eines gemeinsamen Prinzips (man ist versucht, von „Tiefenstruktur“ zu sprechen) aller Sprachen hinausläuft. Ein solches impliziert nicht zwingend die Existenz einer gemeinsamen Ursprache der Menschheit, legt dies aber – besonders für den Bibelgläubigen – nahe. Es überrascht daher nicht, dass Bibliander eine präbabylonische Ursprache, eine Art Proto-Hebräisch, annimmt, denn er weiß sehr wohl, dass das biblische

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Hebräisch eine historische Entwicklung durchgemacht hat bzw. dass der Bibeltext verschiedene Sprachstadien repräsentiert. 3 Bibliander ist sich bewusst, dass der wissenschaftliche Nachweis seiner These eines gemeinsamen Prinzips aller Sprachen nicht einfach ist. Ein Hindernis ist bereits die notwendigerweise unzureichende Sprachkenntnis des Gelehrten: Selbst der polyglotte König Mithridates, der nach Plinius (Nat. hist. VII 24,88) sämtliche 22 Sprachen der von ihm beherrschten Völker gesprochen haben soll, käme bei weitem noch nicht an die Gesamtzahl existierender Sprachen heran, die traditionell mit 72 (Zahl der Nachkommen der Söhne Noahs) angesetzt wird. 4 Heutige Gelehrte, so Bibliander, beherrschten maximal sechs oder sieben Sprachen. Dennoch ist er überzeugt, durch eine repräsentative Auswahl von Sprachen seine These untermauern bzw. plausibel machen zu können. Dabei nimmt er sich methodisch folgenden Dreischritt vor, der offensichtlich dem berühmten Traktat Über das Nichtseiende des Sophisten Gorgias entlehnt ist: Zunächst ist die Frage zu klären, ob es überhaupt ein allen Sprachen angemessenes Prinzip gibt; dann, ob wir es erkennen und verstehen können; schließlich, ob es vermittelbar bzw. für die didaktische Vermittlung nützlich ist (Bibliander 1548: 3, Amirav/Kirn 2011: 24).

3. Der materiale Aspekt Um die genannten Fragen zu beantworten, ist zunächst eine materiale Bestandsaufnahme notwendig. Dazu dient die Beschreibung der Materialbasis: Bibliander zählt 22 Sprachen auf, ohne auf die Anzahl oder die Auswahlkriterien näher einzugehen. Evident ist, dass es sich nicht um alle bekannten Sprachen handelt, deren Zahl Bibliander, wie gesehen, mit 72 angibt. Es liegt vielmehr nahe, dass die Zahl 22 auf dem Mithridates-Exempel des Plinius basiert – man denke nur an den berühmten Sprachgelehrten Flavius Mithridates 5 oder auch daran, dass spätere Sprachforscher sich Mithridates gern zum Vorbild nahmen, angefangen mit Biblianders Schüler Conrad Gessner, der sein 1555 gedrucktes sprachwissenschaftliches Werk Mithridates betitelte und u.a. das 3 Vgl. Bibliander 1548: 50, Amirav/Kirn 2011: 156, im Kapitel De mutatione linguarum. Die moderne Ausgabe fügt eine Vielzahl von Kapitel- und Unterkapitelüberschriften ein, was die Übersichtlichkeit erhöhen soll, aber nicht immer der impliziten Gliederung Biblianders entspricht. 4 Im Druck steht fälschlich die Zahl LXXVII (Bibliander 1548: 2; richtig dagegen ebd.: 52), vgl. Amirav/Kirn 2011: 22 mit Fußnoten. 5 Flavius Mithridates ist der programmatische Humanistenname des konvertierten sizilischen Juden Samuel Abu l-Faraj alias Guglielmo Raimondo da Moncada (ca. 1440-1489?), des Lehrers von Giovanni Pico della Mirandola. Neben Hebräisch und Aramäisch beherrschte er auch Arabisch, vgl. Grévin 2010.

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Vaterunser in 22 Sprachen bot. Für Biblianders Anspielung auf Mithridates spricht auch, dass einige der aufgelisteten Sprachen gar keine sind und offenbar nur zum Zweck der Vervollständigung einer Liste von 22 Sprachen aufgenommen wurden. Dagegen scheint die Tatsache, dass das hebräische Alphabet 22 Buchstaben aufweist, eher eine zufällige Übereinstimmung zu sein, da Bibliander jegliche Art von Buchstaben- oder Zahlenmystik vermeidet. Die Liste umfasst folgende Sprachen (Erläuterungen gebe ich aus Platzgründen nur sehr knapp): 1. Hebräisch. Sie ist die „lingua princeps et parens“, die Ursprache, aus der alle anderen hervorgegangen sind. Bibliander selbst hatte in seiner hebräischen Grammatik die Sprache der Bibel mit den Methoden der griechischlateinischen Grammatikographie beschrieben; daher kann er hier triumphierend verkünden, dass er exemplarisch gezeigt habe, dass auch eine „barbarische“ Sprache „in literis, syllabis, in verborum significatione, origine, inflectione, compositione, structura“ bestimmten Gesetzen („certis legibus“) folgt, woraus er schließt, dass in allen Sprachen dasselbe Prinzip und daher eine universal anwendbare Sprachwissenschaft („eadem ratio et doctrina communis“) gelte. Dieses Prinzip bzw. diese Wissenschaft ist eben die Grammatik (Bibliander 1548: 4, Amirav/Kirn 2011: 30-32). 2. Chaldäisch bzw. Assyrisch (= Syrisch-Aramäisch). 3. Arabisch, auch Punisch genannt. 4. Äthiopisch. 5. Griechisch. Über sie als Welt-, Kultur- und Bildungssprache muss nicht viel gesagt werden. Interessant ist, dass im Zuge der Kolonisation von ihr auch das Lateinische und Keltische abstammen. Bibliander verweist auf die gallischen Druiden, deren Kultsprache Griechisch sei und deren Namen er mit „Quercuarii“ übersetzt, also von griech. drys ‚Eiche‘ ableitet: Bibliander 1548: 8, Amirav/Kirn 2011: 42. 6. Armenisch. 7. Türkisch bzw. Tartarisch. Hierunter fallen wohl verschiedene Turksprachen. 8. Persisch bzw. Medisch. 9. Ungarisch. 10. Sprache der Nestorianer. Bibliander ist sich unsicher, ob es diese Sprache überhaupt gibt bzw. ob sie eine eigene Sprache repräsentiert. Wir würden sie heute mit Syrisch identifizieren. 11. Georgisch. Ein Gemisch aus Tartarisch, Armenisch und Griechisch. 12. Samaritanisch. Keine eigene Sprache, sondern mit dem Hebräischen identisch. 13. Rutenisch. Hierunter sind wohl verschiedene ostslavische Sprachen (Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch) zusammengefasst.

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14. Lithuanisch. Sammelbezeichnung für die Baltischen Sprachen. 15. Slavisch. Damit sind westslavische Sprachen (Polnisch, Tschechisch, Slowakisch) gemeint. 16. Serbisch/Bosnisch. 17. Dalmatisch, auch Illyrisch oder Pannonisch genannt. Darunter sind weitere südslavische Sprachen zu verstehen. 18. Germanisch/Gotisch. 19. Lateinisch. 20. Etruskisch. Indigene altitalische Sprache, im Lateinischen aufgegangen, aber andererseits Ausgangspunkt verschiedener „Dialekte“ (romanische Sprachen). 21. Kananäisch. Ein Sonderfall, über den verschiedene Überlieferungen existieren. Ursprünglich wohl ein hebräischer Dialekt, der sich zur Sondersprache einer Volksgruppe (Chanaan > Cingani > Zigeuner) entwickelte. 22. Sprache der Engel [!]. Bibliander rekurriert auf (Pseudo-)Dionysius und Agrippa von Nettesheim, die die Existenz einer Engelsprache annehmen, bleibt aber eher vage. Man erkennt, dass die Liste recht künstlich auf die Zahl 22 aufgebläht worden ist; etwas pragmatischer ist Biblianders Fazit, dass man insgesamt 12 Hauptsprachen bzw. Sprachfamilien unterscheiden könne, darunter drei „Muttersprachen“ („parentes“): Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, sowie neun weitere, „barbarische“ Sprachen. Diese werden nicht explizit aufgezählt, können aber anhand der Liste durch Negativauslese bestimmt werden: Die Sprachen mit den Nr. 10-12 sowie 21-22 können vernachlässigt, Etruskisch unter Lateinisch subsumiert und die Sprachen Nr. 13-17 als slavische Sprachen zusammengefasst werden. Damit bleiben 12 Sprachen übrig. Das Ergebnis der babylonischen Sprachverwirrung ist zwar eine Diversifizierung von Sprachen, die aber im Prinzip reversibel ist bzw. durch das gemeinsame Prinzip, das allen Sprachen zugrunde liegt, ausgeglichen wird: Alle Sprachen folgen gewissen Regeln, die mit den Regeln der (lateinischen) Standardgrammatik (und also auch untereinander) verglichen werden können. Quia ratio una communis omnibus est unusque finis sermonis, nimirum explicare ac foras proferre mentem et rationem, una erit utique ratio communis discendi, docendi, interpretandi, scribendi quamlibet linguam seu Romanam seu Scythicam seu Gaditanam seu Indianam (Bibliander 1548: 22, Amirav/Kirn 2011: 86). (‚Weil alle (Menschen) eine einzige, gemeinsame Vernunft haben und nur ein Ziel der Rede, nämlich ihr Denken zu entfalten und zu äußern, wird es ganz bestimmt auch nur ein einziges, gemeinsames Prinzip geben, eine beliebige Sprache zu lernen, zu lehren, zu

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erklären und zu verschriftlichen – sei es eine romanische, eine skythische, eine gaditanische oder indi(ani)sche Sprache.‘) 6

Dieses gemeinsame Prinzip ist die Sprachwissenschaft – in Biblianders Terminologie: die Grammatik. Im Gegensatz zur traditionellen Schulgrammatik (und erst recht im Gegensatz zur spekulativen Grammatik der Modisten) hat sie eine dezidiert historische Dimension: Sprachentwicklung und Sprachveränderung gehören wesentlich zum Gegenstandsbereich dieser ‚Historischen Sprachwissenschaft‘. Eine weitere Dimension des materialen Aspekts, die schon im Titel des Werkes genannt ist, ist die Schrift. Adam, „der erste Grammatiker“, erfand durch göttliche Inspiration die Schriftzeichen, und so spiegelt das hebräische Alphabet auch das menschliche Ur-Alphabet, aus dem sich die heute bekannten Zeichensysteme ableiten. 7 Bibliander gibt eine Synopse der hebräischen, arabischen, griechischen und lateinischen Schriftzeichen, die erkennen lässt, dass und wie die Alphabete (sowohl was die Zeichenform als auch was die Zeichennamen angeht) verwandt sind (vgl. Abb. 1 und 2). Darauf kann hier leider nicht näher eingegangen werden, ebenso wenig wie auf die interessanten Bemerkungen zu Abkürzungen, Sonderzeichen (z.B. in Mathematik und Astronomie), Stenographie, Gebärdensprache und Kryptographie. 8 Was bei Bibliander übrigens gänzlich fehlt, ist jede Anspielung auf die kabbalistische Zahlenmystik, obwohl diese zu seiner Zeit groß in Mode war. 9 Die genannten Inhalte sprechen vielmehr dafür, dass Bibliander den Zeichencharakter als arbiträr ansah – und das gilt selbstverständlich nicht nur für das schriftliche, sondern auch für das lautliche Zeichen.

6 Zur Erklärung dieser (in der obigen Aufzählung so nicht vorkommenden) Sprachen lässt sich anführen, dass die ersten volkssprachlichen Grammatiken erst Ende des 15./Anfang des 16. Jh. entstanden: Den Anfang machte Antonio de Nebrija mit seiner Gramática de la lengua castellana im Kolumbusjahr 1492 (darauf spielt Bibliander wohl mit lingua Romana an), in deren Gefolge auch Grammatiken von Indianersprachen verfasst wurden (lingua Indiana – nicht Indisch, sondern Indianisch!). Die lingua Scythica steht wohl für nordöstliche Barbarensprachen der Steppenvölker, die lingua Gaditana ist mit Punisch (hier nicht mit Arabisch, sondern vielleicht mit dem Aljamiado, einem arabisierten Spanisch, und/oder berberischen Dialekten?) zu identifizieren: vgl. Gessners Kapitel De Scythica lingua bzw. De Punica lingua (Colombat/Peters 2009: 258 bzw. 252). 7 Itaque primus homo et patriarcha totius generis humani, qui literas divina inductione reperit, primus utique fuit grammaticus (Bibliander 1548: 148, Amirav/Kirn 2011: 398). 8 Kap. De notis et arcana scriptura sowie Arcanae literae (Bibliander 1548: 71-74, 75-80, Amirav/Kirn 2011: 208-216, 218-230). Es handelt sich tatsächlich um Verschlüsselungsverfahren zur Nachrichtenübermittlung. 9 Vgl. dazu ausführlich Copenhaver/Stein Kokin 2014.

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Abbildung 1: Nomina literarum (aus: Bibliander 1548: 64).

Abbildung 2: Literarum Ebraicarum, Phoenicum, Graecarum et Latinarum formae (aus: Bibliander 1548: 65).

4. Der formale Aspekt Der mittlere, umfangreichste Teil des Werkes ist ein ‚Abriss der Sprachwissenschaft‘ 10 nach dem Muster der bekannten artes grammaticae; allerdings fügt Bibliander die wichtige Bemerkung hinzu: „accomodabo commentarios tum Hebraicae tum Germanicae linguae [...]“ (Bibliander 1548: 105, Amirav/Kirn 2011: 290). Die hebräische und die deutsche Sprache betrachtet Bibliander demnach als repräsentativ oder wenigstens als exemplarisch für die Sprachen überhaupt: Neben Lateinisch (und dessen Vorbild Griechisch) treten zum Vergleich Hebräisch als Ursprache und Deutsch als Vertreter der Vernakulärsprachen. Später werden noch Arabisch und „Slavisch“ als weitere Vergleichsspra10 Vgl. die (fast schon ironische) Liste möglicher lateinisch-griechischer Titel (Bibliander 1548: 104f., Amirav/Kirn 2011: 288, 290).

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chen herangezogen. Gänzlich unberücksichtigt bleiben, wohl mangels einschlägiger Kenntnisse, die „asiatischen“ Sprachen wie Türkisch oder Persisch. Von den 24 Büchern des zweiten Teils sind nur die Bücher 1 und 2 sowie ein Teil von Buch 3 ausgeführt. Buch 1 enthält zunächst die „Regulae et canones principes et communes omnium populorum sermonibus“, also die grundlegenden antagonistischen Mechanismen der Sprachentwicklung, z.B. von natura und ars, Analogie und Anomalie, Sprachreinheit (latinitas) und Sprachmischung (peregrinitas) usw. Den Hauptteil des ersten Buches bildet dann das Kapitel über die partes orationis, dem wir uns gleich zuwenden. Buch 2 geht in der „synthetischen“ Systematik der Sprachwissenschaft einen Schritt zurück und behandelt die Elemente der Sprache bzw. des Sprechens: Artikulationsorgane und Schreibwerkzeuge, Laute und Buchstaben, Silben, korrekte Aussprache und Schreibung. Buch 3 ist der Etymologie gewidmet und gibt Beispiele für Sprachwandelphänomene: additio, detractio, transpositio und permutatio. Als repräsentative Sprachen dienen wieder Griechisch, Lateinisch, Hebräisch (gelegentlich Arabisch) und Deutsch. Das Kernstück jeder antiken Grammatik ist die Lehre von den acht ‚Redeteilen‘ (partes orationis) bzw. Wortarten. Auch Bibliander kommt nach längeren doxographischen Erörterungen zu dem Schluss, dass es sinnvoll sei, diese Einteilung für eine Universalgrammatik aller Sprachen zugrunde zu legen, allerdings in einer modifizierten Form und Anordnung: Sunt autem octo, quas ordine illo numerabo, quem periculo facto didici aptissimum esse linguis discendis et tradendis: Pronomen, nomen, verbum, participium, praepositio, adverbium, interiectio, coniunctio (Bibliander 1548: 139, Amirav/Kirn 2011: 372). (‚Es gibt aber acht (Redeteile), die ich in einer Reihenfolge aufzählen werde, die meiner Erfahrung nach – auf die Gefahr hin [der Tradition zu widersprechen] – für das Sprachenlernen und -lehren am geeignetsten ist: Pronomen, Nomen, Verb, Partizip, Präposition, Adverb, Interjektion, Konjunktion.‘)

Neu, um nicht zu sagen revolutionär, ist bei Bibliander zunächst die paradox erscheinende Stellung des Pronomens am Anfang der Reihe; außerdem kündigt er an, die Redeteile teilweise mit passenderen (d.h. stärker funktionsbezogenen) Bezeichnungen zu versehen, und schließlich will er exemplarisch Beispiele in sechs Sprachen geben. Diese sind: Griechisch und Lateinisch als Kultur- und Bildungssprachen, Hebräisch als Ursprache, Arabisch als Weltsprache des Islams, Deutsch als eigene Muttersprache und „Slavisch“ (meist Polnisch) als weitere Volkssprache. Der Grund für die Anfangsstellung des Pronomens liegt in seiner umfassenden Funktion (vor allem in der mündlichen Kommunikation) als Stellvertreter nicht nur des Nomens, sondern auch des Verbs und ganzer Sätze; der Name pro-nomen sei nicht nur hinsichtlich des (zu einschränkenden) Bestandteils

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nomen, sondern auch in Bezug auf pro irreführend, da es auch nachgestellt auftrete. Bibliander schlägt daher die neue Bezeichnung vox definitiva („bestimmendes Wort“) vor. Als Paradebeispiel für die Universalfunktion des Pronomens dient „der gallische Artikel li“ (altfrz. Form von le), der vor jedem beliebigen Begriff stehen könne. Damit ist die metasprachliche Auszeichnung gemeint, die wir durch das Anführungszeichen realisieren (das sich im Übrigen graphisch aus dem li entwickelt hat). Bekannt ist etwa der Gebrauch des li durch Nicolaus Cusanus in der Schrift De li non-aliud („Über das [sogenannte] ‚Nicht-Andere‘“), weshalb Bibliander bemerkt, dass das li vor allem von den Theologen gebraucht werde (Bibliander 1548: 140, Amirav/Kirn 2011: 374). Die Wortarten, ihre alten und neuen Bezeichnungen sowie die Beispiele aus den sechs Sprachen lassen sich am besten in einer Tabelle darstellen. Bibliander benutzte griechische und – nicht durchgängig – hebräische Schriftzeichen, aber keine arabischen, da er hierfür noch nicht über einen guten Zeichensatz verfügte (vgl. auch Abb. 2). Auch die Umschrift lässt bisweilen zu wünschen übrig: Name pronomen

Bibl. vox definitiva

Griech. ὁ

Lat. hic, is

Hebr. ‫הוא‬, ‫ה‬

Arab. hu

Slav. then

ana

Germ. er, der -er, -e, -s ich

ἐγώ

ego

nomen

appellatio

ἄνθρωπος

homo

ani, anochi Adam, Aenosch

Adam

mensch

‫כתב‬

chathaba

schryb

Czlowyek/ clowik pyschä

verbum participium praepositio

verbum (proprie) nomen verbale appositio

γράϕω

scribo

γράϕων

scribens

‫כותב‬

chathibun

schrybend

usque

-a

-iva (pers.)

ab, ab(abston)

explanatio

-δε, -θι, -θεν, -ζε ὑπέρ σήμερον

adverbium interiectio coniunctio

super hodie

‫על‬ haiom

ale äliaum

über hüt/hüdd

над dzysya

affectio



o

‫אוי‬

ia

o

-

convinctio, compositio

ὅτι

quia

‫כי‬

chi

wann

ysch

iego

pyschanczy -

Tabelle 1: Wortarten nach Bibliander

Die Beispielwörter sind zwar teilweise der traditionellen Grammatikographie entnommen (vgl. das arabische Standardparadigma chathaba = kataba ‫)ﻛﺘﺐ‬, ergeben aber bemerkenswerterweise einen (im Prinzip) sinnvollen Satz: „Ich Mensch schreibe/bin Schreibender über [etwas] heute, o [Leser], dass/weil …“.

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Wenn man will, kann man diesem Satz sogar eine philosophische Dimension abgewinnen: „Ich“ dient als Markierung des menschlichen Bewusstseins; „Mensch“ ist der allgemeinste Begriff für die Gemeinschaft der Lebewesen, die unter den Begriff fallen und bezeichnet hebr./arab. auch den Urvater Adam; „schreiben“ ist eine spezifisch menschliche und (in Biblianders Verständnis) allen Menschen eigene Tätigkeit (der Mensch als Schreibender, homo scribens – man schreibt nicht nur „über“ etwas, sondern ist als Schreibender auch über alle anderen Lebewesen erhoben); „heute“ zeigt ein Zeitbewusstsein an, das ebenfalls spezifisch menschlich ist; die Interjektion „o“ dient der Anrede in der aktuellen Kommunikationssituation, und das syntaktisch offene „dass“ bzw. „weil“ schließlich deutet eine kausale oder allgemeine gedankliche Verknüpfung an, die wiederum ein Charakteristikum menschlicher Rede darstellt.

5. Fazit Biblianders universalistische Sprachtheorie basiert auf der Annahme einer gemeinsamen Vernunftnatur aller Menschen, die in einer gemeinsamen Ursprache der Menschheit ihren Ausdruck findet. Auch nach der babylonischen Sprachverwirrung lässt sich auf der Grundlage dieser ratio communis (gemeinsamen Vernunft) eine ratio communis (allgemeines Prinzip) aller Sprachen aufzeigen. Die gesuchte Methode ist die um eine historisch-evolutive sowie eine komparatistische Komponente ergänzte antike ars grammatica, die so von einer normativen zu einer deskriptiven, vergleichenden Grammatik wieterentwickelt wird, mithin zur Historischen Sprachwissenschaft avanciert.

Bibliographie Primärquellen Bibliander [Buchmann], Theodor (1548): De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius Theodori Bibliandri. Tiguri apud Christoph[erum] Frosch[auerum]. An. M.D.XLVIII. Amirav, Hagit / Kirn, Hans-Martin (Hg.) (2011): Theodore Bibliander. De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius. Edited and translated with introduction. – Genf: Droz (Travaux d’Humanisme et Renaissance 175). Colombat, Bernard / Peters, Manfred (Hg.) (2009): Conrad Gessner, Mithridate – Mithridates (1555). Introduction, texte latin, traduction française, annotation et index. – Genf: Droz (Travaux d’Humanisme et Renaissance 452).

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Zürcher Bibel (2007): Zürcher Bibel. Hg. von Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. – Zürich: Theologischer Verlag.

Sekundärliteratur Bobzin, Hartmut (1995): Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa. – Stuttgart: Steiner (Beiruter Texte und Studien 42). Burnett, Stephen G. (2012): Christian Hebraism in the Reformation Era (1500–1660). Authors, Books, and the Transmission of Jewish Learning. – Leiden: Brill (Library of the Written Word 19). Christ-von Wedel, Christine (Hg.) (2005): Theodor Bibliander (1505–1564). Ein Thurgauer im gelehrten Zürich der Reformationszeit. – Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Copenhaver, Brian / Daniel Stein Kokin (2014): Egidio da Viterbo’s Book on Hebrew Letters. Christian Kabbalah in Papal Rome. – In: Renaissance Quaterly 67, 1-42. Grévin, Benoît (2010): Connaissance et enseignement de l’Arabe dans l’Italie du XVe siècle. – In: Benoît Grévin (Hg.): Maghreb-Italie. Des passeurs médiévaux à l’orientalisme moderne (13e-milieu 20e siècle), 103-138. Rome: École Française de Rome (Collection de l’Ecole française de Rome 439).

Sebastian Greußlich Philologie als Kulturwissenschaft, reflexive Interdisziplinarität und Sprachgeschichte – zwei Fallbeispiele

1. Einleitung Dem Rezipienten der Arbeiten von Franz Lebsanft kann nicht entgehen, dass diese von einer besonderen Aufmerksamkeit für die Traditionen der Forschung geprägt sind, und zwar unter Berücksichtigung ihrer theoretischen und methodischen Prämissen ebenso wie ihrer institutionellen Voraussetzungen. In dieser Haltung hat der Gefeierte kontinuierlich Arbeiten vorgelegt, die auf philologischen Methoden beruhen 1 oder aber die Voraussetzungen und Implikationen dieser Methoden reflektieren, wie dies insbesondere auf den verbreiteten Band zur Alten und Neuen Philologie (Gleßgen/Lebsanft 1997) zutrifft, der die Diskussion zu seinem Thema maßgeblich mit geprägt hat. 2 Aus dieser Verpflichtung gegenüber der Philologie als einer für die europäische Geistesgeschichte bedeutsamen Praxis wie auch als universitärem Fach ergeben sich weitere Aspekte, die für Franz Lebsanfts Werk charakteristisch sind, nämlich ein besonderes Interesse an der Sprachgeschichte sowie die Neigung und die Fähigkeit, disziplinäre Grenzen nach Maßgabe der jeweiligen Fragestellung zu überschreiten. Dies betrifft insbesondere die Einbeziehung der Literaturwissenschaft bei der historisch fundierten Deutung von Einzeltexten, in einem weiteren Sinne aber auch die sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen, die vor allem für seine Auseinandersetzung mit Sprachpolitiken im europäischen Kontext von Belang sind. 3 Trotz starker gegenläufiger Tendenzen beharrt Franz Lebsanft seit jeher und zurecht auf der in den Philologien fachlich angelegten Interdisziplinarität und stellt in seinen empirischen Studien 1 So etwa bereits seine breit rezipierte Dissertation von 1988; aktuell die Arbeiten aus dem Umfeld des Editionsprojektes Liure de boece de consolation de phylosophye: Lebsanft 2010, 2011, 2013. 2 Aktuell jedoch insbesondere Lebsanft 2012. 3 Vgl. für eine historisch-systematische Stellungnahme zu diesem Problembereich unter besonderer Berücksichtigung der Romania Lebsanft 2003.

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unter Beweis, dass diese geeignet ist, valide historische Erkenntnisse zu erbringen, die ausgehend von den je spezifischen Logiken einzelner Disziplinen nicht erreichbar sind. Nur auf den ersten Blick überrascht es, dass gerade solche historischen Erkenntnisse für eine Vermittlung in der zunehmend interdisziplinär angelegten universitären Lehre unter den Bedingungen der Bologna-Reform besonders geeignet und sogar notwendig sind; sie sind darüber hinaus gesellschaftlich und politisch relevant, und zwar nicht etwa trotz des in den 1980er Jahren verkündeten Endes der Geschichte, 4 sondern gerade deswegen. Der vorliegende Beitrag will diese Zusammenhänge anhand zweier Beispiele aus der spanischen Sprachgeschichte (und der Geschichte ihrer Erforschung) verdeutlichen.

2. Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte und das methodologische Gebot einer reflexiven Interdisziplinarität Die Konstitution der Philologien als universitäre Fächer im 19. Jh. steht in enger Verbindung mit der historisch-vergleichenden Grammatik. Die sozialhistorischen Umstände, unter denen diese Verbindung reüssieren konnte, führten parallel zur relativen Marginalisierung anderer Konzeptionen des Fachs, für die Namen wie Heyman Steinthal oder Wilhelm v. Humboldt stehen (vgl. Gauger/Oesterreicher/Windisch 1981). Einer dieser Umstände, nämlich die romantische Faszination am Mittelalter, ist maßgeblich für die seinerzeit intensiv betriebene Edition mittelalterlicher Manuskripte und somit für die Schaffung der materialen Grundlage, auf der sich die historisch-vergleichende Methode erst entfalten konnte (vgl. Christmann 1985: 16 ff.). 5 Ohne die weiteren Entwicklungsgänge der romanischen Philologie hier nachzeichnen zu können, soll im Folgenden an die Beobachtung angeknüpft werden, dass die durchaus mühsam errungene Auffassung von Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte, wie sie besonders pointiert in den Arbeiten Raymund Wilhelms zum Ausdruck kommt, 6 sich in einem wesentlichen Punkt mit den philologischen Texteditionen trifft, nämlich dem Interesse an der Konstitution und Geltung eines einzelnen Artefakts als Ausgangspunkt für Analyse und Abstraktion (vgl. Brandt 2005). Die Wiedergewinnung des methodisch kontrollierten Umgangs mit den Kontingenzen der Überlieferung durch die Sprachwissenschaft ist schon deshalb zu begrüßen, weil dadurch gegebenenfalls vereinseitigende Interpretationen vermieden und 4 Aus romanistischer Perspektive dezidiert aufgegriffen in Gumbrecht 2010. 5 Vgl. auch Hafner 2006, Kalkhoff 2010, Wolf 2012. 6 Vgl. systematisch Wilhelm 2003, historisch-systematisch Wilhelm 2007.

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bestehende historisch-systematische Zusammenhänge aufgedeckt werden können, wie im Weiteren zu zeigen sein wird. Darüber hinaus kann eine philologisch verankerte Sprachwissenschaft ihren genuinen Beitrag zur universitären Bildung in der Gegenwart gerade dann leisten, wenn sie einen – gewissermaßen realistischen, nicht idealistischen – Zugriff auf Sprache(n) als Mittel der Kommunikation mit einem Sinn für die Alterität vergangener Zeiten verbindet (vgl. Jauß 1977). 7 Diese Alterität erschöpft sich nicht in der historischen Semantik eines lexikonzentrierten und dezidiert deskriptiven Zuschnitts, sondern muss im Dialog mit benachbarten Disziplinen, ausgreifend auf historische Umfelder und unter Reflexion auf eigene und fremde Begriffe und Methoden stets neu gewonnen werden. 8 Umgekehrt allerdings impliziert diese Sicht der Dinge keineswegs die Nachrangigkeit etwa der historischen Syntax und Morphologie als bloß kontingentes Beiwerk, das den eigentlichen Sinn nicht berühre, sondern fordert vielmehr dazu auf, die Alterität fremder Lebenswelten und ihrer Ausdrucksformen als komplexes Ganzes ohne vorgängig hierarchisierende Wertungen verstehend zur Kenntnis zu nehmen, wobei letztlich auch die Materialität der Überlieferung einen systematischen Ort erhält (vgl. Raible 1991, Gumbrecht 2003). 9 Es ist zurecht dafür argumentiert worden, dass gute systematische Gründe, die in dem genuinen Interesse an der sprachlichen Konstitution von Texten liegen, die besonders enge fachliche Verbindung der beiden Disziplinen Sprach- und Literaturwissenschaft rechtfertigten (vgl. Oesterreicher 2009). 10 Zugleich gilt aber, dass die Frage, welche Disziplin bei der Verständigung über einen bestimmten historischen Sachverhalt relevant wird, in jedem Einzelfall neu hermeneutisch geklärt werden muss. Diese notwendig skizzenhaft bleibenden Hinweise sollen im Folgenden zunächst unter Bezugnahme auf den taller alfonsí sowie die historiografía indiana und ihre Erschließung durch die Forschung illustriert werden, bevor abschließend einige Schlussfolgerungen gezogen werden, die zeigen, dass das

7 Auf den aufklärerischen und dabei umfassend, nicht nur kognitiv bildenden Effekt dieser Praxis verweist unter anderem Nida-Rümelin 2005 und 2013, der mit seinem Konzept der humanen Bildung zwar nicht dezidiert auf die Philologien abstellt, für diese jedoch offensichtliche Anschlussflächen bietet. 8 Vgl. in diesem Sinne auch die in Gleßgen/Lebsanft 2004 thematisierte Differenzierung von Sprachen und Sprechergemeinschaften. Zu einer interdisziplinär angelegten Begriffsgeschichte vgl. aktuell Riecke 2011. 9 Was nicht heißt, dass in den Geisteswissenschaften überhaupt keine Wertungen erfolgen oder zu erfolgen hätten, im Gegenteil. Vgl. dazu Kap. 3. 10 Zu den fachgeschichtlichen Entwicklungen, die solche institutionellen Gegebenheiten faktisch herbeigeführt haben, vgl. Christmann 1985.

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Verstehen von Geschichte und die Gestaltung von Zukunft eng zusammenhängen. 11 2.1. Der taller alfonsí und die Präzision der Wissenschaftssprache

Zu Recht ist der Figur Alfons des Weisen bei der philologischen Erschließung der iberoromanischen Texte des Mittelalters große Aufmerksamkeit geschenkt worden. Der Textbestand, der in dem so genannten taller alfonsí während der zweiten Hälfte des 13. Jh. von professionellen Schreibern und Übersetzern erarbeitet worden ist, stellt im romanischen wie auch im gesamteuropäischen Horizont einen in dieser Form einzigartigen Fall dar. Für diese Bewertung sprechen v.a. die folgenden Umstände: 1) Der systematische Einsatz der Volkssprache und die damit einhergehenden Normierungstendenzen derselben; 2) Der produktive Austausch mit dem arabischen Kulturraum, aus dem insbesondere die Aristoteles-Überlieferung bezogen wird, aber auch andere, gänzlich neuartige Wissensbestände; 3) Die formale und inhaltliche Bandbreite der Texte, zu deren Charakterisierung meist zumindest die Kategorien ‚literarisch‘, ‚juristisch‘, ‚historiographisch‘ sowie ‚wissenschaftlich‘ bemüht werden. 12 Es ist hier nicht der Ort, in der an sich gebotenen Ausführlichkeit auf die Forschungsgeschichte einzugehen; es soll aber unter Bezug auf zwei der gemeinhin als ‚wissenschaftlich‘ apostrophierten alfonsinischen Texte, 13 den Saber de Astronomía und den Lapidario, schlaglichtartig aufgezeigt werden, wie disziplinär bedingte Prämissen die Interpretation empirischer Daten prägen. Die dabei entstehenden Widersprüche tragen letztlich weder zur Konsistenz disziplininterner Wissensbestände noch zum Verstehen eines historischen Artefaktes bei. Die Charakterisierung der Texte als wissenschaftlich ist geeignet, das exzeptionell innovative Moment, das dem taller alfonsí eigen ist, hervorzuheben. Sie ist zumindest für einen Teil der Texte auch gerechtfertigt, wenngleich es des Öfteren sinnvoll wäre, die Alterität des mittelalterlichen Wissenschaftsbegriffs deutlicher zu konturieren (vgl. unten). Problematisch aber ist es, wenn die Interpretation und Statusbestimmung eines Textes erkennbar der Eigenlogik einer und nur einer Disziplin folgt und entstehende Widersprüche ausgeblendet beziehungsweise durch eine spontan unterschiedliche Gewichtung 11 Gerade nicht entscheidend ist dafür allerdings die Identifizierung des vermeintlich Objektiven in der Vergangenheit etwa durch Rekurs auf das physiologische Substrat der Erinnerung (vgl. Fried 2012). Geschichtsbilder sind für die Gestaltung der Zukunft entscheidender als objektive Tatsachen, da sie kognitiv und emotiv wirksam sind. 12 Für eine differenzierte historische Betrachtung dieser akademischen Topoi, die sich gegen ihre Verabsolutierung wendet, vgl. Cano Aguilar 2008/2009. 13 Für eine vollständige Bibliographie dazu vgl. Fernández-Ordóñez 22008.

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empirischer Gegebenheiten camoufliert werden. Dies soll im Folgenden veranschaulicht werden, indem wir in der gebotenen Kürze prüfen, mit welchen Argumenten die angenommene Wissenschaftlichkeit der fraglichen Texte untermauert wird, aus welchen disziplinären Umfeldern die einschlägigen Argumente hervorgehen und schließlich, welche weiteren Eigenschaften der Texte dabei mehr oder weniger offen, jedoch ohne nähere Begründung, marginalisiert werden. Unter den einschlägig interessierten hispanistischen Sprachwissenschaftlern herrschte bis vor kurzem die Auffassung vor, die sprachlich-stilistischen Eigenschaften der fraglichen Texte wiesen diese als wissenschaftlich aus. In diesem Sinne paradigmatisch ist etwa die folgende Stellungnahme: Lo que cuenta es que aquí se exponen realidades especializadas y conceptos elaborados, se argumenta y razona, se intenta demostrar, todo ello de forma rigurosa y formalmente objetiva: en suma, un verdadero uso ‚científico‘ del lenguaje. [...] Con escasas excepciones, no hay nada comparable en el s. XIII, y naturalmente antes, pero también mucho después, a la colección de obras científicas (astronómico-astrológicas, ‚lapidarios‘, médicas, etc.) traducidas o hechas de nuevo por los colaboradores del Rey Sabio (Cano Aguilar 1998: 42).

Wenngleich die These per se natürlich eine ernsthafte Prüfung verdient, ist es überraschend, dass sie unter Verweis auf sprachliche Verfahren der Kodierung von Neutralität und Sachbezogenheit zustande kommt, die ursprünglich nicht an den mittelalterlichen Textzeugen herausgearbeitet worden sind, sondern in der synchron orientierten Fachsprachenforschung gewonnen wurden. 14 Sie ist also schon deshalb mit einer gewissen Zurückhaltung zu betrachten, weil sie implizit davon ausgeht, die Eigenschaften fachsprachlichen Ausdrucks seien seit knapp achthundert Jahren annähernd konstant, die Präzision und geringe Variabilität des Ausdrucks auf allen sprachlichen Ebenen ergebe sich notwendig aufgrund der Wissenschaftlichkeit des Diskurses. Wäre diese Annahme völlig zutreffend, dürfte sich das Verständnis von Wissenschaft in demselben Zeitraum ebenfalls nicht verändert haben; dies ist nun aber eindeutig nicht so. Ohne diesen Umstand hier wissenschaftsgeschichtlich angemessen diskutieren zu können, erhellt er indirekt schon daraus, dass dieselben Texte auch von Literaturwissenschaftlern für ihre Disziplin reklamiert werden konnten, wobei sie jedoch die Neigung, ganz bestimmte Evidenzen selektiv hervorzuheben, mit den Sprachwissenschaftlern teilen:

14 Vgl. dazu exemplarisch Stroyny 1996, wo die Wissenschaftlichkeit der Texte nicht eigens problematisiert wird und die sprachlichen Daten gegenwartsbezogen interpretiert werden. Vgl. Grundsätzlich zu Eigenschaften und Status von Fachsprachen Ickler 1997.

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El Lapidario de Alfonso X posee un gran interés, no solamente por ser uno de los manuscritos primeros de naturaleza científica salidos de la Cámara Regia, sino también por su lenguaje. Además de ofrecer la perfección de una prosa de ciencia, presenta el atractivo de poder ser considerado como antecedente de prosa poética (Rodríguez M. Montalvo 1981: 11).

Während die Sprachwissenschaft also die Repetitivität des Diskurses als Ausdruck von Ökonomie interpretiert und hervorhebt, fallen der Literaturwissenschaft zunächst die pittoresken Ausdrücke und fremdartigen Termini ins Auge; gemeinsam ist beiden Disziplinen, dass sie diese zunächst widersprüchlichen Evidenzen dissoziieren, anstatt sie gleichrangig zur Kenntnis zu nehmen. Grundsätzlich differenzierter, jedoch ebenfalls nicht frei von Unklarheiten, äußert sich Fernández-Ordóñez in ihrem kulturhistorisch perspektivierten Zugriff auf das Problem (vgl. Fernández-Ordóñez 22008). Auch hier bliebe noch zu erläutern, wie die – im Mittelalter legitime und relevante – Wissensform der Magie mit Wissenschaft zusammenhängt (vgl. Kellermann 1999) und ob nicht zumindest terminologisch eine Deutung übernommen wird, die den Texten vor allem aus heutiger Sicht maximale Geltung sichert und damit geeignet ist, die herausragende Bedeutung des alfonsinischen Korpus zu unterstreichen. Dafür spricht, dass die Alterität der Wissensbestände, um die es hier geht, ja auch von Cano Aguilar fraglos anerkannt und sogar eigens problematisiert wird, sobald er seinen Blick nicht auf die Grammatik, sondern auf den Metadiskurs der Prologe richtet (vgl. Cano Aguilar 1989/1990). Weit schwerer noch wiegt eine andere Beobachtung, die allerdings derselben Logik folgt: Zieht man mit dem Conde Lucanor einen Text hinzu, der dem taller alfonsí zeitlich nahesteht, jedoch in der Forschung nicht als wissenschaftlich zur Debatte steht, 15 sondern seit jeher als literarisches Zeugnis gewertet worden ist, so stellt man fest, dass er sprachlich ebenso repetitiv ist und die gleichen Ausdrucksmittel aufweist, die auch beschrieben werden, gleichwohl von vornherein anders interpretiert werden, sodass seine Literarizität trotz aller gegenteiligen Evidenzen nie infrage steht (vgl. Don Juan Manuel 232004). In Anbetracht dessen, dass im Conde Lucanor der bekannte Typ von Repetitivität auftritt, stellt sich die Frage, ob nicht alle drei angeführten Texte einen pragmatischen Zusammenhang aufweisen. Einschlägige weiterführende Einsichten sind aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht schon vor geraumer Zeit beigetragen worden. 16 In der Tat spricht vieles dafür, das gesamte alfonsinische Korpus einschließlich seiner literarischen Teile und ebenso den Conde Lucanor im Kontext des politischen Handelns des Monarchen zu sehen, der durch den 15 Vgl. für maßgebliche Evidenzen, die diesen Zusammenhang belegen, u.a. Narbona Jiménez 1984, Greußlich 2009. 16 Vgl. Burns 1990 und Montoya Martínez/Domínguez Rodríguez 1999.

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Rückgriff auf autoritative Wissensbestände wie auch auf Diskursdomänen, die der Selbstautorisierung dienen, seine Politik zu legitimieren und zu optimieren suchte. 17 Dabei spielt die Prinzenerziehung ebenso eine Rolle wie die Magie, die Astronomie ebenso wie der rechte Glaube. Wenngleich man festhalten kann, dass in den letzten zwanzig Jahren Fortschritte erzielt wurden, die es heute gestatten, dieses angemessenere Bild zu rekonstruieren, fällt umso deutlicher auf, dass dieses Bild sofort aus dem Blick gerät, sobald disziplinär eindeutig verortete Fragestellungen an die Texte herangetragen werden. Dies führt zu der zunächst beunruhigenden Einsicht, dass wissenschaftlich eindeutig fundierte Fragestellungen unter Umständen eine echt historische Erkenntnis eher unterminieren als sie zu befördern; und der zweite hier thematisierte Beispielfall zeigt, dass dieser Zusammenhang keinem Zufall entspringt. 2.2. Die Schönheit der Wahrheit in der frühneuzeitlichen historiografía indiana

Mit der historiografía indiana – der deutschsprachige Terminus spanische Kolonialhistoriographie ist weniger glücklich – 18 steht uns ein analoger Fall vor Augen, in dem disziplinär formierte Fragestellungen und Interessen zu miteinander unvereinbaren Deutungen führen, wobei auch anachronistische Kategorisierungen eine maßgebliche Rolle spielen. Zunächst einmal ist die Editionslage bezüglich der historiografía indiana quantitativ sehr zufriedenstellend. Seit Gründung der Real Academia de la Historia im Jahr 1738, historisch gesehen die Nachfolgeinstitution der Crónica Mayor de Castilla beziehungsweise der Crónica Mayor de Indias, 19 wird daran kontinuierlich gearbeitet. Die vielen einschlägigen Bände der Biblioteca de autores españoles legen davon ebenso Zeugnis ab wie die umfangreiche Colección de documentos inéditos de la historia de España, die beide eine bis ins 19. Jh. zurückreichende Geschichte haben. Sogleich ist jedoch Folgendes hinzuzufügen: Erstens sind die Editionen ohne explizit philologischen Anspruch erstellt worden; sie zielen allein auf die Wiedergabe des Inhalts und basieren zumeist auf zufällig greifbaren Vorlagen: all dies ist aus Sicht des Historikers auch nachvollziehbar, stellt aber insbesondere für die Sprachwissenschaft ein Problem 17 Unter den Philologen ist der renommierte Mediävist Ramón Lodares dieser Sichtweise am nächsten gekommen, vgl. Lodares 1995. In jüngerer Zeit kommt Cano Aguilar (2008/2009) in einer historischen Rekonstruktion der Genese unseres Alfonso-Bildes zu ganz ähnlichen Ergebnissen. 18 So hat die neuere historische Forschung deutlich herausgearbeitet, dass die überseeische Expansion von der kastilischen Monarchie ausgeht und dass es sich dabei um kein koloniales, sondern ein imperiales Unternehmen handelt. Vgl. vor allem die Beiträge in Barrios 2004. 19 Vgl. zur Emergenz beider Institutionen klassisch Bermejo Cabrero 1980 und aktuell Kagan 2009.

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dar, das erst in jüngerer Zeit wenigstens punktuell bearbeitet wird. 20 Überraschender und auch für die Geschichtswissenschaft nicht unproblematisch ist allerdings der Umstand, dass die institutionelle Kontinuität, die seit dem 16. Jh. besteht, sich auch in den Bewertungskriterien niederschlägt, die bis in jüngere Zeit oft unverändert an den Status historiographischer Texte und die Geltung des darin kodierten Wissens angelegt werden (vgl. Greußlich 2011). Dies ist zum einen die explizite, nicht etwa camouflierte Politisierung der Historiographie, die in der Vormoderne konstitutiv war, die aber mit dem Konzept einer Geschichtswissenschaft nicht ohne Weiteres vereinbar ist; zum anderen die unmittelbare Verbindung, die zwischen sprachlich-stilistischer Qualität des Textes und der Glaubwürdigkeit der darin gegebenen Information hergestellt wird, für die Gleiches gilt. Daraus ergeben sich zirkuläre, nicht selten selbstwidersprüchliche Argumentationsgänge, was die Begründung des Stellenwerts angeht, der einem Text zugemessen wird. 21 Dieser Umstand soll im Folgenden anhand eines prominenten Beispiels illustriert werden: In der Auseinandersetzung um den rechtlichen Status der als Indias bezeichneten amerikanischen Territorien reklamiert die kastilische Krone unmittelbar nach dem descubrimiento 1492 deren Zugehörigkeit zum kastilischen Imperium, wobei sie sich im Kern auf eine heilsgeschichtliche Deutung beruft, der zu Folge die zeitliche Kontiguität der reconquista der Iberischen Halbinsel und der Expansion nach Amerika im Zusammenhang göttlichen Ratschlusses zu verstehen sei, und sucht den Schulterschluss mit dem Papst, um ihre Hegemonie zu sichern. Gleichwohl werden diese Ansprüche vor Ort frühzeitig durch Siedler und Ordensklerus unterlaufen sowie von konkurrierenden europäischen Monarchien offensiv bestritten. Bartolomé de Las Casas, 1522 zum Dominikaner bekehrter encomendero, ist derjenige unter den Opponenten der Krone, der den einschlägigen juristischen Diskurs, welcher sich systematisch gerade auch in Form historiographischer Texte manifestiert, über seine eigene Zeit hinaus (und letztlich bis heute) am prominentesten repräsentiert. Interessanter als die Einzelheiten seiner Biographie, die in einer Vielzahl von Monographien nachzulesen sind, 22 ist für die Belange dieses Beitrags die Frage, wie er von Zeitgenossen und Nachwelt als eminente politische und historische Figur bewertet und auch instrumentalisiert worden ist und wie sich diese Bewertung zu seiner eigenen Interessenlage verhält. In diesem Sinne ist zu beobachten, dass er als historische Figur seit jeher vor allem in Form von Stereotypen 20 Vgl. etwa Stoll 2011. 21 Derart, dass informative, wichtige Texte auch als schön bewertet werden und schöne Texte als glaubwürdig, wobei der Kausalzusammenhang zwischen Inhalt und Form jedoch nur unterstellt, nicht begründet wird. Vgl. Greußlich 2012: 207-221. 22 Vgl. ausführlich und kenntnisreich Iglesias Ortega 2007.

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rekonstruiert worden ist, die einander diametral entgegengesetzt und als leyenda negra beziehungsweise leyenda rosa bekannt sind. Wird er im Rahmen ersterer zunächst als Verräter stilisiert, der den detractores de España in die Hände spiele, und später von liberalen Strömungen als ein Sinnbild der so empfundenen spanischen Rückständigkeit in Stellung gebracht, so umgekehrt in der leyenda rosa als uneigennütziger, moralisch bewegter defensor de los Indios, der sich vorbehaltlos in den Dienst des Guten stellt. Diese beiden Perspektiven haben sich über die Jahrhunderte im Kern erhalten und sind in unterschiedlichen historischen Kontexten je spezifisch refunktionalisiert worden (vgl. Greußlich 2012, Oesterreicher 2014). Wie im 16. Jh. die kastilische Monarchie, der Ordensklerus und konkurrierende Monarchien wie Frankreich, England, aber auch die aufbegehrenden Niederlande kontinuierlich auf ihn Bezug nehmen, um ihre Positionen zu stützen, so im 20. Jh. Republikaner und Franquisten im Rahmen ihrer jeweiligen ideologischen Mobilisierungsbemühungen. 23 Es ist in diesem Zusammenhang auffällig, dass die moralischen Bewertungen der Biographie von Las Casas im Wesentlichen auf ihre im Hinblick auf diesen Gesichtspunkt besonders salienten Elemente rekurrieren, also die Predigt von Montesinos (1511), die Ernennung zum Procurador de los Indios (1522), die Leyes Nuevas (1542) und schließlich die Veröffentlichung der Brevissima relacion de la destruyçion de las Indias (1552). Nun ist eine moralische Bewertung der Lebensleistung einer historischen Figur nicht per se unwissenschaftlich, vielmehr sind Wertungen genuiner Bestandteil des Umgangs mit historischen Gegenständen; 24 Unwissenschaftlich ist dieses Vorgehen aber dann, wenn die Wertung bereits bei der Auswahl der als relevant erachteten Gegebenheiten beginnt, anstatt im Anschluss an die Sichtung möglichst aller rekonstruierbaren Gegebenheiten. 25 Zu einer ausgewogeneren und umfassenderen Sicht der Dinge kann man gelangen, indem man alle Teile der Schreib- und Redetätigkeit von Las Casas in ihrem Zusammenhang betrachtet, auch wenn dieser nicht überall gleich offensichtlich ist, anstatt einzelne Teile daraus stärker zu gewichten als andere, weil sie scheinbar leichter zu erschließen sind. Dabei erweist sich erneut, dass Geschichtswissenschaft und Philologie voneinander profitieren und sich wechselseitig zur Kenntnis nehmen müssen, wollen sie dem historischen Phänomen gerecht werden.

23 Vgl. zur leyenda negra etwa die ideologisch jeweils klar zuzuordnenden Deutungen von Juderías y Loyot 2007 und Carbia 2004. 24 In diesem Sinne ist etwa die Frage nach der Ethik in der Philologie (vgl. Bähler 2006) nur auf den ersten Blick eine Provokation, auf den zweiten hingegen eine Selbstverständlichkeit. 25 Vgl. mit Bezug auf den Fall Las Casas insbesondere auch Oesterreicher 2014.

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Aus Sicht der Philologie ist zunächst festzuhalten, dass Las Casas neben der Brevissima zeit seines Lebens auch an einer Historia de las Indias gearbeitet hat, die als umfangreiches Manuskript vollständig erhalten ist, jedoch erst im 20. Jh. als Edition zugänglich gemacht wurde; außerdem zählt zu seinen kastilischsprachigen Texten noch eine Historia apologética von 1527, über deren Status sich die Forschung lange nicht schlüssig geworden ist (vgl. Greußlich 2012: 154). Schließlich, so die hier vertretene Position, dürfen auch seine Beteiligung am Entwurf der Leyes Nuevas von 1542 und seine lateinischen theologischen Schriften nicht außer Acht gelassen werden. Die universitäre Forschung hat sich allerdings lange Zeit nicht nur die politisch motivierten Werturteile früherer Jahrhunderte zu eigen gemacht, sondern zugleich die Überlieferungsgeschichte der Texte nach ihren eigenen Maßstäben bewertet, sodass die unveröffentlichten Manuskripte tendenziell als Nebenprodukt der eigentlichen politischen Interessen von Las Casas verstanden wurden und als Ausdruck der Verarbeitung persönlicher Erfahrungen. Aufgrund einer integrierenden Betrachtung der Textüberlieferung, der Ordens- und der Rechtsgeschichte kann nun aber Folgendes geltend gemacht werden: Vormoderne Historiographie hat eine eminent legitimatorische Funktion in Bezug auf die je aktuelle Politik. Wenn Las Casas also historia schreibt, so hat diese selbstverständlich eine solch (de)legitimatorische Funktion, und es wäre anachronistisch, sie als Versuch der individuellen Bewältigung von Alterität misszuverstehen. Seine Historia apologética, lange Zeit ebenso marginalisiert, wird als integrales Komplement der Historia de Indias erkennbar, sobald man sich mit dem zeitgenössischen Rechtsdenken auseinandersetzt, das vom Gewohnheitsrecht geprägt war und die eingehende Kenntnisnahme von konkreten Lebensumständen und kulturellen Praktiken, wie sie in der apologética erläutert werden, schlicht erfordert hat, sollten die legitimatorischen Anstrengungen des Historiographen erfolgreich sein. Als Angehöriger des Ordensklerus steht Las Casas, dies sei hier nur angedeutet, im Diskurs um die Legitimität der Herrschaft über die Indias in direkter Konkurrenz zur kastilischen Krone. Während die Missionare für die Krone einerseits ein wichtiges Mittel zu dem Zweck sind, ihre Ansprüche heilsgeschichtlich zu legitimieren, ist es umgekehrt deren Interesse, sich eine eigenständige Rolle in den Indias zu bewahren und religiös begründete Macht gegen ihre politische Instrumentalisierung abzugrenzen. Gerade auch die direkte Einflussnahme auf die Gesetzgebung und die Schaffung eigener Territorien in Form von reducciones dient der Bewahrung kirchlicher Prerogativen und Ordensprivilegien gegenüber den Interessen konkurrierender politischer Akteure. 26 26 Diese Zusammenhänge sind zunächst ausschließlich in der Geschichtswissenschaft, und auch dort mühsam, erschlossen worden (vgl. exemplarisch Barrios 2004). Im Horizont der hier ver-

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Diese Sichtweise impliziert nicht, dass die moralischen Überzeugungen und das Moment persönlicher Betroffenheit bei Las Casas deshalb in Zweifel gezogen werden müssten, ebenso wie umgekehrt ernsthafte christliche Überzeugungen für die Politik des Monarchen gewiss eine Rolle gespielt haben. Das Verhalten der historischen Akteure gerade auch in seinen scheinbaren Widersprüchen zu verstehen, ist aber nur möglich, wenn die Prämisse einer interessengeleiteten Kommunikation, die in allen ihren Teilen und Formen potenziell kohärent ist, den Ausgangspunkt für eine über die Grenzen von Disziplinen hinweg reichende Hermeneutik bildet. In hohem Maße signifikant ist nun der Umstand, dass Fortschritte in diesem Sinne während des letzten Jahrzehnts in der Tat erzielt worden sind, und zwar insbesondere im Umfeld einer historischen Diskursanalyse, die gezielt kommunikative Praktiken und historische Semantiken in den Blick nimmt, um transparent zu machen, welche Interessen und Motive bei der Konstitution eines bestimmten Bildes von vergangenen Sachverhalten eine Rolle gespielt haben und wie die Geltung bestimmter Begründungszusammenhänge die Darstellung von Sachverhalten prägt. Diese Methodik wird vor allem von Historikern in Nordamerika vorangebracht (und zwar fachlich insbesondere in den dort fest verankerten Colonial Studies), hat aber zum einen genuin sprachbezogene Implikationen, die eine systematische Beteiligung der Philologien nahelegen, zum anderen auch konstruktive und weiterführende Rückwirkungen auf diese, da der Status von Texten und letztlich die Funktion sprachlicher Ausdrucksmittel in der Kooperation mit der Geschichtswissenschaft historisch adäquat bestimmbar werden. 27 In Bezug auf Las Casas und die Escuela de Salamanca mag etwa die Rede von Ecclesiastical Imperialism im Ton polemisch sein, die dahinter stehende Studie Castro 2007 erarbeitet jedoch einen Zusammenhang, der in früheren Forschungsperspektiven schlicht nicht zum Tragen gekommen ist. Der reflexive Umgang mit der Semantik der Rede vergangener Zeiten und philologische Expertise im Zugriff auf die Quellen sind unabdingbar, um diese Perspektive produktiv zu entfalten. Es geht also nicht mehr um die Frage, welche Disziplin einer anderen nachgeordnet ist und ggf. Hilfsdienste zu erbringen hat; vielmehr zeigt sich, dass die Kontiguität geisteswissenschaftlicher Disziplinen und ihrer Formalobjekte ein echtes Verstehen historischer Gegebenheiten erst ermöglicht (vgl. Lebsanft 2013, Oesterreicher in diesem Band).

tretenen Auffassung von der Notwendigkeit reflexiver Interdisziplinarität in den Geisteswissenschaften ist die philologisch begleitete Volltexterschließung von Quellen aus dem Umfeld der Escuela de Salamanca (am MPI für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main), zu dem auch Las Casas gehört, ebenso einschlägig wie der Band Pérez/Parodi/Rodríguez 2014. 27 Vgl. in diesem Sinne auch Gleßgen/Lebsanft 2004.

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Das Interesse am echten Verstehen historischer Gegebenheiten ist nun allerdings hochaktuell. Dazu im Folgenden einige abschließende Bemerkungen.

3. Die vermeintliche Aktualität der Synchronie und die Philologien als universitäre Fächer: ein Ausblick Zurecht ist von romanistischer Seite bereits vor einigen Jahren kritisch zum Schwund der Diachronie aus den Curricula der Studiengänge Stellung genommen worden, die im Rahmen der Bologna-Reform neu konzipiert werden; ebenso zurecht ist auf die Sinnhaftigkeit interdisziplinärer Kooperation im Blick auf diese Rahmenbedingungen hingewiesen worden (vgl. Becker 2009). 28 Die unverkennbare Tendenz, gegenwartsbezogene Inhalte zu bevorzugen, folgt aus der Idee, damit sei ein höherer Grad der Relevanz für Studierende hergestellt. Diese Logik allerdings stellt letztlich die Geisteswissenschaften insgesamt zur Disposition, da deren Formalobjekte per definitionem historisch sind, insofern diese der Kontingenz unterliegen. Will man sie im oben skizzierten Sinne verstehen – und dies sollte das Ziel geisteswissenschaftlicher Arbeit sein – dann kann man auf die Diachronie nicht verzichten, da auch aktuellste Phänomene der Gegenwart eine Genese durchlaufen haben, deren rekonstruierender Nachvollzug Voraussetzung des Verstehens ist. 29 Es geht also nicht um Vor- oder Nachteile für die Diachronie im institutionellen Proporz, sondern um die tragfähige Konstitution einer Wissensdomäne, die die Fähigkeit zur Selbstreflexion essenziell berührt. 30 Die viel beschworene Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, die Fähigkeit, Ideen für ihre sinnvolle Gestaltung zu entwickeln und die Aneignung des Historischen hängen systematisch zusammen. Dieser Sachverhalt wird aktuell in vielen Kontexten nicht angemessen gewürdigt, bleibt aber gleichwohl gegeben. Es ist ein besonderes Verdienst des Jubilars, in seinem wissenschaftlichen Werk den Zusammenhang der Kenntnis historischer Sachverhalte, der Selbstaufklärung einer Disziplin durch die Reflexion ihrer eigenen Genese und ihrer Erkenntnisansprüche sowie der qualifizierten, fundierten Beteiligung ihrer 28 Gerade Letzteres ist auch an dem oben gegebenen Beispiel deutlich geworden. 29 Dieser Zusammenhang bildet auch einen zentralen Aspekt in dem aktuellen Gastvortrag Franz Lebsanfts an der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften mit dem Titel Latein im Studium der Romanistik. 30 Außerordentlich bedenkenswert ist in diesem Sinne etwa das in Asholt 2009 thematisierte Konzept einer ‚Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft‘ und der systematische Bezug auf die Geschichtswissenschaft und die Sozialwissenschaften, die womöglich eher geeignet sind, die Kompetenzen der Romanistik zur Geltung zu bringen als die Etablierung weiterer, als zeitgemäß wahrgenommener Teildisziplinen. Vgl. auch Oesterreicher 2009.

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Vertreter an Debatten über politische Fragen der Gegenwart immer wieder herausgestellt zu haben. Frühzeitig hat er auch klargestellt, dass es aus systematischen Gründen notwendig ist, konstitutive Paradigmen der philologischen Fächer als solche zur Kenntnis zu nehmen, um ihren gegenwärtigen Standpunkt beurteilen zu können (vgl. Böckle/Lebsanft 1989, Lebsanft 2005). Will man im Rahmen von Area Studies oder epochenbezogenen Studiengängen valides Wissen vermitteln, ist es unabdingbar, darin nicht bloß einzelne Disziplinen zu summieren, sondern phänomenbezogen deren wechselseitige Kenntnisnahme in Form eines reflexiven Dialogs, der sich über Prämissen und Begriffe der beteiligten Disziplinen explizit Rechenschaft gibt, zu organisieren. Dies bedeutet auch, sich einzugestehen, dass geisteswissenschaftliche Forschung Werturteile beinhaltet und nicht rein deskriptiv sein kann. Dabei kommt es darauf an, Motive und Implikationen von Wertungen zu identifizieren, um sie zu reflektieren. Auf diese Weise tragen Geisteswissenschaften zur sinnvollen Gestaltung der Zukunft bei, und die Philologie, deren Status Franz Lebsanft bereits wiederholt problematisiert hat, ist dabei, wie die Beispielfälle gezeigt haben, von wesentlichem Belang.

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Dietmar Osthus Zur Vorstellung von Sprachgeschichte und Sprachentwicklung in der frühen Neuzeit: Fauchet, Aldrete und Nunes de Leão

1. Zur Einführung Die Renaissance bzw. der westeuropäische Humanismus bleibt eine der entscheidenden Epochen für die Herausbildung metasprachlicher Konzepte. Die Geschichte der Grammatikographie und Lexikographie der romanischen Sprachen beginnt in vielen Darstellungen im Grunde erst mit dem 16. Jh.. Diese Epoche steht im Mittelpunkt zahlreicher ideengeschichtlicher Meilensteine der Romanistik, man denke hier an die grammatikgeschichtlichen Arbeiten von Kukenheim (1932), die sprachbezogenen Ideengeschichten im Sinne Auroux’ (ed. 1992) oder – spezifisch für den portugiesischen Sprachraum – an Carvalhão Buescu (1978, 1983). Der mediengeschichtliche Hintergrund des Buchdrucks und der politisch-gesellschaftliche der Nationalstaatenbildung sowie die konfessionellen Konflikte befördern maßgeblich die Emanzipation und die funktionelle Ausweitung der Volkssprachen gegenüber dem Lateinischen. Neben grundlegenden Fragen − etwa der Wertigkeit einzelner Sprachen − artikuliert sich erstmals auch ein Bewusstsein für die Historizität der Volkssprachen. So entstehen zusätzlich zu den zahlreichen meist sprachnormativen Publikationen – Glossare, Wörterbücher, (Para-)Grammatiken – in der frühen Neuzeit auch erste Gesamtdarstellungen zur Sprachgeschichte. Das Vorhandensein geschichtlichen Bewusstseins verweist zunächst auf die „lebensweltlichen Funktionen des Erinnerns“ (Lebsanft 2003: 845), zugleich wird durch die Historisierung der eigenen Sprache erstens eine Würdigung derselben und zweitens ein implizites Entwicklungsprogramm eingeschlossen. Zudem trägt die Historisierung der eigenen Sprache unzweifelhaft zur Konstruktion und Festigung nationaler Identitäten bei (Leyhausen 2003, Osthus 2003). Obwohl sprachhistorische Überlegungen natürlich nicht auf monographische Gesamtdarstellungen zur Sprachgeschichte beschränkt sind, wie der Blick in

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programmatische Aussagen aus der Grammatik von Nebrija (1492) oder der Défense et Illustration de la Langue françoyse (Du Bellay 1549) zeigt, ist es von besonderem Interesse, die ersten sprachhistorischen Gesamtdarstellungen zum Französischen, Kastilischen und Portugiesischen miteinander in Bezug zu setzen. Drei unterschiedliche Werke werden daher miteinander verglichen: Zum einen Claude Fauchets Recueil de l’origine de la langve et poesie françoise, ryme et romans aus dem Jahr 1581, zum anderen Bernardo Aldretes 1606 in Rom publiziertes Del origen y principio de la lengua castellana ò romãce que oi se usa en España sowie die ebenfalls im Jahr 1606 publizierte Origem da lingoa portuguesa von Duarte Nunes de Leão. Trotz ihrer Heterogenität, die sich etwa am Umfang – Fauchets 80 Seiten stehen knapp 400 Druckseiten bei Aldrete bzw. 150 bei Leão gegenüber – und an den thematischen Schwerpunktsetzungen, z.B. hinsichtlich einer Integration von Literaturgeschichte, zeigt, überwiegen die Gemeinsamkeiten, die eine komplementäre Betrachtung ermöglichen. Der „wissenschaftlichste“ der drei Texte ist zweifellos Aldrete (1606), der stringent argumentierend die urkastilische These zurückweist. Fauchet (1581) und Leão (1606) gehen vergleichsweise wenig auf zeitgenössische metasprachliche Debatten ein, dennoch ist ein klares philologisches Vorgehen nicht zu leugnen, etwa wenn wissenschaftlich-linguistische Erklärungsmodelle vorweggenommen werden. Jenseits der Debatte um den Sprachursprung – abgesehen von den Vertretern etwa der urkastilischen These ist die lateinische Filiation der romanischen Sprachen unter den Gelehrten der Zeit Konsens – zeigen sich Spezifika der jeweiligen monographischen Werke in einer kontrastiven bzw. komplementären Betrachtung. Dabei stehen drei Fragekomplexe im Mittelpunkt: – Welches Bewusstsein besteht für den Sprachwandel? Wie wird die sprachliche Variation in Raum und Zeit konzipiert bzw. erklärt? – Wie wird sprachlicher Wandel bewertet? Dabei stehen sich prototypisch die Vorstellungen von negativ konnotierter Korruption und potenziell positiver Evolution gegenüber. Lässt sich aus den sprachhistorischen Darstellungen eine sprachnormative Konzeption bzw. ein Entwicklungsprogramm im Sinne bewusster Sprachkultur (vgl. Lebsanft 1997) ableiten?

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2. Analyse der historischen Sprachgeschichten 2.1. Bewusstsein für den Sprachwandel

Die innersprachliche Variation in Zeit und Raum gehört zu den von den frühneuzeitlichen Grammatikern immer wieder genannten Eigenheiten der „langues non reduictes encores en art certain, & repceu“ (Dolet 1540: 16). Die sprachhistorische Erklärung dieser Variation, die etwa von Juan de Valdés auch als Hindernis für die Erstellung volkssprachlicher Grammatiken angesehen wurde, nimmt einen wichtigen Teil in den Überlegungen der ersten Sprachgeschichten ein. Die innere Dynamik von Sprache gehört im Anschluss an Horaz (ars. poet. 1,60) zum Grundkonsens der Humanisten. Fauchet (1581: 8) führt etwa die phonetische Variation auf Ausspracheveränderungen „par vice de nature ou par accidẽt“ zurück. Aus der individuellen Verschiedenheit der Menschen und ihres artikulatorischen Apparats ergäben sich unterschiedliche Aussprachetraditionen, die sich innerhalb von Familien und schließlich innerhalb ganzer Völker verbreiten könnten: Dont vient que vous oyez aucuns tirer leur parolle plus du gosier: autres la contraindre serrans les dens: & quelques vns la ietter du bout des leures. Or puis qu’il est certain, que nous sommes tous issus d’vn seul pere, vne façon de parler ou prononcer ayant esté suivie de quelqu’vn par vice de nature, ou plaisir des oreilles, son fils l’a prise de luy, & cestuycy d’autres: iusques à ce que par imitation elle s’est continuee en vne famille: & finalement estendue en vn peuple & nation.

Aldrete kategorisiert unter den drei Autoren die sprachliche Variation sicher am genauesten. So beobachtet er sprachliche Unterschiede nicht nur in der Zeit, sondern ebenfalls zwischen Stadt und Land sowie zwischen verschiedenen sozialen Gruppen: Passa esto tan adelante, que dexada la facilidad, con que la gente de la ciudad se diferencia dela del campo, pero aun entre los mismos de la ciudad, si es algo grande, i entre los del campo, si sus terminos son estendidos, se conoce qual de la Sierra. Por que assi como es grande la variedad, que ai en las condiciones de los hombres, i en las faiciones del rostro, i en las mas compostura del cuerpo, con que vnos se diferencian de otros, i son conocidos, assi tambien en la variedad de la lengua, que con ser vna misma, por ella como por la vista se conoce quien habla, o cuios son los escritos, que se leen, i se tiene a par de milagro, si dos hombres en esto se conforman (Aldrete 1606: 192).

Die sprachliche Diversität ist in diesem Sinne ein Spiegel der Verschiedenheit unter den Menschen. Soziogeographische Heterogenität zeichnet dementsprechend die Volkssprachen aus. Die zeitliche Dimension der Variation wiederum wird durch die anthropomorphe Metaphorik des Alterns von

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Sprache wiedergegeben. Die Veränderung ist also ein natürlicher, ohne äußerliche Intervention gesteuerter Prozess: Entre las cosas de consideracion, que ai en las lenguas, es mui notable la mudança, que reciben con el tiempo; lo qual, por lo que toca a mi intento, conuiene que no lo passe en silencio. Deue se pues advertir, que la lengua vulgar naturalmẽte con el tiempo se enuejece, i muda, i en ciento o docientos años se trueca de manera, que muchas palabras della nose entíenden, como si fueran vocabulos de lengua peregrina, o estrangera (Aldrete 1606: 176).

Duarte Nunes de Leão beschreibt analog die Sprachveränderung in der Zeit und führt als Beispiele Entwicklungen des Lateinischen und des Portugiesischen an: Polo qẽm hũa mesma lingoa vaõ fazendose tantas mudanças de vocabulos, q’ per discurso do tẽpo, fica parecẽdo outra, como veraa quẽ cotejar a lingoagẽ, que se oje falla em Portugal, com a que se fallaua em tempo del Rei dom Afonso Henriquez: & quem considerar o discurso que a lingoa Latina foi fazendo em diuersas idades (1606: 2).

Die Wechselhaftigkeit der Sprachen darf als allgemeines Gesetz gelten, welches sowohl auf die zeitgenössischen Volkssprachen als auch auf die Sprachgeschichte des Lateinischen anwendbar ist. Den drei Autoren zufolge sind Wortschatz, Semantik und Morphosyntax von diesem Wandel betroffen. Externe Faktoren spielen in der Sprachentwicklung bei allen drei Autoren eine entscheidende Rolle. Analog zu den bereits von Nebrija geäußerten Gedanken der „lengua compañera del imperio“ (1492: Prólogo), der deutliche Parallelen zu Einsichten Claude de Seyssels (1519, vgl. Schmitt 1988) vorweist, wird die Abhängigkeit der Sprachentwicklung von den politischen Rahmenbedingungen, insbesondere den Herrschaftsräumen, Reichs- und Staatenbildungen, betont. Die von Duarte Nunes de Leão ins Spiel gebrachte Rolle der fortuna steht im Zusammenhang mit der Verbindung von politischer Herrschaft und Durchsetzung der Sprache der Herrschenden. Herrschaftswandel erklärt eben auch den Sprachwandel, wie gleich zu Beginn der Origens da língua portuguesa festgehalten wird: Assi como em todas cousas humanas ha continua mudança & alteraçaõ, assi he tambem nas lingoagẽs. E o que parecia increivel, tambem isto estaa subiecto ao arbitrio da fortuna: porque assi como os vencedores das terras & prouincias lhes dão leis em que viuão, assi lhes daõ lingoa que fallem (1606: 1).

Neben den Parallelen − etwa zu Nebrija − zeigen sich auch solche innerhalb der portugiesischen Sprachreflexion, in diesem Fall zu João de Barros Diálogo em louvor da nossa linguagem (1540). 1 Die frühen Grammatikographen der ibero1 „E o máis çérto sinál que o Romano póde dár ser Espanha sudita ao seu império, nam serám suas corónicas e escrituras, cá éstas, muitas vezes, sam favorávees ao senhor de quem fálam, mas a sua linguágem, que nos ficou em testimunho de sua vitória. E quanto, antre as cousas materiáes, é de maiór exçelênçia aquéla que máis dura, tanto àçerca das cousas da honra, sam de maiór glória âs

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romanischen Sprachen sehen folglich in der Nationalsprache eben auch ein Instrument der kolonialen Expansion. Fauchet (1581: 8) führt im Unterschied zu den Iberoromanen des 16. Jh. zwar kein koloniales Projekt an, gibt aber dennoch einen Verweis auf das historische Beispiel der Romanisierung im Zusammenhang mit politischer und sprachlicher Expansion: L’autre seconde & plus forte cause de la mutation des langues, vient du changement des seigneuries, ou d’habitation: quand vn peuple est contraint receuoir en sa terre, vn nouueau maistre plus puissãt: & viure sous loix nouuelles. Car vne partie des vaincus, & mesme les principaux, pour euiter le mauuais traictemẽt que les opiniastres reçoiuent, apprennent la langue des victorieux, oublians peu à peu la leur propre (Fauchet 1581: 8).

Aldrete führt ebenfalls den Zusammenhang zwischen dem Schicksal einer Sprache und des sie tragenden Herrschaftsbereichs an. Aufstieg und Fall der lateinischen Sprache stehen im Zusammenhang mit dem Schicksal des römischen Reichs. Mit Ankunft der germanischen Völker verschlechterten sich die äußeren Bedingungen für den Erhalt und die Stabilität des Lateinischen, und schließlich bedeutete das Ende des Römischen Reichs den Tod bzw. die Degeneration der lateinischen Sprache: [...] la mudança de nueuos imperios lo causa tambien en la lengua, que mientras se conseruò el Romano, perseuerò ella, i acabado se estragò, i mudò, haziendose de sus ceniças, i ruinas otra; porque los vencedores pretendieron conseruarla, i acomodarse aella, i no lo pudieron conseguir, sino que la destruieron (Aldrete 1606: 146).

Laut Aldrete lässt sich diese Erklärung nicht nur auf den Auf- und Abschwung des Lateinischen, sondern auch auf die Entwicklung der iberoromanischen Volkssprachen in ihrer Konstitutions- und Expansionsphase übertragen. Die Unterschiede, welche zwischen Kastilisch, Katalanisch und Portugiesisch bestehen, führt Aldrete v.a. auf die unterschiedliche ethnische Zusammensetzung der (Re-)Conquistadoren zurück. Entsprechend wird etwa das Portugiesische als „Mischsprache“ aus den romanischen Dialekten des iberischen Nordens und des Französischen betrachtet: La misma entiendo, que es, porque en Portugal ai otra lengua diuersa de la Castellana, que sin duda tiene mescla de la Francesa. Pego se les de los Franceses, que truxo consigo Don Henrique primero Conde de Portugal (Aldrete 1606: 165).

que a memória máis retém. Exemplo temos em Todas as monarquias, cá, se perderam com a variedáde do tempo e fortuna das cousas humanas, peró leixou a língua latina este sinál de seu império, que durará eternalmente. As ármas e padrões portugueses, póstos em África e em Ásia, e em tantas mil ilhas fóra da repartiçám das três pártes da térra, materiáes sam, e póde-âs o tempo gastár, peró nam gastará doutrina, costumes, linguágem, que os Portugueses néstas térras leixárem.“

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Der Fall des Katalanischen ist vergleichbar. Aldrete klassifiziert das Katalanische als eine Mischung aus französischen Elementen und dem romance; eine Mischung, die ihre Ursache in der Rolle der Franzosen während der Rückeroberung Kataloniens habe. Die französischen Wurzeln der Grafen von Barcelona erklärt in diesem Sinne die Nähe des Katalanischen zu galloromanischen Varietäten: En Cataluña, para la conquista de aquel principado, se aiudaron los Españoles del socorro de Francia, i se dio principio a los Condes de Barcelona, por la qual causa el Romance se mesclò con la lengua Francesa, de que resultò a quella lengua mui semejante, i poco diferente de la de Lenguadoc, o Narbonense, de donde aquella tiene parte de su origen (Aldrete 1606: 165).

Die koloniale Herrschaft werde – mit Gottes Hilfe – auch zur Kastilisierung der eroberten Gebiete führen: Pero no dudo, que continuandose, con el fauor de nuestro Señor, el gouierno de España, que en mui breve tiempo an de hablar la Castellana todos (Aldrete 1606: 146).

Die in den frühen Sprachgeschichten vorliegenden Konzipierungen des Sprachwandels lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens bestehen laut Fauchet, Aldrete und Leão „natürliche“ innere Entwicklungen in den jeweiligen Einzelsprachen. Räumliche und zeitliche Variation wird dementsprechend als Naturgegebenheit betrachtet. Hier deutet sich bereits eine moderne programmatische Sicht auf die interne Sprachgeschichte an. Zweitens wird die Wechselwirkung zwischen Sprachentwicklung und den politischen Rahmenbedingungen hervorgehoben. Sprachwandlungsprozesse spiegeln die Veränderungen der Herrschaft wider. Drittens bleibt die Vorherrschaft der externen gegenüber den internen Faktoren des Sprachwandels festzuhalten. Bis hin zu morphosyntaktischen Phänomenen sucht v.a. Aldrete die Erklärungen etwa in der wechselvollen Geschichte von Fremdherrschaft und Invasionen. 2.2. Bewertungen des Sprachwandels

Unterschiede sind festzuhalten bezüglich der Bewertung von Sprachwandelprozessen. Veränderungen innerhalb des phonetisch-phonologischen und morphologischen Systems wie innerhalb des Wortschatzes können unterschiedlich wahrgenommen werden. Der Schlüsselbegriff, welcher in den Sprachgeschichten des 16. Jh. Verwendung vor allem für die Veränderungen vom Lateinischen hin zu den romanischen Volkssprachen findet, ist der Korruptionsbegriff. Claude Fauchet verwendet dementsprechend das Verb corrompre im Unterschied zu déraciner, wenn er etwa die Auswirkungen der germanischen Migrationen auf das Lateinische beschreibt:

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Quant aux courses des Gots, Wandales, Francs, Bourgignõs, & autres peuples Barbares, elles corrompirent & non pas deracinerent le Latin, ne pouuãs introduire entierement leur langue (Fauchet 1581: 42).

Duarte Nunes de Leão verwendet ebenfalls den Terminus der corrupçaõ, um sprachliche Veränderungen zu kennzeichnen. Abgesehen von morphophonetischen Veränderungen fallen auch morphosyntaktische und semantische Prozesse in diese Kategorie: - Corrupçaõ que se comette na terminaçaõ das palavras (34) - Corrupçaõ per diminuiçaõ de letras ou syllabas (35) - corruptos per acrescentamentos de letras ou syllabas (35) - corruptos per troca & transmudaçaõ de hũas letras em outras (35) - Corrupçaõ per troca de letras para outras não semelhantes (37) - Corrupçaõ per traspassaçaõ de letras de hum lugar a outro (37) - Corrupçaõ per mudança de genero (37) - Corrupçaõ per mudança de numero (38) - Corrupçaõ per mudança do vocabulo em outra forma por a mudança da significaçaõ (39) - Corrupçaõ per impropiedade de significaçaõ alhea (39) - Corrupçaõ que se faz traspassando muitos vocabulos de hũa significaçaõ em outra, per hũa figura que se chama metaphora (51)

Es scheint fast, als verliere der Begriff der corrupçaõ hier die negative Konnotation, sondern werde neutral gebraucht. So wird die als corrupçaõ gekennzeichnete metaphorische Bedeutungserweiterung ausgesprochen positiv − als Zeichen für das kreative Potenzial des Portugiesischen − gewertet: Corrupção que se faz traspassando muitos vocabulos de hũa significaçaõ em outra, per hũa figura que se chama metaphora. A trasladaçaõ de palauras de hũa significaçaõ em outra, aque os Gregos chamaõ metaphora, he mais natural aos Portugueses que a nenhũa outra naçaõ, & em que tem muita graça, & ficaõ ricos de muitas palauras, & maneiras de fallar (Leão 1606: 51).

Leão greift hier auf eine positive Vorstellung der corrupçaõ zurück, womit er sich in die Tradition der humanistischen Neubewertung dieser aristotelischen Kategorie einordnet. 2 Aldrete hingegen verwendet einen stärker eingeschränkten Begriff der corrupcion. Er beschränkt diesen auf den „Niedergang“ des Lateinischen, 2 Schunck (2003: 17) unterscheidet diesbezüglich zwischen der katastrophischen und der optimistischen Sicht auf die Korruption: „Der aristotelische Gedanke der Korruption als Ausgangspunkt für die Entstehung von etwas Neuem wird im 16. Jh. in den Theorien zum Ursprung der Volkssprache mit Optimismus aufgegriffen. Hier ist aber nicht jene Art von Katastrophentheorie gemeint, […] der zufolge die Volkssprache dadurch entstand, dass [sic!] die in Rom einfallenden germanischen […] Völker die lateinische Sprache korrumpierten“.

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welcher entsprechend der vorherrschenden Ideologie von den germanischen Invasoren verursacht worden sei. Zur Benennung von phonetischen oder morphologischen Veränderungen innerhalb des romance castellano wählt er hingegen die neutraleren Termini mudança bzw. deriuacion.3 Aldrete wiederum greift auf ein Sprachentwicklungsmodell zurück, indem er das Schicksal von Sprachen analog zu dem der Imperien begreift. Seine Wurzeln hat diese Theorie in der biblischen 4-Reiche-Lehre. Parallel zu den verlorenen Weltreichen sei auch bei Sprachen der Prozess des Niedergangs irreversibel: A esto de la mudança de la lengua respõden algunos, que siguen otro camino, i dizen, que como el Latin tuuo muchos altos i baxos, segun que prueua el Cardenal Adriano, porque en los primeros, quinientos años, que los Romanos tratauan mas de las armas, que de las letras, fue mui tosco, pero preualeciendo el Imperio con las letras se mejorò, hasta que en tiempo de Ciceron llegò ala cumbre, i punto, que pudo tener, del qual fue caiendo, como tambien el Imperio. Assi nuestro Romance a los cien años despues de la venida de los Romanos no fue tan bueno, como cosa, que se iua haziendo, alos docientos era ia bueno, i de alli adelante mejor, por la eleccion de vocablos, policia, i noticia de sciencias. Lo qual como fue faltãdo fue caiendo, hasta que vino a ser mui tosco, en nuestros tiempos con el conocimiento de las buenas letras a buelto a su punto. Quisiera que, quien propone este discurso, prosiguiera con la semejança, i comparacion que començò de la lengua Latina, porque si en España con las letras a buelto el Romãce alo que fue antigamẽte, como no buelue aora el Latin a ser vulgar en Italia, como lo fue antiguamente. Nunca Italia estuuo mas pacifica, ni abundante de letras, que en nuestro siglo, i con todo no torna la Lengua Latina. Las lenguas son como los Imperios, que suben ala cumbre, dela qual como van caiendo no se bueluen a recobrar (Aldrete 1606: 184f.).

Jede Entwicklung einer Sprache sei also in die Etappen Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang aufzuteilen. Die Abfolge dieser Etappen ist als regelhaft zu verstehen. Fauchet unterscheidet zwischen der corruption einer Sprache, die als Ergebnis von Sprachkontakt durch Superstrate begriffen wird, und der mutation, mit der die Aufgabe einer Sprache zugunsten einer anderen bezeichnet wird. Fauchet verwendet dementsprechend den Begriff der corruption nicht nur im Hinblick auf die Beeinflussung des gesprochenen Lateinischen durch die Germanen, sondern auch in Bezug auf die römische Eroberung Galliens, durch die zunächst die originäre Sprache der Gallier korrumpiert worden sei:

3 Z.B. „Deriuacion de los vocabulos de Romance, en que se mudan unas uocales por otras“ (205), „De la Deriuacion en que se truecan las consonantes desde la B, hasta la F“ (208), „De la mudança de las mas consonantes“ (213).

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Ceste lãgue Romãde n’estoit pas la pure Latine ains Gauloise corrompue par la longue possession & seigneurerie des Romains: que la plus part des hommes habitans depuis ladicte riuiere de Meuse iusques aux monts des Alpes & des Pyrenees parloyent (Fauchet 1581: 26).

Fauchet relativiert somit die Vorstellung einer Überlegenheit des Lateinischen. Die Nähe zur lateinischen Substanz bilde an sich noch keine Qualität der romanischen Volkssprache. Somit stellt er sich gegen ein wichtiges Motiv etwa der auf der Iberischen Halbinsel frequenten Sprachlobtradition des 16. und 17. Jh. Für Fauchet ist das Prestige einer Sprache eine dynamische Kategorie. Sprachen haben grundsätzlich das Potenzial zur Entwicklung, zum Aufstieg und zum Verlust des kulturellen Prestiges. In Bezug auf die als première universalité de la langue française gekennzeichnete Epoche der Kreuzzüge postuliert Fauchet, dass „la langue Françoise a esté cogneue, prisee & parlee de plus de gens, qu’elle n’est à present“ (1581: 39). Der Vergleich der Sprachentwicklungsmodelle von Fauchet, Aldrete und Leão zeigt einen unterschiedlichen Grad in der Übertragung des lateinischen Sprachentwicklungsmodells auf die Volkssprachen. Aldrete und Leão sehen beide einen Parallelismus zwischen der Entwicklung des Lateinischen und derjenigen der Volkssprachen, womit sie einem Motiv folgen, das bereits im Vorwort der Grammatik Nebrijas (1492) dargelegt wird. Die prototypische Geschichte einer Sprache unterteilt sich in die drei Phasen des Aufstiegs, also Entstehung und Entwicklung stabiler Strukturen, des Höhepunkts, d.h. kulturelle und literarische Blüte, und des Abstiegs, welcher durch die Korruption und schließlich den Tod der Sprache geprägt ist. In diesem Modell ist eine teleologische Sicht auf die Sprachgeschichte angelegt. Fauchet als Vertreter des französischen metasprachlichen Diskurses zeigt sich hier weniger deterministisch und weniger am Latein orientiert. Hier bestätigt sich die von Mariella Schunck (2003: 24f.) erstellte Analyse, nach welcher im italienisch-französischen Vergleich die lateinischen Modelle in Frankreich eine geringere Bedeutung hatten. 4 In diesem Sinne folgen Aldrete und Leão den in Italien gängigen

4 Clerico (1999: 156) vertritt ebenfalls die These, dass in der humanistischen französischen Sprachgeschichtsschreibung die Rolle des Lateinischen für das Französische minimisiert worden sei: „On fait de l’histoire pour régler ses comptes avec ses rivaux politiques ou ses adversaires religieux, par Troyens, Gaulois, Francs, Grecs et Latins interposés. Sous couvert de retracer des filiations, de s’adonner à des recherches étymologiques, on tombe dans un nationalisme linguistique où tout ce qui est accordé aux Grecs et aux ‚Thois‘ (les Allemands) est présenté comme une minoration du rôle des Latins, et – par une extrapolation fréquente – de celui des Italiens, fils naturels en quelque sorte de la civilisation romaine“. Mit am augenfälligsten trifft dies sicher auf Henri Estienne zu.

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Modellen, während Fauchet implizit ein Sprachentwicklungsmodell vertritt, das eine zyklische Entwicklung zulässt. 2.3. Die sprachnormative Dimension

Die sprachhistorischen Schriften des 16. und frühen 17. Jh. sind zweifellos Teil der übergreifenden Entwicklung zur Emanzipation der großen Volks- bzw. Nationalsprachen. Duarte Nunes de Leão verkörpert bereits durch seine Person das Interesse an einer Sprachnormierung, wie sich nicht zuletzt anhand seiner Orthographia (1576, vgl. Gonçalves 2003), einem der wegweisenden sprachnormativen Schriften des portugiesischen Humanismus überhaupt, zeigt. Abgesehen von der Darstellung orthographischer Prinzipien enthält dieses Werk zahlreiche dianormative Bewertungen. Der enge Zusammenhang zwischen metasprachlichem, sprachhistorischem und insbesondere sprachnormativem Diskurs kann wenig überraschen. Was indes weniger untersucht ist, ist die Frage, in welchem Rahmen sich aus den sprachhistorischen Darstellungen bereits normative Programme ableiten lassen. In dieser Beziehung sind v.a. die Ausführungen Aldretes hervorzuheben. Wie bereits gezeigt, ist die Parallele zwischen der lateinischen und der volkssprachlichen Sprachentwicklung einer der Ankerpunkte seiner Argumentation. Insofern wird die Sprachkultur der ‚goldenen Latinität‘ als exemplarisch auch für die Förderung der Volkssprache angesehen: Quatro cosas dize Ciceron que hazian los Gramaticos: Tratar de los poetas, i declararlos, dar conocimientos de las historias, la declaracion de las palabras, i dar el tono i sonido en la pronunciacion [...]. Lo qual es necessario para hablar bien qualquier lengua aunque sea vulgar, i conuiene que aia maestros que lo enseñen, porque si faltan, como es sola la naturaleza la que obra, con el vso i trato de otros, que hablan i pronuncian bien, son mui pocos los que por este camino llegan a hablar con propriedade, i elegancia, i muchos los que hablan mui mal, i con grandes faltas; como por esperiencia vemos oi en nuestra lengua, que corre oi sin estos maestros de Gramatica Castellana, como estuuo Roma cerca de seiscientos años sin que ella los vuiesse de la Latina (Aldrete 1606: 48).

Der systematische Unterricht von Grammatik, Orthoepie und Aussprache, m.a.W. die weitere reduccion en arte der Volkssprache, erweist sich dementsprechend als fortzuführende Aufgabe der Förderung der Nationalsprache. Im Unterschied zu Bernardo Aldrete schlägt Duarte Nunes de Leão kein explizites Programm zur Prestigeförderung der Volkssprache vor. Wohl aber betrachtet er ebenfalls die redução em arte der Volkssprache als entscheidend für die Sprachverbesserung (1606: 7). Ähnlich wie Aldrete sieht Leão in der Sprachkultur der Römer ein Vorbild zur Förderung des Sprachaufstiegs:

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Com estas crescenças [scil. a creação de uma terminologia latina, adaptada às linguagens de especialidade] de homẽs insignes, & de authoridade se foi a lingoa latina enriquecendo ate vir ao cume aque veo com o império (1606: 4).

Leão sieht neben den natürlichen auch willentlich herbeigeführte Sprachwandelprozesse. Abgesehen von den „natürlichen“ Prozessen, die sich aus der Wechselwirkung der Politikgeschichte auf die Sprachentwicklung (s.o.) ergeben, können Sprachen auch durch willentliche individuelle Anstrengung verändert bzw. verbessert werden: Dixemos atras em geeral a muita mudança que nas lingoas se fazia, & como cada dia hauia inuençaõ de vocabulos. Destas innovações hũas saõ voluntarias, que homẽs doctos, ou bem entendidos fazem, para policia, & pureza dos vocabulos que achaõ rudes (Leão 1606: 19f.).

Der systematische Sprachausbau − etwa in unterschiedlichen Fachbereichen − gehört zu diesen Faktoren der Sprachbereicherung. Historische Referenzen dienen hier als Rechtfertigung für entsprechende zeitgenössische Aktivitäten. Neben dem Sprachausbau steht die Glättung bzw. Reinigung der Sprache im Vordergrund, eine Aufgabe, die den intellektuellen Eliten zukomme. Die unterschiedliche dianormative Bewertung der Sprachverwendungen der kultivierten Eliten und der ungebildeten Bevölkerung – als deren Prototypen häufig Bauern oder einfache Handwerker genannt werden – gehört zu den Konstanten des sprachnormativen Diskurses. Eine prestigereiche Sprache brauche dementsprechend die Stützung und Pflege durch die politischen Autoritäten. Dies wird bei Leão durch die Kontrastierung des prestigereichen Portugiesischen mit dem als unelegant wahrgenommenen Galicisch deutlich: Da qual lingoa Gallega a Portuguesa se auentajou tanto, quãto na copia & na elegãcia della vemos. O que se causou por em Portugal hauer Reis, & corte que he a officina onde os vocabulos se forjaõ, & pulem, & donde manão pera outros homẽs, o que nunca houve em Galliza (1606: 32).

Bei Fauchet konnten ausdrückliche Bezüge zur lateinischen Sprachkultur nicht belegt werden. Die Dominanz des Lateinischen findet bei ihm eine ausschließliche Erklärung in den soziopolitischen Konstellationen. Das Lateinische setzte sich nicht als eine in irgendeiner Form überlegene Sprache durch, sondern die Anpassung an die römischen Normen (und damit auch an die römische Sprache) erfolgte aus rein utilitaristischen Überlegungen seitens der Bevölkerung in den römisch dominierten Gebieten. Diese nüchtern-pragmatische Sicht auf die Sprachgeschichte resümiert sich im Diktum, dass „les langues se renforcent, à mesure que les princes qui en vsent s’agrandissent“ (Fauchet 1581: 43). Die Verbesserung einer Sprache vollziehe sich durch die Schaffung eines Referenzkorpus an literarischen und wissenschaftlichen Texten. Eine solche

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Textproduktion führe zur Sprachverbesserung bzw. − im Falle des Französischen, das bereits einen ersten Höhepunkt in der Vergangenheit erlebt habe – zur Wiederherstellung verlorener Größe: Toutesfois i’estime, que si les hommes doctes continuent à escrire leurs conceptions en nostre langue vulgaire, que cela pourra nous rendre l’honneur perdu: l’enrichissant tous les iours, par tant de fideles translations de liures Grecs & Latins: mais plus (à mon advis) par tant de sçavans personnages, qui employent les forces de leur vif esprit, à l’augmentation de la poesie Françoise (Fauchet 1581: 40).

Im Vergleich zu Aldrete und Leão spielen bei Fauchet normative Aspekte eine geringere Rolle. Eine grundlegend ähnliche Sicht auf die wichtige Funktion der politischen und intellektuellen Eliten für die Sprachpflege ist indes bei allen drei Autoren festzustellen. Hierin dürfte länderübergreifender humanistischer Konsens geherrscht haben.

3. Ergebnisse und Perspektiven Nicht zufällig steht die aufkommende Sprachhistoriographie des Kastilischen, Portugiesischen und Französischen im 16. und frühen 17. Jh. im Kontext der nationalsprachlichen Emanzipation. Die Nationalsprachen nehmen zunehmend Anteil am nationalen Prestige, so dass ihre historische Würdigung legitimatorischen Charakter im europäischen Wettstreit zwischen den benachbarten Kulturen hat. Aldrete stellt die lateinische Filiation des Kastilischen hervor – auch als Widerhall auf unhaltbare urkastilische Hypothesen –, während Leão und Fauchet auch die vorrömische Vergangenheit positiv hervorheben, ohne allerdings die Latinität des Portugiesischen bzw. des Französischen zu leugnen. Der franko-italienische Antagonismus wie die fragile Koexistenz des Kastilischen und des Portugiesischen im Rahmen der iberischen Personalunion sind sicher Teil des Entstehungshintergrunds der drei untersuchten Werke. Sprachen werden analog zur bereits antiken Tradition des Sprachdenkens als beweglich und sich ständig verändernd betrachtet. Auf diese Entwicklung kann jedoch in einem begrenzten Rahmen bewusst Einfluss genommen werden. Die politisch-militärischen Geschichten bilden den räumlichen und institutionellen Rahmen für die Entwicklung einer Sprache, der Grad der kulturellen und literarischen Entwicklung spiegelt sich ebenfalls im Sprachstand. Implizit wird in den sprachhistorischen Darstellungen das Konzept der integralen Sprachgeschichte (Polzin-Haumann 2003) vorweggenommen. Die Differenzen zwischen den drei Autoren liegen in unterschiedlichen Akzentsetzungen. So spielt das Lateinische als prototypisches Modell für eine kultivierte Sprache bei den iberischen Autoren eine größere Rolle als bei Claude

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Fauchet. Auch wird der Korruptionsbegriff leicht unterschiedlich verwendet. Vor allem Duarte Nunes de Leão verwendet ihn in fast neutralem Sinn. Die Geschichte einer Sprache zu schreiben, ihre internen und externen Entwicklungen nachzuzeichnen und die Faktoren herauszuarbeiten, welche zum Sprachwandel beitragen, ist Teil der umfassenden metasprachlichen Aktivitäten der Renaissance. Die Analyse dieser sprachhistorischen Konzeptionen legt darunter liegende Ideologien offen. Eine solche Bindung an nicht primär sprachbezogene Ideologien ist selbstverständlich nicht nur in der humanistischen Sprachgeschichtsschreibung, sondern durchaus auch in modernen sprachhistorischen Werken gegeben, wie nicht zuletzt der Jubilar (Lebsanft 2003) erkannt hat. In gewisser Hinsicht zeigen sich die drei Autoren übrigens von erstaunlicher Modernität. So greift Fauchet den Bartolischen Arealnormen 5 zuvor, während Leão etwa die verschiedenen Ebenen der sprachlichen Variation systematisiert. Sprachwissenschafts- wie Sprachgeschichte profitieren also maßgeblich auch noch über 400 Jahre nach ihrer Entstehung von einer näheren Betrachtung der vorliegenden Werke.

Bibliographie Aldrete, Bernardo (1606): Del origen, y principio de la lengua castellana, o romãce que oi se usa en España. – Rom. Auroux, Sylvain (1992): Histoire des idées linguistiques. Bd. II. Le développement de la grammaire occidentale. – Liège: Mardaga. Buescu, Maria Leonor Carvalhão (1978): Gramáticos portugueses do século XVI. – Lissabon: Instituto de Cultura Portuguesa. Buescu, Maria Leonor Carvalhão (1983): Babel ou a ruptura do Signo. A gramática e os gramáticos portugueses do século XVI. – Lissabon: Imprensa Nacional-Casa da Moeda. Clerico, Geneviève (1999): Le français au XVIe siècle. – In: Jacques Chaurand (Hg.): Nouvelle Histoire de la Langue Française, 146-224. Paris: Éditions du Seuil. Dolet, Estienne (1540): La maniere de bien tradvire d’vne langve en l’avltre. – Lyon. Fauchet, Claude (1581): Recueil de l’Origine de la Langve et Poesie Françoise, Ryme et Romans. – Paris. Gil, Alberto / Schmitt, Christian (Hg.) (2003): Aufgaben und Perspektiven der romanischen Sprachgeschichtsschreibung im dritten Jahrtausend. Akten der gleichnamigen Sektion des XXVII. Deutschen Romanistentages München (7.-10. Oktober 2001). – Bonn: Romanistischer Verlag. Gonçalves, Maria Filomena (2003): As ideias ortográficas em Portugal. De Madureira Feijó a Gonçalves Viana (1734 - 1911). – Lissabon: Fundação Calouste Gulbenkian.

5 „les pais que moins ont esté enuahis & domtez (comme les inaccessibles pour la roideur des montagnes ou marests bourbeux) ont moins souffert de mutation: & par consequent ont gardé leur langue entiere par plus grãde espace detemps“ (Fauchet 1581: 9).

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Kukenheim, Louis (1932): Contributions à l’histoire de la grammaire italienne, espagnole et française à l’époque de la renaissance. – Amsterdam: Noord-Hollandsche UitgeversMaatschappij. Leão, Duarte Nunes de (1576): Orthographia da lingoa portuguesa. Obra vtil & necessaria assi pera bem screuer a lingoa Hespanhol como a Latina & quaesquer outras que da Latina teem origem. Item hum tractado dos pontos das clausulas. – Lissabon. Leão, Duarte Nunes de (1606): Origem da lingoa portuguesa. – Lissabon. Lebsanft, Franz (1997): Spanische Sprachkultur. Studien zur Bewertung und Pflege des öffentlichen Sprachgebrauchs im heutigen Spanien. – Tübingen: Niemeyer. Lebsanft, Franz (2006): Geschichtswissenschaft, Soziologie und romanistische Sprachgeschichtsschreibung. – In: Gerhard Ernst, Martin-Dietrich Gleßgen, Christian Schmitt, Wolfgang Schweickard (Hg.): Romanische Sprachgeschichte, 481-493. Berlin/New York: de Gruyter (HSK 23/2). Leyhausen, Katja (2003): Französische Sprachgeschichten als Typen kommunikativen Handelns. Kommunikative Absichten in der Sprachhistoriographie. – In: Alberto Gil, Christian Schmitt (Hg.): Aufgaben und Perspektiven der romanischen Sprachgeschichtsschreibung im dritten Jahrtausend. Akten der gleichnamigen Sektion des XXVII. Deutschen Romanistentages München (7.-10. Oktober 2001), 85-121. Bonn: Romanistischer Verlag. Osthus, Dietmar (2003): Sprachgeschichte, Kulturgeschichte und Sozialgeschichte. Herausforderungen an ein komplexes Dreiecksverhältnis am Beispiel von Francisco Rodrigues Lobos Corte na Aldeia. – In: Alberto Gil, Christian Schmitt (Hg.): Aufgaben und Perspektiven der romanischen Sprachgeschichtsschreibung im dritten Jahrtausend. Akten der gleichnamigen Sektion des XXVII. Deutschen Romanistentages München (7.-10. Oktober 2001), 245-267. Bonn: Romanistischer Verlag. Polzin-Haumann, Claudia (2003): Für ein erweitertes Konzept von ‚Sprachgeschichte‘. – In: Alberto Gil, Christian Schmitt (Hg.): Aufgaben und Perspektiven der romanischen Sprachgeschichtsschreibung im dritten Jahrtausend. Akten der gleichnamigen Sektion des XXVII. Deutschen Romanistentages München (7.-10. Oktober 2001), 123-146. Bonn: Romanistischer Verlag. Ernst, Gerhard / Gleßgen, Martin-Dietrich / Schmitt, Christian / Schweickard, Wolfgang (Hg.) (2003/2006/2009): Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen. – Berlin/New York: de Gruyter. 3 Bde. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 23). Schmitt, Christian (1988): Typen der Ausbildung und Durchsetzung von Nationalsprachen in der Romania. – In: Sociolinguistica 2, 73-116. Seyssel, Claude de (1519): La grant Monarchie de France, composée par missire Claude de Seyssel, lors evesque de Marseille et à present archevesque de Thurin. – Paris. Schunck, Mariella (2003): Der Sprachwandel im metalinguistischen Diskurs Italiens und Frankreichs von der Renaissance zur Aufklärung. – Frankfurt am Main/Bern: Lang.

Roland Alexander Ißler Die Gabe des Alphabets – Antike Ursprungserzählungen und romanische Nachklänge des mythischen Narrativs von Kadmos als Kulturstifter und Überbringer der Schrift

„The Invention of Printing, though ingenious, compared with the invention of Letters, is no great matter. But who was the first that found the use of Letters, is not known. He that first brought them into Greece, men say was Cadmus, the sonne of Agenor, King of Phaenicia. A profitable Invention for continuing the memory of time past, and the conjunction of mankind, dispersed into so many, and distant regions of the Earth... “ Thomas Hobbes, Leviathan (1651)

Das Wesen einer Kultur liegt in ihrem Vermögen, geistige Werte zu fixieren, wobei der gehaltreichste von allen, der sprachliche, den Ausschlag gibt. Dies aber wird erst möglich durch die Erfindung der Schrift, die darum eine der folgenreichsten Errungenschaften der Menschheit darstellt. Sie bedeutet nämlich auch den Schritt in die Geschichtlichkeit – und zwar erst sie! (Bodmer 21988: 18f.).

Diese Worte stellt der Schweizer Kulturmäzen Martin Bodmer, dessen reichen Buchbestand die Universität Genf gerade in großem Stil digitalisiert, in einem Vorwort der zweibändigen Geschichte der Textüberlieferung voran, die, Anfang der 1960er Jahre zuerst erschienen, die Wege der Überlieferung bedeutender antiker Schriften, ihre Konservierung und Wiederentdeckung in Mittelalter und Früher Neuzeit nachzeichnet. Er benennt damit eines der zentralen Probleme und zugleich eine der zentralen Triebkräfte der Philologien. Nicht zuletzt die Wissenschaft hängt wesentlich von der pragmatischen Voraussetzung des Schreibens und der medialen Sicherung und Bewahrung ab. Ist die Weitergabe von Kultur im Grunde zunächst unabhängig von der Schriftlichkeit,

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so ermöglicht doch erst die Aufzeichnung den späteren Rückgriff auf Vergangenes. Schrift ist dauerhaft und – spätestens seit der medialen Revolution des Buchdrucks – vielerorts und vielen simultan zugänglich. Wie ganze Generationen von Gelehrten das oft weit verstreute Erbe ihrer Vorfahren aufarbeiten, zeigt die rege Sammel- und Editionstätigkeit der Renaissancehumanisten und ihrer modernen Nachfolger auf beeindruckende Weise, ob handschriftlich, in beweglichen Lettern gesetzt, mit Schreibmaschine oder Computer getippt – das Ceci tuera cela der Kulturgeschichte ist längst nicht abgeschlossen. In einem Zeitalter der schier grenzenlosen Verfügbarkeit digitaler Informationen gewinnen Überlieferung und Konservierung vor verändertem Hintergrund an Aktualität (vgl. Osten 2004). „Durch das Internet sind wir ins Zeitalter des Alphabets zurückgekehrt. Wenn wir je geglaubt hatten, wir seien in eine Kultur des Bildes eingetreten, so führt uns der Computer wieder zurück in die Ära Gutenberg, und heutzutage sieht sich jedermann gezwungen zu lesen“, konstatierte erst vor kurzem Umberto Eco in einem Interview, in dem er das langfristige Überleben des Buchmediums nachhaltig bekräftigte (Eco 2010: 14). Auch Bodmer hat seinerzeit vorausgesehen, welche Fragen auf die Zukunft zurollen würden, und ihrer Beantwortung mit einem optimistischen Festhalten an der Texttradition vorgegriffen. Im Vorwort heißt es weiter: Ist es denkbar, daß Schrift als solche wieder verschwindet, wie es etwa Waffen, Maschinen, Einrichtungen taten, die durch die Entwicklung überholt wurden? Niemand vermöchte es zu sagen – und dennoch ist eine neuartige Weise geistiger Vermittlung vorauszusehen. [...] Die Möglichkeit [einer elektronischen Bewahrung der Sprache] zeichnet sich heute schon ab, und man darf wohl behaupten, daß Textvermittlung nichts unbedingt Feststehendes ist, daß sie vielmehr auf einer gewissen Konstellation beruht und von deren Wandel abhängt. [...] Einstweilen stehen wir noch im Zeichen des ursprünglichen Zustandes: noch immer kann der Buchstabe als Hauptträger und Bewahrer des menschlichen Ingeniums gelten. Aber selbst wenn diese Situation eines Tages durch andere Mittel überholt sein sollte, wird die Beschäftigung mit der Textüberlieferung ihren Wert und ihre Bedeutung beibehalten; denn was immer geschehe, bleibt das eine gewiß, daß am Anfang aller humanen Bildung die Schrift stand! (Bodmer 21988: 23f.).

1. Mosaische und platonische Ursprungserzählungen zur Herkunft der Schrift Die Wurzeln der eigenen Kulturtätigkeit hat die Menschheit wohl seit jeher hinterfragt. Wie etwa erklärte die Antike selbst die Herkunft der Schrift? Die jüdisch-christliche Tradition beantwortet die Frage mit Moses. Der jüdisch-hellenistische Historiograph Eupolemos nennt ihn, wie Alexander

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Polyhistor berichtet, den ersten Weisen und den, der die Juden zuerst den Gebrauch des Alphabets lehrte, das diese von den Phöniziern übernommen hatten (vgl. Eus. Pr.Ev. 9,26,1). Moses hatte den Juden die von Gott erhaltenen geschriebenen Gesetzestafeln der Zehn Gebote überbracht (2 Mos 31,18), nachdem er von Gott 40 Tage lang mündlich darin unterwiesen worden war. Das hier vorliegende Konzept ist ein schriftliches, das der mündlichen Auslegung bedarf (vgl. Wirth 2013: 209f., Mulsow 2005). Die philosophische Tradition entwickelte eigene Vorstellungen von den Ursprüngen der Schriftlichkeit. Unter den griechischen Philosophen ist es vor allem Platon, der die Funktion der Schrift einer kritischen Prüfung unterzieht und damit wirkmächtig reflektiert. Im Zuge seiner Literalitätskritik, geäußert durch sein Sprachrohr Sokrates, warnt der Philosoph vor der Überschätzung der Schrift in ihrer Funktion der Überlieferung und Bewahrung. Die in diesem Zusammenhang vielzitierte Passage im Phaidros-Dialog begreift das Phänomen Schrift ebenfalls nicht als eine allmähliche kollektive Entwicklung, sondern als singuläre und gleichsam spontane Erfindung, die er in eine Reihe weiterer kulturtechnischer Wissen- und Errungenschaften wie der Mathematik und Astronomie stellt, denen er nota bene auch das Spiel zugesellt. Bemerkenswert ist, dass Platon sich eines Rückgriffs auf die ägyptische Weisheit bedient, um die Herkunft der Schrift zu erklären. Denn alle diese ingeniösen Erfindungen schreibt er dem ägyptischen Gott Theuth (Thot) zu, der schon im Alten Reich meist in ibisköpfiger Gestalt verehrt wurde. Als Gott der Gelehrsamkeit und Weisheit ist Thot u.a. Patron der Schreiber, zugleich aber auch Bote und Spender der Schrift. Ein griechischer Zauberpapyrus tituliert ihn andernorts z.B. als „Erfinder der Worte der Sprache“ und „der allstimmigen Zunge Walter“ (Preisendanz 1931: 139). Von den Griechen wird Thot mit dem Gott Hermes identifiziert (Hermes als Überbringer der Schrift, vgl. Diod. 1,16) und beide synkretistisch dem Hermes Trismegistos angenähert (vgl. Bonnet 2000: 812). Sokrates gibt im Dialog mit Phaidros ein göttliches Zwiegespräch zwischen Thot und dem Pharao Thamus wieder. Nach dem Nutzen der Schrift gefragt, habe Thot geantwortet: Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis ist sie erfunden. Jener aber habe erwidert: O kunstreichster Theuth, Einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein Anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für

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die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst (Plat. Phaidr. 274b-275).

Platon, der seine Dialoge selbst immerhin für wert befindet, sie in schriftlicher Form der Nachwelt zu erhalten, protestiert gegen die Ent-Oralisierung der Schriftkultur, treibt diese jedoch mit seiner Poesiekritik in die nächste Aporie, indem er mit der Favorisierung von Philosophie zugleich einen (logozentrischen) Abstraktionsprozess in Gang setzt, der die Schriftkultur verstärkt. In diesem von Platons Kritik verkörperten Widerspruch, der angesichts des gegenwärtigen Medienwechsels im 20./21. Jh. eine übertragene Bedeutung erlangt hat, entfaltet sich die griechisch-hellenistische Schrift- und Lesekultur (Stein 2006: 71).

Der Dialog im Dialog, dessen Platon sich hier gleichsam als einer mise en abyme bedient, versucht dabei vielleicht gerade die durch den Pharao kritisierte Statik und Unverrückbarkeit der Gedankenvermittlung zu durchbrechen, indem er sie durch eine Vielzahl der Sprecher dynamisiert, ohne sich überdies selbst in den Dialog einzuschalten. 1 Beide Vorstellungen von Erkenntnis – die mosaische und die platonische – werden im neuplatonischen Renaissancehumanismus zusammenlaufen, in der etwa Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola auf der Suche nach dem Ursprung der Weisheit christlich-jüdisch-kabbalistische und philosophische Weltdeutungen zu einer universalen Theologie zusammenführen. Sie erkennen die mosaische Offenbarung als inspirative Kraft an und amalgamieren sie mit der hermetischen Tradition.

2. Ein mythisches Gegenmodell: Kadmos als phönizischer Kulturstifter in Griechenland Bei der Beachtung, die die Phaidros-Passage in späterer Forschung erfährt, wird oftmals übersehen, dass die griechische Antike noch ein weiteres Erklärungsmodell für die Herkunft der Schrift bereithält, das eine weniger breite Wirkung entfaltet hat, obwohl diese Aitiologie der heute gemeinhin anerkannten wissenschaftlichen Erklärung von der griechischen Übernahme des phönizischen Alphabets näher kommt als die platonische Herleitung aus Ägypten. Der „Schritt in die Geschichtlichkeit“ des Menschen fiele damit in den Mythos selbst, und es wäre demnach Kadmos, 2 dem die Griechen – und dann, im Zuge der translatio studii, auch die Römer und schließlich die romanisierten Gebiete

1 Platon „macht sich niemals im eigenen Namen dem Lesen gegenüber für die Richtigkeit bestimmter Behauptungen stark“ (Wieland 1982: 12). 2 Vgl. Wogenstein 2008, Rocchi 1991, Heinze 1999, von Geisau 1979.

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– die Alphabetisierung verdankten (vgl. Diod. 3,67). 3 Dieser Spur ist bislang in der Forschung, zumal in der Romanischen Philologie, kaum nachgegangen worden, obwohl sich die mythische Kadmosfigur in einer Reihe literarischer Werke der Romania bis in die Gegenwart behaupten konnte. Kadmos, Sohn des Agenor und der Telephassa, stammt nach mythischer Überlieferung aus dem phönizischen Königshaus, das seinen Sitz in Tyros oder Sidon an der heute libanesischen Küste hat. Seine Brüder heißen Kilix und Phoinix, seine Schwester ist die von Zeus nach Kreta verschleppte Europa. Was die Althistorikerin Angela Kühr über die Königstochter schreibt, gilt auch für Kadmos: „Untersucht man die Stemmata von Europas Familie, lässt sich beobachten, was für viele der großen Heroenfamilien gilt: ein zunehmender Ausbau der Generationenabfolge sowie eine zunehmende Vernetzung verschiedener Mythenstränge“ (Kühr 2009: 110f.). Europas Genealogie verweist auf das minoische Kreta, ihr Sohn Minos wird Wächter der Unterwelt sein, sein Bruder Sarpedon am Krieg um Troja teilnehmen; Kadmos steht am Beginn des Thebanischen Sagenkreises. Als Gatte der Arestochter Harmonia ist Kadmos u.a. Vater der Semele, mit der Zeus den Dionysos zeugen wird. Unter seinen Nachfolgern auf dem thebanischen Königsthron finden sich bekannte Namen, darunter Protagonisten auch der späteren romanischen Literaturen: sein Sohn Polydoros, später Labdakos, Laios und Kreon, schließlich Ödipus und seine Söhne Polyneikes und Eteokles; auch Amphitryon ist mythischer König von Theben. An die Abenteuer des Kadmosclans knüpfen sich interkulturelle Kontakte im Mittelmeerraum, nachdem der verzweifelte Agenor seine Söhne ausgeschickt hat, Europa zu suchen. Während Phoinix vergeblich nach Karthago reist und nach seiner Rückkehr Phönizien seinen Namen verleiht, gelangt Kilix nach Kleinasien, wo sein Name Eponym Kilikiens wird. Kadmos selbst folgt gemäß dem Orakel von Delphi einer Kuh nach Boiotien und errichtet an der Stelle, an der sie sich niederlässt, die Kadmeia, das spätere Theben. An einer Quelle besiegte er zuvor einen dreiköpfigen Drachen und säte dessen Zähne aus, aus denen bewaffnete Krieger, die thebanischen Stammväter (Spartoi), heranwuchsen – ein Bild, in dem der Medientheoretiker Marshall McLuhan (2011, vgl. 118f.) nichts weniger als die aggressive Umbildungskraft der Schriftkultur abgebildet sieht. Die Heldentaten überlagern oftmals die Kulturleistung der Alphabetisierung, die Kadmos gleichsam en passant vollbringt. Paradigmatisch sind hier die Xylographien neuzeitlicher Metamorphosen-Ausgaben, die Kadmos stets als 3 Vor Kadmos galten auch die Musen oder Prometheus als Überbringer des Alphabets in Griechenland (vgl. Kühr 2006: 103, Anm. 112).

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Drachentöter, nicht aber als Schriftgelehrten zeigen (vgl. z.B. HuberRebenich et al. 2014: I,35ff.): Ovid, der den Mythos zu Beginn unserer Zeitrechnung in den römischen Kulturkreis transferiert, gibt ihn ohne Hinweis auf die Gabe der Schrift im Dritten Buch der Verwandlungssagen wieder. Dem Mythos nach ist Kadmos ein „Zivilisationsheros“ (Kühr 2009: 108) aber nicht durch den siegreichen Kampf gegen den Drachen und nicht allein durch die thebanische Ktisis, Kolonisierung und Herrschaftsbegründung, sondern auch durch seine Gelehrtheit, als Kulturträger und Überbringer der Alphabetschrift: it was common practice among the Greeks to ascribe the invention of the various arts to legendary heroes. It is therefore easy to understand how, in the years between the adoptation of the Phoenician alphabet and the fifth century B.C. when Herodotos wrote, the vaguely remembered introduction of alphabetic writing could be attributed to a figure of the Heroic Age (Edwards 1979: 179).

Von der Heroisierung des Kadmos abgesehen, ist immerhin bemerkenswert, wie die phönizische Herkunft des Alphabets mit der Aussage des Mythos in Einklang steht. So kleideten die Griechen ihr Verständnis der eigenen Wurzeln in einen Mythos: dass diese Wurzeln, in diesem Falle die Schrift, im Osten zu suchen seien. Hier deckt sich die antike mit der modernen Auffassung, wenn sich wissenschaftliche von mythologischen Erklärungen auch grundsätzlich unterscheiden (Kühr 2009: 108).

Es soll hier gar nicht erst versucht werden, den Mythos zu historisieren und einen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem das phönizische Alphabet nach Boiotien gelangt sein kann. Die erste Quelle jedoch (vgl. Vian 1963: 55), die von dem phönizisch-griechischen Kulturtransfer berichtet, sind die Historien des Herodot, die einen geschichtlichen Wahrheitsanspruch durchaus erheben: Diese mit Kadmos nach Griechenland eingewanderten Phoiniker [...] haben durch ihre dortige Ansiedlung viele Wissenschaften und Künste zu den Griechen gebracht, unter anderem auch die Schrift [...]. Anfangs benutzten die Kadmeier die gleichen Buchstaben wie die anderen Phoiniker. Später aber veränderten sie im Laufe der Zeit mit der Sprache auch die Form der Buchstaben. Nachbarn der Kadmeier in den meisten Gegenden waren damals die Ionier. Diese übernahmen durch Unterweisung die Buchstaben von den Phoinikern, bildeten sie im Gebrauch ein wenig um und nannten sie ‚phoinikische Buchstaben‘, [...] denn die Phoiniker hatten sie ja in Griechenland eingeführt. [...] Solche Buchstaben aus der Zeit des Kadmos habe ich [...] im boiotischen Theben selbst gesehen, sie sind [...] größtenteils der ionischen Schrift gleich (Hdt. 5,58f.). 4

Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Verbindung der Kadmosfigur mit dem Kulturtransfer der Schrift nicht recht in den Mythos passen 4 Zit. nach Küster 2006: 197; vgl. zu der Textstelle Kühr 2006: 103-105; zur Entstehung des Alphabets Küster 2006: 127-240.

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mag. Die Alphabetisierung ist Teil des Mythos, zugleich aber auch Teil der historischen Realität. Als einen „trait exotique“ bezeichnet etwa Francis Vian die Einführung des Alphabets: „cette tradition anachronique demeure comme un corps étranger, sans lien avec le reste de la ‚biographie‘ de Cadmos“ (Vian 1963: 54f., vgl. auch Edwards 1979: 174). Mit Platons Spekulation von der „Erfindung“ der Schrift durch Thot teilt der Mythos mithin das Wissen um den Kulturtransfer – die Schrift musste von außen nach Griechenland herangetragen werden, sie ist nicht von den Griechen selbst erfunden worden. Dabei setzt die vergebliche Suche nach seiner Schwester, mit deren Scheitern die Stadt- und Reichsgründung in fremdem Gebiet einhergeht, die Kulturvermittlung durch Kadmos erst in Gang. Sowohl Europa als auch ihr Bruder verlassen ihre phönizische Heimat und dringen in griechisches Territorium vor. Aus Phönizien gelangen so entscheidende kulturelle Impulse – barbarische Impulse, die gleichwohl dankbar und offen aufgenommen werden, vielleicht weil das Schriftliche nicht Sakralem vorbehalten ist wie etwa in Ägypten (vgl. Assmann 52005: 267) – ins griechische Gebiet. Der Kadmosmythos berichtet damit ein Stück Zivilisationsgeschichte, erzählt gleichsam die mythische Vorgeschichte der neuzeitlichen Schriftkultur, die sich bis in die Verwendung des lateinischen Alphabets fortschreibt.

3. Romanische Nachklänge des mythischen Narrativs Welche Spuren hinterlässt nun Kadmos in der europäischen, insbesondere romanischen Kultur? Aus dem komplexen Mythosgeschehen soll hier an einigen exemplarischen Stationen der Textüberlieferung die Gelehrsamkeit des phönizischen Helden und die durch ihn erfolgte Überbringung des Alphabets nach Griechenland skizziert werden. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit möge der Hinweis auf einige Quellen zeigen, dass die Kadmosfigur als Kulturstifter vornehmlich im Italien und Frankreich des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, aber durchaus noch bis ins 20. Jh. präsent geblieben ist. 5 Von 17 durch Kadmos nach Griechenland verbrachten Buchstaben berichtet bereits Isidor von Sevilla (Orig. 1,3,5f., unter Berufung auf Lucan. 3,220) und bringt dabei die Etymologie Phöniziens mit der purpurnen Farbe der Schrift in Verbindung: „Hinc est quod et Phoeniceo colore librorum capita scribuntur, quia ab ipsis litterae initium habuerunt. Cadmus Agenoris filius Graecas litteras a Phoenice in Graeciam decem et septem primus attulit; Α.Β.Γ.Δ.Ε.Ζ.Ι.Κ.Λ.Μ.Ν. Ο.Π.Ρ.C.Τ.Φ.“ (Orig. 1,3,6). 5 Hier erinnert u.a. der 1995 gegründete Berliner Kulturverlag Kadmos an die Alphabetisierung durch den mythischen Helden.

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Zu den frühen Humanisten, die die These von der auf Kadmos zurückgehenden Schrifttradition verbreiten, gehört Giovanni Boccaccio. Zu seinen mythographischen Leistungen gehört die Systematisierung der Stemmata der griechischen Mythologie, wie er sie ab der Mitte des 14. Jh. in den 15 Büchern seiner Genealogie Deorum gentilium vornimmt. In deren Zweitem Buch widmet er Kadmos ein eigenes Kapitel und resümiert Abstammung und Lebensgeschichte nebst diversen Kuriosa nach den ihm verfügbaren Quellen, die den bekannten Phönizier u.a. zum Erfinder von 16 Buchstaben erklären: Cadmus, antiquorum omnium vulgata fama, fuit filius Agenoris [...]. Sunt praeterea qui velint eum secus Ypprocrenem fontem sedentem atque meditantem, XVI licterarum caracteres adinvenisse, quibus postea omnis Grecia usa est. [...] Hi veritatem comperiant quibus magis est cure; ego autem nil amplius reperire potui (Boccaccio 1998: 266-268).

Mit ähnlichen Worten beschreibt Boccaccio Kadmos auch in De Casibus illustrium virorum (1,4: „De Cadmo Thebanorum rege“), einer lateinischen Vitensammlung über die Schicksale berühmter Männer aus Mythologie und Geschichte. Von Boccaccio führt eine Spur in die flämische Stadt Brügge, wo im 15. Jh. ein bedeutender Buchdrucker lebte, in dessen Werkstatt unter Verwendung von seinerzeit noch äußerst seltenen Kupferstichen eine französische Ausgabe der Genealogie unter dem Titel Boccace du Déchiet des nobles Hommes & cleres Femmes (1476) entstand: Colard Mansion (vgl. Franck 1884). Der Drucker war auch als Übersetzer aktiv; nur ein Jahr später druckte er seine französische Übertragung der Consolatio Philosophiae des Boethius mit Kommentar, die jüngst von Franz Lebsanft (2010) ausführlich besprochen wurde. Zu den Werken aus Mansions Druckwerkstatt zählt ferner eine prachtvolle Ausgabe einer moralisierten Übersetzung der ovidianischen Metamorphosen. Mansion charakterisiert Kadmos darin als sage philosophe & ingenieux[,] il eust compaignons qui [cui]derent acquerre science en la fontaine de clergie dont vien[n]ent et sourdent ruisseaulx de philosophie. [...] Car il fist premierement lescripture et les lettres aux grecs, et ainsi espandy lescriture et la clergie par tout. & fist entendre a ses escoliers q[ui] furent cinq, cest adire les .v vocales qui lui furent fort aidables a son euure paraceuer. Car par eulx commencent tous ars. Et en toutes voix en y a vn ou pluiseurs [sic !] (Mansion 1484: 195).

Der Wortlaut der Übertragung orientiert sich deutlich an der Überlieferung des Ovide moralisé, der seit dem 14. Jh. in diversen Handschriften kursierte. Schon dort wird die antike Charakterisierung des Kadmos als Weisen („Cadmus fu sages et soutis, / A philosophie entendis“; Ov.mor. 3,205f.) christlich gedeutet. Damit, dass er den Griechen die Quelle der Weisheit zugänglich gemacht habe, geht im übertragenen Sinn die Deutung des Kadmos als Verbreiter des Christentums einher; profane und sakrale Schrift fallen mithin zusammen:

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Qu’il ot la fontaine conquise, C’est a dire l’art de clergie Et la dois de philozophie, Qu’il trouva la clergie aus Gries (Ov.mor. 3,236-239).

So entspricht denn auch die Gründung des späteren Thebens dem christlichen Gottesdienst, der sich auf die Heilige Schrift gründet: Cadmus fist Thebes voirement, C’est le devin cultivement, Quar devine cultiveüre Est fondee sor escripture (Ov.mor. 3,265-268).

Ebenfalls im Ovide moralisé angelegt ist die von Mansion geäußerte Deutung der Spartoi als die fünf (lateinischen) Vokale („les cinq veaus“, Ov.mor. 3,259), die, silbenkonstituierend, für die Aussprache unerlässlich seien: Quar toute art commence par eaus, Ne nulle vois qu’en doie escrire Ne puet l’en prononcier ne dire C’aucuns des voieulz son n’i doint, C’autrement ne sonneroit point (Ov.mor. 3,260-264).

Noch im 16. Jh. werden sich Humanisten wie der Lyoner Barthélémy Aneau mit den Vokalen des Kadmos beschäftigen: Vexit in Europam literas Phœnicibus ortas. In quibus humanæ circulus est Sophiæ. Quarum quinque (alijs se collidentibus vltro.) Plena vocales integritate manent (Aneau 1552: 11).

Schon um 1400 hebt Christine de Pizan in der Epistre Othea, einem allegorischen Fürstenspiegel in Form eines fiktiven Briefes der Göttin an den jungen Trojaner Hektor, die Weisheit des Kadmos hervor. Auf einen „Texte“, bestehend aus vier Versen mit zumeist mythologischem Hintergrund, folgen jeweils in Prosa eine moralisierende „Glose“ und eine „Allegorie“, die sich mit einer Unterweisung nacheinander an den „bon chevalier“ und den „bon esprit“ richten. Zu Kadmos erläutert Christine in der „Glose .xxviij.“: Cadmus fu un moult noble homme et fonda Thebes, qui cité fu de grant renommee. L’estude y mist, et lui meismes fu moult letrez et de grant science, et pour ce dist la fable que il dompta le serpent a la fontaine, c’est a entendre science et sagece qui toudis sourt (Christine de Pizan 1999: 241f.).

Die Bezwingung des Drachen, in der anschließenden „Allegorie“ als Passion Christi gedeutet, wird hier zum Bild für die Bewältigung des Lernstoffes:

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Le serpent est notté pour la peine et travail qu’il couvient a l’estudiant dompter ains qu’il ait science acquise. Et dit la fable que il meismes devint serpent, qui est a entendre que il fu maistre et corrigeur des autres. Si veult dire Othea que le bon chevalier doit amer et honnourer les clercs letrez qui sont fondez en sciences (ebd.: 242).

Die Spur des Kadmos lässt sich in mythologischen Handbüchern der Neuzeit weiter verfolgen, oft genug jedoch wird seine kulturstiftende Bedeutung auch unterschlagen, 6 bis sie im 18. Jh. Diderots Encyclopédie (1751: II,646, s.v. „CARACTERE“) beglaubigt: „Le caractere Latin se forma du Grec, & celuici du Phénicien, que Cadmus apporta en Grece“. Die Phönizien zu verdankenden kulturellen Fortschritte reflektiert auch Johann Gottfried Herder ausführlich in den Ideen zur Philosophie und Geschichte der Menschheit, und seine Fragmente zu einer Archäologie des Morgenlandes beziehen sich direkt auf das kadmeische Alphabet. Als „doni provvisti di mente“ finden die Buchstaben schließlich Eingang in den italienischen Roman Le nozze di Cadmo e Armonia (1988) von Roberto Calasso, in dem postmoderne Überlegungen über die Autoreflexivität der Schrift eine Rolle spielen. Das Alphabet, so die versöhnlichen Schlussworte des Textes, werde die irdische Hinfälligkeit und Zerstörungswut überdauern: vocali e consonanti aggiogate in segni minuscoli, ‚modello inciso di un silenzio che non tace‘: l’alfabeto. Con l’alfabeto, i Greci si sarebbero educati a vivere gli dèi nel silenzio della mente [...] Pensò al suo regno disfatto: [...] Anche Tebe era un cumulo di rovine. Ma nessuno ormai avrebbe potuto cancellare quelle piccole lettere, quelle zampe di mosca che Cadmo il fenicio aveva sparpagliato sulla terra greca, dove i venti lo avevano spinto alla ricerca di Europa rapita da un toro emerso dal mare (436f.).

In phönizisches Zedernholz geschnitzt, tauchte die kadmeische Buchstabenschrift erst vor kurzem in einer Berliner Schaubühnen-Inszenierung des libanesisch-frankokanadischen Regisseurs Wajdi Mouawad (geb. 1968) wieder auf: „eine neue Mythologie [...], dreißig Götter und Göttinnen, [die] die Dunkelheit im Innern der Schädel aufbrechen“ (Meierhenrich 2008). Das Stück ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass das Nachdenken über Schrift, verbunden mit der Suche nach den kulturellen Ursprüngen, die Literatur ebenso anhaltend beschäftigt wie die Philologie – Identitätsfragen, die nicht nur die Romania kennt. Mehr als ein kleiner Anstoß zu ihrer weiteren Erforschung kann hier nicht gegeben werden.

6 Der mythische Kadmos figuriert z.B. auch im Musiktheater – als Protagonist der Tragédie lyrique Cadmus et Hermione (1673) von Jean-Baptiste Lully (Libretto: Philippe Quinault), als Vater der Protagonistin in Georg Friedrich Händels Opern-Oratorium Semele (1744, Libretto: William Congreve); in beiden Fällen kommen Alphabet und Schrift nicht zur Sprache.

Zur Vorstellung von Sprachgeschichte und Sprachentwicklung in der frühen Neuzeit

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Claudia Wich-Reif Frühe volkssprachige Grammatikschreibung kontrastiv: Deutsch – Spanisch

1. Einleitung Sowohl in der Romania als auch in der Germania ist es lange Zeit üblich, Schriftliches auf Latein festzuhalten. Die Tradition vor Augen habend, ist das gewissermaßen „naturgegeben“. Aufgrund eines umfassenden Strukturwandels im öffentlichen Leben in der Frühen Neuzeit, insbesondere im Kontext der (Aus-)Bildung der Bevölkerung, verliert das Lateinische in bestimmten Domänen seine exklusive Stellung und die Volkssprachen gewinnen an Gewicht. Mit der steigenden Akzeptanz der Volkssprachen als Schriftsprachen und den allmählich sich ausweitenden Lese- und Schreibbedürfnissen und -anlässen in den Volkssprachen entsteht auch der Bedarf, diese regelhaft zu erfassen. Die einschlägige Literatur zur Grammatikschreibung in Deutschland und in Spanien zeigt, knapp und etwas überspitzt formuliert, folgendes Bild: Grammatikschreiber gibt es in Spanien einen, in Deutschland keinen. Die erste volkssprachige Grammatik, oder vielleicht besser: die lange Zeit als erste und einzige bekannte volkssprachige Grammatik in Spanien ist die Gramática de la lengua castellana von Antonio de Nebrija aus dem Jahr 1492. 1 Die erste(n) vollständige(n) Grammatik(en) der deutschen Sprache ist/sind erst in den 70er Jahren des 16. Jh. entstanden; sie sind auf Latein geschrieben und somit kein Gegenstand der vorliegenden Betrachtung (interessanterweise tragen zwei davon deutsche Titel) 2. Als Meilenstein in der volkssprachigen Grammatikschreibung wird die

1 Vgl. Neumann-Holzschuh 1994: 614 u. Anm. 4. 2 Laurentius Albertus: Teutsch Grammatick oder Sprach-Kunst (1573), Albert Ölinger: Vnderricht von der Hoch Teutschen Spraach (1573), Johannes Claius: Grammatica Germanicae Linguae (1578).

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etwas früher, nämlich um 1534 entstandene, auf Deutsch verfasste Schrift (Ein)Teütsche Grammatica von Valentin Ickelsamer 3 angesehen. Trotz der ganz unterschiedlichen Gegebenheiten lohnt sich ein spotlightartiger Vergleich der Gramática de la lengua castellana und der Teütschen Grammatica, denn die ersten volkssprachigen Grammatiken bzw. deren Vorformen sind unter vergleichbaren Rahmenbedingungen entstanden und werfen dieselben Fragen auf: Inwiefern sind sie (schon) Grammatiken im heutigen Sinn und, damit verknüpft, in welcher Relation stehen sie zur lateinischen Grammatik-, aber auch Rhetoriktradition? Inwiefern sind sie in der Beschreibung der volkssprachigen Phänomene der lateinischen Grammatik(-schreibung) verhaftet? Gerade die letzte Frage spielt sowohl in der romanischen als auch in der germanischen Grammatikschreibung eine zentrale Rolle, und zwar nicht nur für die Anfänge, sondern – zumindest für das Deutsche – bis weit ins 17. Jh. hinein. 4

2. Die Ausgangslage(n) In Spanien waren die Voraussetzungen für eine Grammatik eigentlich keine schlechten: Bereits Ferdinand III. hatte als König von Kastilien und León Kastilisch zur offiziellen Kanzleisprache gemacht, womit der Bedarf einer volksprachigen Grammatik legitimiert war. Antonio de Nebrija schrieb diese schließlich, 24 Jahre bevor die Königreiche Kastilien und León sowie Aragon mit Navarra als Spanisches Königreich unter Karl I. integriert wurden. Eine breite Rezeption der Zeitgenossen blieb aus; erst später erkannte man ihren Wert, was sich in einer Neuauflage im 18. und mehreren wissenschaftlichen Ausgaben im 20. Jh. widerspiegelt. Dass es erst nach 63 Jahren eine Nachfolgegrammatik (die anonym erschienene Schrift Util y breve institution para aprender los principios y fundamentos de la lengua Hespañola) gab, mag zwar auch den soziopolitischen Verhältnissen geschuldet sein, mag aber auch oder sogar vor allem daran liegen, dass Nebrija so umfassend und maßgebend war, dass Nachfolger nur zwei Möglichkeiten hatten: ihn zu kopieren oder ihn in Bezug auf Nebensächlichkeiten anzugreifen (vgl. Padley 1985: 172). Beide Reaktionen sind nachweisbar.

3 Einen Abriss über die frühe deutsche Grammatikschreibung bietet Moulin-Fankhänel 22000, eine Bibliographie zu alle Autoren und Werken von den Anfängen bis ins 16. Jh. MoulinFankhänel 1994. 4 Auch die über 1.460 Seiten umfassende, bedeutendste Grammatik des 17. Jh., die Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache von Justus Georg Schottel(ius) aus dem Jahr 1663, in der mehrfach explizit auf Ickelsamer verwiesen wird, deckt sich noch nicht mit heutigen Erwartungen. Grammatische Themen sind insbesondere die Flexions- und Wortbildungsmorphologie und die Wortarten, daneben die Orthographie; die Syntax bleibt weiterhin ein marginaler Bereich.

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Wie bereits angedeutet, ist das einzige nennenswerte deutschsprachige Werk, das sich als Vergleichsobjekt mit Nebrijas vollständiger Grammatik eignet, die Teütsche Grammatica von Valentin Ickelsamer. Mit Rössing-Hager (2008: 778) lässt sich zur Gesamtsituation im deutschsprachigen Raum lakonisch festhalten: „Die grammatische Beschreibung der deutschen Sprache erfolgt bis über die Mitte des 16. Jh. hinaus nie systematisch und zusammenhängend, sondern zweckgebunden und selektiv.“ Grammatiken sind praxisorientiert und werden entweder als Hilfsmittel für den Sprachunterricht als Lese- und Schreiblehren und auch Orthographien und Interpunktionslehren oder als Brieflehren mit Anbindung an Rhetorik und Dialektik verfasst. 5 Zu begründen ist die Heterogenität u.a. mit der Komplexität der Normierungs- und Ausgleichsprozesse im deutschen Sprachraum, die sich über die gesamte frühneuhochdeutsche Sprachperiode erstrecken. Erst im 16. Jh. ist der Bedarf nach einer weiträumig gültigen Standardvarietät so groß, dass man sich mit der Frage nach einer allumfassenden Grammatik intensiver beschäftigt. Als einer der wesentlichen Motoren gilt (wie in Spanien) das Kanzleiwesen. Hier mischt Maximilians I. Reichskanzlei maßgeblich mit, wie eine viel genannte und oft zitierte Stelle aus Fabian Frangks Orthographia Deutsch von 1531 im Kapitel Woraus man Recht vnd rein Deutsch lerne dokumentiert (vgl. Wich-Reif i. Dr.), in der es um überregionale Schriftlichkeit und Autoritäten bzw. Vorbilder geht: die Schriften des aus dem Ostmitteldeutschen stammenden Luther und die Produkte von zwei im Oberdeutschen angesiedelten Institutionen, die Kanzlei Maximilians und die Druckerei des Augsburgers Schönsberger. In Spanien gibt es mit Deutschland vergleichbare Diskurse um eine alle regionalen Varietäten überdachende Ausgleichssprache ebenso wenig wie in Italien oder in Frankreich.

3. Die Rolle(n) des Lateinischen für die volkssprachige Grammatikschreibung Sowohl für Deutschland als auch für Spanien spielt im 15. und auch noch im 16. Jh. Latein eine große Rolle: Mit dem Latein als Bildungssprache und lingua franca waren volkssprachliche Grammatiken in der Volkssprache nicht erforderlich. Erfolgte die Beschreibung einer Volkssprache auf Latein, war das für Nichtmuttersprachler sogar besonders dienlich. Das spiegelt die Rezeption von Nebrijas Grammatik des Kastilischen wider, deren Wert erst im 18. und dann insbesondere im 20. Jh. erkannt wurde. Ebenso zeigt dies das zögerliche 5 Gewissermaßen spiegelbildlich zeigt sich die Relevanz der Geschichte der deutschen Grammatikographie für die Geschichte der Rhetorik, vgl. Knape 2008: 84.

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Verhalten in Deutschland, überhaupt eine umfassende Grammatik des Deutschen auf Deutsch zu verfassen. Für das 15. und auch noch für das 16. Jh. wird pauschal formuliert, dass „selbst an den Schulen, die sich ‚deutsche‘ nannten, die deutsche Sprache nie Gegenstand von Unterricht war“ (Ahlzweig/Ludwig 2008: 707). Gleichwohl sind in dieser Zeit Vorstellungen von deutschem Unterricht entwickelt worden und in diesem Kontext werden Luther und eben Ickelsamer genannt: „Martin Luther war vermutlich der erste, der seine Notwendigkeit erkannte, Valentin Ickelsamer war es dann, der ihm zumindest gedanklich eine überzeugende Form gab“ (ebd.). Es mag an dieser Stelle (noch einmal) betont werden, dass sich Schulmeister als Praktiker der Frage eines normativen Werkes annahmen, nicht in universitären Kontexten tätige Philologen. Die nächste Frage gilt der lateinischen Tradition und damit dem Inhalt der grammatischen Werke, einmal hinsichtlich der Vorbilder, einmal hinsichtlich der Beschreibung der grammatischen Strukturen und deren Illustration. Der erste Punkt ist vergleichsweise schnell abgehandelt. Sowohl Nebrija als auch Ickelsamer ist nicht nur die lateinische Grammatik bestens vertraut; durch direkte oder vermittelte Rezeption kennen sie die Verfahren führender Grammatiker und Sprachgelehrter des Altertums und des Humanismus, über Sprache und ihr Funktionieren zu reflektieren. Diese können sie auf die jeweilige Volkssprache übertragen (vgl. auch Rössing-Hager 2008: 777). Alle beide zeigen mit ihren Schriften insbesondere eine Orientierung an Donat, Priscian und Quintilian. Da Ickelsamers Schrift „nur“ Programm einer Grammatik 6 ist, Nebrijas Werk hingegen eine umfassende Grammatik, mag es nicht ganz angemessen sein, einen Vergleich anzustellen. Dennoch erscheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Quintilian die Hauptquelle für Ickelsamer ist. 7 Denn damit verbindet sich auch sein aus der Praxis kommender Ansatz, die starke Orientierung am Sprachgebrauch (vgl. auch Abschnitt 4.2.) und schließlich die stärkere Anknüpfung an die Rhetorik- denn an die Grammatiktradition (vgl. auch Gardt 1999: 57). In Bezug auf die Beschreibung und Illustration der Normen und Regeln der jeweiligen Volkssprache ist die Situation deutlich komplexer, und Wesentliches kann hier nur angedeutet werden: Die Gramática de la lengua castellana ist insofern stark an der lateinischen Grammatik orientiert, als sie sich vergleichend von ihr abgrenzt. Sie ist durchzogen von Vergleichen des Spanischen mit 6 Ludwig 2000 sieht Ickelsamer ausschließlich als Schulmeister und interpretiert die Teütsche Grammatica nicht als Grammatikprogramm, sondern als „Curriculum“. 7 Rössing-Hager 1984: 552 merkt an, dass Ickelsamers Bindung an Quintilian „sehr viel enger und weitergehend [ist], als die Stellen mit explizitem Verweis auf ihn zeigen“. Zum Einfluss von Quintilian auf Nebrija vgl. Pozuelo Yvancos 1984.

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dem Lateinischen, allerdings nur von solchen mit dem klassischen Latein. Auch Vulgärlatein wird thematisiert, allerdings nur in Bezug auf die gesprochene Sprache, die für die sprachliche Normierung eine untergeordnete bis keine Rolle spielt. Braselmann (1991: 429) beobachtet, dass Nebrija allein durch die Verbwahl differenziert: Bezieht er sich auf Vulgärlatein, gebraucht er das Verb hablar, geht es um das klassische Latein, gebraucht er das Verb escrivir. Für Ickelsamer gehört Latein, das klassische Latein, zum Programm, und zwar insofern, als es für eine angemessene Beschreibung des deutschen Systems nötig ist, sich von der lateinischen Grammatik zu lösen: Illustrierend weist er darauf hin, dass es nicht angemessen sei, allein wie in den gemainen kinder Donten (Ickelsamer A2r) – den im Schulunterricht verwendeten Interlinearversionen der Ars minor des Donat – die lateinische Grammatik ins Deutsche zu übersetzen, wie Nomē der nam / Verbum das wort rc. (Ickelsamer A2r). Die Terminologie muss angemessen ins Deutsche übertragen werden, die Termini sollen angemessen erklärt und am besten durch sprechende Beispiele illustriert werden. Die Charakterisierung zeigt, dass auch Ickelsamer die Volkssprache immer wieder im Abgleich mit dem Lateinischen beschreibt. Dass sich der Schulmeister von der Prägung durch den lateinischen Unterricht nicht immer zu lösen vermag, zeigt sich etwa darin, dass er für die Untermauerung seiner Argumentation in Bezug auf den „kleinen Donat“ als Beispiel für das In-deutschen-Kategorien-Denken im Deutschen unübliche Partizipialkonstruktionen anführt (Ickelsamer A2rA2v). Damit fließen dann auch lateinische Beispiele als Vorbildkonstruktionen in seine Schrift ein.

4. Antonio de Nebrijas Gramática de la lengua castellana (1492) und Valentin Ickelsamers Ein Teütsche Grammatica (um 1534) – ein Vergleich? Es erscheint hinreichend dokumentiert, dass es keineswegs abwegig, sondern sogar gut möglich ist, Antonio de Nebrijas Gramática de la lengua castellana und Valentin Ickelsamers Teütsche Grammatica zu vergleichen. Bisher wurden die beiden Autoren und Werke unter eher globalen Fragestellungen betrachtet. Im Folgenden sollen die beiden Verfasser, Nebrija und Ickelsamer, kurz als Persönlichkeiten vorgestellt und Teile ihrer Werke exemplarisch analysiert und miteinander verglichen werden. Ein gewinnbringender Aspekt scheint der von Burr (1991) in einem ganz anderen Zusammenhang aufgeworfene Punkt zu sein. Sie macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Grammatiken nicht nur „Beschreibungen grammatischer Kategorien und ihrer Realisierung in der Norm einer Sprache [sind], sondern [dass] sie […] gerade auch Ausdruck von

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Präferenzen und Antipathien der Grammatiker [sind]“ (Burr 1991: 192). Diese Perspektive einzunehmen, erscheint besonders – aber nicht nur – für Ickelsamers Schrift gewinnbringend zu sein. Für einen exemplarischen Vergleich wird die Klassifikation der Wortarten als eine der Grundlagen einer jeden Grammatik ausgewählt. 4.1. Antonio de Nebrijas Gramática de la lengua castellana

Antonio de Nebrija ist als Verfasser einer frühen volkssprachigen Grammatik besonders interessant, weil er nicht nur eine volkssprachige, sondern auch eine sehr erfolgreiche lateinische Grammatik, die Introductiones latinae (auch in einer zweisprachigen Fassung) verfasst hat; daneben war er ein anerkannter Lexikograph. Die Gramática de la lengua castellana ist „das erste Regelwerk, das systematisch Strukturen und Eigenarten der Sprache Kastiliens darstellt“ (NeumannHolzschuh 1992: 617). Sie ist in fünf Bücher untergliedert: Auf einen programmatischen Prolog folgend geht es in vier Teilen um Orthographie, Prosodie, Etymologie und Syntax. Methodisch will Nebrija Lernende des Spanischen als Mutter- und auch als Fremdsprache bedienen. Er strebt an, die spanische Sprache zu fixieren, er möchte den spanischen Muttersprachlern durch die Kenntnisse der volkssprachigen Grammatik das Erlernen des Lateinischen erleichtern und außerdem diejenigen angemessen bedienen, die das Spanische als Fremdsprache lernen. In Fragen der Orthographie ist Nebrija sehr modern. Erstrebenswert erscheint ihm eine 1:1-Laut-Buchstaben-Relation. Die Wortarten behandelt Nebrija am Anfang des Buches zur Etymologie. Für das Kastilische setzt er aufgrund eines Vergleichs des Kastilischen mit dem Griechischen und dem Lateinischen zehn Wortarten an: nombre, pronombre, artículo, verbo, participio, gerundio, nombre participial infinito, preposición, adverbio, conjunción (Nebrija 1980: 163). Er geht also nur von sieben der Wortarten des Lateinischen aus: Interjektionen gehen entsprechend dem Griechischen in der Wortart Adverb auf, drei neue Wortarten werden eingeführt, nämlich Artikel (wie im Griechischen), Gerundium und nombre participial infinito. Diese werden a ausführlich erläutert und zum Teil an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen. Beispielhaft sind hier Ausführungen zum Nomen zitiert: Nombre es una de las diez partes de la oración, que se declina por casos, sin tiempos, & significa cuerpo o cosa. Digo cuerpo, como ombre, piedra, árbol; digo cosa, como dios, ánima, gramática. Llámase nombre, por que por él se nombran las cosas, & assí como de ‚onoma‘ en griego, los latinos hizieron ‚nomen‘, assí de ‚nomen‘ nos otros hezimos nombre (Nebrija 1980: 164).

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Eingangs wird noch einmal an die Einteilung des Kastilischen in zehn Wortarten erinnert, dann werden die Nomen in cuerpo oder cosa (corpus aut rem) unterschieden. Beide Kategorien werden hinreichend mit Beispielen illustriert. Auf etymologische Hinweise folgt die Nennung der sechs Akzidentien calidad, especie, figura, género, número, declinación por casos (ebd.). Es sei hier nur die calidad, die ‚Qualität‘ herausgegriffen, die bei Nebrija die Differenzierung in Appellativa und Nomina propria und auch die in Substantive und Adjektive beinhaltet. Substantive und Adjektive werden durch die Möglichkeit, ein oder maximal zwei bzw. drei Genera zu zeigen, die mit dem entsprechenden Artikel ausgedrückt werden, charakterisiert und differenziert (Nebrija 1980: 165). 4.2. Valentin Ickelsamers Teütsche Grammatica

Valentin Ickelsamer ist ein Schulmeister aus Rothenburg ob der Tauber, in dessen Bildungskonzept die Muttersprache und ihre Didaktik einen nicht zu überschätzenden Stellenwert haben. Schon vor der Grammatica hat er eine Lese- und Schreiblehre verfasst; er gilt als (Mit-)Begründer der Lautiermethode. Mit seinem Werk Ein Teütsche Grammatica ist erstmals in der deutschen Grammatikschreibung das Lexem Grammatik im Titel verwendet worden. Dieser ist überlegt gewählt, wie der erste Satz des Werkes zeigt: DIsem Bchlin hab ich ainen namen geben / Grammatica / darumb / das es die besten vnd fürnemsten stuck der Grāmatic handelt / Nmlich / den verstand der Bůchstaben / vnd des lesens / auch der Teütschē sprach art / sampt || der selben wrter / Etymologia vnd außlegung / (Ickelsamer A1v)

Ickelsamer fährt mit Programmatischem fort, indem er betont, dass eine Grammatik des Deutschen nicht einfach eine Übertragung einer lateinischen Grammatik sein könne: Wer aber mainet / es sey kain Grammatica / die nit alles Kinderwerck lere / das in der Lateinischen Grammatic ist / Darzů sag ich / das der vns noch lang kain Teütsche Grammatic geben oder beschriben hat / der ain Lateinische für sich nimbt / vnd verteütscht sy / wie ich jr etwa wol gesehen / dan der schafft mit vil arbait wenig nutz / der die teütschen leren will / wie sy sagen vnd reden sollē […] (Ickelsamer A1v)

Wie Kinder sagen vnd reden sollen, lernen die kinder besser von der můter (Ickelsamer A1v), 8 und zwar auch Flexionsparadigmen, die deshalb in einer

8 Diese Anleihe bei Vorgängern (das Lernen der Sprache durch die Mutter (oder die Amme)) illustriert, dass Ickelsamer sehr wohl zwischen Praxis und Theorie unterscheidet und die Grammatik am richtigen Ende zu verorten weiß.

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grammatischen Beschreibung fehlen können (natürlich ohne metasprachliche Reflexion). Ickelsamer formuliert deutlich, dass er um das Desiderat einer deutschen Grammatik weiß, dass er auch ganz klare Vorstellungen davon hat, wie eine solche Grammatik aussehen muss, dass er aber nicht derjenige ist, der eine solche verfasst, ja dass er nicht einmal den Plan hegt, eine solche selbst zu verfassen (Ickelsamer A 2r). 9 Die Forderung und der Bedarf nach einer deutschen Grammatik im 16. Jh. sind nicht neu. Nur wenige Jahre vorher weist schon Fabian Frangk im Vorwort seiner Orthographia auf das Desiderat hin. Ickelsamers Werk kann insofern als Weiterentwicklung gesehen werden, als nun nicht mehr nur auf das Desiderat abgehoben wird, sondern auch eine Skizze für eine Grammatik mit unterschiedlich breit ausgearbeiteten Teilen vorliegt, die freilich nicht vollständig ist und auch deutlich andere Akzente setzt, als dies in Nachfolgeprojekten der Fall ist. 10 Die Teütsche Grammatica besteht aus vier Teilen: Leselehre, Etymologie, Orthographie und Interpunktion, wobei alle weiteren Teile auf die Leselehre als erstem Teil bezogen sind. Es geht um eine Auseinandersetzung mit dem Wort, das in seiner Form und Herkunft verstanden und in syntaktische Strukturen eingebettet werden kann. Gewöhnungsbedürftig für heutige Leser ist das zum Teil sprunghaft Anmutende. Wie nebenbei streut Ickelsamer in etymologische Ausführungen Vorstellungen über die Benutzer der Grammatica ein, wobei er ganz klar an diejenigen denkt, die Nutzen von den ausformulierten Bereichen haben, die jungen (Ickelsamer D4v), die in den Schulen mehr lernen sollten als lesen / schreiben vnd rechnen (ebd.). Mit den beiden Schwerpunkten Orthographie und Interpunktion macht Ickelsamer deutlich, wie viel Gewicht er dem Verständnis und der Wirkung der geschriebenen Sprache beimisst. In der Orthographie orientiert er sich am Sprachgebrauch (Ickelsamer D1v). Die Wortarten (Redeteile) und ihre Akzidentien (acciden Ickelsamer A3v) und eine darauf aufbauende Syntax sieht Ickelsamer als essentielle Elemente einer Grammatik an (Ickelsamer A3r-A3v). Ganz selbstverständlich geht er von den für das Lateinische üblichen acht Redeteilen (Ickelsamer A1v u.ö.) (nomen, pronomen, verbum, adverbium, participium, coniunctio, praepositio, interiectio) 9 Die Versprechung, die er in werbender Weise macht, ist klar formuliert. Sie bezieht sich allein auf das Lesenlehren und -lernen: Aber auf die weis / die das bchlein leret / kann ain yder inn wenig tagen lesen lernen / Ich selbs habs etliche gewachßne gesellen in || acht tagen geleret […] (Ickelsamer A4v-A54). 10 Auf der Seite der Universitätsbibliothek der LMU wird einleitend zu einem Druck mit der Signatur Cim. 37 (= 8 Philol. 1248) recht unglücklich formuliert: „[…] Valentin Ickelsamer (1500-1541) veröffentlichte seine Grammatik um 1535 in Augsburg. Sie sollte zu einer vom Lateinischen unabhängigen Grammatik anregen.“ (http://epub.ub.uni-muenchen.de/12188/, 10.09.2014).

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auch für das Deutsche aus (vgl. auch Abschnitt 3) und beansprucht damit offenbar ihre universale Gültigkeit (vgl. Rössing-Hager 1984: 537). Dazu ist stimmig, dass er einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Lateinischen und dem Deutschen, nämlich den Artikel, mit keinem Wort thematisiert. Der Bezug zu der reden tail (eine Lehnübersetzung von pars orationis) durchzieht die ganze Grammatica bis hin zu den abschließenden Ausführungen zur Interpunktion (die nur wenig mehr als fünf Seiten umfassen). Neben einer passenden Übertragung der Terminologie ins Deutsche (verteütschet) und einer angemessenen Beschreibung (erkläret) mit jren dienern / zůfelligkaiten vnd zůgehrungen / welliches die Lateiner Accidentia haissen (Ickelsamer A1v) möchte Ickelsamer dieselben mit überzeugenden Beispielen illustriert wissen. Diese Forderungen spiegeln sich für das Kastilische in den Ausführungen Nebrijas direkt wider.

5. Gemeinsame Tradition, unterschiedliche Wege, eine Perspektive Ausgangpunkt für Nebrija und auch für Ickelsamer ist die gemeineuropäische Erscheinung der Hinwendung zu den Volkssprachen in der Frühen Neuzeit. Spanien ist mit Nebrija in der Zeit zwischen 1450 und 1550 in der Grammatikschreibung Deutschland einen ganz gewaltigen Schritt voraus. Nebrija gelingt es nicht nur früh, eine umfassende Grammatik für die Volkssprache in der Volkssprache zu verfassen, sondern er schafft es auch, sich in vielen Bereichen von der lateinischen Grammatik zu lösen und auch innovative Impulse zu geben. Wenn dies (nur) am Beispiel der Wortarten demonstriert wurde, so ist das unter anderem auch der Tatsache geschuldet, dass Ickelsamers Programm einer Grammatik nur wenige angemessen vergleichbare Themen bietet. Mehr als ein Programm gibt es in Deutschland in der Volkssprache auch über 40 Jahre nach Nebrijas Grammatik nicht. Beide Autoren behandeln schwerpunktmäßig vier Bereiche, die sie unterschiedlich breit mit unterschiedlichen Akzentuierungen und in unterschiedlicher Tiefe behandeln. Lässt man alleine das im vorliegenden Beitrag Angesprochene Revue passieren, so zeigen sich ganz deutlich Präferenzen und auch Antipathien in der Behandlung einzelner Themen, sei es die primäre Orientierung an der grammatischen oder an der rhetorischen Tradition, sei es das Weglassen von aus heutiger Sicht essentiellen Teilen einer grammatischen Beschreibung, so der Flexion bei Ickelsamer. Findet Nebrija als gelehrter Theoretiker Anerkennung, so Ickelsamer als progressiver Praktiker. 11 Die Bedeutung der beiden – so unterschiedlich sie 11 Wenngleich es schwer fällt, sich Niederers Einschätzung, Ickelsamers Ideen als Ganzes seien erst im 19. Jh. verwirklicht worden, anzuschließen (vgl. Niederer 1974: 113), so gilt das doch ohne

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Claudia Wich-Reif

hinsichtlich vieler Aspekte sein mögen – wird in der Folgezeit evident: Eine Traditionslinie in Spanien gibt es im engeren Sinn im Anschluss an Nebrija nicht, wenngleich seine Nachfolger direkt oder indirekt von seinem Werk profitieren. In Deutschland wiederum gibt es niemanden, der Ickelsamers ambitioniertes Programm umgesetzt hat. Es scheint, als ob die lateinische Traditionslinie, die beide auf die ihnen eigene Art und Weise durchbrochen, aber nicht verlassen haben, eine Fortsetzung findet. Nebrijas lateinische Grammatik wird bereits im 15. Jh. mehrfach wiederaufgelegt, seine kastilische Grammatik erst im 18. Jh., und dann nur einmal. Auf Ickelsamer folgt nicht nur eine, sondern es folgen gleich drei Grammatiken des Deutschen in lateinischer Sprache. Sowohl in Spanien als auch in Deutschland scheinen die Lernenden als Klientel noch nicht für eine schriftlich fixierte grammatische Beschreibung der Volkssprache in der Volkssprache bereit zu sein: Die Anzahl der Muttersprachler, die in der Muttersprache lernen (können bzw. dürfen), ist noch zu klein, genauso wie die Anzahl der Nichtmuttersprachler, die die Fremdsprache nicht über die Mittlersprache Latein lernen könnten.

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Zweifel uneingeschränkt für seine kreativen Impulse im Bereich des Lesenlernens und seiner Didaktisierung.

Frühe volkssprachige Grammatikschreibung kontrastiv: Deutsch – Spanisch

107

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Ludwig Fesenmeier / Anke Grutschus Historische romanische Sprachwissenschaft zwischen Tradition und Employability. Ein Blick in neuere Lehrwerke

1. Einleitung Für Wilhelm Meyer-Lübke bestand [d]ie Aufgabe der romanischen Sprachwissenschaft […] darin, die Veränderungen des romanischen Sprachstoffes von seinen ersten Anfängen […] bis auf die Gegenwart hinunter zu verfolgen, diese Veränderungen zu verzeichnen, sie zeitlich und räumlich abzugrenzen, ihr Wesen und die sie hervorrufenden Kräfte zu ergründen, die Ergebnisse der Veränderungen in einem gegebenen Zeitpunkte zu beschreiben. (31920: 62)

Schon lange vorher ist bekanntlich eingewendet worden, dass man „mit der Identification von Sprachwissenschaft und Sprachgeschichte ersterer durch ungebührliche Beschränkung Unrecht“ tut (Misteli 1882: 382), aber ebenso klar ist, dass sprachhistorisches Erkenntnisinteresse und mithin sprachhistorisches Arbeiten einer zentralen Eigenschaft des Untersuchungsgegenstands entspricht: der generisch-essentiellen Universalie der Historizität von Sprache. 1 Aus dieser Relevanz historisch-sprachwissenschaftlicher Forschung ergibt sich unmittelbar ein entsprechendes Gewicht auch in der universitären Lehre, aber natürlich haben sich hier wie dort die Perspektivierungen im Zeitablauf verändert. In den 1970er Jahren bestand „die klassische Einführung in die Sprachwissenschaft auf dem Gebiet der Romanistik […] vielfach noch immer in einer dem Altfranzösischen gewidmeten Lehrveranstaltung“ (Christmann 1975: 53), weshalb Christmann (1975) die Frage „Altfranzösisch oder historisches Französisch?“ aufgeworfen und aus gutem Grund zugunsten des Letzteren beantwortet hat. Daran anschließend haben auch Böckle/Lebsanft (1989: 95) in der „‚historischen 1 Vgl. dazu, im Anschluss an Coseriu 1975, Oesterreicher 1988: 366-367; explizit auf die Historizität von Sprache verwiesen wird in Kabatek/Pusch 2009/22011: 242 sowie in Wesch 2001: 22 und 140 (vgl. auch unten, 3.).

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Ludwig Fesenmeier / Anke Grutschus

Betrachtung‘ der Sprache“ eine Möglichkeit gesehen, „die lange […] Tradition der historischen Sprachwissenschaft unter den veränderten Bedingungen der Universität der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu bewahren“. Zu „veränderten Bedingungen (an) der Universität“ in neuerer Zeit hat die Umsetzung der in der Bologna-Erklärung von 1999 formulierten Ziele geführt, insbesondere die Einführung des Bachelor/Master-Systems oder, allgemeiner gesprochen, der modularisierten Studiengänge, 2 und man wird einmal mehr die Frage stellen müssen, wie hier die Tradition der historischen romanischen Sprachwissenschaft bzw. der historischen Betrachtung von Sprache weitergeführt werden kann, ist doch einerseits „Employability […] zu einem zentralen Leitmotiv der Bologna-Reform […] geworden“ (Schubarth/Speck 2013: 7), aber andererseits dürfte heute mehr denn je gelten: „Ein neues, größere Studentenzahlen ansprechendes Berufsziel, für das besonders gut fundierte Altfranzösischkenntnisse unabdingbar wären, ist nicht auszumachen“ (Böckle/Lebsanft 1989: 95). Auch wenn manch neu erschienenes Lehrwerk explizit in den Kontext der modularisierten Studiengänge gestellt wird, 3 ist sicher noch nicht die Zeit, um die oben gestellte Frage abschließend beantworten zu können. Vor dem Hintergrund der Überlegung allerdings, dass universitäre Lehrwerke zum einen häufig aus den Unterrichtserfahrungen ihrer Autoren hervorgehen (und dann andernorts in entsprechenden Einführungsveranstaltungen verwendet werden) und zum anderen genauso wie Handbücher „autant des indicateurs d’un certain consensus sur la discipline que des instruments qui forgent la matière et sa tradition“ darstellen (Gleßgen 2000: 191), erscheint es uns angesichts der regen Publikationstätigkeit während der letzten gut 15 Jahre dennoch sinnvoll, (eine 2 Franz Lebsanft hat diese Entwicklung immer wieder in Leserbriefen kommentiert, vgl. FAZ vom 29.7.2002 (S. 6), 2.3.2006 (S. 8) und 4.12.2009 (S. 7). Zu den Auswirkungen dieser Reform auf die Gestalt universitärer Handbücher und Lehrwerke vgl. Loporcaro 2005, bes. 51-56. 3 Die programmatisch betitelte Reihe bachelor-wissen (vgl. dazu Reutner 2008: 148: „= Wissen eines Bachelor-Absolventen?“), in der Haase 2007/22013 und Kabatek/Pusch 2009/22011 erschienen sind, wurde vom Verlag „auf der Internetseite mit der Losung ‚Neue Studiengänge brauchen neue Lehrbücher!‘“ (Lindorfer 2008: 56) beworben; aktuell wird auf „das besondere Anforderungsprofil der neuen Studiengänge“ verwiesen, allerdings unter studienpraktischen Gesichtspunkten (semestergerechte Zusammenfassung des Stoffs in „14 didaktisch aufbereitete[n] Unterrichtseinheiten, bestehend aus jeweils einem Grundlagen- und einem Anwendungsteil“ (www.narr.de/bachelor-wissen, 28.8.2014)). Auf die besonderen Anforderungen der modularisierten Studiengänge verweist auch Michel 2011: VI; vgl. ferner die in Anm. 4 genannten Vorworte. Lebsanft 2013: 254 weist noch auf einen anderen, in seiner Relevanz auf beiden Seiten des Katheders sicher nicht zu unterschätzenden Aspekt hin: „[J]üngeren Dozenten, die in diesen Zeiten [d.h. in Zeiten „Powerpoint-geprägte[n] Unterricht[s], Stichwort ‚Aristoteles – mit Bild‘“] ihre Grundkurse erstmals halten, wird wohl eher [als Dietrich/Noll 62012] das Werk von Kabatek/Pusch [22011] den Weg in die moderne Sprachwissenschaft weisen“; vgl. auch die typographische Umgestaltung bei Stein 32010 gegenüber 22005.

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Zwischen-)Bilanz zu ziehen und an die aktuellen romanistischen Einführungsbücher in bewährter Weise heranzutreten: Nun sag, wie hast du’s mit der historischen Betrachtung von Sprache? Nach einer kurzen Vorstellung unseres „Korpus“ und einigen Präzisierungen zur Fragestellung (2.) wenden wir uns der Analyse der verschiedenen Werke anhand ausgewählter Parameter zu (3.), deren Ergebnisse wir – nach einem kurzen Exkurs zu Erwartungshaltungen (4.) – abschließend nochmals kurz zusammenfassen (5.).

2. Korpus und Fragestellung Die empirische Grundlage unserer Analyse bilden insgesamt 16 Einführungswerke (vgl. Tabelle 1), deren erstes Erscheinen teilweise zwar bis Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre zurückreicht, die aber – wie z.T. die entsprechend aktualisierten und/oder ergänzten Neuauflagen ausdrücklich zeigen – weiterhin Verwendung finden. 4

4 Vgl. etwa Dietrich/Noll 62012: 5 (sowie analog Geckeler/Dietrich 52012: 5): „Diese ‚Einführung in die spanische Sprachwissenschaft‘ ist gedacht als eine Einführung […] vor allem in einem Bachelor-Studiengang“ (kursiv L.F./A.G.). Analoges gilt für Stein 32010 (vgl. IX). Unberücksichtigt bleibt Wilhelm Pötters’ und Annegret Alsdorf-Bollées Sprachwissenschaftlicher Grundkurs Französisch (Tübingen: Narr (Tübinger Beiträge zur Linguistik 19)), dessen letzte „völlig neubearbeitete Auflage“ 1983 erschienen und zuletzt 1995 nochmal unverändert aufgelegt worden war. Nicht einbezogen haben wir ferner die folgenden Werke, da sie sich primär als Einführungen in die sprachwissenschaftliche Terminologie anhand entsprechender Beispiele verstehen (vgl. jeweils das „Vorwort“): Kattenbusch, Dieter (1999): Grundlagen der italienischen Sprachwissenschaft. Regensburg: Haus des Buches (Basiswissen Sprachwissenschaft 1); Kattenbusch, Dieter (2000): Grundlagen der französischen Sprachwissenschaft. Regensburg: Haus des Buches (Basiswissen Sprachwissenschaft 2); Cichon, Peter (2003): Grundlagen der spanischen Sprachwissenschaft. Regensburg: Haus des Buches (Basiswissen Sprachwissenschaft 3).

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Sprache(n)

rom.

port.

span.

franz.

ital.

Autor(en) Pöckl/Rainer (/Pöll) Gabriel/Meisenburg Platz-Schliebs et al. Endruschat/ Schmidt-Radefeldt Dietrich/Geckeler bzw. Dietrich/Noll Wesch Pomino/Zepp 6 Kabatek/Pusch Becker

Erscheinungsjahr/Auflage(n)5 1990/52013 2007/22014

Einf. in die rom. Sprachwiss. Rom. Sprachwiss.

2012

Einf. in die rom. Sprachwiss. Franz., Ital., Span.

2006/32014

Einf. in die port. Sprachwiss.

1990/62012 2001 2004/22008 2009/22011 2013

Geckeler/Dietrich

1995/52012

Gaudino Fallegger Stein

1998 1998/42014

Sokol

2001/22007

Geckeler/ Kattenbusch Haase Michel

(Unter)Titel

1987/21992 2007/22013 2011

Einf. in die span. Sprachwiss. Ein Lehr- und Arbeitsbuch Grundkurs Sprachwiss. Span. Hispanistik Span. Sprachwiss. Eine Einf. Einf. in die span. Sprachwiss. Einf. in die franz. Sprachwiss. Ein Lehr- und Arbeitsbuch Grundkurs Sprachwiss. Franz. Einf. in die franz. Sprachwiss. Franz. Sprachwiss. Ein Arbeitsbuch mit thematischem Reader Einf. in die ital. Sprachwiss. Ital. Sprachwiss. Eine Einf. Einf. in die ital. Sprachwiss.

Tabelle 1: Korpus der ausgewerteten Einführungswerke

Aus Gründen der Übersichtlichkeit, aber auch mit Blick auf die Gepflogenheiten romanistischer Forschung und Lehre an deutsch(sprachig)en Universitäten 7 sowie angesichts der Erfahrung, dass Studierende – zumal zu Beginn ihres Studiums – eher zu Texten in ihrer Muttersprache greifen, haben wir uns auf (originär) deutschsprachige Einführungen in die romanistische bzw. entsprechend einzelsprachbezogene Sprachwissenschaft konzentriert. 8 5 Wir geben hier jeweils das Jahr der ersten sowie das der aktuellsten Auflage an; soweit (noch) andere Auflagen herangezogen werden, ist dies entsprechend im Text ausgewiesen. 6 Hier interessiert natürlich lediglich der sprachwissenschaftliche Teil des Buches (22008: 11-192). 7 Vgl. etwa Pedersen 1997: 170: „Un ouvrage de ce caractère [Geckeler/Dietrich 1995] doit être évalué en fonction des systèmes universitaires que les auteurs envisagent de servir“. Auf unterschiedliche Schwerpunktsetzungen auch an deutschen Universitäten lässt gleichwohl die Bemerkung schließen, „dass die vom Autor [Stein 32010] gewählte Einteilung, die […] aus seinen Grundkursen und den lokalen Gegebenheiten in Stuttgart erwachsen ist, nicht ohne Weiteres für romanische Einführungen an anderen Universitäten verwendbar ist“ (Schmitz 2012: 218). 8 Ausgeschlossen bleibt damit die Einführung von Roggenbuck/Ballero 2010, die sich aber auch programmatisch auf die (moderne) Synchronie beschränkt; ebenfalls unberücksichtigt bleibt die wenig bekannte Einführung in die Linguistik: Spanisch von Ursula Klenk (2008), die sich als

Historische romanische Sprachwissenschaft zwischen Tradition und Employability

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Obwohl die meisten der in Tabelle 1 genannten Werke die „Einführung“ im (Unter)Titel tragen, erlaubt dies noch keine inhaltliche Abgrenzung etwa von Handbüchern, Studienführern usw. 9 und auch die in Gaudino Fallegger/Winkelmann (2001: 985) mit Bezug auf Handbücher angeführten Bestimmungskriterien dürften zumindest teilweise ebenso auf die oben genannten Werke zutreffen (Gegenstandsbereich/Aufgabenstellungen, Methoden) bzw. könnten nur im Rahmen einer negativen Bestimmung herangezogen werden; überdies scheint es auch im Bibliothekswesen keine etablierte Kategorie ‚Einführung‘ zu geben, unsere Untersuchungsobjekte entsprechen vielmehr dem ‚Lehrwerk‘: Ein Lehrbuch unterrichtet über den gesicherten Erkenntnisstand eines im Titel bezeichneten Stoffkreises in meist verständlicher Form. Es ist ein Hilfsmittel für Unterricht und Lehre an höheren Lehranstalten und Hochschulen, aber auch für den Selbstunterricht. (Strauch/Rehm 22007: 275) 10

Dieser Bestimmung entspricht ferner auch das Selbstverständnis der jeweiligen Werke, wie es regelmäßig in den Vorworten zum Ausdruck gebracht wird und das wir insoweit ebenfalls als Kriterium herangezogen haben: 11 Als Verwendungskontext wird dort meist die Einführungsveranstaltung für Erstsemester anvisiert 12 (was die – häufig ebenso explizit genannte – Verwendung im weiteren Studienverlauf natürlich nicht ausschließt). „Einführung in die Linguistik unter besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Strukturen des modernen Spanischen“ (3) versteht. Nicht einbezogen werden kann der Bereich der rumänistischen Sprachwissenschaft, für den es unseres Wissens derzeit kein vergleichbares Werk gibt. Nicht betrachtet haben wir ferner sprachwissenschaftliche Darstellungen romanischer Sprachen wie des Rätoromanischen, des Katalanischen, oder des Sardischen (die im deutschen Sprachraum i.d.R. auch nicht als Studienfächer existieren). 9 Zur Frage der Abgrenzung vgl. auch Gaudino Fallegger/Winkelmann 2001: 985. Gleßgen 2000: 196 verzichtet weitgehend auf eine terminologische Differenzierung zwischen „Handbuch“ und „Einführung“. 10 Ein Handbuch wird demgegenüber bestimmt als „Nachschlagewerk, welches den Stoff eines bestimmten Gegenstandsbereichs systematisch und zusammenhängend auf breiter fachlicher Grundlage darstellt, die eine umfassende Orientierung gewährleistet. Durch Berücksichtigung von Geschichte, Theorien und Hypothesen bringt es den Fortschritt des behandelten Wissensbereiches zur Geltung; die zahlreichen Literaturangaben in ihm verhelfen zum anschließenden Spezialstudium“ (Strauch/Rehm 22007: 206). 11 Es überrascht insoweit etwas, dass Gleßgen 2000: 194 auch Pöckl/Rainer 1990 als Handbuch auffasst, obwohl es bis hin zur aktuellen Auflage Pöckl/Rainer/Pöll 52013 ausdrücklich nach „Unterrichtseinheiten“ strukturiert ist. 12 Ob diese dann tatsächlich einen hinreichenden zeitlichen Rahmen für die Bewältigung des jeweils dargebotenen Stoffes bereitstellt, ist ebenso eine andere Frage (vgl. etwa Eggert 2010 zu Kabatek/Pusch 2009) wie diejenige (und genauso oft in Rezensionen aufgeworfene) nach der erforderlichen Breite des im Buch behandelten Stoffs (vgl. etwa Reutner 2008 zu Haase 2007) – aber gilt nicht eigentlich immer „hominem unius libri timeo“?

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Auf der Grundlage dieser Auswahlkriterien ergibt sich insgesamt (mit Ausnahme des Portugiesischen) eine vergleichsweise homogene Anzahl von durchschnittlich vier Lehrwerken, die wir auf die Präsenz von Sprachhistorischem hin analysieren wollen – womit der Rahmen zunächst bewusst weit gesteckt ist: Er schließt die Darstellung interner wie externer Sprachgeschichte ebenso ein wie die isolierte Beschreibung einer einzelnen älteren Sprachstufe oder einer bestimmten Epoche. 13

3. Analyse Unter Verweis auf die bereits angesprochene Historizität alles Sprachlichen heben einige Autoren die zentrale Rolle der Sprachgeschichte bereits im Vorwort besonders hervor: [W]ir [sind] der Auffassung [...], dass sich das wissenschaftliche Studium einer Sprache nicht auf die Aspekte der heutigen Sprache beschränken darf, sondern den Sprachwandel als Grundbedingung allen sprachlichen Funktionierens mit bedenken muss und die Einbettung aller menschlichen Tätigkeiten in die Geschichte eine Grunderkenntnis der Geisteswissenschaften ist. (Dietrich/Noll 62012: 6; vgl. analog Geckeler/Dietrich 52012: 5-6) 14

Kabatek/Pusch (22011: 242) verweisen nicht nur auf diesen Aspekt sowie darauf, dass „die sprachhistorischen Eckdaten zu den Grundlagen eines B.A.- oder Lehramtsstudiums des Spanischen [gehören]“, sondern begründen die aus ihrer Sicht zentrale Rolle der Sprachgeschichte auch wissenschaftspraktisch bzw. historisch: Man könne sich fragen, ob die Sprachgeschichte überhaupt zur Einführung in die Sprachwissenschaft gehört. [...] Viele Einführungen in die Linguistik beschränken sich auf die Darstellung des synchronen Funktionierens der Sprache. Im Bereich der Romanistik hingegen ist die Berücksichtigung der Sprachgeschichte relativ üblich, zumal die Romanistik mit dem Latein als

13 Aus heutiger Perspektive erscheint ein solcher Rahmen vertretbar (zu wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten vgl. Berschin 2003). Zum Verhältnis von interner und externer Sprachgeschichte sei hier auf Berschin 2009: 73 verwiesen: „‚Interne‘ und ‚externe Geschichte‘ sind Ordnungsbegriffe, denen verschiedene Datensätze zugrundeliegen, die dann, in einem zweiten Schritt, möglichst aufeinander bezogen werden. Allerdings ist dieser Bezug nicht immer möglich – ein grammatischer Strukturwandel im Tempussystem lässt sich kaum mit der Ereignisgeschichte verbinden“ (vgl. auch Berschin 2001: 628); ein differenzierteres Modell wird in Blumenthal 2003 vorgeschlagen. 14 Diese explizite Darstellung lässt auf einen gestiegenen Begründungsdruck schließen, denn im Vorwort zur ersten Auflage der beiden Werke ist nur die Rede von „unserer Überzeugung, daß sowohl das Studium der Synchronie als auch das der Diachronie unabdingbar zu einer sprachwissenschaftlichen Ausbildung gehören“ (Dietrich/Geckeler 32000: 5; vgl. analog Geckeler/Dietrich 32003: 5).

Historische romanische Sprachwissenschaft zwischen Tradition und Employability

115

hervorragend dokumentierter Grundlage der heutigen Sprachen hier eine besonders privilegierte Position einnimmt. (22011: 242)

Es ist insoweit vielleicht wenig überraschend, dass keines der untersuchten Lehrwerke ganz auf die Darstellung sprachgeschichtlicher Aspekte verzichtet: 15 Alle Einführungen widmen dem Thema zumindest einen Abschnitt, sie unterscheiden sich allerdings beträchtlich im Hinblick auf Umfang (3.1.), Struktur (3.2.), Position (3.3.) und Inhalt (3.4.). 3.1. Umfang

Der Anteil der Kapitel zur Sprachgeschichte am Gesamtumfang der jeweiligen Einführung weist z.T. erhebliche Unterschiede auf: Während die sprachhistorischen Ausführungen in Gabriel/Meisenburg (22014), Platz-Schliebs et al. (2012), Sokol (22007) und Haase (22013) nur zwischen 5% und 7% des Gesamtumfangs betragen, beläuft sich deren Anteil in Dietrich/Noll (62012), Geckeler/Dietrich (52012) und Geckeler/Kattenbusch (21992) immerhin auf ein Drittel des jeweiligen Bandes; die übrigen Lehrwerke nehmen mit einem Gesamtanteil von 10% bis 20% eine mittlere Position ein. 16 Insgesamt zeichnet sich quantitativ also eine deutliche Reduktion ab. 3.2. Struktur

In einigen Einführungen wird die prominente Rolle der Sprachgeschichte bereits bei einem Blick in das Inhaltsverzeichnis offenbar, etwa bei Dietrich/Noll (62012), Geckeler/Dietrich (52012) und Geckeler/Kattenbusch (21992): Hier werden sprachgeschichtliche Fragestellungen im Rahmen von außerordentlich umfangreichen Kapiteln behandelt („Etappen der spanischen [bzw. italienischen] Sprachgeschichte“, „Etappen der Geschichte der französischen Sprache“), die z.T. bis zu zwölf (!) Unterabschnitte umfassen; darüber hinaus finden sich der internen Sprachgeschichte gewidmete Abschnitte auch in Kapiteln zu systemlinguistischen Fragestellungen. 17 Zwei eigene Kapitel zur Sprachgeschichte enthält auch die Einführung von Kabatek/Pusch (22011), „Von der Romanisierung der Iberischen Halbinsel bis zum Spanischen des Mittelalters“ (Kap. 12) und „Vom Siglo de Oro bis zum Gegenwartsspanischen“ (Kap. 15 Vgl. aber die in Anm. 8 genannten Einführungen von Roggenbruck/Ballero 2010 und Klenk 2008. 16 Vgl. dazu auch weiter unten, 4. 17 Vgl. z.B. Geckeler/Dietrich 52012, Kap. 5.4.2 („Zur diachronen französischen Wortbildungslehre“) oder Dietrich/Noll 62012, Kap. 1.5 („Diachrone spanische Phonologie und Phonetik“).

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13). Ähnlich strukturiert ist u.a. Stein (42014), dessen siebtes Kapitel mit „Sprachgeschichte und diachrone Linguistik“ überschrieben ist, in dem sprachhistorische Fakten aber auch andernorts, etwa im Zusammenhang mit Wortschatz („8.1 Historische Aspekte des Wortschatzes“) oder Varietäten („9.2.1 Die Herausbildung der dialektalen Gliederung“), dargestellt werden. Während insgesamt etwa die Hälfte der untersuchten Publikationen der Sprachgeschichte ein eigenes Kapitel widmet, behandelt die andere Hälfte das Thema lediglich in einem Unterabschnitt. In Gabriel/Meisenburg (22014) endet das Kapitel „Sprachen als Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung: Die Romania“ mit einem Abschnitt „[z]ur Herausbildung der romanischen Sprachen“, in dem sprachgeschichtliche Entwicklungen im Verbund mit den Themen „Sprachkontakt“ und „Sprachvariation“ behandelt werden. Ähnlich handhabt dies Sokol (22007), wo unter der Überschrift „Das Französische in Geschichte und Gegenwart“ (Kap. 8) zunächst eine varietätenlinguistische Perspektivierung erfolgt (Kap. 8.1), dann zwei sprachhistorische Abschnitte folgen („8.2 Die Ausgliederung der romanischen Sprachen aus dem Latein", "8.3 Französische Sprachgeschichte“) und schließlich „[d]as Französische heute“ thematisiert wird (Kap. 8.4). Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich in PlatzSchliebs et al. (2012), deren Kap. 4 zu „Die Romania: ihre Sprachen und Varietäten“ in drei Unterabschnitten (4.2-4.4) Sprachhistorisches thematisiert. Die gesamtromanische Einführung von Pöckl/Rainer/Pöll (52013) behandelt sprachgeschichtliche Aspekte jeweils als einleitenden Abschnitt, insbesondere dann im Zusammenhang mit der Vorstellung der einzelnen romanischen Sprachen, allerdings gehen die Autoren nicht in allen „Sprachskizzen“ auf diachrone Entwicklungen ein. 18 Insgesamt zeigt sich also gerade bei neueren Werken eine gewisse Umorientierung im Sinne einer Integration der Sprachgeschichte in den Zusammenhang variationslinguistischer Fragestellungen. 3.3. Position

Soweit der Sprachgeschichte ein eigenes Kapitel gewidmet ist, folgt es meist den sprachstrukturbezogenen Kapiteln bzw. bildet den Abschluss, wobei für diese Position u.a. die Tatsache maßgeblich zu sein scheint, dass so der Rückgriff auf zuvor bereits eingeführte Begriffe und Termini möglich ist bzw. erleichtert wird. 19 18 Etwa im Fall des Italienischen oder des Rätoromanischen. 19 Vgl. etwa Platz-Schliebs et al. 2012: 11; zur dortigen Position der sprachhistorischen Ausführungen vgl. allerdings weiter unten.

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Einige Einführungen hingegen behandeln Sprachgeschichte gleich zu Beginn, wobei sich verschiedene Motivationslinien unterscheiden lassen dürften. So schreiten Gaudino Fallegger (1998) und Haase (22013) ausdrücklich im Sinne einer „deszendente[n Stoffgliederung]“ (1998: 6) „von größeren Untersuchungseinheiten (Text) zu kleineren (Laut) fort“ (22013: 9-10) und stellen (zumindest teilweise) die nicht sprachstrukturbezogenen Abschnitte an den Anfang. Ähnlich sind auch bei Pöckl/Rainer/Pöll (52013) die Abschnitte 1.3 („Ausgliederung der romanischen Sprachen“), 2.2 („Sprachwandel“) und 2.3 („Die Herausbildung romanischer Kultursprachen“) Bestandteil der ersten beiden, einleitenden „Unterrichtseinheiten“, bevor sie sich linguistischen Teilbereichen zuwenden; Analoges gilt für Endruschat/Schmidt-Radefeldt (32014). Michel (2011) hingegen weist der „moderne[n] Historiolinguistik“ einen prominenten Platz zu, die sich als Teilbereich der Sprachwissenschaft mit allen Fragen der Veränderung von Sprache [beschäftigt]. Dabei stehen jedoch nicht nur die weit zurückliegenden antiken oder mittelalterlichen Vorstufen unserer heutigen Sprachen im Blickpunkt, sondern auch der Sprachwandel der jüngeren und jüngsten Zeit, sogar der der Gegenwart. Sie untersucht dabei nicht nur den Wandel von Lauten, Formen, Strukturen und Bedeutungen, sondern auch die vergangene Wirklichkeit des Sprachgebrauchs […]. (2011: 29)

Bei Platz-Schliebs et al. (2012: 11) ist der Ort ihres „Romania-Kapitels“, das „die Entwicklung der Romania und der romanischen Sprachen und ihrer Varietäten [beschreibt]“, zwischen Morphologie (Kap. 3) und Semantik (Kap. 5) damit begründet, „dass es bereits viele eingeführte Termini voraussetzt“, doch dürfte dies nur eingeschränkt als Motivation taugen, denn tatsächlich sind für eine sinnvolle Lektüre vorrangig phonetisch-phonologische Begrifflichkeiten relevant – die aber bereits in Kap. 2 vorgestellt wurden. Insgesamt ist es daher nicht überraschend, dass dieses Kapitel hier eher als „Exkurs“ (Burdy 2014: 181) wirkt. Zusammenfassend ergibt sich also mit Blick auf die Position von Sprachhistorischem im Gesamtaufbau der jeweiligen Einführungen eine gewisse Flexibilisierung der Anordnung, die sich allerdings wesentlich als Konsequenz aus grundsätzlich(er)en Entscheidungen zur thematischen Reihung darstellt. 3.4. Inhalt

Der zweifellos interessanteste Analyseparameter dürfte natürlich der Inhalt der sprachhistorischen Kapitel bzw. Abschnitte sein, zumal hier die deutlichsten Unterschiede zwischen den verschiedenen Lehrwerken zu erwarten sind. Im Einzelnen haben wir dazu die Aspekte ‚Zeitraum‘ (3.4.1.), ‚Interne und externe

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Sprachgeschichte‘ (3.4.2.) sowie ‚Sprachwandel‘ (3.4.3.) einer genaueren Betrachtung unterzogen. 3.4.1. Zeitraum

Die meisten Einführungen decken – mehr oder weniger ausführlich – den gesamten Zeitraum von der Romanisierung bis zur Gegenwart ab. Diejenigen Lehrwerke hingegen, die sprachgeschichtlichen Aspekten insgesamt weniger Platz einräumen, setzen spezifische Schwerpunkte und konzentrieren sich auf die Darstellung ausgewählter Epochen: Gabriel/Meisenburg (22014) erläutern lediglich die Etappen bis zur Herausbildung der romanischen Sprachen, ihre Darstellung der historischen Entwicklung endet mit einer Beschreibung der jeweils ältesten Sprachstufe des Französischen, Spanischen und Italienischen; Platz-Schliebs et al. (2012) beschließen ihre Ausführungen zur Sprachgeschichte mit einer Vorstellung der jeweils ältesten Sprachzeugnisse, die dann in einen lakonischen Ausblick mündet: Von der altfranzösischen Eidesformel bis zum heutigen Französisch ist es noch ein langer Weg mit vielen sprachlichen Veränderungen auf allen linguistischen [sic!] Ebenen, den wir hier leider nicht weiter verfolgen können. (2012: 164)

Bis zum Beginn der Neuzeit reichen die entsprechenden Kapitel in Pöckl/Rainer/Pöll (52013) und Pomino/Zepp (22008), und auch die Darstellung der „Geschichte der portugiesischen Sprache“ (Kap. 2) in Endruschat/SchmidtRadefeldt (32014) endet mit einer kurzen Vorstellung der frühesten portugiesischen Sprachbeschreibungen im 17. Jh. 20 Gänzlich anders gelagert ist die Auswahl in Gaudino Fallegger (1998), wo die Darstellung überhaupt erst mit der Phase der Herausbildung des Französischen einsetzt: Sprachgeschichtliche Entwicklungen werden hier im Kapitel „Sprachpolitik, Sprachnormierung und Frankophonie“ erläutert, denn u.a. „die Sprachpolitik [konnte sich], trotz ihrer Relevanz in der postsaussurianíschen Forschung[,] bislang noch nicht als sprachwissenschaftliches Standardgrundwissen etablieren“, so dass im Grundkurs „traditionelle Themenbereiche der

20 Vgl. dazu allerdings Osthus 2009: 385 (mit Bezug auf Endruschat/Schmidt-Radefeldt 2006): „Der […] Abschnitt zur Sprachgeschichte […] endet durchaus symptomatisch für die portugiesische Sprachgeschichtsschreibung mehr oder weniger im 17. Jh.“; zum diesbezüglichen Forschungsstand vgl. den Überblick in Endruschat/Schäfer-Prieß/Schöntag 2007, insb. 15-22. Nimmt man die Ausführungen zur Orthographiegeschichte hinzu (vgl. Endruschat/Schmidt-Radefeldt 32014: 88-93), reicht der Zeitraum allerdings bis ins 20. Jh.

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französischen und generell der romanischen Sprachwissenschaft, wie Sprachgeschichte […], nur indirekte Behandlung [finden]“ (1998: 6). 21 Auch innerhalb des dargestellten sprachgeschichtlichen Zeitraums setzen die einzelnen Lehrwerke unterschiedliche Schwerpunkte, wobei sehr häufig die Phase der Herausbildung der jeweiligen Sprachen die größte Aufmerksamkeit erfährt. Eine solche Gewichtung wird bisweilen auch explizit motiviert: Dietrich/Noll (62012: 163) begründen beispielsweise ihre Konzentration auf frühe Phasen der spanischen Sprachgeschichte damit, dass sich „die tiefgreifenden Veränderungen […] gerade während der ältesten und älteren Epoche vollzogen haben“. Eine gegenläufige Schwerpunktsetzung findet sich hingegen bei Stein (42014): Hier werden die Etappen der Romanisierung und der Herausbildung des Französischen nur sehr knapp dargestellt, während Alt- und insbesondere Mittelfranzösisch besonders ausführlich erläutert werden. Die Darstellung sprachlicher Entwicklungen seit Beginn der Neuzeit hingegen ist in den meisten Lehrwerken recht knapp gehalten, bisweilen beschränkt sie sich sogar, wie z.B. in Haase (22013: 52-53), auf eine skizzenhafte Periodisierung. 3.4.2. Interne und externe Sprachgeschichte

Von besonderem Interesse auf inhaltlicher Ebene ist natürlich die Frage nach der Präsenz (und der Gewichtung) von interner bzw. externer Sprachgeschichte: Abgesehen von Gaudino Fallegger (1998), wo Sprachgeschichtliches ausschließlich in der Perspektive von Sprachpolitik und Sprachnormierung erscheint (vgl. oben, 3.4.1.), stellen alle untersuchten Lehrwerke Aspekte sowohl der internen als auch der externen Sprachgeschichte dar, wobei mit Ausnahme derjenigen Einführungen, die nur eine knappe Übersicht über die Sprachgeschichte bieten, das Begriffspaar auch explizit eingeführt wird. 22 Dietrich/Noll (62012), Geckeler/Dietrich (52012) und Geckeler/Kattenbusch 2 ( 1992) tragen der Unterscheidung zwischen beiden Perspektiven bereits im Aufbau Rechnung: Während sich die jeweils mit „Sprachgeschichte“ betitelten Kapitel ausschließlich mit externer Sprachgeschichte befassen, finden sich Erläuterungen zur historischen Phonetik/Phonologie, Syntax oder Wortbildung in Unterabschnitten der entsprechenden systemlinguistischen Kapitel. In der Einleitung zum sprachgeschichtlichen Kapitel differenzieren die Autoren 21 Die Sprachgeschichte werde „im Übrigen durch d[en] in derselben Reihe erscheinenden Titel Französische Sprachgeschichte […] abgedeckt“ (1998: 6); vgl. dazu auch weiter unten, 4. 22 Dazu gehören v.a. Gabriel/Meisenburg 22014, Platz-Schliebs et al. 2012, Pöckl/Rainer/Pöll 52013, Sokol 22007 und Haase 22013. Kabatek/Pusch 22011 sprechen zwar bisweilen von „internen und externen Entwicklungen des Spanischen“ (vgl. 22011: 241), führen die beiden Begriffe aber nicht explizit ein.

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deshalb begrifflich-terminologisch zwischen „Sprachgeschichte“, „historischer Grammatik“ und „historischer Lexikologie“: Sprachgeschichte wird hier primär verstanden als ‚externe Geschichte‘ der spanischen Sprache in Abhebung gegenüber der historischen Grammatik im weitesten Sinne (Phonetik/Phonologie, Morphologie, Syntax) und der historischen Lexikologie (Wortbildung und Lexikon) als der ‚internen Geschichte‘ dieser Sprache. (Dietrich/Noll 62012: 163)

Auch wenn die meisten Einführungen sowohl die interne als auch die externe Perspektive berücksichtigen, erfahren beide Sichtweisen nicht immer die gleiche Aufmerksamkeit – der Schwerpunkt der Darstellung liegt häufig auf der externen Perspektive, Charakteristika der internen Sprachgeschichte muss sich der Leser im Extremfall selbst erschließen. 23 Insofern eine Ausnahme hinsichtlich der Gewichtung von interner und externer Sprachgeschichte bilden allerdings Pomino/Zepp (22008), als hier der internen Sprachgeschichte beinahe dreimal so viel Raum gewidmet wird wie der externen. Welcher der beiden Perspektiven mehr Gewicht zukommt, hängt bisweilen aber auch von der Epoche ab: So berücksichtigen insbesondere Sokol (22007), Haase (22013) und Michel (2011) ab dem Beginn der Neuzeit fast ausschließlich die externe Perspektive. Schließlich setzen die verschiedenen Lehrwerke auch innerhalb der beiden Perspektiven unterschiedliche Schwerpunkte: Pomino/Zepp (22008) beispielsweise konzentrieren sich „schwerpunktmäßig auf den Lautwandel“ (22008: 151) und stellen morphosyntaktischen wie semantischen Wandel entsprechend knapper dar. 3.4.3. Sprachwandel

Wenngleich es einen deutlichen quantitativen Unterschied zwischen den „Klassikern“ Dietrich/Noll (62012), Geckeler/Dietrich (52012) und Geckeler/Kattenbusch (21992) und jüngeren Einführungswerken gibt (vgl. oben, 3.1.), beschränken sich letztere häufig nicht auf eine rein deskriptive Darstellung sprachgeschichtlicher Entwicklungen, 24 sondern liefern auch Einblicke in Ursachen und Mechanismen von Sprachwandel, berücksichtigen also geänderte 23 Vgl. insbesondere Platz-Schliebs et al. 2012, die sich auf Zitate aus den Straßburger Eiden (164), den Placiti campani (166), der Nodicia de Kesos (170, mit aus Wikipedia übernommener Teilübersetzung) sowie den Glosas emilianenses (171) beschränken; als sprachinterne Phänomene konkrete Erwähnung finden dort lediglich die galloromanische „Palatalisierung von [ga] und [ca]“ (163), das Wanderwort giardino (166), „das gotische Suffix -ingo > -engo“ (167), die westgotischen Entlehnungen espía und ganar (167) sowie ein knappes Dutzend spanische Arabismen (169). 24 Ausgenommen sind hier u.a. Kabatek/Pusch 22011, Sokol 22007 sowie Haase 22013.

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Forschungsinteressen bzw. mittlerweile als Stoff eines einführenden Lehrwerks kanonisierte Forschungsbereiche: Hatte Frank-Job (2001: 96) bei Stein (1998) „[i]m Kapitel zur Sprachgeschichte […] eine Zusammenfassung der aktuellen Theorien zum Sprachwandel [vermisst]“, wurde diese „Lücke“ in den folgenden Auflagen in Form eines eigenen Unterabschnitts sukzessive geschlossen. 25 Eine entsprechend explizi(er)te Position erhält dieser Themenkomplex auch bei Platz-Schliebs et al. (2012, Kap. 4.4), Pöckl/Rainer/Pöll (52013, Kap. 2.2) 26, Wesch (2001, Kap. 9.2) und Michel (2011, Kap. 2.3), während in Becker (2013) und Pomino/Zepp (22008) ausgewählte Sprachwandelprozesse im Kontext etwa der historischen Morphologie (vgl. Becker 2013: 209-211) oder von Bedeutungswandel (vgl. Pomino/Zepp 22008: 178f.) behandelt werden; in Endruschat/Schmidt-Radefeldt (32014: 233-235) wird Sprachwandel im Zusammenhang mit Sprachkontakt im Rahmen der Entstehung des brasilianischen Portugiesisch angesprochen. Auf inhaltlicher Ebene ergibt sich ein eher heterogenes Bild: Während beinahe alle relevanten Lehrwerke – wenngleich in sehr unterschiedlichem Umfang – auf Ursachen und Mechanismen von Sprachwandel eingehen, stellen nur einige davon auch Sprachwandeltheorien vor. 27 Dass Sprachwandel i.d.R. in mehreren Etappen erfolgt, wird nur in Wesch (2001) und Pöckl/Rainer/Pöll (52013) angesprochen. Sprachkontaktphänomene als Ursachen für Sprachwandel schließlich behandeln, neben Endruschat/Schmidt-Radefeldt (vgl. oben), lediglich Michel (2011) und Platz-Schliebs et al. (2012), wobei letztere sich konzentrieren auf Sprachwandel durch Sprachkontakt am Beispiel von Kreolsprachen, während die anderen Einführungen letzteren Aspekt im Zusammenhang mit der Herausbildung der romanischen Sprachen thematisieren.

4. Erwartungshaltungen Zu vielen der hier untersuchten Einführungswerke finden sich auf den Webseiten der jeweiligen Verlage bzw. großer Versandhändler „Kundenrezensionen“, aber aus unserer Perspektive relevanter sind natürlich Einschätzungen der addetti ai lavori, von denen wir hier eine kleine Auswahl vorstellen: Die Einführung von Platz-Schliebs et al. (2012) hat den Eindruck erweckt, dass außerhalb des Abschnitts zur Sprachgeschichte „jegliche historischen

25 Vgl. Stein 22005, Kap. 7.2 bzw. 32010/42014, Kap. 7.1. 26 Vgl. aber auch schon das ausdrücklich mit „Sprachwandel“ überschriebene Kap. 4.2 bei Pöckl/ Rainer 1990. 27 Während sich Platz-Schliebs et al. 2012, Stein 42014 und Wesch 2001 auf jeweils eine Theorie beschränken, stellt Michel 2011 gleich drei vor.

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Aspekte der romanistischen Linguistik konsequent aus[gespart]“ werden (Burdy 2014: 179). Während Holtus (2001: 546) den Verweis bei Gaudino Fallegger (1998) auf eine spezifische Publikation zur Sprachgeschichte 28 als Begründung für den weitgehenden Verzicht auf deren Behandlung für „weniger überzeug[end]“ hält, ist umgekehrt für Rojas Pichardo/Schütz (2006: 551) das Kapitel zur Sprachgeschichte bei Pomino/Zepp (2004) „absolutamente prescindible si se tiene en cuenta que el tema exige una introducción propia“ – und es noch dazu eine solche gebe. Schmitz (2012: 215) merkt zu Stein (32010) an, dass „nur 96 Seiten […] auf denjenigen Stoff [entfallen], der für eine linguistische Einführungsveranstaltung im engeren Sinn gedacht ist, auf der zumeist das ganze weitere französische Linguistikstudium aufbaut“, während – nebst 88 Seiten zu anderen Bereichen – „in der Vertiefung für Sprachgeschichte bzw. diachrone Linguistik 27 Seiten“ zur Verfügung stünden; der Schwerpunkt liege also insgesamt „im historischphilologischen Bereich“ (Schmitz 2012: 218). Für Calderón/Ebenhoch (2007: 140) schließlich liegt bei der Darstellung der internen Sprachgeschichte in Pomino/Zepp (2004) eine sehr starke Gewichtung auf zeitlich weit zurück liegenden Beispielen […]. Zumindest ein paar Anglizismen […] sollten in einer Hispanistik-Einführung in einem [sic!] Sprachgeschichte-Kapitel Eingang finden.

Die Einschätzungen betreffen also zum einen die zeitliche Dimension des zu Behandelnden, zum anderen aber Grundsätzlich(er)es: die Frage nach den kanonischen Bereichen eines Einführungsbuches, diejenige nach dem curricularen Ort von Sprachhistorischem und schließlich diejenige nach den Kernbereichen eines Romanistik-Studiums. Ob man sich diesen Einschätzungen anschließen mag oder nicht, ipso facto bemerkenswert dürften sie allemal sein.

5. Zusammenfassung Der Gang der Wissenschaftsgeschichte hat es mit sich gebracht, dass MeyerLübkes eingangs zitierte Aufgabenbeschreibung der romanistischen Sprachwissenschaft in ihrer „Radikalität“ (schon seit einiger Zeit) nicht mehr zutrifft. Insoweit ist es natürlich nur angemessen, dass dieser Entwicklung auch einführende Lehrwerke Rechnung tragen und der sprachhistorische ein Themenbereich unter anderen geworden ist. In der Zusammenschau der hier untersuchten Einführungen nun ergibt sich mit Blick auf die eingangs formulierte Frage 28 Vgl. oben, Anm. 21.

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ein differenziertes Bild: Keines der untersuchten Werke verzichtet ganz auf Sprachhistorisches, insbesondere nicht auf die externe Sprachgeschichte, bei der es ggf. zu einer Konzentration auf bestimmte Epochen kommt; die interne Sprachgeschichte erfährt insgesamt tendenziell weniger Aufmerksamkeit, wird dafür aber in neuere methodische Kontexte eingebettet. Als ein Bereich, der erst in jüngerer Zeit in den Kanon sprachwissenschaftlichen Grundlagenwissens Einzug gehalten hat, stellt sich die Behandlung des Themenkomplexes ‚Sprachwandel‘ allerdings quantitativ wie qualitativ noch eher heterogen dar. Die – je nach Einführung freilich unterschiedliche – Reduktion von Sprachhistorischem muss allerdings, so scheint uns, im Zusammenhang mit zwei parallelen Tendenzen gesehen werden: zum einen mit einer Renaissance des Anspruchs einer gesamtromanistischen Perspektivierung und zum anderen mit der ausführlichen Behandlung von Sprachgeschichte in eigenständigen Publikationen, so dass sich eine gewisse Parallele zu anderen Phänomenbereichen (Phonetik/Phonologie, Morphologie, Semantik/Lexikologie usw.) abzeichnet. 29 Dass unterschiedliche Facetten des Untersuchungsgegenstands ‚historische Einzelsprache‘ in entsprechend unterschiedlichen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen untersucht werden, 30 ist natürlich nur logisch, aber umgekehrt kann auch die Rede von einer „moderne[n] Historiolinguistik […] als Teilbereich der Sprachwissenschaft“ bzw. von einer „historiolinguistischen Darstellungsebene“ (Michel 2011: 29) Studierenden schnell den Blick dafür verstellen, dass der fundamental historische Charakter von Einzelsprachen (Objektebene) klar zu unterscheiden ist von der Wahl einer bestimmten Betrachtungsweise (methodische Ebene). Grundsätzlich wird die Antwort auf die Frage, welche Relevanz man der Historizität von Sprache in der Darstellung linguistischer Grundbegriffe zuerkennen will, nicht zuletzt davon abhängen, welchen theoretisch-methodischen Vorgaben man sich selbst verpflichtet fühlt und welches Erkenntnisinteresse man wecken will. Immer zu bedenken ist dabei, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse erst in der Folge solcher Vorentscheidungen und damit in je spezifischer Weise konstituieren, und man muss sich im Klaren sein, dass man je nach Wahl der Perspektive einem noch – im positiven Sinne – naiven Zielpublikum bestimmte Aspekte von Sprache dadurch näherbringt und andere in den Hintergrund rückt. 31 Vielleicht muss gerade heute „die Einbettung aller 29 Vgl. etwa Kaiser 2014 mit besonderer Berücksichtigung der internen Sprachgeschichte (gesamtromanisch; mit explizitem Verweis auf Gabriel/Meisenburg 2007/22014, vgl. Kaiser 2014: 7), Bollée/Neumann-Holzschuh 2003 (Spanisch; vgl. dazu Lebsanft 2005b), Reutner/Schwarze 2011 (Italienisch) und Klare 1998 bzw. 32011 (Französisch). 30 Dass die beiden Ebenen nicht einfach korrelieren, zeigt ja schon die gerne verwendete Metapher des ‚Interface‘ (Syntax-Semantik-Interface, Semantik-Pragmatik-Interface usw.). 31 Vgl. etwa das in Anm. 8 zu Roggenbuck/Ballero 2010 und Klenk 2008 Gesagte.

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menschlichen Tätigkeiten in Geschichte“ als „Grunderkenntnis der Geisteswissenschaften“ (Dietrich/Noll 62012: 6) ebenso wieder explizit(er) ins Bewusstsein gerufen werden wie die wissenschaftshistorische bzw. -praktische (Wohl)Begründetheit der Rolle der Sprachgeschichte insbesondere in der Romanistik, zumal bei der großen Mehrzahl der heutigen Studienanfänger Lateinkenntnisse überdies die Ausnahme darstellen. 32 Eine solche Sensibilisierung 33 dürfte zielführender sein als die Sirenenklänge einer diffusen Employability und so auch dazu beitragen, „dass Studierende zu mündigen und selbstbewussten Subjekten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung heranreifen können“ (Lebsanft 2014: 78). Die methodisch explizit reflektierte Darstellung von Sprachhistorischem bereits in sprachwissenschaftlichen Einführungswerken kann als Konkretisierung solcher Zusammenhänge hier einen wichtigen Beitrag leisten.

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32 Zur besonderen Situation der Romanistik vgl. Kabatek/Pusch 22011: 242. Zum Problem der Lateinkenntnisse vgl. schon Pöckl/Rainer 1990: 1 (ebenso wie Pöckl/Rainer/Pöll 52013: 2) und Lebsanft 2005a: 204 sowie, ganz praktisch, der Artikel „Lehramt ohne Latinum?“ von Heike Schmoll in der FAZ vom 22.8.2014, S. 8. 33 Diese Zielsetzung dürfte in den einleitenden Kapiteln bei Kaiser 2014: 14-56 vorliegen.

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Alf Monjour Lingüística histórica aplicada. Toledo, Isabel, Águila Roja y el problema de la lengua en la ficción televisiva española de corte seudohistórico

1. El problema A 30 kilómetros de Madrid es posible viajar en el tiempo. Media hora de carretera para encontrarse con el siglo XV. Entre los pasadizos fríos y oscuros de la corte de los Reyes Católicos huele a madera, a la cera derretida de las velas, y se escucha el crujir de los vestidos de época medieval mientras Isabel y Fernando hablan en castellano antiguo (Sans 2013: sin pág.).

Aunque la periodista intente despertar con mucho entusiasmo el interés del público por una nueva temporada de la serie televisiva Isabel, de entrada nos permitimos rectificar y constatar que no, ¡que en la serie Isabel y Fernando no hablan en ‘castellano antiguo’! Sin embargo, su manera de hablar el español del siglo XXI no carece de interés. El papel que desempeña la lengua en la ficción histórica es o podría ser comparable con el de los otros elementos de decoración y de ambientación; en la preparación de Isabel, el equipo cuenta con dos historiadores que trabajan con guionistas, vestuario y decorados. Uno más dedicado a la historia, y el otro, a las tradiciones de la época. Además colaboran desde la segunda temporada con la Real Academia Española para el lenguaje (Sans 2013: sin pág.).

No ha sido posible verificar como se presenta esta colaboración con la Real Academia. 1 De todas formas este tipo de colaboración es la excepción; la regla es que se dedica más atención a los elementos más palpables para el gran público. 1 En la preparación de otras series históricas, sí colaboraron académicos famosos: Camilo José Cela en Cervantes, Carmen Martín Gaite y Víctor García de la Concha en Teresa de Jesús; cf. Fra Molinero 2009: 249, 254.

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La prensa suele destacar, como criterio de calidad de la ficción histórica, el afán de autenticidad de las productoras: “La productora ha querido recrear con fidelidad la arquitectura y vestimentas de la época”, se anuncia antes del estreno de Toledo que cuenta las intrigas palaciegas, el sexo y los crímenes, todo en una perspectiva intercultural e interreligiosa políticamente correcta, en la corte de Alfonso el Sabio. “Las espadas que empuñan los personajes las ha fabricado un armero toledano” (Anón. 2012) – como si una fidelidad naturalista garantizara la calidad narrativa y el éxito de la serie. Por consiguiente nace la nueva profesión de atrezzista: “Águila Roja [...] cuenta con unos platós de más de 2.000 metros de extensión y un equipo completo de atrezzistas que buscan el mayor rigor” (Padilla Castillo 2012: 47). 2 Al contrario, errores o gazapos cometidos respecto a ciertos detalles de la decoración se comentan incluso entre historiadores; en el caso de la serie Isabel, en la prensa se cita al historiador José María de Franciso Olmos quien ha observado errores menores, relativos a los accesorios (el mobiliario, las monedas o los distintivos). Un ejemplo: ‘El supuesto collar de maestre de la Orden de Santiago que lleva el príncipe Alfonso es el del Toisón de Oro de los borgoñones’. Otro detalle: ‘En uno de los documentos que se muestran en primer plano [...] se observa como firma Alonso de Trastámara, cuando los monarcas firmaban siempre Yo el Rey, Yo el Príncipe [...], sin apellido’ (Gómez/Morales 2013).

Pero estamos lejos del ‘cine de romanos’ con sus famosos gazapos: Es famosa la anécdota de Howard Hawks en el rodaje de Tierra de faraones (1955) [...]. Tras aceptar a regañadientes el dictamen de sus asesores en el sentido de que en el Egipto de Keops no se conocían los caballos, el director se resigna y acepta camellos; cuando le recuerdan que tampoco tenían camellos en aquella época temprana, se planta y afirma que pase de los caballos, pero que sin camellos no rueda (Duplá Ansuategui 2011: 98). 3

Sin embargo, será interesante analizar el papel que desempeña la lengua en la ficción histórica (es decir, seudohistórica), y no sólo para cazar los ‘gazapos lingüísticos’ inevitables, sino más bien para ver, por un lado, qué estrategias se emplean y qué tipo de estereotipos se utilizan para darle un toque de autenticidad a la oralidad fingida histórica. Al mismo tiempo se podrá comprobar por dónde fallan estas estrategias, dando lugar a imperfecciones que, con un poco más de ‘saber hacer’ en el dominio de la ‘lingüística histórica aplicada’, se 2 El atrezzista – se explica en un sitio web para aficionados – es la persona que, durante el rodaje de una película, se encarga de que todos los objetos y accesorios necesarios estén disponibles y en el lugar donde tienen que estar (mundocine.com/el-atrezzista-una-profesion-compleja-100298/; 19 de julio de 2014). 3 Cf. con otros ejemplos, también Molina 2008: 191, n. 2; cf. también el volumen publicado por Uroz 1999, dedicado a la utilización didáctica de numerosas películas históricas, desde Espartaco y Cleopatra hasta Braveheart y Bienvenidos Mister Marshall.

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podrían haber evitado. Estas reflexiones, en un volumen de homenaje a uno de los representantes más destacados del hispanismo alemán y de la metodología diácronica en este campo, a lo mejor sirvan para ilustrar la utilidad de este tipo de aplicación práctica de nuestro ‘saber teórico’ en la sociedad moderna y en el mundo de los medios de comunicación.

2. El estado de la cuestión “A lo largo del siglo XX y los primeros años del XXI, España ha pasado de no producir contenidos propios a situarse como el tercer país europeo en emisión de horas de ficción (Marcos Ramos 2013: 38). Dentro de esta ficción televisiva, destacan series familiares, series profesionales y series históricas; éste último tipo está “estrechamente vinculado [...] con el subgénero narrativo histórico, de gran relevancia en el cine y en la literatura” (Marcos Ramos 2013: 44), algo que puede tener que ver con lo que se ha designado como el ‘pacto de memoria’ existente en el ámbito cultural, que se materializaría en una sobreabundancia de estudios históricos o de aproximaciones literarias, cinematográficas o televisivas interesadas por revisitar la guerra (Chicharro Merayo/Rueda Laffond 2008: 67),

pero que se extiende también a otras épocas de la historia de España. La confianza del público en la fiabilidad de la ficción, es decir, en la identidad, ingenuamente supuesta por el espectador, entre lo presentado y lo real (una ecuación evidentemente absurda, según todo lo que sabemos a través de la metodología del relativismo histórica), se basa en “la puesta de escena (música, vestuario y escenografía), que constituye la impresión superficial de la serie” (George 2009: 60). Lo que destaca en la técnica fílmica de la ficción histórica española, parece ser el tratamiento distinto de la ambientación histórica. En el caso español los directores dedicaron largas tomas de paisajes reconocibles por los espectadores en exteriores. Las murallas de Ávila, las calles de Toledo, las del Albaicín de Granada y la puerta de un palacio renacentista son sólo algunos ejemplos. [...] También en los interiores se siguió una cuidadosa puesta en escena de objetos y actividades que hoy corresponden a ‘otra época’ pero que las personas de más edad todavía pueden reconocer (Fra Molinero 2009: 247/248).

El resultado es que pocos cuestionan las peculiaridades de la verdad en los relatos pseudo históricos que se emiten por televisión. Al agente de autoridad contemporánea que es en sí mismo el medio se añade la circunstancia de que en los créditos de las series se incluyen nombres de asesores del tema histórico. De modo que el espectador considera que una obra tan elaborada y en la que se han invertido tantos recursos no puede engañarles (Huguet 2014: 10).

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Uno de los grandes problemas de la ficción histórica es la introducción del presentismo, es decir “su tendencia a incluir en las narraciones del pasado asuntos y preocupaciones relevantes en en el presente de emisión” (López 2009: 12). 4 El presentismo se refleja en una “‘mentalidad anacrónica’ cuando los personajes retratados no actúan (o no piensan) como deberían dado su marco histórico” (Hernández Pérez 2008: 857). Se puede relacionar con este tipo de anacronismo, muchas veces inconsciente, la funcionalización de la ficción histórica al servicio de reflexiones sobre paz, guerra y el futuro de la humanidad (cf. Molina 2008), de todo tipo de comportamiento políticamente correcto 5 o de construcciones de nuevas identitades políticas y/o étnicas/culturales/nacionalistas (cf. López 2009: 12). Se conoce el “sintomático fresco de los mitos de la nación” (SánchezBiosca 2012: 505) en el cine histórico de los años cuarenta y cincuenta, e incluso en las ficciones del franquismo tardío, “cuando el lenguaje imperial de los cuarenta se había puesto en sordina, Cervantes fue utilizado para representar una sesgada crítica social” (Fra Molinero 2009: 246), y se conoce de sobra la utilización de la historia catalana en el proceso de elaboración de una identidad lingüística y nacional desde la época de la transición hasta el presente (cf. Castelló/ O’Donnell 2009: 177s.). Se emplean prototípicamente marcas de singularidad, como el empleo de la lengua vernácula o la expresión de hábitos idiosincrásicos en Galicia o Cataluña, tal y como ha sido resaltado en diversos estudios centrados en estas modalidades regionales de ficción de proximidad (Rueda Laffond 2011: 31).

Ejemplos llamativos de este presentismo en la ficción histórica justamente los proporciona una de las series que se analizan en lo que sigue, Águila Roja: En esta serie se recrea un falso siglo XVII en una clara operación de limpieza histórica. Dentro de esta reescritura no solo se borra la decadencia de aquel período, marcado por el final de la casa de los Austria, que son sustituidos por un rey fuerte que gobierna un estado en forma de patriarcado, sino que se redibuja la imaginería de la masculinidad a través de un protagonista masculino con unas características ajenas a este período histórico (PérezGómez 2010: 1).

Concretamente, [...] en este proceso de insertar un protagonista contemporáneo en el pasado podemos adivinar cierta voluntad de reescritura/limpieza del pasado a través de un personaje principal que a la vez de justiciero es maestro, esto también esconde de fondo una cierta idea de neoespañolidad identificándola con valores ligados a la justicia y al conocimiento/sabiduría, siendo un rol ajeno al periodo descrito y al contemporáneo (Pérez-Gómez 2010: 12).

4 Cf. numerosos ejemplos de presentismo en Hernández Pérez 2008. 5 Huguet 2014: 20 habla de “la intención aleccionadora e instructiva de los discursos televisivos”.

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Parece unánime el juicio negativo acerca de Águila Roja: La comunidad de historiadores ha podido observar esta realización televisiva [...] como una verdadera aberración, plagada de incorrecciones de bulto. [...] Esto puede apreciarse, por ejemplo, en el retrato que efectuaba sobre algunos roles femeninos, caracterizados por su plena capacidad de autonomía personal [...]. La serie de Globomedia asimismo ha recreado las prácticas pedagógicas en una escuela históricamente inverosímil, donde el espectador observaba cómo se impartía educación para la ciudadanía en pleno Siglo de Oro (Rueda Laffond/Coronado Ruiz 2009: 102; cf. también Rueda Laffond 2009: 87).

Poca atención se ha dedicado, en la investigación mediática y lingüística, al empleo de la(s) lengua(s) en estas series (seudo-) históricas. Respecto a series ambientadas en épocas más remotas y obligatoriamente complejas en cuanto al paisaje lingüístico, es evidente que la serie no puede reflejar esta complejidad, pero resulta sorprendente la superficialidad con la que se obvian los problemas lingüísticos que deben haberse planteado en la realidad histórica: [En la serie Hispania] choca la facilidad con la que los rebeldes logran introducirse en el campamento de los romanos porque se han aprendido la contraseña de entrada que era nada menos que en latín, mientras que en Hispania se hablaban multitud de lenguas y dialectos. Parece complicado que un puñado de campesinos y pastores pudieran expresarse correctamente en latín (Rodríguez Garrido/Arias Romero 2013: 73).

Casos análogos pueden surgir también en el mundo moderno: El primer episodio de la miniserie Sofía narraba el noviazgo y matrimonio de Juan Carlos de Borbón y Sofía de Grecia. Desde las primeras secuencias del relato, la familia real griega fue presentada al espectador mediante un código radical de españolidad. Gracias a él estos personajes ni tan siquiera fingían dificultades de comprensión a la hora de conversar con sus invitados españoles (los Condes de Barcelona y sus hijos). Todos compartían un mismo castellano neutro en la localización ambientada en la isla de Corfú de inicios de los años sesenta (Rueda Laffond 2011: 32).

En algunos casos aislados, los investigadores destacan anacronismos discursivos, por ejemplo cuando se habla del uso excesivo del término España, en la obra de A. Mann “El Cid”; sin duda se refiere a que España ya existía (al menos el vocablo Hispania, el de la provincia romana) pero que, dada la situación política, la España de entonces, la de los reinos de Taifas, era más correcto referirse a los reinos de Castilla, Aragón, Zaragoza, etc. El concepto de España como unidad es anacrónico en esta película porque el propio retrato de la situación sociopolítica lo es (Hernández Pérez 2008: 853).

Respecto a la serie Isabel, objeto de nuestras reflexiones, se discute en un foro acerca del uso legítimo o no del tratamiento de majestad: “¿Es correcto el uso de esta palabra en el castellano de esa época?”. 6 Por otro lado, Cuéntame cómo 6 cvc.cervantes.es/foros/leer_asunto1.asp?vCodigo=43638.

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pasó, una de las series históricas más exitosas, ambientada en la época del franquismo, de la transición y de la democracia, ha sido elogiada por la autenticidad (fingida) de su lenguaje: En esta obra hay interés por el tono del lenguaje – diferente del actual – de un reciente pasado. Los vocablos expresan una semántica particular y los personajes se mueven en el ambiente o en la escena dentro de los márgenes físicos y anímicos – limitadísimos – que propiciaba el franquismo (Huguet 2014: 15).

Sin embargo, sobre esta misma serie, Cuéntame cómo pasó, se ha constatado también, de forma crítica, pero desafortunadamente sin ejemplos ilustrativos, que cierto léxico y formas discursivas con las que el público se familiariza estos días se articulan en boca de los personajes creando un efecto de presentismo o anacronía que compromete el supuesto rigor de la ambientación temporal perseguido por el programa (Cueto Asín 2009: 143).

Un tema comparable con el discurso fílmico y objeto de mucho más atención por parte de la investigación, es la oralidad fingida histórica en la literatura, por ejemplo en la novela romántica española del siglo XIX, que utiliza estrategias de imitación del discurso medieval, a pesar de “abundantes anacronismos” y “escasas correspondencias con los usos que se darían originalmente en los estados de lengua evocados por cada una de las novelas” (Octavio de Toledo y Huerta/ Pons Rodríguez 2009: 162). En las novelas analizadas, se observa, por ejemplo, la ausencia de imitación de rasgos fonéticos, pero sí la “perseverante utilización de fórmulas y pronombres de tratamiento que ya estaban en desuso o prácticamente desaparecidos en el siglo XIX” (Octavio de Toledo y Huerta/Pons Rodríguez 2009: 163). Los numerosos arcaísmos (o falsos arcaísmos) morfosintácticos, sin embargo, como la enclisis pronominal, las formas verbales en -ra como formas de indicativo o la anteposición del adjetivo epíteto, “casi siempre pasados por el tamiz de la lengua literaria siglodoresca, es decir, considerablemente estereotipados” (Octavio de Toledo y Huerta/Pons Rodríguez 2009: 177), están ambientados obligatoriamente en el discurso literario de las novelas y no se podrían transponer a un guion fílmico, así que los guionistas de las series históricas tienen que buscar otras estrategias para generar por lo menos algunos toques de ‘ambiente local lingüístico’.

3. El método En lo que sigue, se tratará justamente de analizar este tipo de ‘ambiente local lingüístico’, ver cómo se consigue evocar cierto arcaísmo lingüístico estereotípico y al mismo tiempo comprobar dónde se incurre en anacronismos

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chocantes, teniendo cuenta de la necesidad de aceptar cierto grado de anacronismo como inevitable para permitir una comunicación comprensible para el telespectador no experto en historia de la lengua. El instrumento que facilita, por lo menos en el dominio del léxico, la determinación más exacta de la edad real de los elementos lingüísticos y, por lo tanto, la identificación de posibles anacronismos, es el Corpus del Nuevo Diccionario Historico del Español (CNDHE), accesible en línea y, gracias a la posibilidad de buscar lemas y no solamente formas, más eficaz que los corpus tradicionales de la RAE (CORDE, CREA, CORPES XXI). Huelga decir que el CNDHE, primer resultado palpable del trabajo en lo que será el buque insignia de la lexicografía histórica del español (cf. Monjour 2011), en cuanto a la fiabilidad de las fechas de primera documentación, es netamente superior a los diccionarios etimológicos tradicionales; huelga decir igualmente que esta fiabilidad siempre depende de la composición del corpus y que la infrarrepresentación de textos no literarios de épocas más remotas genera el peligro de lagunas en la documentación histórica. Como corpus de análisis se recurre al primer episodio de tres series (seudo-) históricas españolas, transmitidas en los últimos años (en parte hasta el día de hoy) y ambientadas en épocas más remotas de la historia de España, es decir Toledo, Isabel y Águila Roja. 7 Entre las tres series analizadas, la primera, Toledo. Cruce de destinos, es la que, a pesar de cierto éxito al principio, fue cancelada en 2012 después de la primera temporada. 8 Se trata de una serie producida por Boomerang Ficción para Antena 3 y ambientada en la corte de Alfonso el Sabio; las intrigas habituales, de sexo, amor, ambición y poder, se entrecruzan con la problemática de la ‘convivencia de las tres culturas’. Más éxito 9 ha tenido Isabel, estrenada en 2012 y cuya tercera temporada fue transmitida entre septiembre y diciembre de 2014 en La 1 de RTVE. La serie histórica se apunta a la nueva moda en la pequeña pantalla española que vuelve los ojos a nuestro propio pasado. [...] Isabel se aleja de la tendencia en las series históricas españolas como Águila roja o la malograda Toledo, que se ambientan en el pasado para centrar la historia en la acción y las batallas entre personajes. En el caso de esta producción de Diagonal TV, lo importante parece ser el retrato lo más fidedigno posible de la historia y las intrigas palaciegas a las que Isabel la Católica tuvo que enfrentarse para llegar al trono. Una fidelidad a la historia relativa, ya que tanto el lenguaje como la vestimenta de los

7 Abreviadas, en lo que sigue, T, I, A (con la indicación del minuto y segundo del episodio correspondiente); los episodios son accesibles en su versión DVD o directamente en los sitios web que las cadenas han reservado a sus series; cf. infra, bibliografía. 8 Con una audiencia que bajó del 20 al 11%; cf. http://es.wikipedia.org/wiki/Toledo,_cruce_de_destinos. 9 Con una audiencia entre el 17 y 20%; cf. es.wikipedia.org/wiki/Isabel_(serie_de_televisi%C3%B3n)#Temporada_3:_2014.

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personajes se ha adaptado para que el resultado final sea más digerible por el público del siglo XXI (Marcos 2012: sin pág.). 10

¡Se nota la referencia al lenguaje ‘adaptado’ y ‘digerible’! Isabel ha sido criticada, sin embargo, por “la excesiva cantidad de información, de hechos […] y la gran cantidad de nombres que dificultan el seguimiento de los hechos” (Marcos 2012: sin pág.). La diferencia entre la serie dedicada a la Reina Católica y las otras series tratadas reside en que Isabel forma parte del género fílmico “donde la historia se hace problema, donde ella es el tema mismo del filme y no el fondo de una intriga transponible a cualquier otro contexto” (Frédéric Vitoux, cit. en Martínez Gil 2013: 362). La tercera serie analizada, Águila Roja, “producida por Globomedia y ambientada en el siglo XVII español, [...] se adentra en el género de aventuras con personajes ficticios unidos a detalles, vestuario y dirección artística pseudohistóricos” (Padilla Castillo 2012: 47). La primera temporada se estrenó en 2009, la sexta temporada en el mes de septiembre de 2014, en La 1 de RTVE, es decir paralelamente a Isabel, pero con una audiencia más alta; 11 a diferencia de Isabel, no se sitúa en un contexto histórico determinado con precisión: el Rey de la serie será Felipe IV, la Reina debe ser Mariana de Austria y se supone que la acción se desarrolla en Madrid, pero faltan las referencias concretas. Ambientada en el siglo XVII, combinaba una hibridación de citas de género de ascendente diverso: acción y aventuras, misterio, erotismo, relaciones familiares y sentimentales. A ojos del historiador profesional, Águila roja estaba plagada de anacronismos e incorrecciones documentales de bulto. Su tiempo histórico se descubre, pues, como desdibujado. Pero, al mismo tiempo, este mismo tiempo histórico vago y anacrónico se ha conformado como un parámetro coherente para otorgar credibilidad al relato (Rueda Laffond 2009: 86s.).

En lo que sigue, se tratará de enfocar algunos fenómenos lingüísticos, empleados en las tres series, que ilustran dos facetas de la oralidad fingida histórica: por un lado, el anacronismo, es decir la desviación, chocante para el espectador, entre la ambientación de la ficción y el lenguaje de los protagonistas; y por otro lado, la marca de arcaísmo, es decir la estrategia destinada a fortalecer dicha ambientación en el contexto histórico.

10 El párrafo idéntico se encuentra en Rodríguez Garrido/Arias Romero 2013: 72, sin que se pueda aclarar en este contexto la responsabilidad respecto a la identidad textual o a un eventual plagio. 11 Entre el 25 y el 30%; cf. es.wikipedia.org/wiki/%C3%81guila_Roja.

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4. Los fenómenos A nivel fonético, poco hay que observar: la pronunciación utilizada es una pronunciación moderna, que corresponde al estándar centro-peninsular, incluso con ciertos toques de regionalismo, según la serie. En Águila Roja, por ejemplo, los miembros de una logia secreta, conspirando contra el rey (Felipe IV), destacan por su pronunciación muy castellana, con la [s] final marcadamente alveolar: A6.15ss. A7.01

“Estamos todos. Podemos empezar” “El rey tiene los días contados”

Sin embargo, en la misma serie, Floro, barbero y bebedor alegre, igual que Catalina, su mujer, se caracterizan por su acento andaluz (a Floro lo representa un conocido actor granadino, Pepe Quero): A6.27 A13.05

“Vamoh a veh. [...] Vamoh a toma’ una jarrita, nada mah” (Floro) “Ni un arma en la calle” (Floro)

Este procedimiento confirma lo que Cerdán/Quílez (2009: 299s.) observan, a propósito de la serie Vientos de agua, ambientada en Asturias y en Argentina: Si […] la fidelidad a lenguas y acentos pudo resultar una decisión errónea en términos comerciales en España, desde luego no lo fue en términos creativos. Hay que reseñar que el cine y el audiovisual español en general apenas ha trabajado la riqueza de acentos en la península [...] [nota 15, a pie de página:] Tradicionalmente sólo se ha hecho para reforzar ciertos estereotipos cómicos

– y entre ellos en primer lugar el estereotipo del gracejo andaluz. 12 Otro gracioso en la misma serie es el ex-ladrón Sátur, caracterizado estereotípicamente por su (ligero) acento gallego y representado por un actor gallego nacido en Asturias, Javier Gutiérrez; sabemos que según la ‘sátira do galego’, éste, a través de los siglos, suele ser “presentado como pobre, avaro, falso, inconstante, borracho, porco” (Mariño Paz 1998: 235), y la representación del gallego en Águila Roja solo varía estos tópicos en el sentido de que su carácter es más positivo que el estereotipo. En cuanto a la diversidad lingüística representada en las series, sorprende que los extranjeros también dominan perfectamente la fonética del español. A Abu Bark, en Toledo, le traducen sus intérpretes ciertas frases al árabe; él mismo se expresa en árabe, pero en otros momentos habla fluidamente español. Respecto a elementos gráficos y palabras escritas que surgen esporádicamente 12 Para los diferentes problemas relacionados con la identidad lingüística andaluza, cf. el volumen de Narbona Jiménez 2009.

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en ciertas escenas, se sigue la misma estrategia de adaptación completa al lenguaje actual del telespectador y se emplean grafías en su forma moderna: en una carta supuestamente manuscrita de Isabel (I58.15), se puede leer, por ejemplo, la palabra , en su grafía moderna; el grafema confundiría al telespectador y despertaría connotaciones erróneas con algunas lenguas cooficiales actuales. 4.1. El anacronismo

Si, en lo que sigue, se emplea el término anacronismo, no se trata de dar una lista exhaustiva, y, por definición, interminable, de fenómenos lingüísticos incompatibles con el español medieval, el español de finales del siglo XV o el español del siglo XVII, ya que no tendría sentido ignorar la decisión de principio de los responsables de las tres series analizadas que consiste en emplear los registros lingüísticos accesibles al telespectador del siglo XXI. Sin embargo, nos podemos preguntar legítimamente si no hubiera sido posible evitar fenómenos lingüísticos chocantes para la conciencia lingüística del telespectador medianamente culto cuya capacidad de identificar intuitivamente registros históricos de la lengua es suficientemente alta para reconocer fenómenos ‘demasiado’ marcados como modernos. Utilizamos el término anacronismo en este sentido de ‘gazapo lingüístico’, comparable, en la película de corte medieval Braveheart, a “las faldas escocesas que lucen los guerreros”, que “no serían popularizadas hasta 400 años después de la época en la que está ambientada la película” 13 y que pueden chocar a cierta parte del público, mientras que un reloj fabricado en 2008 que lleva el protagonista en una película ambientada en 1979, 14 apenas molesta al telespectador. El anacronismo lingüístico se define entonces no solamente por la incongruencia objetiva entre el tiempo real de su existencia y el tiempo ficticio de la acción fílmica, sino esencialmente por el efecto subjetivo provocado en la conciencia lingüística del receptor moderno del mensaje mediático. 4.1.1. El anacronismo morfosintáctico

A nivel morfosintáctico, casi nada hay que advertir: la morfosintaxis es la de hoy. No tendría mucho sentido fingir una antigüedad artificial mediante ele13 www.playgroundmag.net/musica/noticias-musica/historias/de-kubrick-a-tarantino-11-gazaposdel-cine-que-hicieron-historia. 14 En la película Argo; cf. www.20minutos.es/noticia/1703248/0/errores-peliculas-cine/argo/curiosidades/.

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mentos morfosintácticos (salvo en los pocos casos que serán tratados más adelante, 4.2.1.). En el caso siguiente, por ejemplo: T8.29

“Si hubiesen resistido un poco más, habríamos llegado a tiempo”

a los telespectadores (y a los actores) les habría costado demasiado esfuerzo interpretar (o utilizar) correctamente una construcción condicional típicamente medieval, del tipo Si resistiesen un poco más, llegáramos a tiempo o Si resistiesen un poco más, llegaríamos a tiempo. 15 Lo mismo vale para el empleo de las perífrasis verbales y de los tiempos compuestos que es el del siglo XXI: T11.04 I29.30

A18.05 A18.15 T26.55

“El rey Alfonso X va a firmar la paz con Abu Bark” (Rodrigo) “Menos mal, menos mal, por un momento he llegado a pensar que ni en días tan felices como éste me iba a librar de vuestras disputas” (Enrique IV) “Déjate de fantasías y come” (Gonzalo a su hijo Alonso) “Termina de desayunar deprisa. Nos vamos a la escuela” (Gonzalo a Alonso) “Padre, hoy he cocinado yo. ¿Me ha salido bien?” (Blanca a Rodrigo)

En todos estos casos, el empleo moderno de las perífrasis verbales y tiempos compuestos no cumple con la definición propuesta de anacronismo, porque no suscita en la conciencia lingüística del telespectador la sensación de modernidad fastidiosa respecto a los efectos fílmicos. El único caso diferente podría ser el del ‘infinitivo imperativo’: A20.45 A1.11.11

“La clase ha terminado. Iros” (Gonzalo a sus alumnos) “Capitán Rodrigo, deteneros” (Gonzalo)

Esta construcción, a través de su carácter hoy en día marcadamente coloquial, 16 parece suscitar – en España, no en Hispanoamérica – una connotación de modernidad difícilmente compatible con la ambientación histórica de Águila Roja. Sin embargo, el empleo del infinitivo como imperativo remonta ya al español medieval, 17 así que la categorización del fenómeno como anacronismo tampoco parece justificada. 15 Cf., por ejemplo, Penny 1993: 228 y Veiga 2006: 200-203. 16 “El uso del infinitivo como imperativo, habitual en el registro hablado, tiene menor incidencia en la lengua escrita, debido a su carácter familiar” (Hernanz 1999: 2339); “Estos imperativos se evitan en los registros formales” (NGLE: 3135). 17 Cf. Pérez Vázquez/San Vicente 2005: 13 y la nota 39 que remite a Lapesa 2000: 582/583, con ejemplos de Berceo hasta Cervantes.

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4.1.2. El anacronismo léxico

El anacronismo, con el significado utilizado aquí, resulta ser en primer lugar un fenómeno léxico. Huelga decir que sólo fueron tomados en consideración anacronismos cuya primera documentación remonta a otra época histórica que la ambientación de la serie; casos como los siguientes, sin embargo, en los que la fecha de primera documentación, según el CNDHE, sólo es posterior en algunos decenios al contexto histórico real no se pueden considerar como anacronismos ya que no pueden estorbar la ilusión fílmica ni siquiera del telespectador más advertido: conciudadano T40.19

compensación T57.46 coraje T18.05 ejército T13.13

exterminar T15.45

magistrado T39.00

“Muchos de mis conciudadanos alojarán en sus casas a nuestros hermanos del sur” (Taliq delante del consejo). CNDHE: 1376. “Exijo una compensación, debéis entregarme al asesino” (Abu Bark, al Rey). CNDHE: 1385. “O quizás lo que merma es el coraje” (Miranda, a Rodrigo). CNDHE: 1350. “En la aldea de Cubas, el ejército de tu padre se enfrentó a mil moros” (Cristóbal, a Martín). CNDHE: 1325. “Señor, nuestro deber es continuar, continuar hasta exterminarlos a todos” (Miranda, al Rey). CNDHE: 1376. “Rodrigo, os nombro magistrado de la ciudad de Toledo” (Rey a Rodrigo). CNDHE: 1311.

En otros casos, la divergencia cronológica entre el contexto en el que están ambientadas las series y la documentación real de las palabras utilizadas es más importante y podría suscitar la sospecha de que se trata de anacronismos léxicos: asedio T11.07

“Debemos levantar el asedio” (Rodrigo). CNDHE: 1526

Toledo, Isabel, Águila Roja y el problema de la lengua en la ficción de corte seudohistórico

atacar T1.24 T9.10 bazofia T27.05

bravuconada A1.04.58 campamento T11.22 T20.44

convivencia T17.45

convulso I40.50

cortesano T21.51 década T17.34 histórico T18.35

¡hola! T49.59 I6.47

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“nos atacan, nos atacan, Enrique” (la mujer de Rodrigo, frente al ataque de los musulmanes) “Vamos, Martín, ataca, así” (Martín, 10 años después). CNDHE: 1435. “Me sabe a gloria después de la bazofia que he tenido que comer estos años” (Rodrigo, a Blanca). CNDHE: 1610. “No está usted para bravuconadas” (un miembro anónimo de la logia secreta). CNDHE: 1911. 18 “Levantad el campamento” (Rodrigo) “Ahora relájate y disfruta. No sabes cuánto echo de menos la vida de soldado, el ambiente de los campamentos” (Rey, a Rodrigo). CNDHE: 1550. “La convivencia entre antiguos enemigos es frágil, y entraña peligros” (Rodrigo en el Consejo). CNDHE: 1550. “Son tiempos convulsos, y cualquier noble sin escrúpulos podría utilizaros de bandera para intereses mezquinos” (Enrique IV). CNDHE: 1606. “Sé que no eres un cortesano, a Dios gracias. [...] Serás el nuevo magistrado” (Rey, a Rodrigo). CNDHE: 1402. “Señora, mis hombres llevan batallando casi dos décadas” (Rodrigo, a la Reina). CNDHE: 1400. “El acto solemne de la paz se celebrará con el esplendor requerido para esta ocasión histórica” (Rey, delante del Consejo). CNDHE: 1425. 19 “Hola, ¿me oyes? [...] Hola, ¿estás bien?” (Fátima, a Martín, desmayado) “Hola, Preciosa” (Isabel de Portugal, a Isabel, su hija). CNDHE: 1520.

18 “Los periódicos no decían más que necedades y bravuconadas, los yanquis no estaban preparados para la guerra, no tenían ni uniformes para sus soldados” (Pío Baroja, 1911; CNDHE). 19 Ver también infra, cap. 4.1.3., El anacronismo discursivo.

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impulsivo T1.01.45

monserga T1.10.13

objetivo T1.10.55

I1.02.10 opción T24.24 T24.50 T33.44 pordiosero/-a T47.10

“Le conozco demasiado bien, es alocado, impulsivo, pero también inteligente, lo justo” (Rey a Martín, sobre el infante Fernando). CNDHE: s.XV, pero en general en un sentido científico20 o en un sentido jurídico. 21 Como adjetivo que caracteriza a una persona, parece ser que se utiliza solo en una época bastante moderna.22 “Para ti, soy Fernando. Déjate de infantes y déjate de monsergas” (Infante Fernando, a Martín). CNDHE: 1730. “Quería asesinarte. Eso era su objetivo desde el primer momento” (Martín, al infante Fernando). CNDHE: 1527. En Isabel, el empleo de la palabra ya parece más justificado: “Vuestro hermano tiene claro sus objetivos” (Carrillo, a Pacheco) “Fernando es un niño, no es una opción como heredero” (Oliva, a Miranda) “El Señor iluminará a nuestro Rey para elegir la mejor opción” (Oliva) “Ser caballero no es una opción para ti” (Rodrigo, a Martín). CNDHE: 1486. “No puedo entrar en la corte vestida como una pordiosera” (Blanca, a Rodrigo). CNDHE: 1500.

20 “Non pudo multiplicarse la comoçión aérea impulsiva” Enrique de Villena, 1427; CNDHE. 21 Causa impulsiva ‘motivo’: “E pues la causa ynpulsyua de mi escreuir fue de la diuersydad e opiniones” Pedro Díaz de Toledo, 1462; CNDHE. 22 “Verlaine, un medroso degenerado, de cráneo asimétrico y cara mongoloide, vagabundo, impulsivo y dipsómano” José Asunción Silva, 1896; CNDHE.

Toledo, Isabel, Águila Roja y el problema de la lengua en la ficción de corte seudohistórico

precioso I55.08

relajarse T20.44

semental I43.00

traficante T44.43

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“Hace un día precioso” (Isabel). El adjetivo precioso evidentemente ya es medieval, pero parece emplearse siempre en combinación con sustantivos que designan objetos (piedra, seda, gema). Utilizando la función ‘coapariciones’ del CNDHE no se puede rastrear ningún ejemplo de precioso + día; en el CORDE se encuentran dos ejemplos, uno moderno, 23 y solo uno, muy aislado, en Berceo. 24 “Ahora relájate y disfruta. No sabes cuánto echo de menos la vida de soldado, el ambiente de los campamentos” (Rey, a Rodrigo). Según el CNDHE, relaxar en el sentido de ‘dejar’ es más antiguo, ya medieval; en un contexto más bien espiritual, surgen ejemplos del siglo XVI,25 pero la connotación de bienestar físico que conlleva el enunciado del rey en Toledo, parece ser más bien moderna. “Es mayordomo del palacio/y al parecer también el semental” (Carrillo/Pacheco, acerca de Beltrán). Semental como adjetivo ya está documentado en la Edad Media, pero el sentido de ‘caballo semental’ se averigua solo en el siglo XIX.26 “Creo que sé de quién es esta casa, de Alberto Carini, el traficante de esclavos” (Cristóbal, a Martín). CNDHE: 1580.

Al lado de este tipo de anacronismos cuyo carácter puede escapar a la conciencia lingüística de telespectadores menos atentos, se observan también algunos casos extremos que demuestran la falta de sensibilidad lingüística por parte de los guionistas: control T40.42

“Haré controles a la entrada de la ciudad” (Rodrigo delante del consejo). CNDHE: 1875.

23 “Está un día precioso. Ven, iremos por la sombra” Pérez Galdós, 1893; CORDE. 24 “En el día precioso de la pascua mayor, que es resurrección del nuestro Salvador” Berceo, 122846, CORDE. 25 “En la fuente baptismal se relaxan los pecados” (1508); “porque al fin, como nosotros valgamos poco y samos para poco, si nos relaxamos, Él nos anima; si nos echamos a dormir, Él nos despierta” (1521; CNDHE). 26 “Me piden en tropel y con exigencia que repare la cerca, que pueble la viña, que busque buenos sementales, que componga la estacada, y todo á un tiempo, y todo pronto, porque soy el heredero” (Arenal, Concepción: Cartas a los delincuentes, Madrid, 1865; CNDHE).

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supervisar T22.25

T37.30

“Deberás aplicar las leyes, supervisar los acuerdos alcanzados entre musulmanes y judíos” (Rey, a Rodrigo) “Vuestra obligación es ayudarle en todo y protegerlo y la mía supervisar que lo hagáis” (Oliva, a Martín). CNDHE: 1933.

En otros casos – que se podrían comentar dentro del contexto de ‘cosas y palabras’ y de una lexicología cultural – el anacronismo choca particularmente porque, independientemente de la conciencia lingüística, llama la atención del telespectador debido a la inadecuación de las cosas o instituciones designadas frente al contexto cultural en el que está ambientada la serie. soldado T54.31

“El soldado cristiano estaba borracho, eso sí” (soldado, a Rodrigo). CNDHE: 1500. La palabra soldado se utiliza durante toda la serie, ambientada en la Edad Media, con alta frecuencia; sin embargo solo “en los clásicos alrededor de 1600 es de uso general” (DCECH V: 326). El origen italiano de la palabra y su relación con el mundo de los mercenarios en las guerras renacentistas podría formar parte de los conocimientos del telespectador culto.

En el mismo contexto histórico y cultural se sitúa otra palabra: escolta T1.01.10

“¿Se puede saber en qué demonios pensabas cuando saliste con el infante de palacio sin escolta, y en un día como hoy?” (Rey, a Martín). CNDHE: 1512. La palabra que se utiliza muchas veces durante el episodio, evidentemente es un italianismo también cuyo fonetismo suele explicarse por una confusión: “Al tomarlo del italiano los soldados españoles confundieron el vocablo con el it. scolta ‘escucha’, ‘centinela’, de donde la -l- de la forma española” (DCECH II: 700) – se non è vero, è ben trovato!

En el caso siguiente, algunos entre los telespectadores podrían darse cuenta de que un término afrancesado resulta raro en boca de los cortesanos de Isabel:

Toledo, Isabel, Águila Roja y el problema de la lengua en la ficción de corte seudohistórico

intriga I9.05

I28.42 I50.00

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“Dedicáis más tiempo al combate que a los retos/Y vos más tiempo a las intrigas que a la espada” (Juan Pacheco/Alfonso Carrillo) “Estoy harto de rumores e intrigas” (Enrique IV) “No soy un intrigante como Pacheco” (Mendoza). Según el CNDHE, intriga está documentado en 1768. 27 Intrigante se documenta un poco antes.28

El ejemplo más llamativo de anacronismo al nivel de cosas y palabras es el último: tatuaje A57.54

“Tiene un tatuaje como el mío en la nuca” (un torturado en la cárcel; ¡se puede ver el tatuaje en primer plano!)

La primera documentación segura del verbo tatuar es del año 1847, 29 la del sustantivo tatuaje del año 1880/1881; 30 el verbo tatuar en español y los verbos correspondientes en otras lenguas parecen remontar todos al verbo inglés tattow, documentado en las relaciones de viaje del Capitán Cook. 31 Es decir que la palabra importada por los ingleses de alguna lengua oceánica durante los años 60/70 del siglo XVIII, se utiliza ya en una cárcel española en pleno siglo XVII... 4.1.3. El anacronismo discursivo

Bajo este título serán tratados sintagmas y expresiones que le transmiten al telespectador –involuntariamente – la sensación de que los personajes hablan como españoles del siglo XXI. Esta sensación se genera no por el empleo anacrónico de una palabra aislada, sino por la combinación insólita en unidades pluriverbales. Para comprobar esta sensación, obtenida al origen de forma intuitiva, resulta extremadamente útil la función ‘coapariciones’ en el CNDHE, es decir la que indica las co-ocurrencias más frecuentes en el entorno de un lema y por consiguiente permite su datación; para eventuales co-ocurrencias 27 “Terr. lo señala [el verbo intrigar] por primera vez como galicismo innecesario y lo propio hace Capmany con intriga en 1805” (DCECH III: 460). 28 “Este prelado era uno de aquellos genios que llaman los franceses intrigantes, hombre ambicioso, inquieto, entremetido en los negocios de estado” (Feijóo, 1742; CNDHE). 29 “Pinturas que cubren y decoran sus muros, como la piel del salvaje más prolijamente y ricamente tatuado que se pueda hallar en el seno de los bosques vírgenes del Brasil” (Juan Valera; CNDHE); otros ejemplos que se dan s.v. tatuar parecen constituir más bien nombres propios o zoológicos. 30 Menéndez Pelayo CNDHE, CORDE. 31 Cf. DCECH V: 442, y, para otras lenguas, p.ej., TLF, s.vv. tatouage, tatouer.

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que no son alistadas entre las más frecuentes y que por lo tanto no resultan accesibles, se puede recurrir igualmente a la utilización del CORDE, menos cómoda ya que exige la búsqueda de formas exactas y no permite el aprovechamiento de la lematización precedente por parte de los lexicógrafos de la RAE. problema T24.15 T29.52 T1.18.46

“Sancho no es el problema” (Miranda, a Oliva) “¿Supone algún problema para ti?” (Miranda, a un asesino que trabaja para él) “¿Buscas más problemas?” (Fátima, a Martín)

El CNDHE documenta problema a partir del año 1400, sin embargo en el sentido de ‘enigma’, también como género literario (Aristóteles, Plutarco). En el sentido más banalizado de ‘dificultad en la vida cotidiana’, la palabra aparece posteriormente. 32 La coaparición del verbo suponer y del sustantivo problema, 33 en su función de complemento de objeto directo, solo se manifiesta en el siglo XX, 34 la coaparicón de buscar y problema 35 incluso en el lenguaje coloquial actual. 36 histórico T18.35

“El acto solemne de la paz se celebrará con el esplendor requerido para esta ocasión histórica” (el Rey delante del Consejo)

El CNDHE fecha el adjectivo histórico en el año 1425, mientras que la coaparición de ocasión e histórico, según el CORDE, 37 parece ser más bien moderna.38 perspectiva de paz, etc. T27.50 “Bueno, la perspectiva de paz es el mejor aliciente para la economía. Este puede ser el comienzo de una gran época” (Abraham, a Rodrigo). 32 “En este arduo y diffícil problema de las lluvias, que tan solícitos trae a muchos philósophos, ninguna razón me parece más concluyente que dezir [...]” (Cárdenas, Juan de: Primera parte de los problemas y secretos maravillosos de las Indias, [México], 1591, CNDHE). 33 Búsqueda en CORDE: supon* dist/5 problem*. 34 “El aneurisma supone tres problemas de diagnóstico” (Marañón, Gregorio: Manual de diagnóstico etiológico, 1943; CORDE). 35 Búsqueda en CORDE: busc* dist/5 problem*. 36 “Ya no quería pensar en eso la tía Susana, horrible, y por eso buscaba incesantemente algún problema casero para meter las narices” (Bryce Echenique, Alfredo: Un mundo para Julius, 1970; CORDE). 37 Búsqueda en CORDE: ocasión dist/5 histórica. 38 “No se haga puntillo de honor de los llamados derechos, pues estos, en toda ocasión histórica, no son tales derechos si no les acompaña y robustece la fuerza” (Pérez Galdós, Benito: La estafeta romántica, 1899; CORDE).

Toledo, Isabel, Águila Roja y el problema de la lengua en la ficción de corte seudohistórico

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Las primeras documentaciones del sintagma perspectiva de paz en los corpus de la RAE son del siglo XX. 39 La coaparición de aliciente y economía, según CORDE y CREA, 40 se sitúa igualmente en un pasado muy reciente. 41 convivencia entre las culturas, etc. T1.15.23ss. “Durante décadas de enfrentamientos hemos ido perdiendo a nuestros seres más queridos. [...]. Esta paz no será fácil, encontrará numerosos enemigos decididos a desestabilizarla. [...]. Fuimos los primeros en forjar un momento histórico: el sueño de la convivencia entre las tres culturas” (el Rey, discurso ante los hombres de la corte, los árabes y judíos).

El Rey se expresa – así lo va a interpretar cada telespectador – como un hombre de Estado delante la asamblea general de Naciones Unidas. El verbo desestabilizar y su familia se documentan en la segunda mitad del siglo XX, 42 y el sintagma convivencia entre culturas también. 43 El discurso acerca de ‘la ciudad de las tres culturas’ (=Toledo) o simplemente acerca de ‘las tres culturas’ parece remontar a los debates identitarios de los historiadores del siglo XX hasta la actualidad, desde Américo Castro y Claudio Sánchez Albornoz hasta Serafín Fanjul. 44 información A1.04.50

“Si fuera igual de eficaz, consiguiendo información [...]” (uno de los anónimos de la logia, al comisario)

39 “Las perspectivas de paz en Oriente Próximo” (El País, 24.08.1977; CREA), ”una perspectiva de paz para el mundo” (Fidel Castro, 1985; CREA). 40 Búsqueda en CORDE y CREA: alicient* dist/5 economía. 41 “Los alicientes de la economía comercial llevaron a la racionalización del uso de los terrenos” (Picó, Fernando: Al filo del poder: subalternos y dominantes en Puerto Rico 1739-1910, Puerto Rico, 1993; CREA). 42 “La red nacional de carreteras se asemeja a un sistema con realimentaciones desestabilizadoras” (Chueca Goitia, Fernando: Breve historia del urbanismo, Madrid, 1968; CORDE); “el coronel Castillo Armas ‘desestabilizó’ a Arbenz, quien significativamente escogió Checoeslovaquia como sede de su exilio” (Rangel, Carlos: Del buen salvaje al buen revolucionario. Mitos y realidades de América Latina, [Venezuela] 1976; CREA). 43 “Ello se debe sin duda a la secular convivencia pacífica entre las culturas purépecha y criolla” (Reuter, Jas: La música popular de México, [México], 1980; CREA). 44 Cf. también su aplicación a la literatura: “La futura prosa de España proviene de la corte de Alfonso y es, en esencia, el lenguaje de las tres culturas” (Carlos Fuentes: El espejo enterrado, [México], 1992; CREA).

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Información es una palabra ya medieval, pero conseguir + información, según el CDNHE, solo co-ocurren en el siglo XX. 45 El diagnóstico es el mismo en el caso del sintagma obtener + información. 46 as en la manga A1.12.00

“Así que tenías un as en la manga” (Comisario, a Gonzalo)

La única documentación del fraseologismo en los corpus de la RAE es del siglo XX. 47 ciudadano, etc. A1.16.10

“El problema de la comida para el pueblo se está solucionando. En unos días, los almacenes clandestinos serán desmantelados por los propios ciudadanos” (Agustín, el monje, al Rey)

No son las palabras aisladas las que constituirían anacronismos, ya que son documentadas antes de la época en la que está ambientada la serie: problema (CNDHE: 1400), clandestino (CNDHE: 1427), desmantelar (CNDHE: 1566), ciudadano (CNDHE: 1202). Es decir que ciudadano, por ejemplo, es, sin lugar a duda, una palabra medieval, en el sentido de ‘natural o vecino de una ciudad’ (DRAE). El sentido moderno, sin embargo, de ‘persona considerada como miembro activo de un Estado, titular de derechos políticos y sometido a sus leyes’ (DRAE), surge en el siglo XVIII, inducido evidentemente por el discurso político francés; 48 el sintagma los propios ciudadanos se documenta igualmente en el contexto del discurso del Siglo de las Luces. 49 Sin embargo no se pueden documentar sintagmas como almacen(es) clandestino(s). Respecto a problema en el sentido de ‘dificultad en la vida cotidiana’, ya ha sido mencionado el hecho de que este significado es más reciente que el de ‘enigma’; así que surge un

45 “Con un canario y la promesa de otro si me conseguía la información necesaria, la Petrona había agarrado viaje al galope” (Julio Cortázar, 1945-1964; CNDHE). 46 “Comprendo las valiosas informaciones que puedo obtener por su intermedio” (Ernesto Sábato, 1961; CNDHE), “habrás desarrollado una congestión nerviosa en el cerebro, una red espesa capaz de obtener información y transmitirla del frente hacia atrás” (Carlos Fuentes, 1962; CNDHE). 47 “Por lo tanto, no puedo cometer un homicidio con el propósito de arrepentirme luego. Sería una hipocresía inútil, una trampa. Pero, ¿quién será tan imbécil que juegue la partida de Dios con un as en la manga?” (Torrente Ballester, Gonzalo: Don Juan, Barcelona, 1963; CORDE). 48 Cf. TLF, s.v. citoyen: “1751 membre d’un État considéré du point de vue de ses droits politiques”. 49 “Este espíritu sanguinario de los romanos fue el que causó tantos estragos en los pueblos de Europa, Asia y Africa, y el que también inundó muchas veces a Roma con la sangre de los propios ciudadanos” (Clavijero, Francisco Javier: Historia Antigua de México, México, 1780; CORDE).

Toledo, Isabel, Águila Roja y el problema de la lengua en la ficción de corte seudohistórico

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primer ejemplo de problema de la comida en el siglo XX 50, y solucionar un problema parece ser un sintagma moderno también. 51 Globalmente el discurso citado de Águila Roja se parece más a un informe de un político moderno que al enunciado formulado por un monje del siglo XVII. 4.2. La marca de arcaísmo

Cuando se constata que el lenguaje utilizado por los protagonistas de nuestras series históricas es, en principio, el del siglo XXI, se admite al mismo tiempo que no es así en todos los casos. Los guionistas intentan, mediante ciertas estrategias, conferirle al texto hablado ciertos matices de antigüedad; estas estrategias, destinadas a evocar en la conciencia lingüística del telespectador una impresión de no-modernidad, serán designadas en lo que sigue como ‘marcas de arcaísmo’. 4.2.1. La marca de arcaísmo morfosintáctico

El elemento más emblemático y la marca de arcaísmo más arraigada en la conciencia lingüística incluso de hablantes poco expertos es de tipo morfosintáctico(-pragmático): ciertas formas de tratamiento evocan, no solo en español (peninsular), sino también en otras lenguas, como, por ejemplo, en alemán, una ambientación histórica que cualquier locutor sin conocimientos metalingüísticos designaría como ‘medieval’ – por esta razón, en los ‘mercadillos medievales’, en España como en Alemania, los vendedores ambulantes se suelen dirigir a sus clientes, en pleno siglo XXI, tratándoles de vos o de Ihr. En la misma perspectiva, los guionistas de la serie Toledo han optado por un amplio uso del tratamiento de vos, casi generalizado en las relaciones determinadas por cierta distancia social: T9.18 T9.44 T11.25 T16.01 T26.13

“No sufráis, Blanca. Vuestro hermano siempre vence” (Elvira, criada mayor, a Blanca) “Niña, vamos, que este no es lugar para una dama como vos” (Elvira, a Blanca) “Confío en vos, Lope” (Rodrigo, a un caballero y amigo suyo) “Oliva, vos sois el arzobispo” (Rey, a Oliva) “Padre, ¡qué ganas tenía de veros de nuevo!” (Blanca, a Rodrigo)

50 “¿Concede usted importancia al problema de la comida?” (Pío Baroja, 1944-1949; CORDE). 51 “Su espíritu no se engolfaba en complicadas combinaciones para solucionar los problemas de la vida” (Blest Gana, Alberto: Los transplantados, [Chile], 1904; CNDHE).

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T30.58 T42.53 T44.24 T47.00

“Vos siempre sois el mismo, no importan los años que transcurran” (la Reina, a Rodrigo, en privado) “Debéis entregar las armas, os serán devueltas cuando salgáis del palacio” (Rodrigo, a Abu Bark) “¿Respondéis vos de que nada nos ocurra?” (Abu Bark, a Rodrigo) “¿Os gusta, padre?” (Blanca a Rodrigo)

Sin embargo, Fátima y Martín, los (futuros) amantes a través de las barreras culturales, se tratan de tú desde el inicio de su relación, y Martín esporádicamente, según las circunstancias, trata de tú a su padre, lo que puede parecer incoherente cuando se observa el comportamiento habitual de los hijos, más deferentes frente a su padre: T33.30

vs. T28.49

“Siempre has odiado la corte. Dices que está llena de cobardes y de hipócritas. No quieres este destino para ti, ¿pero sí para tu hijo?” (Martín, a Rodrigo) “Lo que queráis, padre, nosotros os seguiremos dónde ordenéis” (Martín, a Rodrigo)

Globalmente, el tratamiento representado en Toledo se corresponde, por un lado, con lo que sabemos de la distribución entre forma de distancia y forma de cercanía en el español medieval real, 52 y, por otro lado, con la función metalingüístico-discursiva de marcar el arcaísmo, tal y como se necesita en la construcción de una ambientación eficaz de la acción fílmica. En Isabel, el empleo de vos también es de costumbre, lo que refleja la riqueza de funciones de la “forma omniabarcadora, vos, útil para la mayoría de las relaciones sociales” en el siglo XV (Calderón Campos 2010a: 235): 53 I1.31 I1.45

I2.45 I5.57

“¿Daréis fe de vuestras palabras?” (Isabel) “Diego Hurtado de Mendoza ha convocado una junta para dilucidar quien es la heredera de la corona, vos o Doña Juana” (mensajero, a Isabel) “No tiene menos carácter que vos” (Gonzalo Chacón, hablando con Isabel de ella y de su marido) “vos iréis a mi lado, que bien merecido lo tenéis” (Isabel, a Chacón)

En Águila Roja, el tratamiento es de vos entre nobles, de usted, por ejemplo, entre Margarita y un campesino (A22.20), adelantando así ligeramente el surgimiento real de esta forma, según los documentos literarios y no-literarios, a lo 52 Cf., por ejemplo, Mirrer-Singer 1989. 53 Cf. también Calderón Campos 2010b: 140.

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largo del siglo XVII. 54 Por lo tanto, no se refleja en la serie “el descenso de vos al ámbito del tuteo a mediados del XVI” (Calderón Campos 2010b: 143): A1.11.11

“Capitán Rodrigo, deteneros” (Gonzalo)

Sin embargo, la marquesa y Gonzalo, antiguos amantes, se tratan de tú: A1.14.46

“Esto ya quedó muy claro cuando estuviste en mis aposentos” (marquesa, a Gonzalo),

aunque parece que en la literatura del Siglo de Oro, “el uso más común de la forma tú es el tuteo mutuo entre familiares” o “entre los criados” o “entre criado y amo” (King 2010: 537-539), mientras que uno de los dominios en los que sobrevive el empleo del vos es justamente, al lado del uso “con familiares e inferiores”, la relación “entre amantes y los que se cortejan” (King 2010: 542). La confusión del personaje (¿o del guionista?) puede explicar la mezcla de formas por parte del dueño de la taberna que se ve enfrentado a la insolencia de un joven marqués: A29.50ss.

“Es un honor tenerle en mi posada, señor marqués, si puedo hacer algo por vos […]/Me conformaré con una taza de chocolate [...]/Lo siento, su excelencia, pero chocolate no nos queda”

Y la confusión también podría ser el motivo del tratamiento de usted por parte de un ladrón a su (posible) verdugo (que le devuelve un tú poco amistoso; A36.00ss.). Pero independientemente de este tipo de detalles, podemos observar los inconvenientes de la funcionalización de una marca de arcaísmo – el uso arcaizante de vos – porque sigue dominando en la serie aunque ya no se corresponde con la complejidad lingüística del mundo del Siglo de Oro. 4.2.2. La marca de arcaísmo léxico

El mismo efecto de ambientación lingüística arcaizante puede ser producido por el empleo de cierto tipo de lexemas. En primer lugar se pueden mencionar palabras cuya aparición y divulgación coincide justamente con la época en la que está ambientada la acción fílmica: – época de Toledo: agradar T50.50

“Mi medio hermano estará persiguiendo a alguna criada o en alguna taberna, mezclado con el popula-

54 Cf. Calderón Campos 2010a: 236, 2010b: 142; Calderón Campos/Medina Morales 2010: 209.

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cho, como tanto le agrada” (Sancho). CDNHE: 1313 (participio agradado)/1400. 55

cobarde, hipócrita T33.30 “Siempre has odiado la corte. Dices que está llena de cobardes y de hipócritas” (Martín, a Rodrigo). CNDHE: 1237/1250. 56 facha T42.20 “Que por las fachas que tenía la joven, esto va para largo” (Cristóbal, a Martín). CNDHE: 1275.57

– época de Isabel: afeminado I20.11 escotado I1.03.05

protocolo I2.16

“Además delante de este afeminado” (Pacheco, acerca de Beltrán). CNDHE: 1448. 58 “Un poco escotado para mi gusto” (Isabel, acerca de su vestido). Primera documentación segura en el sentido de ‘corte del vestido’: CNDHE: 1553.59 “Este es el protocolo, ¿no es cierto?” (Isabel). CNDHE: 1456, aunque la documentación antigua parece limitarse a la palabra en el sentido jurídico-textual y todavía no refleja el sentido político, del tipo es el protocolo ‘es el procedimiento que hay que seguir’; los corpus dan constancia de este sentido solo en la época moderna.60

Es evidente que este tipo de palabras, aunque históricamente arraigadas en las épocas históricamente relevantes, todavía no producen o no producen todas el efecto deseado por los guionistas. Para que surja la connotación de arcaísmo, 55 Construcción paralela a la de la serie: “lo babtizo e oyo la boz de dios padre que dixo aquest es el mj fillo caro leal muyto me agrada” (anónimo, 1400; CNDHE). 56 “Los flacos enbargan a los fuertes, e los cobardes fazen fuyr a los buenos” (anónimo, 1237; CNDHE); “si fueres manso e te allegares a los omes, dirá que eres ipócrita, e si e apartares d’ellos, dirá que lo fazes por desdén” (anónimo, 1250; CNDHE). 57 “Queme en el fuego que yo non meresca nin uisque por que. & me lieue a la cara encendidas las fachas que troxieron en las nuestras bodas & por quemar las mis fazes o las que el troxo” (Alfonso X: General Estoria, 1275; CNDHE). 58 “Nin lo dexa jamás oýr la palabra de Dios nin de correpçión. & asymismo, faze el onbre efeminado, disoluto & loco, inconstante, mutable & inpotente, & le faze mentiroso & lleno de todos males” (anónimo, 1448; CNDHE). 59 “El que se vestía de Londres no pensava que andava poco costoso. Traýanlos escotados como camisas de mugeres y una puerta muy pequeña delante de los pechos, puesta con cuatro cintas o agujetas” (Torquemada, Antonio de: Coloquios satíricos, 1553; CNDHE). 60 “Pero eso creo yo que es el protocolo corriente... Yo no lo voy a vulnerar por capricho” (Pío Baroja, 1944-1949; CORDE).

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hacen falta dos factores más (o por lo menos uno de ellos). Por un lado, el arcaísmo se caracteriza por su escasa representación en las épocas más modernas de la historia de la lengua – una constelación que se puede determinar gracias a la tablas estadísticas puestas a la disposición del investigador mediante el CDNHE, y que permiten medir la ‘dispersión cronológica’ de una palabra en el corpus. Por otro lado, el arcaísmo frecuentemente designa objetos o instituciones relacionados con el entorno extralingüístico de la época, aunque el grado de arraigamiento de la palabra en el contexto histórico es difícil de determinar, y resulta especulativo evaluar el tipo de conocimientos culturales, por lo menos esterotipizados, que el telespectador va a connotar con los arcaísmos léxicos que se trata de comentar en lo que sigue. – época de Toledo: agradar T50.50

“Mi medio hermano estará persiguiendo a alguna criada o en alguna taberna, mezclado con el populacho, como tanto le agrada” (Sancho). CDNHE: 1313 (cf. supra).

Aunque el verbo no esté arraigado en un entorno histórico determinado y no produzca obligatoriamente un efecto arcaizante, la dispersión cronológica según el CNDHE resulta característica: 185 ocurrencias (hasta 1500) y 4.859 (entre 1501 y 1700) de un total de 9.312 formas en el corpus son antiguas, es decir que el 2% de las formas remonta a la época medieval y el 52,2% a la época del Siglo de Oro. 61 curtidor T41.20

“Había una taberna y una tienda de curtidores en la esquina” (Infante Fernando, a Martín). CNDHE: 1234.

El arraigamiento de la designación de un oficio tradicional en el entorno histórico parece evidente, y su dispersión cronológica también: 405 (hasta 1500) de 595 formas en el corpus, es decir el 68% de las formas, remontan a la época medieval. 62 juglar T13.30

“Me vengaré de los moros y los juglares cantarán mis victorias” (Martín, a su amigo). CNDHE: 1236.

61 Según el Manual de consulta del CNDHE, el 13% de todas las formas del corpus son medievales y el 38% del Siglo de Oro; cf. web.frl.es/CNDHE/org/publico/pages/ayuda/ayuda.view, página 6. 62 Cf. como contraejemplo el otro sustantivo utilizado en el sintagma, tienda: solo 2938 formas (hasta 1500) de 13.012, es decir el 22,6%, son medievales.

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El arraigamiento de la palabra en el entorno histórico parece más que evidente, 63 la dispersión cronológica, sin embargo, menos, debido probablemente a la presencia de juglar en la literatura y cultura actual: 164 (hasta 1500) de 2.580 formas entran en consideración, es decir que solo el 6,4% de las formas remonta a la época medieval. maravedí T41.59

“Sí, sí, Martín dale un par de maravedíes” (Infante Fernando, a Martín). CNDHE: 1201.

El arraigamiento en el entorno histórico es evidente, la dispersión cronológica también: 25.503 (hasta 1500) de 42.106 formas en el corpus son medievales, es decir el 60,6% de las formas remonta a la época en la que está ambientada la serie televisiva. – época de Isabel y de Águila Roja: aposento I16.32 A1.14.46

“Quiero que os quedéis en vuestros aposentos” (Chacón, a Isabel y a su hermano) “Esto ya quedó muy claro cuando estuviste en mis aposentos” (marquesa, a Gonzalo). CNDHE: 1424.

El arraigamiento en el entorno histórico resulta de cierta connotación ‘cortesana’ que conlleva la palabra. 64 La dispersión cronológica de aposento confirma esta connotación: 42 formas son medievales (hasta 1500), 6224 (entre 1501 y 1700) de 8.602, es decir el 72,4% de todas las formas, remontan a la época del Siglo de Oro. maravedí A1.17

“¿A cuánto está el lechazo?/A treinta maravedíes la pieza” (cliente/vendedor en el mercado). CNDHE: 1201.

Aunque designa una moneda de curso legal hasta Isabel II, la dispersión cronológica de maravedí demuestra que la palabra está más arraigada en la Edad Media (cf. supra) que en los siglos posteriores: 15.248 (entre 1501 y 1700) de 42.106 formas en el corpus, es decir el 36,2% de las formas, remontan a la época del Siglo de Oro. Para los espectadores de la serie, sin embargo, la palabra

63 Cf. la definición en el DRAE: “En la Edad Media, hombre que ante el pueblo o los nobles y los reyes recitaba, cantaba o bailaba o hacía juegos, yendo de unos lugares a otros”. 64 Cf. la definición en el artículo correspondiente en wikipedia: “aposento hace referencia a las dependencias privadas de las personas residentes en palacios o castillos” (es.wikipedia.org/wiki/ Aposento, consultado el 20 de septiembre 2014); esta connotación parece reflejarse en el DRAE a través de la marca “cult.”.

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sigue funcionando como marca de arcaísmo, independientemente de la edad exacta. mercadear A39.20

“Busca a los que mercadean” (monje, a Gonzalo). CNDHE: 1422.

Parece que no hay arraigamiento en un entorno histórico particular. La dispersión cronológica sin embargo es característica: 21 (hasta 1500) formas de mercadear son medievales, 47 (entre 1501 y 1700) de 78 formas en el corpus, es decir el 60,3%, remontan a la época del Siglo de Oro. plebeyo A30.50

“Puedo matar a este plebeyo si se me antoja” (marqués). CNDHE: 1400.

Cierto arraigamiento histórico se percibe incluso a través de las definiciones modernas de la palabra y de su familia. 65 La dispersión cronológica de plebeyo confirma por lo menos parcialmente este tendencia, indicando que 724 (entre 1501 y 1700) de 1.647 formas del corpus, es decir el 44%, remontan a la época del Siglo de Oro. Otro fenómeno que contribuye a destacar la historicidad del léxico y el arcaísmo ‘ambiental’ consiste en una técnica definitoria para explicar palabras menos conocidas por el telespectador actual – o por los personajes en su respectivo contexto histórico: consuelda T52.35

“Es un emplaste de consuelda, una hierba cicatrizante” (Fátima, a Martín). CNDHE: 1493.

Aunque consuelda esté en el DRAE actual, 66 la planta y sus efectos farmacéuticos serán desconocidos para una mayoría entre los espectadores urbanitas modernos; la definición subraya el carácter exótico-arcaico de la palabra y por lo tanto del ambiente fílmico. leopardo I20.55

“Un leopardo/¿Un qué?/Un leopardo, una especie de lince, pero con menos bigotes” (Pacheco y Carrillo). CNDHE: 1200.

65 Cf. el DRAE que s.v. plebe sitúa algunas subsignificados del término “en la antigua Roma” o “en el pasado”. 66 “Planta herbácea de la familia de las Borragináceas, vellosa, [...] en racimos colgantes, blancas, amarillentas o rojizas, y rizoma mucilaginoso que se emplea en medicina”.

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La palabra existe ya en la época medieval, pero la definición, parecida a la de los protagonistas televisivos, de Alfonso de Palencia 67 demuestra cierta inseguridad léxico-enciclopédica incluso en el año 1490. Otro paralelismo entre leopardos y linces en la literatura de la época 68 podría incluso sugerir que la definición empleada en la serie remonta a los consejos de algún experto. Independientemente de la determinación de las fuentes, resulta obvio que la definición sirve para demostrar al telespectador la novedad, en la época en la que está ambientada la serie, de una palabra familiar para el público de hoy. Se trata por lo tanto de una estrategia hábil dentro de las herramientas de construcción de los efectos del arcaísmo léxico. En este contexto también desempeña su papel la relación entre cosas y palabras: T13.34

“Naranjas deliciosas traídas de Sevilla” (frutero en un puesto de mercado). CDNHE: 1381.

Aunque la primera documentación sea posterior a la época alfonsina, la palabra, formalmente un anacronismo, cumple con la función de sugerir que el objeto designado constituye una particularidad exótica en un pasado remoto frente a la realidad del espectador; la naranja se escenifica como fruto emblemático de la civilización árabe y sirve para destacar la alteridad de la cultura representada con respecto a la cultura del mundo presente. A30.00

“Me conformaré con una taza de chocolate [...]/Lo siento, su excelencia, pero chocolate no nos queda” (el joven marqués y el dueño de la taberna). CNDHE: 1591.

El siglo XVII se caracteriza, según la percepción del público (culto), por su predilección por ciertas bebidas. 69 Enfocar el chocolate, la cosa y la palabra, en una escena de la serie ambientada en una taberna, significa, una vez más, destacar la alteridad de la época histórica representada y conferirle este matiz antiguo y exótico que constituye una de las claves del éxito de nuestras series históricas.

67 “Lincis. cis. o linx lincis. es bestia de diuersos colores: que semeia leopardo” (Alfonso de Palencia, 1490; CNDHE). 68 “Esta isla de Madegascar tiene montes de sándalo. Críanse en ella elephantes, leones, leopardos y linces” (anónimo: Traducción de la Cosmografía de Pedro Apiano, 1548-1575; CNDHE). 69 “[...] dándole mi besamanos suplicarle me haga merced de socorrerme con algún chocolate de lo que su merced prepara” (Góngora, 1613-26; CNDHE); “no obstante que esto del beber chocolate y tomar tabaco me desagrada, aunque lo segundo menos, porque es medicina con que se descarga la cabeza” (Salas Barbadillo, Alonso Jerónimo de: El sagaz Estacio, marido examinado, 1620; CNDHE).

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4.2.3. La marca de arcaísmo discursivo

En los tres episodios analizados, hacen falta completamente enunciados caracterizados no por el arcaísmo de una palabra aislada, sino por la combinación insólita, porque arcaizante, en unidades pluriverbales. A lo mejor ciertos sintagmas conllevan una connotación, como la siguiente: I17.52

“No soy de costumbres morunas” (Pacheco, a Enrique IV)

La dispersión cronológica del adjetivo moruno – según el CNDHE, 53 de 61 ejemplos son del siglo XIX, XX y XXI – no permite ninguna conlusión respecto a un carácter arcaizante; sin embargo el sintagma costumbre(s) moruna(s) parece surgir en contextos que remiten a un entorno arcaico-rural.70 Sin embargo, para aprovechar plenamente este tipo de fuente lingüística, hubieran sido necesarias competencias e indagaciones que probablemente rebasarían las posibilidades de los guionistas, ocupados con su trabajo rutinario.

5. Las perspectivas Resulta patente que la televisión, “una máquina del tiempo y una fábrica de narrativas sociales de inmediatez cultural” (Rueda Laffond/Coronado Ruiz 2009: 15), se aprovecha de estereotipos sociales existentes, contribuyendo al mismo tiempo a la creación de estereotipos nuevos. El éxito de la ficción (seudo-) histórica en la televisión no se explicaría sin este tipo de procesos de estereotipización: En el campo concreto de la Historia, nos hemos encontrado en los últimos tiempos con multitud de películas y series de televisión de pretendido carácter histórico o seudohistórico que han buscado acercar al gran público al conocimiento de personajes o períodos de nuestra historia. Y estos productos mediáticos, en algunos casos tremendamente populares, influyen de una manera decisiva en el imaginario individual del espectador, así como en la creación de una memoria colectiva y de unos estereotipos (Rodríguez Garrido/Arias Romero 2013: 68).

70 “El rey sabio – y no hay que decir quién, porque han existido tan pocos, que con decir así ya saben todos que fue don Alfonso el Décimo – advertía a los jueces que se guardasen del testimonio de las mujeres que comercian con su cuerpo. […] Cuando las Cucas salían a la puerta, desecada ya la poza y bien rellenada, y se sentaban, en la poyata que sombreaba la parra del Cuco, las siete, éstas en el poyo, las otras en sillas terreras, que no sabemos por qué gustó siempre a la mujer pueblerina la silleta casi o cuasi escabel y aun sospechamos sin mucho ahincamiento sea de costumbre moruna, aunque más bien nos inclinamos a creer que, como la mujer es tan apegada a la tierra, le cuesta mucho despegarse de ella, el cuadro que las siete componían parecía de pega” (Noel, Eugenio: Las siete cucas, Madrid, 1927; CORDE).

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Parece lícito deducir del análisis esbozado aquí que a nivel lingüístico también las series explotan connotaciones, tópicos y clichés y contribuyen a la configuración de estereotipos nuevos respecto al pasado. Por lo tanto parece razonable e incluso urgente que la lingüística se interese por este tipo de productos mediáticos. A lo mejor, el volumen de homenaje a uno de los representantes destacados de la lingüística histórica académica en Alemania ofrece una buena ocasión para postular la necesidad de una lingüística histórica aplicada, destinada a acompañar y encauzar la producción de una cultura popular mediática tal y como la representan Toledo, Isabel y Águila Roja. A Franz Lebsanft le deseamos un Feliz Cumpleaños, y que a lo mejor se divierta viendo algunos episodios de estas series que no carecen de interés para la lingüística histórica.

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II. Sprachkultur und Geschichte der Sprachkultur

Johannes Kabatek Sprachkultur und Akkomodation 1

1. Einleitung Ziel der folgenden Ausführungen soll sein, die beiden im Titel genannten Begriffe einander näher zu bringen. Dies scheint zunächst vielleicht überraschend, ich möchte aber zeigen, dass die Beziehung zwischen Sprachkultur und Akkomodation wesentlich enger ist, als wir gemeinhin annehmen. Die beiden Anlässe, die mich zu dieser Verbindung führen, sind einerseits die umfassenden Arbeiten von Franz Lebsanft zur – insbesondere spanischen – Sprachkultur und andererseits meine persönliche, jüngste Erfahrung in der Schweiz, die mir deutlicher denn je vor Augen geführt hat, wie sehr meine frühere Sichtweise von sprachlicher Akkomodation kulturell geprägt war und auf meiner eigenen Biographie in Deutschland und dem Bezug zu anderen europäischen und amerikanischen Ländern fußte, die mir für universelle Inferenzen repräsentativ erschienen – was ich nun revidiere und relativiere. Doch möchte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen und zunächst die beiden Begriffe situieren, bevor die eigentliche Fragestellung der folgenden Zeilen – die keine wissenschaftliche Studie, sondern eine Reihe allgemeiner und teilweise provisorischer Überlegungen beinhalten – formuliert werden kann. Googelt man den Begriff Sprachkultur, so wird man bei Wikipedia auf die Definition von Albrecht Greule und Franz Lebsanft verwiesen und auf Sprachkultur als „eine Form der Sprachlenkung, die sich auf Sprachen mit einer längeren Schrifttradition und einer zumindest bereits in der frühen Neuzeit ausgearbeiteten, seitdem immer wieder modernisierten ‚Sprachnorm‘ bezieht“. 2 Hieran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, und es ist sicher so, dass der Begriff sich in der Tradition in dieser Weise fixiert hat – und wir müssen bei Termini nicht kritisieren, dass sie auch noch etwas anderes bedeuten könnten, 1 Ich danke Carlota de Benito Moreno und Hanna Ruch für wichtige Anregungen und bibliographische Hinweise. 2 de.wikipedia.org/wiki/Sprachkultur (10.10.2014); vgl. auch Lebsanft 1997: 1.

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denn sie sind nun einmal festgelegt und definitorisch bestimmt. 3 Aber es scheint zumindest legitim zu sein zu überlegen, ob das Kompositum, jenseits seiner Terminologisierung, nicht Fragen aufwerfen kann: die Frage nämlich, was alles an Sprache Kultur ist und was nicht. Das ist ein weites Feld, und wir sehen hier sogleich, dass wir uns auf das Terrain der ideologischen Kontroversen der Sprachwissenschaft (oder soll ich Linguistik sagen?) begeben. Für die Einen ist Sprache insgesamt ein Kulturphänomen, für die Anderen ist sie ein Naturphänomen und für Dritte – wohl die Mehrheit – liegt sie irgendwo dazwischen und enthält natürliche und kulturell bedingte Anteile. Ich will hier nicht weiter in diese Problematik einsteigen, denn es geht hier nicht um die Frage, ob die einzelsprachliche Grammatik ein Kulturphänomen ist oder nicht. Ich würde, nur nebenbei, dies durchaus bejahen und jede Sprache in einem sehr allgemeinen Sinne als eine Manifestation der menschlichen Kultur bezeichnen. Worum es mir hier jedoch vor allem gehen soll, ist eine Frage, die viel näher an dem oben zitierten Sprachkulturbegriff liegt: ich denke, es ist legitim, Sprachkultur weiter zu fassen und darunter all jene kulturell vermittelten sprachlichen Verhaltensmuster und Attitüden zu fassen, die sich auf die Bewertung des Status sprachlicher Formen oder von Varietäten beziehen. Hierzu ist auch etwa die Bewertung von Kontaktphänomenen (also „fremder Einflüsse auf eine Sprache“) zu zählen. Sicherlich nicht dazu gehören hingegen universelle Prinzipien des Sprechens, etwa pragmatische Grundsätze wie das Prinzip der Kooperation. Aber wo liegt die Grenze? Wo endet die Pragmatik und wo beginnt das Traditionelle? 4 Hier gibt es sicherlich zahlreiche offene Fragen, die ich hier nur in Bezug auf den Begriff der sprachlichen Akkomodation diskutieren möchte. Googelt man den Begriff Akkomodation, so findet man Information über die verbreitetste Verwendung des Begriffes für die fokussierende Anpassung des Auges an Objekte unterschiedlicher Entfernung, aber auch, unter „Linguistik“, über den Prozess der Anpassung, bei dem Sprecher unterschiedlicher dialektalischer [sic!] Varietäten versuchen, die Verschiedenheit ihrer jeweiligen Sprechweise zu reduzieren und sich soweit möglich an die Sprechweise des Partners anzupassen, was heißt, dass besonders auffällige Phänomene eines Dialekts, die der Gesprächspartner nicht kennt, vermieden werden. 5

Der Begriff ist in der Linguistik schon eine Zeitlang verbreitet und zumindest seit Giles (1973) zur Beschreibung des allgemein bekannten Phänomens der 3 Vgl. Kabatek 2015. 4 Es ist ein grundlegendes Problem der Pragmatik, dass sie die Traditionsdimension des Sprachlichen und die Notwendigkeit, diese von der einzelsprachlichen und der universellen Dimension zu unterscheiden, ignoriert oder vernachlässigt. 5 de.wikipedia.org/wiki/Akkommodation (10.10.2014).

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sprachlichen Anpassung üblich geworden; in den letzten Jahren rückt dieses erneut ins Zentrum linguistischen Interesses. Nun wird Akkomodation häufig als eine natürliche Tendenz des Sprechens angesehen: es entspricht, so scheint es, einer Art grundsätzlichen innewohnenden Ethik des Sprechens, dass man dabei einen gemeinsamen Nenner sucht und sich in einer möglichst gemeinsamen Sprache oder Varietät unterhält. 6 Als universelles und allgemein interindividuelles Phänomen scheint Akkomodation vor allem bei individuellen sprachlich asymmetrischen Kontakten aufzutreten und ihr Ausmaß insbesondere von individuellen Fähigkeiten der Anpassung abzuhängen: es gibt bessere oder schlechtere „Papageien“ unter den Menschen, und je nach individueller Fähigkeit scheint der Grad der Akkomodation zu variieren. In jüngerer Zeit sind jedoch darüber hinaus einige Untersuchungen erschienen, welche die bis zu einem gewissen Grade soziale und attitüdinale Bedingtheit sprachlicher Akkomodation unterstreichen (u.a. Babel 2010, 2012, Bonomi 2010, Yu et al. 2013). Ich möchte hier noch weiter gehen und eine Reihe von Typen der Bandbreite von Möglichkeiten sprachlicher Akkomodation vorstellen. Grundhypothese ist, dass sprachliche Akkomodation in hohem Maße auf kulturellen Konventionen beruht und die ausschließliche Einordung des Phänomens als „universelle Tendenz“ einer Sichtweise entspricht, die sich aus einer inakzeptablen Verallgemeinerung einer partikulären historischen Situation ableitet. Der folgende Abschnitt wird sprachliche Akkomodationstypen zunächst vorstellen und kurz kommentieren. Anschließend soll die sprachhistorische Bedingtheit der Akkomodationskultur von individuellen Faktoren abgegrenzt und bezüglich einer Reihe exemplarischer historischer Situationen erläutert werden.

2. Typen sprachlicher Symmetrie und Asymmetrie Die obige, sehr allgemeine und auch etwas problematische Definition von sprachlicher Akkomodation soll den Ausgangspunkt bilden für einige Überlegungen zur Typisierung von sprachlichen Kommunikationssituationen. Wenn wir die genannte Situation visualisieren möchten, so sind dabei zwei Faktoren zu unterscheiden: einerseits die Kommunikationspartner und andererseits die Prozesse der sprachlichen Anpassung:

6 Vgl. hierzu Kabatek/Murguía 1997: 215.

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Abbildung 1: asymmetrische Kommunikation Typ 1; Symmetrische Akkomodation

Zwei Sprecher A und B sprechen zwei unterschiedliche Varietäten. Die Pfeile α und β deuten Prozesse der sprachlichen Anpassung an. Wenn sowohl A sich B nähert als auch umgekehrt, so treffen sich beide im Idealfall in der Mitte zwischen beiden Varietäten: das die Varietäten Trennende wird vermieden, das Ähnliche wird bevorzugt. In der Praxis ist ein solches „Sich-in-der-MitteTreffen“ wohl eher selten oder sogar unmöglich, da der Akkomodationsprozess immer in einem gewissen Maße asymmetrisch zu sein pflegt. Die Anpassungspfeile α und β hängen von individuellen und sozialen Faktoren ab. In individueller Hinsicht gibt es Sprecher, die eher zur Anpassung neigen als andere. Zudem ist eine Anpassung dann wahrscheinlicher, wenn ein Individuum aus einer Gegend, in der eine bestimmte Varietät gesprochen wird, in eine andere kommt, wo eine andere Varietät gesprochen wird: die Territorialität der Varietät verleiht dieser einen gewissen Vorteil. Es wird also wahrscheinlicher sein, dass die Kreuzberger Schwaben berlinern als dass ihre Berliner Bekannten zu schwäbeln beginnen. In sozialer Hinsicht wird das Prestigeverhältnis der beiden Varietäten nicht symmetrisch sein und eine Anpassung eher an die prestigereichere Varietät (sei es bezüglich overten oder coverten Prestiges) naheliegen. Wichtig ist, dass die Bedeutung der Pfeile nicht einfach durch die Asymmetrie der Varietäten A und B bestimmt wird, sondern gesteuert wird durch individuelle und attitüdinale Faktoren: sprachliche Akkomodation ist kein „Naturphänomen“. Auch wenn die Suche nach Gemeinsamkeit einer universellen Tendenz entsprechen mag, ist dennoch ihre konkrete Gestalt von mehreren Bedingungen abhängig. Dass Akkomodation kein universelles Phänomen ist, zeigen solche Gesellschaften, in denen die Pfeile α und β sehr geringe Bedeutung haben und asymmetrische Kommunikation zwischen verschiedenen Varietäten alltäglich ist. In der deutschsprachigen Schweiz ist es üblich, die lokale Mundart zu sprechen und im Kontakt mit Sprechern anderer Varietäten hierbei zu bleiben. Dabei finden üblicherweise sicherlich auch Selektionsprozesse statt und das allzu Trennende wird vermieden, aber wenn ein Berner mit einem Zürcher spricht, so wird im Allgemeinen jeder bei seinem Dialekt bleiben. Einzig die Walliser pflegen aufgrund des großen Abstandes ihrer höchstalemannischen Varietät zu den anderen schweizer Mundarten eine Mischvarietät, die sich auf das Hochalemannische zubewegt. Die Asymmetrie der Kommunikation setzt

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voraus, dass gewisse passive Kenntnisse der anderen Mundarten vorhanden sind, und in der Tat ist dies in der Schweiz allgemein der Fall. Die Verbindung der Üblichkeit asymmetrischer Kommunikation mit der Kenntnis von Varietäten ist ein Faktum der deutschschweizer Sprachkultur: sie wird von Kindesbeinen an gepflegt und als Tradition aufgenommen und fortgesetzt. Sie steht im völligen Gegensatz zu der deutschen oder der französischen (einschließlich der welschschweizer) Sprachkultur, bei der üblicherweise eine überregionale Koiné zur Kommunikation zwischen Sprechern verschiedener Varietäten herangezogen wird. Die Walliser „Ausnahme“ weist auf einen zweiten Typ von Kommunikation (Abbildung 2), bei der einer der beiden Kommunikationspartner in seiner Mundart verharrt, während der zweite zu einer anderen Sprachform wechselt, von welcher er sich mehr kommunikatives Potenzial und überregionalere Verwendungsmöglichkeit verspricht. Wir müssen also den Begriff Akkomodation zunächst erweitern und unterscheiden zwischen der Anpassung durch Annäherung bezüglich einzelner sprachlicher Elemente (etwa bestimmter Lexeme oder Intonationsmuster) und der generellen Annäherung durch Wahl einer anderen Varietät. Ich denke, es ist sinnvoll, für den zweiten Fall den Begriff ‚Varietätenwahl‘ zu verwenden und Akkomodation auf den ersten Prozess zu beschränken, auch wenn beide Prozesse Ausformungen einer übergeordneten dialogischen Gravitation sind. Diese Situation mit einseitigem Wechsel zu einer überregionalen Varietät (Ü, Abbildung 2) finden wir in der Schweiz auch üblicherweise beim Kontakt zwischen ortsansässigen Deutschen und Deutschschweizern, wenn die Deutschen in einer überregionalen, standardnahen Form (S) der Sprache sprechen, die Schweizer hingegen die Mundart verwenden. Aus deutscher Sicht scheint diese Asymmetrie zunächst überraschend, da sie in der deutschen Sprachkultur unüblich ist und sogar als unhöflich empfunden werden mag; für die Schweizer drückt sie aber im Gegenteil Akzeptanz des Anderen und Integration in die schweizer Sprachkultur aus. Mit deutschen Touristen hingegen werden Deutschschweizer meist ebenfalls eine schriftsprachennahe Form wählen, da hier davon ausgegangen wird, dass die Mundart nicht verstanden wird und die Kommunikation sonst gestört würde. Nun könnte die Kommunikation auch nach dem ersten Modell stattfinden; ein Bayer könnte etwa in der Schweiz bairisch sprechen. Diese Strategie kommt zuweilen vor, sie ist jedoch selten, da im Allgemeinen für den Bayern der Dialekt eine ausschließlich lokale Funktion hat und es zudem in Deutschland oft vorkommt, dass Sprecher keine feste Verankerung in einer Basismundart mehr haben. Zudem würde der Bayer mit diesem Verhalten zwar der schweizer Sprachkultur entsprechen, er kann jedoch nicht

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die passiven Kenntnisse des Bairischen im selben Maße voraussetzen wie dies in der Schweiz mit den schweizer Mundarten der Fall ist.

Abbildung 2: Asymmetrische Kommunikation Typ 2

Der nächste Typ (Abbildung 3) ist der weit verbreitete Typ der symmetrischen Annäherung durch beiderseitige Wahl einer überregionalen Varietät, etwa wenn ein Bayer und ein Saarländer sich auf Hochdeutsch unterhalten.

Abbildung 3: Symmetrische Kommunikation in überregionaler Sprachform

Die Symmetrie der Kommunikation ergibt sich hier durch die gegenseitige Strategie der Wahl einer gemeinsamen überregionalen Varietät. Dennoch ist die Kommunikation je nach Präsenz der Basismundarten A und B zugleich mehr oder weniger asymmetrisch, wenn der Saarländer Hochdeutsch mit rheinfränkischem Akzent, der Bayer mit bairischem Akzent spricht. Hier kann es dann zu Akkomodationsprozessen in beiden Richtungen kommen, wobei wieder Territorialität, Prestige und individuelle wie soziale Attitüden ausschlaggebend für den Grad der Akkomodation sein werden. Es wäre dabei in dem Schema durchaus denkbar gewesen, die obere Ebene mit nur einem Quadrat zu repräsentieren. Da es aber um Fälle von Varietätenwechsel geht, wird wie gesagt die jeweilige überregionale Varietät geprägt sein von den Basisvarietäten A und B (was durch die beiden dicken schwarzen Pfeile angedeutet werden soll); sie ist also nicht einheitlich – und deshalb kann es zwischen diesen Realisierungen wieder Akkomodation geben. Übrigens wider-

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spricht die Tatsache der Uneinheitlichkeit der beiden überregionalen Realisierungen nicht der grundsätzlichen Idee von Einheitlichkeit: es ist ein häufiges Missverständnis, wenn behauptet wird, in einer Gemeinschaft gebe es eigentlich keine Standardsprache weil jeder einen lokalen Akzent habe. Die Existenz einer (weitgehend) einheitlichen Standardsprache kann sich auch dadurch ausdrücken, dass verschiedene Sprecher ihre lokale Mundart hin zu einer einheitlichen Vorstellung verändern, ohne jedoch von der Prägung durch ihre Mundart frei zu sein. Der „Akzent“ des Basisdialekts widerspricht eben nicht dem einheitlichen Ziel. Die Akkomodation ist bei der Kommunikation von Abb. 3 insofern eher gering, als es für die Sprecher hier eine gewisse Barriere gibt: da die Realisierungen von Ü Versuchen der Annäherung basilektaler Sprecher an eine überregionale Sprachform entsprechen, wird die Annäherung an eine solche Sprachform leicht als parodische Imitation einer „imperfekten“ Sprachform interpretiert und als beleidigend empfunden, weshalb die Sprecher hier die Pfeile α und β nach Möglichkeit gering halten werden. Eine Variante des Typs in Abbildung 3 ist die alloglotte Kommunikation, bei der Ü nicht eine Varietät von A und B ist, sondern eine eigene Sprache. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Deutscher mit einem Russen auf Englisch kommuniziert; oder wenn zwei Sprecher, deren Muttersprachen etwa Diola und Mandinka sind, im Senegal auf Wolof kommunizieren. Auch bei der alloglotten Kommunikation wird die jeweilige Realisierung der gemeinsamen Kommunikationssprache von den jeweiligen Kontaktsprachen geprägt sein. Zwischen der Kommunikation in einer überregionalen Varietät und der alloglotten Kommunikation gibt es wie zwischen Dialekt und Sprache keine scharfe Grenze. Entspricht der Typ von Abb. 3 einer allgemeinen sozialen Praxis, handelt es sich um Diglossie; bei alloglotter Kommunikation um Diglossie mit Bilinguismus. 7 Findet die alloglotte Kommunikation in einer Drittsprache statt, die von beiden Kommunikationspartnern nur gering beherrscht wird und aus der vor allem der Wortschatz bekannt ist, handelt es sich um Pidginisierung; die Weitergabe einer solchen Hilfsvarietät an eine neue Generation bei sozialer Üblichkeit der Kommunikation im Pidgin ist Kreolisierung. Bis hierher haben wir in wenigen Schritten und mit wenigen Typen von Symmetrie- oder Asymmetriekonstellationen eine große Bandbreite von Kommunikationssituationen erfasst, ohne dabei zu vergessen, dass sich dahinter unzählige differenzierte Varianten verbergen. So ist Kommunikation nicht auf zwei Gesprächspartner beschränkt und es können sich variierende Akkomodationsprozesse ergeben, wenn mehr als zwei Sprachen oder Varietäten im Spiel sind. Und zudem ist Akkomodation nicht stabil, sondern sie kann während 7 Vgl. Kabatek i. Dr.

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eines Gespräches sehr stark variieren – was auch in den Akkomodationsexperimenten der letzten Jahre immer wieder zum Ausdruck kommt. Auch kann Akkomodation sich sehr unterschiedlich auf die verschiedenen sprachlichen Strukturierungsebenen auswirken: beim Wortschatz finden andere Prozesse statt als in Syntax und Prosodie – darüber hinaus bedingen die verschiedenen Ebenen sich in einem System und können zu untereinander parallelen oder auch gegenläufigen Akkomodationstendenzen führen. 8 Es wird hier nicht möglich sein, all diese Faktoren im Detail zu diskutieren. Aber darum soll es auch gar nicht gehen. Wichtig ist mir hier, jenseits der individuellen Faktoren, die Frage der kulturellen Bedingtheit der in einer Gemeinschaft – oder besser: in einem Raum 9 – üblichen Grade der Akkomodation zwischen Sprachen oder Varietäten und die daraus resultierende Symmetrie oder Asymmetrie der Kommunikation hervorzuheben.

3. Zur historischen Bedingtheit der Akkomodationskultur Wie schon weiter oben angedeutet, ist auffällig, bis zu welchem Grade es in der Linguistik als Selbstverständlichkeit angesehen wird, dass Sprecher sich in einer gemeinsamen Varietät zu unterhalten versuchen. Sicher müssen Menschen eine gemeinsame Sprache sprechen, um sich zu verstehen, doch können in Kombination von aktiver und passiver Sprachkenntnis durchaus auch effiziente Kommunikationsformen zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen oder Varietäten bestehen, die eben nicht auf die aktive Kommunikation in derselben Sprache insistieren. In vielen Gebieten der Welt ist so etwas nicht unüblich. 10 Es wird auch zuweilen für die Kommunikation in internationalen Institutionen gefordert, 11 und in plurilingualen Familien ist es vielleicht der häufigste, sicher jedoch ein sehr häufiger Fall. 12

8 Vgl. Kabatek 1997. 9 Man könnte hier einwenden, dass es ja gerade nicht um eine Gemeinschaft, sondern um mindestens zwei Gemeinschaften geht, wenn Sprecher unterschiedliche Varietäten miteinander sprechen. Es ist daher vielleicht besser, von einem Sprachraum und dessen Kultur zu sprechen, auch wenn Sprecher zweier Varietäten nicht grundsätzlich verschiedenen Gemeinschaften angehören müssen. 10 Ein interessantes Beispiel ist die plurilinguale Situation in Nordaustralien mit üblicher „linguistic exogamy“ und aktiver wie passiver Kenntnis verschiedener Sprachen, vgl. Evans 2003: 41. 11 Vgl. die Arbeiten von François Grin zu den europäischen Institutionen (u.a. Grin 2005). Vgl. auch Lebsanft/Wingender 2012. 12 Bei innerfamiliärer plurilingualer Kommunikation nach dem Erziehungsprinzip One person, one language ergeben sich zwangsläufig asymmetrische Situationen: Auch wenn tendenziell Symmetrien zwischen Dialogpartnern dominieren, führt das Hinzukommen eines Dritten per definitionem zu einer Asymmetrie. Sehr oft beginnen Kinder auch, ab einem gewissen Zeitpunkt einer

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Wenn es aber durchaus Situationen asymmetrischer Kommunikation gibt – sei es in Familien, in Institutionen oder in plurilingualen Gebieten – so scheint die Symmetrie nicht naturgegeben zu sein – oder zumindest nicht zwangsläufig und ausnahmslos notwendig. Wenn dann in Gemeinschaften asymmetrische Kommunikation nicht nur auf individuellem Niveau und sozusagen als Ausnahme vorkommt, sondern einen sozialen Regelfall beim Aufeinandertreffen von Sprechern verschiedener Varietäten darstellt, so ist dies ein Faktum der Sprachkultur der entsprechenden Gemeinschaft. Und wie bei vielen kulturellen Fakten ist es hier so, dass die Teilhaber an einer bestimmten Kultur, sofern sie wenig Kontakt zu anderen Kulturen haben, ihre kulturellen Partikularitäten für Universalien halten und sich über Abweichungen wundern oder diese ablehnen, weil sie etwa in ihrer eigenen Kultur Unhöflichkeit ausdrücken würden. 13 So ist dies mit der Symmetrie im Großteil der westeuropäischen Sprachkulturen, und die Frage, die wir uns stellen sollten, ist die, ob dies schon immer so war oder eine Konsequenz bestimmter historischer Ereignisse ist – wobei die Hypothese der Kulturbedingtheit dies eigentlich schon beantwortet. Es müsste daher eine Sprachgeschichte der architektonischen Kultur geschrieben werden, also bezüglich der Frage, wie jeweils die einzelnen Varietäten eingeschätzt wurden und ob Akkomodation üblich war oder nicht. Beim Blick in die französische Sprachgeschichte fällt schon sehr früh auf (man denke an den vielzitierten Trouvère Conon de Béthune aus Artois und seine Scham, am Ende des 12. Jh. nicht wie in Pontoise, d.h. wie in Paris zu sprechen), dass es ein Prestigegefälle zwischen der Sprache der Île de France und anderen Varietäten gibt und dass diejenigen, die in Paris akzeptiert werden wollen, gehalten sind, ihren fremden Dialekt oder Akzent abzulegen. Blickt man aber im Gegensatz hierzu an andere Orte, etwa im 13. Jh. an den friedericianischen Hof nach Sizilien oder den alfonsinischen Hof nach Toledo, so fällt auf, dass dort große Vielsprachigkeit geherrscht hat und es sicherlich nicht so war, dass die okzitanischen Trobadore, die Galicier und die Italiener in Toledo untereinander toledanisches Kastilisch gesprochen haben, zumal, wenn sie gar nicht besonders lange in Toledo lebten. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Sprache den Vorzug zu geben und dann mit einem der Elternteile asymmetrisch zu kommunizieren. 13 Die Tendenz, eigene sprachkulturelle Traditionen als allgemeingültig anzusehen, kann man an vielen Beispielen interkultureller Unterschiede zeigen. Ein interessanter Fall ist das Anredeverhalten: in der deutschen Sprachkultur ist im Allgemeinen ein performativer Akt institutionalisiert, ab dem zwei Personen sich duzen. Eine Rückkehr zum Sie ist dann praktisch nicht mehr möglich. In anderen Kulturen ist es z.T. flexibel und ein situationeller Wechsel ist vollkommen üblich. Wenn ein spanischer Botschafter, der mich eben noch geduzt hat, kurz darauf in einem formelleren Kontext zum Sie übergeht, so habe ich als Deutscher das Gefühl, er wolle nun auf Distanz zu mir gehen oder irgendetwas sei zwischen uns vorgefallen – dabei ist es in der spanischen Sprachkultur ohne Weiteres akzeptabel und unproblematisch, sich so zu verhalten.

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es hier weit verbreitet war, dass jeder seine Varietät sprach und dass man diese im höfischen – und im klösterlichen Kontext etwa entlang des Jakobswegs – auch passiv verstand. 14 In Europa koexistieren also seit dem Mittelalter unterschiedliche varietätenkulturelle Formen, einerseits die der plurilingualen und asymmetrischen Kommunikation, andererseits die der monolingualen Symmetrie, die dann in der Renaissance und im Humanismus im Rückgriff auf die Antike in der europäischen Sprachkultur mehrheitlich verankert wird. Doch bleibt diese zunächst auf gewisse Schichten reduziert und wird erst durch die Ideologie der französischen Revolution – und auch hier zunächst erfolglos – popularisiert. Erst die Spätfolgen der Revolution, die allgemeine Schulbildung und die fortschreitende Durchsetzung überregionaler einheitlicher Kommunikationsformen – bis in die Gegenwart – führen zur „Universalisierung“ eines bestimmten Typs – bei gleichzeitigem Fortbestand bzw. lokaler Belebung alternativer Typen.

4. Konsequenzen für die „Varietätenkette“ Die zentrale These dieser Reflexionen – die Kritik an der Vorstellung, symmetrische Kommunikation sei ein Universale – hat zahlreiche Konsequenzen. So führt die kulturelle Bedingtheit von symmetrischer Kommunikation und die Tendenz zur standardnahen überregionalen Kommunikation auch zu einer modifizierten Sicht auf die sogenannte ‚Varietätenkette‘, jene Idee Coserius (1980: 112) des unidirektionalen, „orientierten“ Verhältnisses von Varietäten, die von Peter Koch und Wulf Oesterreicher (2011: 16) mit diesem Etikett versehen wurde. Ethnomethodologisch gesprochen ist die Tatsache, dass asymmetrisch kommuniziert wird, Beleg des Prestiges der jeweiligen Varietäten. 15 In Gemeinschaften, in denen trotz Kenntnis einer überregionalen Standardsprache asymmetrisch in diatopisch stark markierten Varietäten kommuniziert wird, sind daher diese Varietäten nicht per se prestigearm und als „diaphasisch niedrig“ markiert; auch eine soziolektale Markierung resultiert nicht unmittelbar aus dem Dialektgebrauch. 16 Die ‚Varietätenkette‘ im Coseriuschen Sinne scheint daher nicht einer universellen Konstellation zu entsprechen, 14 Am Beispiel etwa der von Beltrán 2005 zitierten vielsprachigen Gedichte sieht man das ästhetische Spiel mit dieser Situation am alfonsinischen Hof. 15 Ich meine hier die Tatsache, dass das Prestigeverhältnis zwischen Varietäten oder Sprachen in mehrsprachigen Gesellschaften sicherlich zuverlässiger am realen Sprachverhalten als an attitüdinalen Aussagen gemessen werden kann. 16 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es innerhalb des allgemeinen Rahmens weitere Binnendifferenzierungen gibt; so gibt es innerhalb der deutschschweizer Tendenz der Kommunikation in Mundart durchaus Subvarietäten, die eine soziolektale oder stilistische Differenzierung ausdrücken.

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sondern einem bestimmten historisch bedingten Typ, dem andere zur Seite gestellt werden müssen. Während in symmetrischer, standardnaher Kommunikation Dialekte als Stile funktionieren können, kann in der asymmetrischen Kommunikation die Standardsprache als Stil mit verschiedenen Funktionen (u.a. Parodie, Ironie, Offizialität, Vorlesestil etc.) verwendet werden. Hier wäre zu überlegen, ob dennoch die Markiertheit von Varietäten und die Tatsache ihrer gegenseitigen Beziehung als Universale postuliert werden sollte und lediglich die Richtung der Beziehung und die jeweilige Füllung des Varietätenraums Folge historischer Konstellationen und sprachkultureller Faktoren ist.

5. Fazit und Aufgaben Ich fasse zusammen: Auch wenn Akkomodation eine universelle Tendenz zu sein scheint, wird sie doch durch eine Reihe von Faktoren gesteuert: – individuelle Präferenzen (es gibt akkomodationsfreundlichere und akkomodationsresistentere Personen). Diese ergeben sich einerseits aus individuellen Fähigkeiten (die Fähigkeit zur Akkomodation ist keinesfalls bei allen Individuen gleich ausgebildet und hängt auch schlicht von der Kenntnis anderer Sprachformen ab), andererseits durch – attitüdinale Präferenzen: die Anpassung an „sympathische“, prestigereiche Varietäten ist wahrscheinlicher als an „unsympathische“, prestigeärmere Varietäten. Darüber hinaus, und dies war die zentrale Aussage unserer Ausführungen, ist die Neigung oder Resistenz gegenüber Akkomodation kulturell und historisch bedingt und Teil des Varietätenwissens, das in einer Gemeinschaft vermittelt wird. Als kulturelles und historisch bedingtes Wissen ist es wandelbar, interkulturell unterschiedlich und mögliche Quelle kultureller Konflikte. Nicht nur in der europäischen Geschichte, auch in kolonialen und postkolonialen Situationen ist die Erforschung der jeweiligen Akkomodationskultur und ihrer Geschichte ein vernachlässigtes und dennoch bedeutendes Feld, das mit soziolinguistischen Betrachtungsweisen von Varietätenkonstellationen interagiert und eigentlich diesen sogar vorgeschaltet ist. In diesem Sinn ist es auch richtig, wenn die Tendenz bei der Modellierung von Sprachkontaktsituationen, wie sie in den letzten Jahren mit verschiedenen mathematischen Methoden vorgeschlagen wurde – bei aller Problematik der hierbei üblichen Reduktion der realen Komplexität – von Studien ausgeht, die

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bei der individuellen Handlungsweise ansetzt. 17 Auch wenn hier bislang noch viel zu kritisieren ist, müsste es doch Wege geben, die auch die Akkomodationskultur in angemessener Weise bei der Modellierung berücksichtigen.

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17 Vgl. Kabatek 2012, Kabatek/Loureiro-Porto 2013.

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Monika Wingender Sprachenpolitik in der Russischen Föderation. Zur Simulation der Implementierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in Russland

1. Einleitende Bemerkungen Europa zeichnet sich bekanntlich insgesamt durch eine große sprachliche und ethnische Vielfalt aus; hier ragt die Russische Föderation (RF) mit mehr als 150 Sprachen (lt. Zensus von 2002, vgl. auch Tiškov/Stepanov/Funk/Artemenko 2009: 2) 1 und deren großen Funktions- und Verbreitungsspektrum deutlich hervor. So haben bspw. 25 Sprachen (darunter Tatarisch, Burjatisch, Mari u.a.) den Status einer Republik-Staatssprache (Anm.: die RF umfasst insgesamt 21 Republiken); sie werden in den gegebenen Republiken, wenn auch im deutlich unterschiedlichen Maße, verwendet und sind aufgrund dieses offiziellen Status rechtlich gut geschützt. Weitere Sprachen haben bspw. den Status der Sprache eines indigenen kleinen Volkes 2 (derzeit 47, vgl. Tiškov et al. 2009: 7) und stehen so unter besonderem gesetzlichen Schutz. 3 Abgesehen vom Russischen gibt es in der RF somit Sprachen mit über einer Mio. Sprecher (insgesamt 7 Sprachen, z.B. Tatarisch: 5,3 Mio., Ukrainisch: 1,8 Mio.) und eine große Gruppe von Sprachen, bei denen die Sprecherzahl im sechs- bis vierstelligen Bereich liegt, sowie Sprachen mit einer Sprecherzahl im Bereich von unter 1000 (insgesamt 41, z.B. Aleutisch: 175). 4 Diese Sprachenvielfalt ist eine besondere Herausforde1 Tiškov et al. 2009 ist einer der beiden Expertenvorträge im Rahmen des unter 3. behandelten Gemeinsamen Programmes zur Simulation der ECRM in Russland; der zweite Expertenvortrag von Krugovych 2009 behandelt rechtliche Aspekte – beide Expertenvorträge sind auf der Seite des Büros des Europarates in Russland abrufbar, siehe im Literaturverzeichnis unter den Autorennamen. 2 Zu den Definitionskriterien zählen u.a. ‚weniger als 50 Tausend Personen‘ und ‚traditionelle Lebensweise‘, vgl. Sokolovski 2005: 19. 3 Zu den verschiedenen auf Ethnizität basierenden Kategorien im Zensus von 2002 vgl. Sokolovski 2005. 4 Alle Angaben nach Tabelle 3, S. 12 und weiteren Tabellen im Anhang von Tiškov et al. 2009.

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rung für sprachpolitische Strategien, Maßnahmen und Programme – dies sowohl in Bezug auf die Sprachkorpus, -status, -prestige und -lernplanung im Vielvölkerstaat Russland selbst als auch hinsichtlich der Minderheitensprachenregelungen in internationalen Organisationen, deren Mitglied die RF ist. Hier ist insbesondere der Europarat mit der Europäischen Charta der Regionaloder Minderheitensprachen (ECRM) zu nennen, deren Ziel laut Präambel u.a. ist: that the protection of the historical regional or minority languages of Europe, some of which are in danger of eventual extinction, contributes to the maintenance and development of Europe’s cultural wealth and traditions. 5

Auf Initiative des Jubilars, Franz Lebsanft, hat die Verf. dieses Beitrags zusammen mit ihm zwei Sammelbände zur ECRM herausgegeben, darunter einen Tagungsband zu begrifflichen Grundlagen der ECRM und zur sprachpolitischen Diskussion um die ECRM in ausgewählten Ländern (Lebsanft/Wingender 2012a) sowie ein Handbuch mit einer systematischen Darstellung der Anwendung der ECRM in allen Ratifizierungsländern (Lebsanft/Wingender 2012b). Angesichts der beiden Sammelbände geht dieser Beitrag auf grundlegende Informationen zur ECRM nicht mehr ein. Eine umfassende Betrachtung der Sprachenpolitik im Hinblick auf die Sprachenvielfalt in der RF würde den Rahmen eines Aufsatzes sprengen. Deswegen sei im Folgenden ein spezieller Aspekt der Sprachenpolitik ausgewählt, nämlich, wie die Minderheitensprachenpolitik in der RF angesichts des Simulationsprojekts zur Implementierung der ECRM in Russland einzuschätzen ist. Denn die RF hat die ECRM 2001 unterzeichnet, jedoch bisher nicht ratifiziert. Nach kurzen Anmerkungen zu den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der ECRM im östlichen und westlichen Europa (2.) werden in diesem Beitrag nach der Betrachtung der Ergebnisse des erwähnten Simulationsprojektes (3.) abschließend unter 4. – im Rahmen dieses Aufsatzes in der gebotenen Kürze – Aspekte der Nationalitätensprachenpolitik im Lichte der aktuellen Tendenzen in der Sprachenpolitik der RF insgesamt eingeordnet. Dieser Beitrag zur ECRM und ihrer Diskussion in der Sprachenpolitik der RF trägt somit insbesondere der in diesem Festschrift-Sammelband anvisierten Perspektivierung der Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Rechnung.

5 Zitiert nach der englischen Version der Charta auf der Internetseite des Europarates: www.coe.int/t/dg4/education/minlang/textcharter/default_en.asp.

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2. Die ECRM im östlichen und westlichen Europa – unterschiedliche Rahmenbedingungen Wie ist generell die Anwendbarkeit der ECRM in den östlichen Mitgliedsstaaten des Europarates einzuschätzen? 6 Die Geschichte des nation-building in Ländern des östlichen Europa und die damit verbundene Sprachenpolitik unterscheiden sich wesentlich von der vieler Länder des westlichen Europa. Aus Platzgründen seien hier allein zwei Aspekte genannt. Zum einen ist die Sprachenvielfalt in vielen Ländern des östlichen Europas weitaus größer als im westlichen Europa. Zum anderen, und dies trifft insbesondere auf die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu, entsteht vor dem Hintergrund der sprachpolitischen Geschichte dieser Länder durch die Anwendung der ECRM eine verkehrte Welt: Aufgrund des Erbes der jahrzehntelangen sowjetischen Sprachenpolitik und der de facto Dominanz der lingua franca Russisch sind es nach dem Zerfall der UdSSR viele der neuen Titular-Staatssprachen der unabhängigen Nachfolgestaaten, die Schutz und Ausbau benötigen, nicht aber das Russische, das dort heute meist den Status einer Minderheitensprache hat. Zwar haben viele östliche Europarats-Mitgliedstaaten die ECRM ratifiziert oder unterschrieben, 7 um ihrer Verbundenheit mit dieser internationalen Institution Ausdruck zu verleihen oder auch weil sie als Mitgliedsstaat des Europarates dazu verpflichtet sind – aber dennoch muss die Frage gestellt werden, ob die ECRM generell auf Staaten anwendbar ist, deren nationale und sprachpolitische Geschichte sich doch mehr als offensichtlich von der des westlichen Europas unterscheidet. Besonders deutlich wird dies jetzt in der Ukraine, welche die ECRM 2005 ratifizierte. Als eine von 13 zu schützenden Sprachen wird in ihr das Russische genannt. Laut Zensus von 2001 8 beträgt die russische Minderheit in der Ukraine 17,3%. Die ECRM schützt aber keine Minderheiten, sondern führt unter der Definition von Regional- oder Minderheitensprache ausdrücklich den Gebrauch der Sprachen an. Und hier ergibt sich in der Ukraine die besondere Situation, dass neben der Staatssprache Ukrainisch das Russische in der Bevölkerung sehr weit verbreitet und in einigen funktionalen Sphären dominant ist (vgl. Besters-Dilger 2013b und das Kapitel zu „actual language usage“ in Moser 2013: 49-61). Damit gehört das Russische nicht zu den im Sinne der ECRM zu schützenden Sprachen in der Ukraine. Die Hintergründe

6 Zu Vor- und Nachteilen der ECRM vor dem Hintergrund der westeuropäischen Erfahrungen vgl. Besters-Dilger 2012, des Weiteren Besters-Dilger 2013a in einem breiteren Rahmen und im Hinblick auf die ECRM in den slavischsprachigen Staaten. 7 Vgl. hierzu die Einleitung in Lebsanft/Wingender 2012b: 1ff. 8 Vgl. 2001.ukrcensus.gov.ua/rus/results/general/nationality/.

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und Geschichte der Ratifizierung der ECRM in der Ukraine behandelt Moser 2013, der gleich zu Beginn des entsprechenden Kapitels schreibt: As the Russian language currently cannot be established as a second state language of Ukraine, it is the European Charter for Regional or Minority Languages that has paradoxically become the most important instrument for the promotion of Russian in Ukraine – a language that fails to meet the criteria of a regional or minority language as defined by the Charter (Moser 2013: 71).

Die ECRM-Ratifizierung wurde instrumentalisiert, um in der Ukraine ein umstrittenes Sprachengesetz 9 auf den Weg zu bringen und schließlich 2012 zu verabschieden, das u.a. den Schutz des Russischen beinhaltet (vgl. BestersDilger 2013b und die ausführliche Darstellung zu den Hintergründen und Diskussionen um das Sprachgesetz von Moser 2013). Von der Kiewer Übergangsregierung war im Februar 2014, inmitten der Krise und ohne neuen Vorschlag, die Aufhebung dieses Sprachengesetzes, das vor allem dem Russischen in vielen Regionen einen offiziellen Regionalsprachenstatus verlieh, beschlossen worden. Zwar wurde dieser Beschluss bekanntlich nicht vollzogen, aber der Symbolcharakter dieser Maßnahme zu diesem Zeitpunkt führte zur Ausweitung der sprachenpolitischen Diskussionen in der Ukraine. Die Ukraine ist derzeit aufgrund der tagespolitischen Ereignisse einer der intensiv diskutierten Fälle im Hinblick auf ethnische und Sprachenkonflikte. Damit die ethnische und sprachliche Situation in den multilingualen Staaten des östlichen Europas 10 nicht aus den Fugen gerät, sondern vielmehr Festigung erfährt, sollte die noch nicht erfolgte Ratifizierung der ECRM wie im Fall Russlands nicht unter Druck verfolgt werden. Der aktuelle Fall der Ukraine zeigt, wie kontraproduktiv dies für die Sprachenpolitik in einem multilingualen Land sein kann.

3. Zum Projekt: Simulation der Implementierung der ECRM in Russland Zur Vorbereitung der Ratifizierung der ECRM durch die RF und vor dem Hintergrund der sehr komplexen sprachlich-ethnischen Situation in Russland begann 2009, acht Jahre nach der Unterzeichnung der ECRM durch Russland, 9 Про засади державної мовної політики, Стаття 7. Регіональні мови або мови меншин України („Über die Prinzipien der staatlichen Sprachpolitik, Art. 7, Regionalsprachen oder Sprachen der Minderheiten der Ukraine“). 10 In einem breiteren Rahmen, nicht nur im Hinblick auf die ECRM, diskutiert auch Kymlicka 2002, inwieweit westliche Modelle des Multikulturalismus und der Minderheitenrechte auf postkommunistische Länder im östlichen Europa übertragbar sind.

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mit dem dreijährigen gemeinsamen Projekt von Europarat, Europäischer Union und Ministerium für Regionalentwicklung der RF „Minorities in Russia: Developing Languages, Culture, Media and Civil Society“ eine umfangreiche Probeanwendung der ECRM in der RF. Als Pilotregionen wurden ausgewählt: Republik Mordwinien, Region Altai, Republik Dagestan 11 und zusätzlich Region Krasnojarsk und Republik Karelien. Da nur die Evaluationsberichte zur Republik Mordwinien und zur Region Altai publiziert wurden, werden lediglich diese beiden im Folgenden berücksichtigt. Die Darlegung der Ergebnisse des Simulationsprojekts beginnen wir mit der Auswertung der beiden Evaluationsberichte, an die wir die Analyse weiterer Dokumente anschließen. Zur Region Altai in Sibirien liegen der Sachverständigenbericht und Vorschläge für Empfehlungen des Ministerkomitees auf der Grundlage der Simulationsergebnisse vor. 12 Da die Sachverständigenberichte in Englisch verfasst und anschließend ins Russische übersetzt wurden (Wicherkiewicz 2012: 56), liegt diesem Aufsatz die englische Originalfassung zugrunde. Aus dem Sachverständigenbericht seien hier nur die wesentlichen Punkte zusammengefasst. Da es sich nur um die Simulation der Anwendung der Charta handelt, beschränkte sich die Simulation auf drei Minderheitensprachen in der Region Altai: auf Deutsch, Kasachisch und Kumandinisch. In Bezug auf Teil II der Charta merkt der Evaluationsbericht an, dass die russischen Behörden das Bewusstsein für die Vorteile des Bilingualismus unter der deutschen und kumandinischen Minderheit sowie auch in der Öffentlichkeit insgesamt erhöhen sollten. In Bezug auf den Unterricht in Kumandinisch seien die Schulausbildung und die Ausbildung der Lehrer zu verbessern. Des Weiteren seien die russischen Behörden zu ermutigen, den Unterricht zur Geschichte und Kultur der Minderheiten zu entwickeln und in das allgemeine Curriculum russischer Schulen einzuschließen. Teil III der ECRM würde laut Evaluationsbericht nur auf Deutsch und Kasachisch angewendet. Aus Platzgründen müssen wir uns hier auf eine stichpunktartige Auflistung der Ergebnisse des Evaluationsberichts im dritten Kapitel beschränken: Unter B. bescheinigt der Evaluationsbericht der RF, dass sie formal bereits ein hohes Niveau des Minderheitensprachenschutzes habe. Dennoch sei, vor allem im Falle des Kumandinischen und im geringeren Maße für das Deutsche, festzustellen, dass der Gebrauch dieser Sprachen im Verschwinden begriffen (C.), während die Situation des Kasachischen besser sei. Unter D. 11 Hier konnte kein Sachverständigenbesuch vor Ort stattfinden – die Schwierigkeiten schildert Wicherkiewicz 2012: 62, und von der Publikation des Sachverständigenberichts wurde aufgrund des unzureichenden Verlaufs der Simulation abgesehen, so dass Dagestan bei der folgenden Darlegung der Simulationsergebnisse nicht berücksichtigt werden kann. 12 Vgl. www.coe.int/t/dg4/education/minlang/AboutCharter/AltaiKray_en.pdf.

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wird festgehalten, dass das Kumandinische bald nicht mehr zu den verwendeten Sprachen gehöre, wenn nicht schnell intensive Maßnahmen ergriffen würden. Im Falle des Deutschen im Deutschen Nationalkreis könnten aufgrund der Geschichte und Siedlungsbedingungen leicht Maßnahmen zur Ausweitung der Sprache getroffen werden – von einer nur im privaten Bereich unter älteren Sprechern gesprochenen zu einer in allen Sphären des Alltagslebens verwendeten Sprache. Die Vorschläge für Empfehlungen des Ministerkomitees in Kapitel 3.2. des Evaluationsberichts empfehlen entsprechend für das Deutsche bspw. den Übergang des Modells mit Deutsch als Unterrichtsfach zu zweisprachiger Erziehung in Deutsch und die Erhöhung der Anzahl der Lehrer, die Einrichtung eines TVKanals und die Erhöhung der Präsenz des Deutschen im Radio und insgesamt in den Massenmedien. Für das Kumandinische wird die Bereitstellung angemessener Mittel für den Unterricht zumindest in der Vorschule sowie im Grund- und höheren Schulwesen empfohlen, für das Kasachische die Erhöhung der finanziellen Unterstützung für kasachische Bildungsinstitutionen. Der Evaluationsbericht zur Republik Mordwinien von 2009 13 umfasst neben dem Sachverständigenbericht auch Vorschläge für in das Ratifizierungsinstrument einzuschließende Maßnahmen gemäß ECRM. Folgende Sprachen wurden im Simulationsprojekt analysiert: Erza, Mokša (diese beiden haben den Status einer Republikstaatssprache) und Tatarisch. Aus Platzgründen sei hier nur auf die Ergebnisse am Ende des Evaluationsberichts eingegangen: Wie im Falle der Region Altai wird auch hier in formaler Hinsicht ein hohes Niveau des Schutzes der Sprachen bescheinigt. Insgesamt ist dieser Bericht in seinen Schlussfolgerungen weniger kritisch als der zur Altai Region. Im Falle dieser drei Sprachen gelten schon mehr als 35 Maßnahmen gemäß der ECRM, also die durch die ECRM geforderte Mindestzahl für Teil III. Somit ist hier mit dieser Mindestforderung von 35 Maßnahmen der ECRM keine Verbesserung der Situation zu erreichen. Am Ende macht der Evaluationsbericht Vorschläge für Maßnahmen, die in das Ratifizierungsinstrument eingeschlossen werden könnten, für Mokša und Erza insgesamt 61 Maßnahmen, für Tatarisch 39. Dabei betont Wicherkiewicz (2012: 59) in seinem Bericht zum Simulationsprojekt in Mordwinien – und dies sei auch hier hervorgehoben – dass zwar der formale Status von Mokša und Erza gut sei, nicht aber ihr faktischer Status. Dass doch eine deutliche Diskrepanz zwischen nominellem Status und tatsächlicher Verwendung von Erza und Mokša besteht, belegt auch die soziolinguistische Fachliteratur (vgl. bspw. Pussinen 2010).

13 Vgl. old.coe.ru/doc/JP_minorities/News%20January%202011/ENG%20Simulation%20Report%20Mordovia.doc.

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Wie werden nun nach erfolgter Simulation, wie sie in den oben besprochenen Evaluationsberichten dokumentiert ist, die Aussichten für den Ratifizierungsprozess in der RF von Seiten des Europarats einerseits und der RF andererseits eingeschätzt? Den folgenden Ausführungen liegt die im Rahmen des Simulationsprojekts erschienene Publikation von Kožemjakov/Sokolovskij (2012) 14 zugrunde, welche die Ergebnisse des Simulationsprojektes mit Beiträgen aller am Simulationsprojekt Beteiligten zusammenfasst. Da dieser Aufsatz nicht in einem slavistischen, sondern in einem romanistischen Band erscheint, wird im Folgenden der Einfachheit halber nicht nach der russischen, sondern nach der englischen Version als Kozhemyakov/Sokolovskiy (2012) (siehe Anmerkung 14) zitiert. Im Beitrag von Zhuravsky, Direktor der Abteilung für interethnische Beziehungen des Ministeriums für Regionalentwicklung der RF, werden Ergebnisse bzw. unbeantwortete Fragen zusammengestellt (2012: 15ff.). Da diese so oder in anderer Form auch in den anderen Beiträgen des Sammelbandes zum Simulationsprojekt zur Sprache kommen, seien im Folgenden einige zentrale Punkte Zhuravskys zugrunde gelegt und mit Argumenten anderer Autoren des Sammelbandes vervollständigt. Vorangestellt sei, dass in allen Dokumenten als Herausforderung für die Ratifizierung immer wieder die enorme Sprachenvielfalt in der RF genannt wird. Weitere Aspekte sind: – Besonderheiten des russischen Föderalismus im Hinblick auf die Ratifizierung der ECRM: Hier wird insbesondere die Aufgabenverteilung zwischen der föderalen und regionalen Ebene angesprochen sowie die unterschiedliche Behandlung der Sprachen, so der seitens der Republiken gesetzlich festgelegte Schutz der Republik-Staatssprachen und anderer Sprachen; – Sprachen der Minderheiten oder Sprachen der Migranten? Zhuravsky (2012: 16) weist darauf hin, dass der Terminus Minderheitensprachen anstelle von dem in der RF üblichen Terminus Nationalitätensprachen von vielen Nationalitäten der RF zurückgewiesen werde; so auch Kozhemyakov (2012: 29). Wicherkiewicz (2012: 66) bemerkt hierzu:

14 Die auf der Seite des Europarates unter www.coe.int/t/dg4/education/minlang/Source/Publications/Bibliography_ECRML.pdf angegebenen Literaturhinweise sind nicht verlinkt. Die russischsprachige Publikation Kožemjakov/Sokolovskij 2012 ist auf der Internetseite des Ministeriums für Regionalentwicklung der RF unter www.minregion.ru/uploads/attachment/documents/2012/08/publikacia-ce-rus-prav.pdf abrufbar. Auf Anfrage hat das Sekretariat der ECRM des Europarates der Verf. die in der Literaturliste auf der Seite des Europarats angegebene englische Publikationsfassung als gescanntes Dokument zugesendet, die im Rahmen dieses Aufsatzes parallel zu der russischen gelesen wurde, um so ggf. Textabgleiche vornehmen zu können.

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During some discussions, especially with representatives of scholarly/academic institutions, the terminological issues overshadowed the debate on the contents and spirit of the Charta, this was the case of defining the ‚national minorities‘ or ‚regional languages‘ in exact terms corresponding with the Russian official terminology.

Stepanov (2012: 45) schlägt statt Minderheitensprachen für die RF den Terminus „minoritarnye jazyki“ (‚minoritäre Sprachen‘) vor. Auch die Abgrenzung von Minderheitensprachen und Sprachen der Migranten sei für die RF schwierig (Zhuravsky 2012: 16, so auch Stepanov 2012: 40 15); – Widerspiegelung der Verpflichtungen, die von den ausländischen Experten vorgeschlagen werden, als Herausforderung für die konstitutionelle Gleichheit der Rechte der Völker: Zhuravsky (2012: 16) verweist hier auf die Schwierigkeit, dass Sprachen in verschiedenen Situationen einen unterschiedlichen Status haben (Beispiel Tatarisch als Republik-Staatssprache in Tatarstan einerseits und andererseits Tatarisch als Teil der Sprachenvielfalt in anderen Subjekten der RF); hierfür müssten jeweils unterschiedliche Verpflichtungen gewählt werden, was aber nicht dem Prinzip der konstitutionellen Gleichheit in der RF entspreche. Hierzu zusammenfassend Zhuravsky (2012: 17): Discussions of the ‚mirror approach‘ to likely obligations under the Charter within the framework of this joint project have already created protests from language speakers considering such an approach unjust and contradictory to the spirit of the Constitution of the Russian Federation.

Stepanov (2012: 46f.) weist jedoch darauf hin, dass auch die Verfassung der RF eine Differenzierung im Hinblick auf Sprachenrechte vorsehe, so z.B. durch die Festlegung des Russischen als einziger Föderationsstaatssprache; – Liste der Sprachen: Eine aus der enormen Sprachenvielfalt zu erstellende Liste von Sprachen wird als Problem in vielen Beiträgen gesehen, so in Tishkov et al. (2012: 34): However, the compilation of ‚lists‘ should be avoided (a possible exception being the languages of indigenous minorities of the North), because it may create inequality in the statuses of languages. This would contradict the principle of language equality indicated in the Constition of the Russian Federation.

Auf diesen Punkt weisen auch mehrere der anderen Beiträge in Kozhemyakov/Sokolovskiy hin – im Zitat der Recommendations of the Public Hearings (2012: 77) werden mögliche Auswirkungen auf die RF noch einmal verschärft ausgesprochen: 15 Stepanov 2012 ist die Zusammenstellung der Resümees der Vorträge der gemeinsamen Arbeitsgruppe zum Simulationsprojekt; Stepanov ist Mitarbeiter im Institut für Ethnologie und Anthropologie der Akademie der Wissenschaften.

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A possible procedure of ratification of the Charter would open up a path to the restarting of a national discussion on the status of individual minorities and languages that may ultimately lead to the destabilizaton of the situation in the country.

– Monitoring der Verpflichtungen und Anzahl der benötigten Experten (Zhuravsky 2012: 19): Hier wird die Frage gestellt, wie das vom Europarat regelmäßig vorgesehene Monitoring angesichts der enormen Sprachenvielfalt in der RF bewältigt werden soll. Neben weiteren Aspekten stellt Zhuravsky (2012: 22) am Ende seines Beitrags die, auch in anderen Beiträgen erwähnte, Frage nach dem Mehrwert 16 der ECRM für die RF: Quite sincere and humanly understandable attempts of the European experts to declare the Charter’s universality, including, of course, for Russia (whose specificity was reduced simply to a great number of languages), could not provide acceptable solutions for the issues that arose in the course of discussions (as already mentioned above). And no answer was found to the central question – what will be the ‚added‘ value of the Charter ratification for Russia, in general [...].

Und nach dem Mehrwert einerseits und den potentiellen Risiken andererseits fragen auch Recommendations of the Public Hearings (2012: 74f.). Diese kommen zu dem Schluss, dass eine Ratifizierung nur von Teil II der ECRM durch die RF möglich wäre, verbunden mit dem Vorschlag (Recommendations of the Public Hearings 2012: 76): If the ratification of Part II alone is impossible, in order to reinforce the general European space from the Atlantic to the Pacific it would be feasible to launch a process of revision of the European Charter for Regional or Minority Languages, considering the conditions in all the countries of Europe.

Faktenreich sind die beiden im Rahmen des Simulationsprojektes gehaltenen Expertenvorträge 17 − von Tiškov et al. (2009) zur Situation der Sprachenvielfalt und von Krugovych (2009) zur Gesetzgebung im Hinblick auf die Minderheitensprachen in Russland. Tiškov et al. (2009: 5ff.) gehen neben reichhaltigen Informationen zur Sprachenvielfalt in der RF in ihrem Expertenvortrag insbesondere auf das Verständnis des Begriffs „nacionaln'nye menšinstva“ (‚nationale Minderheiten‘) in der RF ein, der dort in der Regel vermieden wird, siehe oben. Wohlwissend, dass die Charta Sprachen und nicht Ethnien schützt, stoße 16 Vgl. dazu auch Stepanov 2012: 43f.: Im Rahmen der Resümees der Vorträge der gemeinsamen Arbeitsgruppe werden unter 3. einige allgemeinere Aspekte zum Mehrwert dargelegt, so z.B. dass dadurch erstmals in der RF die faktische Situation der im Regional- und Minderheitenschutz angewandten Maßnahmen dargelegt wird u.a. 17 In der Publikation zum dreijährigen Gemeinsamen Programm von Kožemjakov/Sokolovskij 2012 sind nur kurze Zusammenfassungen dieser beiden Expertenvorträge enthalten; die Langfassung der Vorträge war zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags im September 2014 auf der Internetseite des Büros des Europarats in Russland abrufbar: old.coe.ru/doc/men/info/.

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der Begriff der Minderheit dennoch in Teilen der Politik und Wissenschaft (vor allem in den Republiken) auf Kritik. Als ein Grund werden in dem Expertenvortrag die in Russland üblichen Schutzkategorien angegeben, die Sprachen mit einem bestimmten Status schützen, wobei drei Statusgruppen unterschieden werden: Sprachen mit dem Status als Republik-Staatssprachen, Sprachen der Titularbevölkerung und Sprachen der indigenen kleinen Völker. In 11 von insgesamt 21 Republiken sei die Titularbevölkerung derzeit in der zahlenmäßigen Minderheit (z.B. in Karelien, wo die Titularbevölkerung 9,2% ausmache – vgl. die Tabelle Tiškov et al. 2009: 6f.), wobei die Sprachen dieser zahlenmäßigen Minderheit des Titularvolkes aber durch die Republikverfassungen geschützt bzw. begünstigt seien, so dass diese eigentlich nicht als (schützenswerte) Minderheiten (im Sinne der Charta) betrachtet werden können. Der ausführliche Expertenvortrag zur Sprachengesetzgebung von Krugovych (2009), der u.a. die Vorgaben der ECRM mit der bestehenden Gesetzgebung in der RF vergleicht (s. dort Kap. II und den Anhang zum Vortrag), hebt die Nichtvergleichbarkeit der russischen Sprachenvielfalt mit anderen Mitgliedstaaten des Europarats hervor. Wie Lebsanft/Wingender in ihrer Einleitung (2012: 4) führt auch Krugovych (2009: 39) an, dass in den bisherigen Ratifizierungsstaaten die Anzahl der geschützten Sprachen im einstelligen Bereich liegt – allein Polen (15) und die Ukraine (13) schützen Sprachen im zweistelligen Bereich und liegen damit an der Spitze der bisherigen ECRM-Ratifizierungsstaaten. Angesichts der sehr hohen Anzahl von Regional- und Minderheitensprachen in der RF und vor dem Hintergrund der konstitutionell verankerten Gleichheit (vgl. dazu jedoch unter 4.) sieht auch er, wie schon oben in der Aufstellung Zhuravskys erwähnt, eine dementsprechende Auswahl von Sprachen in der RF als kaum vorstellbar an (Krugovych 2009: 40).

4. Abschließende Bemerkungen zum Projekt der Simulation der ECRM vor dem Hintergrund der Sprachenpolitik in der RF Eine strategisch geplante Sprachenpolitik und das Management der enormen Sprachenvielfalt haben in der RF, wie auch davor in der Sowjetunion, eine lange Tradition und sind vielfach Gegenstand sowohl der russischen als auch der internationalen sprachwissenschaftlichen Forschung gewesen (als Beispiel seien hier allein die Handbuchartikel von Glück (1984) und Comrie (1999) angeführt). Dass angesichts der enormen Sprachenvielfalt in der RF und im Hinblick auf die ausstehende Ratifizierung der ECRM durch die RF zunächst ein gemeinsames Projekt zur Simulation vorgeschaltet wurde, ist zweifelsohne positiv zu bewerten. Dabei zeigen die Ergebnisse aber auch, dass die ECRM – nicht zuletzt aufgrund ihres universellen Charakters – ein eher mechanisches,

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formales Instrument ist, das letztlich nur begrenzt Aussagen über eine Sprachsituation, gerade im Hinblick auf die häufig vorzufindende Diskrepanz von nominellem Status und faktischer Sprachverwendung, machen kann. In Bezug auf die RF kommt hinzu, dass sich hier etwa seit der Jahrtausendwende neue Tendenzen in der Sprachenpolitik abzeichnen, die im Diskurs der Experten zur ECRM, so wie er aus den oben genannten Publikationen ablesbar ist, keine Rolle spielen, oder besser: spielen können, was sich durch den engen Rahmen dieses Instruments ergibt. In Wingender (2013) wird dargestellt, dass sich die RF einerseits de iure weiterhin als multiethnischer und multinationaler Staat versteht, andererseits aber vor allem seit der Jahrtausendwende sprachbezogene Gesetze in Kraft treten, welche auf eine monolinguale (russische) Sprachsituation im Vielvölkerreich abzielen. Dies wird in der genannten Publikation als zunehmendes Spannungsfeld zwischen föderaler und republikanischer Ebene beschrieben. 18 Exemplarisch für diese neuen Tendenzen sei hier allein auf Folgendes verwiesen (Weiteres vgl. in Wingender 2013: 326f.): So erfahren die Minderheitensprachen in der RF Einschränkungen durch das neue föderale Bildungsgesetz von 2007, das die vormals gesetzlich verbrieften regionalen Komponenten im Bildungssystem abschafft. Auch Staatsexamina (und damit die Hochschulzugangsberechtigung) in den Republik-Staatssprachen sind nun nicht mehr möglich, da das Bildungsgesetz mit der Einführung des einheitlichen Staatsexamens nur in russischer Sprache verbunden ist. Kritisiert wird zudem seitens der Republiken immer wieder, dass es föderale Zielprogramme bisher nur zur Förderung des Russischen gibt, nicht aber zur Förderung der Nationalitätensprachen. Angesichts dieser Entwicklungen ist festzuhalten: Wenn, wie oben dargestellt, im Zuge des Simulationsprojektes als ein Argument gegen die ECRM immer wieder angeführt wird, der Schutz verschiedener Sprachen durch unterschiedliche Maßnahmen sei nicht in Einklang zu bringen mit der in der RF verfassungsmäßig verankerten Gleichheit der Ethnien und Sprachen, dann ist darauf zu antworten, dass die RF selbst in ihrer Verfassung und Sprachenpolitik die unterschiedliche Behandlung der Sprachen vorsieht. Einerseits zeigt sich dies in der Festlegung des Russischen als einziger Föderations-Staatssprache, andererseits in den neuen Tendenzen der Sprachenpolitik, die durch eine (einseitige) Förderung des Russischen charakterisiert sind, während für die nicht-russischen Nationalsprachen keine entsprechenden Programme entwickelt werden. 18 Mustafina/Kalganova 2012: 5 drücken dies diplomatisch aus: „Это выражается и в том, что последние годы характеризуются определëнной озабоченностью регионов России в отношении федеральной языковой политики, особенно в сфере образования. Невозвожность сдачи ЕГЭ на родном языке, отмена национально-культурного компонента и новые федеральные государственные стандарты имеют тенденцию игнорирования потребностей регионов в национально-ориентированном образовании“.

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Hier zeigen sich die Grenzen eines Instrumentes wie der ECRM deutlich, denn eine Evaluation der Sprachsituation vor dem Hintergrund sowohl der aktuellen Sprachenpolitik als auch ihrer historischen Prinzipien ist mit diesem Instrument nicht möglich und auch nicht angestrebt. Nur so aber kann der Gebrauch der Regional- und Minderheitensprachen adäquat eingeschätzt werden. Neben dieser generellen Einschätzung der ECRM und der Sprachsituation in der RF stellen sich im Hinblick auf das oben dargestellte Simulationsprojekt auch weitere Fragen, von denen hier aus Platzgründen nur eine herausgegriffen sei: Im Hinblick auf die Frage, welche Sprachen der RF dem Begriff der Regional- oder Minderheitensprachen der ECRM entsprechen, hat sich der Verfasserin dieses Beitrags nicht erschlossen, warum in mehreren der unter 3. genannten Publikationen die Republik-Staatssprachen als Entsprechung zu den Regionalsprachen im Sinne der ECRM angeführt werden. Logischerweise erfüllen sie mit ihrem Status als Republik-Staatssprache die Kriterien nach Teil III der ECRM, aber letztlich sagt dies wenig über ihre Verwendung, wie von der ECRM gefordert, aus – man vergleiche die vergleichsweise stabile Situation der Republik-Staatssprache Tatarisch mit der des Erza und Mokša (siehe unter 3.) in Mordwinien, wo sich nomineller Status und faktische Situation durch eine große Diskrepanz auszeichnen. Eine automatische Statusübertragung der Kategorien aus der Sprachenpolitik der RF in die Begrifflichkeit der ECRM sollte doch zumindest weiter hinterfragt werden und eher einer Einzelfallentscheidung weichen. Zwar ist die RF als Mitgliedstaat des Europarates zur Ratifizierung der ECRM verpflichtet, aber seit dem Simulationsprojekt lassen sich keine strategischen Maßnahmen zur Weiterverfolgung dieses Ziels mehr beobachten. Angesichts der Komplexität der Sprachenvielfalt sollte der Ratifizierungsprozess in der RF auch keinesfalls forciert werden oder unter Druck erfolgen, um nicht eine Destabilisierung der ethnischen und Sprachensituation auszulösen, wie auch im oben dargestellten Simulationsprojekt von verschiedenen Seiten immer wieder vorgebracht. 19

19 Auch in den Resümees der Vorträge der gemeinsamen Arbeitsgruppe (s. unter 3.) wird angeregt, dass gerade im Hinblick auf das sensible Thema, wie eine Liste von zu schützenden Sprachen erstellt werden könne und welche Sprachen hier erfasst werden sollen, in der Gesellschaft der RF eine breite Informationskampagne zur ECRM und deren Grundlagen durchzuführen sei, um so z.B. zu klären, dass es hier nicht um die privilegierte Behandlung ausgewählter Sprachen (Stepanov 2012: 51), und hinzuzufügen ist: oder gar Ethnien, gehe.

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Claudia Polzin-Haumann Die „Proposition de loi constitutionnelle visant à ratifier la Charte européenne des langues régionales ou minoritaires“ – Ein neues Kapitel in der Diskussion um die Charta in Frankreich?

1. Einleitende Bemerkungen Einer der Forschungsschwerpunkte des Jubilars ist der Komplex ‚Sprachkultur und Sprachpolitik‘ (z.B. Lebsanft 1997, 2013), wobei auch vergleichende Aspekte eine wichtige Rolle spielen (z.B. Greule/Lebsanft 1998). Mit dem Handbuch zur Sprachpolitik des Europarats (Lebsanft/Wingender 2012) hat er ein wichtiges Referenzwerk zum Umgang mit der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in den Ländern geschaffen, die die Charta ratifiziert haben. Bekanntlich gehört Frankreich nicht zu diesem Kreis (PolzinHaumann 2006: 1480). Die Diskussion um diese Thematik brandet allerdings regelmäßig wieder auf, zuletzt Ende 2013, als die französische Regierung eine Gesetzvorlage in die Nationalversammlung einbrachte, auf deren Grundlage die Ratifizierung der Charta ermöglicht werden sollte. Damit sollte eines der 60 Engagements eingelöst werden, die François Hollande seinerzeit im Wahlkampf ausgesprochen hatte. 1 Die Problematik ist bekannt: Nation und Sprache gehören gerade in Frankreich eng zusammen (vgl. z.B. Schmitt 2000, Ossenkop ²2008). Frankreich kennt eine lange Tradition der Status- und Korpusplanung im Hinblick auf die langue nationale, und der Komplex der Regional- und Minderheitensprachen ist stets ein kontroverses Thema in der öffentlichen Debatte (vgl. ausführlicher unten Abschnitt 3). Gern spricht man auch von der „spécificité française“ (Bibliothèque Centre Pompidou 1999: 6). Zwar wurde 2008 ein neuer Absatz (1) zu Artikel 75 der Verfassung hinzugefügt, der besagt „Les langues régionales 1 Engagement 56: „Je ferai ratifier la Charte européenne des langues régionales ou minoritaires“ (www.parti-socialiste.fr/articles/engagement-56).

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appartiennent au patrimoine de la France“. 2 Grundlegende Änderungen im Status dieser Sprachen oder ihrer öffentlichen Wahrnehmung wurden dadurch allerdings zumindest bislang nicht herbeigeführt (vgl. Kremnitz 2012). Harguindéguy/Cole (2009: 61) resümieren in ihrer Studie, dass es zwar punktuell Schritte ("arrangements institutionnels“) des französischen Staats in Richtung Regionalsprachen gebe, doch stehen diese weiterhin seinen Grundprinzipien diametral entgegen. Das Engagement 56 von François Hollande schien hier einen Wendepunkt zu markieren. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die Ereignisse rund um die neue Gesetzvorlage nachgezeichnet. Dann soll der Frage nachgegangen werden, welches Echo die Thematik dieses Mal in der Öffentlichkeit fand. Hierzu wird in einem ersten Schritt die Gesetzvorlage in ihrem Kontext kurz beschrieben (2.), bevor die öffentliche Diskussion um diese im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen soll (3.). Dabei wird einerseits nach verschiedenen Ebenen (national – regional) unterschieden, andererseits sollen die Diskussionsbeiträge hinsichtlich der Akteure bzw. der Argumente eingeordnet werden.

2. Stein des Anstoßes (?): Die „Proposition de loi constitutionnelle visant à ratifier la Charte européenne des langues régionales ou minoritaires“ Die am 10. Dezember 2013 eingebrachte Gesetzvorlage wurde nach verschiedenen Etappen am 28. Januar 2014 von der Nationalversammlung mit 361 zu 149 Stimmen angenommen. Im Exposé des Motifs gehen die Abgeordneten zunächst auf die konkrete Vorgeschichte der Vorlage ein. Dabei werden einleitend die bekannten Positionen wiederholt. Auf der einen Seite steht der für Frankreich zentrale Gedanke der französischen Sprache als fundamentales Merkmal der Republik und deren Einheitsgarantie, auf der anderen Seite die Bedrohung, die aus dieser Sicht mit der Charte assoziiert wird: De fait, en pleine conformité avec le 56e engagement de celui que les Français portèrent le 6 mai 2012 à la Présidence de la République, le Gouvernement a bien inséré initialement dans son projet de loi constitutionnelle portant renouveau de la vie démocratique un article 3 qui autorisait la ratification de la Charte européenne. Mais le Conseil d’État, dans son avis du 7 mars 2013, a considéré qu’une telle ratification, censée être inscrite dans un nouvel article 53-3 de la Constitution, minerait les fondements de notre pacte social et ferait courir au pays un risque majeur de dislocation (Assemblée Nationale 2014: 4f.).

2 Vgl. den Text der französischen Verfassung unter www.legifrance.gouv.fr (www.legifrance.gouv.fr/Droit-francais/Constitution/Constitution-du-4-octobre-1958#eztoc2178_0_14_96).

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Es folgt eine Auseinandersetzung mit dem Votum des Conseil d’État. Dabei geben die Unterzeichnenden einem dreifachen Erstaunen Ausdruck: bezüglich der Feindseligkeit („hostilité“) des Conseil gegenüber der Charte (ebd.: 5f.), bezüglich seiner Argumentation im Hinblick auf ihre Verfassungswidrigkeit (ebd.: 6) und schließlich bezüglich der Befugnisse des Conseil („[...] dans cette affaire tout se passe comme s’il incombait au pouvoir constituté de dicter sa loi au pouvoir constituant. En d’autres termes, le conseiller, ici, se fait décideur, ce qu’aucun système démocratique au monde ne saurait tolérer“; ebd.: 6f.). Betrachten wir den zweiten und den dritten Punkt etwas genauer. Die Unterzeichnenden setzen die Argumentation des Conseil vom März 2012 in Bezug zu früheren Stellungnahmen dieses Organs zur Charte (1996, 1999). Dabei wird vor allem betont, dass sich die neueren Ausführungen, verglichen mit den älteren, auf ganz andere Teile des Textes beziehen (ebd.: 6). Darüber hinaus wird bemerkt, dass in der Argumentation des Conseil der Artikel 75-1 der Verfassung (s.o.) keinerlei Erwähnung findet (ebd.: 7). Insgesamt wird die Unparteilichkeit des Conseil in Zweifel gezogen („[...] l’absence de mention de l’article 75-1 dans l’avis du Conseil d’État suffit à elle seule à démontrer le caractère éminemment politique de la position qu’il adopte et à discréditer son objectivité juridique sur cette question [...]“); ihm wird „[...] une certaine forme de partialité [...]“ (ebd.) unterstellt. Auf dieser Grundlage erfolgt die weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit der Position des Conseil (9ff., vgl. besonders 13-15). Die Sprachensituation in Frankreich wird mit der anderer europäischer Länder verglichen (ebd.: 16f., 20); administrative und finanzielle Aspekte der derzeitigen Situation regionalsprachlicher Institutionen werden aufgezeigt (ebd.: 17f.). Die historische „Größe“ (N.B.: nicht beispielsweise die aktuelle Vitalität) einzelner Regionalsprachen (Okzitanisch, Bretonisch) wird hervorgehoben, wobei auch eine gewisse Kontinuität ihrer Berücksichtigung seitens der Politik konstruiert wird (de Gaulle, Mitterrand; ebd.: 21f.). Das Exposé des Motifs endet mit einer Auflistung all der Institutionen und Personen, die Frankreich bislang zur Ratifizierung der Charte geraten bzw. gedrängt haben (ebd.: 22). Lediglich in einem einzigen Punkt scheint Einigkeit zwischen den Gegnern und den Befürwortern der Charte (hier das Kollektiv der Abgeordneten, die die Gesetzvorlage einbringt) zu bestehen, wie der abschließende Satz zeigt: „N’en doutons pas, défendre les langues régionales aujourd’hui, c’est sauver le français demain“ (ebd.: 23). Wird die Charte von ihren Gegnern als Bedrohung für das Französische gesehen, drehen ihre Befürworter das Argument um und stellen diese als unerlässlich für dessen Zukunft dar. Interessanterweise wird im Exposé einerseits „die Linguistik“ zitiert, um die Charakterisierung der Regionalsprachen als „[...] un ramassis composite de

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patois informes inaptes à transmettre la moindre pensée quelque peu élaborée“ (ebd.: 20) zu verurteilen („[...] l’ensemble de linguistes rejettent [...]“, ebd.), andererseits wird mit Claude Hagège (freilich ohne Nennung einer konkreten Quelle) eine Haltung zur richesse der Regionalsprachen angeführt, die in der Linguistik nicht unumstritten sein dürfte: Les langues régionales [...] possèdent une richesse au moins comparable, sinon supérieure, au français. Ainsi, en poitevin, subsiste le genre neutre, en plus du masculin et du féminin. Et en gascon, l’imparfait du subjonctif continue d’être pratiqué, même à l’oral (ebd.).

Die eben kurz zusammengefassten Argumente der Abgeordneten sind in der Gesetzvorlage verarbeitet, die abschließend im Wortlaut zitiert sei: Art. 53-3. – La République peut ratifier la Charte européenne des langues régionales ou minoritaires adoptée à Strasbourg le 5 novembre 1992, complétée par la déclaration interprétative exposant que: 1. L’emploi du terme de ‚groupes‘ de locuteurs dans la partie II de la Charte ne conférant pas de droits collectifs pour les locuteurs des langues régionales ou minoritaires, le Gouvernement de la République interprète la Charte dans un sens compatible avec le Préambule de la Constitution, qui assure l’égalité de tous les citoyens sans distinction d’origine, de race ou de religion, et que 2. L’article 7-1, paragraphe d, et les articles 9 et 10 de la Charte posent un principe général n’allant pas à l’encontre de l’article 2 de la Constitution selon lequel l’usage du français s’impose aux personnes morales de droit public et aux personnes de droit privé dans l’exercice d’une mission de service public, ainsi qu’aux usagers dans leurs relations avec les administrations et services publics.

3. Zur öffentlichen Diskussion um die Gesetzvorlage 2014 Anlässlich der Unterzeichnung der Charta durch Frankreich im Mai 1999 entbrannte eine kontroverse öffentliche Debatte, deren teils polemischer Charakter an Schlagworten wie einer von manchen gefürchteten drohenden „balkanisation de la France“ deutlich wird (Polzin-Haumann 2006: 1480). Wie sieht es knapp 15 Jahre später aus, angesichts des Gesetzentwurfs, der ggf. auf lange Sicht eine Ratifizierung der so umstrittenen Charta ermöglicht? Welche Aspekte werden in der Öffentlichkeit thematisiert? Wer ist mit welchen Argumenten und in welchen medialen Kontexten präsent? Um diesen Fragen nachzugehen, wurden systematisch die wichtigsten nationalen und einige regionale Presseorgane sowie zusätzlich einschlägige Internetquellen im Hinblick auf mögliche Spuren einer öffentlichen Diskussion ausgewertet. Der Untersuchungszeitraum beginnt im Januar 2014 (Debatte um das Gesetz in der Nationalversammlung) und endet im September 2014. Im Folgenden sollen die wichtigsten Beobachtungen dargestellt werden.

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3.1. Nationale und regionale Presse

Schwerpunkte der Berichterstattung auf nationaler Ebene sind die historischen Etappen zur Verabschiedung der Charte bzw. ihrer bisherigen NichtRatifizierung durch Frankreich (vgl. z.B. Lelievre 2014, Equy 2014, Gauron 2014) und die Analyse des aktuellen Vorstoßes, zum einen im Hinblick auf das konkrete Abstimmungsverhalten der einzelnen Parteien (vgl. AFP 2014), zum anderen im Hinblick auf die Hintergründe des politisch-juristischen Verfahrens. Dabei lässt ein vergleichender Blick in verschiedene Zeitungen deutlich die Unterschiede in der Schwerpunktsetzung hervortreten. Le Monde (Bekmezian 2014) informiert zunächst über die erfolgreiche Abstimmung, legt dann kurz die historischen Hintergründe dar („exception française“), geht danach auf das von Jean-Jacques Urvoas, rapporteur der Vorlage, gewählte Vorgehen ein, lässt anhand verschiedener Personen Pro und Contra der Initiative zu Wort kommen und legt abschließend kurz die weiteren Perspektiven des Verfahrens dar. Die Berichterstattung lässt sich damit insgesamt als ausgewogen charakterisieren. Daneben stößt man auch auf andere Gewichtungen und Tonlagen; vgl. z.B.: Pour se blinder juridiquement, Urvoas a complété la proposition de loi d’une ‚déclaration interprétative‘ qui précise notamment que le texte n’accorde aucun ‚droit collectif‘ aux locuteurs de ces langues. C’est dire si l’‚on marche sur des œufs‘, conclut un partisan de la charte qui moque les pincettes que l’on doit prendre pour la faire adopter. Malgré ces précautions, les jacobins de tous poils refusent toujours la charte (Equy 2014).

Trotz dieser deutlichen Kritik an den Gegnern der Charte („les jacobins de tous poils“) heißt es im weiteren Verlauf desselben Artikels: Même les promoteurs de la charte européenne ne sont pas enthousiasmés par la proposition de loi débattue aujourd’hui. Un texte trop frileux, estiment certains : sur les 98 engagements proposés - dans l’éducation, la culture, la justice, etc. -, chaque pays doit en retenir au moins 35. ‚La France compte en remplir 39, c’est vraiment petit bras‘, regrette Marc Le Fur. Surtout, ils craignent que la proposition de loi, en voulant trop protéger l’exclusivité du français, ne soit, à l’avenir, un obstacle à la promotion des langues régionales (Equy 2014).

Hier wird zunächst die Ablehnung der Gesetzvorlage polemisch kritisiert, dann werden kritische Positionen hinsichtlich der Initiative selbst vermittelt. Im konservativen Figaro wird dieselbe Information anders gewichtet, so dass hier insgesamt ein deutlich negatives Bild der Gesetzvorlage entsteht: Chez les parlementaires, la charte est loin de faire l’unanimité. Hormis les écologistes, elle divise même au sein de chaque famille politique. [...] Même certains partisans de la charte sont réservés. ‚La voie adoptée est une impasse en terme de procédure‘, juge ainsi Marc Le Fur. Le député UMP du Morbihan s’inquiète également qu’une vision trop restrictive de la

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charte soit inscrite dans la Constitution ce qui, selon lui, pourrait à l’avenir porter préjudice à la promotion des langues régionales. Cette crainte est partagée par de nombreuses associations (Gauron 2014).

Diese beiden Standpunkte spiegeln sich auch in den jeweiligen Überschriften: „Vers une (timide) reconnaissance des langues régionales“ (Equy [Libération]) gegenüber „Les députés examinent l’épineuse question des langues régionales“ (Gauron [Le Figaro]). Auch der Beitrag in L’Express schließt nach einer ausführlichen historischen Analyse insgesamt eher pessimistisch: La proposition de loi constitutionnelle indique que ‚la République peut ratifier la Charte‘. Mais elle est complétée par une ‚déclaration interprétative‘ qui expose d’une part que la Charte ne confère pas ‚de droits collectifs pour les locuteurs des langues régionales ou minoritaires‘ et d’autre part qu’elle pose ‚un principe général n’allant pas à l’encontre de l’article 2 de la Constitution‘. Plusieurs députés bretons ont d’ores et déjà ont [sic !] regretté ces réserves. Et d’autres députés n’ont pas manqué de critiquer la procédure utilisée: une proposition de loi, qui n’aurait pour but que de savoir s’il existe une majorité politique (Lelievre 2014).

Die Kritik bezieht sich allerdings eher auf die Vorgänge im Umfeld der Gesetzvorlage (vgl. hierzu auch Feltin-Palas 2014); die inhaltlichen Problemfelder werden hier ausgeblendet. Interessant sind schließlich zwei Berichte, in denen über Vorstöße von einzelnen Regionen oder Gemeinden Frankreichs im Hinblick auf Inhalte der Charte berichtet wird, einmal im Elsass (Rousseau 2014 [Libération]), zum anderen im Baskenland (Cocquet 2014 [Le Point]). Beide Texte haben im Großen und Ganzen denselben Tenor: Auf regionaler Ebene gibt es durchaus Entwicklungen im Geiste der Charte, vgl. z.B.: Alors que l’Etat français n’a pas encore ratifié la charte européenne des langues régionales, des élus alsaciens prennent les devants et adoptent une version régionalisée du texte. Le conseil municipal de Mulhouse a voté en ce sens ce lundi soir [...]. La semaine dernière c’est Saverne qui l’approuvait, une première européenne. ‚Le principe est le même, nous avons simplement retiré tout ce qui concernait l’Etat et chaque collectivité doit choisir 35 engagements sur les 75 listés‘, explique Pierre Klein, président de la fédération Alsace bilingue (Rousseau 2014).

Einige allzu „verwegene“ Entscheidungen wie die Kooffizialisierung des Baskischen neben dem Französischen werden zwar durch juristische Maßnahmen untersagt, doch finden Akteure in einzelnen Regionen offenbar dennoch Möglichkeiten, die langue régionale aufzuwerten und in Teilen des öffentlichen Lebens zu etablieren. So heißt es in Cocquet (2014): Le jugement n’a surpris personne. En déclarant fin juin le basque langue officielle de la commune au même titre que le français, la municipalité d’Ustaritz savait que sa délibéra-

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tion avait toute chance d’être retoquée. Saisi par la préfecture des Pyrénées-Atlantiques, le tribunal administratif de Pau a décidé mercredi de la suspendre en attendant que l’affaire soit jugée au fond. [...] Fin du premier round, donc, quoique sans grande douleur : plusieurs communes du Pays basque, sans que nul n’y trouve à redire, publient déjà des comptes rendus de conseils municipaux bilingues et/ou s’engagent dans des programmes de formation en basque de leur personnel (Cocquet 2014).

Beide Beispiele belegen die Entschlossenheit regionaler bzw. lokaler Akteure, der jeweiligen Regionalsprache (deren Vitalität damit indirekt attestiert wird) unabhängig von der Ratifizierung der Charte gewisse Funktionen in Bildung bzw. Verwaltung zuzusprechen. Es wird also hier über Statusplanung auf regional-lokaler Ebene berichtet. Die Charte sowie das Für und Wider der aktuellen Gesetzvorlage treten somit in den Hintergrund: „Le débat, en l’occurrence, semble se dissoudre pour partie dans la réalité des pratiques“ (ebd.). Denselben Eindruck vermitteln viele Belege in der regionalen Presse. Auch hier wird deutlich, dass unabhängig von der Politik auf zentraler Ebene Regionen, Städte und Gemeinden sprach- bzw. bildungspolitische Schritte im Sinne der Charte gehen. Damit sind nicht Berichte über schulische Aktivitäten wie Vorlesewettbewerbe o.ä. in der Regionalsprache gemeint. Vielmehr berichtet z.B. Schlama (2014) über ein Projekt in Béziers, das sich der Lehrerausbildung in verschiedenen Regionalsprachen widmet. Bisher seien 350 Lehrer ausgebildet worden, davon 142 für das Okzitanische. Das Programm wird ausführlich beschrieben: Ce cursus de formation occitane, jusqu’au Master 2, a été élaboré à l’Institut supérieur des langues de la République française (ISLRF), basé lui aussi à Béziers. Conventionné par l’Éducation nationale, ce réseau privé, unique en son genre, siège à la Maison de la vie associative où une quinzaine de salariés élaborent depuis 2013 une ‚maquette‘ commune à toutes les langues régionales enseignées dans les dizaines d’écoles associatives catalanes (bressoles), basques (ikastolak), bretonnes (diwan), alsaciennes (abcm) et bien sûr occitanes (calendretas). Un réseau performant qui établit des partenariats avec les universités et organise colloques, réunions... Cette coopération va plus loin: des mémoires de futurs profs de breton se soutiennent, par exemple, à l’université de Perpignan (Schlama 2014).

Hervorgehoben werden die guten Berufsaussichten für die Absolventen des Programms und die große Nachfrage seitens der Eltern für entsprechende Schulen. Sehr deutlich geht der Beitrag auch auf die gute Zusammenarbeit unter den verschiedenen Akteuren über die einzelnen Regionalsprachen hinweg ein: Jean-Michel Etxegaray, directeur de l’école de formation basque, qui a déjà formé plus de 140 enseignants de primaire et maternelle, parle ‚d’émulation commune. On n’est plus seul dans son coin.‘ Anna Vari Chapalain, son homologue bretonne, ajoute : ‚Nous sommes beaucoup plus forts‘ (ebd.).

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Weder die Charte noch die aktuelle Initiative werden in dem Bericht erwähnt. Inhaltlich aber agieren die Verantwortlichen des Programms letztlich auf der Linie, die auch in den beiden erwähnten Quellen der Nationalpresse (vgl. Cocquet 2014, Rousseau 2014, s.o.) vermittelt wird. Diese lässt sich ebenfalls auf regionaler Ebene belegen. So schreibt Jean-Jacques Woehrling in seinem Beitrag in Dernières Nouvelles d’Alsace: Les collectivités territoriales peuvent dès à présent mettre en application un grand nombre des engagements préconisés. C’est ce à quoi les appellent, dans le cas de l’Alsace et de la Moselle, Culture et Bilinguisme et de nombreuses autres associations en leur proposant d’adhérer à une ‚charte régionalisée‘ qui reprend exactement les dispositions de la charte entrant dans leur champ de compétence. Plusieurs collectivités territoriales d’Alsace ont annoncé qu’elles adhéreront à cette charte régionalisée. Ainsi, malgré les limites et les défauts du texte actuellement soumis au Parlement, on peut considérer qu’une nouvelle dynamique est engagée. Pour qu’elle porte ses fruits, il faut que les citoyens manifestent leur attachement à ce patrimoine linguistique (Woehrling 2014).

Insgesamt ist festzuhalten, dass in der nationalen und regionalen Presse vorwiegend Journalisten agieren, die dann ihrerseits, je nach Ausrichtung, Abgeordnete mit entsprechenden Positionen oder, wie gezeigt, regionalsprachenvalorisierende Initiativen zu Wort kommen lassen. Eine Ausnahme bildet JeanJacques Woehrling, der selbst an der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt war. 3.2. Foren und Blogs

Die Auswertungen konzentrieren sich auf die Seiten der Organisation Avenir de la langue française, die sich zum Sprachrohr verschiedener Gruppierungen (insgesamt 11) der „promotion du français“ macht, die alle die Charte vehement ablehnen. Die hier angeschlagenen Töne sind deutlich radikaler und polemischer: In einem offenen Brief an die Abgeordneten von France Humanisme liest man z.B.: Cédant à l’intimidation, une trentaine de députés socialistes et trois douzaines de députés étiquetés PRG ou UMP proposent la ratification de la charte des langues régionales. Imposée par l’extrême-droite austro-allemande, cette charte menace gravement ce qu’il reste de l’identité française. Si elle profite à la puissance allemande (7 des 24 pays l’ayant ratifié intronisent ainsi l’allemand au rang de langue protégée), si elle ne saurait en rien nuire à l’hégémonie linguistique anglo-ricaine, on comprend assez comment elle participera à l’accélération du démantèlement en cours de la langue française. Cette certitude a été justement dénoncée, et par le Conseil constitutionnel, et par le Conseil d’État (Bechtel 2014b).

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Die Charta wird hier in einen internationalen Kontext gestellt; eine Gefährdung des Französischen wird weniger durch die Regionalsprachen als vielmehr durch das Deutsche und das Angloamerikanische bzw. die entsprechenden Staaten evoziert. Aber auch gemäßigtere Bewegungen wie das von Jean-Pierre Chevènement gegründete Mouvement Républicain et Citoyen (MRC) werden auf der Seite des Avenir zitiert. Mehrfach kommt Marie-Françoise Bechtel, erste Vizepräsidentin des MRC zu Wort. Sie spricht ebenfalls die bereits thematisierten regionalen/lokalen Praktiken an (vgl. oben 3.1), allerdings lediglich, um damit ihre Ablehnung der Gesetzvorlage zu begründen: On ne connait pas la réalité. Aujourd’hui nous appliquons de très nombreuses stipulations de la Charte européenne des langues régionales. […] Nous appliquons donc très largement la charte : sur le plan des documents administratifs, vous pouvez faire traduire en langue régionale toutes les décisions. Pas besoin de modifier la Constitution (Bechtel 2014a).

Nach verschiedenen konkreten Aspekten, u.a. Angst vor zu viel staatlicher Subvention privater Schulen, wird ein Argument genannt, das in dieser oder einer leicht modifizierten Form nahezu alle Akteure auf der Plattform des Avenir de la langue française anbringen: L’idée d’unité du peuple par la langue française, qui permet la véritable communication, remonte à la royauté. On retrouve cela avec la République et l’idée que la cohésion territoriale est assurée par la langue (Bechtel 2014a).

Ähnliche Töne werden im Blog Gaulliste libre formuliert, in dem die Charta als „une véritable menace“ gesehen wird. Auch hier hat man „eigentlich“ nichts gegen die Regionalsprachen: Après tout, je ne suis pas contre l’apprentissage des langues régionales et la préservation de ces identités régionales. En revanche, préserver l’unicité de la République et de ce ciment qu’est le français m’apparaît essentiel, d’autant plus qu’il est attaqué de tous côtés (Pinsolle 2014).

Neben der verbreiteten Position des Französischen als Fundament der Republik erscheint auch hier eine externe Dimension („attaqué de tous côtés“), die nachfolgend auf das Englische fokussiert wird: C’est bien pour cela qu’il faut continuer à se battre et alerter l’opinion de ce qui se trame réellement ici : la prise en tenaille du français entre l’anglais et les langues régionales, par l’intermédiaire de l’Europe, avec la complicité des élus de la République (ebd.).

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4. Bilanz und Ausblick Zunächst ist festzuhalten, dass die Diskussion hinsichtlich der aktuellen Gesetzvorlage insgesamt eher spärlich in den Medien präsent war. Auffällig ist weiterhin, dass vielfach nicht die inhaltlichen Aspekte im Mittelpunkt standen (Problematik der Regionalsprachen in Frankreich), sondern das Verfahren selbst (politische Strategien, Aufbau der Gesetzvorlage, Pro und Contra). Aufgrund der spezifischen Form und Hintergründe der Vorlage kann nicht pauschal von regionalsprachenfreundlichen Akteuren als Befürwortern und regionalsprachenkritischen Akteuren als Gegnern des aktuellen Verfahrens gesprochen werden. Auch dies vermitteln die Berichte differenziert. Interessanter als diese Erkenntnisse ist allerdings der Befund, dass offenbar auf regionaler bzw. lokaler Ebene zahlreiche Initiativen existieren, die im Geist der Charta arbeiten. Deren Bedeutung wird damit für die Rezipienten der Texte durchaus relativiert – sofern überhaupt im selben Artikel die Charta thematisiert wird. Die Berichte über die regionalen/lokalen Initiativen im Geiste der Charta, ohne diese zu erwähnen, dürften im Umfeld der Gesetzvorlage kein Zufall sein. Im Hinblick auf die Rezeption der Gesetzvorlage in Foren und Blogs stößt man auf die bekannten polemischen, ideologisch aufgeladenen Positionen, nicht nur von Akteuren wie dem Avenir de la langue française, das für seine radikalen Positionen bekannt ist, sondern auch von gemäßigteren Akteuren. Alles in allem erstaunt angesichts der „Vorgeschichte“ das verhältnismäßig geringe Echo in der Öffentlichkeit, das insgesamt im Hinblick auf die Gesetzvorlage zu konstatieren ist. Verleiht de Vel (Council of Europe 2004, Vorwort: 8) noch der Hoffnung Ausdruck, „[…] that this publication will at least help to keep debate about the Charte alive in France“, scheint angesichts der konkreten Praxis die Diskussion zumindest in der Presse eher in den Hintergrund zu treten. Von einem neuen Kapitel in der Diskussion um die Charta in Frankreich, wie das Engagement 56 von François Hollande hatte vermuten lassen, kann damit nicht die Rede sein. Allerdings zeugen die Berichte über die regionalen bzw. lokalen Initiativen, die in der nationalen wie der regionalen Presse im Umfeld der Berichterstattung über die Gesetzvorlage präsent waren, durchaus von einer neuen Richtung im Umgang mit den Regionalsprachen auf diesen Ebenen. Für den vorliegenden Beitrag wurde bewusst ein sehr begrenzter Untersuchungszeitraum gewählt, der natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der Diskussionen beleuchten kann. Will man längerfristige Entwicklungen in den

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Positionen oder ggf. auch Strategien einzelner Akteure (z.B. des MRC) 3 beobachten, ist dies, gerade was Foren und Blogs angeht, nur auf der Grundlage eines größeren Korpus möglich. Der Themenkomplex ‚Sprachkultur und Sprachpolitik‘ liegt hier dicht an laienlinguistischen Diskussionen (vgl. auch Polzin-Haumann/Osthus 2011: 15f.). Die aktuelle Diskussion um die Gesetzvorlage, ebenso wie die Thematik der Regional- und Minderheitensprachen insgesamt, erschließen sich nur dann in ihrer ganzen Komplexität, wenn die historischen Hintergründe und Entwicklungen (vgl. z.B. Bochmann 1993: bes. 63-190, 239-274, Polzin-Haumann 2006: 1474-1478) bekannt sind. Es ist eine der Aufgaben der historischen Sprachwissenschaft, wie sie auch der Jubilar vertritt, diese wichtigen Kenntnisse zu vermitteln.

Bibliographie Wissenschaftliche Literatur Bibliothèque Centre Pompidou (Hg.) (1999): Langues régionales. Langues de France, langues d’Europe. (http://editionsdelabibliotheque.bpi.fr/resources/titles/84240100844240/extras/84240100844240.pdf) Bochmann, Klaus (Hg.) (1993): Sprachpolitik in der Romania. Zur Geschichte sprachpolitischen Denkens und Handelns von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. – Berlin/New York: de Gruyter. Council of Europe (Hg.) (2004): La charte européenne des langues régionales ou minoritaires et la France – Quelle(s) langue(s) pour la république? Le dilemme „diversité/unicité“. – Straßburg. Greule, Albrecht / Lebsanft, Franz (Hg.) (1998): Europäische Sprachkultur und Sprachpflege. – Tübingen: Narr. Harguindéguy, Jean-Baptiste / Cole, Alistair (2009): La politique linguistique de la France à l’épreuve des revendications ethnoterritoriales. – In: Revue française de science politique 5/59, 939-966. (www.cairn.info/revue-francaise-de-science-politique-2009-5-page-939.htm, DOI : 10.3917/rfsp.595.0939) Kremnitz, Georg (2012): L’article 75.1 de la Constitution française − et après? L’évolution analysée principalement à travers les pages de La Setmana. – In: Synergies Pays germanophones 5, 107-117. Lebsanft, Franz (1997): Spanische Sprachkultur. Studien zur Bewertung und Pflege des öffentlichen Sprachgebrauchs im heutigen Spanien. – Tübingen: Niemeyer.

3 Der MRC hat z.B. schon 2013 die Entscheidung des Conseil d’État ausdrücklich begrüßt (vgl. Nicolet 2013).

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Claudia Polzin-Haumann

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Ein neues Kapitel in der Diskussion um die Charta in Frankreich?

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Wolfgang Asholt Zwischen Straßburg und Bonn: Ernst Robert Curtius und die Entdeckung der (französischen) Gegenwartsliteratur

1. Die Entdeckung der Gegenwartsliteratur Bekanntlich spielen die romanischen Gegenwartsliteraturen in den ersten 100 Jahren für die Romanistik keine besondere Rolle, auch nicht in dem privilegierten Bereich von Lehre und Forschung, den Frankreich seit jeher bildet. Erst kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beginnt sich dies allmählich zu ändern, wofür Namen wie Wilhelm Friedmann, Walter Küchler oder Heinrich Schneegans stehen, eben jener Schneegans, der 1913 in Bonn Curtius Habilitation in „Romanischer Philologie“ betreut. Angesichts des Habilitationsthemas ist dies kein Zufall, denn nach einer mediävistisch-editorischen Dissertation (zum Quatre Livre des Reis) bei Gustav Gröber in Straßburg, hat Curtius bei diesem, der Ende 1911 stirbt, die Arbeit an seiner Habilitationsschrift begonnen, die er mit Ferdinand Brunetière einem der wichtigsten Gegenwartskritiker und Literaturwissenschaftler widmet, der sich intensiv mit der Literatur seiner Zeit auseinandersetzte. 1 Eine solche Thematik für die wichtigste Qualifikationsschrift stellt zu einer Zeit, als die Romanische Philologie zaghaft beginnt, sich literatur- und sprachwissenschaftlich auszudifferenzieren, ein erhebliches Risiko dar, und Schneegans ist vermutlich der einzige romanistische Ordinarius, bei dem so etwas möglich ist. Die Aktualität der schriftlichen Arbeit wird durch das sprachwissenschaftliche Thema der Probevorlesung kompensiert, doch mit der Wahl des Themas für die Antrittsvorlesung, „Sainte Beuve’s kritische Methode“, stellt die Fakultät, wohl unter Schneegans Einfluss, ihre Öffnung zur Moderne unter Beweis, auch wenn sie nicht den unmittelbar aktuellen, einem in der NRF erschienenen Aufsatz von Jules Romains gewidmeten Vorschlag („Die Selbstanalyse in der französischen Literatur“) wählt. Wenn Curtius im 1 Ursprünglich hatte Curtius beabsichtigt, schon seine Dissertation Brunetière zu widmen, doch Gröber hatte auf einem ‚klassischen‘ Thema bestanden.

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Sommersemester 1914 eine Vorlesung für Hörer aller Fakultäten zum Thema der „Geistigen Strömungen in der zeitgenössischen französischen Literatur“ anbietet, so werden damit nicht nur die fünf Jahre später erscheinenden Wegbereiter des neuen Frankreich vorbereitet, der junge Privatdozent hat sich mit diesem Profil zugleich eindeutig als der für französische Gegenwartskultur und -literatur offenste Romanist etabliert. 2 Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, insbesondere mit den Bestimmungen des Versailler Vertrages, hat sich die Situation und damit auch die Einstellung der Romanistik französischer Literatur und Kultur gegenüber erheblich verändert. Symptomatisch dafür sind Äußerungen von zwei Romanisten, die später unter NS-Verfolgung leiden sollten. Victor Klemperer (1996: 9) notiert in seinem Tagebuch unter dem Datum des 24. November 1918: „Überhaupt die Franzosen! Wie kann nur ein so niedriges, so gemeines Volk eine solche herrliche Literatur hervorgebracht haben?“ Und noch deutlicher ist anderthalb Jahre später der zukünftige Münsteraner Romanist Eugen Lerch (1920), der, nun unmittelbar auf Curtius bezogen, dessen Wegbereiter des neuen Frankreich als „Anbiederung an die Negernation“ diskriminiert. Zwar sieht sich auch Curtius (1923: 1) veranlasst, im „Vorwort zur ersten Auflage“ dieses Werkes festzustellen: „Auf die Stimmen des geister- und seelenverwirrenden Hasses, die aus Frankreich erklungen sind, habe ich nicht gehört“, doch diese hindern ihn nicht, in dem auf den 22. November 1918 datierten Vorwort als Anliegen seiner Darstellung zu formulieren: „[E]s möchte den jungen Deutschen ein Bild von dem neuen geistigen Frankreich geben, wie seine Wegbereiter es erschauen“. Wenn ich mich im Folgenden dem „Wesen und der Funktion der französischen Kultur und Literatur für Ernst Robert Curtius“ in der 1920er Jahren widmen möchte, so steht dieser Versuch in der Folge und Kontinuität eines Beitrags von Ursula Bähler (2011: 198) zu einem Osnabrücker Kolloquium, „Sur l’imaginaire littéraire et national du jeune Curtius“, in dem sie sich mit dessen Arbeiten von Brunetière bis zu den Wegbereitern beschäftigte, und ich kann mir ihre Untersuchungsperspektive zu eigen machen: „la nature des projets en question, la conception littéraire qui les sous-tend, ainsi que les images de la France et de la littérature française qui s’y voient construites“.

2 Alle Angaben nach Lausberg 1993. Die privilegierte Beschäftigung mit Frankreich und der französischen Literatur hat sowohl mit der Dominanz des Französischen in der Romanistik, wie mit der elsässischen Herkunft Curtius’ zu tun (vgl. Curtius 1952: 513-527).

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2. Wegbereiter des neuen Frankreich als Wegbereiter der Gegenwartsliteratur Wenn wir heute auf die französische Literatur des beginnenden 20. Jh. blicken, so geschieht dies meist aus der Perspektive einer innerliterarischen oder zumindest literarisch-künstlerischen Entwicklung, die dem Paradigma der Moderne als eines fortgesetzten Prozesses von Automatisierung und Entautomatisierung entspricht. Dementsprechend wird in der Literatur das Jahr 1913 privilegiert, in dem sowohl Apollinaires Alcools als auch Cendrars Transsibérien in der Dichtung einen ähnlichen Bruch mit der Tradition praktizieren wie wenige Jahre zuvor der Kubismus in der Kunst. Doch Curtius geht es nicht um solche literarisch-künstlerischen Revolutionen, sondern vielmehr um grundlegende geistige Veränderungen, seiner Überzeugung entsprechend, „Die innersten Lebensvorgänge des Volksgeistes empfangen ihr Gesetz nur von sich selbst“ (17). Dabei kommt der Literatur eine privilegierte Funktion zu, die in ihrer Bedeutung ein Jahrhundert später kaum noch nachzuvollziehen ist, und vielleicht schon damals nicht mehr so umfassend war, wie Curtius das noch sehen musste: „Zunächst war die junge Literatur das Lebensgebilde, an dem man die Neuorientierung des französischen Geistes ablas“ (23). 3 Für Curtius bildet rückblickend nicht nur die französische Literatur den Anfang seiner Studien, wie er im „Avant-Propos“ zur Ausgabe seiner von Claude David übersetzten Essais sur la littérature européenne (1954) schreibt, wichtiger ist wohl der folgende Satz: „L’antiquité, l’Espagne, l’Angleterre, l’Allemagne font mieux comprendre ce que peut être la poésie. Mais on n’apprend qu’en France ce qu’est la littérature“ (Curtius 1954: 7). Und Literatur, insbesondere französische, ist für Curtius offensichtlich das Laboratorium, in dem prospektiv mit neuen geistigen Möglichkeiten experimentiert wird, die literarischen Werke der ausgewählten Autoren „sind Beispiele dafür, wie die neufranzösische Geistigkeit sich an den Spiegelungen der Literatur ihren Gehalt bewusst zu machen suchte“ (26). Die fünf beispielhaften Schriftsteller, Romain Rolland (1866), Paul Claudel (1868), André Suarès (1868), André Gide (1869) und Charles Péguy (1873) haben für Curtius „repräsentative Bedeutung“, selbst wenn sie auch ausgewählt werden, weil von ihnen (im Gegensatz zu Proust) schon Übersetzungen vorliegen: „sie sind dadurch verbunden, dass sie die geistigen Grenzen des alten Frankreich durchbrechen“ und ein „Bild des neuen geistigen Frankreich vor dem Kriege“ (31) gewähren. 3 Dies sieht auch Robert Picht 1986: 111: „Für das Curtius’sche Selbstverständnis und seine Wertungen [...] sind sie [die literaturwissenschaftlichen Arbeiten] aber in einem solchen Maße konstitutiv, daß nach 1930 der Umgang mit der Literatur schließlich ganz an die Stelle umfassender Frankreichforschung trat“.

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Zwar räumt Curtius ein, dass sich auch „in der Plastik, der Malerei, der Musik, dem religiösen und philosophischen Denken“ ein grundlegender Wandel vollzieht (hier werden die Maler des Kubismus ebenso wenig erwähnt wie zuvor die entsprechenden Dichter), aber in der Literatur wird die Infragestellung alter Grenzen und die geistige Neuorientierung früher und sichtbarer diskutiert und praktiziert als in den anderen Künsten. Curtius geht es nicht nur darum, die Bedeutung der "Wegbereiter" in Deutschland und in der Romanistik zuallererst bewusst zu machen, er will damit auch zwei „Teilansichten“ der französischen Literatur als solche charakterisieren und damit relativieren, weil sie dem Gegenwartsfrankreich (nicht mehr) gerecht zu werden vermögen, vielleicht auch, weil sie dessen Erneuerungswillen und -potential unterschätzen. Auf der einen Seite ist das das Frankreich der „seltenen Kunst und Literatur“, also von Symbolismus, Fin de siècle und Dekadenz, auf der anderen Seite jenes der „Formenschönheit, lateinische[n] Klarheit, französische[n] Eleganz, französische[n] Esprit[s]“ (250). Demgegenüber ermöglicht das Werk der fünf ausgewählten Autoren, wie Curtius in seiner „Zum Bilde Frankreichs“ überschriebenen Synthese für sich in Anspruch nimmt, „die Selbstzeugnisse des französischen Geistes aus ihnen zusammenzustellen“ (251), was er dann auch an jedem der fünf unternimmt. Zu Recht stellt Linda Simonis (1998: 113) die Frage, inwieweit „die individuelle vita eines Gide und eines Rolland der Spiegel [sein kann], in dem Curtius die künftigen Entwicklungslinien der globalen Kulturgeschichte Frankreichs bzw. Europas vorgezeichnet zu sehen glaubt“. Linda Simonis (ebd.: 206) hat nicht ohne Grund in den Wegbereitern „ein latentes Spannungsverhältnis zwischen zwei verschiedenen, einander (tendenziell) gegenläufigen Auffassungen von Literaturgeschichte“ festgestellt, „zwischen der Vorstellung von Literatur (bzw. Kultur) als ihrer Richtung nach offener (tendenziell unabschließbarer) Entwicklungsgeschichte“, was sich mit der literarischen Moderne vereinbaren ließe, „und der Idee von Kontinuität als bloßer Fortdauer einer im Prinzip unveränderlichen normativen Substanz“. Diese Ambiguität charakterisiert auch die Curtiussche Methodik: Unter Berufung auf Bergson und bei Ablehnung der „irreführenden Einseitigkeit der Taineschen Milieutheorie“ hält er allein die „innere Anschauung [für fähig], sich unmittelbar in die Seele des anderen hineinzusetzen“ (40), und wählt einen höchst persönlichen Mittelweg zwischen „starkem Ordnungswillen“ und „reicher Empfänglichkeit“ (198). In den Wegbereitern dominieren jedoch eher Offenheit, Empfänglichkeit und permanente Veränderung im Sinne der Moderne, wenn Curtius ein neues Frankreich entstehen sieht, ein Frankreich, das „den französischen Geist an den Definitionen irre werden“ lässt, „die er

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bisher von sich selbst gegeben hat“. 4 Insofern sind die Wegbereiter der „Bericht über ein geistiges Erwachen im Nachbarland und ein Aufruf an die geistesdurstige deutsche Jugend“, von dem Hans Hinterhäuser (1989:105) spricht. Aber sie beanspruchen doch ungleich mehr. Denn wenig später formuliert Curtius das Ziel seiner Interpretation und seine Hoffnungen deutlicher: „Er [der französische Geist] zerbricht die Tafeln der lateinischen Tradition und weckt die von ihr verdeckten in ihm angelegten Kräfte mit der Musik der germanischen und der slawischen Seele. [...] Er weiss: das neue Frankreich ist das wirkliche, das ewige Frankreich“. Und für Curtius steht fest, dass sich an diesem Frankreich die Zukunft Europas entscheidet: „Für den Wiederaufbau Europas kann es nicht gleichgültig sein, ob Geist und Glaube dieses neuen Frankreich daran beteiligt sind“ (269f.). Das mag, wie es Peter Jehn 1977 unternimmt, als Versuch einer kulturhegemonialen Germanisierung Frankreichs (miss-)verstanden werden, man kann darin freilich auch, wie Ursula Bähler (2011: 216), eine in der Tradition von Ernest Renan oder Gaston Paris stehende „identité française [...] qui serait un mélange de différents traits nationaux depuis ses primes origines“ sehen. Der Hegemonialisierungsvorwurf verkennt vor allem die historische (Rezeptions-) Situation (vgl. die Reaktionen von Klemperer und Lerch), wie sie sich etwa in den Rezensionen von Otto Grauthoff (1918/19: 1162ff.) oder Otto Flake (1920: 653f.), aber auch in der Aufnahme durch die NRF und durch André Gide manifestiert, der Curtius in einem Brief vom 20.08.1921 u.a. mitteilt: Je viens de relire avec Jean Schlumberger [...] votre article si judicieux sur les Deutschfranzösische Kulturprobleme, auquel je vous ai dit que je voudrais répondre dans la N.R.F. – et que je voudrais signaler et citer. Il me paraît qu’on n’a rien dit de mieux sur la question (Dieckmann/Dieckmann 1980: 36). 5

Und in der „Antwort“ schreibt Gide unter dem Titel „Les rapports intellectuels entre la France et l’Allemagne“ im November 1921 (520): Curtius souhaite, autant que nous le pouvons souhaiter, une reprise des relations entre les deux pays; mais ces relations lui paraissent et nous paraissent également, inadmissibles, s’il faut qu’elles soient basées sur une préalable dénationalisation de l’intelligence.

4 In einem Brief an Friedrich Gundolf (11.03.1916) spricht er von einer „das literarische transzendirenden [!] Orientierung nach dem Gesamtgeistigen“ (Gundolf 1958: 254). 5 In seinem Journal notiert Gide 1948: 841 zudem anlässlich eines Heidelberg-Besuchs unter dem Datum des 12. Mai 1927: „Conversations ‚infinies‘ avec Ernst Robert Curtius. Je me sens souvent plus près de lui que peut-être d’aucun autre; et non seulement je ne suis pas gêné par notre diversité d’origine, mais ma pensée trouve un encouragement dans cette diversité même [...] partis tous deux de lieux si dífférents, nous nous retrouvons sur tant de points“.

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Zumindest Gide scheint die „kulturhegemoniale Verarbeitung des Weltkrieges“ 6 bei Curtius entgangen zu sein (Jehn 1977: 112). Die Literatur dient Curtius, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, also als „Spiegelung“ für „die innersten Lebensvorgänge des Volksgeistes“, „Moralische Weltkrisen können [allerdings] nicht durch Literatur überwunden werden“, schreibt er in dem 1921 veröffentlichten Beitrag „Deutsch-französische Kulturprobleme“, der der dritten Auflage der Wegbereiter beigefügt ist. Aus heutiger Sicht verwundert es ein wenig, dass der Curtius, der 25 Jahre später Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter veröffentlichen wird, in der Gegenwartsliteratur der Vor-Weltkriegszeit zu erkennen glaubt, dass der französische Geist die lateinische Tradition verabschiedet, um sich der germanischen und slawischen Seele zuzuwenden. Darin wird nicht nur die Hoffnung auf eine europäische Synthese deutlich, die allerdings voraussetzen würde, dass die beiden anderen großen Kulturen sich der romanischen zuwenden würden (aber vielleicht hält Curtius das für seit langem gegeben), es zeigt auch, dass Curtius merkwürdigerweise gerade anhand einer Lektüre der modernen französischen Literatur die Moderne als solche zumindest infrage stellt. Wenn er in diesem Zusammenhang für „eine geistige Lebensgemeinschaft [Europas ausspricht], die sich nicht gegen die nationalen Kulturen richtet, sondern sie in ihrer Sonderung bejaht“ und von der „organischen Art, das geistige Europa zu denken“ spricht, um hinzuzufügen: „Es ist die deutsche Art: die Goethes, Adam Müllers, Rankes“, die er wiederum auch von Renan, Taine, dem VorkriegsRomain Rolland und André Gide vertreten sieht, so wird deutlich, wie viele Hoffnungen aber auch Unterstellungen hier amalgamiert werden, um einen eigenen deutschen Weg zu retten. Die „unbefangene intellektuelle Analyse des ganzen Problemkomplexes [...] durch ein leidenschaftsloses sachliches Durchdringen der national-psychologischen und kulturbiologischen Tatbestände“ (318f.), die er als einzige Möglichkeit erblickt, die deutsch-französischen Kulturbeziehungen zu verbessern, versucht er mit den Wegbereitern zumindest zu einem sehr frühen Zeitpunkt, auch wenn er mit seinen Interpretationen nicht immer den eigenen Ansprüchen entspricht. Diese Analyse sollte aber zur Programmatik des Curtiusschen Projekts der 1920er Jahre werden, das das weit über die Literatur hinausweisende Ziel verfolgt, zu erreichen, dass „man Deutschland wieder zu hören

6 In abschließenden Wertungen wie „Die Wiederaufnahme bzw. bewußte Fortschreibung der deutschen Kulturideen [...] bedeutete [...] außenpolitisch die geistige Fortsetzung des Weltkriegs, innenpolitisch den Kampf gegen die Demokratie und damit die Beförderung des Faschismus“ (1977: 125) geht Jehn eindeutig zu weit.

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wünscht als unentbehrliches und unersetzliches Glied der europäischen Lebensgemeinschaft“ (320). 7 Dieses Ziel verfolgt Curtius mit dem, was man heute als Forschungsprojekt eines SFB konzipieren würde, in doppelter Perspektive: jener der französischen Gegenwartsliteratur, in der er weiterhin den Wegbereiter und ein privilegiertes Medium des neuen Frankreich erblickt, und der er sich insbesondere in der ersten Hälfte der 1920er Jahre intensiv widmet, und jener der deutschfranzösischen und oft auch europäischen Kulturprobleme, die ab Mitte des Jahrzehnts zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, oft kontrovers, vor allem der zweiten Perspektive gewidmet, so dass es mir angebracht scheint, die erste, der mit dem Werk des Jahres 1918 der Weg bereitet wurde, zu untersuchen. Schon für die Wegbereiter spricht Linda Simonis von einer „heute wenig bekannten Frühschrift“, und in den großen und kritischen Curtius-Analysen von Manfred Bock und Hans Ulrich Gumbrecht wird dieses Werk zwar erwähnt; dass es sich um eine primär literaturwissenschaftliche Studie handelt, spielt jedoch kaum eine Rolle. Den Werken zu Barrès, Balzac oder Proust sowie den Aufsätzen des Französischen Geistes im neuen Europa (1925) geht es dementsprechend nicht besser. Doch auch der kultur-politische Curtius bleibt (romanistischer) Literaturwissenschaftler und erblickt in der Literatur ein privilegiertes „Spiegelbild ihrer Epoche“ (321), wie er noch zu Ende der „Deutsch-französischen Kulturprobleme“ betont. Deshalb ist davon auszugehen, dass das Bild eines neuen, oder nicht gar so neuen Frankreich, das er aus und mit der Literatur gewinnt, auch seine kulturpolitische Perspektive beeinflusst oder ihr gar zugrunde liegt.

3. Barrès – Balzac – Proust, ein Höhenkamm-Projekt Mit drei großen monographischen Studien und einem Sammelband, der das Modell der Wegbereiter wieder aufnimmt und erweitert (Französischer Geist im neuen Europa) setzt Curtius sein Projekt einer in der Literatur und aus ihr vorangetriebenen Neuorientierung des französischen und europäischen Geistes im zweijährigen Rhythmus (Maurice Barrès 1921; Balzac 1923; Proust als Hauptteil des Französischen Geistes 1925) fort; der Balzac (1933) und der Proust (1928) sind auch in französischer Übersetzung erschienen. Dass diese Monographien und der Sammelband eine „Einheit“ bilden, beziehungsweise erst als Projekt ihre ihnen angemessene Bedeutung erhalten, verdeutlicht das 7 Die Wegbereiter bereiten auch Curtius’ deutsch-französischen Aktivitäten den Weg: etwa bei den Dekaden von Pontigny, im Colpacher Mayrisch-Kreis oder im Kontext des „Deutsch-Französischen Studienkomitees“.

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„Vorwort zur dritten Auflage“ der Wegbereiter: „Als Ergänzung des Bildes, das hier vom geistigen Frankreich der Gegenwart geboten wird, mag meine Darstellung von Maurice Barrès (Bonn 1921) dienen“ (3). Die literaturwissenschaftlichen Werke, von den Wegbereitern bis zum Französischen Geist, beabsichtigen nicht nur, wie es das Vorwort (1925: 2f.) des letztgenannten Werkes formuliert, „in das Werk einiger zeitgenössischer Franzosen einführen, die ich zu den wesentlichen künstlerischen Erscheinungen unserer Epoche zähle“, sie erörtern auch immer „die Funktion des französischen Geistes im heutigen Europa. Es sind einzelne Perspektiven, die sich überschneiden. Vielleicht ist gerade diese Form der Darstellung dem Gegenstande angemessen“. Die Frage, die diese Perspektiven aus heutiger Sicht aufwerfen, ist jene danach, ob und wie sie mit dem erwähnten Gegensatz zwischen offener Entwicklung im Sinne einer fortschreitenden Moderne und einer normativen, der Tradition verpflichteten Literaturkonzeption umgehen beziehungsweise ihn auflösen können. Zumindest was die Modernität der meisten vom ihm behandelten Autoren angeht, kann sich Curtius allerdings im „Rückblick 1952“, anlässlich der Neuausgabe seines Französischen Geistes das Kompliment machen: „in eben diesem Jahre [1925] warb ich für Proust, Valéry, Larbaud“ (1952: 525), und er hätte Aragon hinzufügen können. Für Curtius repräsentiert Maurice Barrès, wie er in seinem Vorwort betont, „eine typische Verkörperung des alten Frankreich“: sein Werk „weist nicht in ein neues Frankreich hinüber, dessen Seele einem neuen Europa zuwachsen könnte“. Insofern bilden die Wegbereiter und der Barrès ein Diptychon, in gewisser Weise das neue und das alte Frankreich. 8 Curtius sieht aber auch, und dies bildet einen Unterschied zu deutschen Nationalisten des Kaiserreichs, dass sich Barrès’ Wirkung „durch seine fesselnde Verschmelzung der französischen Tradition mit dem Denken und Empfinden der Moderne um 1900“ erklärt (Curtius 1921: V). Wie in den Wegbereitern praktiziert Curtius in seinem Barrès jene „innere Anschauung [der es gelingen soll], sich unmittelbar in die Seele des anderen hineinzusetzen“, was zu Missverständnissen führen kann/muss, es handelt sich aber zugleich um eine chronologisch-thematisch aufgebaute Studie, mit der er einen Beitrag zur „Geistesgeschichte des modernen Frankreich“ (IV) leisten will. Dabei verfolgt er die Entwicklung Barrès’ anhand seiner Romane und Essays, vom „culte du moi“ über den zeitweiligen Anarchismus und den Finde-siècle Kosmopolitismus bis zur Hinwendung zur nationalen Energie und zum Revanchismus. Curtius erkennt durchaus die „innere Logik und die

8 Zu Curtius’ Barrès verweise ich auf Ursula Bählers Lausanner Vortrag, „Curtius, lecteur de Barrès“, der in Kürze erscheinen wird.

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Kontinuität seines seelischen Werdens“ (228), doch er sieht auch die Ambiguität des Barrésschen Nationalismus: Von den Keimen, die im Ichkult angelegt waren, haben sich die einen zum Gewächs des Nationalismus organisch entfaltet. Aber andere sind von ihm erstickt worden. Ein Bruch ist vorhanden. Er offenbart sich noch in der Zeit des ausgebildeten Nationalismus in den nihilistischen Stimmungen (228f.).

Beide „Keime“ sind es, die später einen Aragon an Barrès faszinieren, wie neben zahlreichen Beiträgen von Aragon auch dessen Einleitung zum zweiten Band der Werkausgabe von Barrès des Club de l’honnête homme (1965) illustriert, in der er der NRF-Gruppe vorwirft, Barrès marginalisiert zu haben. 9 Für Curtius führt dies dazu, dass mit Formeln wie „La terre et les morts“ nur noch der Blick nach rückwärts möglich ist: „Er kennt nicht die fruchtbare Spannung zwischen Tradition und neuer Formung.“ (221) und für Curtius „teilt [er] mit den meisten Formen des Traditionalismus die Verständnislosigkeit für alle Erscheinungsformen der modernen europäischen Kulturkrise“ (222). Allenfalls für den literarischen Barrès kann er (in Maßen) Verständnis aufbringen, doch dessen „Formen der Exaltation“ (Titel des Kapitels 5), für die etwa Du sang, de la volupté et de la mort (1894) steht, sind durch den von der Dreyfus-Krise ausgelösten Aufbruch in einen neuen Lebenselan, für den für Curtius die Wegbereiter stehen, anachronistisch geworden, Barrès’ Trilogie des Roman de l’énergie nationale (1897–1901) ist durch den „élan vital“ der NRFGruppe abgelöst worden. Was von Barrés bleiben wird, ist ein Ausdruck „für den Nervenwunsch letzter fiebernder Schönheit“ und „für das Erschauern der Seele im düsteren Vorgefühl von Tod und Vernichtung.“ (238), so der letzte Satz des Buches. Ohne dass beide Seiten voneinander gewusst haben dürften, stehen sich Curtius’ Barrès-Sicht und der „Procès Barrès“ der Pariser Dadaistengruppe (am 13.05.1921) nicht nur zeitlich recht nahe. Mit der voluminösen Studie zu Balzac (1923) praktiziert Curtius erstmals seine Methode einer synthetisch-thematischen Interpretation oder besser Gesamtschau. Von den Schlusskapiteln (Werk, Persönlichkeit, Wirkung) abgesehen, sind die anderen elf Kapitel solchen Themen gewidmet, die Balzacs Werk charakterisieren. Darunter findet sich auch aus heutiger Perspektive Vertrautes wie Liebe, Macht oder Politik, doch Curtius eröffnet seine Untersuchung mit zwei Themenbereichen, die vor 90 Jahren gerade die französische Balzac-Forschung provozieren mussten: Geheimnis und Magie. Für Curtius (1951: 42) „ist dieser sogenannte Realist ein Magier“ und gemeinsam mit Energie und Leidenschaft betrachtet er diese vier Kräfte als die eigentlichen 9 Insofern relativiert sich die Unterstellung von Peter Jehn (1977: 114), Curtius habe „der Denkweise wie dem Nationalismus des Präfaschisten Barrès“ nahegestanden.

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Beweggründe des Œuvres dieses „Klassikers des französischen Romans“: „[Z]wischen diesen beiden Polen, d.h. den Leidenschaften und der mystischen Erhebung, ist alle Fülle menschlicher Passion beschlossen“ (111). Nur selten setzt sich Curtius mit einzelnen Werken und noch seltener mit Passagen Balzacscher Romane auseinander, Zitate dienen zumeist nur als Belege allgemeiner Einschätzungen. Balzac ist für ihn zwar auch der Sekretär seiner Gesellschaft, „Alle große Kunst ist Zusammenfassung und Ausdruck ihrer Epoche“ (331). Vor allem aber will er „vom psychologischen, vom soziologischen und zuletzt vom metaphysischen Blickpunkt aus ein Gesamtbild der Menschheit geben“ und diese Balzacsche Konzeption lässt sich auf Curtius’ Balzac übertragen. Für Curtius, und damit schließt er seine Studie, wird erst das 20. Jh. „zur Synthese vordringen“ und „Balzac in seiner Einheit und seiner Ganzheit erfassen“. Offensichtlich ist dies auch der Anspruch seiner Untersuchung, und man kann nicht sagen, dass er an ihm gescheitert wäre. Bevor ich mich abschließend dem Proust-Essay zuwenden möchte, soll der These der „Offenheit“ und „Empfänglichkeit“ des Curtius’ der 1920er Jahre wegen kurz auf sein Verhältnis zur Surrealistischen Avantgarde eingegangen werden, das Eberhard Leube (1990: 229-243) erstmals untersucht hat, dessen Artikel aber in den Diskussionen über den Curtiusschen Traditionalismus praktisch keine Rolle spielt. Leube weist zu Recht darauf hin, dass Curtius schon 1926, also drei Jahre vor dem berühmten „Sürrealismus“-Aufsatz Walter Benjamins in der Neuen Rundschau ausführlich den „Überrealismus“, so der Titel, anlässlich des Manifeste du Surréalisme (Herbst 1924) vorgestellt hat. Es wäre wenig hilfreich, Curtius’ Vorstellungen an heutigen Avantgarde-Theorien zu messen, entscheidend scheint mir, dass er im Surrealismus nicht nur „ein Symptom der geistigen Zerrüttung unserer europäischen Gegenwart“ erblickt, sondern ihm auch attestiert, dass er eine „Denkhaltung“ vertritt, „die jenseits der überlieferten Antithesen steht. [...] Sie werden aufgehoben in neuen Synthetismen des Bewußtseins. Auf diesem Gesamtvorgang, dessen Teilausdrücken eine sehr verschieden abgestufte Wichtigkeit zukommt, beruht unsere geistige Hoffnung“ (1926: 161). Und wenn Curtius seinen AragonBeitrag der Literarischen Welt des Jahres 1925 mit den Worten schließt: „Aragon zerbricht unsere Welt, weil er sich in ihr nicht einbürgern kann. Seine Welt ist im Lande des Traums“ (1925: 5), so zeigt er sich für die Avantgarde offener als sonst jemand, nicht nur in der deutschen Romanistik. Dem Curtius dieser Zeit Traditionalismus und organisch-konservatives Denken vorzuwerfen, ist zumindest problematisch. Der Proust-Essay erscheint 1925 als erster und größter Teil des Französischen Geistes im neuen Europa und ihm wird damit eine Funktion zugewiesen, die der der Autoren-Teile in den Wegbereitern entspricht. Tatsächlich nimmt

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dieser Essay aber die mit dem Balzac entwickelte Konzeption auf und entwickelt sie weiter. Anhand eines breiten Spektrums von Themen-Kapiteln (insgesamt 27), von „Kunst und Erkenntnis“ über „Kunst und Leben“, „Zeit und Raum“, eine „Flieder-Studie“, aber auch „Soziologische Grundlagen“ bis zum abschließenden „Platonismus“ analysiert Curtius die ihm für Proust charakteristisch scheinenden thematischen Muster und die aus ihnen resultierende Einstellung zur Welt, um nicht von einer „vision du monde“ zu sprechen. Dabei variiert Curtius seinen Umgang mit Prousts Recherche von einem close reading, etwa in der „Flieder-Studie“ einer kurzen Passage von Du côté de chez Swann (ohne dass dies angegeben würde), über eine Interpretation, die ähnlich wie die Auerbachschen Ansatzpunkte verfährt (etwa im Falle von „Zeit und Raum“) oder über die schon in den Wegbereitern praktizierte kommentierte Zitaten-Collage (nicht nur bei der „Stilbetrachtung“, sondern auch im Falle von „Sensibilität“), bis zu „Intuition und Ausdruck“ oder „Psychologie und Wirklichkeit“, in denen er auf keine konkrete Passage mehr Bezug nimmt. Diese Struktur, wenn man denn von einer solchen sprechen kann, wählt einen höchst individuellen Mittelweg zwischen impressionistischer „Empfänglichkeit“ und literarhistorischem „Ordnungswillen“, und dient dem Ziel, dank „innerer Anschauung“ dem Wesen oder der „Seele“ des Proustschen Werkes gerecht zu werden, die er in dem das Themenspektrum abschließenden „Platonismus“ erblickt: „Das Festhalten erlebter Vergangenheit, die Wiedervergegenwärtigung eines verlorenen Lebensgehalts, bricht hier aus dem Psychologischen in das Metaphysische durch“ (Curtius 1925: 143). Der Curtius gegenüber nicht unkritische René Wellek weist zu Recht darauf hin, dass „der Proust-Essay“ nicht nur „eine der ersten Untersuchungen zum Gegenstand war“, sondern dass „er spielend jede voraufgegangene Deutung übertraf“ (Wellek 1986: 22). Curtius gelingt es in einer noch heute lesenswerten Form, die wesentlichen Elemente des proustschen Universums freizulegen. Und anders als es der „französische Geist im neuen Europa“ vermuten lässt, handelt es sich nicht so sehr um eine Manifestation des französischen Geistes, sondern auch oder vielmehr nur um eine solche, die den Kern dessen berührt, was für Curtius Kunst vermag und was sie, jenseits nationaler Stereotype oder Eigenwege, ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß auch sollte: „Eine Kunst, wahr bis ins Letzte, die das Ganze der menschlichen Natur umfaßt und vor Leben und Tod besteht. Eine solche Kunst ist große Kunst“ (145). Mit diesen Worten endet der Essay.

4. Auf dem Wege zu einer europäischen Literatur? Mit dem Essay, der den Titel des Sammelbandes variiert, „Europäischer Geist und französische Literatur“, versucht Curtius so etwas wie eine Synthese der

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kulturellen Bedeutung Frankreichs, insbesondere der französischen Literatur, in der Epoche der Moderne. So wenig wie er in seinem Proust nationalkulturell argumentiert, desto deutlicher greift er hier auf solche Kategorien zurück, zumindest, was Frankreich angeht: „Es wird dem französischen Geist schwer, eine Idee von Europa anzuerkennen, die nicht auf der Hegemonie einer Nationalkultur, sondern auf ihrem organischen und gleichberechtigten Zusammenarbeiten beruht“ (291). Curtius geht zu Recht davon aus, dass die französische Literatur und Kultur im 19. Jh. Einflüsse anderer Kulturen aufgenommen haben (deutsche, englische, russische Zuströme), er sieht diese Einflüsse, und hier zeigt sich seine Affinität mit der NRF-Gruppe, insbesondere mit Gide, durch die französischen Nationalisten relativiert beziehungsweise negiert, aber er versäumt nicht darauf hinzuweisen, dass es eine ähnliche Einstellung bei deutschen Nationalisten gibt. Demgegenüber kritisiert der angeblich die „[d]eutsche Kulturidee kontra [die] französische Zivilisationsidee“ (Jehn) ausspielende Curtius deutlich die Forderung „man solle deutsch, respektive französisch denken“, denn sie „widerspricht den Gesetzen des Geistes selbst, sie fälscht das Denken“ (297). Trotz des Krieges hält Curtius (im Gegensatz zu 1919) nun eine Fortsetzung der europäischen, insbesondere deutsch-französischen Annäherung für möglich und wünschenswert und stellt eine „Europäisierung des französischen Kulturbewußtseins“ fest, vor allem was den englischen Einfluss angeht. Dank dessen und dank eines anderen französischen Blicks auf die (vor allem deutsche) Romantik kann „das klassische Erbe des französischen Geistes wieder europäische Geltung gewinnen“ (305). Zwei Autoren dienen ihm als Beleg für diese Entwicklung, André Gide und Marcel Proust, dessen Erscheinung er als „ein eindrucksvolles Zeugnis für die Wirklichkeit und Einheit des europäischen Bewußtseins“ (306) betrachtet. Auch wenn er sich abschließend mit einem langen Zitat auf Adam Müller beruft, so ist Curtius in diesem Moment offensichtlich von der Möglichkeit des Übergangs womöglich der Überwindung der nationalen in einer europäischen Kultur überzeugt. Dass sich diese Möglichkeit, die Curtius schon in der unmittelbaren Vorkriegszeit gegeben sieht, nach der Katastrophe des Weltkrieges und den Folgen des Vertrages von Versailles schon Mitte der 1920er Jahre wieder abzeichnet, ist nicht zuletzt der Literatur zu verdanken. Der NRF-Kreis, Marcel Proust und Paul Valery stehen für Curtius für eine französische Literatur, die die nationalen Grenzen überwindet und wenn schon keine Weltliteratur im Goetheschen Sinne, so doch eine gemeinsame europäische Literatur möglich erscheinen lässt. Curtius bemerkt allerdings schon 1921 in den „Deutsch-Französischen Kulturproblemen“: „Die geistigen Lebensprobleme Europas lassen sich in der literarischen Sphäre diskutieren, aber nie werden sie von dorther ihre Lösung

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empfangen.“ Zu Mitte der 1920er Jahre glaubt er (in Frankreich) sich eine „Wendung der Geister vollziehen“ (Curtius 1923: 321) zu sehen und mit seinen vielfältigen Aktivitäten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bis zum Deutschen Geist in Gefahr versucht er dazu beizutragen, 10 dass sich diese „Wendung“ nicht auf die Literatur begrenzt. Dass dies nicht immer unproblematisch war, illustriert gerade das letztgenannte Werk. Denn politisch blieb Curtius, wie sein Wahlaufruf für Hindenburg im Jahre 1932 zeigt, ein kulturelitärer Großbürger mit Affinitäten zur Konservativen Revolution. Deshalb wäre es auch „nicht gerechtfertigt, Curtius zum späten Retter der Weimarer Republik zu verklären“ (Bock 2005: 121). 11 Sein Eintreten für den konservativ-reaktionären Reichspräsidenten ist jedoch eine deutliche Positionierung gegen dessen Herausforderer Hitler. Doch diese politische Konstellation zeigt, und Curtius ist dies bewusst, dass die erhoffte europäische „Wendung“ nicht mehr vollzogen werden kann. Er reagiert darauf mit seiner Wendung zur mittelalterlichen Literatur im europäischen Kontext.

Bibliographie Primärliteratur Curtius, Ernst Robert (1921): Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus. – Bonn: Friedrich Cohen. Curtius, Ernst Robert (³1923a): Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. – Potsdam: Kiepenheuer. Curtius, Ernst Robert (1923b): Deutsch-französische Kulturprobleme. – In: Ernst Robert Curtius: Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, 309-321. Potsdam: Kiepenheuer. Curtius, Ernst Robert (1925a): Aragon. – In: Die literarische Welt 13/11, 5.

10 Dem Curtius dieses Werkes vorzuwerfen: „il mobilise tous les clichés anti-sémites contre un ennemi bien défini: l’intellectuel juif de gauche“, wie dies Michael Nerlich (1990: 12) tut, ist zumindest einseitig, zumal, wenn Nerlich in einem langen Curtius-Zitat (1932: 84) gerade den folgenden Satz auslässt: „Ich stimme mit dem Propheten des ‚Reiches‘, mit dem neunationalen Dogmatiker Hielscher in der Verwerfung des Antisemitismus überein“. Im übrigen kann, was einen Curtiusschen Antisemitismus angeht, nur auf die Rezension des Essays in der CentralVerein-Zeitung (Heft 21, 20.05.1932) verwiesen werden, wo es unter anderem heißt: „So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn Curtius an einigen wenigen Stellen den zurzeit herrschenden Antisemitismus der rechtsradikalen Kreise aufs schärfste bekämpft.“ (206); vgl. dazu: Stockhammer 2007: 109, insbes. Anm. 19. 11 Diesem wichtigen Aufsatz (Ersterscheinung 1990) hat meine Curtius-Interpretation viel zu verdanken, auch wenn ich nicht mit allen seiner Wertungen übereinstimme.

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Curtius, Ernst Robert (1925b): Vorwort. – In: Ernst Robert Curtius: Französischer Geist im neuen Europa, 7-8. Berlin/Stuttgart: DVA. Curtius, Ernst Robert (1925c): Marcel Proust. – In: Ernst Robert Curtius: Französischer Geist im neuen Europa, 9-146. Berlin/Stuttgart: DVA. Curtius, Ernst Robert (1926): Der Überrealismus. – In: Die Neue Rundschau 37/2 156-162. Curtius, Ernst Robert (1932): Deutscher Geist in Gefahr. – Stuttgart/Berlin: DVA. Curtius, Ernst Robert (21951): Balzac. – Bern: Francke. Curtius, Ernst Robert (1954): Essais sur la littérature européenne. Übers. von Claude David. – Paris: Grasset. Curtius, Ernst Robert (41994): Rückblick 1952. – In: Ernst Robert Curtius: Französischer Geist im 20. Jahrhundert: Gide – Rolland – Claudel – Suarès – Péguy – Proust – Valéry – Larbaud – Maritain – Bremond, 513-527. Tübingen/Basel: Francke. Curtius, Ernst Robert (2015): Briefe aus einem halben Jahrhundert. Eine Auswahl. Herausgegeben und kommentiert von Frank-Rutger Hausmann. – Baden-Baden: Verlag Valentin Koerner (Saecula Spiritualia 49). Gide, André (1921): Les rapports intellectuels entre la France et l’Allemagne. – In: La Nouvelle Revue Française 17, 513-521. Gide, André (1948): Journal. 1889–1939. – Gallimard: Pléiade.

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Klemperer, Victor (1996): Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918– 1924 und 1925–1932. – Berlin: Aufbau. 2 Bde. Lausberg, Heinrich (1993): Ernst Robert Curtius (1886–1956). Hg. von Arnold Arens. – Stuttgart: Franz Steiner. Lerch, Eugen (1920): Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. – In: Münchener Zeitung 09.09.1920. Leube, Eberhard (1990): Curtius und die französische Moderne. – In: Wolf-Dieter Lange (Hg.): „In Ihnen begegnet sich das Abendland“. Bonner Vorträge zur Erinnerung an Ernst Robert Curtius, 229-243. Bonn: Bouvier. Nerlich, Michael (1990): Sur des différences nationales dans la capacité de deuil: Ernst Robert Curtius et Paul de Man. – In: lendemains 59, 5-15. Picht, Robert (1986): Einführung in die Frankreichforschung. Bd. I. Ernst Robert Curtius. – Hagen: FU Hagen. Simonis, Linda (1998): Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jakob Burckhardt, Georg Lukács, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin. – Tübingen: Niemeyer. Stockhammer, Robert (2007): Weltliteratur und Mittelalter: Auerbach und Ernst Robert Curtius. – In: Karlheinz Barck, Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, 105-124. Berlin: Kadmos. Wellek, René (1986): Ernst Robert Curtius als Literaturkritiker. – In: Wolf-Dietrich Lange (Hg.): Französische Literatur des 20. Jahrhunderts – Gestalten und Tendenzen. Zur Erinnerung an Ernst Robert Curtius, 11-32. Bonn: Bouvier.

Elmar Eggert Neue Beobachtungen zur Sprachkultur in der Bretagne

1. Einleitung In diesem Beitrag zur Sprachkultur und -politik in der Bretagne für meinen Lehrer Franz Lebsanft, der sich v.a in den letzten Jahren intensiv mit sprachpolitischen Fragen in Europa beschäftigt hat (Lebsanft 2008, 2012a, 2012b), soll der Versuch einer Bewertung der aktuellen Sprachkultur des Bretonischen und dessen besonderer Verwendungsweisen gemacht werden. Wohl aufgrund der aktuellen Diskussion um die Ratifizierung der ECRM (Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen) in Frankreich und des unklaren Status’ (vgl. Willwer 2006) konnte die komplexe Sprachsituation in Frankreich in seinen Publikationen aus 2012 nicht behandelt werden, so dass die folgenden Ausführungen einen ergänzenden Beitrag darstellen können, wenngleich eine komplementäre Sicht eingebracht werden soll. Dem Bretonischen wird bereits seit langer Zeit ein Sterben vorausgesagt (Walter 1994: 111, noch Radatz 2013: 159), dennoch hat sich diese keltische Sprache bislang in einer beachtlichen Sprechergruppe erhalten, nur nicht als vollständiges Varietätensystem, sondern in einzelnen, voneinander divergierenden Bereichen. Daher ist das komplexe System der bretonischen Varietäten zu analysieren, um die Entwicklung und den Erhalt des Bretonischen in unterschiedlichen Dimensionen zu verstehen. Zusätzlich sind viele sprachkulturelle, sprachpflegerische und sprachpolitische Aktivitäten der letzten Jahrzehnte zu verzeichnen, die dem Bretonischen einen neuen, symbolischen und praktischen, Stellenwert zuschreiben. Mit der neuen Sichtbarkeit des Bretonischen im öffentlichen Raum geht auch eine veränderte Wahrnehmung dieser Regionalsprache einher, die theoretisch erfasst werden soll.

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2. Die Herausbildung historischer Varietäten des Bretonischen In bisherigen Darstellungen zum Bretonischen ist meist die Rede von verschiedenen bretonischen Sprachen, die eigene Bezeichnungen erhalten: badume, breton mondain, bretonnant de curé (brezonneg beleg), néo-breton (Le Dû/Le Berre 2013: 43). Diese stehen sich jedoch nicht als verschiedene Sprachen gegenüber, sondern ihr Verhältnis ist das einer historischen Sprache mit einem komplexen Varietätensystem in unterschiedlichen Ausbau- und Abbauphasen sowie in verschiedenen Entwicklungsprozessen. Diese sind somit unter ein Dach zu stellen, wenngleich die Unterschiede gesellschaftliche Konflikte bergen können. 2.1. Historische Varietäten des Bretonischen

Die badumes (aus bret. barz du mañ ‚bei mir/uns hier‘) sind die historischen, dialektalen Varietäten, wie sie auch im Atlas linguistique de la Basse-Bretagne festgehalten werden (Le Roux 1924-1963). Das historisch belegte breton mondain hingegen als bretonische (Misch-)Varietät ist stark beeinflusst durch französische und lateinische Muster und stellt eine prestigereiche Sprechweise des aufs Land zurückgezogenen Adels mit der Landbevölkerung dar, welche Le Dû/Le Berre (2013: 46) als „paternalistisch“ darstellen. Das breton de curé ist ebenfalls eine distinguierte Misch-Varietät, die starke französische und lateinische Einflüsse aufweist, aber als Hochsprache zu den volkstümlichen Sprechweisen der sog. badumes angesehen wurde. Koine-artige Ausgleichsformen sind von den überregional arbeitenden Bevölkerungsgruppen (wie Ärzte, Notare, Händler, Seefischhändler, Pferdehändler, fahrende Sänger etc.) geschaffen worden, um sich eine Verständigungsform zu schaffen, die von den Ortsansässigen akzeptiert wurde (Le Dû/Le Berre 2013: 46f.). Mehrere Fach- und Sondersprachen sind belegt, die zum Varietätenreichtum beitragen. Es gab also keine bretonische Einsprachigkeit und erst recht keine Reinform der Sprache, sondern viele Varietäten und immer eine Koexistenz zum Französischen. Auch Radatz (2013: 171) sieht das Bretonische als stark romanisierte keltische Sprache an, die sich sprachtypologisch stark verändert hat: „Puristische Versuche, das Bretonische wieder zu einer „rein keltischen Sprache“ zurück entwickeln zu wollen, verkennten daher den Charakter dieser Sprache“. Neben der lokalen bretonischen Nähesprache waren bis zum 1. Weltkrieg Kenntnisse einer formelleren bretonischen Distanzsprache bei den Bewohnern der Basse-Bretagne vorhanden, daneben Kenntnisse des Lateins aus dem kirchlichen Gebrauch und des als Zweitsprache gelernten Französischen aus der Schule. Erst mit der allgemeinen Schulpflicht erweiterten sich die Kenntnisse des Französischen, welches sich für den Bereich der Sprache der Öffentlichkeit

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immer stärker durchsetzte und zum Verlust der bretonischen Distanzsprache führte. Die Ausweitung der Schulpflicht für weiterführende Schulen, die Veränderungen des Berufslebens, v.a. durch bessere Verbindungsmöglichkeiten, z.B. durch Strom- und Telefonleitungen wie auch die neuen audiovisuellen Medien, der Verlust der Bindung an die lokale(n) Kirche(ngemeinden) haben eine massive Ausweitung des Französischen in diesen Bereichen bewirkt. Seit ca. 1950 hat die katholische Kirche das Bretonische als Sprache der Liturgie zugunsten des Französischen aufgegeben. Diese Ausweitung hat so stark gewirkt, dass alle Bereiche des Lebens im Nähe- und Distanzbereich auf Französisch bewältigt werden, in familiären und schriftnormadäquaten Varietäten, selbst bei älteren Sprechern mit bretonischer Muttersprache, nur teilen diese den Nähebereich mit bretonischen Sprachvarietäten (Le Dû/Le Berre 2013: 49f.). 2.2. Zur Herausbildung der Sprachpflege und Sprachkultur

Bürgerliche Intellektuelle, welche das Bretonische als Zweitsprache erlernt hatten, haben ab Ende des 19. Jh. damit begonnen, eine neue Varietät des Bretonischen zu schaffen und zu verbreiten, welche für die Belange der Kommunikation im öffentlichen Leben gerüstet ist und welche als Hochform des Bretonischen die verstreuten lokalen Sprechvarietäten (badumes) überdachen und so vereinen sollte. Sie hatten als Ziel die Schaffung eines unabhängigen bretonischen Staats mit Bretonisch als Amtssprache. Um die Unabhängigkeit von Frankreich zu demonstrieren, sollte auch das sog. néo-breton alle Einflüsse aus dem Französischen tilgen und sich ganz auf die keltischen Wurzeln stützen. Dieses gelang v.a. im lexikalischen Bereich, während die syntaktischen Strukturen deutlich an die französische Muttersprache angelehnt blieben, auch wenn gerade dies nicht intendiert war. Der lexikalische Ausbau greift verstärkt auf Neologismen zurück, die auf Grundlage keltischer Wurzeln gebildet werden und so den üblicherweise verwendeten Wörtern gegenüberstehen, die zum Teil sogar aus dem Französischen ins Bretonische übernommen und nur leicht adaptiert worden sind. Dieser lexikalische Ausbau war und ist nötig, um überhaupt das Bretonische in verschiedenen Situationen des öffentlichen Lebens einsetzen zu können, die seit Jahrhunderten nicht in dieser Sprache realisiert worden sind, sondern allein mit dem Französischen verbunden waren und sind. Doch ergibt sich aus dieser neuen Entwicklung eine neue Varietät, die zu einer Konfrontation der Sprechergruppen beiträgt, denn sie bewirkt eine Aufspaltung der Sprecher in néo-bretonnants und bretonnants traditionnels. Insgesamt stellte das néo-breton einen deutlichen Bruch mit den traditionellen Sprechweisen der Bretonischsprecher dar, so dass viele diese Varietät ablehnten, da sie

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wenig mit ihrer alltäglichen Erfahrung mit dem praktizierten Bretonischen zu tun hatte. Diese puristische Varietät des néo-breton ist aber für die sprachpflegerischen Aktivitäten der letzten Jahrzehnte zur Orientierung geworden, um eine bretonische Distanzsprache mit fachsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten (juristisch, technisch etc.) zu schaffen. Die ersten sprachpflegerischen Vereinigungen entstehen seit den 50er Jahren des 20. Jh. und schaffen eine vereinheitlichte Orthographie, die orthographe universitaire von 1954. Politische Gegensätze zwischen Kommunisten und Nationalisten behindern aber die Wirksamkeit der sprachpolitischen Aktivitäten (Le Dû/Le Berre 2013: 51); die Absprachen bretonischer Nationalisten mit den Nationalsozialisten haben diese in den Augen vieler Bretonen diskreditiert, gerade in ihrem Kampf für das Bretonische. Erst im Laufe der 70er Jahre änderte sich die Haltung vieler Bretonen zum Bretonischen, das nun immer stärker positiv besetzt war und nicht mehr so stark mit ländlicher Rückständigkeit assoziiert wurde.

3. Das Bretonische in der Bretagne heute Insgesamt ist das Sprachgebiet des Bretonischen in den letzten Jahrhunderten und auch Jahrzehnten stark zurückgedrängt worden, da die Romanisierung selbst die westliche Basse-Bretagne durchzogen hat: Alle Bretonen sprechen Französisch oder sind bilingual. Trotz der historisch repressiven Situation (vgl. Broudic 2013a), in der die Verwendung des Bretonischen im öffentlichen Bereich, v.a. in der Schule verboten war und als unrein galt, ist das Bretonische im Departement Finistère in einigen Sprechergruppen vital geblieben. Broudic (2013b: 441) gibt für das Jahr 2007 eine Zahl von insgesamt 206.000 Sprechern des Bretonischen an, dessen Verwendung jedoch stark schwankt: 70% der Bretonischsprecher sind über 60 Jahre alt, nur 5% sind unter 39 Jahre. Das Bretonische wird nicht mehr von einer Generation zur nächsten weitergegeben: Während die Älteren Bretonisch noch mündlich von ihren Eltern gelernt haben, lernen die Jüngeren die Sprache meist in schriftlicher Form in einer Schule, da sie im Elternhaus, mit Freunden und in der Öffentlichkeit ihre Muttersprache Französisch verwenden. Eine Möglichkeit, mit anderen Bretonisch zu sprechen, ist meist nur in speziellen Situationen (wie in der Schule oder bei darauf ausgerichteten Veranstaltungen) möglich. Auch weicht die Ausbauvarietät des néobreton deutlich von der dialektal heterogenen Nähesprache des traditionellen Bretonischen älterer Muttersprachler ab.

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3.1. Sprachpolitik zum Bretonischen

Die wichtigste sprachpolitische Institution ist in Carhaix-Plouguer angesiedelt: Der seit Langem bestehende Service de la langue bretonne im Institut culturel de Bretagne wurde 1999 in das Office de la langue bretonne transformiert, aus dem heraus 2010 die öffentliche Einrichtung Ofis publik ar brezhoneg/Office public de la langue bretonne mit neuen Statuten gegründet wurde. Das Amt wird unterstützt und finanziert vom Regionalrat der Regionen Bretagne und Pays de la Loire sowie den Departements Bretagne und Loire-Atlantique. Es untersucht und fördert die interne und externe Sprachentwicklung und hat bereits 2001 die Initiative der Charta Ya d’ar Brezhoneg (‚Ja zum Bretonischen‘) zur Einbindung der Kommunen in die sprachpolitischen Ziele gestartet. Daneben existieren sehr viele an der Sprachkultur und -pflege interessierte Gruppierungen, darunter die Dachvereinigung KLT, die 30 Vereine zur Förderung des Bretonischen der Region um Morlaix vertritt, oder das Haus der bretonischen Sprache und Kultur SKED in Brest, das ebenfalls viele Gruppen vereint. Nur wenig Wirkung zeigt die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats, deren Ratifizierung in Frankreich noch aussteht, so dass neben dem Ausdruck des politischen Willens bei einzelnen politischen Parteien keine konkreten sprachpolitischen Ziele vereinbart und überprüft werden. Im primären Bildungsbereich vermitteln v.a. die privaten, aber öffentlich geförderten Diwan-Schulen Kenntnisse des Bretonischen. Diese unterrichten mit der Immersionsmethode immer mehr Kinder von der Vorschule über die Grund- und weiterführenden Schule allein auf Bretonisch (3.732 Kinder im Schuljahr 2013/14, www.diwanbreizh.org). Daneben existiert der private Verein Div Yezh, der den bilingualen Unterricht im öffentlichen Bildungssystem fördert, an dem insgesamt nach eigenen Angaben 66.500 Schüler im Schuljahr 2011/12 teilnehmen (div-yezh.org). Die katholischen Privatschulen, die in der Bretagne sehr stark vertreten sind, bieten bilingualen Unterricht an, der vom Verein Dihun gefördert wird, so dass aktuell 5.000 Schüler in 92 Schulen davon profitieren. In den Medien ist das Bretonische unterschiedlich stark vertreten. Rein bretonischsprachige Printmedien gibt es nur wenige, aber die großen Regionalzeitungen Ouest France und Le Télégramme bieten jeweils eine Seite zur bretonischen Sprache und Kultur an, teils auch auf Bretonisch. Sehr begrenzt ist die Reichweite rein bretonischsprachiger Zeitungen wie Ya! (1.250 Abonnenten, yabzh.com, vgl. Broudic 2013: 450) oder die der wissenschaftlichen Periodika, von denen eine Vielzahl auf Bretonisch publizieren, konsultierbar in der Bibliothek des Centre de recherche bretonne et celtique (CRBC) der Université de Bretagne Occidentale. Hauptsächlich über lokale Sender wird Bretonisch im

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Radio ausgestrahlt. Im Fernsehen wird stark über regionale Themen berichtet, aber kaum auf Bretonisch, nur ca. zwei Stunden pro Woche. Jedoch erreicht das auf Bretonisch ausgestrahlte Sonntagsprogramm von France 3 Bretagne bis zu 50.000 Zuschauer (Broudic 2013: 450). 3.2. Das Bretonische als regionales Identitätsmerkmal

Im Rahmen der voranschreitenden Globalisierung der letzten Jahrzehnte und der damit einhergehenden Rückbesinnung auf regionale Bezüge hat sich auch in der Bretagne ein stärkeres Regionalbewusstsein entwickelt. Trotz der sehr eingeschränkten Verwendung des Bretonischen im Alltag ist das Bretonische für viele Einwohner der Bretagne zu einem starken Identitätsträger geworden. Die mit ihrer Heimatregion verbundene Sprache war lange als sprachliche Realität aus dem Bewusstsein der Bretonen verdrängt worden, da mit dem Bretonischen v.a. ältere Sprecher auf dem Land assoziiert wurden, die als auf die Vergangenheit hin orientiert angesehen waren, während die öffentliche und private Kommunikation sich stets auf Französisch abspielt(e). Doch das Prestige des Bretonischen hat sich gewandelt, es ist für viele Bretonen zu einem Teil der bretonischen Kultur geworden, der unabhängig vom soziokulturellen Milieu der noch vorhandenen Sprechergruppen geworden ist. Einige Sprecher haben sich direkt der Sprache zugewandt und begonnen, diese zu lernen. Sie versuchen sogar, diese im Alltag, in ihrer Familie, mit Freunden und Gleichgesinnten zu verwenden. Diese auf die regionale Verwurzelung ausgerichteten Personen schicken ihre Kinder auf die DiwanSchulen, die durch die Immersion einen sprachlichen Alltag erleben, der sowohl auf die Nähekommunikation ausgerichtet ist, als auch die Bildungsbereiche wie Schrift, Techniken, Fachwissen und die Bewältigung öffentlicher Anlässe umfasst. Dennoch ist es für diese wie für die meisten Sprecher aufgrund der sehr starken Präsenz des Französischen außerhalb solcher „Sprachinseln“ nicht möglich, das Bretonische anzuwenden. Allenfalls bietet das Internet neue Möglichkeiten des Informationsaustauschs und der Vernetzung über die Regionalsprache. 3.3. Die neue Sichtbarkeit des Bretonischen

Obwohl inmitten des bretonischsprachigen Gebiets gelegen, wird die Stadt Brest selbst von den Bewohnern als eine frankophone Stadt wahrgenommen, die sich aufgrund des Militärhafens früh der französischen Sprache verschrieben hat. So ist davon auszugehen, dass nur eine sehr kleine Gruppe in Brest

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überhaupt traditionell Bretonisch spricht und sprechen kann, während das Französische alle kommunikativen Bereiche bestimmt. Auch in Rennes, das nie zum historisch bretonischsprachigen Gebiet gehört hat, dominiert das Französische alle Kommunikationsbereiche. Umso erstaunlicher ist es, dass selbst in Städten wie Brest oder Rennes das Bretonische in den letzten Jahren eine außergewöhnliche Sichtbarkeit gewonnen hat (vgl. den Ansatz der Linguistic Landscape, Gurter 2008). Gerade in öffentlichen zweisprachigen Hinweis- und Verkehrsschildern ist das Bretonische präsent, mittlerweile auf über 95% der richtungsanzeigenden Beschilderung, so Blanchard (2013: 139). Die Straßenschilder sind in vielen Städten der gesamten Bretagne fast durchgängig zweisprachig, z.B. Rue des Portes Mordelaises – Straed Porzhoù Morzell (Rennes), ebenso touristische Informationsschilder z.B. Les Halles Saint-François – Koc’hu Sant Frañsez (Quimper/Kemper). Darüber hinaus ist das Bretonische Teil von Markennamen und von Anzeigeschildern vieler Geschäfte, die in verschiedenen Intensitätsgraden mit der bewussten Wahl des Bretonischen einen Marketingvorteil zu erreichen suchen, oft mit dem Französischen kombiniert: z.B. das Wortspiel La Bretagne, c’est Breizh auf Porzellanschalen oder die Marke des Getränks Breizh Cola, die Bezeichnung eines Kleidergeschäfts Breizh Attitude, die bretonische Schreibweise französischer Wörter, z.B. von atypique im Namen der Crêperie Atipik Bilig aus Morlaix, T-Shirts, die mit dem Aufdruck Republik Breizh an Touristen verkauft werden (Concarneau), Altenheime mit der Bezeichnung Maison Ti Koz ‚Haus des Alters‘ oder selbst ein Nachtklub in Rennes mit derselben Bezeichnung Ti Koz. In der Öffentlichkeit ist das Bretonische zudem durch moderne urbane Kommunikationsformen wie den Grafitti oder auf Aufklebern sichtbar. In diesen Manifestationen wird zum einen eine stärkere Berücksichtigung der Zweisprachigkeit in noch ausbaufähigen Bereichen verlangt, z.B. eine weitere Beschilderung des öffentlichen Nahverkehrs (E brezhoneg! ‚Auf Bretonisch!‘), zum anderen werden auch allgemeinpolitische Forderungen einzelner Gruppierungen auf Bretonisch in die Stadt getragen, z.B. der politische Slogan Breizhistance (dokumentiert in Morlaix) als Amalgam aus Breizh ‚Bretagne‘ und résistance ‚Widerstand‘, um zu einem Kampf der Bretonen gegen eine vermeintliche Unterdrückung aufzurufen, oder der Auto-Aufkleber in Rennes À l’aise Breizh ~ ‚sich wohlfühlen in der Bretagne‘. 3.4. Der bretonische Regionalismus

Politisch kann daraus ein verstärkter Regionalismus mit dem Ziel der Festigung der regionalen Identität abgelesen werden, welche durch symbolische Elemente ausgedrückt wird. Die Einbettung ausgewählter Ereignisse, Phänomene und

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Gegenstände in diesen soziopolitischen Zusammenhang führt zu einer Materialisierung der neugeschaffenen nationalen bzw. regionalen Identität, welche als feste Sammlung einen sog. „kit identitaire“ (nach Thiesse 1999, zitiert aus Courcelle 2003: 146) darstellt: Dazu gehören ein oder mehrere Nationalhelden, eine Sprache, Denkmäler kultureller Bedeutung, die Verbindung mit einer als typisch markierten Landschaft, offizielle Symbole wie eine Fahne und eine Hymne, die Verwendung eines Emblems (meist ein symbolisches Tier), Identifikationsmerkmale in Trachten oder Kleidungsformen, kulinarische Spezialitäten und typische Produkte. Diese Elemente sind in der Bretagne alle vorhanden, so dass ein eigenes Identitätsbewusstsein nachgewiesen werden kann. Somit herrscht bei einem Teil der bretonischen Bevölkerung ein starker Regionalismus vor, der Autonomiebestrebungen und teilweise sogar Unabhängigkeitsforderungen begünstigt. Die Sonderstellung der Bretagne wird herausgestellt, das kulturelle Erbe der Bretagne wird oft ausschließlich auf die keltischen Wurzeln zurückgeführt: Die keltischen Feste, Musikveranstaltungen und Tanzabende mit keltischen Rundtänzen werden als bretonisch deklariert. So wird ein bretonischer Nationalismus eines einheitlichen bretonischen Volkes postuliert, das den nicht-keltischen Beitrag, z.B. den romanischen, unterschlägt oder sogar negiert, wodurch die vielfältige kulturelle Identität auf einen Teil verengt wird (vgl. Courcelle 2003: 137f.). Es wird ein keltischer Kulturraum angenommen, der eine kulturpolitische Einheit vorgibt, die sich aber nur vereinzelt in der Realität niederschlägt, so in den Festivals interceltiques. Dabei ist der keltische Ursprung vielfach ein Mythos, wie Radatz (2013: 144-148) nachweist, der einige Vorurteile zum keltischen Charakter der Bretagne und ihrer emblematischen Instrumente, z.B. des Dudelsacks, zurückweist. Dennoch wirkt dieser „Keltendiskurs“ („Keltophilie“ nach Radatz 2013: 150) auf die keltischen Sprachgruppen, deren Identität und ihren Binnendiskurs ein, was als Entwicklung der Regionalbewegungen des 20. Jh. auch in anderen Teilen Europas zu beobachten ist. Auch für nicht regionalistische Bretonen ist das Bretonische ein großer Identitätsfaktor, selbst wenn sie gar kein oder nur sehr wenig Bretonisch sprechen. Das trifft auf die Benennung und Ausschilderung verschiedener Geschäfte zu und auf den Einsatz bretonischer Elemente von Nicht-Muttersprachlern, wie im vorangehenden Abschnitt aufgezeigt. Durch den Einsatz symbolisieren sie eine Verbundenheit mit der Region, die traditionell durch das Bretonische oder eher die Zweisprachigkeit mit dem Bretonischen geprägt ist. So wird durch den emblematischen Einsatz einzelner Elemente eine stillschweigende Zugehörigkeit ausgedrückt, eine „connivence“, so Blanchard (2013: 148). Das betrifft eine bestimmte soziale Gruppe von Bewohnern der Stadt, welche sich von den anderen abheben wollen und dies durch den Rückgriff auf das traditionelle Element

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tun, jedoch dadurch ihre Modernität ausdrücken und eben nicht ihre Rückwärtsgewandtheit. Dieser Prozess geht in der Bretagne aber noch weiter und ist auch grundlegend mit der Sprache verbunden. Da die Unternehmen mit dem Siegel „Produit en Bretagne“ (www.produitenbretagne.bzh) werben und die Tourismusbranche das Herausstellen einer besonderen Stellung, Authentitzität und Exklusivität der Region nutzt, wird die Bretagne zur Marke, welche eng mit der bretonischen Sprache verknüpft ist (so auch Courcelle 2003: 146 f.). Durch diesen Prozess erhalten die Elemente eine neue Bedeutung, nämlich die der regionalen Identität, was als Prozess der Registerwerdung dieser Elemente in einem soziokulturellen und politischen Zusammenhang zu werten ist, wie im Folgenden ausgeführt werden wird.

4. Semiotische Einordnung der Sprachverwendungen In diesen neuen Verwendungen ist die Ebene einer neuen Sprachnutzung zu erkennen, welche den Symbolgehalt der sprachlichen Elemente vor den semantisch-funktionalen Gehalt rückt. Gerade sprachliche Merkmale, die in der Kommunikation erscheinen, sind nicht (mehr) als rein dialektale Merkmale zu bewerten, welche die Sprecher hinsichtlich ihrer regionalen Herkunft charakterisieren, also angeben, aus welcher Region und genauer aus welchem Ort ein Sprecher kommt. Dies kann bei muttersprachlichen Dialektsprechern erkannt werden, da diese unbewusst ihre dialektale Prägung beim Sprechen durchscheinen lassen. Die regionalen Merkmale sind auch nicht als Kennzeichen einer bestimmten sozialen Gruppe oder Schicht zu deuten, wie es traditionellerweise gewesen ist, als die Sprecher des Bretonischen aufgrund ihres Sprachverhaltens abqualifiziert und als Angehörige einer ländlichen und rückständigen Gruppe eingestuft wurden, die sozial eher niedrig markiert war; durch den Einsatz sprachlicher Merkmale konnte damit genau das Bild des ländlichen, zurückgebliebenen Bretonischsprechers hervorgerufen werden, wie es teilweise in Theaterstücken zur Abgrenzung von niedrigen Gruppen eingesetzt wurde. Mit der vorliegenden Verwendung regionaler Merkmale ist jedoch eine davon abweichende und neue, nämlich eine bewusste und intendierte Verwendung verbunden, die eine Zugehörigkeit und einen Stolz der Region kennzeichnen soll. Im Folgenden soll versucht werden, diese neue Verwendungsweise in einen theoretischen Rahmen zu stellen, um diesen Sprachgebrauch von anderen begrifflich abgrenzen und fassen zu können.

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4.1. Semiotische Grundlagentheorie

Aus soziolinguistischer Sicht ist grundsätzlich zu fragen, was der Gebrauch einer sprachlichen Form in sozialer Hinsicht bedeutet. Die semiotische Theorie kann helfen, die beschriebenen Prozesse besser zu verstehen und einzuordnen. Es geht dabei um saliente sprachliche Varianten, die in Kontexten geäußert werden. In den üblichen Kontexten haben diese als sprachliche Zeichen eine Funktion, aber darüber hinaus wirken sie auch als Index, d.h. als Anzeiger für bestimmte Inhalte auf anderen Ebenen. Jede sprachliche Variante kann dabei als indexikalisches Zeichen fungieren, wenn sie eine Semiotisierung erfährt. Wenn eine sprachliche Variante in einem abweichenden Kontext verwendet wird, kann diese Variante dann einem Resemiotisierungsprozess unterliegen und somit eine abweichende indexikalische Funktion übernehmen. Beide Bedeutungsebenen stehen sich in ihren jeweiligen Kontexten gegenüber und dann in einem dialektischen Verhältnis zueinander, d.h. dass sprachliche Varianten vor einem bestimmten Hintergrund anders wirken. Abweichende sprachliche Formen werden meist von den Kommunikationsteilnehmern bemerkt, ihr Gebrauch wird dann in metasprachlichen Äußerungen kommentiert. Diese beziehen sich immer auf einen Hintergrund an sozialen Strukturen und den dadurch bewirkten traditionellen Denkweisen. Die Verwendung eines sprachlichen Zeichens ist also durch diskurstraditionelle 1 Voraussetzungen eingebettet, aber durch den konkreten individuellen Moment der Äußerung können neue Kontexte hergestellt werden, die ein neues Beziehungsgeflecht eröffnen und somit neue Bewertungen ermöglichen. Die mögliche Resemiotisierung, die zu neuen Bedeutungen führt, wird erst durch metapragmatische bzw. metasprachliche Äußerungen sichtbar. Durch die metapragmatischen Äußerungen kann ein weiterer soziokultureller Bedeutungshintergrund aufgebaut werden, durch den die Verwendung sprachlicher Einheiten in anderem Licht erscheint und somit die Verwendung begünstigt oder behindert. In jedem Fall können die metapragmatischen Äußerungen zurück auf die Sprachverwendung einwirken. Dieser Ansatz, dass sprachliche Merkmale, die mit einer sozioökonomischen Klasse verbunden waren, nun immer stärker mit einem Ort verbunden und zu einem Register werden, der nicht als regionales Sprechen gewertet wird, sondern als bewusster Anzeiger der Zugehörigkeit zur regionalen Identität, geht auf die frühen soziolinguistischen Konzepte von Labov (1972) zurück.

1 Das Verhältnis der Theorie der Diskurstraditionen zur Theorie der Indexikalität kann hier nur angedeutet werden, müsste aber noch genauer bestimmt werden.

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4.2. Grundlage der drei soziolinguistischen Funktionen nach Labov

Labov (1972: 178) nennt ein sprachliches Merkmal einer Sprechergruppe, die einen Sprecher als zur Gruppe zugehörig anzeigt, indicators („defined as a function of group membership“). Diese Variante markiert nur die Zugehörigkeit zu einer stabilen Kategorie wie sozioökonomische Klasse, Ethnizität, Alter, Gender ... Wenn ein Merkmal sich ausgebreitet hat und zur Norm geworden ist, kann es als Anzeiger für die Norm eingesetzt werden, wenn Sprecher signalisieren wollen, Mitglied der die prestigetragende Norm verwendenden Sprechergruppe zu sein, um sich so von anderen abzuheben. Dadurch wird dieses Merkmal zu einem stilistischen Marker („The linguistic variable became one of the norms which defined the speech community [...]. The variable is now a marker and begins to show stylistic variation“, Labov 1972: 179). Labov erkannte bereits, dass einzelne Merkmale bewusst eingesetzt werden, um auf eine andere Zuordnung hinzuweisen und so Reaktionen zu provozieren: „Under extreme stigmatization, a form may become the overt topic of social comment, and may eventually disappear. It is thus a stereotype ...“, Labov 1972: 180). Die drei unterschiedlichen indexikalischen Funktionen sind von Silverstein (2003) in ein komplexes theoretisches Modell der Indexikalität (1., 2. und 3. Ordnung) überführt worden, das von Agha (2003) und Johnstone et al. (2006) überarbeitet und zur Anwendung gebracht worden ist. Ein Vergleich der Ansätze zur Indexikalität bzw. zu den Ebenen der sozialen Markierung wird von Johnstone et al. (2006: 82f.) vorgenommen, vgl. auch Eckert (2012). Dieser theoretische Ansatz versucht aufzuzeigen, wie sprachliche Merkmale von Sprechergruppen (1. Ordnung) zu einer soziolinguistischen Markierung für die Gruppe bzw. Region werden (2. Ordnung) und wie einzelne Merkmale für den Gebrauch soziolinguistischer Stereotype ausgewählt werden. 2 Nach diesem Ansatz unterscheidet sich ein Dialekt von der Standardsprache dadurch, dass bestimmte sprachlichen Varianten als Gesamtheit einem Register zugeordnet werden, das eine soziale Bedeutung enthält, nämlich die der normierten Standardsprache für offizielle Angelegenheiten. Dabei ist ein Register ein Inventar von alternativen Varianten für einen Inhalt, die je nach Situation als passend ausgewählt werden („Registers are alternate ways of „saying ‚the same‘ thing“ considered ‚appropriate to particular contexts of usage‘“, Silverstein 2003: 212). 2 „[...] tracing how ‚first-order‘ correlations between demographic identities and linguistic usages [...] came to be available for ‚second-order‘ sociolinguistic ‚marking‘ [...] of class and place, and then how certain of these indexical relations between linguistic forms and social meanings became resources for the ‚third-order‘ indexical use of sociolinguistic stereotypes“ (Johnstone et al. 2006: 78).

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Die Varianten 3. Ordnung sind die sprachlichen Merkmale, die intentional ausgesucht und verwendet werden, um z.B. lokale Identität performativ auszudrücken, also als ein Zeichen eines authentischen Lokalbezugs. Vor einem bestimmten Kontext wirken die sprachlichen Varianten einer Varietät anders, und diese andere Wirkung ist intendiert. In der Gesamtheit werden die Merkmale dieser indexikalischen Funktion zu einem neuen Register, denn der Sprache und damit implizit den Sprechern wird durch die Intention des Gebrauchs dieser sprachlichen Varianten und durch weitere diskursive Prozesse eine neue, meist positiv konnotierte Wertung zugeschrieben. Das Verwenden sprachlicher Formen eines bekannten Registers überträgt dann die Wirkung des Registers (das Prestige) auf die Sprecher, daher ihr intentionaler Gebrauch (so auch Silverstein 2003: 226). Dieser Prozess der Verwendung indexikalischer sprachlicher Zeichen 3. Ordnung wird als Enregisterment oder Registerwerdung bezeichnet. Hervorzuheben ist, dass Register nicht bestehen, sondern sie performativ geschaffen werden. Diese diskursive Setzung eines Raums wirkt zurück und hat Auswirkungen auf die Realität, so auf die Wahrnehmung durch Politiker und die politischen Forderungen, die sich daraus ergeben, z.B. durch die Politik des Europarats, der solche kulturellen Strömungen institutionell unterstützt (Courcelle 2003: 140). Wichtig für die Unterscheidung der 2. und 3. Ordnung ist der Grad der Bewusstheit: der Prozess des Sich-Bewusstwerdens ist gekoppelt mit der Reflexion des eigenen Verhaltens, das durch die Spiegelung und Kontrastierung des eigenen Verhaltens mit anderen, z.B. durch Migration, Mobilität, globalisierte Medien etc. ausgelöst werden kann. Daraus entsteht ein Bewusstsein für die Besonderheit der eigenen Identität, die im zugehörigen Raum und der dort authentischen Sprachverwendung liegen kann. So kommt es einerseits zu einer Neubewertung von Dialekten, andererseits auch zu einer Loslösung der Dialektverbundenheit von der eigenen Sprachkompetenz. Der Regionalstolz und der Stolz auf die eigene Sprache/den eigenen Dialekt ist ein wichtiges Identitätsmerkmal, selbst wenn die sprachliche Varietät kaum oder gar nicht beherrscht wird, wie es auch in der Bretagne gut zu beobachten ist.

5. Fazit: Neuer Wert des Bretonischen Die Geschichte der Verwendung des Bretonischen im letzten Jh. zeigt einen enormen Wandel von einem Verbot der Regionalsprache in der Öffentlichkeit bis zu einer starken Sichtbarkeit in urbanen Räumen. Dieser Wandel hat mehrere Gründe. Heute hat das Bretonische bei den neuen Sprechern, die diese keltische Sprache lernen, einen neuen Stellenwert, eine Öffnung zur Welt hin, es

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ist ein Zeichen von Mehrsprachigkeit, zeigt eine kulturelle Vielfalt und die regionale Verbundenheit. Viele Bretonen setzen bewusst Elemente der Sprache in ihrem Alltag ein, da sie dadurch ihre bretonische Identität betonen, ihre Modernität ausdrücken und sich so als Avantgarde darstellen wollen, was gleichzeitig mit ökonomischen Vorteilen verknüpft wird. So schaffen sie mit sprachlichen Mitteln ein neues soziales Register, das auch auf andere Bretonen einwirkt, auch auf die traditionellen Bretonischsprecher. Zwar ist deren Haltung zu ihrer Sprachkompetenz oft noch negativ, da sie ihre dialektale Varietät als minderwertig im Verhältnis zu einer schriftlichen Norm ansehen und so das Französische für alle öffentlichen Belange vorziehen, gerade weil sie die französische Distanzvarietät aufgrund des Schulbesuchs besser beherrschen als eine schriftliche Varietät des Bretonischen, die sie nie gelernt haben, nun aber in bestimmten Texten, in der Presse, in technischen Übersetzungen etc. realisiert sehen (Le Dû/Le Berre 2013: 52). Um diesen Graben zwischen einer gelehrten, als künstlich empfundenen Varietät des Bretonischen und den davon weit entfernten lokalen Sprechweisen, den badumes, zu überbrücken, übernehmen v.a. die Medien (wie auch der Sprachunterricht) nun auch Varianten des traditionellen dialektalen Bretonischen, um Gehör oder eine Leserschaft zu finden und zu erhalten. In aktuellen sprachpolitischen Ansätzen wird somit verstärkt Wert auf einen Gebrauch des Bretonischen gelegt, unabhängig von der Norm. Auch den Sprachpflegevereinen ist die Verständigungsmöglichkeit am wichtigsten, die auch Varianten erlaubt. So steht diese neue Haltung dem Ansatz einer Verallgemeinerung einer strikten Norm des Bretonischen entgegen. Das Bretonische steht somit vor einer Phase der Konsolidierung: Die verwendeten Formen sind nicht ganz abgekoppelt von den traditionellen Sprechweisen, da sie transparent zu erkennen sind. Somit ist eine Brücke zwischen den Varietäten des Bretonischen geschaffen, die zu einer neuen Haltung geführt hat. Zudem haben heute viele ältere Bretonischsprecher ein positives Bild ihrer Sprachform, da sie in Kontakt mit neuen Bretonischsprechern treten können und eine Verständigung gefunden haben. Sie verfügen über eine Leichtigkeit des Sprechens und ein allgemeines Verständnis, das sie zu Fachleuten macht, die gerne gefragt werden (Le Dû/Le Berre 2013: 53). 3 Die veränderte Bewertung des Bretonischen ist eine grundlegende Ursache für die neue Sichtbarkeit in urbanen Räumen, die zu einem neuen Register führt, welches frankophone Bretonen mit der bretonischen Identität verbindet.

3 Zu Studien zur veränderten Haltung der Sprecher zum Bretonischen vgl. Morvan 2003-2004 und Hoare 2000.

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Felix Tacke „Substituyendo el ‚frac‘ o el ‚smoking‘ por la democrática chaqueta“: Zur Kultivierung der Aussprache im Spanischen

1. Kultivierung der Aussprache? Wie Franz Lebsanft in zahlreichen Publikationen, allen voran in seinem 1997 publizierten Standardwerk zur spanischen Sprachkultur, deutlich gemacht hat, umfasst die Pflege des (öffentlichen) Sprachgebrauchs nicht nur die Kodifizierungsanstrengungen der Sprachakademien, sondern im Rahmen einer Massenkultur zahlreiche weitere Akteure, vom individuellen Sprachliebhaber (vgl. z.B. Lebsanft 1990, 1999) über die engagierten Sprachwissenschaftler mit ihren in Spanien besonders prominenten Schwierigkeitenwörterbüchern (diccionarios de dudas) bis hin zu den Tageszeitungen und den großen Nachrichtenagenturen, deren Interesse am „Produkt“ Sprache sich in den libros de estilo niederschlägt. Lebsanft hat dabei, bezogen auf das Gesamtbild, plausibel machen können, dass die spanische Sprache „über eine traditionsreiche und lebendige, modernisierungsfreudige und -fähige Sprachkultur“ (2013: 57) verfügt, was sich nicht nur aus der stetigen ‚Spracharbeit‘ vor allem der Real Academia Española (RAE) ergibt, sondern auch unter Verweis auf den Wandel der traditionell mono- zu einer plurizentrischen Sprachpflegekonzeption begründet wird (vgl. z.B. Lebsanft 1998, 2004, 2007). 1 Mit dem vorliegenden, notwendigerweise skizzenhaften Beitrag zur Beschreibung der spanischen Sprachkultur möchte ich an diese Auffassung anschließen. Konkret will ich dazu die komplexe Frage der korrekten Aussprache und Lautung des Spanischen behandeln. Lebsanft hat das Thema verschiedentlich angesprochen (z.B. Lebsanft 1998, 2007, 2013) und festgestellt, 1 Ein Überblick über den Stand der Forschung zur Plurizentrik des Spanischen sowie weitere bibliographische Hinweise finden sich in Lebsanft/Mihatsch/Polzin-Haumann 2012. Vgl. auch Amorós Negre 2012a und 2012b sowie Greußlich 2015.

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dass die spanische Sprachgemeinschaft zwar „notbehelfsmäßig“ eine kastilische Aussprachenorm den Gemeinsamkeiten von andalusischen und amerikanischen Aussprachemodellen gegenüberstellt, jedoch „über keine ‚offizielle‘ Kodifikation der ‚guten‘ Aussprache“ (1998: 263) verfügt, was er angesichts der Plurizentrik als „Manko“ (ebd.: 264) betrachtet. Rudimentäre Hinweise auf die Bewertung von Aussprachevarianten finden sich zwar in dem 2005 gemeinschaftlich unter dem Namen der RAE und der Asociación de Academias de la Lengua Española (ASALE) erschienenen Diccionario panhispánico de dudas (im Folgenden: DPD), doch sind diese keineswegs „suficientes para reconstruir el diasistema de las variedades nacionales“ (Lebsanft 2007: 235). Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang der 2011 erschienene dritte Band der Nueva gramática de la lengua española mit dem Untertitel Fonética y fonología (RAE/ASALE 2011, im Folgenden: NGRALE 2). Schon der Titel zeigt, dass hier keine Orthoepie zu erwarten ist und sich somit, wie Lebsanft mit Recht konstatiert, keine „praktische[n] Empfehlungen für spezifische Redeanlässe“ (2013: 62) finden lassen. Der Band bietet jedoch eine – über den DPD freilich weit hinausgehende – von den Lautstrukturen ausgehende Darstellung der jeweiligen geographischen Verteilung und sozialen Bewertung bestimmter Aussprachephänomene. Dies ist von Interesse, denn dabei zeigt sich, dass die Kodifizierung einer für die gesamte Hispanophonie Gültigkeit beanspruchenden Normaussprache, einer norma de pronunciación panhispánica, von den Sprachakademien nicht angestrebt wird. Die Sprachakademien scheinen ihre Rolle in einer plurizentrischen Sprachkultur vielmehr in der Beschreibung der jeweils gegebenen nationalen und regionalen Normen zu sehen; Kodifizierung bedeutet hier demgemäß nicht mehr die Vorschrift oder Empfehlung von bestimmten Ausdrucksformen, sondern die Feststellung der unterschiedlichen Ist-Normen. Die Pflege der ‚guten‘ Aussprache, d.h. ihre präskriptive Normierung, wird damit nach wie vor als „Domäne ‚privater‘ Sprachkultur“ (Lebsanft 1998: 264) den Massenmedien überlassen. 3 Eine Betrachtung der Rolle der Aussprache in der spanischen Sprachkultur unter den Vorzeichen der Plurizentrik, wie sie im Folgenden skizziert werden soll, muss folglich sowohl die private als auch die institutionelle Bewertung der Aussprachephänomene berücksichtigen. Gleichzeitig scheint es mir notwendig, die Plurizentrik als aktuelles Paradigma auch im Lichte ihrer Entwicklung aus 2 Ich verwende zur Abkürzung der Grammatik das von den Verfassern selbst verwendete Sigel NGRALE. In der Zwischenzeit hat sich allerdings auch die Abkürzung NGLE eingebürgert. Ich verweise damit nachstehend ausschließlich auf Band 3. 3 Verbindliche und schriftlich kodifizierte Normen finden sich insofern nicht übergreifend im Sinne einer panhispanischen Orthoepie, sondern – angepasst an die jeweilige kommunikative Reichweite – innerhalb der (leider nur teilweise zugänglichen) libros de estilo der Massenmedien. Zu den Richtlinien spanischer Rundfunkanstalten vgl. Medina Guerra 2005.

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der Monozentrik zu betrachten, mithin also eine dezidiert historische Perspektive auf die spanische Sprachkultur einzunehmen. In Anbetracht der Unmöglichkeit, die Frage der Normaussprache vollumfänglich zu klären, beschränke ich mich nachstehend auf einige besonders markante Phänomene, die in diesem Zusammenhang üblicherweise thematisiert werden (vgl. Lebsanft 1998, 2007, 2013, Medina Guerra 2002, 2005, 2008). Auf Systemebene sind dies die als seseo und yeísmo bezeichneten Phänomene, dem gegenüber die Distinktion von /θ/ und /s/ sowie von /ʎ/ und /ʝ/ steht. Auf der Ebene allophonischer Varianz gelten der sogenannte rehilamiento sowie die Abschwächung des implosiven /s/ als Kennzeichen bestimmter Varietäten(räume) als besonders salient. Dazu will ich die sich wandelnden Bewertungen der genannten Phänomene ausgehend von dem wohl ersten Streit um das ‚richtige‘ Aussprachemodell zu Anfang der 1930er Jahre und dessen Beschreibung durch den spanischen Linguisten Tomás Navarro Tomás (1931) anhand von Beispielen skizzieren. Der massenmediale Umgang mit der kastilischen Normaussprache bildet dabei die Einstellungen zum kastilischen Standard ab, während die Beschreibungen von seseo, yeísmo, rehilamiento sowie Abschwächungsphänomenen in den Kodifizierungswerken der RAE/ASALE die Neubewertung von anderen Aussprachemodellen im Zeichen der Plurizentrik zum Ausdruck bringen.

2. Die spanische Bühnenaussprache als Modell für die audiovisuelle Massenkommunikation? Als Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre in Hollywood die Frage gestellt wurde, welche Form des Spanischen für die neu aufkommenden, für den spanischsprachigen Raum produzierten Tonfilme zu verwenden wäre, geriet erstmals das Problem eines einheitlichen Aussprachemodells in den Fokus einer sich langsam globalisierenden Sprachkultur (zur Sprache der Massenmedien in Spanien vgl. Lebsanft 2006). Nachdem man sich für die spanische Bühnenaussprache als Modell entschieden hatte, bildete sich in Hollywood eine Opposition unter dem Namen Friends of Latin America. Diese wendete sich – offensichtlich auch aus politischen Gründen – gegen „the intellectual management and the moral tutelage of the Hispano American countries“ seitens der Spanier und verfolgte das Ziel, „to defend the Spanish language as it is spoken all over Hispano America“ (New York Times, 25.05.1930; für eine ausführlichere Darstellung der Kontroverse vgl. Hofmann 2008: 229-232). In einem Aufsatz von 1931 versuchte der spanische Linguist Tomás Navarro Tomás, offenkundig Repräsentant der bis dato geltenden Monozentrik des Spanischen, zu begründen, warum aus seiner Sicht nur die prestigereiche kastilische Normaussprache in Frage komme. Diese sei aufgrund ihrer Jahrhunderte alten Tradition

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als einziges Modell für das Kino als neuem „instrumento de producción artística“ geeignet. In diesem Sinne sah er den Tonfilm konzeptionell als massenmedialen Fortsetzer der Bühne, dessen Sprachgebrauch somit ebenfalls verlangte, „[de] guiar el esfuerzo artístico hacia el cultivo y depuración de aquellas formas de dicción consideradas por la tradición y por el sentir general, dentro de nuestro idioma, como las más cultas, elegantes y correctas“ (1931: 15). Die massenmediale Sprachverwendung sollte sich also, analog zum spanischen Hörfunk (vgl. Lebsanft 2006: 1298), der sich bereits etwas früher, nämlich in den 1920er Jahren entwickelt hatte, an einer literarischen Schriftlichkeit orientieren, deren Aussprache man in Spanien idealerweise durch die kastilische norma culta repräsentiert sah. An einen früheren Aufsatz anknüpfend, in dem es hieß, „[l]a pronunciación que usan las gentes cultas de Castilla es la que por antonomasia llamamos pronunciación ‚española‘“ (1921: 163), hielt Navarro Tomás diese von ihm so genannte „pronunciación normal española“ (1931: 12) auf beiden Seiten des Atlantiks für gültig.

3. Von der pronunciación por antonomasia zur plurizentrischen Neubewertung 3.1. Der Fall des Interdentals /θ/

Für Navarro Tomás besaß die kastilische Normaussprache den Status eines unmarkierten, überregionalen und einheitlichen Standards, dessen Verwendung in Hispanoamerika ausschließlich im Phänomen des seseo abweichend sei. Die Frage der Distinktion von /θ/ und /s/ stand für ihn somit im Zentrum der Diskussion um das zu verwendende Modell (vgl. Navarro Tomás 1931: 22f.). Ungeachtet des alltäglichen – auch gehobenen Sprachgebrauchs – stand für Navarro Tomás dabei fest, dass die Distinktion untrennbar mit der „tradición histórica“ (ebd.: 24) verknüpft sei und, wie er auch in seinem erstmals 1918 und zuletzt 1991 neu gedruckten Manual de pronunciación kundgab, der besonders gehobene Ausdruck „exige de un modo general, hasta en los países hispanoamericanas, la distinción de s y z“ (131967: § 94). Was in Hispanoamerika für Theatergruppen, die überregional auftraten, bis zu Beginn des 20. Jh. gelten mochte (vgl. Monsiváis 1998: 834), erwies sich für die sich dort entwickelnden audiovisuellen Massenmedien jedoch als unzutreffend. Die Verwendungsweisen des Interdentallauts /θ/ im lateinamerikanischen Film und Fernsehen legen nahe, dass diese Behauptung schon zu Lebzeiten des spanischen Linguisten längst nicht mehr den Tatsachen entsprach. So wurde die kastilische Normaussprache jenseits des Theaters bald als

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artifiziell wahrgenommen, wodurch sich ihr Anwendungsbereich stark einchränkte und sich Navarro Tomás’ pronunciación por antonomasia für ein neutrales, unmarkiertes Sprechen als zunehmend ungeeignet erwies. 4 Als ein mit bestimmten Themen assoziiertes formelles Sprechen eignete sich diese Aussprache etwa noch für die mehrheitlich mit (Exil-)Spaniern besetzte mexikanische Tonfilmproduktion Jesús de Nazaret von 1942, die sich in die Tradition der szenischen Darstellung religiöser Themen einschrieb, im Einklang – wie Gubern (1998: 744) betont – mit der „religión católica que habían llevado unos siglos antes los conquistadores de la península, y con el acento y la prosodia con que aquellos los transmitieron“. In der weiteren Entwicklung von Film und Fernsehen wird deutlich, dass die kastilische Normaussprache überdies mit bestimmten Konnotationen aufgeladen wurde. So reduzierte sich ihre Verwendbarkeit auf die Repräsentation des caballero español (vgl. Monsiváis 1998: 834), wovon auch der bekannte Film Profundo carmesí des Mexikaners Arturo Ripstein zeugt, dessen Protagonist einen Segovianer mimt, der seinen „distinguido ceceo español“ verwendet, „para seducir a damas solitarias e incautas“ (Gubern 1998: 745). Offenkundig zu humoristischen Zwecken wird die kastilische Normaussprache auch in der lateinamerikanischen Synchronfassung eines nordamerikanischen Animationsfilms von 2010 eingesetzt: Kombiniert mit einer entsprechend markierten Gestik und Mimik sorgt sie in einer Szene von Toy Story 3 durch die charakteristische Abweichung vom Sprechen der übrigen Figuren für Befremden. Auch für Venezuela lässt sich, wie Izaguirre (1998: 754) berichtet, feststellen, dass die „habla ‚culta‘ impostada, ampulosa y falsa del viejo teatro español“ zunächst noch für „melodramas lacrimosos“, später nur noch für „los burgueses que aparecieron esporádicamente en las películas venezolanas y sobre todo en las telenovelas“ passend erschien. Der kastilische Interdental ist in der Gegenwart folglich nicht mehr das Kennzeichen einer panhispanischen Aussprache. Die kastilische Normaussprache kann den Status einer unmarkierten Standardaussprache heute nur noch für Spanien beanspruchen. Entsprechend wird die Unterscheidung von /θ/ und /s/ von den libros de estilo der meisten Rundfunksender empfohlen 5 und ist

4 Dies gilt auch für das Theater selbst. Während Navarro Tomás 1931: 16 hinsichtlich des mexikanischen Theaters die Behauptung aufstellte, dass dieses „con gran acierto, mantiene la tradición ortológica española“, lässt Monsiváis 1998: 834 diese Tatsache in seiner historischen Betrachtung in einem anderen Licht erscheinen: „todavía a fines de los años veinte se lucha por desterrar el ceceo español del teatro mexicano“. 5 Dies zeigt Medina Guerra 2005 in ihrer Analyse der in den 1990er Jahre ausgearbeiteten libros de estilo von Telemadrid, TVE, Onda Cero Radio, Canal Sur Radio, Canal Sur Televisión und Canal 2 Analucía.

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eines der salientesten Merkmale von für den spanischen Markt produzierten Synchronfassungen. 3.2. Seseo, yeísmo etc.

Die ebenfalls auf der Systemebene situierten Phänomene des seseo und yeísmo stehen im Gegensatz zum Interdental /θ/ gerade nicht für den kastilischen Standard, sondern für das von ihm Abweichende. In diesem Sinne galten sie aus der Perspektive einer noch monozentrischen Sprachkultur als Dialektalismen. Ihre Neubewertung unter den Vorzeichen der Plurizentrik besteht in der heutigen Konzeption des Spanischen als einer Gesamtsprache (Stichwort: unidad del español), die sich – neben anderen – in verschiedene phonologische Subsysteme gliedert (vgl. Greußlich 2015). Navarro Tomás erkannte zwar bereits an, dass beide Phänomene auch von gebildeten Sprechern verwendet würden, doch bezeichnete er sie in Abgrenzung zum Kastilischen weiterhin als Dialektalismen. Dabei gestand er vor allem dem geographisch eindeutiger zuordenbaren seseo den Status eines „dialectalismo culto“ (131967: § 124) zu. Mit Einschränkungen werde er daher auch in Kastilien als angemessen empfunden: „La opinión general en Castilla acepta el seseo andaluz e hispanoamericano como modalidad dialectal que los hispanoamericanos y andaluces pueden usar sin reparo hasta en los círculos sociales más cultos y escogidos“ (131967: § 94). Gleichwohl plädierte er anschaulich dafür, die Distinktion von /θ/ und /s/ in den höchsten Registern – und damit auch im Tonfilm – beizubehalten: Excluir el sonido de la z y admitir el seseo en el español normal será algo como vestir un correcto traje de sociedad substituyendo el ‚frac‘ o el ‚smoking‘ por la democrática chaqueta, prenda esta última que tiene su empleo propio en la vida ordinaria, pero que resultaría inadecuada en un acto de alta etiqueta (1931: 25).

Den yeísmo stellte er dabei als noch weniger angemessen – und im Übrigen weniger verbreitet als gedacht – dar: „la confusión entre la ll y la y no es tenida exactamente entre las personas instruidas en el mismo concepto de dialectalismo culto que se concede al seseo“ (131967: § 124). 6 Der als Wegweiser in Richtung der aktuellen Sprachpflegeauffassung der RAE/ASALE nach wie vor interessante Esbozo de una nueva gramática de la lengua española (RAE 1973) demonstriert in der Folge, wie von der euro6 Abschwächungsphänomene wie die Aspiration oder auch Elision des implosiven /s/ behandelte Navarro Tomás 131967: § 109 im Abschnitt zu den „defectos de pronunciación relativos a la s“ als vulgarismos, die entsprechend abzulehnen waren, während der rehilamiento von ihm nicht berücksichtigt wurde.

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zentristischen Konzeption des dialectalismo culto Abstand genommen wird. Stattdessen ist abstrakt von einer „habla tenida por culta en la vasta extensión del mundo hispánico“ (§ 1.1.3) die Rede, deren Realisierung jedoch je nach Gebiet unterschiedliche phonologische Systeme zugrunde liegen. 7 Die Phänomene auf Systemebene werden entsprechend ohne Wertung beschrieben und als je eigene Phoneminventare aufgeführt (§ 1.3.4). Der DPD wird demgegenüber noch etwas deutlicher, so komme dem seseo „total aceptación en la norma culta“ (598) zu, während der yeísmo aufgrund seiner Ausbreitung heute als „un fenómeno aceptado en la norma culta“ (682) gelten könne (dazu auch Lebsanft 2007: 234f.). Weder der Esbozo noch der DPD berücksichtigen hingegen die sowohl dialektologisch prominenten als auch im Sinne der Plurizentrik salienten Phänomene im Bereich der Allophonvarianz (rehilamiento und Varianz bei der Realisierung des implosiven /s/). 8 Unabhängig von der Bewertung der genannten Phänomene in den Werken der Sprachakademien haben sich im Rahmen der ‚privaten‘ Sprachkultur verschiedene Referenzaussprachen entwickelt. Bei Synchronisierungen steht der spanische Standard einem lateinamerikanischen, neutralen und gleichsam künstlichen Standard gegenüber (vgl. Hofmann 2008: 233-236, Pons Rodríguez 2011). Hinsichtlich des distanzsprachlichen Sprechens in Nachrichtensendungen des Rundfunks lassen sich einer empirischen Untersuchung Raúl Ávilas (2003) zufolge im Wesentlichen drei Normen differenzieren. Innerhalb des subsistema seseante und des subsistema yeísta liegen dabei zwei verschiedene hispanoamerikanische Modelle vor, die sich im Allophonbereich untereinander durch das Kennzeichen einer aspirierten Realisierung des silbenfinalen /s/ (als [h]) und die realización rehilada des /ʝ/ (als [ʒ]) unterscheiden. 9 Spanien hält wie zu erwarten an der kastilischen Normaussprache fest, die im Sinne einer nationalen Norm weiterhin als Referenzmodell für landesweit sendende Medien maßgeblich ist. 10 Wie Medina Guerra (2005: 7 Daran anknüpfend betont auch Gómez Torrego 71996: 233-235, dass die einstmalige Bewertung als dialectalismo oder gar vulgarismo nicht mehr zeitgemäß ist; ähnlich fällt die Bewertung in dem über Spanien hinaus relevanten Manual de español urgente 182008: 54f. der Nachrichtenagentur Agencia EFE aus, der den seseo als zulässig in der norma culta beschreibt, während der yeísmo zwar „no debe considerarse incorrecto“, jedoch zum „mantenimiento de la diferencia entre la ll y la y“ geraten wird. 8 So stellt Lebsanft 2007: 235 zum rehilamiento fest, dass „el DPD hace caso totalmente omiso de las varias formas del rehilamiento ([ʃ], [ʒ]) y de su estatus normativo en el español rioplatense“. 9 Ávila 2003: 71f. schließt vom realen Sprachgebrauch auf die Normaussprachen („pueden considerarse estándar en la medida en que, además de escucharse en la pronunciación profesional de los medios […], son modelos de prestigio“). So sei die Aspiration des implosiven /s/ in Venezuela üblich und der yeísmo werde in Argentinien generell durch das Allophon [ʒ] realisiert. 10 Vgl. dazu auch die Überlegungen zur Angemessenheit von seseo und yeísmo im spanischen Hörfunk bei Medina Guerra 2008: 354-358. Den Charakter der Unmarkiertheit behält die kasti-

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104) aus den einschlägigen libros de estilo herausarbeitet, tendieren die meisten Medien entsprechend zu der Empfehlung, „que se eviten las pronunciaciones yeístas y seseantes en las intervenciones en cadena“. 11 Hier wird übrigens der weiter verbreitete yeísmo eher akzeptiert als der seseo, was sich mit der Beobachtung Ávilas deckt, dass das Phonem /ʎ/ empirisch selbst in spanischen Rundfunksendungen nicht realisiert wird („puedo afirmar que no escuché ese fonema en la [pronunciación profesional]“, Ávilas 2003: 68, Anm. 34). 12

4. Ansatz einer plurizentrischen Kodifizierung? Gegenüber der Orthographie als Symbol der unidad und Aushängeschild des Panhispanismus stellt die Aussprache des Spanischen zweifellos den Ort der Diversität, an dem sich die Plurizentrik besonders deutlich äußert, dar. Mit Band 3 der NGRALE haben die Sprachakademien 2011 erstmals einen Band vorgelegt, der sich dieses Themas ausführlich annimmt und dabei versucht, die gegebene Variation adäquat abzubilden. 13 Angesichts der dargelegten Komplexität kann es jedoch nicht verwundern, dass die Deskription, analog zu den ersten beiden Bänden zur Morphologie und Syntax (RAE/ASALE 2009), dabei im Vordergrund steht. 14 Nachdem sich in den Massenmedien eigene Referenzmodelle für die Aussprache herausgebildet haben, ist eine ortología aus heutiger Sicht schwer vorstellbar. 15 Wie bereits einleitend angesprochen, findet der Leser lische Normaussprache innerhalb der Grenzen Spaniens zweifellos aufgrund der Kontinuität, mit der sie seit Beginn der audiovisuellen Massenkommunikation verwendet wird. 11 Medina Guerra 2005: 106 gelangt für Spanien zu der Einschätzung, dass die Verwendung des seseo im Rundfunk „al menos de momento, no es recomendable en emisiones destinadas a toda España, donde siguen siendo muchos los hablantes distinguidores y el seseo únicamente se considera ‚correcto‘ en Canarias y en algunas zonas de Andalucía“. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang das Libro de Estilo de Canal Sur Televisión y Canal 2 Andalucía (Allas Llorente/ Díaz Salgado [Hg.] 2004), wenn deren Autoren den seseo als „propio del español estándar“ bewerten, während die distinción die „principal característica del español estándar peninsular“ (§ 12.1.2) bilde. Obwohl die Autoren keine klare Empfehlung abgeben, raten sie lediglich von einer Mischung beider Möglichkeiten explizit ab. 12 „Lo escuché únicamente en el habla de algunas personas que fueron entrevistadas en programas culturales de televisión producidos en España, no en la pronunciación de los profesionales de los medios“, Ávila 2003: 67. 13 Im Rahmen der Grammatikographie der RAE sind frühere Darstellungen, etwa das Kapitel Prosodia der zuvor gültigen Grammatik von 1931 (RAE 1931) oder das Kapitel Fonología des Esbozo von 1973, weder qualitativ noch quantitativ vergleichbar. 14 Zu den beiden 2009 erschienenen Bänden bzw. zur Konzeption der NGRALE vgl. Amorós Negre 2010, 2012a, 2012b, Tacke 2011, Borrego Nieto 2013 sowie Greußlich 2015, der auch Band 3 mitberücksichtigt. 15 Die von Kubarth 2009: 82 geäußerte Auffassung, „[v]on einer echten Emanzipation amerikaspanischer Formen kultivierter Aussprache gegenüber peninsularen Korrektheitsvorstellun-

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keine jeweils zusammengefasste, mit Empfehlungen einhergehende präskriptive Kodifizierung regionaler oder nationaler Aussprachestandards. Vielmehr geht die Grammatik von den segmentalen und suprasegmentalen Einheiten aus, dokumentiert ihre Variation und markiert die Varianten durch ihre geographische Einordnung, ergänzt – je nach Dokumentationslage – durch ihre estimación social. Wenngleich sich der zugehörige Prolog über die Frage der Norm(en) ausschweigt, knüpft die Darstellung an den Normbegriff und den normativen Diskurs 16 der ersten beiden Bände sowohl konzeptionell als auch auf pragmatisch-textueller Ebene an (vgl. dazu Tacke 2011), d.h. die Beschreibung der Bewertung der sprachlichen Fakten ‚durch die Sprecher‘ generiert ihre Normativität. 17 Diese normativ betrachtet schwache Orientierung erlaubt es nicht, den Band als Dokument einer Kodifizierung im traditionellen Sinne aufzufassen. Gleichwohl kann er m.E. als Ansatz einer plurizentrischen, vorwiegend deskriptiv geprägten Kodifizierung der spanischen Aussprachemodelle betrachtet werden. 18 Mit einigen Einschränkungen erlaubt die so konzipierte Darstellung zumindest mittelbar, die pronunciaciones cultas der einzelnen Regionen und Länder der Hispanophonie herauszuarbeiten. Neben der Struktur des Bandes wird dies jedoch vor allem dadurch erschwert, dass die Dokumentation der sprachlichen Fakten oft lückenhaft ist und durch die narrative Präsentation der Daten deren diasystematische Bewertung nicht immer eindeutig ausfällt (vgl. Greußlich 2015). Wenngleich der Schwerpunkt klar auf der systematischen Darstellung der lautlichen Strukturen sowie der phonologischen Prozesse liegt, ist die sprachkulturell plurizentrische Grundkonzeption der Grammatik stets erkennbar, wie ich exemplarisch anhand der zuvor als dialectalismos und vulgarismos bewerteten Phänomene zeigen will.

gen“ könne noch nicht die Rede sein, scheint mir zu wenig den tatsächlichen Sprachgebrauch zu berücksichtigen. 16 Zum Begriff des ‚normativen Diskurses‘ vgl. Berrendonner 1982: 42-44, 70ff. 17 Es gilt allerdings zu bedenken, dass den ersten beiden Bänden eine größere Normativität zukommt, insofern diese als ‚Referenzausgaben‘ die Grundlage für das Manual (RAE/ASALE 2010) und die als deutlich präskriptivere Grammatik auch in der Schulbildung verwendete Nueva gramática básica de la lengua española (RAE 2011) bilden. Band 3 steht dagegen für sich allein. 18 Ich knüpfe damit an eine Verwendungsweise des Begriffs ‚Kodifizierung‘ an, wie sie sich im Zusammenhang mit der Plurizentrik des Spanischen herausgebildet hat. Dabei geht es weniger um die Kodifizierung von präskriptiven Normen, als vielmehr um die Feststellung der in einer jeweiligen Gesellschaft gültigen Ist-Normen (im Sinne von Müller 1975). So verweist Lebsanft 2007: 231f. etwa auf den Diccionario del español usual en México (Lara 2010) als „descripción de una variedad nacional“ und bezeichnet ihn zusammen mit dem Diccionario del español actual (Seco/Andrés/Ramos 1999) als „ejemplos importantes de codificación de variedades nacionales del español actual“.

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Seinen systematischen Ort hat der seseo in Kapitel 5 („Las consonantes obstruyentes fricativas y africadas“), wo die Frage seines normativen Status gar nicht mehr eigens gestellt wird. Stattdessen wird er als Ergebnis eines historischen Prozesses definiert, in dessen Verlauf das mittelalterliche Kastilisch verschiedene Subsysteme entwickelt hat (§ 5.2b-d). Die geographische Zuordnung des subsistema de seseo, charakterisiert als „subsistema propio de las variantes mayoritarias“, geschieht einerseits in Abgrenzung zum subsistema norteño o distinguidor („subsistema del centro y el norte de España“, § 5.2e), andererseits durch die Beschreibung der phonetischen Realisierungen des /s/. Typisch für das subsistema norteño (vgl. § 5.5n) ist demnach das apikoalveolare Allophon [s], während das prädorsale Allophon [s] als übliche Variante in Andalusien 19 und auf den Kanaren sowie als „la [realización] más extendida en las Antillas, México, Guatemala, Costa Rica, Honduras, Panamá, el sur de Venezuela, gran parte de Colombia, el Perú (salvo en la zona andina), el Ecuador, Bolivia, Uruguay, el Paraguay, Chile y casi toda la Argentina“ (§ 5.5m) beschrieben wird. Der yeísmo wird analog dazu in Kapitel 6 behandelt, das den „consonantes sonantes“ gewidmet ist. Dort wird wiederum ein eigenes phonologisches Subsystem angesetzt: „El más extendido en el español actual es el subsistema no distinguidor entre /ʎ/ y /ʝ/“ (§ 6.2a). Als „proceso evolutivo que comienza a documentarse en la Edad Media y que aún no puede considerase terminado“ (ebd.) wird der yeísmo überdies als ein – verglichen mit dem seseo – dynamischeres Phänomen beschrieben. Im Abschnitt zur Variation führt die NGRALE aus, dass der Prozess durch die „cercanía articulatoria, acústica y perceptiva“ (§ 6.4c) von /ʎ/ und /ʝ/ erklärbar sei, womit sie eine Begründung für die geringere Salienz des Phänomens bietet. 20 Der phonologische Prozess wird artikulatorisch präzise als deslateralización sowie Abschwächung charakterisiert und die verschiedenen Allophone werden systematisch erläutert. Eine Stigmatisierung des Phänomens bleibt auch hier aus, vielmehr schafft die Grammatik ein Verständnis für den Vorgang und die Resultate, in denen auch die unter dem traditionellen Begriff des rehilamiento bekannten Realisierungen [ʒ] und [ʃ] als präpalatale bzw. postalveolare Fortsetzer des Allophons [ʝ] genannt werden. Historisch begründet ist der Umstand, dass zunächst die Variation in Spanien (§ 6.4g), dann die in Hispanoamerika (§ 6.4h-n) ausführlich behandelt wird. Die Darstellung fällt dabei hinsichtlich der diatopischen Einordnung des Phänomens äußerst präzise aus, bleibt jedoch bezogen auf diastratische und 19 Hierzu heißt es u.a.: „Es una variante de gran vitalidad, que tiende a difundirse hacia el norte y el este. La [s] aparece en la ciudad de Sevilla, así como en boca de los hablantes instruidos, que son seseantes, de las zonas ceceantes“ (§ 5.5k). 20 Auch Medina Guerra 2002: 200 konstatiert, dass der yeísmo weniger markant ist als andere Phänomene und daher, „salvo en realizaciones muy marcadas como la rioplatense, pasa desapercebido incluso para los hablantes distinguidores“.

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diaphasische Markierungen vielfach undeutlich. So lässt sich für Spanien nicht ermitteln, welches der Subsysteme als Referenzmodell anzusehen ist, wenn es für Madrid heißt, das Phänomen habe sich zunächst unter Ungebildeten verbreitet und sei „en la actualidad prácticamente general“. Es wird offenbar, dass die Frage der Akzeptanz hier entweder noch unzureichend erforscht ist, oder die Sprecher zwischen den beiden Varianten keinen normativen Unterschied mehr machen. Allerdings heißt es auch zur argentinischen realización rehilada, die dort ja bekanntlich in der gebildeten Aussprache akzeptiert wird, wenig orientierend: „El proceso [ʝ] > [ʒ] es de origen urbano, irradiado desde Buenos Aires y otras ciudades de la zona litoral pampeana hacia el interior del país; llega a ser general en Salta y Tucumán“ (§ 6.4k). Dass die stimmlose Variante zu einem ähnlichen normativen Status tendiert, wird nur angedeutet: „El ensordecimiento es más frecuente en las mujeres, en las clases cultas y en los jóvenes […]. En conjunto, su configuración se acerca a la de un cambio originado desde las clases superiores“ (ebd.). Die Abschwächungsphänomene (Aspiration, Assimilation, Elision) des silbenfinalen /s/ werden dagegen deutlich differenzierter hinsichtlich ihrer jeweiligen estimación social beschrieben (vgl. § 5.6c-m). Zu Kuba und Puerto Rico heißt es beispielsweise, „la aspiración es la norma“, während in der Dominikanischen Republik sogar die Elision des /s/ bereits „bastante usual en el habla de las personas instruidas“ (§ 5.6h) sei. Dem gegenüber gilt Peru als konservativ, erhalten die Sprecher doch, „en general, la /s/ implosiva“; die in Lima dokumentierten Abschwächungsprozesse werden dabei in der NGRALE wiederum aus der Perspektive der dortigen hablantes cultos bewertet: „La elisión se propaga en las hablas populares, mientras que la aspiración se tolera en los niveles medios y entre las clases altas sin recibir valoración social negativa, a diferencia de la elisión, que sí está estigmatizada“ (§ 5.6k). Grundsätzlich werden Abschwächungsphänomene zwar als Prozesse betrachtet, die sich ausgehend von ungebildeten Sprechern und informellen Redesituationen verbreiten, doch wird der Wandel dabei aus einem modernen sprachwissenschaftlichen Blickwinkel beschrieben: Dies schlägt sich in einer Kategorisierung nieder, die von „hablas conservadoras“ (Erhalt des implosiven /s/) über „comunidades intermedias“ (Aspiration) bis zu „comunidades más innovadoras“ (Elision) reicht (§ 5.6m).

5. Bewertung und Ausblick Aus heutiger Sicht ist es nicht mehr möglich, Phänomene wie den seseo oder den yeísmo generell als Dialektalismen zu stigmatisieren. Im Rahmen einer plurizentrischen und damit in gewissem Maße auch demokratischeren Sprach-

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kultur, als deren Vorreiter gerade nicht die Sprachakademien, sondern die an den Bedürfnissen ihres Publikums orientierten Massenmedien gelten dürfen, gehören sie genauso zum Spanischen wie die dem kastilischen Standard traditionell entsprechenden subsistemas distinguidores. Insofern ist es nicht denkbar, dass mit sprachpflegerischen Mitteln ein einziges Aussprachemodell mittels einer allgemeingültigen Orthoepie durchgesetzt wird. In einer immer weniger durch Spanien allein geprägten Sprachkultur haben die audiovisuellen Massenmedien auch ohne explizite ortologías Lösungen für das Problem konkurrierender Aussprachemodelle gefunden. In diesem Zusammenhang verdeutlicht Band 3 der NGRALE, dass die Sprachakademien ihre Aufgabe innerhalb einer nun plurizentrisch aufgefassten Sprachkultur in der Beschreibung sehen. Damit geht einher, dass es kein ‚richtig‘ und ‚falsch‘, hier also keine ‚gute‘ und keine ‚schlechte‘ Aussprache mehr gibt, sondern allenfalls Phänomene, die von allen hablantes cultos als vorbildlich angesehen oder als Gebrauch Ungebildeter stigmatisiert werden, wobei ein und dasselbe Phänomen in unterschiedlichen Ländern und Regionen vollkommen anders bewertet werden kann. 21 Die drei Bände der NGRALE zeigen, dass die Sprachakademien in der Lage sind, die Grammatik des Spanischen und ihre Variation – bei allen Mängeln – umfangreicher als bisher für möglich gehalten zu dokumentieren. Hier scheint fortan die Rolle der ‚offiziellen‘ Sprachpflegeinstitutionen zu liegen, ganz im Sinne der von Fernando Lázaro Carreter (31.12.1976) erklärten Zielsetzung: „la misión de la Academia es notarial, fedataria“ (vgl. Lebsanft 1997: 135-138). Welch symbolischer Gehalt in dieser sich in den neueren Kodifizierungswerken immer deutlicher artikulierenden Auffassung von Plurizentrik steckt, wird im Übrigen schon daran deutlich, dass der seseo in dem hier besprochenen Band nicht nur als gleichwertig mit dem subsistema distinguidor beschrieben wird, sondern – wenn entsprechende Laute vorkommen – stets zwei Transkriptionen aufgeführt werden; mehr noch: die seseo-Variante wird der Variante mit Interdentallaut vorangestellt. 22 Man könnte, um das von Navarro Tomás evozierte Bild vom correcto traje de sociedad (s.o.) aufzugreifen, auch sagen, die democrática chaqueta wird dem kastilischen frac nun sogar vorgezogen.

21 So wird der seseo in Valencia, Katalonien, Mallorca und dem spanischen Baskenland bekanntlich als diastratisch niedrig, in Galicien als ‚ländlicher Gebrauch‘ bewertet (vgl. z.B. RAE/ASALE 2005: 598). 22 Beispielsweise „[de.sa.pa.ɾe.ˈseɾ] ~ [de.sa.pa.ɾe.θeɾ]“ (§ 8.8e). Damit folgt die NGRALE der ein Jahr zuvor publizierten Neuauflage der Ortografía, in deren Vorwort eine Begründung zu finden ist: „se indica siempre, y en primer lugar, la pronunciación seseante, por ser la mayoritaria en el conjunto de los países hispanohablantes“, RAE/ASALE 2010b: XLVIII.

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III. Sprachgeschichte und historische Varietätenlinguistik

Maria Selig Mittelalterlicher Sprachausbau, Überdachungsprozesse und sprachliche Normen: Fokussierte „Dialekte“ und instabile Ausbauvarietäten

1. Die Nationalphilologie und die mittelalterlichen Überdachungsprozesse Wenn man sich mit der mittelalterlichen Geschichte der romanischen Sprachen beschäftigt, stößt man unweigerlich auf das Problem der Überdachung. Mit diesem Terminus werden in der Ausbaukomparatistik (Blasco Ferrer 1996: 160164) die Prozesse zusammengefasst, die dazu führen, dass in einem bestimmten Areal Sprecher unterschiedlicher regionaler Varietäten in distanzsprachlichen Kommunikationssituationen eine „überregionale Referenzvarietät“ (Grübl 2011: 38) nutzen. Es geht bei der Frage nach den mittelalterlichen Überdachungsprozessen also darum, in welchen Kommunikationsbereichen es zur Verbreitung überregional anerkannter Sprachformen kam und wann diese Entwicklungen in die Existenz von „Dachsprachen“ (Kloss 1978) mündeten, die die lokalen Varietäten der alltagssprachlichen Kommunikation gesamthaft in einem Varietätenraum zusammenordneten. Dass gerade dieses Thema in den Anfangsphasen der Romanistik immense Aufmerksamkeit fand, ist angesichts der Dominanz nationalphilologischer und insgesamt dem historistischen Paradigma verpflichteter Ansätze nicht verwunderlich. 1 Die sprachliche Einigung eines Territoriums steht, so die damalige Auffassung, in engster Verbindung mit der Herausbildung der Nationalstaaten. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Forschungen zu den mittelalterlichen Überdachungen oftmals mehr der schnellen – und unkontrolliert interessegeleiteten – Spekulation als der genauen Analyse der schriftlichen Dokumentation dieser Jahrhunderte vertrauten (vgl. Völker 2011). 1 Zum Historismus und seiner Rolle für die Philologie und Sprachwissenschaft des 19. Jh. vgl. Jaeger/Rüsen 1992.

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Die nationalphilologischen Hypothesen zu den mittelalterlichen Überdachungsprozessen müssen hier nicht im Einzelnen analysiert werden. Die kritische Auseinandersetzung, insbesondere in Bezug auf die Tradition der französischen Sprachgeschichtsschreibung, ist bereits geleistet (Balibar 1985, Cerquiglini 1991, 2007, Hafner 2006, Oesterreicher 2007). Deshalb reicht es im vorliegenden Kontext, nur einige der charakteristischen Denk- und Argumentationsfiguren dieser Ansätze nachzuverfolgen. Zunächst fällt auf, dass die Mechanismen, die, nach Maßgabe der nationalphilologischen Forschung, zur Anerkennung (als Hörer und Leser) bzw. zur Übernahme (als Sprecher und Schreiber) der überregionalen Sprachformen geführt haben sollen, kaum einer genaueren empirischen Überprüfung unterzogen wurden. Wenn etwa der Aufstieg der Kapetinger und die territoriale Ausweitung der Krondomäne als Grund für die Verbreitung der Sprache von Paris bzw. der Île-de-France genannt wurden, wurde dies nicht mit historischen Daten untermauert. Die Argumentationen gewannen Überzeugungskraft allein durch ihre Evidenz, wobei diese Evidenz einen klaren Bezug zum modernen Forscher hatte. Dieser war zweifellos mit den Konsequenzen zentralistischer Staatsstrukturen vertraut und er konnte beobachten, wie die allgemeine Schulpflicht, Landflucht, Industrialisierung und andere Prozesse zum Sprachwechsel von den Dialekten zur Standardsprache führten. Ob aber das Modell des Sprachwechsels sinnvoll für das Mittelalter war und ob es angemessen die überregionale Durchsetzung einer noch nicht abschließend kodifizierten Varietät modellieren konnte, dies wurde nicht mehr diskutiert. Das geringe Interesse an den Verbreitungswegen des überregionalen Standards hatte sicherlich sehr viel damit zu tun, dass die Frage nach dem Ursprung wesentlich mehr Aufmerksamkeit fand. Die meisten Forscher bezogen in dieser Frage eine eindeutige Position: Sie betonten immer wieder ausdrücklich, dass sich bei den mittelalterlichen Überdachungsprozessen ein „ganz normaler“ Dialekt über seine ursprünglichen Verbreitungsgrenzen ausbreitete und zur Nationalsprache wurde. So wies Ferdinand Brunot in Bezug auf die französische Sprachgeschichte explizit die Behauptung zurück, die ab dem 13. Jh. in Nordfrankreich verbreitete überregionale Varietät ginge auf eine Koinebildung zurück (vgl. Völker 2011: 96). Die Urform dieser überregionalen Sprache sei vielmehr „le latin parlé, tel qu’il s’est implanté à Paris et dans la contrée avoisinante, et tel qu’il s’est développé par la suite des temps […]“ (Brunot 1905: V). Bekanntlich hatten aber all die Hypothesen, die einen klar abgegrenzten Dialekt als Ursprung der späteren Standardvarietät identifizieren wollten, einige Schwierigkeiten. Problematisch war beispielsweise, dass die heutigen Standardsprachen, insbesondere die französische, durchaus Merkmale aus mehreren Dialektgebieten aufweisen. Eine solche eindeutig polytopische Tradition spricht

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allerdings nur bedingt für ein Modell, das vorschlägt, der Ursprungsdialekt ändere während der Überdachung ausschließlich seinen regionalen Verbreitungsradius. Die meisten Schwierigkeiten bereitete aber eine zweite Beobachtung: Die mittelalterliche Textüberlieferung war in allen Gebieten der Romania alles andere als monotopisch, und ihre „mischdialektale“ Form widersprach ganz eindeutig der Hypothese, bei der Verschriftlichung hätten die mittelalterlichen Akteure ihre Dialekte genutzt, zumindest solange, bis einer dieser Dialekte so dominant geworden sei, dass er die anderen Dialekte verdrängen konnte. Bekanntermaßen wurde diese Polytopik der mittelalterlichen Texte damit erklärt, dass nie das Original, sondern immer nur Kopien der Texte erhalten waren und dass die fremden Sprachelemente durch die Kopisten „beigemischt“ wurden. Aber diese Erklärung wurde schon im 19. Jh. als eine Ad hoc-Lösung erkannt. 2 Die französische Forschung entwickelte nun in dieser schwierigen empirischen Situation eine sehr elegante Lösung. Der Gedanke, am Anfang der französischen Standardisierung müsse ein „ganz normaler“ Dialekt gestanden haben, führte dazu, dass man trotz oder gerade wegen der bis zur Mitte des 13. Jh. fehlenden volkssprachlichen Überlieferung aus dem Pariser Raum einen Pariser Dialekt namens ‚francien‘ (re)konstruierte und ihm all die Merkmale zuschrieb, die die spätere überregionale Standardvarietät haben sollte (Bergounioux 1989, Cerquiglini 2007: 127-163). Die französischen Sprachwissenschaftler des 19. und frühen 20. Jh. schufen also eine durch keinerlei dokumentarische Realität abgesicherte diatopische Varietät – mitsamt ihren Grenzen und mitsamt der sie kennzeichnenden sprachlichen Merkmale –, weil sie glaubten, nur auf diese Weise der französischen Nationalsprache einen würdigen Ursprung verschaffen zu können. Sie behaupteten gegen jede dokumentarische Evidenz eine jahrtausendelange Kontinuität des standardfranzösischen Formeninventars in der „natürlichen“ Umgebung der Alltagskommunikation der Île-de-France, um die Nationalsprache vor dem Vorwurf der Sprachmischung und damit der Künstlichkeit und Uneigentlichkeit zu schützen. Dass dahinter eine bestimmte, nämlich organizistische Konzeption von Sprache stand, ist klar, ebenso wie sichtbar wird, dass die sprachgeschichtlichen Hypothesen der Nationalphilologie in diesem Punkt ideologischen Vorgaben mehr verpflichtet waren als der empirischen Forschung.

2 Einen Überblick über die romanistische Diskussion der Frage, inwieweit die mittelalterlichen Texte dialektal sind, gibt Völker 2003: 1-79. Vgl. auch Selig 2001.

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2. Koineisierung in der mittelalterlichen Romania? In den letzten Jahren sind neue Hypothesen zu den mittelalterlichen Überdachungsprozessen formuliert worden. Eine der spektakulärsten ist zweifellos die von Anthony Lodge, der ein neues Ursprungsszenario für die überregionale Referenzvarietät des mittelalterlichen Frankreichs vorschlägt (Lodge 2004). Im Anschluss an die Forschungen zur Entwicklung von Ausgleichsdialekten in den durch Zuwanderung rasch anwachsenden englischen Städten der Nachkriegszeit (vgl. Kerswill 2002, Kerswill/Trudgill 2005, Trudgill 1986, 2004) formulierte er die Hypothese, die spätere französische Standardsprache ginge auf einen Koineisierungsprozess in der mittelalterlichen boom-town Paris zurück. Die Sprache, die sich später als distanzsprachliche Varietät in ganz Frankreich verbreiten wird, sei, so Lodge, das Ergebnis der Mischungs- und Angleichungsprozesse, mit deren Hilfe die ab dem Ende des 11. Jh. in die Stadt strömenden Migranten aus ihren unterschiedlichen Ursprungsdialekten eine gemeinsame (Stadt-)Sprache entwickelten. Lodge schlägt also eine klare Alternative zur nationalphilologischen Ursprungshypothese vor. Das Formeninventar, das am Anfang der französischen Standardsprache steht, ist kein Dialekt im traditionellen Sinne, also keine Sprachform, die auf eine weit in die Vergangenheit reichende, ununterbrochene Weitergabe von Kommunikationstraditionen zurückgeht. Das Formeninventar ist das Ergebnis einer Koineisierung unter den Pariser Migranten, und die Sprachmischungen, Ausgleichsprozesse und Umverteilungen von Varianten, die in solchen Koineisierungsprozessen zu beobachten sind, erklären den polytopischen Charakter der späteren Standardsprache, den die traditionelle Forschung so schwer akzeptieren konnte. Die Anerkennung von kontaktbedingtem Sprachwandel ist nun ohne jeden Zweifel ein großer Fortschritt. Der Koineisierungsansatz ist wichtig, weil er auf Prozesse wie Migration, Kolonisierung und Urbanisierung aufmerksam macht, die von der traditionellen Sprachgeschichtsschreibung nicht in den Blick genommen wurden, die aber für die Sprachgeschichte von essentieller Bedeutung sind. Auch die Öffnung in Richtung von „mischsprachlichen“ Varietäten und eine „mischsprachliche“ kommunikative Praxis ist dringend notwendig, weil nur so der organizistische Sprachbegriff der Nationalphilologie überwunden werden kann. Schwierigkeiten bereitet aber die Tatsache, dass Lodges Hypothese gar nicht so weit von den traditionellen Vorstellungen wegführt (vgl. Selig 2008). Denn er bietet nur im Hinblick auf die Ursprungshypothese eine neue Lösung an. Die Polytopik der französischen Standardsprache mit einer Phase der Sprachmischung mit anschließender Koineisierung in Verbindung zu bringen, geht klar über die bisherigen Ansätze hinaus – und ist im Übrigen eine nicht weniger elegante Lösung als der Vorschlag, ein ‚francien‘ an den Ur-

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sprung der französischen Sprachgeschichte zu stellen. In der Frage der Polytopik der mittelalterlichen Texte außerhalb des Pariser Sprachgebiets und der Frage der Modalitäten der Verbreitung des Standards ergeben sich aber keine neuen Perspektiven. Denn auch Lodge geht davon aus, dass sich der Dialekt der Hauptstadt in den Provinzen verbreitet und dass das Pariser Französisch nach dem Modell des Sprachwechsels von den dortigen Schreibern und Lesern übernommen wird. Und was die diatopisch nicht klar fokussierte sprachliche Form der mittelalterlichen Texte anbelangt, schließt Lodge sich der Meinung von Anthonij Dees (Dees 1985) an, der die Polytopie dieser Texte mit dem Argument übergeht, es komme hier nicht auf dialektale Reinheit an, sondern alleine darauf, ob die mit dem Entstehungsort in Verbindung stehenden Elemente überwiegen. Solange dies der Fall sei, könne man davon ausgehen, dass noch keine Überdachungsanzeichen vorlägen und die mittelalterlichen Schreiber weiterhin ihren lokalen Dialekt verschrifteten (Lodge 2004: 71-76). 3 Vielleicht hängt diese auf die Pariser Stadtsprache beschränkte Anerkennung der Sprachmischung damit zusammen, dass Lodge den Ansatz von Peter Trudgill übernimmt (Lodge 2004: 29-32), der die Koineisierung auf die face-toface-Kommunikation und somit auf die mediale Mündlichkeit beschränkt (Trudgill 1986, 2004). Peter Trudgill sieht nur in der face-to-face-Situation die Bedingungen dafür gegeben, dass die sprachlichen Ausgleichsprozesse einsetzen können, die in ihrer Summe zur Bildung einer Koine führen (Trudgill 2004: 27-29, 89, vgl. auch Auer/Hinskens 2005: 335ff.). Trudgill geht nämlich davon aus, dass die Koineisierung die Folge universaler Mechanismen ist, die das Verhalten der Sprecher in Situationen gesteigerter sprachlicher Heterogenität berechenbar und damit vorhersagbar machen (Trudgill 2004: 148-165). 4 Dies fängt damit an, dass uns als Spezies angeboren ist, unser Verhalten an das unserer Kommunikationspartner anzupassen (Trudgill 2004: 27f.). Deshalb übernehmen wir sprachliche Merkmale von unseren Interaktionspartnern und diese biologisch angelegte Akkomodation bewirkt, dass sich Sprachmischungen in dialektal heterogenen Migrantengemeinschaften weiterentwickeln und homogen werden. Auch dass sich am Ende der Ausgleichsprozesse eine „normale“ sprachliche Situation ergibt und sich aus der Vielzahl der ursprünglichen Dialekte ein neuer Ausgleichsdialekt entwickelt, der nur für den linguistisch geschulten Beobachter als gemischt erkennbar ist, hängt mit universalen Mechanismen zusammen, dieses Mal damit, dass Sprecher immer das tun, was die Mehrheit der Sprecher macht (Trudgill 2004: 148ff., unter Bezug auf Labov 3 Auch die Datenbasis, auf die sich Lodge bei seinen Analysen stützt, ist bei genauerer Prüfung nicht haltbar. Zu diesen dialektologisch-empirischen Aspekten vgl. jetzt Grübl 2014. 4 Zum mechanistisch-determinativen Ansatz von Trudgill vgl. etwa Auer/Hinskens 2005, Le Page 1997, Tabouret-Keller 1997.

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2001). Im Umkehrschluss gilt dann natürlich auch, dass der Linguist, sobald er auf Varietäten stößt, in denen er Spuren von Sprach- und Varietätenmischungen erkennt, in ihnen das Ergebnis von Koineisierungsprozessen in der Mündlichkeit sehen kann. Am Anfang solcher Varietäten stünde also eine Sprechergemeinschaft mit einer erhöhten sprachlichen Heterogenität, die in der face-toface-Interaktion durch die biologischen Mechanismen der Akkommodation und die anschließenden kollektiven Regularitäten beseitigt wurde. Andere Szenarien für die Entstehung polytopisch-mischsprachlicher Diskurse und andere Mechanismen für die Herausbildung polytopischer Varietäten werden dagegen nicht ins Auge gefasst.

3. Projection und focussing: Interaktionale Soziolinguistik, Sprachvariation und Varietäten An dieser Stelle möchte ich eine andere Theorie aus der Kontaktlinguistik vorstellen, die die Frage nach dem Sprecher- und Hörerverhalten in Situationen gesteigerter sprachlicher Variation von einem diametral entgegengesetzten Standpunkt aus beantwortet. Es handelt sich um das Modell der acts of identity von Robert Le Page und Andrée Tabouret-Keller, das diese in der Auseinandersetzung mit den Sprachkontaktsituationen in den postkolonialen Gesellschaften der Karibik und Mittelamerikas entwickelten (Le Page/Tabouret-Keller 1985). Das Modell der acts of identity ist, grob gesprochen, dem Paradigma der interaktionalen bzw. interpretativen Soziolinguistik zuzuordnen – Nathalie Schilling spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Paradigma des social constructionism (Schilling 2013: 134). 5 Kennzeichnend für diese soziolinguistischen Ansätze ist es, dass das sprachliche Handeln, wie die anderen Formen menschlichen Handelns auch, gerade nicht als mechanische Ausführung sozial5 Zur interaktionalen bzw. interpretativen Soziolinguistik vgl. etwa Auer 1999, 2007, Auer/Di Luzio 1984, Selting/Couper-Kuhlen 2001, Selting/Hinnenkamp 1988. Im angloamerikanischen Kontext betonen die interaktionalen und interpretativen Aspekte sprachlicher Interaktion vor allem die variationslinguistischen Arbeiten zum Stil (vgl. Schilling 2013: 134-176, mit weiteren Literaturhinweisen). Als Einführung in die sozialtheoretischen Vorbilder der interaktionalen Soziolinguistik (symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie etc.) vgl. die konzise und gut lesbare Zusammenfassung bei Joas/Knöbl 2004: 183-250. Vielleicht sollte man auch noch darauf aufmerksam machen, dass die Charakterisierung dieser soziolinguistischen Ansätze als konstruktivistisch nicht so ausgedeutet werden darf, als ob Sprecher und Hörer idiosynkratische Situationsdeutungen und nur ad hoc gültige Handlungswahlen ausarbeiteten. Der Begriff der Konstruktion hebt darauf ab, dass das Handeln nicht bereits durch die sozialen Ordnungsbestände determiniert ist, sondern erst in der Interaktion zu seiner endgültigen Form findet. Die kollektiv-normativen Dimensionen dieser in den Situationen realisierten Konstruktionen erkennt man, wenn man sieht, dass die sozialen Normen nicht nur als Voraussetzungen in die Interaktion eingehen, sondern auch deren Ergebnisse sind.

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normativ oder biologisch-genetisch determinierter Abläufe aufgefasst wird, sondern als Ergebnis der aktiven, d.h. intentionalen und kreativen Auseinandersetzungen der Sprecher und Hörer mit den situationellen Gegebenheiten, den möglichen Situationsdeutungen, den Erwartungen, die sie ihren Kommunikationspartnern zuschreiben können, und den unter diesen Vorgaben angemessen und erfolgsversprechend erscheinenden Handlungsoptionen. Die Ansätze sind interaktional, weil sie die enge Verflechtung von Sprecher- und Hörerhandeln betonen und aufzeigen, wie die Vorannahmen der Sprecher hinsichtlich der Hörerreaktionen, das durch diese Erwartungen bestimmte Sprecherhandeln und das Hörerfeedback im Moment der Kommunikation ineinandergreifen. Die Charakterisierung als interpretativ macht auf einen weiteren wichtigen Grundgedanken dieser Ansätze aufmerksam: Wenn das Handeln der Interaktionspartner kreativ ist und wenn die sprachlichen Wahlen sich nicht autonom und situationsunabhängig, sondern in der Verflechtung von Sprecherhandeln und Hörerreaktionen vollziehen, dann muss auch die Auseinandersetzung über eine gemeinsame und sich entlang der Kommunikation weiter entwickelnde Situationsdeutung ein zentraler Bestandteil der Interaktion und ein wichtiger Faktor für das sprachliche Handeln sein. Sprecher und Hörer leisten also nicht nur die Auswahl, Realisierung, Interpretation und Bewertung der sprachlichen Formen, sondern auch den Abgleich der Vorannahmen und Deutungen, die im Hintergrund die Kommunikationsbedingungen und die von ihnen eröffneten Handlungsmöglichkeiten und angemessenen Formgestaltungen festlegen. Diesen interaktionalen und interpretativen Ansätzen kann man wie gesagt auch Robert Le Page und Andrée Tabouret-Keller mit ihrer Theorie der acts of identity zurechnen. Ihr Modell geht auf die Erfahrung der sprachlichen Situationen zurück, die sich in den postkolonialen Gesellschaften Mittelamerikas und der Karibik in der zweiten Hälfte des 20. Jh. durch das Nebeneinander der Kolonialsprachen Englisch und Spanisch, der autochthonen Kreols und mehrerer indigener Indianersprachen entwickelt hatten. Die Situationen waren extrem heterogen und durch das Fehlen sprachnormierender Institutionen und Diskurse diffus (Le Page/Tabouret-Keller 1985: 113-157), also ohne klare Konturen um die Sprachen und Varietäten und gekennzeichnet durch eine „gemischtsprachige“ Praxis der Interaktanten. Le Page und Tabouret-Keller konnten nun zeigen, dass die Sprecher, wenn sie die ganze Breite der ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten einsetzten, geleitet waren von der Intention, eine bestimmte projection in der sprachlichen Interaktion zu verwirklichen, nämlich sich selbst in einer bestimmten Rolle bzw. Identität in der Kommunikation auszuweisen. Die Sprecher nutzten dafür die sprachlichen Formen, deren Konnotationen ihrer Meinung nach zur intendierten Identität

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passten und die deshalb diese Identität konnotativ evozieren oder bedeutungshaft symbolisieren konnten. Die Auswahl der sprachlichen Merkmale war also geleitet von den projections, den intendierten Rollenbildern, nicht von den Grenzziehungen um Sprachen oder Varietäten, und die Folge war, dass in den analysierten Texten häufig Sprach- oder Varietätenmischungen zu beobachten waren. Le Page und Tabouret-Keller zeigten weiter, dass sich das Generieren der Rollenbilder und die Zusammenstellung der sprachlichen Merkmale in und während der Interaktion vollzogen und bewusst oder zumindest vorbewusst, aber in jedem Falle aktiv von den Sprechern eingeleitet und von den Hörern in ihrem feedback sanktioniert wurden. Die Sprecher und Hörer, so könnte man ihren Ansatz zusammenfassen, verwalteten die in der Kommunikationsgemeinschaft vorhandene sprachliche Variation selbständig, um in der Kommunikationssituation eine den jeweiligen projections angemessene sprachliche Form zu finden, bzw. die ausgewählten Formen im Sinne solcher projections interpretieren zu können. Mit der Hypothese, dass die sprachliche Wahl der Sprecher in den postkolonialen Sprachkontaktsituationen wesentlich von projections bestimmt ist, widersprechen Le Page und Tabouret-Keller den „klassischen“ Akkommodationstheorien. Während diese postulieren, die heterogenen Varianteninventare, die für die Kommunikation in mehrsprachigen Situationen kennzeichnend sind, seien durch das Nachahmen der unmittelbaren Kommunikationspartner bzw. durch die Ausgleichsstrategien bedingt, die in der face-to-face-Interaktion ausgelöst werden, wird hier die Variantenwahl auf eine Projektion, eine dem Sprecher eigene Vorstellung, zurückgeführt, die bereits vor dem unmittelbaren Sprecher-Hörer-Kontakt greifen kann, weil sie auf stereotypes bzw. gestalthaftes Wissen um die intendierte Rolle und die zu ihr passenden sprachlichen Merkmale zurückgeht. Die Sprach- und Varietätenmischung in den Texten bzw. Diskursen ist nach Auffassung von Le Page und Tabouret-Keller nicht die mechanische Konsequenz des direkten Kontakts, sondern das Resultat einer aktiven Verarbeitung der erfahrenen sprachlichen Variation, die, immer an der Hörererwartung orientiert, die Variantenzusammenstellung nutzt, um eine bestimmte Identität in der Interaktion zu evozieren. Voraussetzung für diese Hypothese ist, dass Le Page und Tabouret-Keller das sprachliche Wissen von Sprecher und Hörer als ein Repertoire einzelner Formen definieren, aus dem diese bei der Produktion bzw. Interpretation frei auswählen können. Le Page und Tabouret-Keller zogen aus ihren Beobachtungen also den Schluss, dass das sprachliche Wissen nicht durch Sprach- und Varietätengrenzen eindeutig festgelegt ist und daher auch nicht als ein unveränderbar strukturiertes Neben-

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einander von autonomen Codes definiert werden kann. 6 Allerdings gingen sie nicht so weit, Sprach- und Varietätengrenzen deshalb für inexistent zu halten und zu postulieren, derartige Grenzziehungen könnten nicht Gegenstand des Sprecherwissens sein. Ihre Schlussfolgerung war vielmehr, dass sprachliche Systeme, verstanden als Ensembles von sprachlichen Varianten, nicht a priori vor jeder Sprecher- und Hörerinteraktion gegeben waren, sondern dass sie in der Interaktion stabilisiert und erst in und durch die Interaktion konturiert werden (Le Page 1997: 28ff., Le Page/Tabouret-Keller 1985: 158-206, TabouretKeller 1997: 323ff.). Die Grenzziehungen um Sprachen oder Varietäten werden, zusammen mit den konnotativen Zuordnungen der Varianten zu den Nutzergruppen bzw. Gebrauchskontexten, in den individuellen Interaktionen konstruiert und können daher, je nachdem wie das aktuelle Sprecherhandeln und die Hörerreaktionen ausfallen, stabilisiert, also reproduziert, oder verändert, also produziert, werden. Le Page und Tabouret-Keller nennen diesen zweiten Aspekt der interaktionalen „Arbeit“ an der sprachlichen Variation focussing (Le Page 1980, Le Page/Tabouret-Keller 1985: 180-186, 200ff.). Projection, die aus der Erwartungserwartung des Sprechers vorgenommene Auswahl von Varianten, und focussing, die im bestätigenden oder zurückweisenden feedback des Hörers angelegte Verstärkung oder Schwächung dieser Sprecherentscheidung, sind die beiden Seiten einer reziproken Auseinandersetzung mit der Frage, welche sprachlichen Formen für welche Funktionen in welchen Situationen geeignet sind. Le Page und Tabouret-Keller betonen mit ihrer Begriffswahl das Stabilisierende der Reziprozität, und erfahrungsgemäß führen Interaktionen, wenn sie häufig genug zur Begegnung derselben Interaktanten in vergleichbaren Situationen führen, in ihrer Summe zu einem stabilen und von allen Beteiligten anerkannten Inventar. Aber selbstverständlich sehen die beiden Forscher auch, dass die Interaktion ergebnisoffen ist und sowohl zu einer klaren Ordnung der Variation als auch zu deren Gegenteil führen kann. Sie schreiben: Within this general theory [i.e. acts of identity] we see speech acts as acts of projection: the speaker is projecting his inner universe, implicitly with the invitation to others to share it, at least insofar as they recognize his language as an accurate symbolization of the world, and to share his attitudes towards it. […] The feedback he receives from those with whom he talks may reinforce him, or may cause him to modify his projections, both in their form and in their content. To the extent that he is reinforced, his behavior may become more regular, more focussed; to the extent that he modifies his behavior to accommodate to others it may for a time become more variable, more diffuse, […]. Thus we may speak of

6 Vgl. hier auch Denison 1997: 65f., der im Anschluss an John Gumperz von einem „repertoire view“ im Unterschied zur „homogenous rule-governed code metaphor“ (der strukturalistischen bzw. formalistischen Ansätze) spricht.

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focussed and of diffuse, or non-focussed, linguistic systems, both in the individuals and in the groups […] (Le Page/Tabouret-Keller 1985: 181f.).

Wir können hier nicht ausführlich diskutieren, ob die von Le Page und Tabouret-Keller beobachteten Phänomene eines kreativen Umgangs mit dem Variantenrepertoire ausschließlich in hochgradig heterogenen Kontaktsituationen und bei nicht fokussierten sprachlichen Repertoires zu beobachten sind. Wie wir gesehen haben, gehen die klassischen Akkommodationstheorien und das darauf aufbauende Koineisierungsmodell in diese Richtung. Sprachmischung findet, so diese Ansätze, nur in ausgeprägten Sprachkontaktsituationen statt, wenn die Sprecher in der face-to-face-Interaktion beständig mit heterogenen sprachlichen Reaktionen seitens ihrer Interaktionspartner konfrontiert sind. Die sprach- und handlungtheoretische Ausrichtung der acts of identity lässt eine solche Einschränkung aber nicht zu. Selbstverständlich ist in sprachlichen Kontaktsituationen das Variantenrepertoire, aus dem die Sprecher schöpfen können, größer. Ebenso dürfte in diesen Situationen ein geringerer Grad an Fokussiertheit zu beobachten sein, so dass das sprachliche Handeln bewusster und weniger durch stabile Routinen vorbestimmt ist. Eine die Kreativität und Intentionalität der Interaktanten betonende Theorie schließt aber prinzipiell die Annahme aus, das Handeln der Sprecher könne zu irgendeiner Zeit bereits vollständig durch die Grenzziehungen um Sprachen oder Varietäten determiniert sein. Sprecher können jederzeit über ihr gewohntes Repertoire hinausgehen und auf andere Sprachen oder Varietäten ausgreifen. Sprachliches Regelwissen und die Kenntnisse von sprachlichen Einheiten sind in keiner sprachlichen Situation durch die Grenzen um Codes determiniert, sondern hängen alleine vom jeweiligen Erfahrungshorizont der Sprecher – und sicher auch von ihrer Kreativität – ab. In diesem Sinne ist Sprach- oder Varietätenmischung in Texten oder Diskursen immer möglich und wird immer dann auftreten, wenn der Ausgriff auf nicht gewohntes sprachliches Material als kommunikative Ressource genutzt werden kann. 7 Die daran anschließende Frage, wie der individuell-aktuelle Umgang mit der sprachlichen Variation in den einzelnen Interaktionen und die Sprach- bzw. Varietätenmischungen in den Texten/Diskursen in das (situationsentbundene) Wissen von Sprecher und Hörer und schließlich in die überindividuellen sozialen Normen einfließen und sich zu Varietäten/Sprachen verfestigen, können 7 Die Relevanz der Unterscheidung zwischen der Ebene der Texte/Diskurse und der Ebene der (einzel)sprachlichen Strukturen (und der Ebene der universalen Sprechfähigkeit), wie sie in Anknüpfung an die strukturalistische Tradition von Eugenio Coseriu vorgeschlagen wurde (vgl. etwa Coseriu 1981: 5-50, auch Oesterreicher 1979: 224-256) kann nicht häufig genug betont werden. Dass Texte immer situiert sind und deshalb die aus ihnen ermittelten sprachlichen Daten keinesfalls situationsautonom sind, wird in der historischen Linguistik (und anderswo) leider allzu häufig vergessen.

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wir hier nicht ausführlich erörtern. Hier würde es darauf ankommen, die Mechanismen des focussing, die in einzelnen Kommunikationsakten zu beobachten sind, und die kollektiven Prozesse, die zur Herausbildung bzw. Klärung von variationellen Strukturen führen, genauer aufeinander zu beziehen, beispielsweise durch Netzwerkanalysen, die die Verbindung zwischen dem Handeln der einzelnen Sprecher/Hörer und den kollektiven Normen durch die Analyse der Kommunikationsradien, der Frequenzmuster und der gruppenspezifischen Attituden nachvollziehbar machen. 8 Zu diskutieren wäre auch, ob man dem Vorschlag von Le Page und Tabouret-Keller folgt und vor allem im expliziten metasprachlichen Diskurs den Motor der Fokussierung ansetzt (Le Page 1997, Tabouret-Keller 1997, vgl. aber Le Page/Tabouret-Keller 1985: 187). Man muss die Relevanz derartiger reflexiver Bezugnahmen auf die sprachlichen Formen, ihren Verbindlichkeitsgrad und ihre interne Ordnung klar sehen. Dass der metasprachliche Diskurs sprachliche Normen verdeutlicht und dadurch ihre Verbindlichkeit erhöht und dass er Klarheit in Fragen der Zuordnung von einzelnen Formen zu bestimmten Gebrauchssituationen und dem diesen zugeordneten Repertoire bringt, ist offensichtlich. Selbstverständlich ist außerdem, dass die Intensität und die institutionelle Verortung dieser metasprachlichen Diskurse ein wichtiges Unterscheidungsmoment von Sprechergemeinschaften und sprachlichen Situationen ist. Aber man darf darüber nicht vergessen, dass die Verfestigung von (sprachlichen) Normen bereits im gemeinsam geteilten Gebrauch beginnt und auch ohne explizite Thematisierung, ohne klare Kategorisierungen und ohne die Herausbildung von spezifischen sprachnormierenden oder legitimatorischen Diskursen vollzogen wird. In der Verschränkung des an den (erwarteten) Erwartungen der Hörer orientierten Sprecherhandelns und dessen permanenter Sanktionierung seitens dieser Rezipienten schlägt die Faktizität des Gebrauchs immer erneut in die Normativität von Gebrauchsmustern um, und wenn der Gebrauch immer wieder dieselben Akteure in dichten Netzwerken und vergleichbaren Gebrauchssituationen zusammenführt, ist die längerfristige und sozial weiterreichende Stabilisierung dieser Normativität leicht nachzuvollziehen. Dies heißt, dass die Analyse der fokussierenden Prozesse beide Phänomenbereiche integrieren muss, weil beide für die Stabilisierung oder Destabilisierung von Normen relevant sind, und weil die metasprachlichen Verfahren letztendlich auf den einfachen und zumeist nicht weiter reflektierten grundlegenden Mechanismen der sozialen Interaktion, etwa der not8 Zur Netzwerktheorie vgl. die kurze Zusammenfassung bei Milroy 2002 mit weiteren Literaturhinweisen. Vgl. auch das Konzept der communities of practice (Meyerhoff 2002). Auch hier gilt es, den Gegensatz zwischen mechanistisch-deterministischen Ansätzen und akteurbezogenen, interaktionistisch und interpretativ ausgerichteten Theorien zu beachten. Vgl. dazu Meyerhoff 2006: 70-79, 261f.

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wendig gemeinsamen Orientierung im Gebrauch, dem feedback oder ähnlichen Mechanismen aufruhen. Übrigens folgt auch die Koineisierungstheorie einem solchen weit aufgefassten Verständnis von Fokussierung. Peter Trudgill und Paul Kerswill haben aus dem Modell der acts of identity das Konzept des focussing übernommen und in ihr Phasenmodell der Koineisierung als dritte Phase mit der Aufgabe der Überführung der Variantenmischung in eine stabile, von allen gemeinsam anerkannte Varietät integriert (Trudgill 1986, 2004, Kerswill 2002). Auffälligerweise hat also gerade die Koineisierungstheorie den Hinweis auf die normierende Verstärkung durch den Gebrauch aufgenommen und die Verbindung zwischen der „Verflüssigung“ des sprachlichen Repertoires in den Koineisierungssituationen und der „Verfestigung“ der sprachlichen Normen durch die Fokussierung hergestellt. Allerdings „entschärft“ diese partielle Rezeption den Ansatz von Le Page und Tabouret-Keller, indem nur in einer letzten, abschließenden Phase interaktionelle Mechanismen zugelassen werden. Nimmt man den interaktionalen Ansatz der acts of identity ernst, ist eine solche Beschränkung nicht möglich. Man kann das Konzept des focussing nicht auf eine bestimmte Phase der sprachlichen Entwicklung beschränken und die Verfestigung sprachlicher Normen und die Varietätenstabilisierung darf nicht zu einem zeitlich begrenzten, ergebnisorientierten Prozess umgedeutet werden. Der Vorschlag von Le Page und Tabouret-Keller geht vielmehr dahin, dass die Ordnung der Varianten, d.h. ihre Zuordnung zu bestimmten Gebrauchsbedingungen und ihre interne Konturierung in Sprachen oder Varietäten, nicht a priori, unabhängig vom Kommunikationshandeln, gegeben ist, sondern in der Interaktion im Prozess des Fokussierens immer erneut konstituiert wird. Wie alle anderen sprachlichen Normen auch wird dieses Wissen um die Konnotationen und internen Solidaritäten der Varianten im Gebrauch re-produziert, und das heißt entweder stabilisiert oder destabilisiert und verändert. Le Page und Tabouret-Keller lenken also den Blick der interaktionalen Soziolinguistik auf weitere variationslinguistisch relevante Aspekte der sprachlichen Interaktion und nutzen die interaktionalen und interpretativen Modelle zur Dynamisierung der variationellen Strukturen. Man sollte ihren Ansatz deshalb so nutzen, dass auch das Entstehen neuer Varietäten oder die Umverteilungsprozesse innerhalb von Varietätengefügen, kurz: Prozesse wie Koineisierung und Sprach- oder Varietätenmischung, aber auch Ausbau- oder Überdachungsprozesse, mit der Kreativität und Intentionalität der Sprecher-Hörer-Interaktion systematisch zusammen gedacht wird.

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4. Fokussierte „Dialekte“ und instabile Ausbauvarietäten Es dürfte bereits klar geworden sein, welcher Gewinn aus den Überlegungen von Le Page und Tabouret-Keller für die Analyse der mittelalterlichen Verhältnisse gewonnen werden kann. Mit der Unterscheidung von projection und focussing gelingt es, den Gedanken der Stabilisierung bzw. Destabilisierung der normativen Muster in der Summe der Sprecher-Hörer-Interaktionen (focussing) mit den reflexiv-kreativen Leistungen im aktuellen Handeln (projection) zu verbinden und die soziale Einbettung jeder Kommunikation und die darin angelegte normative Musterbezogenheit sowohl in Richtung der individuellen Sprechtätigkeit als auch der kollektiven Sprach- und Varietätenstrukturen zu dynamisieren. Dieser konstitutionsanalytische Zugang (Oesterreicher 1979: 168) ermöglicht, den Produzenten der Texte – in unserem Falle den mittelalterlichen Autoren und Kopisten – einen reflektierten, kreativen und nicht bereits vollständig durch die bisher geltenden Normen determinierten Umgang mit ihrem sprachlichen Repertoire zuzuerkennen (Selig 2005a und b). Genauso wird die kollektive Verfestigung sprachlicher (und eben auch gemischtsprachlicher) Inventare nachvollziehbar, indem die Prozesse aufgezeigt werden, die im Anschluss an die Sprachmischungen in den Texten zur kollektiven Akzeptanz dieser Lösungen führen. Die „Verflüssigung“ der Variantenwahl in den Texten und der Stabilisierung der Inventare in den kollektiven Anschlussreaktionen ist für die Analyse der mittelalterlichen Überdachungsprozesse von ganz essentieller Bedeutung. Nunmehr besteht die Möglichkeit, die Sprach- bzw. Varietätenmischungen in den mittelalterlichen Texten und ihren häufig dialektal heterotopen Charakter nicht als nachträgliches Ergebnis einer komplexen Textüberlieferung, sondern als Resultat intendierter projections, als Reaktion auf spezifische Anforderungen an die sprachliche Interaktion in Verbindung zu bringen. Dieser Gedanke ist insofern zentral, als die frühen romanischen Texte einen Prozess dokumentieren, den man, in den Termini der Ausbaukomparatistik, den internen bzw. externen Sprachausbau nennen kann. 9 Die ersten Phasen der volkssprachlichen Schriftlichkeit sind dadurch gekennzeichnet, dass Schreiber und Leser die volkssprachlichen Varietäten in Bereichen einsetzen, die zuvor vom Lateinischen besetzt waren, oder, aufgrund der Verwendung des schriftlichen Mediums, neuartige kommunikative Bedingungen für bereits gefestigte medial mündliche Diskurstraditionen erproben müssen (Selig 1993). Es liegt nahe, zu 9 Zur Unterscheidung zwischen dem internen Ausbau, der auf die Erweiterung des Formeninventars abstellt, und dem externen Ausbau, der die Verwendung einer Sprache in weiteren distanzsprachlichen Kommunikationskontexten erfasst, vgl. Koch 1988, Koch/Oesterreicher 2011: 136.

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vermuten, dass diese Veränderungen der situationellen Einbettung des volkssprachlichen Formeninventars zunächst zu einer Defokussierung der sprachlichen Normen führte, zu einer Phase exploratorischer und tentativer Sprachwahlen, die erst noch festgelegen mussten, welches Formeninventar zu den neuartigen projections passte. Die sprachliche Instabilität der mittelalterlichen Überlieferung, die große Variabilität, die im Vergleich der Manuskripte, der Schreiborte oder auch der unterschiedlichen Schreibanlässe sichtbar wird, wäre also kein historischer Zufall, sondern durch die Neuartigkeit der Verwendungskontexte, die räumliche und zeitliche Vereinzelung der einzelnen Schreibakte und die fehlende institutionelle Absicherung der volkssprachlichen Schriftlichkeit bedingt. 10 Es würde zu weit führen, dieser Hypothese hier im Einzelnen nachgehen zu wollen. Zumindest angedeutet sei aber, dass eine Reihe von neueren Arbeiten überzeugend darlegen konnte, dass die Sprach- und Varietätenmischungen in den mittelalterlichen Texten und Manuskripten nicht zufällig sind, sondern durch die extensive Nutzung des sprachlichen Repertoires durch Autor oder Kopisten bewusst kreiert werden. Beispielsweise dient die Verwendung von lateinischem Wortmaterial oder das Nachahmen von lateinischen Konstruktionen dazu, den neuen Anforderungen komplexerer Formulierungsnotwendigkeiten nachzukommen – oder den Texten Konnotationen zu geben, die zu dem Anspruch passen, autoritatives Expertenwissen zu vermitteln (Frank-Job 2008, Kabatek 2005, Raible 1996, vgl. auch Bossong 1979). Auch die dialektale Heterogenität der Texte kann man begründen. Die distanzsprachliche, medial schriftliche Textproduktion ist auf neue Rezipientengruppen ausgerichtet, die räumlich teilweise gar nicht festgelegt sind, weil sich die jeweilige Diskursgemeinschaft erst in und durch die Rezeption der Texte herausbildet. Der Autor, später auch die Kopisten, können diesen überregionalen Zuschnitt der Rezipienten durch das Einbringen heterotopischer Elemente, d.h. durch ein bewusstes De-regionalisieren der Texte, signalisieren (Selig 2014). Zu beobachten sind außerdem die Phänomene, die von der Koineisierungsforschung als Ausgleichsverfahren in Situationen erhöhter sprachlicher Heterogenität ausgemacht wurden, also etwa das Vermeiden von salienten sprachlichen Merkmalen, die erhöhte Verwendung von gemeinsamen Formen oder das Vermeiden von Formen, deren Verbreitungsradius zu eng ist (Greub 2007, Grübl 2014). Derartige Ausgleichsstrategien sind „höflich“ in dem Sinne, dass sie eine 10 Dies gilt uneingeschränkt für die ersten vier Jahrhunderte der romanischen Überlieferung. Für die Zeit ab der Mitte des 12. Jh., in der die Zahl der romanischen Manuskripte exponentiell zunimmt, wären die jeweiligen schriftkulturellen Bedingungen und der damit zusammenhängende Institutionalisierungsgrad der volkssprachlichen Schriftlichkeit noch genauer zu untersuchen. Vgl. dazu Frank-Job/Selig i. Dr., Selig i. Dr.

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eindeutig lokale Anbindung des Textes verhindern und einem nicht-lokalen Publikum dadurch die Rezeption, aber auch die Identifikation erleichtern (Selig 2008). Und schließlich sei auch noch an einen weiteren Faktor erinnert, der die Herausbildung eines neuen, tendenziell de-regionalisierenden Varianteninventars erfordert: Die besondere Thematik der distanzsprachlichen Texte lässt in vielen Fällen eine Verwendung des lokalen alltagssprachlichen Vokabulars unangemessen erscheinen. Auch hier müssen Autor oder Kopist nach Lösungen suchen. Mit dem Hinweis auf die instabilen, von ihrer Anlage her de-regionalisierenden Ausbauvarietäten, die für die ersten Phasen der romanischen Schriftlichkeit im Mittelalter kennzeichnend sind, ist allerdings noch nicht alles über die mittelalterliche sprachliche Situation gesagt. Wichtig für die historische Linguistik ist, dass dem (noch) nicht fokussierten Formeninventar der volkssprachlichen Schriftlichkeit fokussierte „Dialekte“ gegenüberstehen. 11 Wenn wir einmal davon absehen, dass der Begriff Dialekt in Bezug auf die mittelalterlichen diatopischen Varietäten nur uneigentlich verwendet werden kann, weil die definitorische überregionale Referenzvarietät noch fehlt, können wir diese mittelalterlichen Varietäten in mehrfacher Hinsicht mit den Dialekten der Neuzeit gleichsetzen: Sie gelten für eine regional begrenzte, intern in dichten und multiplexen Netzwerken strukturierte Sprechergemeinschaft und diese Geltung ist uneingeschränkt, was die Alltagskommunikation anbetrifft. Heute, im Zeitalter globaler Kommunikationsmöglichkeiten, hoher persönlicher Mobilität und der klaren Trennung der einzelnen Funktionsbereiche, führt räumliche Kontiguität von Menschen nicht unbedingt zur Ausbildung stabiler Netzwerke, die im Rahmen der lokalen Kontinuität dichter sind als nach außen. Unter den Bedingungen vorindustrieller, traditionaler Gesellschaftsformen ist dies anders. Hier ist der tagtägliche Umgang der Mitglieder der lokalen bzw. regionalen Gemeinschaften die Regel und dieser Kontakt wird gemeinsame sprachliche Formen stabilisieren – und Innovationen, wenn sie erfolgreich sind, zu gemeinsamen Innovationen machen (Auer/Hinskens 2005: 351-356). Die Mitglieder solcher Sprechergemeinschaften werden die Frage, welche Formen sie jeweils wählen sollen, häufiger routinemäßig und im Sinne des sozial Bewährten beantworten. Es macht deshalb Sinn, die Sprachformen, die sich in den lokalen bis regionalen Sprechergemeinschaften des Mittelalters in der Alltagskommunikation herausgebildet haben, im Sinne von Le Page und 11 Man müsste hier noch genauer klären, welchen Stellenwert der klare Schwerpunkt der acts of identity in der Analyse alltagsweltlicher Konversation hat. Zu prüfen wäre also, inwieweit sich die Theorie verändern muss, um einer gesamthaften Sicht aller Kommunikationsbereiche gerecht zu werden. Gerade hinsichtlich der Fokussierung wäre eine genaue Unterscheidung zwischen der Alltagsinteraktion und den dort verankerten sozialen Netzwerken und der Distanzkommunikation und den für sie typischen institutionellen Strukturen wichtig.

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Tabouret-Keller als klar fokussierte Varietät bzw. als „Dialekte“ – mit der oben angesprochenen Einschränkung – zu beschreiben. Diese „Dialekte“ bilden den Hintergrund des Ausbauprozesses und auch die Frage, welches sprachliche Material die neuen Kommunikationsbedingungen und Verbreitungsradien der distanzsprachlichen schriftlichen Texte erfordern, wird vor dem Hintergrund einer stabilen, fokussierten „Dialektalität“ entschieden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass eine Mehrzahl mittelalterlicher romanischer Texte zwar polytopisch ist, aber viele ihrer sprachlichen Merkmale dennoch eine klare Anbindung an regionale Zentren erlauben. 12 Genauso wenig dürfte verwundern, dass die regionale Ausrichtung des sprachlichen Materials zunimmt, wenn die intendierten Rezipienten „vor Ort“ sind (Völker 2003: 193ff.). Sprachliche Regionalität wird hier zu einem stilistischen Verfahren, und so wie in einigen Texten die Verwendung von heterotopischen Elementen darauf verweist, dass die Autoren oder Kopisten einen überregional ausgerichteten Text schreiben wollten, so sorgt in anderen Fällen die überwiegend homotopische Gestaltung dafür, dass der lokale Bezugsrahmen klar evoziert wird. Die unverminderte Relevanz des sprachlichen Materials der „Dialekte“ erlaubt allerdings nicht die Schlussfolgerung, die Herausbildung der romanischen Schriftlichkeit sei nichts anderes gewesen als eine Überführung dieser in der Nähekommunikation verankerten Varietäten in die neue Medialität. Und selbstverständlich erlaubt der Hinweis auf die wichtige Rolle der „Dialekte“ nicht, in der späteren überregional verbreiteten Standardsprache die Fortführung eines dieser lokalen, alltagssprachlich geprägten Formeninventare zu sehen. Derartige Szenarien unterschlagen, dass die Varietäten aus dem Bereich der alltagssprachlichen Mündlichkeit nicht unmittelbar und vor allem nicht in ihrem durch diesen nähesprachlichen Kontext geprägten Zuschnitt in die neuen Verwendungskontexte der distanzsprachlichen Schriftlichkeit übertragen werden können. Ebenso wird unterschlagen, dass es angesichts der Neuartigkeit der Ausbausituation eine Phase der varietätenlinguistischen „Unklarheit“ gegeben haben muss, die erst im Laufe der Verschriftlichung und erst im zunehmenden Gebrauch des schriftlichen Mediums und durch die zunehmende Institutionalisierung schriftkultureller Produktions- und Rezeptionskontexte beseitigt wurde. Viele Kennzeichen der frühen Phasen der romanischen Überlieferung lassen sich am besten damit erklären, dass die Normen für 12 So Dees 1980, 1987. Man muss allerdings betonen, dass die Analysen von Dees keineswegs Aussagen über die gesamte mittelalterliche Überlieferung aus dem nordfranzösischen Raum ermöglichen. Die Auswahl der untersuchten Texte ist sehr stark von seinem Interesse an historischer Dialektologie bestimmt. Dees bevorzugt etwa bei den Urkunden solche, die einen regional eingeschränkteren Kommunikationsradius haben. Seine Ergebnisse können deshalb nicht als repräsentativ betrachtet werden (Völker 2003: 65).

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die distanzsprachliche, medial schriftliche Kommunikation sehr lange nicht abschließend geklärt waren (Wilhelm 2009, 2011). Selbst nach zentralisierenden Prozessen wie der Herausbildung eines literarischen Kanons (Italien) oder der Entstehung einer königlichen Administration (Frankreich) und trotz der Strahlkraft eines königlichen Zentrums (Spanien) dauert es noch lange, bis sich die standardsprachliche Homogenität herausbildete, die die Nationalphilologen des 19. Jh. im Auge haben. Die mittelalterlichen Überdachungsprozesse nach dem Muster der Verbreitung der Nationalsprachen im 19. Jh. zu interpretieren, ist deshalb ein klarer Anachronismus. In der Moderne übernehmen die vormaligen Dialektsprecher eine bereits seit langem in überregionalen distanzsprachlichen Kommunikationskontexten eingesetzte und seit Jahrhunderten kodifizierte Hochsprache, deren Identität nicht zur Debatte steht. Im Mittelalter ist der Prozess, in dem die jeweiligen Sprechergemeinschaften festlegen, welches Formeninventar für die neuen distanzsprachlichen Funktionen geeignet ist, weiterhin im vollen Gange. Es gilt, die Dynamik dieser noch nicht abschließend fokussierten Situation bei der Analyse zu berücksichtigen und in der Beschreibung nicht zu verdecken. Die mittelalterliche Überdachung ist nicht die überregionale Verbreitung eines fixierten Codes und sie tritt auch nicht erst im Zuge politischer und sozioökonomischer Zentralisierungsprozesse auf. Diese gesellschaftlichen Prozesse sind ein Aspekt der Überdachung, ein Aspekt, der, wenn man die mittelalterliche Geschichte genauer analysiert, relativ spät zum Tragen kommt. Von Anfang an, nämlich mit dem ersten Einsetzen einer distanzsprachlichen Schriftlichkeit, greifen aber die Faktoren, die zu einer de-regionalisierenden Variantenwahl in den Texten und zur Stabilisierung de-regionalisierter Varianteninventare führen. Es sei abschließend daran erinnert, dass die klassische Definition der Koine gerade auf solche über den Varietäten der Alltagskommunikation stehende überregionale mündliche oder schriftliche Varietäten abzielt (Grübl 2011, Sanga 1990). Und dass nach den Maßgaben der klassischen Koineisierungstheorie nicht nur die Sprachmischung in den städtischen oder kolonialen Bevölkerungen, sondern auch die projections, die den Notwendigkeiten der distanzsprachlichen und überregionalen Kommunikation gerecht werden, sprachlichen Ausgleich, Koinesprachen und dialektale Mischvarietäten zur Folge haben können.

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Albrecht Greule Romanische Sprachrelikte in Bayern

1. Romania submersa Im Handbuch „Romanische Sprachgeschichte“ (Ernst et al. 2003: 695-709) beschreibt Wolfgang Haubrichs „die verlorene Romanität im deutschen Sprachraum“, indem er romanische Reliktgebiete aufgrund des Vorkommens von Gewässer-, Siedlungs-, Flur- und Personennamen und Lehnlexemen einzugrenzen versucht. Dabei spielt die Lautchronologie die entscheidende Rolle; das heißt es spielt eine Rolle, ob ein Wort oder Name Lautprozesse der Ausgangssprache, des Romanischen, oder nur Lautprozesse der Zielsprache, des Deutschen, aufweist. So wird beispielsweise der Siedlungsname Remagen (Lkr. Ahrweiler, Rheinland-Pfalz), der auf den keltischen Namen *Rīgómagos ‚Königsfeld‘, vulgärlateinisch im Lokativ gekürzt zu *Rigomago zurückgeht, dem romanischen Reliktgebiet „nördliche Rheinlande“ 1 zugerechnet, weil in der ausführlichen Belegreihe Namensformen wie 755 (Kopie) in castro Rigomo und 1087 (Kopie) Remaia und ca. 1089 Riumago auftauchen. Rigomo ist eine auf Haplologie beruhende Kurzform, die auch durch germanische Initialbetonung entstanden sein kann. Von den aus Stavelot in der belgischen Provinz Wallonien stammenden Belegen Remaia und Riumago weist Remaia unter Umständen die mhd. Kontraktion der Lautgruppe /-igi-/, *Rigimago > *Rīmage usw. auf, während Riumago an roman. rivu ‚Fluss‘ angelehnt zu sein scheint. 2 Außer den nördlichen Rheinlanden mit Zonen mehr punktuell „kontinuierlich erhaltener Ortsnamen“ und mit aus dem Lateinischen stammenden Lehnwörtern, die eine flächige Kontinuität bezeugen (Haubrichs 2003: 695f.), macht Haubrichs am Mittelrhein nur vier Zentren länger andauernder Romanität (vor allem Mainz und Ladenburg) aus. Von besonderer Bedeutung ist dagegen die gut erforschte Moselromania, während am Oberrhein nur die so genannte 1 Vgl. Niemeyer 2012: 518. 2 Freundlicher Hinweis von Wulf Müller (Boudry).

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Albrecht Greule

Baselromania in jüngster Zeit eine erste eigene Untersuchung erfahren hat (Greule et al. 2013). Bevor sich unser Blick schließlich auf die Spuren vermuteter romanischer Kontinuität in Bayern südlich der Donau richtet, muss ein Versuch, den Inhalt von „romanisch“ im Zusammenhang mit der Reliktnamen- und Reliktwort-Forschung zu klären, gewagt werden.

2. Was bedeutet „romanisch“? In der Sprachwissenschaft bezeichnet „romanisch“ jene Sprachen, die aus dem im Imperium Romanum gesprochenen Vulgärlateinischen hervorgegangenen sind. Der uns hier interessierende Teil des Römischen Reiches gehörte sprachlich zu der heute so genannten „Westromania“. Die Einteilung der Romania entspricht etwa der des Imperiums der ausgehenden Kaiserzeit (Lausberg 1963: 39, 68). Als lautliche Charakteristika der Westromania gelten erstens die Sonorisierung der intervokalischen stimmlosen Konsonanten. Zum Beispiel gehen Ortsnamen wie Nehren (Lkr. Cochem-Zell, Rheinland-Pfalz), a.1143 Nogera, über westromanisch *Nogeriu auf lateinisch *nucarius ‚Nussbaum‘ zurück. Zweitens gilt im westromanischen Gebiet der Zusammenfall von Kurz- und Langvokalen nach dem italischen Qualitätensystem (Lausberg 1963: 144f.). Kurzes /u/ in *nucarius ‚Nussbaum‘ erscheint wie im Ortsnamen a.1143 Nogera als kurzes /o/, sofern dieser Lautwandel nicht schon ein Reflex der westmitteldeutschen Senkung /u/ > /o/ ist. Drittens der schon vulgärlateinische Schwund des Mittelsilbenvokals in proparoxytonischen Wörtern, z.B. lat. válide > valde (Lausberg 1963: 207). Aus deutschen Ortsnamen und Reliktwörtern vor allem in den Mosel- und Rheinlanden, der deutschen Schweiz und Tirol/Südtirol lassen sich mehrere typisch romanische Suffixe rekonstruieren: /-in-/ z.B. a.889 Phuncina, jetzt Pfünz (Lkr. Eichstätt) und Flussname Pfinz bei Karlsruhe < *pont-ina ‚Brückenort‘; /-(i)an-/ z.B. Flurname a.1534 (Kopie 1744) in der Fúntinen < *fontana ‚Quellort, Brunnenort‘; /-ari-/ z.B. Rifair (Taufers in Südtirol) < *rivari-; /-ell-/ z.B. Alpfelen (Heimwesen, Kanton Bern) < *alpella; /-et-/ z.B. a.1040 Buxita, jetzt Buchsiten (Kanton Solothurn) < *buxétum ‚Buchshain‘; /-ol-/ z.B. a.1278 Riol, jetzt Riol, (Gem. Vahrn, Südtirol), mundartlich /rióul/ < *rivolu; /-on-/ z.B. a.1289 in Pfronten, jetzt Pfronten (Lkr. Ostallgäu) < *frontone. Suffixhäufungen liegen vor z.B. in a.964 Churbelun, jetzt Saarburg (Lkr. TrierSaarburg) < *curvellone; Flurname Rüssel (im Rheinengtal) < *rivuscellu. Auch für den Wortschatz lassen sich aus den Namen romanische Besonderheiten gegenüber dem klassischen Latein herausarbeiten. Dies lässt sich gut an Metaphern im geographischen Namenschatz beobachten, z.B. *conca ‚Talmulde‘ < *concha ‚Muschel‘, *ramu- ‚Seitenarm eines Baches‘, scala ‚stufenför-

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miges Gelände‘, *torrente ‚dürrer Bach‘; ferner *cortinu- ‚Hofanlage‘, kontrahiert aus *cohortīnum; (Fachwortschatz) *camarata ‚gewölbtes Rebendach‘, *maceria ‚Weinbergsmauer‘, *pomeriu ‚Obstgarten‘, *portu- ‚Stapelplatz am Fluss‘. Als „romanisch“ werden aber nicht nur Namen und Wörter angesehen, die die oben aufgezählten sprachlichen Charakteristika aufweisen, sondern auch alle jenen kulturellen Relikte, die wir auf die römische Herrschaft über ein Land und – je nach ihrer Dauer – auf mehr oder weniger intensive Romanisierung zurückführen können. Das sprachliche Kommunikationsmittel war dabei das (großräumig differenzierte) Vulgärlatein, das wir nicht nur aus Namen und Reliktwörtern, sondern auch aus Inschriften und römerzeitlichen Texten bruchstückhaft zu rekonstruieren versuchen. Diese Sprache war auch historisch geschichtet; das heißt: sie bestand nicht nur aus lateinischer Lexik, sondern auch besonders im Namenschatz sind Elemente einer Substratsprache zu finden. Im Falle der Romania submersa in Deutschland war die Substratssprache vorwiegend keltisch. 3 Für die späten Phasen des Vulgärlateins in den an die Germania libera angrenzenden Provinzen sollte man auch sprachliche Einflüsse aus dem germanischen Superstrat nicht ausschließen. Bei der Frage der Tradition der Romanität über das Ende der Römerherrschaft hinaus sollte man ferner nicht die Rolle, die in althochdeutscher Zeit Romanen in den Klöstern und das Klosterlatein spielten, außer Acht lassen. Möglicherweise sind dort, wie ich unten vermuten werde, „echt-romanisch“ anmutende Namen neu gebildet worden. Somit möchte ich Romania (submersa) definieren als einen geographischen Raum im deutschen Sprachgebiet, in dem romanische Namen und Wörter (im oben definierten Sinn) in relativer Häufigkeit/Dichte vorkommen. Im Folgenden schränke ich die Ausführungen auf die Frage ein, ob wir so, wie wir von einer Salzburg-Romania oder Basel-Romania reden, auch von einer „Regensburg-Romania“ 4 sprechen können.

3 Z.B. keltisch *brig-, vgl. Greule 2001. 4 So ein Referatsthema in einem Seminar an der Universität Regensburg im Sommersemester 2013.

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3. Romanische Sprachrelikte in Bayern (besonders im Raum Regensburg) 3.1. Die Römer in Bayern

Auch in der Frage nach einer bayerischen Romanität kann man sich bei Wolfgang Haubrichs Rat holen (Haubrichs 2006). Bezüglich der romanischen Kontinuität unterscheidet er im altbairischen Raum fünf Zonen, von denen nur zwei das heutige Bayern betreffen: den Donaulimesraum (mit Regensburg, Straubing, Künzing, Passau) und den Voralpenraum (Chiemgau). Wir wollen allerdings die Perspektive, die Haubrichs hier einnimmt, dass nämlich die Entstehung des (Alt-)Bairischen im Vordergrund steht und das Romanische ein Substrat ist, für unsere Zwecke differenzieren. Für uns steht das Romanische in Bayern im Vordergrund, in das ein keltisches Substrat integriert wurde und das selbst wieder durch ein germanisches Superstrat überlagert wurde. Die romanischen Sprachreste in Bayern südlich der Donau verdanken wir der Herrschaft der Römer von 15 v. Chr. bis ca. 450 n. Chr. in der von ihnen eingerichteten Provinz Raetia (später Raetia secunda). 5 Hauptstadt der Provinz (municipium) wurde die römische Siedlung im heutigen Augsburg unter Kaiser Hadrian (117-138); sie trug fortan den Namen Augusta Vindelicum bzw. Aelia Augusta. Als erste römische Siedlung im Raum Regensburg konnte die archäologische Forschung das Kastell Regensburg-Kumpfmühl mit Vicus und Kastellbad ausmachen; sie bestand von 79/81 bis zu ihrer Zerstörung in den MarkomannenKriegen 170/171. Im Jahr 179 n. Chr. bezog die dritte italische Legion gegenüber der Mündung des Flusses Regen in die Donau ein gegen Ende der Markomannen-Kriege errichtetes, imposantes Castrum mit Namen Regino castra ‚Lager am Regen‘, das man bei den Germanen später in Lehnübersetzung Reganes burg nannte. Die dauernde Stationierung der 3. italischen Legion in Regensburg […] veranlasste auch einen regional begrenzten ‚Romanisierungsschub‘, da plötzlich mindestens rund 6000 römische Bürger zusätzlich in die Provinz kamen und nicht selten dort auch nach ihrem Ausscheiden als Veteranen blieben (Czysz et al. 1995: 159).

Nach der Blütezeit des römischen Bayern brachten einfallende Germanen in den ersten Jahrzehnten des 3. Jh. in wachsendem Maße Unruhe in die Landstriche entlang der Donau. Nach Errichtung des neuen spätrömischen DonauIller-Rhein-Limes im 4. Jh. wurde das Legionslager Regensburg nicht mehr voll 5 Das Folgende nach Czysz et al. 1995, besonders S. 503-508, vgl. jetzt auch Konrad 2012.

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militärisch, sondern auch von der Zivilbevölkerung genutzt. Regensburg dürfte aber bis ins 5. Jh. hinein, auch nach Abzug der 3. italischen Legion, zum römischen Reich gehört und sein Schutz einer Truppe aus germanischen Föderaten böhmischer Herkunft, den *Bajawarjōz, später romanisch (im Akkusativ) ca. 552, Kopie 8. Jh. Baiobaros, Kopie 11. Jh. Baioarios, oblegen haben (Rübekeil 2012). 3.2. Romanische Namen im Raum Regensburg

Nebst den Personennamen 6 gilt die Aufmerksamkeit der Forschung besonders den Ortsnamen, „welche am Ort haften und eine Kontinuität der Überlieferung am Ort notwendig machen. (…) Sie sagen uns etwas über die Kontinuität von romanischer Zeit bis ins frühe Mittelalter (…)“. 7 Die von dem Archäologen Arno Rettner (2004: 282-285) unter dem Titel „Romanische und andere vorgermanische Ortsnamen sowie romanisch-germanische Mischnamen in Bayern“ zusammengestellte Liste bedarf allerdings einer gründlichen Bearbeitung durch Sprachwissenschaftler. Das gilt auch für Arno Rettners „Korrekturen und Nachträge zu romanischen Ortsnamen in Südbayern“ (Rettner 2012). Für den ersten Kontinuitätsraum, jenen am Donaulimes, in dem sich der Teilraum Regensburg befindet, verzeichnet Wolfgang Haubrichs eine ganze Reihe von Ortsnamen. 8 Auf Regensburg und seine Umgebung begrenzt handelt es sich: 9 1) um den Flussnamen Reginus/Regen, im Ortsnamen Regino castra; 2) um den Flussnamen *Noba, germanisiert Naba/Napa, jetzt Naab; 3) um den Flussnamen *Labara/Laaber; jenseits der Donau; 4) um den Ortsnamen *Karrīna (via), jetzt Kareth, als Lehnübersetzung heute Steinweg. Problematisch sind: 5) der Name eines nicht lokalisierten Königshofs Regenunto, der irgendwo am Regen vermutet wird (Regensburg-Reinhausen, Regensburg-Sallern?); 6) der Name des zu weit nördlich von Regensburg entfernt am Zusammenfluss von Vils und Naab liegenden Ortes *Kalmontia/Kallmünz. Der Ortsname (Ober-/Nieder-)Winzer (Stadt Regensburg), 863/85 (Kopie 10. Jh. Uuinzara ‚die Weinbauern‘, ist wie Zeitlarn bei Regensburg (1148/56 de Cidelaren ‚bei den Imkern‘) ein sogenannter Handwerkername, der nichts zur Romanität beiträgt.

6 Vgl. die umfängliche Liste romanischer Personamen im Altbaiern bei Haubrichs 2006: 451-462, und eine Aufzählung keltischer Personennamen in Bayern bei Czysz et al. 1995: 184. Zum Namen Sarmanna auf einem Regensburger Grabstein des späten 4. und frühen 5. Jh. vgl. Wagner 2005. 7 Haubrichs 2006: 429. 8 Haubrichs 2006: 430-432. 9 Das Folgende nach Prinz 2007, vgl. auch Janka 2012.

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Als so genannte Hybridnamen, in denen ein altbairischer Siedlungsname mit dem germanischen Suffix -inga- von einem romanischen Personennamen abgeleitet ist, gelten: (Regensburg-)Prüfening (PN. roman. *Probin-), Thalmassing (PN. roman. *Dalmati-), Massing (PN. roman. *Mars-), (Ober-/Neu-)Traubling (PN. kelto-roman. *Trougobit-), Barbing (PN. roman. *Barb-) und (Ober-/Unter-)Sanding (kelto-roman. PN. *Samud-). Die Orte liegen in einem südlichen Halbkreis um die Stadt Regensburg. Obwohl das Gebiet der heutigen Stadt Regensburg den Donaubogen am nördlichsten Punkt des Flusses ausfüllt, kann der Name der Donau, mhd. Tuonouwe, nicht ohne weiteres als romanisches Relikt in Anspruch genommen werden. Der indogermanische Name wurde in seiner keltischen maskulinen Form *Dānowjos ins Lateinische als Danuvius und als Femininum *Dānowjā früh in die Sprache von Germanen übernommen. Die Anpassung des Namens an germanisch *a(g)wjō f., ahd. ouwe ‚Land am Wasser, Aue‘, als *Dōnawjō, mhd. Tuon-ouwe könnte freilich auf das verzweigte Mündungsgebiet des Regens vor dem römischen Lager Regino hindeuten (Greule 2014: 100). Noch immer rätselt die Forschung, wie Radaspona, der andere Name für Regensburg, zu beurteilen ist. Er wird gewöhnlich für keltisch, also vorrömisch, gehalten, ist aber erst in der von Arbeo von Freising verfassten (ersten) Lebensbeschreibung des heiligen Emmeram belegt. Die älteste Handschrift, in der die Vita überliefert ist, stammt aus dem frühen 9. Jh. Radaspona ist bei Arbeo der Name der prächtigen Stadt, in der der bairische Herzog zur Zeit Emmerams, also in der zweiten Hälfte des 7. Jh., residierte. Noch im 8. Jh. taucht Radaspona auch in einer Freisinger Traditionsurkunde (a. 772 ad Radasponensem urbem in ecclesia beati Emmerammi), also in einem Rechtsdokument, auf. Das Problem der Überlieferung (warum hat dieser Name die Römerzeit ohne jede Spur gleichsam übersprungen und taucht erst im 9. Jh. wieder auf?) und Schwierigkeiten bei der Erklärung des Namens aus dem Keltischen nähren die Vermutung, dass es sich um ein künstliches Gebilde handelt. Man kann sogar so weit gehen zu vermuten, dass es sich bei Radaspona um einen althochdeutsch-lateinischen Mischnamen handelt, den Arbeo vielleicht selbst erfunden hat. Immerhin kann man annehmen, dass der Erfinder des Namens die Bildung von Ortsnamen wie Augusto-bona, Iulio-bona und vor allem Vindo-bona (Wien) durchschaute: Er konnte darin den Namensbestandteil -bona mit lateinisch bōna ‚Güter‘ identifizieren und dieses Wort mit althochdeutsch rāt „consilium“ (im Genitiv rātes) verbinden. Altertümlich sollte der Name erscheinen, indem Rād- mit -d- geschrieben und der Genitiv mit -as gebildet wurde: *Rādas-bōna, woraus Radaspona, Ratesbona oder Ratisbona, der (kirchen)lateinische Name der Stadt, entstand. Radaspona wäre demnach ein im 8. Jh. (in Freising?) geschaffener Klostername, eine lateinisch-althochdeutsche

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Mischbildung, für das Kloster in Regensburg, das heute St. Emmeram heißt. Als Grund für diesen Fall von mittelalterlicher Namenlenkung vermuten Historiker, dass zumindest der Text der Traditionsurkunde von a. 772 in St. Emmeram in Regensburg selbst verfasst und damit auch der Name Radaspona/Ratesbona dort erfunden wurde. Das hätte die weit reichende Konsequenz, dass möglicherweise auch die erste Emmeramsvita hier konzipiert wurde - dies alles vielleicht im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den bairischen Metropolitansitz, den Salzburg und nicht Regensburg erhielt. Ferner würde es bedeuten, dass die Tradition der Namenserfindungen im Kloster St. Emmeram nicht erst im 11. Jh., sondern schon im 8. Jh. begann. 3.3. Regensburg-Romania?

Lassen wir das Ergebnis der Untersuchung Revue passieren, so können wir als Erbe der Romanen in Regensburg eine zwar lange Liste von Personennamen aufstellen; sechs Personennamen sind in Ortsnamen mit der typisch germanischen Endung -inga- „verbaut“. Ortsnamen, denen Wolfgang Haubrichs die größere Beweiskraft zuschreibt, gibt es aber nur vier sichere und drei unsichere (Radaspona, Regenunto, Kallmünz). Die Frage, ob bei dieser Sachlage von einer Regensburg-Romania im Sinn der obigen Definition, wonach in dem Raum romanische Namen und Wörter in relativer Häufigkeit/Dichte vorkommen müssten, gesprochen werden kann, sollte im Vergleich mit schon länger bekannten und erforschten Romaniae submersae beantwortet werden, z.B. mit der Basel-Romania 10 und der Salzburg-Romania. 11 Beide Romaniae submersae weisen eine jeweils größere Anzahl von romanischen Ortsnamen auf, sind aber auch auf einen größeren Raum um die jeweiligen Munizipien verteilt, als das bei Regensburg der Fall ist. Besonders Salzburg lag zudem nicht am Limes wie Regensburg. Zum Vergleich sollte in Bayern weiterhin die Romanität der Provinzhauptstadt Augsburg zwischen den Flüssen Lech und Wertach und die der Dreiflüssestadt Passau herangezogen werden. Beide harren jedoch noch ausführlicher Untersuchungen. 12 Um zu einer vergleichbar großen Zahl romanischer Ortsnamen (und vielleicht auch romanischer Reliktwörter) im Raum Regensburg zu kommen, müsste die Perspektive sowohl Donau aufwärts etwa bis Eining/Abusina als auch Donau abwärts bis Passau erweitert werden. Damit erhielten wir eine „Romanitätszone“, in der sich entlang des nassen Limes in Bayern weitere romanische Ortsnamen in großer Zahl finden lassen, z.B. 10 Greule/Kully/Müller/Zotz 2013. 11 Haubrichs 2006:437-440. 12 Zu den romanischen Namen um Passau vgl. Greule 2005.

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Abusina/Abens, Sala/Saal, Sorviodurum, Isara/Isar, Quintianis/Künzing, Boiodurum/Passau-Beiderwies, die wir aber dann nicht mehr „Regensburg-Romania“, sondern ehrlicher „die (bayerische) Donau-Limes-Romania (submersa)“ nennen sollten.

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Francisco A. Marcos-Marín Sobre ciertas características que contribuyen a la configuración del español de San Antonio, Tejas

Esta contribución busca una aproximación etnolingüística, en la que el término está tomado en un sentido muy amplio y un tanto vago, que mezcla consideraciones antropológicas, culturales, sociales y lingüísticas. Se propone presentar qué y cómo es San Antonio, qué tipos humanos se han instalado allí a lo largo del tiempo y cómo han ido introduciendo sus rasgos culturales, todo ello en el marco de la lengua española introducida y desarrollada, mantenida o perdida por esos seres humanos. Sigue teniendo pleno valor la afirmación de Sapir (1921, en 1954: 30): “El lenguaje, en cuanto estructura, constituye en su cara interior el molde del pensamiento”. Me permitiré hablar ahora en primera persona para explicar someramente qué significa para mí este estudio – algo diferente de otros que lo han precedido – y por qué lo he considerado apropiado para rendir homenaje a Franz Lebsanft. Desde que, en 1998, tuve ocasión de reseñar su libro sobre el español en la entonces nueva sociedad de la información (Spanische Sprachkultur. Studien zur Bewertung und Pflege des öffentlichen Sprachgebrauchs im heutigen Spanien), he tenido la oportunidad de mantener con él una relación constante, no tanto por la frecuencia con la que nos hayamos visto, sino por la constancia con la que hemos ido siguiendo las producciones del otro. La coincidencia también en algún comité evaluador y su respuesta a alguna de mis solicitudes lingüísticas me han permitido apreciar su equilibrio y generosidad. Se trata de una de esas personas que, sin grandes ruidos, enriquecen nuestra vida y a la que nos gusta dar las gracias. El modo de hacerlo aquí es compartir una serie de experiencias y reflexiones que he querido englobar en esta contribución sobre mi percepción del español en y de los Estados Unidos, que es, a falta de un adjetivo mejor, contradictoria. Por un lado soy plenamente consciente de que la sociedad civil hace un enorme esfuerzo de integración en lo que se ha dado en llamar ‘panhispanismo’ y, por otro, de que “vivir desviviéndose”, el rasgo con el que Américo Castro, a partir de 1948, caracterizó repetidamente a los españoles,

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se ha transferido a los hispanos o latinos (hasta en la vacilación del nombre se manifiesta).

1. Marco geográfico-histórico Para el presente estudio el marco es el del norte del Virreinato de la Nueva España. El Imperio español, en América, tuvo Reinos (virreinatos al estar gobernados por virreyes), como Nueva España o el Perú. La mayor parte de los territorios del Virreinato de la Nueva España fue incorporada a los Estados Unidos en dos etapas: la primera fue la independencia de Tejas (1836), seguida poco después de su incorporación a la Unión americana (1845) y la segunda el tratado de Guadalupe Hidalgo (1848) tras la guerra entre los Estados Unidos y México. Esta guerra tuvo muy importantes consecuencias para la población hispana, porque, como dicen: “nosotros no nos movimos, nos movieron la frontera”. Este concepto de la frontera administrativa es totalmente distinto de la frontera étnico-cultural, porque explica en buena medida por qué la frontera se percibe por los hispanos como un espacio muy diferente de lo que pretenden los gobiernos de Estados Unidos y México. San Antonio está situado en el sur de Tejas, en el condado de Béxar. Se menciona a menudo como sencillamente Béxar o, por el santo que dio uno de los primeros nombres en español al topónimo, San Fernando de Béxar. La Catedral de San Fernando es el edificio religioso de uso continuo más antiguo de los Estados Unidos. Se encuentra entre el país de las colinas o Hill Country, al norte y noroeste, y las planicies costeras del Golfo de México. Su área de influencia es más amplia y abarca los condados circundantes, desde el norte, en el sentido de las agujas del reloj: Kendall, Comal, Guadalupe, Gonzales (sin frontera con Bexar), Wilson, Atascosa, Frio, Medina y Bandera. Al oeste de Bandera se encuentra el condado de Uvalde, de singular importancia para el factor geográfico más relevante, el agua. El acuífero que surte de agua potable a San Antonio se encuentra debajo de Uvalde y se extiende desde allí hacia el este. En altura sobre el nivel del mar, Tejas tiene un suave descenso de oeste a este, que explica que los ríos, en general, fluyan hacia el este y desemboquen en el Golfo de México. Los ríos de Tejas, excepto en pocos casos, en ciertas épocas y en su desembocadura, no son navegables, lo que, hasta la llegada del ferrocarril, redujo mucho la movilidad de los habitantes, concentrados, todavía en 1850, sobre todo en el sureste y el centro-sur. El área de San Antonio, salvo en lo que se refiere a las colinas del norte y noroeste, es un área plana, con buen arbolado de la especie del roble (encinas, quejigos, alcornoques, robles), además de otras especies resistentes a los períodos de sequía, como mezquites, huisaches y dis-

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tintas variedades de acacias. La pluviosidad en Tejas también aumenta de oeste a este. Se diferencia esta zona tanto de la zona desértica del oeste como de la región arbolada y lluviosa del este. La similitud con el sur de la Península Ibérica no provocó una atracción masiva. Tejas se agrupaba con Coahuila en una unidad administrativa. El acceso a la región era difícil, dificultado por la franja desértica mexicana, en el interior, y por los bajíos de la costa, muy arenosa. Fue la necesidad de establecer una frontera clara con la Luisiana y de impedir la expansión francesa hacia el oeste la que obligó a España a mantener unas tropas y unos presidios o fortalezas en la región. Con ellos llegaron también los misioneros. Los distintos cambios en la posesión de la Luisiana, primero francesa, luego española, de nuevo francesa y finalmente norteamericana, hicieron que los puestos fronterizos cercanos al Misisipi fueran trasladados más hacia el oeste. Muchas misiones fueron trasladadas y refundadas en otro lugar y vueltas a trasladar más tarde. En resumen, hasta el primer tercio del siglo XIX, Tejas contó con muy poca población y ofrece una notable movilidad en los establecimientos europeos militares y religiosos. La progresión en el siglo XVIII fue muy lenta y su resultado más notable fue el origen de San Antonio. Pedro de Aguirre, en 1709, dirigió una expedición a la región donde luego se fundaría San Antonio, en la que participaron varios misioneros, especialmente Fray Antonio de Olivares. Tras idas y venidas de éste a España y haber convencido al virrey, se aprobó que el gobernador de Coahuila y Tejas, Martín de Alarcón, apoyara el establecimiento de una misión, en 1716: San Antonio de Valero, más conocida como El Álamo. A un kilómetro y medio de distancia, en el margen occidental del río San Antonio, se fundó el presidio. Recuérdese que existió desde el principio una separación entre los misioneros y los soldados. Los primeros dependían en su mayoría de Querétaro, que acabó unificando la coordinación, sobre Zacatecas. Los indios estaban encomendados también a los misioneros. El grupo inicial lo constituyeron los indios payayas. En general, se trata de los llamados “coahuiltecos”. Los apaches lipanes estaban en el suroeste de la región antes del siglo XVI. Los otros apaches, los comanches y los kiowas entraron en Tejas a partir del siglo XVIII. Los comanches, especialmente, fueron un peligro constante para los indios acogidos en los terrenos misioneros y también estuvieron sometidos a la influencia de éstos (Marcos-Marín 2011). Los apaches, entre México y Tejas, aprendieron el español y todavía hoy se pueden encontrar hablantes de español entre los apaches de Tejas. También son bastantes los coahuiltecos que hablan español. Se trata de una variedad que ha ido incorporando las nuevas variantes aportadas por los sucesivos pobladores hispanos de la región, predominantemente mexicanos, al menos en lo que concierne al español de los indios.

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El 9 de marzo de 1731 llegaron a San Antonio 55 colonos canarios, enviados desde España, miembros de 16 familias, sobre todo de Lanzarote. El 2 de julio iniciaron la construcción de una ciudad que, inicialmente, se llamó San Fernando de Béxar y el primero de agosto de 1731 se constituyó el Cabildo, como institución de gobierno, por convocatoria del Capitán del Presidio, Juan Antonio de Almazán. Fueron canarios, exclusivamente, quienes compusieron este primer gobierno municipal del estado de Tejas y sus descendientes quienes luego fueron los primeros cien alcaldes de la nueva ciudad. En 1731, por lo tanto, lo que se fue convirtiendo en San Antonio estaba distribuido entre el Presidio, al oeste, la Misión, al este, y la ciudad de San Fernando, en el centro, donde todavía hoy se conservan la Catedral y el pomposamente llamado Palacio del Gobernador. Estas tres fuerzas no siempre se movieron al unísono y los pleitos y diferencias entre ellas fueron reiterados. El crecimiento de la ciudad estuvo ligado a la solución del problema del agua. El río San Antonio atraviesa la zona, que es rica en fuentes naturales. Fray Antonio de Olivares, en 1709, había iniciado los trabajos de construcción de la primera acequia, la Acequia Madre de Valero. Entre San Pedro Springs, al norte y la misión de San Francisco de Espada, al sur, la última de las cinco que dan un aire especial a San Antonio, se fue desarrollando el sistema de distribución del agua, necesario para sobrevivir a los períodos de sequía, garantizar las cosechas necesarias para una población creciente y mantener el flujo de indios incorporados al sistema misional. En San Antonio los indios no fueron entregados a encomenderos, formaban parte del sistema de las misiones y no sólo se procuraban su propio sustento, sino que también vendían sus productos a los sanantonianos. La cría de ganado en el Rancho de las Cabras, al sur, dependiente de la Misión Espada y llevado por indios, supuso una notable competencia a la cría de ganado de los canarios y origen de bastantes pleitos. Esta situación duró hasta la secularización de las misiones en el último tercio del XVIII y pasó hacia 1805 a una nueva estructura social, con la entrega de las tierras y los rebaños a los colonos, muchos de ellos indios. A principios del siglo XIX, poco antes de la independencia mexicana, que provocaría el primer gran cambio demográfico, San Antonio contaba con una población lingüísticamente homogénea, con la variedad canaria y la del norte de la Nueva España, más algún acento individual de los soldados del presidio y algunos viajeros. Esta población se basaba en la agricultura y la ganadería, más los derivados de éstas, como las harinas, los tejidos y los cueros. Para todo ello era esencial la distribución del agua, con un sistema que sigue siendo el vigente en la actualidad y que requiere un equilibro entre acequias y molinos. Es preciso tener en cuenta (Glick 2007, 2010), que el agua se asocia a la tierra, es decir, la propiedad de la tierra implica la propiedad de una parte del agua o,

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si se prefiere, el derecho a usar una tanda de riego, la que se haya establecido como necesaria. Un tipo andalusí del paisaje hidráulico transformado, agrícola, se inicia en el Yemen, es decir, incluye a hablantes árabes sudarábigos. El paisaje correspondiente, en el Yemen, está relacionado con la retención del agua de escorrentía, mediante unos complejos mecanismos de captación que la van derivando hacia embalses cerrados por diques. Estos mecanismos, según Glick (2007: 117), son tan complejos como los que se desarrollan para captar el agua de fuentes. La distribución del agua está relacionada con una amplia terminología, estudiada por Espinar Moreno y otros en 1989. Un modelo está relacionado con un préstamo del árabe al léxico agrícola, la dula, dawla en árabe clásico. El término es empleado en el sistema yemení de riego, en oasis saharianos, en el sur y sureste de España y en Canarias (Espinar Moreno et al. 1989: 124). En su estudio del Atlas Lingüístico de Andalucía, Julio Fernández Sevilla, en 1975, documentó dula en algunas localidades de la provincia de Granada, frente a la palabra más frecuente, tanda, que es otro arabismo (< tanẓīm ‘disposición en serie, regulación’). El sistema de riego y su terminología se llevó a Canarias y, muy posiblemente desde allí, llega a San Antonio, Tejas (Glick 1972, 2010). Desde el punto de vista del paisaje, se relaciona con la utilización de acequias para el riego y para mover molinos hidráulicos, en una alternancia que se sigue regulando, de acuerdo con el sistema andalusí, localmente. El sistema de regulación, el turno, es la dula. En la dula “a la valenciana” el regante, dentro de su turno, toma el agua que quiere. San Antonio sigue un sistema diferente del valenciano, el sistema canario de Tenerife, y la dula equivale allí a un día de agua. También, por cierto, desarrolla un uso específico, no explicado, aunque sí citado, en otros lugares, el de “una medida de tierra, equivalente a la suerte”, por Espinar et al. (1989: 125), quizás la tierra que se podía regar con una dula. La propiedad de la tierra está vinculada al derecho a disponer del turno correspondiente de riego. La vinculación del paisaje y la lengua es tan fuerte que, en las zonas en las que se han destruido las acequias al sur de San Antonio, en el área de la Misión San Juan, la comunidad original se ha disgregado, mientras que donde se han mantenido, en el área de la Misión de San Francisco de Espada, la comunidad, con su lengua hispana, también ha pervivido. La independencia de México (1821) conllevó cambios profundos en la región estudiada. Los habitantes de Tejas, concentrados sobre todo en esta zona sur, se manifestaron desde muy pronto por su independencia, que consiguieron, finalmente, en 1836. Fue consecuencia de la progresiva instalación de colonos anglos, que fueron instalándose gracias a los acuerdos de sus líderes con el gobierno mexicano y la farsa de una conversión al catolicismo que se deshizo en poco tiempo. Pero la Constitución liberal mexicana de 1824, que rechazaba la

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esclavitud, no les convenía, puesto que las vastas áreas de Tejas requerían, para estos colonos, mano de obra esclava, como en el Sur de los Estados Unidos, imprescindible entonces para el cultivo del algodón. En realidad, la compra de la Luisiana por los Estados Unidos al gobierno francés napoleónico, en 1803, marcó el destino de Tejas. Para los Estados Unidos era la puerta hacia el suroeste, convicción que se aceleró tras la independencia mexicana y la comprobación de su debilidad en la guerra tejana. Las condiciones de la anexión fueron ventajosas para los tejanos: Tejas conservó los terrenos públicos, el derecho a dividirse en cinco estados y lo garantizó mediante una resolución conjunta de las cámaras legislativas norteamericanas. La independencia y la casi inmediata incorporación a los Estados Unidos tuvieron también ventajas para los hispanos: se les reconoció el derecho a sus tierras y se dio validez a la documentación española. Tejas, como estado esclavista, luchó con la Confederación y sufrió, por lo tanto, las consecuencias de la Guerra Civil. Sin embargo, para entonces, ya se había establecido como centro ganadero, con rutas de transporte bien establecidas hacia el norte, que culminaron con el ferrocarril. Éste convirtió a San Antonio, además, en el gran centro de comunicaciones entre México y la Unión, dando a la ciudad un valor que conserva hoy, el de un centro cultural de México. El transporte en Tejas, debido a la mala calidad de los caminos y a su dificultad en época de lluvias, así como a la no navegabilidad de los ríos, era caro y muy limitado, especialmente cuando la independencia y la mano de obra esclava permitieron el cultivo del algodón. El Handbook of Texas History (Railroads) proporciona un ejemplo claro: una carreta de bueyes podía llevar tres balas (500 libras cada bala, algo menos de 227 kilos) de algodón a un costo de veinte céntimos por tonelada y milla, recorría unas pocas millas diarias. Sólo diez años después de que se autorizara el primer sistema de ferrocarril en los Estados Unidos, el I Congreso de la República de Tejas, el 16 de diciembre de 1836, aprobó el sistema tejano; pero las oposiciones internas dieron al traste con él en dos años. Un viaje que, en la época de lluvias podía durar día y medio, con pernocta incluida, podía hacerse en una hora y cuarenta minutos en ferrocarril. Aunque para un europeo parezca ridículo invertir ese tiempo para recorrer 56 kilómetros, la diferencia era y es evidente. La guerra civil causó daños y retrasos y hasta 1870 no se contó con un sistema medianamente eficaz en las zonas pobladas. En los diez años siguientes la ampliación fue muy notable, hasta 1890, cuando lo fundamental del sistema estaba construido y se podía enlazar con el mexicano. Esto hizo de San Antonio el gran centro de comunicaciones con México que sigue siendo hoy (aunque ahora fundamentalmente por carretera) y atrajo a mexicanos de notable importancia en la política mexicana posterior, en los orígenes de la Revolución de 1910. El más notable fue Francisco Ignacio

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Madero, el autor del Manifiesto de San Luis de Potosí, que se escribió en San Antonio, donde Madero estaba exiliado; pero se publicó en la hacienda de Madero en San Luis. La Revolución produjo un gran movimiento humano en el sur de Tejas, hasta San Antonio. Fueron muchas las familias que escaparon y el ferrocarril favoreció esa huida. Otros se habían beneficiado del trabajo aportado por el ferrocarril, no tanto como constructores (trabajo de chinos, sobre todo), sino con las varias actividades relacionadas con el ingente movimiento humano que el tendido de las vías propició. Jack Skiles ha estudiado ese proceso etnográfico. Son años de prosperidad y de fuerte inmigración que llegan hasta la crisis bursátil de 1929. Empezó entonces el éxodo a un México que ya no los reconoció, los trató de pochos, por las variaciones de su español, anglicado, y se abrió la primera brecha seria entre los hispanos y los mexicanos de México. Algunos de estos aspectos diferenciadores se observan en el estudio de Hilda Velásquez sobre las marcas culturales de la publicidad para hispanos y el tipo de elementos mexicanos que utiliza o descarta. En 1929 se completó, catorce años después de su inicio, otro gran proyecto que había requerido mucha mano de obra, el Old Spanish Trail de St. Augustine, FL, a San Diego, CA, un recorrido de 4 533,5 kilómetros, no totalmente pavimentado. En Tejas se convirtió en la carretera 90, que recorre el sur del estado y une, paralela al trazado férreo, San Antonio y El Paso, aunque el recorrido hoy se hace normalmente por la autopista I-10. Conviene aclarar que El Paso, que había sido tradicionalmente el centro de comunicaciones de México y Nuevo México, no había sido el lugar de tránsito entre México y San Antonio. El Camino Real de los Tejas discurría mucho más al este. El ferrocarril y la carretera cambiaron este estado de cosas. Algunas diferencias permanecen, El Paso tiene la hora de Nuevo México, una hora menos que San Antonio.

2. El movimiento chicano y la raza Entre 1929 y 1941, entrada de los Estados Unidos en la segunda guerra mundial, se produjo un cierre laboral de la frontera que se invirtió en 1941, cuando la guerra obligó a contratar mexicanos para trabajos que antes desempeñaban los ahora soldados. Uno de sus resultados (Marcos-Marín 2006) fue la aparición del movimiento chicano. Además de las consecuencias culturales, como el Teatro Campesino, su repercusión en la música, el cine y los movimientos de reivindicaciones obreristas, en los que destaca el nombre de César Chávez, debe recordarse que no se trata de un movimiento reivindicativo de la lengua española, sino de lo que para los latinoamericanos, especialmente entre México y el Paraguay, recibe el nombre de raza. Se trata de un sustantivo que designa una

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percepción antropológica-cultural de la realidad, más que una diferencia étnica; pero que tampoco está totalmente exento de algunas implicaciones étnicas. Trujillo, en 2011, definió la raza, en su glosario, en dos sentidos. El primero, restringido, es el uso chicano, en que se trata de una distinción de base étnica con el sentido de “uno de los nuestros”, subrayando la pertenencia a un grupo autodelimitado. En un segundo uso, más amplio, se trata de “todos los pueblos de las Américas con algunas raíces culturales españolas” (el texto dice spanish lo que hace pensar si no sería mejor traducirlo, en este caso, por hispanas). En los Estados Unidos los chicanos vinculan la raza a la reclamación de Aztlán, el mítico territorio indio, ligado a los aztecas, que, por supuesto, nunca estuvieron, a lo largo de su historia, en la mayor parte de él. También hay que tener en cuenta, para explicar cómo la distinción se ha conservado después de más de ciento cincuenta años, que el grupo chicano se mantiene como un grupo étnicamente diferente porque los contactos con los anglos han tenido lugar a través de las líneas de clase: en un lado estaban los chicanos, como representantes del proletariado, y en el otro los anglos, como representantes de la clase media. Hay también una jerarquía en el trabajo, en la que los chicanos han ocupado tradicionalmente el nivel más bajo. Son factores propios de las sociedades en las que existen lo que se llama ‘colonias internas’ y, como es natural, es una de las razones que explican por qué se puede encontrar una gran oposición, en ciertos padres, a que sus hijos reciban una educación bilingüe: quieren deshacerse del español, para que sus hijos, monolingües en inglés, puedan salir de la clase a la que se han visto reducidos los padres. A finales de los años sesenta y en los setenta, dentro del amplio movimiento social, especialmente estudiantil, se originaron repercusiones serias del movimiento chicano en el ámbito educativo. El incremento de la inmigración requería programas de enseñanza que tuviesen en cuenta a los hijos de esos inmigrantes. El programa Becas para Aztlán, diseñado para que estudiantes chicanos pudieran seguir estudios en México. Se creó como consecuencia de la preocupación de los líderes del Raza Unida Party (el Partido Raza Unida o, simplemente, el Partido) por tener especialmente médicos, investigadores y profesionales de las ciencias sociales en las crecientes comunidades hispanas; pero también contó con financiación del gobierno de México. El principal interés del Partido se centró en conseguir el control de los municipios con suficientes votantes hispanos y de los distritos escolares, con el objetivo de desarrollar programas bilingües y biculturales. La idea del bilingüismo debe entenderse claramente en el sentido de que se pudiera utilizar el español, sin ningún tipo de pretensión cultural o normativa, sino como una medida de presión y diferenciación. Conviene no olvidarlo, porque explica el conocimiento insuficiente de muchos de los profesores de español en las

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escuelas de Tejas (y otros lugares, sobre todo del Suroeste) en la actualidad y el apoyo que recibe la idea del ‘español de herencia’, es decir, una variante lingüística limitada por su ámbito doméstico y sin fondo cultural más amplio. Naturalmente, la recuperación de ese español que es todavía parte de la vida familiar, generalmente de dos generaciones anteriores, sería un trabajo valioso; pero la pretensión de que tener una abuelita hispanohablante implica unas mejores condiciones para aprender el español no cuenta con ningún fundamento científico y, lo que es peor, lleva a posturas de rechazo de todo lo que se salga del propio pegujal.

3. Demolingüística mínima El censo de 2010 y sus desarrollos posteriores permiten tener una idea clara de la distribución de la población en los condados del área y los porcentajes de población que se declara hispana. Hay que insistir en que no significa que se trate de anglohablantes. Se ha desarrollado el término de ‘hablantes de herencia’, ambiguo como pocos, porque en muchas ocasiones estos supuestos herederos del español no manifiestan ningún interés por conservar el idioma, en el que, especialmente en los sectores más pobres de la población, no ven ninguna ventaja, lo que incide en el sistema escolar. La proyección de la población, sólo de la parte central de este conjunto de condados, para 2013 era la siguiente: Nombre del área

Total

Anglos Negros Hispanos Otros

San 2.285.163 796.962 138.905 1.256.102 93.194 Antonio (34,8%) (6%) (54,9%) (4%) New Braunfels MSA Tabla 1: Proyección de la población para 2013

Esta mayoría del 54,9% se incrementa hasta el 63,3% si se consideran los datos de los condados del este, sur y oeste. Bexar es el cuarto condado de Tejas por población, precedido de Harris (Houston), Dallas y Tarrant (Fort Worth). Los datos que proporciona el censo de 2010 sobre la población hispana de San Antonio son los siguientes:

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Origen Mexicano Puertorriqueño Cubano Centroamericano Suramericano

Total 705,530 13,164 2,468 10,735 5,698

% 84,10 1,57 0.29 1.28 0.68

Tabla 2: Población hispana de San Antonio (2010)

Si bien las cifras de la población que se declara de origen mexicano son elevadas, se puede apreciar una sociedad hispana crecientemente compleja, con una minoría de casi el 16% de hispanos no mexicanos. Para distribución de la población hispana, históricamente, véase Marcos-Marín (2012, 2013). El índice de crecimiento de población del estado de Tejas es del 20,59% muy superior al nacional 9,71%. El índice de San Antonio se sitúa entre ambos, 15,97%. La mayor concentración hispana, por tanto, corresponde al sur del estado y tiene su mayor centro urbano y de prestigio en San Antonio.

4. Educación y educación bilingüe Uno de los argumentos recogidos en la Declaración de independencia de Tejas, en 1836, fue precisamente la incapacidad del gobierno mexicano para desarrollar un sistema educativo público en Tejas. Para comprender el sistema educativo de San Antonio es necesario hacer una breve introducción. El control general, la autorización para abrir o la decisión de cerrar las escuelas, depende de la Texas Education Agency, con sede en la capital, Austin. La agencia administra también las pruebas de Evaluación de Conocimiento y Habilidades (TAKS en inglés). El estado se divide en distritos escolares independientes, que son varios en una ciudad grande. San Antonio cuenta con siete distritos. El modelo actual se basa en el plan federal de educación de 2002, No Child Left Behind, que responsabiliza a las escuelas de los resultados de las pruebas estatales y el índice de abandono escolar de acuerdo con un baremo que se basa en cuatro grupos de estudiantes: whites, hispanics, african-american y económicamente desfavorecidos. Un complejo sistema de financiación garantiza un relativo equilibrio entre los distritos de los barrios ricos y los de las zonas pobres. Las dificultades no se originan principalmente como consecuencia de las diferencias económicas, sino como consecuencia de la calidad de los gestores educativos, en último término elegidos por los ciudadanos. El 17 de mayo de 1954, en el juicio de Brown contra el Consejo de Educación de Topeka, el Tribunal Supremo de los Estados Unidos, presidido por Earl Warren, declaró que la segregación racial en las escuelas violaba la Cláusula

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sobre Protección Igualitaria de la Decimocuarta Enmienda a la Constitución de los Estados Unidos, basado en que la separación por escuelas de estudiantes blancos y negros negaba la igualdad de oportunidades en educación. Conseguida la igualdad de acceso a las escuelas, sin distinción de raza, el paso siguiente, esencial para el movimiento chicano, fue la lucha por la enseñanza bilingüe y bicultural. Téngase en cuenta que lo realmente importante de ese binomio adjetivo es el segundo, bicultural. La preocupación lingüística es muy desigual, los estándares pueden ser muy bajos, puede haber un rechazo decidido a la norma, reflejado en una ignorancia palmaria de la ortografía y, en general, lo que interesa es el español de los Estados Unidos, el de la ‘raza’, no el español en el mundo. Este aspecto, como ha estudiado bien Hilda Velásquez, también se manifiesta en la publicidad para hispanos, reducida al ámbito interno (domestic). En 1968 se aprobó la ley de educación bilingüe (Bilingual Education Act). El artículo VII de la ley autorizaba la cesión de financiación federal a los distritos interesados en el desarrollo de la educación bilingüe y también a los investígadores de las distintas cuestiones implicadas. El cambio era notable, aunque la financiación, tras el correspondiente concurso, sólo llegó a un número limitado de distritos. Si entre 1880 y 1968 lo esencial era la política lingüística asimiladora, a partir de 1968 se abrió una época más cercana al espíritu de la Constitución y se favoreció, a veces muy tímidamente, una educación que respetara los rasgos de las minorías, especialmente la ya mayoría en bastantes distritos, la hispana. Cinco supuestos, según Paulston, en 1978, habrían guiado el desarrollo de la educación bilingüe: el primero de ellos la conciencia de sus ventajas en la igualdad de oportunidades. El segundo de ellos se refiere a su importancia en el desarrollo del conocimiento de la cultura de la “lengua madre”, para lograr así un equilibrio entre las dos culturas. En tercer lugar se menciona su importancia metodológica: las ventajas de la educación en la “lengua madre”. El cuarto supuesto es que la destreza en el manejo de las dos lenguas a partir de la primera incrementa las habilidades para el aprendizaje, lo que redunda en el éxito educativo del alumno. Finalmente, la quinta, que nos llevaría de nuevo a Sapir, es la conciencia de una relación entre el lenguaje y la cognición, lo que incluye el desarrollo cognoscitivo. Recuérdese que, para Paulston, el cambio de lengua es un parámetro de integración en la nueva sociedad. La educación bilingüe, en consecuencia, se dirige a la mejor integración del alumno en la sociedad a la que pertenece, la norteamericana. Sesenta años después del caso Brown, un estudio de la Universidad de California en Los Ángeles, con el sugestivo título de Brown at 60 apunta a la pervivencia de la segregación en las escuelas de Tejas, de una forma, por

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supuesto, más sutil. En los barrios de mayor concentración de latinos, sureste, sur y oeste de San Antonio, más de la mitad de todos los latinos asisten a escuelas en las que al menos el 90% de los alumnos proceden de las minorías desfavorecidas (hispanos, indios y negros). El estudio destaca que los latinos son más segregados que los negros en el sistema escolar y que California es el estado con mayor segregación de latinos. Erica Frankenberg, una de las coautoras, observa que las escuelas en las que se practica la segregación “suelen ser escuelas con gran concentración de pobreza y acumulan diversas desventajas educativas para esos alumnos”.

5. Una posible conclusión Con todo, es necesario lograr una visión equilibrada. La situación del español en los Estados Unidos y, en concreto, en San Antonio requiere un esfuerzo constante, una presencia continuada y una paciencia infinita. Si se compara 2014 con 1968, quizás no se vean los grandes avances que se soñaron; pero si se compara con 1880, hay que decir que toda la etnografía de los Estados Unidos ha dado un vuelco tan grande, que los resultados, aunque se hagan esperar, tienen que llegar, porque, demográfica y etnográficamente, es un país distinto. Otra cosa es cuáles y cómo sean esos resultados. Profetizar, en el caso de las lenguas, es muy poco aconsejable. El creciente desarrollo económico de la comunidad latina y el incremento de su atractivo para los vendedores dará más fruto si va acompañado de un esfuerzo para prestigiar la lengua española y la cultura en español, que es una lengua para hablar de algo más que el ámbito doméstico.

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Jörn Albrecht

Der Katrin ihren Freund hab ich glatt abgehängt – ‚Primärer‘ vs. ‚sekundärer‘ Substandard. Ein Beitrag zur historischen Varietätenlinguistik

1. Vorbemerkungen Wer einen Beitrag zur Festschrift für einen Wissenschaftler liefert, der einst bei ihm ein Proseminar absolviert hat, wird schwerlich neue Forschungsperspektiven eröffnen, sondern eher Rückschau halten. Was hier mitgeteilt werden soll, ist nicht neu. Jedoch handelt es sich – leider – auch nicht um eine Wiederholung wohlbekannter Fakten. Die Einleitung zur Mitarbeit an dieser Festschrift bietet dem Verfasser Gelegenheit, einige Ideen nochmals neu zu formulieren, die nach der ersten Veröffentlichung nicht die erhoffte Resonanz gefunden haben (und somit für manchen Leser tatsächlich neu sein mögen), der knappe zugestandene Raum von dreißigtausend Zeichen (einschließlich Leerzeichen!) liefert ihm gleichzeitig eine Entschuldigung dafür, dass er dies in knapper und zugespitzter Form tun wird.

2. Einführung In diesem Beitrag soll von zwei unterschiedlichen Quellen die Rede sein, aus denen der ‚Substandard‘ einiger (der meisten?) Sprachen unserer westlichen Welt gespeist wird: Elemente, die bereits vor der Herausbildung eines ‚Standards‘ vorhanden waren und solche, die erst nach der Herausbildung eines solchen entstanden sind. Der erste Satz des Titels enthält je ein Beispiel für beide Fälle. Die Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien soll auf der Grundlage einiger Vorüberlegungen getroffen werden: a) Wie lassen sich Varietäten in der Soziolinguistik abgrenzen? b) Gibt es einen Unterschied zwischen ‚Substandard‘ und ‚Subnorm‘ und wenn, welchen? c) Welches sind die Entwicklungsstadien einiger (der meisten?) europäischen Kultursprachen? Erst im

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Anschluss an diese Vorüberlegungen kann die Hypothese einer unterschiedlichen Genese von Substandelementen aufgestellt und begründet werden. Hier soll es um das Deutsche, das Lateinische, das Französische und (ganz am Rande) um andere romanische Sprachen gehen.

3. Die Abgrenzung der Varietäten „von außen“ vs. „von innen“ Zu einer Zeit, in der der sprachwissenschaftliche Strukturalismus noch ein lebendiges Paradigma war, gab es zwei Möglichkeiten der Abgrenzung von Varietäten: a) Die Abgrenzung der Varietäten „von außen“, d.h. auf dem Wege der Korrelierung sprachlicher Elemente mit außersprachlichen Parametern; b) die Abgrenzung der Varietäten „von innen“, d.h. die Prüfung mit Hilfe spezifisch linguistischer (strukturalistischer) Methoden, ob gegebene sprachliche Elemente in einem widerspruchsfreien System von Oppositionen funktionieren oder nicht. Die zweite Methode ist von den heute gängigen Konzeptionen so weit entfernt, dass sie von poststrukturalistischen Soziolinguisten noch nicht einmal im Ansatz verstanden wird, wie einige Rezensionen zeigen, die hier aus Gründen der räumlichen Beschränkung nicht zitiert werden können. Bezeichnenderweise haben sich aus dem strukturalistischen Varietätenmodell von Leiv Flydal und Eugenio Coseriu nur die Termini dauerhaft durchgesetzt, die „nach außen“ verweisen: die Bezeichnungen für die Dimensionen der Variation ‚diatopisch‘, ‚diastratisch‘, ‚diaphasisch‘, durch die sprachliche Elemente mit außersprachlichen Faktoren generisch in Bezug gesetzt werden. Eine ‚funktionelle Sprache‘ im Sinne Coserius ist in der Tat ein schwer zu handhabendes (wenn auch durchaus gerechtfertigtes) Konstrukt, da sie per definitionem von jedem Sprecher nur im Moment der Auswahl eines sprachlichen Zeichens verwendet, aber von niemandem kontinuierlich gesprochen wird. Da in diesem Beitrag nicht von Varietäten im engeren Sinn die Rede sein wird, sondern nur von einem großen, unterhalb der Norm angesiedelten Bereich, ist allein schon der Versuch einer Abgrenzung „von innen“ hinfällig.

4. ‚Substandard‘ vs. ‚Subnorm‘ Der bis heute weit verbreitete Ausdruck Substandard geht vermutlich auf Leonard Bloomfield zurück. In Kapitel 3 („Speech-Communities“) seines Werkes

Der Katrin ihren Freund hab ich glatt abgehängt – ‚Primärer‘ vs. ‚sekundärer‘ Substandard

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Language wird ein übereinzelsprachliches Muster der Varietätenverteilung skizziert: The main types of speech in a complex speech-community can be roughly classed as follows: (1) literary standard [...]; (2) colloquial standard [...]; (3) provincial standard [...]; (4) sub-standard, clearly different from (1), (2), and (3), spoken in European countries by the „lower middle“ class, in the United States by almost all but the speakers of type (2-3) [...] (Bloomfield 121973: 52).

Daneben ist jedoch in neuerer Zeit auch der Terminus Subnorm verwendet worden, der, wie gleich deutlich werden wird, in einem anderen begrifflichen Zusammenhang steht. In seinem erfolgreichen Buch Das Französische der Gegenwart liefert Bodo Müller – nun speziell für das Französische – folgende Skizze der Varietätenverteilung: Das français cultivé markiert demnach heute großenteils die Supernorm, während ein Großteil des français courant, des français familier, des français populaire und des français vulgaire nach dem Grad ihrer Abweichung Stufen der Subnorm darstellen [...] (Müller 1975: 184). 1

Es ist deutlich zu erkennen, dass der Terminus Substandard der deskriptiven, der Terminus Subnorm dagegen der präskriptiven Sprachbetrachtung zuzuordnen ist. Beide Sichtweisen sind für die folgenden Überlegungen von Belang. Die Begriffe Standard und Substandard sind komplementär, die Begriffe Supernorm, Norm, Subnorm bei Bodo Müller sind korrelativ. Sie stellen eine (möglicherweise unbewusst vorgenommene) Anleihe an das Modell der elocutionis genera der antiken Rhetorik dar: genus sublime, genus medium, genus humile.

5. Die Entwicklungsstadien der europäischen Kultursprachen Die Unterscheidung zwischen ‚primärem‘ und ‚sekundären‘ Substandard bezieht sich auf ein historisches Entwicklungsstadium, das alle Kultursprachen durchlaufen haben: die Herausbildung eines ‚Standards‘ für das gesamte Sprachgebiet, bzw. die Erarbeitung einer Norm, an der die tatsächlich beobachtbaren sprachlichen Erscheinungen gemessen werden. Deshalb soll hier vor der Behandlung des eigentlichen Themas eine knappe, stark idealisierende Skizze der Entwicklungsstadien der europäischen Kultursprachen vorausgeschickt werden.

1 In der französischen Übersetzung dieses Buchs (Paris 1985) wird Subnorm durch français relâché wiedergegeben.

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5.1. Literatursprache

Sie repräsentiert das Stadium der Singer of the Tales, der homerischen, altfranzösischen, germanischen, slawischen Epen, die meist erst lange nach ihrer Entstehung aufgezeichnet wurden. Der „Literaturbetrieb“ erweist sich in dieser Epoche als Motor einer frühen Form der Standardisierung: Die Vortragenden, die jongleurs, die Spielleute möchten in einem möglichst großen Gebiet verstanden werden und schaffen daher sprachliche Ausdrucksmittel, die über den Geltungsbereich der „natürlichen“ Varietäten hinaus Geltung beanspruchen. 5.2. Schreibsprache

Der deutsche Terminus Schriftsprache meint eigentlich das dritte Stadium, da in den deutschen Ländern, ähnlich wie in Italien, die Hochsprache lange Zeit nur in schriftlicher Form realisiert wurde; um diese unerwünschte Assoziation auszuschließen, wird hier der Ausdruck Schreibsprache gebraucht. Das Stadium der Schreibsprache setzt eine vollständige Alphabetisierung der Eliten voraus. In Form von Skriptae oder Kanzleisprachen wird die Vereinheitlichung des schriftlichen Sprachgebrauchs im Dienste der politischen Verwaltung vorangetrieben. 5.3. Hochsprache

Dieses Stadium setzt ein hohes Maß an politischer und administrativer Organisation voraus, unter deren Ägide Sprachpflege, Sprachnormierung und Sprachpolitik betrieben werden. Die Normierung erfolgt in verschiedenen Sprachräumen nach unterschiedlichen Prinzipien. Entgegen einem weitverbreiteten Klischee verfahren die französischen Sprachnormierer vorwiegend anomalistisch, die deutschen analogistisch. In Frankreich werden die verbliebenen Reste der Vigesimalzählung gegenüber analogistischen Neuerungen wie septante, huitante (octante) und nonante hartnäckig verteidigt; Vaugelas setzt sich – im Namen des usage – für einen Genusgebrauch „contre raison“ ein: de fines gens, aber ces gens-là sont bien fins (Vaugelas 1934 [1647]: 367). Die deutschen Sprachmeister stehen meist auf der Seite der Analogie. Das geht so weit, dass Schottel(ius), dessen Muttersprache eigentlich das Niederdeutsche war, einer völlig regelmäßig entwickelten Form wie geessen → gessen, in der Annahme, hier fehle etwas, ein zusätzliches Partizipialpräfix verpasst, gegessen, und sich damit

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auf die Dauer durchsetzt. 2 Der Geltungsbereich der Hochsprache bleibt zunächst auf eine Elite beschränkt; in manchen Ländern, wie z.B. in Italien und in den deutschen Staaten, macht sie sich nur in schriftlicher Form geltend. Jedoch beginnt überall, auch in den Ländern, die bereits über eine gesprochene Hochsprache verfügen, die geschriebene Form der Sprache auf die gesprochene zurückzuwirken, sehr zum Ärger einiger Linguisten im 19. Jh., die darin eine Störung der „natürlichen“ Entwicklung sehen. 5.4. Gemeinsprache

In diesem letzten Stadium dehnt sich die „Hochsprache“ von oben auf immer breitere Schichten der Gesellschaft aus; dieser Vorgang wird mit einer allgemeinen Lockerung der Normen erkauft. Der ‚primäre Substandard‘ tritt nun, wie gleich genauer zu zeigen sein wird, „ans Licht der Öffentlichkeit“, d.h. er wird als solcher wahrgenommen. Der ‚sekundäre Substandard‘ erweitert sich kontinuierlich und wird unter gewissen Umständen als Subnorm „salonfähig“. Die „schöne Literatur“ beschränkt sich nicht mehr auf den exemplarischen Sprachgebrauch, sondern nutzt einen zunehmend größeren Anteil des gesamten Varietätenspektrums.

6. ‚Primärer‘ vs. ‚sekundärer‘ Substandard 6.1. Auffällige Übereinstimmungen zwischen vorklassischem und nachklassischem Latein

In der Forschungsliteratur zum sog. Vulgärlatein wurde schon früh auf verblüffende Ähnlichkeiten zwischen vorklassischem und nachklassischem Latein hingewiesen: caldus statt calidus, sapĕre (sapēre) statt scire, portare statt ferre, fabulari statt loqui – dergleichen galt manchen als typische Verfallserscheinung der Spätzeit, bis sie darauf aufmerksam gemacht wurden, dass all dies auch in sehr alten Texten erscheint. In den folgenden Zitaten wird eine Erklärung dieser Erscheinung geliefert, die hier ohne wesentliche Einschränkungen übernommen und auf andere Kultursprachen übertragen werden soll:

2 Schottel 1663: 575. Vgl. hierzu Albrecht 1994.

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Möge es mir gelingen [...] zu zeigen, dass der Forscher, wenn er nicht ganz an der Oberfläche haften bleibt, gerade in Plautus die besten und reichsten Quellen des wahrhaft lebendigen, nicht willkürlich gemachten, sondern nach immanirenden Gesetzen geregelten Lateins findet (Skutsch 1970 [1892]: 2). Es ist schon oft festgestellt worden, daß die archaische Sprache dem gesprochenen Latein näherstand als die der klassischen Zeit, daß das Altlatein oftmals engere Verbindungen zum „Vulgärlatein“ hatte und darüber hinaus Erscheinungen des Altlateinischen, die dem Kl.-Lat. verlorengegangen oder, besser gesagt, von ihm gemieden worden sind, im sog. Spätlatein wieder auftauchen (Reichenkron 1965: 82f.). Bisweilen lassen sich die vom Romanischen vorausgesetzten lexikalischen Besonderheiten bereits im Altlatein beobachten, so daß sich eine grundsätzliche spontanlateinische Kontinuität, welche lediglich durch das klassische Schriftlatein weitgehend überdeckt wurde, annehmen läßt (Stefenelli 1992: 16).

6.2. ‚Primärer Substandard‘

Aus diesen von verdienten Romanisten angeführten Beobachtungen lässt sich eine allgemeine Explikation des Phänomens ‚primärer Substandard‘ ableiten: Es umfasst sprachliche Erscheinungen, die keine Gnade vor den Augen der Sprachnormierer gefunden haben und in der Phase der Hochsprache als „unerwünscht“ verdrängt werden, um schließlich in der Phase der Gemeinsprache aus einer kontinuierlichen volkstümlichen Tradition wieder zum Vorschein zu kommen. Es können hier nur ganz wenige analoge Beispiele zum Deutschen und zum Französischen angeführt werden: – Beispiele für das Deutsche: - Der Katrin ihr Freund; dem Peter sein Fahrrad - du wart demo balderes volon sin vuoz birenkit, thu biguol en Sinthgunt, Sunna era suister [...] (Merseburger Zaubersprüche, 10. Jh.) - [...] denn der Deutschen ihr Accusat.[iv] läßt sich nicht so, wie der Franzosen ihrer, bloß aus der Stelle, die er im Satze einnimmt, erkennen (Meiner 1971 [1781]: XLVII) - Ei, wie so töricht ist, wenn man’s betrachtet, Wer einem Leineweber seine Arbeit verachtet [...] (Volkslied, 18. Jh.)

Die Verstärkung der durch einen Kasus ausgedrückten Possessivrelation, gewissermaßen „zur Sicherheit“ durch ein Possessivpronomen vorgenommen (der Katrin ihr Freund statt Katrins Freund), gilt heute als nicht normgerecht und wird häufig als moderne Verfallserscheinung angesehen. Die Beispiele zeigen, dass diese Konstruktion sehr alt ist und über eine lange Tradition verfügt.

Der Katrin ihren Freund hab ich glatt abgehängt – ‚Primärer‘ vs. ‚sekundärer‘ Substandard

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– Beispiele für das Französische: „Fehlen“ des Subjektpronomens: - Faut pas s’en faire! Monsieur X? Connais pas! Là bas faut que vous alliez (vgl. Hunnius 1983 [1975]: 355f.). Décumul du pronom relatif: - [...] avec un type que je ne connais pas ses intentions ; un gonzier qu’on peut plus déterminer sa religion etc. (San-Antonio). - Signor, vostre mere est la dame / Que vos avés a feu et a flame / Soventes fois sa terre mise (Chrétien de Troyes, zit. nach Hunnius 1983 [1975]: 352).

Klaus Hunnius hat darauf hingewiesen, dass zwei Konstruktionen, die von vielen als moderne Verfallserscheinungen eingestuft werden, sehr alt sind. Man braucht in volkstümlichen Wendungen wie faut pas s’en faire keine Ellipse zu sehen, es handelt sich einfach um ein Relikt des fakultativen Gebrauchs des Subjektpronomens in älterer Zeit; die Auflösung der komplexen Relation ‚Relativum + Possessivum‘ (dont, duquel usw. im heutigen Standard) durch ‚que + Possessivpronomen‘ kommt bereits im höfischen Roman vor. 6.3. ‚Sekundärer Substandard‘

Der ‚sekundäre Substandard‘ setzt im Gegensatz zum ‚primären Substandard‘ die Existenz eines ‚Standards‘ voraus. Er enthält Elemente, die ihren Ursprung im Standard selbst haben und deren Substandardcharakter sekundär aufgrund bestimmter syntaktisch-semantischer „Abweichungen“ vom Standard zustande kommt: Im Syntagma ein Bild abhängen ist das Verb völlig unmarkiert, in deinen Freund habe ich glatt abgehängt „hinter mir gelassen, distanziert“ gehört dasselbe Verb hingegen dem Substandard an. Vergleichbares gilt in syntaktischer Hinsicht für er blickte finster (Standard) vs. das blickt der nicht (Substandard bzw. „Jugendsprache“). Hinsichtlich ihrer Bildungsweise sind diese Manifestationen des ‚sekundären Substandards‘ übereinzelsprachlich, wie die folgenden Beispiele zeigen: – phonetische Deformationen, z.B. in Form von Reduplikationen: baba ‚stupéfait‘; bobo; (mon) coco; cracra ‚sale‘; gaga ‚gâteux‘; lolo(s) ‚seins‘; nana; mémère; tonton; zizi usw. ciccina; cocco; mangia-mangia ‚sfruttatore‘; fare la nanna; zozzo ‚sporco‘ usw. Aa; dalli dalli; Krimskrams; Mischmasch, plemplem; Popo, Schnickschnack, Wehweh(chen) usw.

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– Metaphern (sens figurés): a) verdunkelt, b) potentiell motivierbar oder motiviert: a) canard ‚journal peu sérieux‘; coton ‚difficile‘; limace ‚chemise‘; oseille ‚argent‘; tarte ‚laid‘ bidone ‚truffa‘; broccolo ‚persona buona a nulla‘; chiodo ‚debito‘; finochio ‚pederasta‘ blau ‚betrunken‘; Kohle/Moos ‚Geld‘, Masche ‚besondere Art des Vorgehens‘; Schiebung/Schieberei ‚betrügerische Handlung‘. b) bahut ‚lycée, taxi‘; boîte ‚lieu de travail‘; se dégonfler ‚perdre l’assurance‘; salade ‚propos incohérent‘; souris ‚petite amie‘; sucrer les fraises ‚trembler des mains‘; moulin ‚moteur‘ addormentare qc. ‚uccidere‘; bambola ‚ragazza vistosamente bella ma inespressiva‘; bollo ‚biglietto da mille lire‘; crisantemo ‚persona di mezza età‘; le vetrine ‚gli occhiali‘ jmdn. abhängen; jmdn. absägen; absahnen; anbeißen ‚an einer Sache/ Person plötzliches Interesse zeigen‘; etwas aufgabeln; etwas aufwärmen; Y X ausspannen; Kiste ‚Fahrzeug‘, Loch ‚Gefängnis‘, einlochen; sauer ‚verärgert‘; Schlitten ‚großes Auto‘, Schinken ‚Bild, Buch‘ usw.

– Metonymien (par extension): causer ‚parler‘; marier ‚épouser‘; mon homme ‚mon mari‘ la mia donna ‚moglie‘ Vieh ‚jede Art von lästigem Tier, auch Insekt‘

– Wortbildungen nach substandardspezifischem semantischem Muster: vgl. kalben, fohlen, lammen (Standard), aber: reihern, ochsen, stieren (verbunden mit spezifischer Metaphorisierung → Substandard); analog dazu: versilbern ‚mit einer Silberschicht überziehen‘ (Standard) vs. ‚etwas zu Geld machen‘ (Substandard) bazarder ‚verscherbeln‘; grenouiller ‚trainer sans but précis‘; pigeonner ‚duper‘ svirgolare ‚colpire con violenza‘; gurken ‚irgendwo hinfahren‘, futtern ‚essen‘; hausen ‚unter schlechten Bedingungen wohnen‘

– Rektionsänderungen: chanter/botter/péter à ‚plaire‘; en math je crains, en anglais j’assure; das raff/blick/schnall ich nicht; sie steht nun mal drauf; die hat mich geschafft usw.

Der Katrin ihren Freund hab ich glatt abgehängt – ‚Primärer‘ vs. ‚sekundärer‘ Substandard

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Manchmal ist die Zugehörigkeit eines Elements zum ‚sekundären Substandard‘ nicht unmittelbar zu erkennen, z.B. dann, wenn die Standardbedeutung eines Lexems gegenüber der Substandardbedeutung stark in den Hintergrund getreten ist. Dass sich das weit verbreitete französische Verb bousiller ‚etwas kaputtmachen, beschädigen‘ einem Fachwort mit der Bedeutung ‚Zwischenwände aus mit Gips bestrichenem Weidengeflecht einziehen‘ herleitet, oder verduften ‚sich schnell und unauffällig entfernen‘ von demselben Verb in der älteren Standardbedeutung ‚das Aroma verlieren‘ ableitet, lässt sich nur durch den Blick in ein umfangreiches Wörterbuch rekonstruieren. Die Tatsache, dass im ‚sekundären Substandard‘ auffällig häufig sogenannte Pseudoreflexivkostruktionen erscheinen wie z.B. der Junge macht sich ‚entwickelt sich positiv‘, je me suis mouillé ‚compromis‘ oder span. irse ‚sich in die Hose machen‘ kann hier nur eben erwähnt werden (vgl. hierzu Albrecht 2015). Die sog. Jugendsprache stellt einen Sonderfall des ‚sekundären Substandards‘ dar. Sie besteht zum überwiegenden Teil aus Elementen, die – ähnlich wie im sog. Argot – ganz bewusst in spielerischer Absicht durch Deformationen von standardsprachlichen Elementen entstanden sind. Die Produkte solcher sprachschöpferischen Akte veralten schnell; c’était très son et lumière ‚pädagogisch wertvoll und stinklangweilig‘ oder Grufti ‚Erwachsener über dreißig‘ sind vermutlich heute bereits völlig „out“. Die Verfahren, nach denen solche Schöpfungen gebildet werden, bleiben stets die gleichen (vgl. hierzu Albrecht 1993). 6.4. Grauzone

Es gibt Substandardphänomene, bei denen die Zuordnung zu einem der hier unterschiedenen Typen schwerfällt. Dies gilt unter anderem für eine in den volksprachlichen Registern verschiedener europäischer Sprachen zu beobachtenden Tendenz, Nebensätze mit einer einheitlichen Konjunktion zu markieren, auch dann, wenn zusätzlich eine semantisch spezifischere Konjunktion gebraucht wird. Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um Hörbelege: Il est arrivé quand que vous étiez parti. Non fumo quando che sono in macchina. Ich habe gleich gewusst, wo dass der Ball hinfliegt.

Zunächst ist man versucht, dergleichen Phänomene einer Sonderkategorie des ‚sekundären Substandards‘ zuzuordnen, von der bisher nur am Rande die Rede war: analogischer Ausgleich von sorgsam konservierten „Unregelmäßigkeiten“ der Norm, wie z.B. septante statt soixante-dix. Allein, im Deutschen findet man diese Erscheinung bereits bei Martin Opitz, also vor der eigentlichen Normierungsphase der neuhochdeutschen Schriftsprache:

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Wo daß ich ging und stand; Weil dass die Sonne sich ins tieffe Meer begeben; Wann daß wir aber dann auch auff uns selber kommen. (zit. nach Paul 1968 (1921), IV: 250).

Es würde sich lohnen, dieses Phänomen in verschiedenen Sprachen im Hinblick auf vergangene und gegenwärtige Sprachstadien zu untersuchen.

7. Ausblick Klaus Hunnius hat mit einem Aufsatz, aus dem hier zitiert wurde, den Anstoß zu einer Diskussion der Frage gegeben, ob das français populaire als archaisch oder als progressiv einzustufen sei. Im Lichte der hier getroffenen Unterscheidung zwischen ‚primärem‘ und ‚sekundärem‘ Substandard kann die Antwort nur salomonisch ausfallen: Beides trifft zu. Das Gleiche gilt natürlich auch für das sog. Vulgärlatein. Angesichts der schon früh bemerkten Übereinstimmungen zwischen vor- und nachklassischem Latein und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen sollte man nicht vergessen, dass sich im Spätlatein auch zahlreiche Erscheinungen beobachten lassen, die dem ‚sekundären Substandard‘ der neueren Sprachen ähneln. Beim Übergang in die romanischen Sprachen geht deren Substandardcharakter in den meisten Fällen verloren. Drei wohlbekannte Beispiele mögen zur Illustration dieses Phänomens genügen: testa ‚Tonscherbe‘, im Argot der Legionäre mit der Bedeutung ‚Kopf‘ gebraucht, wird im Französischen und im Italienischen zum Normalwort für ‚Kopf‘ (chef bzw. capo, die Nachfolger von caput, gehören der ‚Supernorm‘ an); caballus ‚Schindmähre, Klepper‘ wird in vielen romanischen Sprachen zum Normalwort für ‚Pferd‘ ohne pejorative Konnotation; tripalium ‚Marterwerkzeug‘, vermutlich zunächst scherzhaft gebraucht für ‚Arbeit‘, steigt in den westromanischen Sprachen zum Normalwort für die geregelte Tätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts auf. Die beiden hier nur kurz skizzierten Bereiche des Substandards gehören, was ihre Genese angeht, zu ganz unterschiedlichen Bereichen der Sprachwissenschaft. Der ‚primäre Substandard‘ ist ein Problem der Sprachgeschichte und der Philologie; denn er kann nur durch geduldiges Studium älterer Quellen erforscht werden. Der ‚sekundäre Substandard‘ ist dagegen ein Problem der synchronischen Sprachwissenschaft; er lässt sich durchaus systemlinguistisch beschreiben und analysieren.

Der Katrin ihren Freund hab ich glatt abgehängt – ‚Primärer‘ vs. ‚sekundärer‘ Substandard

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Marco García García Entwicklung und historischer Stillstand – zur DOM im Spanischen

1. Vom Kasus zur differentiellen Objektmarkierung und wieder zurück? Der allmähliche Schwund des ursprünglichen Kasussystems gehört, wie allgemein bekannt, zu den bedeutendsten typologischen Entwicklungen vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen. In enger Verbindung mit dieser Entwicklung steht die Herausbildung von präpositionalen Markierungen. Von besonderem Interesse ist dabei die Entstehung einer entsprechenden Markierung für direkte Objekte, für die sich seit Bossong (1982) der Begriff der ‚differentiellen Objektmarkierung‘ (DOM) etabliert hat. Dieses weltweit verbreitete Phänomen findet sich in der Romania in einer Reihe von Sprachen und Varietäten, wie etwa im Spanischen, im Rumänischen oder in verschiedenen süditalienischen Dialekten. Im Spanischen werden differentiell markierte Objekte durch a gekennzeichnet, ein Morphem, das etymologisch eindeutig auf die lateinische Präposition ad ‚zu‘ zurückgeführt werden kann. Diese hatte ursprünglich nur eine lokativdirektionale Funktion, wurde in der Folge aber zu einem Kasusmarker für indirekte Objekte grammatikalisiert (vgl. Company 2002b: 205). Seit dem Altspanischen wird der a-Marker sowohl zur obligatorischen Kodierung indirekter Objekte als auch zur Markierung bestimmter direkter Objekte verwendet, insbesondere solcher, die durch betonte Personalpronomina – wie in te veo a ti ‚ich sehe dich‘ – realisiert werden. Im Spanischen hat die DOM seit ihren Anfängen eine sehr bemerkenswerte Entwicklung genommen. Sie wird meist als ein vorgezeichneter, wenn auch nicht notwendiger Prozess einer graduellen Expansion verstanden (vgl. z.B. Aissen 2003, García/van Putte 1995). Ausgehend von einer typologischen Betrachtung möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, wie weit die DOM im modernen Spanisch tatsächlich vorangeschritten ist. Besonderes Augenmerk soll dabei auf den Bereich der

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unbelebten Objekte gelegt werden. Sie stellen den vermeintlichen Endpunkt der Entwicklung der DOM dar, dem sich nach Auffassung von Company (2002a) zumindest das mexikanische Spanisch in großen Schritten anzunähern scheint. Dies wirft die Frage auf, ob das Spanische auf dem Weg ist, sich von einer Sprache mit DOM in eine Sprache mit einer nicht-differentiellen Objektmarkierung zu entwickeln, die somit dabei ist, eine Art morphologischen Akkusativkasus zu konventionalisieren. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass auch indirekte Objekte mit a markiert werden, wäre dies eine folgenschwere Entwicklung, die die notorisch unscharfen Grenzen zwischen direkten und indirekten Objekten im Spanischen weiter verwischen würde.

2. Typologische Betrachtung der differentiellen Objektmarkierung Im Unterschied zur Kasusmarkierung i.e.S. zeichnet sich die DOM dadurch aus, dass sie weniger von verbalen, sondern vornehmlich von nominalen Faktoren abhängig ist. Diese umfassen gewisse semantisch-pragmatische Eigenschaften wie Belebtheit, Definitheit und Topikalität. Damit geht einher, dass nicht alle, sondern nur bestimmte direkte Objekte (DO) eines verbalen Prädikats morphologisch markiert werden. So werden im modernen Standardspanisch nach allgemeiner Auffassung nur DOs mit a markiert, die auf einen menschlichen Partizipanten verweisen, während solche, die sich auf einen unbelebten Partizipanten beziehen, keine entsprechende Markierung zulassen: (1) Franz ve *ø/a la bibliotecaria. (2) Franz ve ø/*a la biblioteca.

In der typologischen Forschung bedient man sich zur Beschreibung der DOM seit Silverstein (1976) einschlägiger Skalen wie etwa der Belebtheitsskala (3) oder der Definitheitsskala (4), die im Folgenden in der Version von Aissen (2003: 437) wiedergegeben werden. 1 (3) Belebtheitsskala human > animate > inanimate (4) Definitheitsskala personal pronoun (pron.) > proper name (PN) > definite NP (def. NP) > indefinite specific NP (spec. NP) > non-specific NP (non-spec. NP)

Bei den Skalen in (3) und (4) handelt es sich um Implikationshierarchien. Im Hinblick auf die DOM bedeutet dies: Wenn in einer Sprache ein DO, das einen 1 Zur näheren Erläuterung der in (3) und (4) unterschiedenen Kategorien vgl. z.B. Pomino 2012: 308f.

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Entwicklung und historischer Stillstand – zur DOM im Spanischen

beliebigen Rang auf einer der beiden Skalen einnimmt, eine obligatorische morphosyntaktische Markierung erfordert, so verlangen auch alle höher rangierenden, d.h. weiter links stehenden DOs eine obligatorische Markierung (für die weiter rechts stehenden Kategorien in den Skalen gilt dies hingegen nicht). Ist in einer Sprache etwa die Objektmarkierung bei DOs mit belebten nichtmenschlichen Referenten obligatorisch, so ist auch notwendigerweise jene bei DOs mit menschlichen Referenten obligatorisch (bezüglich unbelebter DOs wird keine Vorhersage gemacht). Welche Kategorie in der jeweiligen Skala dabei den Wendepunkt darstellt, ab dem die Objektmarkierung möglich bzw. obligatorisch ist, kann von Sprache zu Sprache variieren. Des Weiteren unterscheiden sich Sprachen darin, ob die DOM lediglich von einer der angeführten Skalen abhängig ist, wie etwa im Standardkatalanischen (vgl. Aissen 2003: 451f.), oder von beiden Skalen, d.h. von Belebtheit und Definitheit. Für das Spanische gilt Letzteres, wobei die Belebtheitsskala die relevantere dieser beiden Hierarchien darstellt. So können etwa definite DOs nach Mehrheitsmeinung nur dann mit a markiert werden, wenn sie einen menschlichen oder zumindest belebten Referenten haben, nicht aber, wenn sie sich auf einen unbelebten Partizipanten beziehen (vgl. (1) vs. (2)). Mit Blick auf die DOM im Spanischen schlagen von Heusinger/Kaiser (2005: 40) eine Kreuzklassifikation der Belebtheits- und Definitheitsskalen vor (vgl. Tabelle 1). Die Repräsentation zeigt auf übersichtliche Weise, wann die a-Markierung eines Objekts gemäß der Standardauffassung obligatorisch (+), optional (±) oder ausgeschlossen (–) ist. Definitheit → Belebtheit ↓ human animate inanimate

pron. >

PN >

def. NP >

spec. NP >

non-spec. NP

+ + Ø

+ + ±

+ ± –

+ ± –

± – –

Tabelle 1: DOM im Standardspanischen (vgl. von Heusinger/Kaiser 2005: 40)

Die in Tabelle 1 kombinierten Skalen haben nicht nur synchrone, sondern auch diachrone Relevanz. So wird davon ausgegangen, dass die historische Entwicklung der DOM – sofern eine solche stattfindet – eine gerichtete ist (vgl. Aissen 2003: 471f.): Sie verläuft stets entlang der genannten Skalen, gemäß der Darstellung in Tabelle also von links nach rechts bzw. von oben nach unten. Was das Spanische betrifft, lässt sich diese Hypothese z.T. gut belegen, zumindest was die diachrone Expansion der DOM bei menschlichen Objekten anbelangt.

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3. Diachronie der DOM im Spanischen 3.1. Belebte Objekte

Die Diachronie der DOM im Spanischen ist in diversen Arbeiten untersucht worden, meist unter besonderer Berücksichtigung eines Teilaspekts, wie etwa dem Einfluss von Topikalität (vgl. Melis 1995, Pensado 1995) oder dem von Affiziertheit bzw. einschlägigen Verbklassen (vgl. von Heusinger 2008, von Heusinger/Kaiser 2011). Die umfassendste Analyse bietet m.E. Laca (2006). Ihre Korpusuntersuchung basiert auf insgesamt neun Texten, die vom Poema de mio Cid bis zu Juan de Valeras Pepita Jiménez reichen und so einen Zeitraum vom 12. bis zum 19. Jh. abdeckt. 2 Da das Datenmaterial für die einzelnen Jahrhunderte auf jeweils nur ein bis maximal drei Texten basiert, sind ihre Untersuchungsergebnisse nichtsdestotrotz mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Die diachrone Entwicklung der Objektmarkierung hängt nach Laca (2002, 2006) in erster Linie von den weiter oben erläuterten Belebtheits- und Definitheitsskalen ab, die sie zusammenfassend auch als factores locales bezeichnet. 3 Während die von Laca (2006: 436, 448) verwendete Belebtheitsskala der Hierarchie in (3) entspricht, weicht die von ihr zugrunde gelegte Definitheitsskala geringfügig von der in (4) ab. Sie unterscheidet sich u.a. dadurch, dass sie auf die Distinktion von spezifischen vs. nicht-spezifischen NPs verzichtet und stattdessen Ausdrücke berücksichtigt, die als artikellose Nomina (bare nouns, N) vorkommen. 4 Stark vereinfacht lässt sich die von Laca (2002: 196, 2006: 448) benutzte Definitheitsskala wie in (5) darstellen: (5) Vereinfachte Definitheitsskala personal pronoun (pron.) > proper name (PN) > definite NP (def. NP) > indefinite NP (indef. NP) > bare noun (N)

2 Das Korpus ist aus Textauszügen der folgenden Werke zusammengesetzt: Poema de mio Cid (12. Jh.), El Conde Lucanor (14. Jh.), La Celestina (15. Jh.), Lazarillo de Tormes, Documentos lingüísticos de la Nueva España (16. Jh.), Don Quijote (17. Jh.), La comedia nueva, El sí de las niñas, Documentos lingüísticos de la Nueva España (18. Jh.), El Periquillo sarniento, Pepita Jiménez (19. Jh.). 3 Darüber hinaus wird die DOM auch von so genannten factores globales determiniert (vgl. Laca 2006: 429-432, 454-462). Hierunter versteht Laca eine Reihe von Bedingungen, die weniger auf Eigenschaften der Objekt-NP selbst abzielen, sondern vielmehr einen Sammelbegriff für eine Reihe von kontextuellen Faktoren darstellen, zu denen sie u.a. die lexikalisch-semantische Klasse des jeweils regierenden Verbs zählt (vgl. Abschnitt 4.2.). 4 Des Weiteren differenziert sie zwischen Nomina, die mit bzw. ohne lexikalischen Kopf erscheinen, sowie zwischen verschiedenen Quantoren bzw. Indefinitpronomina, wie z.B. ambos ‚beide‘ und algo ‚etwas‘. Aus Darstellungsgründen bleiben diese Kategorien hier unberücksichtigt.

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Entwicklung und historischer Stillstand – zur DOM im Spanischen

Auf der Grundlage dieser Definitheitsskala fasst Tabelle 2 Lacas (2006) Korpusergebnisse bezüglich der Entwicklung von menschlichen DOs zusammen. Auf eine Berücksichtigung der Kategorie der betonten Personalpronomina (pron.) wird dabei verzichtet, da die Objektmarkierung hier von Beginn an obligatorisch ist. PN def. NP indef. NP N

XII 96% (25/26) 36% (13/36) 0% (0/6) 0% (0/12)

XIV 100% (8/8) 55% (36/66) 6% (2/31) 0% (0/7)

XV 100% (35/35) 58% (38/65) 0% (0/11) 17% (2/12)

XVI 95% (42/44) 70% (85/122) 12% (7/59) 5% (2/40)

XVII 100% (65/65) 86% (117/136) 40% (21/53) 3% (1/39)

XVIII 86% (24/28) 83% (44/53) 63% (20/32) 9% (2/22)

XIX 89% (24/27) 96% (73/76) 41% (12/29) 6% (1/17)

Tabelle 2: Diachronie der DOM bei menschlichen Objekten (vgl. Laca 2006: 442f.)

Die wichtigsten Erkenntnisse, die sich aus Tabelle 2 gewinnen lassen, sind folgende: 1. Eine Expansion der Objektmarkierung lässt sich in erster Linie bei der Kategorie der definiten NPs feststellen. Hier ist eine kontinuierliche Zunahme der Frequenz von menschlichen Objekten mit a-Markierung zu beobachten. Während sich im 12 Jh. bzw. im Cid 36% entsprechende Objekte finden, sind es im 15. Jh. bzw. in der Celestina schon fast 60%, im 17. Jh. bzw. im Quijote bereits 86% und im 19. Jh. schließlich 96%. Aus der optionalen a-Markierung definiter menschlicher Objekte im Altspanischen, die zunächst auf dislozierte bzw. topikalisierte Objekte beschränkt war (vgl. (6) vs. (7)), entwickelt sich bis zum modernen Spanischen eine nahezu obligatorische a-Markierung, die als solche auch für nicht-topikalisierte Objekte erforderlich ist (vgl.(8)). 5 (6) En braços tenedes mis fijas tan blancas como el sol. (Cid 2333, apud Laca 2006: 455) (7) a las sus fijas enbraço las prendia (Cid 275, apud Laca 2006: 455) (8) En brazos tenéis a mis hijas tan blancas como el sol.

2. Auch bei den indefiniten menschlichen Objekten (indef. NP) ist eine sehr starke Zunahme der Objektmarkierung zu konstatieren, allerdings verläuft die Expansion hier nicht kontinuierlich, sondern vielmehr sprunghaft: Während die a-Markierung indefiniter Objekte bis zum 16. Jh. eher selten ist,

5 Zum Einfluss von Dislokationen und Topikalität auf die Entwicklung der DOM vgl. Laca 2006: 428f., 455f., Melis 1995: 134 und von Heusinger/Kaiser 2005: 42-45.

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steigt sie im 17. Jh. auf 40% und im 18. Jh. sogar auf 63% an. 6 Zur Illustration sei ein Beleg ohne und einer mit Objektmarkierung angeführt: (9) no dudo que hallará muy presto un hombre de bien que la quiera (Comedia Nueva/Sí de las niñas 131, apud Laca 2006: 444) (10) quiere bien a una mujer tan digna de ser querida. (Comedia Nueva/ Sí de las niñas 220, apud Laca 2006: 444)

3. Bei Eigennamen (PN) sowie bei artikellosen Nomina (N) ist keine Entwicklung erkennbar. Die erste dieser Kategorien rangiert besonders weit links, die letztere am äußersten rechten Rand der Definitheitsskala. Bei Eigennamen mit menschlichem Referenten ist die Objektmarkierung von Beginn an bis heute der Regelfall (vgl. (11)). Was die artikellosen Nomina betrifft, zeigt sich, dass die Objektmarkierung bis zum 19. Jh. relativ selten ist und somit eher eine Ausnahmeerscheinung bleibt (vgl. (12)). (11) Matastes a Bucar e arrancamos el canpo (Cid 2458) (12) En el pueblo vi ø/??a campesinos.7

Tabelle 3 stellt den Verlauf der Objektmarkierung bei belebten nicht-menschlichen Objekten dar. PN def. NP indef. NP N

XII 100% (1/1) 0% (0/2) – (0/0) – (0/0)

XIV – (0/0) 10% (2/20) 0% (0/10) 0% (0/5)

XV – (0/0) 20% (1/5) – (0/0) – (0/0)

XVI – (0/0) 0% (0/10) 0% (0/4) 0% (0/11)

XVII 100% (10/10) 41% (16/39) 7% (1/15) 0% (0/5)

XVIII – (0/0) 6% (1/18) 4% (1/27) 0% (0/6)

XIX – (0/0) 36% (4/11) 0% (0/5) 0% (0/5)

Tabelle 3: Diachronie der DOM bei belebten Objekten (vgl. Laca 2006: 442f.)

In diesem Bereich hat sich die DOM offenbar deutlich schwächer ausgebreitet. Eine Zunahme der Objektmarkierung ist allenfalls bei definiten Objekten zu konstatieren. Sie weisen im 14. Jh. in 10% und im 19 Jh. in 36% der Fälle eine aMarkierung auf. Erwartungsgemäß bleibt die Frequenz der a-Markierung über die Jahrhunderte hinweg jedoch stets unter der von definiten Objekten, die auf 6 Die Tatsache, dass im 18. Jh. ein höherer Anteil indefiniter DOs mit a-Markierung als im 20. Jh. zu beobachten ist (63% vs. 41%), lässt sich darauf zurückführen, dass die Belege aus dem 18. Jh. überproportional viele Kausativkonstruktionen enthalten (vgl. Laca 2006: 460). Hierbei handelt es sich um einen von Lacas factores globales, die ebenfalls einen positiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der DOM haben. 7 Die a-Markierung von artikellosen NPs mit menschlichen Referenten scheint nur dann möglich, wenn die Objektkonstituente durch ein Attribut modifiziert wird und/oder einen kontrastiven Fokus darstellt (vgl. Leonetti 2004: 87f.).

Entwicklung und historischer Stillstand – zur DOM im Spanischen

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einen menschlichen Referenten verweisen (vgl. Tabelle 2). Des Weiteren ist festzustellen, dass die Zunahme keineswegs konstant ist, was insbesondere die Befunde vom 17.–19. Jh. deutlich machen. Die Frequenz a-markierter Objekte sinkt hier von 41% auf 6% und steigt anschließend wieder auf 36% an. Zudem ist zu bedenken, dass die Ergebnisse zu den definiten Objekten mit belebten nicht-menschlichen Referenten in Tabelle 3 im Unterschied zu den definiten mit menschlichen Referenten in Tabelle 2 auf einer extrem kleinen Anzahl von Tokens basieren. In noch verschärfterer Weise trifft dies auf jene belebten Objekte zu, die Eigennamen darstellen. Sie kommen so selten vor, dass streng genommen keine Aussage bezüglich der Expansion der Objektmarkierung möglich ist. Die Zahlen zu den anderen beiden Kategorien in Tabelle 3, den indefiniten NPs (indef. NP) und artikellosen Nomina (N), sind nur geringfügig besser. Sie legen nahe, dass bei entsprechenden Ausdrücken keine Entwicklung in Bezug auf die DOM stattgefunden hat. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich in der Tat eine diachrone Ausbreitung der DOM entlang der Definitheitsskala beobachten lässt. Allerdings beschränkt sie sich im Wesentlichen auf den Bereich der Objekte, die einen menschlichen Referenten haben: War die Markierung im Altspanischen bei den menschlichen definiten NPs noch optional (±) und bei den menschlichen indefiniten NPs noch nicht attestiert (–), so ist sie im modernen Spanisch bei Ersteren nahezu obligatorisch (+) und bei Letzteren zumindest optional (±) geworden (vgl. Tablle 4). Bei den belebten nicht-menschlichen Objekten ist dagegen nur in Ansätzen eine Entwicklung zu erkennen, die zudem allein die definiten NPs betrifft. [+human] Pron. PN def. NP indef. NP N

Altspanisch (12. Jh.) + + ± (36%) – (0%) –

Entwicklung

⇒ ⇒

Modernes Spanisch (19. Jh.) + + + (96%) ± (41%) –

Tabelle 4: Diachronie der DOM bei menschlichen Objekten entlang der Definitheitsskala 8

3.2. Unbelebte Objekte

Wie sieht es nun mit der historischen Entwicklung der DOM bei unbelebten Objekten aus? Auch wenn Laca zu diesem bereits von Beginn an attestierten 8 Die Repräsentation ist an von Heusinger/Kaiser 2005: 36 angelehnt, die Zahlen basieren auf den von Laca 2006 berücksichtigten Texten.

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Phänomen keine quantitativen Angaben macht, ist ihre Antwort auf diese Frage eindeutig: „Partiendo del corpus examinado, no puede hablarse de un aumento de las ocurrencias ante inanimados, antes bien, la marca en estos casos es siempre marginal“ (Laca 2006: 450). Zu einem ganz anderen Schluss kommt hingegen Company (2002a, 2002b), deren Korpusuntersuchung sich auf einen Zeitraum vom 13. bis zum 20. Jh. erstreckt, wobei die Daten zum 20. Jh. ausschließlich aus dem mexikanischen Spanisch stammen. 9 Sie stellt fest, dass die a-Markierung nicht nur bei menschlichen, sondern auch die bei unbelebten Objekten seit dem 15. Jh. stetig zugenommen hat. Für das 20. Jh. sind gemäß ihrer Daten 17% der unbelebten Objekte mit a-Markierung attestiert (vgl. Tabelle 5). Pron. PN Human Animate Inanimate

XIII 100% (53/53) 99% (124/125) 42% (243/574) 3% (4/155) 1% (2/300)

XIV 100% (46/46) 99% (170/172) 35% (224/631) 3% (2/64) 0% (1/300)

XV 99% (67/68) 96% (129/134) 35% (181/518) 6% (2/34) 3% (8/300)

XVI 99% (182/183) 88% (124/147) 50% (541/1086) 7% (11/168) 8% (54/641)

XX 100% (55/55) 100% (32/32) 57% (81/141) ---------17% (64/373)

Tabelle 5: Diachrone Entwicklung der DOM nach Company (2002a: 149)

Diese überraschenden Ergebnisse deuten laut Company eindeutig darauf hin, dass das Spanische auf dem Weg ist, die a-Markierung für sämtliche (direkte) Objekte zu generalisieren: Cada vez con más frecuencia el OD inanimado […] aparece en español con una marca prepositiva […], con lo cual esta preposición está perdiendo el estatus que hasta hace poco tenía de mecanismo de marcación diferencial de objetos […]. Está perdiendo el OD [sic!] sus antiguas restricciones semánticas, está dejando de ser una especie de clasificador asociado a la clase semántica OD humano, ya no es más ‚a personal‘ como la caracterizó Bello hace ciento cincuenta años (Bello 1847), y se está convirtiendo en un verdadero marcador gramatical de caso objetivo (Company 2002a: 147).

Tatsächlich scheint die DOM im modernen Spanisch noch längst nicht so weit vorangeschritten zu sein, wie es Company vermutet. Hierfür sprechen zusätzlich zu der oben zitierten Einschätzung von Laca (2006: 450) die größer ange-

9 Die Daten stammen zum einen aus diversen Zeitschriften der Jahre 1998-2000 sowie zum anderen aus gesprochenem Material aus Lope Blanch 1971. Zu etwas genaueren Hinweisen zur Zusammensetzung ihres Korpus vgl. Company 2002a: 152f.

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legten Korpusuntersuchungen von Barraza (2003), Buyse (1998), Tippets (2011) sowie meine eigenen (García García 2014). Bei Barraza (2003) handelt es sich um eine diachron ausgerichtete Arbeit, die unter der Betreuung von Company entstanden ist. Das zugrunde gelegte Korpus umfasst verschiedene Textsorten (literarische Texte, Zeitungstexte, wissenschaftliche Texte) aus dem 16., 18. und 20. Jh. Die Texte stammen zu gleichen Anteilen aus Spanien und Mexiko. Ebenso wie Company (2002) stellt Barraza im Allgemeinen eine Zunahme der a-Markierung fest. Diese ist im Vergleich zu den Befunden ihrer Lehrerin jedoch deutlich schwächer: Von ca. 2% (12/547) unbelebter Objekte, die eine a-Markierung im 16. Jh. zeigen, steigt die Frequenz im 20. Jh. lediglich auf ca. 5% (49/962) an (vgl. Barraza 2003: 12). Ein ähnliches Ergebnis für das 20. Jh. liefert die Untersuchung von Tippets (2011), bei der es sich um eine kontrastive Analyse der DOM im mündlichen Sprachgebrauch in drei Metropolen handelt (Buenos Aires, Madrid, MexikoStadt). Gerade die DOM bei unbelebten Objekten zeigt hierbei ein relativ homogenes Bild: Im Korpus zu Buenos Aires werden 8% (26/339), in dem zu Madrid 5% (18/345) und in jenem zu Mexiko-Stadt ebenfalls 5% (13/283) der unbelebten Objekte mit a markiert. Insgesamt weisen nach Tipptes’ Analyse 5,9% (57/967) der unbelebten Objekte eine a-Markierung auf, was sich weitgehend mit den Ergebnissen von Barraza (2003) deckt. Bei der synchron ausgerichteten Korpusanalyse von Buyse (1998: 379), die vorwiegend Daten aus dem geschriebenen europäischen Spanisch berücksichtigt, beträgt die Frequenz unbelebter Objekte mit a-Markierung im 20 Jh. sogar nur 3,2% (65/1.936). Noch geringer fällt der Anteil unbelebter Objekte mit a-Markierung in meiner eigenen Korpusanalyse aus, die ebenfalls auf das 20. Jh. beschränkt ist und auf der Base de Datos de Verbos, Alternancias de Diátesis y Esquemas SintácticoSemánticos del Español (ADESSE) basiert. 10 Hier zeigen nur 1,2% (573/48.231) der unbelebten Objekte eine a-Markierung. Tabelle 6 fasst die Befunde zur DOM bei unbelebten Objekten in den genannten Arbeiten zusammen. 11 10 Bei der ADESSE handelt es sich um eine Korpusdatenbank, die auf dem 1,5 Mio. Wörter umfassenden Archivo de Textos Hispánicos de la Universidad de Santiago de Compostela aufbaut. Das Korpus besteht aus unterschiedlichen schriftlichen und mündlichen Textsorten (u.a. narrative Texte, Essays, Theaterstücke, Daten aus verschieden habla-culta-Quellen), die zu ca. 80% aus Spanien und zu ca. 20% aus Lateinamerika stammen. 11 Interessanterweise scheinen die Ursachen für die unterschiedlichen Korpusbefunde weniger in der Herkunft der Daten (Spanien, Mexiko etc.) noch in der Art der Daten (mündlich vs. Schriftlich), sondern vielmehr in der jeweils zugrunde gelegten Definition der Kategorie Belebtheit zu liegen (vgl. García García 2014: 72-75). Von zentraler Bedeutung ist hierbei der Umgang mit Objekten, die ein Kollektiv bezeichnen (z.B. equipo), die erwartungsgemäß häufiger mit a-Markierung vorkommen. In einigen Korpora, wie etwa dem in Barraza 2003, werden Kollektiva zur Klasse der unbelebten Objekte gezählt, in anderen dagegen, wie etwa in der ADESSE, zur Klasse der belebten Objekte.

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Barraza (2003) Buyse (1998) Company (2002a) García (2014) Tippets (2011)

DO 94,9% (913/962) 96,8% (1.936/2.001) 82,8% (309/373) 98,8% (47.658/48.231) 94,1% (910/967)

a DO 5,1% (49/962) 3,2% (65/2.001) 17,2% (64/373) 1,2% (573/48.231) 5,9% (57/967)

Tabelle 6: DOM bei unbelebten Objekten in verschiedenen Korpusanalysen zum 20. Jh.

Entgegen der oben angeführten Einschätzung von Company (2002a: 149) lässt sich resümierend festhalten, dass im Bereich der unbelebten Objekte offenbar keine nennenswerte diachrone Entwicklung der DOM stattgefunden hat. Die aMarkierung unbelebter Objekte ist seit dem 12. Jh. bis heute eine äußerst seltene Erscheinung.

4. Verbklassen und lesartbedingte DOM bei unbelebten Objekten 4.1. Systematische Fälle im modernen Spanisch

Ein sonderbares Faktum hinsichtlich der DOM im Spanischen ist die Tatsache, dass die a-Markierung unbelebter Objekte zwar generell ausgeschlossen, in einigen Fällen aber mehr oder weniger obligatorisch ist: (13) a. El carnaval precede *ø/a la Cuaresma. b. En este cóctel la ginebra puede sustituir *el/al vodka. c. La euforia caracteriza ??ø/a la situación. d. La mujer venció ??el/al destino. e. No llaman guerra *ø/a este conflicto.

In García García (2014) habe ich in Anlehnung an Weissenrieder (1991) dafür argumentiert, dass die DOM bei unbelebten Objekten im Wesentlichen von einer kleinen Klasse von Verben abhängig ist. Hierzu zählen (i) reversible Verben wie etwa preceder ‚vorausgehen‘ und sustituir ‚ersetzen‘ (13a, b), (ii) Attributionsverben wie caracterizar ‚charakterisieren‘ oder definir ‚definieren‘ (13c), (iii) Wettbewerbsverben wie vencer ‚bezwingen‘ oder derrotar ‚besiegen‘ (13d) sowie (iv) Bezeichnungsverben wie llamar ‚nennen‘ oder considerar ‚betrachten‘ (13e). Zumindest im Hinblick auf die ersten vier dieser fünf DOM-affinen Verbklassen lassen sich plausible rollensemantische Gründe für die Objekt-

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markierung in Anschlag bringen. 12 Sie sollen im Folgenden anhand der reversiblen Verben kurz erläutert werden. Die a-Markierung unbelebter Objekte scheint vereinfacht gesagt dann erforderlich zu sein, wenn kein typisches Agentivitätsgefälle zwischen Subjekt- und Objektargument besteht. Diese rollensemantisch markierte Situation tritt insbesondere dann auf, wenn das Objekt als Agens bzw. potentielles Agens in der vom Verb denotierten Situation fungiert. So etwa in (13a), das eine rein temporale Relation zwischen dem Subjekt carnaval und dem Objekt Cuaresma zum Ausdruck bringt. Nach Primus’ (2006) Agensdefinition, die die kausale Unabhängigkeit eines Arguments von seinen Ko-Argumenten als zentrales Agentivitätskriterium begreift, qualifizieren sich dabei sowohl carnaval als auch Cuaresma als Agensargumente. Ähnliches trifft auf (13b) zu, in dem weniger von einem asymmetrischen Substitutionsereignis die Rede ist, bei dem vodka als typisches Patiens fungiert, sondern vielmehr ausgedrückt wird, dass zur Zubereitung des fraglichen Cocktails Gin anstelle von Wodka verwendet werden kann. Vodka und ginebra werden somit als Partizipanten konzipiert, die eine ähnliche rollensemantische Funktion erfüllen. Sie können beide eine Zustandsveränderung bewirken, die zur charakteristischen Beschaffenheit des entsprechenden Cocktails (Geschmack, Alkoholgrad etc.) beiträgt. Die einzelnen Verben, die sich den oben genannten DOM-affinen Verbklassen zuordnen lassen, zeigen eine z.T. sehr unterschiedlich starke Korrelation zur Objektmarkierung. So treten etwa die reversiblen Verben preceder ‚vorausgehen‘ und suceder ‚folgen‘ in der ADESSE ausschließlich mit Objektmarkierung auf, wohingegen das sinnverwandte Prädikat seguir ‚folgen‘, das nach Meinung von Bello (1981 [1847]: § 897) oder Torrego (1999: 1788) ebenso regelmäßig eine Objektmarkierung fordert, nur in 7,5% (12/160) der Fälle mit amarkiertem Objekt attestiert ist. Dies hängt damit zusammen, dass seguir – im Gegensatz zu preceder und suceder – neben seiner reversiblen Bedeutung (14a) in verschiedenen nicht-reversiblen Verwendungsweisen üblich ist, in denen es etwa im Sinne von ‚(mit den Augen ver)folgen‘ (14b) oder ‚fortsetzen‘ (14c) gebraucht wird. In diesen Fällen, die sich im Vergleich zu den reversiblen Prädikationen durch ein deutliches Agentivitätsgefälle zwischen Subjekt und Objekt auszeichnen, bleibt das unbelebte Objekt stets unmarkiert. (14) a. las pausas que siguen […] a sus tareas de copista […] (PAI: 086, 02) b. el animalito […] seguía cada movimiento de sus manos (TER: 074, 16) c. o sea que te quitaban la chuleta y seguías el examen (MAD: 417, 05). 12 Die DOM in Verbindung mit Bezeichnungsverben scheint dagegen vorwiegend syntaktisch determiniert zu sein (vgl. García García 2014: 102-104): Die a-Markierung unbelebter DOs findet sich hier v.a. bei Doppelobjektkonstruktionen (vgl. 13e).

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4.2. Diachrone Relevanz von Verbklassen

Wie Laca (2006: 450f.) hervorhebt, ist die a-Markierung unbelebter Objekte zwar über die Jahrhunderte hinweg betrachtet ein sehr seltenes Phänomen, allerdings ist sie bereits seit dem 12. Jh. belegt. Die von ihr zusammengetragenen Belege beschränken sich dabei nicht nur auf Objekte, die Toponyme denotieren – was v.a. für den Cid charakteristisch ist –, sie zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie bestimmte Verben enthalten: (15) a. como lo spiritual sepa yo que precede a lo corporal (Celestina, VI. 178) b. a los […] soles, nublados […] vemos suceder (Celestina, VIII. 215) c. La noche que siguió al día del rencuentro de la Muerte […]. (Quijote, 752) d. Y a éstas llamas señales de salud […]. (Celestina, VI. 178) e. el que siente quien ama a un imposible (DLNE 1790-1800)

Die meisten dieser Verben lassen sich zu jenen Verbklassen zählen, die auch für das heutige Spanisch relevant sind. So handelt es sich in (15a–c) um die reversiblen Verben preceder, suceder, seguir und in (15d) um das Bezeichnungsverb llamar. Dies ist sicherlich kein Zufall. Zur genaueren Einschätzung der Relevanz, die die für das moderne Spanisch identifizierten Verbklassen hinsichtlich der historischen Entwicklung der DOM haben, sind größer angelegte Korpusuntersuchungen vonnöten. Im Rahmen einer Testkorpusanalyse der reversiblen Verben preceder und seguir soll im Folgenden ein erster Schritt in diese Richtung unternommen werden. Auf der Grundlage des Corpus del Español habe ich für den Zeitraum vom 13.–20. Jh. je nach Verfügbarkeit die jeweils ersten 100 Tokens untersucht, in denen preceder bzw. seguir in den Texten zu den einzelnen Jahrhunderten nachgewiesen sind. Belege, in denen das jeweilige DO ein belebtes Argument darstellt, wurden dabei ebenso ausgeschlossen wie solche, in denen das DO ein klitisches Pronomen ist. Aus diesen Gründen konnten für die einzelnen Jahrhunderte im Schnitt nur ca. 20 Belege pro Verb berücksichtigt werden. Tabelle 7 zeigt die Ergebnisse der durchgeführten Testkorpusanalyse. preceder seguir

XIII 100% (1/1) 29% (6/21)

XIV ----6% (1/17)

XV 85% (11/13) 5% (1/22)

XVI 77% (20/26) 10% (3/30)

XVII 88% (7/8) 6% (2/34)

XVIII 92% (22/24) 19% (6/32)

XIX 94% (29/31) 22% (4/18)

XX 98% (39/40) 13% (3/23)

Tabelle 7: Diachrone Testkorpusanalyse zur DOM bei preceder und seguir (Corpus del Español)

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Die Tabelle lässt folgende Beobachtungen zu: (i) Die a-Markierung unbelebter Objekte ist in Zusammenhang mit den beiden untersuchten Verben seit dem 13. Jh. attestiert und scheint seitdem weitgehend konstant geblieben zu sein. M.a.W. ist weder in Verbindung mit preceder noch seguir eine Entwicklung bezüglich der DOM erkennbar. (ii) Allerdings verhalten sich diese Verben sehr unterschiedlich. Während preceder fast ausschließlich mit a-markiertem Objekt auftritt – im Schnitt in ca. 92% der Fälle – kommt seguir vergleichsweise selten mit Objektmarkierung vor. Hier rangiert die Häufigkeit der entsprechenden Belege zwischen 5–29%. Ein genauerer Blick auf die Daten zeigt, dass das unterschiedliche Verhalten der beiden untersuchten Verben durch dieselben Ursachen wie im modernen Spanisch motiviert zu sein scheint. Während das Verb preceder ausschließlich mit einer reversiblen Bedeutung im Sinne von ‚x kommt vor y‘ attestiert ist (16), tritt das Verb seguir sowohl mit der reversiblen Bedeutung ‚x kommt nach y‘ (17a) als auch in unterschiedlichen nicht-reversiblen Verwendungsweisen auf, in denen es etwa im Sinne von ‚fortsetzen‘ gebraucht wird (17b). (16) a. El matrimonio por palabras depresente precede alos otros sacramentos (13. Jh., Alf. X., Siete partidas) b. por tiempo como precede la flor al fruto (15. Jh., Alf. de Palencia, Vocabulario) (17) a. E si ensi porque la postremera faz de Piscis; sigue ala primera faz de Aries. (13. Jh., Alf. X., Judizios de las estrellas) b. ffizo enplazar A su contendor & non quiso sseguir el pleito (13. Jh., Alf. X., Espéculo)

Wird das unbelebte Objekt in den reversiblen Prädikationen systematisch mit a markiert, sowohl in Kombination mit preceder als auch in Verbindung mit seguir, so bleibt es in den nicht-reversiblen Fällen grundsätzlich unmarkiert. Dies weist darauf hin, dass die DOM auch in diachroner Hinsicht nicht allein von nominalen Faktoren wie Belebtheit und Definitheit, sondern ebenso systematisch von der verbal determinierten Rollensemantik abhängig ist. Zur Untermauerung dieser Hypothese sind zweifelsohne umfassendere empirische Analysen notwendig, die sowohl auf weitere Verben mit reversiblen Lesarten auszuweiten sind (z.B. acompañar ‚begleiten‘, superar ‚übertreffen‘, sustituir ‚ersetzen‘) als auch auf die übrigen der oben genannten DOM-affinen Verbklassen, insbesondere auf Attributionsverben (z.B. caracterizar ‚charakterisieren‘) und Wettbewerbsverben (z.B. vencer ‚bezwingen‘). Was die Relevanz von reversiblen Prädikationen für die DOM angeht, kann an dieser Stelle noch ein anderes (diachrones) Faktum angeführt werden. Es

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betrifft die beiden in (18) illustrierten reziproken Nominalausdrücke a sí mismo ‚sich selbst‘ und el uno al otro ‚der eine den anderen‘, die sich mit zahlreichen transitiven Verben kombinieren lassen. Auch diese Prädikationen, auf die u.a. Delbecque (2002: 114f.) aufmerksam gemacht hat, weichen enorm vom kanonischen Agentivitätsgefälle transitiver Sätze ab. Sie denotieren symmetrische Ereignisse, bei denen Subjekt und Objekt beide zugleich als Agens und Patiens fungieren. Das bedeutet, dass auch hier Sachverhalte zugrunde liegen, die zwei gleich agentivische Ko-Argumente enthalten. Im modernen Spanisch zeichnen sich diese beiden Konstruktionen in morphosyntaktischer Hinsicht nun dadurch aus, dass das direkte Objekt unabhängig von der Eigenschaft der Belebtheit stets mit a markiert wird. (18) a. El sistema se corrige *ø/a sí mismo. b. Estas posturas se excluyen la una *ø/a la otra. (Delbecque 2002: 114)

Wie Spitzer (1928: 428f.) und v.a. Müller (1971: 508f.) hervorheben, ist die Objektmarkierung zumindest in Kombination mit dem reziproken Ausdruck el uno al otro auch schon im ältesten Spanisch obligatorisch. Zudem bildet sie „überall im Romanischen, wo der präpos. Akkusativ vorkommt, die Norm“ (Müller 1971: 509). Die präpositionale Markierung ist in Verbindung mit diesem symmetrisch-reziproken Ausdruck offenbar bereits im nachklassischen Latein üblich: Da lateinische Texte des 11. Jh.s in Spanien geradezu konstant unus (uno) ad alio bzw. ad altero(s) bieten, muß es sich um eine Markierung handeln, die lexematisch auf primäres altero ad altero (für klassisch alter alterum) zurückweist. Der (dativische) AD-Kasus findet sich hier bereits bei Tertullian: alter ad alterum [...] dicebat. (Müller 1971: 509)

Auch dem laut Bossong (2008: 91) ältesten Beleg einer DOM im Spanischen bzw. Mozarabischen, der aus einer Jarcha aus dem 11. Jh. stammt, liegt interessanterweise eine reziproke Prädikation zugrunde: (19) adamey filiyolo alyeno ed el a mibi ‚ich habe mich in einen fremden Jüngling verliebt und er sich in mich‘

Sowohl die von Müller (1971) berücksichtigten Daten als auch Bossongs (2008) Beleg in (19) beziehen sich wohlgemerkt auf menschliche Objekte. Unabhängig davon lassen sich diese Befunde aber als Indizien für einen systematischen und diachronen stabilen Zusammenhang zwischen reversiblen Prädikationen und der DOM deuten.

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5. Schlussfolgerung Die diachrone Entwicklung der DOM zeigt ein sehr heterogenes Bild. Während im Bereich der menschlichen Objekte eine sehr starke Expansion der a-Markierung entlang der Definitheitsskala zu verzeichnen ist (vgl. Tabelle 4) und auch bei belebten nicht-menschlichen Objekten eine erkennbare Zunahme der morphologischen Markierung zu beobachten ist (vgl. Tabelle 3), lassen sich in Bezug auf die DOM bei unbelebten Objekten keine nennenswerten Veränderungen feststellen. Die a-Markierung unbelebter Objekte war und ist noch immer eine äußerst seltene Erscheinung. Im Hinblick auf die eingangs erwähnte Fragestellung bedeutet dies, dass das Spanische von der von Company (2002a) anvisierten Generalisierung der a-Markierung für sämtliche direkte Objekte nach wie vor sehr weit entfernt ist. Aus dieser Feststellung darf jedoch nicht der voreilige Schluss gezogen werden, dass die DOM im Spanischen im Wesentlichen auf den nominalen Faktor der Belebtheit zurückzuführen ist. Wie sich gezeigt hat, ist die a-Markierung unbelebter Objekte trotz ihrer Seltenheit spätestens seit dem 13. Jh. belegt. Dabei stellt sie weniger eine stilistische Rarität als vielmehr ein systematisches Phänomen dar, das in erster Linie von bestimmten Verbklassen determiniert zu werden scheint. Reversible Verben (z.B. preceder ‚vorangehen‘) sind in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz. Sie fordern lesartabhängig eine obligatorische a-Markierung unbelebter Objekte. Ähnliches trifft möglicherweise auch auf Attributionsverben (z.B. caracterizar ‚charakterisieren‘), Wettbewerbsverben (z.B. vencer ‚bezwingen‘) und Bezeichnungsverben (z.B. llamar ‚nennen‘) zu, wenngleich diachrone Untersuchungen hierzu noch ausstehen. Abschließend sei betont, dass die angeführten Beobachtungen die typologischen Generalisierungen, wonach die diachrone Entwicklung der DOM entlang der Belebtheits- und Definitheitsskala verläuft, nicht in Frage stellen. Allerdings weisen sie darauf hin, dass Belebtheit und Definitheit weder in synchroner noch in diachroner Hinsicht eine zufriedenstellende Erklärung für die DOM im Spanischen liefern können. Ein adäquater explanatorischer Ansatz muss nicht nur den Kernbereich der DOM bei belebten Objekten erfassen. Er muss zugleich dem Umstand Rechnung tragen, dass auch die DOM bei unbelebten Objekten von Beginn an als ein systematisches Phänomen attestiert ist, das gerade nicht durch nominale, sondern primär durch verbale bzw. rollensemantische Faktoren determiniert wird.

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Entwicklung und historischer Stillstand – zur DOM im Spanischen

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Óscar Loureda / Lola Pons Rodríguez Sobre la creación de las partículas discursivas en español: tradicionalidad y gramaticalización 1

1. Introducción Como indica Antonio Briz (2008, sin página), las partículas discursivas “son el resultado de un proceso de gramaticalización; gramaticalmente hablando, antes fueron otra cosa”. El proceso por el que han pasado a ser esa “otra cosa” es una clase de cambio lingüístico que se ha solido enmarcar dentro de las cadenas, de génesis de gramática, que llamamos gramaticalización. Haciendo coincidir la eclosión de estudios sobre partículas discursivas con el nacimiento, dentro de la lingüística funcional, de la teoría de la gramaticalización, se han explicado los indicios formales, pace gramaticalización, por los que se detecta que una determinada forma comienza a trabajar por regla general extrapredicativamente hasta convertirse en partícula discursiva. 2 Ello ha implicado un reto añadido a la propia discusión de cuál es la definición que debemos dar a la clase de gramaticalización que ocurre cuando una forma empieza a funcionar como partícula discursiva. Si la definición más abarcadora y clásica de una gramaticalización señala que esta es la creación de 1 Este trabajo ha sido desarrollado con el apoyo del proyecto del MINECO “La escritura historiográfica en español: variantes y variación”, dirigido por Lola Pons Rodríguez (FFI 201345222), y del Proyecto “Partículas discursivas y cognición”, dirigido por Óscar Loureda. 2 Los términos marcador del discurso y partícula discursiva presentan tendencias de uso según los distintos autores, y, lo que es más importante, suelen emplearse para distinguir clases de diferente extensión y con propiedades parcialmente distintas. En este trabajo preferimos emplear el hiperónimo partícula discursiva, que no solo incluye a los marcadores (“unidades lingüísticas invariables [que] no ejercen una función sintáctica en el marco de la predicación oracional – son, pues, elementos marginales – y poseen un cometido coincidente en el discurso: el de guiar, de acuerdo con sus distintas propiedades morfosintácticas, semánticas y pragmáticas, las inferencias que se realizan en la comunicación”, Martín Zorraquino y Portolés 1999: 4057), sino también a unidades con la misma función semántica y análogas propiedades morfológicas que los marcadores que, sin embargo, se integran en el marco de la predicación oracional, como las partículas focales (incluso, hasta, solo, etc.) (cf. Portolés 2014: 209-210).

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nuevos elementos gramaticales o de otros aún más gramaticales (Traugott 1997), 3 las partículas discursivas son una piedra de toque para la teoría, pues el prototipo de cambio que se da en ellas cumple e incumple simultáneamente principios tenidos como propios de la gramaticalización. Así, y como se ha señalado repetidamente en la crítica (por ejemplo, Company 2004), si bien hay recategorización (1) y fijación sintagmática (2): (1) (v.) mirar, (sust.) hombre > (part.) mira, hombre; (2) al parecer de > al parecer

comúnmente – casi por definición – no hay pérdida de alcance estructural, pues las partículas discursivas pasan por lo general del nivel (sub)oracional al transfrástico. Por eso se ha planteado si el surgimiento de partículas discursivas es gramaticalización o un proceso alternativo o incluso opuesto a ella, en el que se crea discurso desde el sistema. En el estado de la cuestión (Pons Rodríguez 2010: 538-548) que expusimos al respecto de la evolución histórica de estas formas, ya señalamos que los estudios que específicamente se han ocupado de este asunto han fluctuado entre considerar que la aparición de partículas discursivas es gramaticalización, pero un tipo de canal (cline) de gramaticalización nuevo, añadido a los ya considerados (Traugott 1997, 2003, Mosegaard 1998); una gramaticalización extraoracional (Company 2004); una gramaticalización ampliada que incluya a las subjetivizaciones (Octavio de Toledo 2001/2002); o bien, considerar que la creación de las partículas discursivas es muestra de un proceso de otra naturaleza que comúnmente es denominado pragmaticalización, basado en la adquisición de propiedades discursivas allá donde antes solo había propiedades gramaticales. 4 3 “The process whereby lexical material in highly constrained pragmatic and morphosyntactic contexts becomes grammatical, and already grammatical material become more grammatical” (Traugott 1995: 15). En realidad, “más gramatical”, en el caso de la gramaticalización de las partículas discursivas no apunta a un desarrollo cuantitativo, sino cualitativo, como se puede advertir en la nueva propuesta de Traugott 2001: 1: “Grammaticalization is the change whereby lexical items and constructions come in certain linguistic contexts to serve grammatical functions or grammatical items develop new grammatical functions”. En Hopper y Traugott 2003: 1-2 se incide en este cambio (de “more” a “new”) cuando se define la gramaticalización como el proceso por el cual “lexical items and constructions come, in certain linguistic contexts, to serve grammatical functions, […] grammatical items develop new grammatical functions”. Estellés 2009: 21ss. considera estos aspectos con mayor detalle. 4 Desde el punto de vista teórico, el concepto de pragmaticalización presenta un problema de base. La característica de desempeñar una función discursiva, desde el punto de vista sincrónico, o de adquirir funciones discursivas, desde el punto de vista diacrónico, puede extenderse a todas las unidades y construcciones lingüísticas, no solo a las partículas discursivas. Por ello apunta Portolés 2014: 204 que el “principal problema de hablar de clase discursiva o función discursiva se encuentra en que, si se reconocen estos valores discursivos en una serie de palabras, ¿carecen de ellos el resto? ¿No son ‘discursivos’ los nombres o los verbos cuando se utilizan en enunciados concretos? […] Existe una tendencia – que no comparto – dentro de los estudios lingüísticos que

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Además de la propia pertinencia o necesidad de ajuste que pueda conllevar la inclusión de la génesis de partículas discursivas dentro de la teoría de la gramaticalización, hemos de resaltar también el hecho de que esta debe ser completada en lo que se refiere a la explicación de cómo se difunden socialmente (y en consecuencia, también “textualmente”) estos cambios, es decir, necesita ser complementada con los aportes de una sociolingüística diacrónica. Como señala Joseph (2004: 60), “grammaticalization proponents, while purporting to be interested in the history of particular forms and constructions, actually in practice are often ahistorical”. Como en otros niveles lingüísticos, el estudio científico de las partículas discursivas no es satisfactorio si se hace de forma inmanente e intragramatical; ello además se verifica por el hecho de que en las partículas discursivas vemos una tipología de surgimiento doble (patrimonial frente a culta) que es absolutamente paralela a la comprobada para otros elementos de la historia de las lenguas occidentales. Si bien típicamente la teoría de la gramaticalización ha observado los procesos de formación de partículas discursivas a partir de la génesis de implicaturas que se terminan adhiriendo a una forma hasta hacerla extrapredicativa, en los últimos años, la descripción de la historia de determinadas unidades ha permitido comprobar que, además de procesos de creación “de abajo arriba” de estas formas, hay también procesos “de arriba hacia abajo” que ofrecen no pocas muestras de procesos de aparición de partículas discursivas por calco de otra lengua (para el español, típicamente el latín) y posterior extensión vía textual de una forma ya plenamente usada como partícula discursiva. 5 Esta dualidad en la posible génesis de partículas discursivas obliga a redefinir de nuevo la posición de la teoría de la gramaticalización convencional como pauta explicativa única a la aparición de nuevas partículas discursivas en la historia de las lenguas. En esa perspectiva se puede verificar la pertinencia de que, para la explicación histórica de la propagación de partículas discursivas en lenguas europeas y la superación de ese sesgo ahistórico, muy frecuentemente se haya recurrido a la teoría de las tradiciones discursivas y a los principios derivados de la lingüística variacional coseriana. envía al discurso o a la pragmática las unidades lingüísticas o las construcciones sintácticas que no reflejan o contribuyen con claridad a la proposición semántica: ahora bien, todas las unidades y construcciones – desde las más sencillas para el gramático hasta las más complejas – poseen en su uso real valores discursivos y condicionan una interpretación contextualizada de acuerdo con su gramática y su semántica”. 5 En Kabatek 2008: 8s. se subraya el valor de las tradiciones discursivas: "Es esta la hipótesis fuerte de la teoría de las tradiciones discursivas: que la historia de la lengua no presenta sólo variación a nivel de dialectos, sociolectos o estilos sino que la lengua varía también de acuerdo con las tradiciones de los textos, es decir, que estos no sólo añaden sus elementos formales, sus características de género o las marcas de un tipo determinado de estructuración a los productos de sistemas ya dados sino que condicionan o pueden condicionar, a su vez, la selección de elementos procedentes de diferentes sistemas (o de un sistema de sistemas)”.

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En este trabajo nos ocuparemos de este asunto y, a partir de la partición coseriana en niveles de la lengua (Lebsanft 2005, López Serena 2011, Loureda et al. 2015, Loureda/López Serena en prensa), ubicaremos a las partículas discursivas en una teoría explicativa que incluye conjuntamente a la gramaticalización y a la teoría de las tradiciones discursivas.

2. Lengua hablada, tradiciones discursivas y partículas Al ocuparnos de las partículas discursivas que surgen desde arriba nos enfrentamos con una dirección de cambio lingüístico ya catalogada desde la sociolingüística laboviana, pero no por ello suficientemente trabajada como locus del cambio. En efecto, frente a la eclosión de trabajos sobre lengua coloquial, oralidad en uso y, a propósito del asunto que nos toca aquí, partículas discursivas en la interacción oral, el estudio variacionista de la lengua no coloquial, no escorada a lo hablado sino a lo escrito, ha sido escaso. Paradójicamente, el giro a la parole, que dio carta de naturaleza a un nuevo marco en los estudios científicos de lingüística, ha implicado un nuevo estrechamiento del objeto de estudio: la postergación de los trabajos sobre las variedades de lengua propias de la distancia comunicativa y con rasgos fuertes de escrituralidad. Superar el panorama de la lingüística de la langue, idealizada, no atenta a la actuación heterogénea del habla, no implica desatender a la actuación que nace directamente en el medio gráfico, aquella que es menos espontánea que la coloquial pero no por ello menos representativa de dimensiones del discurso estudiables desde un punto de vista científico. Históricamente, es un interrogante de relevancia preguntarse cómo se construye esa variedad escorada a la distancia comunicativa, lo que llamamos variedad de lengua elaborada. 6 Siendo que la creación ex novo es lingüísticamente escasa, lo que nos muestran las historias de las lenguas occidentales es una tendencia a imitar los resortes de la(s) lengua(s) que se tenían por cultas, poseedoras del estilo alto que describían las retóricas. Esa imitación se escorará hacia un grado de copia muy literal de la fuente (y de ahí salen estilos de lengua 6 “Con el término lengua elaborada hago referencia al conjunto de recursos pertenecientes a los diversos niveles lingüísticos (de las grafías al léxico pasando por la organización discursiva) que se tienen como propios de la distancia comunicativa y que suelen ser empleados por productores textuales que, por su grado de formación, rango de lecturas, esfera social, conocimientos metalingüísticos o tema que abordan en sus escritos, pueden representar para el resto de los hablantes una síntesis de elecciones lingüísticas valoradas como poco comunes. Entendemos que esta es una variedad concepcional que está gobernada por condiciones diafásicas de conveniencia y que tiende a ser percibida como fuente de elementos escriturales que pueden o bien permanecer restringidos a la propia variedad o bien transmitirse hasta incorporarse a la lengua estándar” (Pons Rodríguez 2015b).

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muy latinizantes y serviles en la imitación) o hacia una adaptación máxima de la forma de partida (y de ahí surgen formas más arromanzadas, pero igualmente surgidas desde arriba). Esos procesos de imitación y toma de recursos sabemos que se concentran en las etapas de elaboración lingüística, esto es, en los momentos en que se desarrollan procesos (Kloss 1952 [1978], Muljačić 1986) que incorporan nuevas posibilidades de uso de la lengua, funcionalmente (elaboración extensiva o “proceso mediante el que una lengua se apropia paulatinamente de tradiciones discursivas de la distancia comunicativa”, Oesterreicher 2007: 117) o formalmente (elaboración intensiva o “desarrollo de todos los elementos y técnicas lingüísticas que son necesarios en una lengua para una expresión elaborada y formal, característica de la producción discursiva y textual en el campo de la distancia comunicativa”, Oesterreicher 2007: 117). Consecuencia de los procesos de elaboración lingüística es el descenso de variación, la nivelación de formas que pueden estar en convivencia y el aumento del repertorio de rasgos al servicio de la distancia comunicativa. A la hora de incorporar nuevos recursos a la lengua propia, las lenguas occidentales han tomado como banco de recursos común el de la lengua latina, con la que convivían históricamente. En adquirir partículas discursivas por la vía del calco latino, el español no resulta en absoluto excepcional, ni en el ámbito de las lenguas románicas ni en el de otras lenguas occidentales (como el inglés) que no tienen al latín como lengua madre pero que han convivido con él como referencia de lengua culta. Un ejemplo de cambio lingüístico fraguado en esa clase de lengua elaborada (Pons Rodríguez en prensa b) es el estudio diacrónico del surgimiento de partículas discursivas por calco del latín. Acercarse al conjunto de las partículas discursivas traídas por esta vía implica un análisis de las condiciones culturales que rodearon a la producción de los textos que empezaron a acogerlos, esto es, supone estudiar la historicidad discursiva de estas partículas. Aunque nos queda mucho aún por saber de estas formas (lo primero y más básico: cuáles son), contamos ya con algunos trabajos específicos formas del español como a la fin (Iglesias 2007), esto es (Pons Bordería 2008), o vale decir (Garrido Martín en prensa) todas ellas muestras de calcos semánticos o léxicos de sus correspondientes equivalencias latinas (TANDEM, ID EST, STANTIS SIC REBUS, VALET DICERE). Estas nuevas partículas discursivas aparecen en los textos ya gramaticalizados y normalmente asociadas a una tradición discursiva concreta propia del ámbito de lo escrito concepcional. Tal sea el caso de la partícula discursiva así las cosas, que estudiamos en Pons Rodríguez (en prensa a). Presente en castellano desde el siglo XV, es una copia de la fórmula del derecho latino medieval REBUS SIC STANTIBUS, que expresaba la necesidad de mantener un acuerdo siempre que no hubiesen cambiado las

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circunstancias existentes en el momento del pacto 7. Este sintagma latino circula entre los libros de derecho canónico y mercantil medievales, y sigue siendo hoy, en su fórmula de latinismo craso, expresión común dentro de la variedad lingüística de la legislación y la jurisprudencia. De la propia esfera del derecho traspasó a otras variedades de discurso en latín medieval, por eso no es raro verlo en la prosa historiográfica medieval, como muestra este ejemplo latino del siglo XIV: (3) Rebus sic stantibus, obiit Margareta Flandrie et Hannonie comitissa, ac eciam Balduinus, maritus eius predictus; quibus successit filius eorum Balduinus, qui terras quas rex occupaverat recuperare intendens, villam Sancti Audomari per aliquod tempus obsedit et quoddam eius suburbium seu fortalicium quod Colof dicitur Cepit (Iohannes Longus de Ypra (Iperius), Chronica monasterii Sancti Bertini – eMGH, SS 25, Cap. 46, pars 5, pag.: 819, lin.: 48, ap. Cross Database Searchtool for Latin Databases, Brepols Publishers).

Lo que nos interesa es ver cómo de golpe, y justo en un momento especialmente escorado hacia la elaboración latinizante como el siglo XV, esta forma se introduce en la lengua, aunque con cambio: desde sus inicios y hasta el siglo XIX estuvo ligada a un verbo en gerundio (estando así las cosas, corriendo así las cosas ...) o participio (dispuestas así las cosas, puestas así las cosas ...): (4) CAPÍTULO TRECE de cómo sanct Isidoro no quiso salir de la celda donde estaba ençerrado. Estando así las cosas y toda España muy informada de la fee catholica, llevó Dios desta vida a sanct Leandro (a 1444, Alfonso Martínez de Toledo, Vida de San Isidoro). (5) Pero el rrey los más días se yva allí a oyr misa por vello y hablar con él. Estando así las cosas en calma, la princesa doña Ysabel [...] la tomó [la villa de Aranda] (c. 1481–1502, Diego Enríquez del Castillo, Crónica de Enrique IV). (6) Estando así las cosas en este estado, tuve nueva de lo sucedido (1518– 1526, Hernán Cortés, Cartas de relación).

Observamos que en un caso como el someramente ilustrado aquí, una forma en uso en una lengua histórica – el latín, que convivía en el espacio comunicativo culto medieval de forma cotidiana con el romance – entra por calco directamente a los textos romances, saltando de lengua a lengua dentro de una misma tradición discursiva, la historiografía y cambiando dentro de ella, o sea, 7 En Santos Río 2003, s.v. así las cosas se atribuyen a esta partícula discursiva dos valores fundamentales: primero, como una locución adverbial deíctico-anafórica, introduce una causa explicativa; y segundo, como una locución adverbial tempocontextual deíctico-anafórica, introduce un contexto situacional pertinente. Este valor segundo, en realidad, es el valor de orden más general que se toma aquí como significado base.

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iniciando un nuevo proceso de gramaticalización; en este caso, a partir de la eliminación del verbo que sostenía al participio de presente original: NIVEL UNIVERSAL

IDIOMÁTICO

NIVEL

rebus sic stantibus (latín)

(TEXTOUNIDAD)

así las cosas

nivel del texto (texto-nivel)

dimensión tradicional

(partícula discursiva)

escrituralidad

dimensión universal

INDIVIDUAL

estando así las cosas

nivel oracional

CREATIVIDAD

NIVEL

DETERMINACIÓN PROGRESIVA

nivel de la palabra

dimensión particular

escrituralidad

Historiografía

estando así las cosas n-veces

Figura 1: La gramaticalización por tradiciones discursivas de así las cosas

Estamos ante una clase de partículas discursivas que verifican la idea de una tradicionalidad discursiva compartida, intercambiable entre lenguas, y que confirma la idea de que hacer una lingüística del hablar diacrónico romance (Coseriu 2007 [1980]) pasa por integrar el espacio comunicativo latino-romance.

3. Gramaticalización y partículas Por otra parte, y como señalamos anteriormente, tenemos el recorrido considerado como prototípico en la génesis de partículas discursivas, según el cual a partir de inferencias conversacionales se recoloca a un elemento previamente existente como periférico en la frase hasta funcionar dentro del nivel supraoracional. La discusión de si, pese a la ganancia de alcance, esto puede ser gramaticalización, permite, a nuestro entender, ser observada con nuevos argumentos para apostar por no acuñar nuevos términos (de tipo pragmáticalización) que expliquen la creación de partículas discursivas. Sin salir del bagaje teórico de la lingüística variacional coseriana, que, como vemos, sostiene explicaciones sobre difusión de partículas discursivas y sobre su surgimiento vía calco a través del traspaso entre tradiciones discursivas, podemos ofrecer una explicación a la génesis de partículas discursivas por inferencias. Según nuestra

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hipótesis, la gramaticalización de las partículas discursivas no representaría una excepción a la tradicional (que supone un paso del léxico a la gramática, o de la gramática a algo más gramatical), sino un camino más complejo, por el que que una unidad idiomática (sistemática) desciende, “baja” al nivel del discurso (texto-unidad si se quiere, Loureda, Berty y Harslem 2015) y vuelve a reincorporarse al sistema de la lengua, pero no al lugar de su homófono preexistente, sino a otro nivel, el del texto o el supraoracional (texto-nivel). Un ejemplo al respecto que hemos considerado detenidamente en otro momento (Pons Rodríguez 2010) es el de la partícula discursiva modal del español por lo visto. Significa inicialmente, en el nivel oracional, ‘a causa de, a partir de las cosas vistas’, y se usa, con su sentido referencial pleno, como fundamento de una aserción, dada su naturaleza causal. Así se emplea comúnmente en discursos hasta el siglo XIX, momento a partir del cual por lo visto ya no tiene relación con el acto de percepción física sino que se usa como el sostén indirecto de lo dicho: (7) Claros varones, viendo la sangrienta/batalla entre don Diego, que a retado/a Çamora, y teniendo bien en cuenta/todo lo que sobre ello a resultado/fallamos por lo visto que sea esenta/Çamora, y a don Diego le sea dado (1579, Juan de la Cueva, Comedia de la muerte del rey Sancho). (8) Pero el lector sabía acaso una cosa que Elvira no sabía por lo visto, o que no había reflexionado bastante (1834, Mariano José de Larra, El doncel de don Enrique el Doliente). (9) Por lo visto, la crisis económica condicionará la economía también durante el 2015.

Es decir, por lo visto ya vuelve a “subir” a la lengua, con un nuevo valor modal, aunque instalado en otro lugar o nivel: el texto-nivel. En esquema:

NIVEL INDIVIDUAL

(TEXTO-UNIDAD)

nivel de la palabra por lo visto 1

nivel oracional

por lo visto 2

nivel del texto (texto-nivel) dimensión universal dimensión tradicional dimensión particular

Figura 2. La gramaticalización de por lo visto

CREATIVIDAD

NIVEL IDIOMÁTICO

DETERMINACIÓN PROGRESIVA

NIVEL UNIVERSAL

por lo visto n veces

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Este es el recorrido comúnmente considerado de la gramaticalización, influido por aspectos semántico-cognitivos (el parecido metonímico entre ‘ver con los ojos’ y ‘ver con la mente’). Desde el punto de vista del contenido se trata de una convencionalización de inferencias conversacionales. Dicho de otro modo, se trata de un proceso por el que se fija estructuralmente lo que originalmente era una estrategia discursiva. Aparentemente se presenta como un proceso unidireccional (se crea lengua desde el discurso y además tiene lugar un “descenso” dentro de la lengua, pues se pasa del léxico a la gramática) y se produce una ampliación de alcance respecto de la predicación (la partícula se “externaliza” y gana “autonomía”). Consideremos aún un tercer ejemplo, el de la gramaticalización de vaya. En Octavio de Toledo (2001/2002) se presenta su desarrollo, que recorre un “viaje de ida y vuelta”, en palabras del autor, desde la gramática básica (vaya como subjuntivo de aceptación) hasta convertirse en partícula discursiva (vaya, que se casa) y de ahí pasa a ser un cuantificador exclamativo intensivo, proceso que tiene lugar en el español decimonónico: vaya cochazo: (10) - Señora, la siesta entra muy caliente; aquí dormiréis hasta que venga la fría. Y en tanto enbiaré a Gandalín aquella villa y traernos ha con que nos refresquemos. - Vaya – dixo Oriana; ¿mas quien gelo dará? (Garci Rodríguez de Montalvo, Amadís de Gaula). (11) Vaya ahora dos dosquines graciosos y picantes de Roma (Jerónimo de Barrionuevo, Avisos). (12) Vaya doncella que me he echado (Benito Pérez Galdós, La de Bringas). NIVEL

IDIO-

MÁTICO

NIVEL INDIVIDUAL

(TEXTOUNIDAD)

nivel de la palabra vaya 1 (subjuntivo de aceptación) vaya 3 (cuantificador)

nivel oracional nivel del texto (texto-nivel)

vaya 2 (partícula discursiva) •

dimensión universal dimensión tradicional dimensión particular

CREATIVIDAD

NIVEL

DETERMINACIÓN PROGRESIVA

UNIVERSAL

vaya 1 n-veces

vaya 2 n-veces

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Figura 3: La gramaticalización de vaya

La gramaticalización de vaya, por un lado, y de así las cosas y por lo visto, por otra, suponen contraejemplos al concepto de unidireccionalidad. La gramaticalización es “unidireccional” si se considera como el paso de una unidad léxica a una gramatical 8, pero no lo es en otros sentidos: el ejemplo de vaya muestra que la dirección de la gramática oracional a la gramática discursiva 9 solo puede ser una tendencia, pues las partículas discursivas no siempre son el final del proceso de gramaticalización; el ejemplo de por lo visto muestra que una cadena unidireccional que va del significado proposicional al textual y, finalmente, al expresivo presenta serios contraejemplos 10; y, por último, el ejemplo de así las cosas muestra que la unidireccionalidad no se puede entender sin más como regla si se considera que toda gramaticalización es de “abajo arriba” (cf. supra), esto es, como convencionalización de inferencias pragmáticas en la medida en que la semántica procedimental de las partículas discursivas codifica restricciones sobre la fase inferencial de la interpretación.

4. Partículas discursivas y significado procedimental El paso de un significado conceptual a uno procedimental, que a nuestro juicio caracteriza toda gramaticalización de las partículas discursivas, se suele caracterizar, por lo demás, como “debilitamiento semántico”, “empalidecimiento” o “desemantización” (Bybee 2003, por ejemplo). 11 En relación con el 8 El cambio en sentido contrario (degramaticalización, Haspelmath 1999: 224, o lexicalización cf. Kuryłowicz 1965) se restringe a la creación léxica con base metalingüística: pero > poner un pero. 9 Así, la gramaticalización como “change whereby lexical items and constructions come in certain linguistic contexts to serve grammatical functions or grammatical items develop new grammatical functions” (cf. nota 2) no puede ser equiparado como una cadena que pasa de la esfera oracional y la discursiva. 10 El paso de lo textual a lo expresivo no siempre se advierte con esta linealidad. Ciertas unidades, como la partícula modal por cierto, pasan primero del nivel oracional al texto-nivel, adquiriendo valores gramaticales transfrásticos, para posteriormente volver a hacer el recorrido de la gramaticalización hasta generar un nuevo marcador del discurso, esta vez con carácter modal o en general “expresivo”. En la gramaticalización de por cierto existen dos valores de lengua. De un valor como sintagma libre, con el significado (en parte “persistente”) de “por verdad”, se genera en la Edad Media un valor evidencial, y desde este valor se deriva un segundo valor de carácter digresivo sobre cuya antigüedad no hay aún acuerdo entre los investigadores (López Izquierdo 2006: 74, Bustos 2002: 80, Porcar/Velando 2008). 11 Más recientemente se habla de subjetivización en tanto que enriquecimiento de las funciones pragmáticas en perjuicio de las semánticas en la medida en que las unidades gramaticalizadas pasan de estar orientadas al enunciado a estarlo a la enunciación (Sweetser 1988). En realidad, la subjetivización no debe interpretarse, en el caso de las partículas discursivas, como el paso de un significado ‘objetivo’ a uno ‘subjetivo’ o modal, sino más bien como el resultado de la voluntad o intención del hablante por “marcar” o introducir en el discurso alguna instrucción relativa a

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término “delibitamiento” (semantic bleaching) se organiza una red conceptual que se basa en términos como reducción semántica, descoloramiento semántico, agotamiento semántico, generalización o erosión, todos ellos empleados para definir y describir el paso de un significado “más pleno” a un significado “menos pleno”. El problema de la terminología, aun no siendo crucial, orienta a ciertas inexactitudes a partir de un hecho cierto, a saber, que este debilitamiento parece asumir que la función de ‘marcación del discurso’ se puede producir a partir de una pérdida paulatina del significado de origen de estos elementos, es decir, a partir de una desemantización que afecta sobre todo al significado conceptual, mientras que es el significado procedimental (o los diversos significados procedimentales) de un término el que posibilita la adquisición de nuevos valores discursivos (Montolío 1998, Fischer 2006). Dicho de otro modo, al tiempo que ciertos elementos lingüísticos pierden la capacidad de suscitar representaciones conceptuales durante la interpretación de los enunciados, estos van ganando sistemáticamente valores relacionales que actúan en la organización discursiva imponiendo restricciones sobre la fase inferencial de la interpretación (Garachana 1999). Por tanto, más que de debilitamiento habría que hablar de una transformación o conversión en la que el contenido representacional o conceptual se subordina a una instrucción. Si el paso de un significado fundamentalmente referencial a un significado fundamentalmente instruccional o procedimental fuera un debilitamiento, cabría esperar que los costes de procesamiento de estas unidades fueran en relación con los de unidades con un significado léxico o bien más bajos cuantitativamente hablando o bien menos relevantes. En este sentido la lingüística diacrónica puede aprovechar argumentos aportados por la lingüística empírica.

5. Partículas discursivas y análisis experimental: la medición de los costes del significado de procesamiento Con el método del eyetracker se registran los costes de procesamiento de enunciados completos y de cada una de las unidades léxicas que lo componen por separado, resultados sobre los que se hallan los promedios del procesamiento de una palabra en dichos enunciados. Tomamos la fijación ocular como parámetro principal de medición del esfuerzo de procesamiento (cf. Rayner 1998). Desde el punto de vista oculomotriz, el ojo humano reconoce signos sucesivamente durante la lectura a través de desplazamientos no lineales. Cuando leemos alguna de estas esferas: a) la proyección del hablante sobre lo que dice o sobre su decir, b) el contacto entre las personas que participan en el discurso o c) la organización argumentativa, formulativa, estructural o informativa del discurso.

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parece que los ojos perciben de manera continua y uniforme a través de las líneas escritas, pero, en realidad, avanza a pequeños saltos llamados movimientos sacádicos (cf. Just/Carpenter 1980) que se alternan con períodos de relativa quietud llamados fijaciones. Las fijaciones permiten la percepción y la extracción de la información y reflejan, así, directamente el esfuerzo cognitivo. Las fijaciones y los costes de procesamiento que indican, se analizan por medio de una variable: el tiempo total de lectura, que resulta de la suma de todas las fijaciones realizadas sobre una palabra. Consideremos desde el punto de vista experimental el comportamiento de un grupo de hablantes nativos del español durante la lectura de enunciados en los que existen dos partículas discursivas funcionalmente muy distintas, una partícula focal como incluso y un conector contrargumentivo como sin embargo. Las partículas focales determinan la estructura informativa de un enunciado. Así, en (1), (2) y (3): (1) Natalia estudia incluso partícula focal noruego foco (2) Natalia estudia (español) alternativa , incluso partícula focal noruego foco (3) Natalia estudia (español, francés) alternativa , incluso partícula focal noruego foco

El adverbio de foco incluso presenta el elemento sobre el que incide, en este caso noruego, como foco del enunciado. Incluso forma parte del paradigma de los adverbios de foco “inclusivos” (cf. König 1991), orienta a una escala aditiva, en la que el foco y los elementos de la alternativa se suman, a diferencia de las partículas focales “exclusivas” (por ejemplo solo), donde la alternativa no se añade al foco (cf. Horn 1969). La alternativa puede estar sintagmáticamente presente, como en 2 o en 3, o no (en 1), donde solo es alcanzable contextualmente. El operador de foco incluso codifica una instrucción escalar, es decir, introduce un elemento (noruego en (1), (2) y (3)) al que marca como más informativo que la alternativa (en (1) accesible solo contextualmente, en (2) español y en (3) español y francés). 12 En los resultados del tiempo total de lectura observamos que los costes de procesamiento de la partícula focal incluso son significativamente más elevados que los de las demás palabras del enunciado, todas de significado léxico, salvo el nombre propio, Natalia, que no es un nombre de clase: tiempo total de lectura [milisegundos]

12 Un valor dentro de una escala es más informativo que otro si modifica en mayor medida las suposiciones existentes en la mente del interlocutor (cf. Portolés 2004: 255s.).

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Sobre la creación de las partículas discursivas en español

partícula focal Natalia estudia incluso 962,61 ms noruego Natalia estudia español incluso 903.96 ms noruego Natalia estudia español, francés, 739,22 ms incluso noruego

13

palabra léxica

ANOVA

439,84 ms

[F(1.60) = 19.39, p < .01]

470,37 ms

[F(1.60) = 11.63, p < .01]

422,65 ms

[F(1.60) = 8.92, p < .01]

Tabla 1: Tiempo total de lectura (ms) de enunciados con una partícula focal (incluso)

Se verifica así que los costes de procesamiento de una unidad con significado instruccional, como la que nos compete son más elevados que los de la media de las demás palabras, pues este significado codifica convencionalmente una instrucción relacional que incide directamente en la recuperación de la estructura informativa y del supuesto comunicado por un enunciado (cf. Portolés 2010). En la medida en que operadores focales como incluso pierden significado representativo y ganan una función de organización del supuesto comunicado, organización cognitiva, estructural o argumentativa, marcan el discurso y condicionan el procesamiento de los miembros del discurso en los que incide. Esta función, en realidad, es, bajo las condiciones dadas (estructura SVO con escalas pragmáticas) más costosa cuantivamente que la mera representación de una realidad. Que una partícula discursiva sea “más costosa” no significa que toda partícula en cualquier circunstancia presente más costes, sino que de alguna manera dirige el proceso de comprensión. Este es el caso de los conectores argumentativos como sin embargo. En general, en nuestros experimentos no parecen advertirse costes cuantitativos más elevados en el procesamiento del conector sin embargo, pero sí parecen advertirse efectos cualitativos en el conjunto de miembros discursivos afectados por la relación del conector. El conector tiene una valor “transitivo” que determina los valores relativos de las áreas en las que incide. En un enunciado sin conector contrargumentativo la conexión entre dos miembros discursivos como Estos niños comen mucho dulce y Están sanos presenta mayores costes de procesamiento en el segundo miembro que en el primero. tiempo total de lectura [milisegundos] M1

M2

13 Para determinar la significación estadística usamos un nivel alfa de 0,05. Un resultado de la prueba (p) por debajo de ese valor nos aporta un nivel de confianza del 95% de que las diferencias observadas son significativas.

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Estos niños comen mucho dulce. Sin embargo, están sanos. Estos niños comen mucho dulce. Están sanos. ANOVA

243,76 ms

330,55 ms

323,19 ms

529,48 ms

M1 vs M1

M2 vs M2

F[(1.38) = 2.01, p = .16]

F[(1.38) = 5.83, p = .02]

Tabla 2: Tiempo total de lectura (ms) de enunciados con un marcado contraargumentativo (sin embargo)

En el segundo miembro se advierten costes de procesamiento significativamente más elevados (529,48 ms) en relación con el miembro precedente (323,19 ms), esto es, un incremento de un 63%. Este incremento muestra que la relación argumentativamente antiorientada del segundo miembro discursivo, Están sanos, en relación con el primer miembro es difícil de construir si no se marca. Cuando se introduce la marca explícita, el segundo miembro discursivo exige, estadísticamente hablando, menos costes, 330,55 milisegundos (se reducen un 37% en relación con los de ese mismo miembro discursivo cuando el conector no está presente, 529,48 ms) y sus costes se equiparan a los del primer miembro. En suma, la instrucción de sin embargo permite reducir costes de procesamiento de otras áreas en las que directamente incide. Expresa un tipo determinado de función argumentativa y contribuye a imponer interpretaciones muy específicas a los fragmentos del discurso que une.

6. Conclusiones Si bien estas páginas han pretendido ser solo el apunte y el planteamiento de interrogantes que pueden ser trabajados con mayor demora en trabajos de mayor extensión, creemos que es posible a partir de los varios ejemplos expuestos replantearse alguno de los apriorismos que damos por comunes al investigar de forma clásica en la gramaticalización de partículas discursivas. Por un lado, hemos argüido con ejemplos que estudiar de forma ahistórica el proceso de génesis de partículas discursivas dejaría fuera a todas los surgidos por elaboración y conllevaría una innecesaria postergación del plano de la tradicionalidad del discurso, tan relevante, por otro lado, para delimitar el proceso de difusión de un cambio. Por otra parte, hemos mostrado que la cadena de gramaticalización que se da en estos casos implica un paso del significado conceptual al procedimental. El cambio no es, pues, un mero cambio sintáctico en el que la función representativa no se enriquece, sino más bien un esfuerzo de fijar estrategias discursivas (informativas) concretas. Las partículas discursivas, frontera entre la sintaxis y la pragmática, se recargan

Sobre la creación de las partículas discursivas en español

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especialmente en los procesos de gramaticalización y muestran una heterogeneidad probablemente mayor que otras unidades. Por último, nos parece interesante incidir en el hecho de que tanto la Lingüística Histórica como la Lingüística Aplicada resitúan algunos de los elementos tenidos por comunes en las cadenas de gramaticalización. Así, como hemos expuesto al final del artículo, la idea de que hay un decoloramiento semántico en los elementos gramaticalizados no implica (más bien lo contrario) que las partículas discursivas gramaticalizadas se procesen con menos costes cognitivos que los elementos de fuerte significado léxico referencial.

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Steven N. Dworkin El valor analítico de las primeras documentaciones en los diccionarios etimológicos 1

1. Dataciones en los diccionarios etimológicos de las lenguas romances Desde comienzos del siglo XX, la etimología románica se fue convirtiendo en la redacción de la historia o biografía completa de una palabra o de una familia léxica. Este cambio de perspectiva se debe a los esfuerzos de especialistas destacados como Jakob Jud, Walther von Wartburg, Kurt Baldinger y Yakov Malkiel. Ya en el prefacio (1922) del primer fascículo de su Französisches Etymologisches Wörterbuch (FEW) Wartburg distinguió de modo explícito entre ‘Etymologie’ y ‘Wortgeschichte’, subrayando su deuda intelectual a la inspiración sacada de las Romanische Etymologien del ilustre romanista austriaco Hugo Schuchardt. La identificación del origen inmediato de la palabra que se estudia llegó a ser sólo el primer paso, aunque de importancia primordial, en el proceso investigador. Así la etimología se fue incorporando a la lexicología diacrónica, disciplina más amplia en sus perspectivas científicas, disciplina a la cual ha contribuido nuestro homenajeado. Entre los puntos (casi) obligatorios que debe tratar hoy el historiador de palabras individuales o de familias léxicas figura la fecha de la primera documentación textual de la palabra pertinente. Puede ofrecer a su lector una fecha precisa (de ser factible) o puede indicar un siglo, quizá con especificaciones como “primera mitad” o “segunda mitad”. Parece que entre los romanistas el innovador al respecto fue Walther von Wartburg. Ya en los primeros fascículos del FEW el etimologista suizo indicó (aunque de manera poco consecuente) el siglo en el que se documentó por primera vez la palabra cuya historia 1 Quiero hacer constancia de mi agradecimiento a Rafael Cano Aguilar, Carmen Llantada Pérez y Francisco Rodríguez Collado por sus correcciones de lengua. También le doy las gracias a Thomas M. Capuano por haberme proporcionado datos importantes sobre la versión aragonesa de los Opera Agriculturae de Palladio.

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iba redactando. Sin embargo no abordó en las valiosas observaciones metodológicas insertadas en el Prefacio la cuestión del posible valor analítico de las primeras dataciones. Tampoco desarrolló este tema en su importante ensayo metodológico (1929) en el que destaca el papel del francés literario en el estudio de la historia del léxico francés. Siguieron a Wartburg en la indicación por siglos de las primeras documentaciones Ernst Gamillscheg en la primera edición (1928) de su Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache 2 y, unos veinte años después, los italianos Giovanni Alessio y Claudio Battisti introdujeron la indicación de la primera documentación en la tradición etimológica italiana. Con respecto a la tradición etimológica española la introducción de la fecha de primera documentación se debe a Joan Corominas en la primera edición (1954–57) de su Diccionario critico-etimológico de la lengua castellana (DCELC). En muchos casos el autor señala una obra literaria o una fuente documental precisa en lugar de indicar sólo el siglo pertinente. Muchas de las reseñas a las que dio lugar la primera edición del DCELC se dedicaron a proporcionar fechas más tempranas para determinadas palabras sin analizar a fondo el contenido de los artículos respectivos. Los editores de textos medievales (y aun premodernos) se empeñaron en ofrecer ejemplos sacados de la obra escogida que les permitieran adelantar la fecha de primera documentación registrada por Corominas. Aunque estas “antedataciones” tengan cierto valor documental, los autores de las reseñas pertinentes casi nunca se tomaban la molestia de explicar si la fecha más temprana afectaba el análisis etimológico propuesto por Corominas para el vocablo que se estudiaba (una excepción la constituye Pottier (1958)). Para ser justo con el gran etimologista, hay que recordar que, a pesar de las fechas de publicación del DCELC, Corominas había llevado a cabo gran parte de las investigaciones en los años cuarenta mientras vivía en el exilio en Mendoza (Argentina) donde no disponía de ricos recursos bibliográficos. También en esta época la selección de ediciones rigurosas y fidedignas de textos medievales era muy reducida. En la segunda edición muy revisada y aumentada de este diccionario, publicada bajo el título Diccionario crítico etimológico castellano e hispánico (DCECH) en colaboración con José Antonio Pascual (Corominas/Pascual 1980–1991), se han revisado muchas de las fechas de primera documentación. Al ofrecerlas Corominas no distingue entre la fecha de la composición de la obra en que sale la palabra por primera vez y las fechas de los manuscritos que la han conservado. Se sabe que con respecto al español medieval la mayoría de los textos de los siglos XIII y XIV nos han llegado en copias preparadas en el 2 Sobre la investigación de las primeras documentaciones en la lexicología histórica francesa el lector puede valerse de las observaciones en Höfler 1969 y Möhren 1982.

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siglo XV. Nunca se puede descartar la posibilidad de que sean los copistas posteriores los que han introducido cambios léxicos en el texto de que el lexicólogo se ha valido para fijar la primera documentación de una palabra. Corominas ha seguido el mismo procedimiento en su Diccionari etimològic i complementari de la llengua catalana (DECat). Los especialistas en la lexicología diacrónica portuguesa carecen de un buen diccionario etimológico. Muchas de las primeras dataciones ofrecidas en Machado (1952-59) han sido rectificadas en Lorenzo (1968). Hay que sopesar el valor analítico de las fechas de primera documentación con mucho cuidado. En muchos casos tales fechas tienen sólo un valor relativo. Cualquier palabra española heredada directamente del latín hablado de la Península Ibérica (capa lingüística que incluye las palabras prerromanas y los tempranos germanismos) por vía oral existe en hispanorromance desde el principio aunque se documente por primera vez unos siglos después de la aparición de textos escritos en la lengua vernácula. Tales casos de primera documentación son fortuitos y a menudo no añaden nada al estudio de la palabra cuya historia se traza. La documentación léxica que nos ha llegado depende en gran parte de la selección y las preferencias léxicas de los autores y copistas del pasado. Habrá palabras ya arraigadas en la lengua cotidiana que, por razones que desconocemos, no gozaban de prestigio suficiente, frente a otras voces sinonímicas, para entrar en la lengua escrita. Ofrezco aquí un par de ejemplos. Casi todos creen que zorro es de origen prerromano (aunque la lengua específica no pueda identificarse), lo cual indica que la palabra habrá formado parte de las capas más antiguas y arraigadas del léxico de la lengua hablada. Sin embargo no se documenta hasta mediados del siglo XV (CORDE). En las centurias anteriores las fuentes a nuestra disposición ofrecen vulpeja/gulpeja < VULPECULA y raposo, una creación interna de la lengua. Si ganso, documentado por primera vez en la poesía cancioneril del siglo XV es una palabra tomada de los visigodos, tendrá una historia larga en la lengua hablada, aunque los textos medievales emplean oca ( /gr-/, estudiado a fondo en Figge (1965). A juzgar por la abundante descendencia de GRASSUS en las lenguas romances, debe haber gozado de gran vitalidad en la lengua hablada del Imperio mucho antes de su primera documentación tardía en la tradición escrita. Entre los continuadores de esta base figuran sard. grassu, rum. gras, dalm. gres/grus, istriot. gràso, it. grasso, lad., friul., rom. gras, fr., occ., gasc., cat., gras (cf. Dworkin/ Maggiore 2014a). Muchos romanistas incluyen aquí el esp. graso y el ptg. grasso como productos auctóctonos de GRASSUS. En las dos ediciones de su magistral diccionario etimológico del español (s.v. graso) y en su diccionario etimológico del catalán (4: 621), Corominas se apartó del dictamen de sus colegas, poniendo en tela de juicio el estatus del esp. graso como forma heredada de GRASSUS. Tachó el adjetivo español de “palabra rara y

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poco popular” y optó por analizarlo como derivado secundario del sustantivo emparentada grasa. Dio como fecha de primera documentación del adjetivo el Universal Vocabulario (1490) de Alfonso de Palencia, donde figura en la entrada para el latín obesum, hecho que puede apoyar su caracterización arriba citada de graso. Se puede adelantar por más de un siglo la fecha de primera documentación de grasso. En este caso hay implicaciones que tocan la identificación de su origen. El adjetivo grasso se documenta en el hispanorromance medieval ya en la segunda mitad del siglo XIV. Hasta aquel entonces la comunidad lingüística empleaba gruesso (moderno grueso) y gordo para expresar las nociones incluidas en el ámbito semántico de grasso. Todos los primeros ejemplos se encuentran en textos procedentes de las regiones lingüísticas de la Corona de Aragón. El adjetivo se da en varios textos redactados en el scriptorium de Juan Fernández de Heredia (Libro de Marco Polo, Crónica de los emperadores, Rams de flores, Traducción de la Historia contra Paganos de Orosio, Traducción de las Vidas paralelas de Plutarco) (Mackenzie 1984: 73; también CORDE). De importancia capital para nuestro análisis es la presencia de 17 ejemplos de la familia de grasso en la traducción aragonesa llevada a cabo entre 1380–1385 por Ferrer Sayol, protonotario de la reina Leonor del Opus agriculturae del escritor romano Palladius Rutilius Taurus Aemilianus (siglo V). Este texto, cuyo manuscrito lleva el título Libro de Palladio, ofrece también un ejemplo del sustantivo grasseza. Los especialistas que han estudiado esta traducción creen que el texto aragonés se basa en una versión intermedia catalana preparada por el mismo Ferrer Sayol y no sobre un manuscrito en latín (Capuano 1990, 2006, Martínez Romero 2008). También se sabe que el catalán desempeñó un papel importante en el perfil lingüístico de los textos producidos en la corte de Juan Fernández de Heredia. El adjetivo gras se documenta en catalán desde la época de los primeros textos (por ejemplo, en Llull, DECat 4: 620). Aún después de su introducción en el español el adjetivo graso no parece haber gozado de mucha vitalidad en la lengua medieval tardía 3 y premoderna a juzgar por los datos proporcionados por CORDE y por su ausencia como lema en casi todos los diccionarios desde Nebrija hasta la primera mitad del siglo XVIII cuando sale en el diccionario bilingüe español-inglés del Capitán John Stevens (1726) donde se traduce como ‘fat, greasy’. Nieto Jiménez y Alvar Ezquerra (2007: s.v. graso) lo registran como equivalente del latín pinguis y del francés gras en el anónimo Quinque Linguarum Utilissimus Vocabulista 3 CORDE registra ejemplos sueltos en el Libro de las propiedades de las cosas de Fray Vicente de Burgos (1494) y en el Vocabulario eclesiástico de Rodrigo Fernández de Santaella (1499). También ofrece ejemplos medievales y premodernos de un sustantivo grasso ‘grasa’, sustantivo que se da con frecuencia en Diego de Santiago, Arte reparatoria y modo de separar los licores … (1598).

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(Venecia, 1526) y en el Recueil de dictionnaires françoys, espaignols et latins de Henricus Hornkens (1599). Son escasos en textos medievales y premodernos los ejemplos de los derivados grasseza y grassura; ni el uno ni el otro se registra en el Diccionario de Autoridades. Parece que el adjetivo entró en fecha aún más tardía en el occidente de la Península Ibérica. No he podido localizar ningún ejemplo de grasso en el portugués medieval. No figura como lema en la sección portugués-latín del diccionario bilingüe de Jerónimo Cardoso (1569); en la parte latín-portugués Cardoso emplea cousa grossa como glosa del lat. crassus. Machado (1952-59: s.v. grasso) cita como primera documentación del adjetivo portugués un texto del siglo XVI, Consolaçam as tribulaçoens de Israel (Ferrara, 1553), del converso Samuel Usque. ¿Puede esta fecha tardía de primera documentación apoyar la hipótesis de que el ptg. grasso sea un castellanismo? El destacado especialista en la historia del léxico asturiano, Xosé Lluis García Arias me señala (comunicación personal) la ausencia de grassu en el asturiano.

3. La historia de RANCIDUS en español y portugués A excepción del dálmata, el adjetivo latín RANCIDUS ha dejado descendencia en todas las ramas de las lenguas romances: sard. ránkidu, rum. ranced, it. sept. rancio, it. cent.-mer. rancedo, friul. rànzit, lad. dolom. rance, rom. rontsch, fr. rance, occ. ranse, gasc. rance, cat. ranci, esp. rancio, port. ranço (cf. Dworkin/ Maggiore 2014c). 4 Aunque el adjetivo no se documente en los datos exiguos que tenemos sobre el léxico del dálmata, el croata ranketiv/rankav demuestra de modo indirecto la presencia de la familia de RANCIDUS en el latín balcánico. Como en el caso de GRASSUS estudiado arriba, la fecha tardía de la primera documentación del español rancio nos induce a replantear la cuestión del camino seguido por este adjetivo al introducirse en el hispanorromance medieval. Aunque sea pura casualidad, las historias de los dos adjetivos que se estudian aquí siguen caminos paralelos. Como en el caso de graso, el DCECH da como primera documentación de rancio el Universal Vocabulario de Alfonso de Palencia (1490), donde el adjetivo se emplea en la explicación de la forma verbal latina rancet. Pero más importante es que los datos proporcionados por CORDE den como primera documentación de rancio la misma versión aragonesa basada en una fuente catalana del Opus Agriculturae de Palladio. El adjetivo rancio sale cuatro veces en este texto acompañado de un ejemplo de rancioso y 4 Adjetivos como it. ràncido, esp. ráncido, ptg. râncido son latinismos que han entrado en las lenguas respectivas por vía escrita.

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uno de ranciedat. Con respecto al catalán, Corominas declara “tant ranci como rancor i rancura ja apareixen en el primer segle literari” (DECat 7: 90), es decir mucho antes de la primera documentación en el hispanorromance. 5 El CORDE registra un solo ejemplo de rancio en el Cancionero de Pedro Marcuello (poeta zaragozano que compiló su Cancionero entre 1482 y 1502) y otro en el Cancionero de obras de burlas provocantes a risa (Valencia, 1519). Puesto que rancio suele emplearse con referencia a temas poco tratados en la literatura medieval, puede ser que la escasez de ejemplos textuales no refleje su vitalidad en la lengua hablada. 6 A diferencia de grasso, rancio figura como lema en el Vocabulario español-latino de Nebrija: “Rancio o rancioso: rancidus a um”. La presencia de ejemplos esparcidos de rancioso en textos del siglo XV puede servir de indicio indirecto de cierto grado de vitalidad de rancio en el Medioevo tardío. ¿Indica rancioso que rancio se empleaba también (quizá de modo esporádico) como sustantivo en la lengua medieval tardía y en la lengua premoderna (cf. ptg. ranço, abajo)? 7 El Vocabulario español-latino de Nebrija ofrece como lema aparte “Rancio: rancor oris, ranciditas atis”. El cognado gallego-portugués ranço aparece solamente una vez, en la forma femenina rança, en la documentación medieval, a saber en las Cantigas de Santa María. En la Cantiga 9, v. 153 se lee lo siguiente: “Carne, non multamos/se fez e saia/dela, mas non rança”. 8 Este ejemplo único se presta por lo menos a dos interpretaciones posibles. La forma gallego-portuguesa refleja el desarrollo normal de la base latina; cf. LIMPIDUS > limpo (via limpio), SAPIDUS > saibo (via sabio), SUCIDUS > sujo, TEPIDUS > tibo. La escasez de ejemplos textuales puede reflejar la ausencia en los textos medievales de contextos apropiados para el empleo de un adjetivo con tales significados. Puesto que se trata de una forma documentada en un texto poético, ¿sería posible pensar en la adaptación del cognado del occitano antiguo cuya forma feminina ransa (la única documentada) se encuentra en un texto de fines del XII o comienzos del XIII? Parece haberse lexicalizado en la lengua premoderna como sustantivo. Ya en el siglo XVI Cardoso en su diccionario bilingüe pone como glosa a ranço el sustantivo latín RANCIDITAS. La sección latín-portugués emplea rançoso en su traducción de RANCEO y de RANCIDULUS. En su Vocabulário português-latino de 1720 Bluteau lo define de la siguiente manera: “Diz se do toucinho & de outras 5 El catalán antiguo *ranceu < RANCIDUS se transformó en ranci bajo la influencia del femenino rancia; cf. valenciano antiguo rànciu, rància citado en Gulsoy 1981: 31f. 6 Aún en latín RANCIDUS sale en muy pocos textos; cf. Thesaurus Linguae Latinae 11/2: 72. 7 El Diccionario de la Real Academia Española sigue registrando ‘cualidad de rancio’, ‘tocino rancio’ y ‘suciedad grasienta de los paños mientras se trabajan o cuando no se han trabajado bien’ como las acepciones de rancio empleado como sustantivo. Registra el adjetivo rancioso como equivalente de rancio. 8 Este trozo no sale en la posterior versión prosificada castellana de esta cantiga.

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carnes, que de velhas, ou por estarem fechadas, ou descubertas, se comencão a corromper e contrahem un azedinho com mao cheyro & mao sabor”. Ofrece la frasecita “cobrar algum ranço”. Houaiss (2009: 1609) registra ranço sólo como sustantivo cuyo significado primordial es ‘decomposição ou modificação que sofre uma substância gordurosa em contacto com o ar, dando causa a um gosto acre e um cheiro desagradável’. El portugués emplea rancioso como equivalente del adjetivo español rancio. Según el Diccionario de la Real Academia Galega la palabra rancio se emplea como sustantivo y adjetivo con todos los significados que se ven en el esp. rancio y el ptg. ranço. El Tesouro informatizado da lengua galega (ilg.usc.es/ TILG/) ofrece 92 ejemplos de rancio empleado como adjetivo en fuentes gallegas escritas entre 1853 y 2012. Al lado de rancio el Tesouro do léxico patrimonial galego y portugués (ilg.usc.es/Tesouro/) registra las variantes arrancio y rencio. A juzgar por evoluciones gallegas como FLACCIDUS > lacio, LIMPIDUS > limpo, RIGIDUS > rejo, TEPIDUS > tibo (García de Diego 1909: 38), la forma gallega rancio puede interpretarse como castellanismo que hubiera desalojado la forma autóctona *ranco, para la cual el Tesouro informatizado da lengua galega no proporciona ningún ejemplo. Aunque no sea el tema central de este estudio, la historia de la progenie de RANCIDUS en el galorrománico merece un breve comentario. Los dos ejemplos occitanos (ambos de la forma femenina ransa) proceden de fines del siglo XII o comienzos del XIII. El adjetivo francés rance comienza a salir en los textos a partir de la primera mitad del siglo XIV. Esta forma no representa el desarrollo por vía oral de la base latina, la cual hubiera producido *rancde > *rande (cf. RAPIDUS > *rapde > rade, SAPIDUS > *sapde > sade). Wartburg (1922-: s.v. RANCIDUS) y Meyer-Lübke (1935: s.v. RANCIDUS) clasifican rance como préstamo tardío del latín adaptado a las normas fonéticas de la lengua vernácula (cf. ARIDUS > are, PALLIDUS > pâle, de la Chaussée 1988: 36, 53). 9 Como en el gallego y el portugués el adjetivo rance acabó por lexicalizarse en la lengua premoderna como sustantivo.

4. Conclusión breve La etimología no es una ciencia precisa; más bien, es una disciplina basada en hipótesis y tendencias probabilísticas. No hay algoritmos que se apliquen de modo mecánico para resolver cuestiones etimológicas dudosas o polémicas. Cada problema y cada solución son únicos. Con respecto a palabras de origen 9 Gamillscheg (1928: s.v. rance) da el siglo xvi como fecha de primera documentación y explica rance como préstamo del provenzal o del italiano.

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latino, una fecha de primera documentación tardía por sí sola puede prestarse a interpretaciones diversas. Puede deberse al puro azar de la documentación y de la selección léxica en los textos medievales o, en algunos casos, puede ser una luz roja que advierte al etimologista que se trata de una palabra cuya historia no haya seguido los cauces normales de la transmisión oral. No niego que el análisis propuesto en este estudio puede parecer atrevido a algunos especialistas. Sin embargo tales hipótesis y las reacciones e investigaciones ulteriores que provoquen son cómo se avanza la ciencia.

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Early Louisiana French Correspondence Auf den Spuren des Kolonialfranzösischen im 18. und 19. Jh.

1. Einleitung Das Französische in Nordamerika gehört ohne jeden Zweifel zu den am besten beschriebenen Varietäten des français d’outre-mer, wobei es deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen gibt. Während es zum français québécois sowohl in synchroner als auch in diachroner Hinsicht zahlreiche Arbeiten gibt, 1 gilt dies für das Französische in der Acadie und den Neuengland-Staaten sowie in Louisiana nicht gleichermaßen. Auch hier liegen zum Teil ausgezeichnete Einzeldarstellungen zum gegenwärtigen Sprachstand vor, zu denken ist u.a. an die Arbeiten von Wiesmath (2006), Hennemann (2014), Rottet (2001) und Szlezák (2010) im Bereich der Grammatik, oder, im Bereich der Lexikographie, an das Dictionary of Louisiana French (DLF); Untersuchungen zu älteren Sprachständen in der Acadie und in Louisiana sind dagegen bislang eher Ausnahmen. 2 Auch in diesem Bereich ist die Erforschung des quebecer Französisch weiter fortgeschritten: die historischen Korpora von France Martineau und die darauf basierenden Analysen zeigen die Bedeutung solcher Projekte, geht es dabei doch nicht nur um die diachrone Beschreibung der jeweiligen Varietäten, sondern auch um Erkenntnisse zum gesprochenen und geschriebenen Französisch der Kolonialzeit ganz allgemein. 3 Was für ein Französisch wurde damals in der Neuen Welt gesprochen? Inwieweit weist es Spuren der alten französischen Dialekte auf bzw. inwieweit ist Dialektales eingeebnet worden zugunsten eines bereits in Frankreich weit verbreiteten français populaire (Mougeon/Beniak 1994, Valdman 2011)? Inwieweit müssen auch 1 Vgl. die Forschungsüberblicke von Neumann-Holzschuh 2009a und Martineau 2011. 2 Vgl. jedoch jetzt Martineau/Tailleur 2011 zum akadischen Französisch des 19. Jh. Es handelt sich hier um die Untersuchung von persönlichen Briefen der Familie Landry, die im 19. Jh. aus New Brunswick in die Neuengland-Staaten ausgewandert ist. 3 Für die Arbeiten von France Martineau vgl. www.voies.uottawa.ca.

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beim français colonial noch einmal verschiedene Varietäten unterschieden werden? Erst langsam nähert sich die Forschung zum français d’outre-mer diesen Problemen: Rückschlüsse auf ältere Sprachzustände ermöglichen zum einen die gegenwärtigen Varietäten, 4 zum anderen werden immer mehr Textkorpora aus dem 18. und 19. Jh. erschlossen. Mit den beiden unter der Leitung von Sylvie Dubois erstellten maschinenlesbaren Korpora Francophone heritage of Louisiana (FHL) und Lettres de Louisiane (LL) – beide sind als Early Louisiana French Correspondence (ELFC) im Internet zugänglich 5 – liegt jetzt für die Erforschung des älteren Louisiana-Französischen eine neue, wichtige Quelle vor (vgl. Dubois 2010). Bei dem ersten Korpus – 100 Schriftstücke, die zwischen 1729 und 1887 in Louisiana verfasst wurden – handelt es sich um ausschließlich auf Französisch verfasste handschriftliche Texte (meist Briefe), die in der Hill Memorial Library der LSU in Baton Rouge archiviert sind und die im Rahmen eines von Sylvie Dubois geleiteten Forschungsprojekts gesichtet, transkribiert und klassifiziert wurden. Für die einzelnen Briefe wurden von Carole Salmon (Salmon 2010) Datum und Ort der Abfassung, Alter und Geschlecht (20 Briefe stammen von Frauen, 80 von Männern) und – soweit als möglich – Beruf und soziale Klasse der Verfasser erfasst. Ziel des Projekts war die Erstellung eines Korpus „aussi varié que possible, représentatif de la composition de la société francophone de la Louisiane des XVIIIe et XIXe siècles“ (2010: 23). Das Endprodukt ist ein online zugängliches Korpus, das sowohl für Historiker, Linguisten als auch für Sozialwissenschaftler eine mine d’or ist, da es nicht nur Aussagen über die schriftsprachliche Kompetenz der einzelnen sozialen Gruppen in Louisiana sondern auch über eine gewisse soziolinguistische Dynamik in den genannten Zeiträumen gestattet. 6 Das zweite Korpus Lettres de Louisiane, das im Gegensatz zum ersten Korpus fast durchweg aus Briefen gebildeter Schreiber besteht, umfasst 38 Briefe, die alle während der Zeit der französischen Revolution verfasst wurden und die ebenfalls zum großen Teil in der Hill Memorial Library archiviert sind (vgl. Salmon 2010: 24f.).

2. Geschichtlicher Hintergrund Nach Dubois (2010) können die Briefe des FHL zwei durchaus turbulenten Epochen der Sozialgeschichte Louisianas zugeordnet werden. In der „période 4 Das Projekt Grammaire Comparée des français d’Acadie et de Louisiane (Leitung: Ingrid Neumann-Holzschuh) ist die erste umfassende, primär synchron angelegte Beschreibung dieser Varietäten des nordamerikanischen Französisch. 5 www.lib.lsu.edu/special/cffs/. 6 Salmon 2010: 17 weist darauf hin, dass es sich bei diesem Korpus nur um 14% der noch in Baton Rouge befindlichen Manuskripte handelt!

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royale“ – sie umfasst die Jahre von 1730–1830 – konstituierte sich das frankophone Louisiana mit Französisch als unangefochtener high variety. Die zwischen 1830 und 1870 erschienenen Briefe rechnet sie der „période du bilinguisme collectif“ zu, in der die Kontakte zwischen der frankophonen und der anglophonen Bevölkerung enger und die sprachlichen Grenzen immer durchlässiger wurden. 7 Ohne Zweifel war die „période royale“ die Blütezeit des frankophonen Louisiana. Nach der Gründung von New Orleans 1718 verlief die Kolonisierung des südlichsten Teil der Nouvelle France zunächst nur schleppend (vgl. Dubois 2003a, Dubois et al. 2005: 146f.). Eine wirkliche Plantagengesellschaft entwickelte sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh., als die westlich des Mississippi gelegenen Teile Louisianas zeitweilig zum spanischen Königreich (1763– 1803) gehörten. In diese Zeit fällt die Ankunft von ca. 3500-4000 aus Neuschottland vertriebenen Akadiern, die sich zwischen 1757 und 1785 in Louisiana wieder ansiedelten. Zur weiteren Stärkung des frankophonen Elements in der ehemaligen französischen Kolonie trugen zum einen mehrere Tausend Weiße, gens de couleur und Sklaven, die zu Beginn des 19. Jh. vor den Unruhen auf St.-Domingue nach Louisiana geflohen waren, sowie zum anderen zahlreiche französische Revolutionsflüchtlinge bei. 8 Von Anfang an also war die soziolinguistische Situation in Louisiana durch sprachliche Diversität und kulturelle Heterogenität geprägt. Das in der ersten Hälfte des 18. Jh. gesprochene Französisch – Picone und Valdman (2005) schlagen vor, nur für diese Zeit den Begriff français colonial zu gebrauchen – war sicherlich „un français fort variable“ (Valdman 2011: 394), wobei die sprachliche Variation von der regionalen Herkunft und der sozialen Schicht der Sprecher abhing. Während die meisten aus Frankreich und Kanada kommenden colons wohl ein deutlich durch nordwestliche Dialekte markiertes, vernakuläres Französisch sprachen, dürfte diejenige Varietät, die sich vom damals in Frankreich gesprochenen Standardfranzösischen nur wenig unterschied, lediglich von der Aristokratie und den zur Oberschicht gehörenden weißen créoles beherrscht worden sein. 9 Damit spiegelt die Nouvelle France in etwa die Situation in Frankreich wieder, wo der Dialekt der Île-de-France bzw. das Französische von Paris einer Minderheit vorbehalten war (vgl. Lodge 2004, Ayres-Bennett 1996). Mit Aufkommen der Plantagengesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jh. kommt es zur Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Schicht und damit 7 Zu geschichtlichen Überblicken vgl. auch Neumann-Holzschuh 2003, Dubois et al. 2005, Picone 2014. 8 Zum Bevölkerungswachstum in dieser Zeit vgl. Dubois et al. 2005: 150f. 9 Vgl. Dubois 2003a, Picone 2014.

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auch zu einer neuen sprachlichen Situation: reiche und meistens auch gebildete Pflanzer bilden jetzt zusammen mit der bislang im wesentlichen auf New Orleans beschränkten aristokratischen und bürgerlichen Oberschicht die soziale Elite innerhalb der in hohem Maße hierarchisch strukturierten Gesellschaft Louisianas (Picone/Valdman 2005, Picone 2014). In Abgrenzung zum français colonial der ersten Epoche, bezeichnen Valdman/Picone (2005) die Prestigesprache dieser Zeit als Plantation Society French/français de plantation, das sich deutlich von den Varietäten des Französischen unterschied, wie sie von den akadischen déportés und den weniger gebildeten émigrés aus Frankreich und St.-Domingue gesprochen wurden. Anders als das Kolonialfranzösische der ersten Epoche, das vermutlich in der gesamten Nouvelle France relativ einheitlich war, entwickelte sich das Plantagen-Französische in Louisiana „in greater harmony with Metropolitan French than did that of Canada, whose contact with France at that time had largely lapsed“ (Picone 1997: 121), allerdings muss auch hier zwischen der Sprache der Elite und den vermutlich noch regional geprägten Varietäten der weniger Gebildeten unterschieden werden. 10 Am Ende des 18. Jh. bietet Louisiana sprachlich gesehen also ein komplexes Bild und ähnelt damit in gewisser Weise dem vorrevolutionären Frankreich (Dubois 2010: 9). Mit Beginn des 19. Jh. ändert sich die soziodemographische und sprachliche Situation Louisianas allerdings: Louisiana wird 1803 von Napoleon an die Vereinigten Staaten von Amerika verkauft, 1812 wird Südlouisiana der 18. Bundesstaat der USA. Ab den 30er Jahren des 19. Jh. wird die ehemalige französische Kolonie von Amerikanern und nicht-frankophonen Europäern überschwemmt, insbesondere die frankophone Elite verbündet sich während dieser „période de bilinguisme collectif“ (Dubois 2010) zunehmend mit der aufstrebenden englischsprachigen Oberschicht. Obwohl die französische Sprache und Kultur in Louisiana in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine Blütezeit erlebte, war die Amerikanisierung der Bevölkerung nicht aufzuhalten. Nach dem Sezessionskrieg verlor das Französische seine Sonderrechte; in der neuen Verfassung von 1864 wurde Englisch zur alleinigen offiziellen Sprache des Landes erklärt. Es kam zum raschen Niedergang des Französischen, der die ruralen Varietäten, darunter auch das Französische der Akadier, allerdings erst später erfasste. Nach Dubois et al. (2005: 156) war das Eindringen des Englischen auch der Grund dafür, dass es in Louisiana nie wirklich zur Herausbildung einer einheitlichen Varietät des Französischen kam.

10 Ähnlich Dubois et al. 2005: 155: „Il faut se souvenir que l’élite louisianaise était en étroit contact avec la France tout au long de la période espagnole, et qu’elle n’a probablement jamais eu l’intention d’adopter un standard différent de celui de la métropole“.

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3. Das Korpus FHL aus linguistischer Perspektive 3.1. Die Schreiber

Das Korpus FHL umfasst Schriftstücke von Schreibern mit ganz unterschiedlichem Sozial- und Bildungshintergrund, die aus verschiedenen Gegenden in Louisiana stammen: aus New Orleans ebenso wie aus den Paroisses entlang des Mississippi und den westlich und nördlich gelegenen Prärieregionen. Leider weiß man nur wenig von den Schreibern (vgl. Comeau/King 2010: 63) und es ist auch nicht ersichtlich, dass einer der Briefsteller eindeutig akadischer Herkunft ist. Der Brief von Pastiche weist zwar eine Fülle akadischer Merkmale auf, da es sich jedoch um einen eindeutig parodistischen Text handelt, muss er gesondert behandelt werden. In diesen Texten spiegelt sich das frankophone Leben in Louisiana in seiner ganzen Vielfalt: neben persönlichen Briefen, Reiseberichten und Berichten von Soldaten finden sich auch offizielle Schreiben wie Beschwerdebriefe, Kaufverträge und notarielle Schreiben. 11 Aufgrund ihres Bildungsgrads stellten selbstverständlich die Angehörigen der Aristokratie und der bürgerlichen Oberschicht die größte Zahl der Schreiber, daneben gibt es aber auch von einfacheren Bürgern verfasste Schriftstücke, die zeigen, welche Probleme die peu lettrés mit dem (Schrift-)Französischen hatten. Gerade die weniger Gebildeten kämpften neben der Rechtschreibung auch mit der Grammatik und dem für bestimmte Schriftstücke erforderlichen Stilniveau, es erstaunt daher nicht, dass diese Briefe trotz des oft bemüht wirkenden schriftsprachlichen Duktus eine Fülle nicht-standardsprachlicher bzw. von der Mündlichkeit beeinflusste Formen und Konstruktionen enthalten. 12 Als Beispiel für einen offiziellen Bittbrief eines Angehörigen der lower middle class sei der kurze Brief von Jean Francois Decuier (M 77) an den spanischen Gouverneur Galvez aus dem Jahre 1778 vorgestellt.

11 Vgl. Grassi 1998 zur Geschichte der Briefkultur und einer Typisierung von Briefen. 12 So auch Martineau/Tailleur 2011: 157 mit Bezug auf ihr akadisches Brief-Korpus: „It goes without saying that the Landry letters provide but a glimpse of the spoken language of the time, given the gap between writing and speech. Despite these limitations, family letters, because of the rich dialogue created between writer and addressee, are helpful in showing ordinary language usage, especially when written by unskilled writers“.

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A Monsieur Don Bernard de galvez Colonel des armées de Sa majesté intandant et gouverneur general de La province de la louisiane Suplie humblement jean françois decuier, disant Qu’il Souhaiteroit former un aitablisement aux atakapas Ce consideré le Supliant prie votre Seignieurie d e luy accorder le Long de lille de ʃivre dans Landroit appellé le [trou] vert vingt arpans d[déchiré] Faʃse Sur la profondeur qu il Si trouverat ayant Pour Borne françois ozenne ce faisent le ʃupliant Prirat dieu pour la conservation de votre – Seigneurie au atakapas le 30 janvier 1778 Jean Francois Decuier La terre Demandée par le suppliant appartient au domaine Du Roy ./. attakapa Ces 1er fev 1778 Le Chev De Clorée

Bereits hier zeigen sich einige der Probleme der nicht versierten Schreiber: Groß- und Kleinschreibung, Wortsegmentierung sowie das Bemühen um einen „offiziellen“ Stil mithilfe von Partizipial- und Gerundialkonstruktionen. Grundsätzlich müssen diese Briefe natürlich auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen der Schriftkultur und der Schreibkonventionen sowie den Umbrüchen in den Rechtschreibkonventionen im 18./19. Jh. in Frankreich selbst gesehen werden. In dieser Zeit kristallisierte sich in Frankreich zunehmend das Französisch der Pariser Elite als Norm heraus, das auch für die führenden Kreise in der Neuen Welt als vorbildlich galt. Daneben gab es aber sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks eine breite Schicht von Sprechern, die nur über eingeschränkte Lese- und Schreibkenntnisse verfügten, was einen Großteil der zu beobachtenden sprachlichen Variation in den Briefen der peu lettrés erklärt. 13 Im Folgenden möchte ich einige wenige orthographische und morphosyntaktische Auffälligkeiten aus sieben Briefen vorstellen, die von Angehörigen der lower Middle Class mit geringer Schulbildung verfasst wurden. Es geht mir dabei wohlgemerkt nicht um eine systematische Analyse der einzelnen Phäno13 Zur Orthographie in von peu lettrés geschriebenen Briefen aus dem vorrevolutionären Frankreich vgl. Branca-Rosoff/Schneider 1994 und Ernst 2014, sowie für Louisiana Dubois 2003a, 2003b, Dubois et al. 2005, Lyche 2010.

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mene; dies kann im Rahmen eines Festschriftbeitrags nicht geleistet werden. Ich möchte lediglich anhand einiger ausgewählter Besonderheiten zeigen, inwieweit diese Texte helfen können, ein genaueres Bild des in Louisiana im 18./19. Jh. gesprochenen Französisch und seiner Variationsbreite zu erhalten. 14 Die folgenden Beobachtungen basieren auf folgenden Texten: 15 1. Suzanne Bello, 12. Mai 1795, Opelousas, Beschwerde (F13) 2. Michel Leger und Jean Valet, 3. August 1795, Opelousas, Beschwerde (M58) 3. Deslisle de Labarthe, 20. April 1822, Bayou St. Jean, persönlicher Brief (M48) 4. G.C. Thibodeaux, 10. Juli 1863, Thibodeaux Ville, rapport militaire (M2) 5. Louise Lemelle, 13. November 1860, Casanova, persönlicher Brief (F12) 6. Antoine Donato, 1. September 1860, Opelousas, persönlicher Brief (M57) 7. Ed Huval, 22 März 1887, Pont Breaux, persönlicher Brief (M16) 3.2. Orthographie

Im Bereich der Orthographie – und dies ist zweifellos der Bereich, der als erster ins Auge sticht – fallen zunächst beträchtliche Inkonsequenzen/Unsicherheiten in Bezug auf die Interpunktion sowie die Groß- und Kleinschreibung auf, die in den Briefen der lettrés deutlich geringer sind. Zum anderen wimmelt es in diesen Briefen von Belegen dafür, dass die peu lettrés vor allem große Schwierigkeiten mit der Schreibung der Vokale (Akzentsetzung!) und Nasale sowie mit der Erkennung von Silben und Wortgrenzen hatten; falsche etymologische Buchstaben, die Notation des e-muet und die Wiedergabe familiärer Aussprachegewohnheiten sind weitere Phänomene. 16 „Les locuteurs semi-lettrés étudiés ici exhibent une graphie qu’on pourrait qualifier de phonétique, c’est-à-dire qu’il existe chez eux une relation directe entre la graphie et la prononciation courante“ (Lyche 2010: 38). 17 Die folgenden Textausschnitte belegen exemplarisch die Unsicherheiten der Schreiber im Bereich der korrekten graphischen Wiedergabe von offenem und

14 Eine genauere Analyse dieser Briefe wäre ein Desiderat, insbesondere wenn diese vor dem Hintergrund der bereits vorliegenden Arbeiten zum substandardsprachlichen Französisch der époque classique etwa von G. Ernst und F. Martineau erfolgt. 15 In den Klammern befindet sich der von Salmon für die einzelnen Briefe vergebene Code (M = maskulin, F = feminin). 16 Was die Orthographie in dem FHL-Korpus anbelangt, so verweise ich auf die gute Untersuchung von Dubois et al. 2005, wo u.a. gezeigt wird, dass die gebildeten émigrés die Schreibgewohnheiten der élite fondatrice deutlich beeinflussen. 17 Auch in den Briefen der lettrés gibt es eine Fülle von liages, die im 18. Jh. durchaus nicht ungewöhnlich waren (Lyche 2010: 32-33).

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geschlossenem E insbesondere im Zusammenhang mit den Flexionsendungen. 18 Ein Paradebeispiel ist hier der Brief von Ed Huval (M16): - tu nous avaient pas écrit - Ainsi mon cher frére j’aiter dans une grande inquiettude pour toi depui que vous avait quitez le bayou Pierre - Depuis que je sui marié je n’est pas encore put te donné un detail du marige - Ainsi si tu tenrapel que tu me dises que tu aller espéré que je me marie et quelque temp apprès quand ons aller se séparer tu aller prendre ma méson - Ainsi je s’est bien que ce la été pour plésenter que [rature] tu diser avec moi - c’est comme tu set ce la très dure pour nous de te voir ausiloin de nous. et bien je n’est plus grand chosse a te dire mais moi et papa nous avont été malade mes tu na pas besoin de te tracasé car nous somme bien tous les deux

Aber auch andere Schreiber tun sich mit der Wiedergabe der e-Laute schwer: - ma chere Batie je vous ecrit une lettre vous m’avez pas rendu reponse meme je vous et envoyer une epaigne [rature] en ors je ne sais pas si [rature] vous la vez reçu houi ou non 19 (F12) - pour comble de bien Jeudis nous avons hu un prèsque Ouragan qui a tous couché le coton et le Jeune Maye (M57)

Die falschen Segmentierungen in den Briefen der peu lettrés sind nach Lyche (2010) ein Beleg dafür, dass diese Gruppe oftmals Probleme bei der Erkennung der Wortgrenzen hat und deswegen z.T. falsche Hypothesen hinsichtlich der Segmentierung vornimmt. So wird z.B. die Silbe de(s) oft als eigenes Lexem interpretiert und abgetrennt: - S’il y a quelqu’un dela famille qui des Cende nous aurons bien du plaisir à les voir (M48) - nous les avons pris er mit notre bagage de sue (M2)

Sehr häufig werden die consonnes de liaison et enchaînement dem Folgelexem vorangestellt.

18 Dubois 2003b: 93 weist darauf hin, dass noch heute im Louisiana-Französischen geschlossenes E im Auslaut und in offener Silbe frequent ist (avait : ave). Zur Geschichte der Schreibung der ELaute vgl. Dubois 2003a. 19 Dieser Satz weist auch noch andere interessante Phänomene auf: eine falsche Segmentierung (la vez), même statt même si (bien que), konjunktionslose Koordination der Sätze. NB: In zahlreichen anderen Sätzen finden sich ebenfalls z.T. mehrere Besonderheiten, auf die aus Platzgründen aber nicht im Einzelnen eingegangen werden kann.

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- peux-tétre (M16); - ses zanimaux (F13) - [cette jument ginigrine…] que le dit mulatre a pris zyere [= hier] (F13)

Die Setzung des Apostrophs bereitet den meisten große Schwierigkeiten: - C’est pourquoi Monsieur Nous Avons Recour aVotre Clémence Et autoritez pour faire Comparoitre Notre di beau pere devant vous pour lobliger davancer les Raisons Et le Sujet pourquoi il Neveut point nous Rende Compte (M58) - C’est ce quatende les deux Supplians (M58) (= qu’attendent) - ses vous qui me manque (F12) - qu’and je suis malade […] je vous prie de menvoyer deux petits orriers en plume (F12) - le l’endemain (M2)

3.3. Grammatik und Syntax

Im Bereich der Syntax spiegelt sich der an der Mündlichkeit orientierte sprachliche Duktus insbesondere der persönlichen Briefe in den zahlreichen asyndetischen Konstruktionen wider: Thibodeaux 1863 (M2): Le lendemain le 23 nous sommes préparés pour partis nous avons marchés 25 milles cette journée nous sommes rendu chez madame [Vve] Halbert a la côte Francaise nous avons eu un souper de maïs tendre bien satisfait quand même De la le 24 nous sommes partis nous avons marchés quatorze milles ….

Was die nicht-standardsprachlichen Phänomene im Bereich der Grammatik anbelangt, so ist unbedingt zu beachten, dass die Variation innerhalb ein- und desselben Textes z.T. erheblich ist. Man muss daher wohl davon ausgehen, dass viele Schreiber die normkonformen Formen durchaus kannten, sie aber keineswegs konsequent verwendeten. Während es bei der Genuszuweisung große Unsicherheiten gibt, liegt bei der z.T. außerordentlich willkürlich erscheinenden Numerusmarkierung wohl in erster Linie ein orthographisches Problem vor.

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- ce monsieur nous a donnée des imformation pour aller a la Côte Francais qui est un route de quarante milles (M2) - Mon cher frère je t’écrie ces quelques ligne pour te donnée de nos nouvelle qui sont bonne. et puis tous la famille te fait leurs amitier (M16) - dit bonjour a tout vos vielles dometiques pour moi (F12) - Le lendemain matin le 15 nous Somme repartie frais comme des lapain (M2)

Der Gebrauch des Subjonctif ist in den Briefen der peu lettrés keineswegs systematisch. Neben normkonformen Verwendungen gibt es zahlreiche Beispiele für den Ausfall des Subjonctif und seinen Ersatz durch indikativische Verbformen, wie sie heute für das Louisiana-Französische typisch sind (vgl. NeumannHolzschuh 2005). - en outre monsieur je desirais que vous fassiez Comparoitre [Bte tisons]] a fin qu’il vous déclare ʃous ʃerment ʃi il est Bien vrai que mon negre etoit maittre devendre Les chevaux provenant d’une jument connu ʃous Le nom de ginigrine (F13) - Chère batie je fini ma lettre en priant Dieu pour que nous puissions nous revoir un jours toutes ensemble (F12) - La ʃupliante espere devotre intégrité Monsieur que vous contraindrez le dit george Bollard a ramenner chez moy cette jument ginigrine et trois ʃuivants quelle a avec elle, que le dit mulatre a pris zyere chez moy, malgré que je luy ay representer qu’il faisoit mal de ʃ’en emparer ʃans que vous en Eussiez ordonné, ce que je puis vous faire atester par ʃon gendre qui etoit avec lui. De même qu’il vous plaisse lui ordonner de Contremarquer ʃes zanimaux a ma requisition (F13) - Dis lui quil prend patience (M57)

Während Verbalperiphrasen zum Ausdruck aspektueller Nuancen im 17. Jh. auch in Frankreich weit verbreitet waren (Gougenheim 1971 [1929]), sind Periphrasen wie être après faire qqch. (‚être en train de faire qqch.‘), être pour faire qqch. (‚être disposé à faire qс‘) in den Varietäten des nordamerikanischen Französisch noch heute sehr geläufig (vgl. Pusch 2005). Interessanterweise haben wir in den oben genannten Texten kein Beispiel für être après faire qqch. gefunden; lediglich für être à faire qqch., eine in Louisiana heute nicht mehr gebräuchliche progressive Periphrase, finden sich einige Belege: - et il-y-a plus uns habitants qui nous ont conseilliers de prendre ce chemin et que probablement que l’on pouvait avoir tremportation pandant que l’on était à faire cette route… (M2) - pandant que l’on était a se reposer il-y-a un Wagon qui a passé nous Sommes embarquer et l’on a fait treize milles (M2)

Was die Futur-Periphrase anbelangt, so ist diese nach Nadasdi (2010: 79f.) im Korpus Lettres de Louisiane quasi nicht existent, in den Briefen der peu lettrés

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sind 30% der Futurformen periphrastisch. 20 Es sei angemerkt, dass der Brief von Pastiche fast nur periphrastische Futurformen enthält (siehe unten): - Je croix que le colon vas tous germé sur les pied (M57) - mais laissons ce la a la volonté de Dieu peutetre un jours nous allons nous rejoinder (F12) - quand ons aller se séparer, tu aller prendre ma méson (M16) - Vous zaller trouver mon inducation bin changé (M80)

Reflexivpronomina fehlen sehr häufig: - Le lendemain le 23 nous sommes préparés pour partis (M2) - Et nous avons tuée un cochons [rature] a deux heurs du matin et nous sommes mis a le faire cuire (M2) - nous étion arrêtait sous un moulin asie a nous reposer (M2)

Der folgende Satz illustriert den auch im gesprochenen Französisch des 18. Jh. geläufigen Gebrauch von se als Reflexivpronomen der 1. Person Plural (BrancaRosoff/Schneider 1994: 63): - et nous sommes allait se coucher dans une de cest cabanes (M2)

Der Auxiliargebrauch mit intransitiven Verben schwankt erheblich, neben être finden sich in den genannten Briefen zahlreiche Beispiele mit avoir, ein in Nordamerika und im substandardsprachlichen hexagonalen Französisch weit verbreitetes Phänomen. 21 - le matin le 25 nous avons parties a huite heures (M2) - nous avons arrêtes chez une veuve nommé Young a cause quil allait pleuvoire nous avons choucher chez elle sur la gallerie (M2)

Wenngleich die Negationspartikel ne in den Briefen der peu lettrés erwartungsgemäß häufig ausfällt, handelt es sich nicht um ein durchgängiges Phänomen. 22 Im Gegenteil, selbst in den Briefen von Huval und sogar von Pistache fällt ne nur in 3 von 11 Belegen bzw. in 4 von 25 aus (Comeau/King 2010: 66, 69). Darüber hinaus sind die Fälle von nachträglich eingefügtem ne ein Beweis dafür, dass die Schreiber durchaus ein Bewusstsein von Sprachrichtigkeit in diesem Bereich bzw. von der stilistischen Bedeutung der Negationspartikel hatten. Comeau/King (2010: 68) wagen daher die Vermutung, dass dieser Wandelprozess in Louisiana offensichtlich im 18. Jh. weniger weit fortgeschritten war als 20 Nach Branca-Rosoff/Schneider 1994: 68 sind auch in den Schriften der peu lettrés in Frankreich periphrastische Futurformen selten. 21 Vgl. auch Branca-Rosoff/Schneider 1994: 62, Ernst 2014. Im Landry-Korpus von Martineau/ Tailleur 2011 werden intransitive Verben ausschließlich mit avoir gebraucht. 22 Vgl. Branca-Rosoff/Schneider 1994: 69.

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z.B. in der Acadie, wo eine Auswertung des im 19. Jh. verfassten satirischen Textes Lettres de Marichette einen ne-Ausfall von 78% ergab (Comeau/King 2010: 70). Im akadischen Landry-Korpus aus dem 19. Jh. wird übrigens in 64,9% der Fälle ne nicht gesetzt (Martineau/Tailleur 2011: 159). - je Sais pas ʃi vous avais autant de pluis que nous (M57) - a cause que tous les prisoniers [rature] de Port Hudson nous ont dit qu’ils y avait rien à manger sur le chemin Liberty n’y pour or n’y argent (M57) - je trouver bien drole que tu nous avaient pas écrit (M16) 23 - le propritaire du moulin Ne [rature] enfin je me souvein plus de son nom il nous a ainvitait de rentré chez lui diner (M2)

4. Der Brief von Jean Baptiste Pistache (M 80) Mit den anderen Briefen nicht wirklich vergleichbar, aber deswegen nicht weniger interessant, ist der im Umfeld von politischen Wahlen 1828 in einer Zeitung aus New Orleans erschienene Brief von „Jean Bapt Pistach a son noncle“. Es handelt sich hier um einen eindeutig parodistischen Text („pastiche“), in dem der Schreiber, ein Bewohner der Paroisse Lafourche, versucht, das dialektal markierte Französisch der akadisch geprägten Gegenden zu imitieren. 24 Neben weit verbreiteten Nordamerikanismen (z.B. à c’t heure ‚maintenant‘; icite ‚ici‘, aussite ‚aussi‘; ousque ‚où‘; j ‚je‘, i ‚il, ils‘, al ‚elle‘) finden sich hier typische Merkmale des akadischen Französisch, die sich im LouisianaFranzösischen nur teilweise bis heute erhalten haben. 25 Zu diesen Phänomenen gehören: a) der Gebrauch des Pronomens je für die 1. Person Plural („je collectif“), eine im heutigen Louisiana-Französischen nicht mehr belegte Form: - et zamin j’manquons d’nous rafraichir par le même occasion - Main les femmes fesant assez de bile et de mauvais sang j’les laissons crier

23 Im gleichen Text findet sich aber auch: je voix bien que tue ne peux pas faire comme tu veux. 24 Dieser Text wäre eine eigene Analyse wert: da es sich um eine Imitation des im 19. Jh. von den Cadiens gesprochenen Französisch handelt, sind vorsichtige diachrone Rückschlüsse sicherlich möglich. Dass parodistische Texte aufschlussreich sind zeigen auch Martineau/Tailleur 2011: 164 mit Bezug auf die Lettres de Marichette: „for some variables at least, our parodic texts are a good illustration of the actual vernacular usage in early stages of Acadian French“. 25 Vgl. dazu u.a. Neumann-Holzschuh/Wiesmath 2006, Neumann-Holzschuh 2008, 2009b.

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b) die Verbalendung der 3. Person Plural -ont: - une tralé de candidats qui s’montons dans les trois paroisses a plus d’une centaine - les trois paroisses nommons aussi un candidat; - et les chasseurs aux canards, aux choupiques et aux patassas n’voulons pas ça et y crions comme diables

c) die Demonstrativa stici(tte), stila und ste: - j’crois qu’c’est stila qu’est président des cours du jury de police, - pasque les électeurs de ste paroisse n’voulons pas de stila - Misieu James McAlister, stila est un hadidou, - Ya misieu Aubin Thibodeaux, sticite est un criole

5. Fazit Welche Schlüsse kann man aus diesen wenigen, noch sehr fragmentarischen Beobachtungen zum gesprochenen Louisiana-Französisch im 18./19. Jh. ziehen? Immer unter der Prämisse, dass es sich hier zunächst einmal natürlich um geschriebene Sprache handelt, schimmert gerade in den Briefen der peu lettrés die Mündlichkeit durch bzw. handelt es sich, wie es Ernst (2014: 25) mit Blick auf persönliche Briefe von wenig Gebildeten aus Frankreich formuliert, um eine „syntaxe de l’immédiat réalisée dans le medium écrit“. Diese Texte lassen erahnen, in welchen Bereichen der Grammatik und der Aussprache es seinerzeit Schwankungen gegeben hat, und wo es im Vergleich zu heute sprachliche Unterschiede gibt. Auffallend erscheint mir das hohe Maß an sprachlicher Variation innerhalb der einzelnen Briefe, was vermutlich zunächst einmal auf große sprachliche Unsicherheit hindeutet, vielleicht aber auch auf die immer schon große, durch die besondere sozio- und kontaktlinguistische Situation Louisianas bedingte innersprachliche Heterogenität des Louisiana-Französischen (vgl. Neumann-Holzschuh 2014). Diese Texte sind somit ein weiterer wichtiger Baustein zur Erforschung des substandardsprachlichen Französisch diesseits und jenseits des Atlantiks; sie ermöglichen einen Blick auf das français colonial bzw. das français de plantation und erlauben – aus kreolistischer Sicht – vorsichtige Rückschlüsse auf das français des maîtres, das für die Sklaven die langue cible und damit der Input der Kreolisierung war.

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Gerald Bernhard Einblicke in Sprecherbiografien von Walsern im Tessin und im Ossola-Tal

Im Rahmen einer Reise in das Oberwallis (Goms) 1 und in die südlich des Alpenhauptkammes gelegenen Walserorte hatte ich im Spätsommer 2014 Gelegenheit, mit einigen Sprechern des „Walserdeutschen“ im heutigen Piemont und im Kanton Tessin zu sprechen und so Einiges über die persönlichen Beziehungen zu ihrer Mehrsprachigkeit und über Einschätzungen zum jeweiligen Heimatdialekt zu erfahren. Die Reise führte mich zunächst in die seit Mitte des 19. Jh.s nicht mehr deutschsprachige Gemeinde Ornavasso/Urnafasch, wo ich auch die ebenfalls aufgelassene Walsersiedlung Migiandone (heute Ortsteil von Ornavasso) in Augenschein nehmen konnte. In beiden Orten, die wie die meisten Walserkolonien südlich der Alpen bereits vor der Ankunft der Walser, ja teilweise vor Ankunft der Römer besiedelt waren (v.a. Ornavasso), ist die deutschsprachige Epoche ein wichtiger Bestandteil der lokalen historischen Identitäten. Von Ornavasso aus hatte ich Gelegenheit, ins Formazzatal (dt. Pomat(t)) und nach Macugnaga im Anzascatal zu fahren und dort z.T. längere Gespräche mit alemannischsprachigen Bewohnern zu führen. Die Geschichte der Walserkolonien reicht bis ins Hochmittelalter zurück, als, wohl aufgrund verbesserter klimatischer Bedingungen und feudalherrschaftlich angeordneter und klösterlich betriebener Expansionsbestrebungen, in ganz Mitteleuropa Kolonisten aufbrachen, um bis dato ungenutztes oder im

1 Das Goms als höher gelegener Teil des Rhônetals – die Rhône heißt hier Rotten – bietet in mancherlei Hinsicht ähnliche Lebensverhältnisse wie die von Walsern besiedelten Hochtäler südlich des Alpenhauptkammes. Neben den Talortschaften sind auch hier aus ehemaligen Alpen (bair. Almen) Dauersiedlungen geworden; so z.B. die Bettmeralp oder die Riederalp, von wo aus man bei guter Sicht die trennenden Viertausender der Walliser Alpen (Monterosa-Massiv, Matterhorn) betrachten kann.

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Zuge von Weidewanderungen bereits bekanntes Land zu besiedeln und urbar zu machen. 2 Dies gilt auch für die ausgewanderten Walser/Walliser, die sich ost- und nordostwärts über das Bündner Rheintal bis hin in das heutige Vorarlberg und südlich über den Alpenhauptkamm in den italoromanischen Sprachraum als Neusiedler ausbreiteten. Dabei weisen die Wanderbewegungen v.a. zwei Hauptrichtungen auf: Die erste Bewegung geht vom Oberwallis, dem Mattertal und dem Saastal aus und reicht bergab über den Theodul- und Monte-Moro-Pass in die heutigen Walserorte im Lystal (Region Aostatal) und den anderen südlich bzw. östlich des Monte-Rosa-Massivs 3 gelegenen Gemeinden Alagna (Provinz Vercelli) im oberen Sesiatal und Macugnaga (Provinz Verbania – Cusio – Ossola) im Valle Anzasca. Eine zweite Wanderbewegung erfolgte über Seitentäler des Goms in das Formazzatal (über den Griespass und von dort aus weiter in das heute zum Kanton Tessin 4 gehörende Bosco/Gurin). Als Sonderfall dürfen die im unteren Tocetal, nahe dem Lago Maggiore gelegenen Orte Ornavasso und Migiandone angesehen werden. Beide Ansiedlungen gehen auf eine grundherrschaftliche Siedlungspolitik des Bischofs von Sitten/Sion zurück und liegen quasi als Inseln in einer lombardischsprachigen Umgebung. Gleichwohl bestehen historische Verbindungen zu Walsergemeinden südlich und östlich um den Monte Rosa herum sowie zu der Gemeinde Naters bei Brig, welche zeitweilig den Herren 2 Paul Zinsli 72002: 45-48 stellt die Walserwanderungen in den größeren Kontext der v.a. mitteleuropäischen Kolonialexpansion des Hochmittelalters, in deren Rahmen, auch z.B. der deutschen Ostkolonisation, den Kolonien auch bestimmte Freiheitsrechte zugesichert wurden. So ähnelt z.B. das Walserrecht stark dem niederdeutschen jus hollandicum (46). Die Siedlungsund Lebensbedingungen verschlechterten sich mit dem Einsetzen der sogenannten kleinen Eiszeit vom 17. bis zum 18. Jh. (Zinsli 72002: 208). Die neuzeitliche Walserforschung hat ihren bekanntesten Vorläufer in A. Schott 1842. Heutige Hauptgrundlagen bilden die Arbeiten von P. Zinsli, R. Hotzenköcherle und (für das Aostatal) P. Zürrer. Wertvolle historische Dokumente wurden von E. Rizzi zusammengestellt. Einen grundlegenden linguistischen und soziolinguistischen Überblick gibt Dal Negro 2011. Die dialektologische, auch die mundartdidaktische und lexikographische Beschreibungslage ist insgesamt recht gut (v.a. im Aostatal und in Bosco/ Gurin). 3 Die Wege um das gewaltige Monte-Rosa-Massiv (Dufourspitze 4634 m) führen über die seit alters her begangenen Pfade des Monte Moro und des (vergletscherten!) Theodulpasses/ Joderberg. Letzterer ist nach dem Schutzheiligen der Walser/des Wallis, dem Bischof Theodul bzw. Theodor von Martigny (4. Jh.), zu Deutsch Joder, benannt. 4 Die spätmittelalterlichen Expansionsbestrebungen reichten mit den sogenannten Ennetbirgischen (‚jenseits des Gebirges‘) Vogteien über den Alpenhauptkamm hinaus in die heute zu Graubünden gehörigen Täler Misox und Puschlav sowie in den heutigen Kanton Tessin. Aus dem Ossolatal/Eschental zogen sich die Schweizer und auch die damals noch selbstständige Grafschaft Wallis nach der Niederlage in der Schlacht von Marignano (heute Melegnano) im Jahre 1515 gegen den französischen König Franz I. und seine Verbündeten bis zur heutigen Staatsgrenze zurück.

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von Ornavasso unterstand. Trotz der gemeinsamen historischen Ursprünge ist ein Bewusstsein, ja gar ein gemeinsames Bewusstsein von Walsertum sehr jungen Datums, ebenso wie die Selbstbenennung Walser (erster Beleg aus Galtür/ Paznaun im heutigen Tirol aus dem Jahre 1320; vgl. Zürrer 1998: 549). Im Zuge des erstarkenden Schutzes von historisch-territorialen Minderheiten nach dem Zweiten Weltkrieg rückte so etwas wie ein überregional-internationales Walserbewusstsein der Ditsch-Sprecher in den Vordergrund, was sich in der Gründung der Vereinigung für Walsertum (Sitz heute in Brig im Oberwallis, vgl. Rizzi 1984: 214 f.) und einer darauffolgenden allmählichen Bildung eines „WirGefühls“ widerspiegelt (Zürrer 1998: 542-546). Paul Zinsli legt 1968 den wissenschaftlichen Grundstein für die bis heute sehr zahlreichen historischen und (sozio-)linguistischen Arbeiten zu allen Walserkolonien.

1. Bosco Gurin/Grin Die auf über 1500 m Höhe gelegene gepflegte Gemeinde Bosco/Gurin (offizieller Name seit 1932) wird nach jahrhundertelanger Isolation heute von zahlreichen Touristen besucht. Das Walsertum ist v.a. baulich, aber auch sprachlich sicht- bzw. hörbar, wobei italienische und hochdeutsche Aufschriften und Schilder aufgrund des Tourismus ebenfalls einen Hinweis auf die Mehrsprachigkeit der Bewohner geben. Die Anzahl der Bewohner ist v.a. seit dem Bau einer Fahrstraße in den 1920er Jahren rückläufig, und längst haben sich auch Nichtguriner unter die Einheimischen gemischt. Am Eingang der Hauptsiedlung begegnete ich einer Frau mittleren Alters, die ich mit einer individuellen schweizerdeutschen Begrüßung „Grüessech, send er vo do?“ ansprach. Sie antwortete mir sofort „Ja, sicher“, worauf sich ein kurzes Gepräch über den Guriner Dialekt, das Griner Ditsch, entwickelte. Das Gespräch selbst fand, meinerseits so gut es eben ging, ihrerseits fast durchgehend, in alemannischem Dialekt statt, es konnte jedoch bei Bedarf ins Hochdeutsche geswitcht werden, da die Frau nach eigenen Angaben viersprachig ist (Walserdialekt von Gurin, lombardischer Dialekt des Maggiatals (dt. veraltet Maiental), Hochdeutsch und Standarditalienisch). Nach eigenen Auskünften spricht sie in der Familie am Ort durchgehend die Ortsmundart, bei Gängen/Fahrten in das Haupttal sowohl den lombardischen Dialekt als auch Italienisch, und bei Fahrten in die deutsche Schweiz auch Schweizerdeutsch bzw. bisweilen auch Hochdeutsch. Sie bezeichnete sich selbst als mobile Person, auch weil zwei ihrer Kinder in Fricktal im Kanton Aargau leben, wohin sie des Öfteren fährt; darüber hinaus verbringe sie den Winter regelmäßig im Südtessin, im Sottocéneri, in Mendrisio, weil „da hat’s kei Schnee“.

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Die Mobilität in der südalpinen Region führt sie recht häufig nach Locarno, „Liggarasch“ (im Munde der Informantin) und zum Lago Maggiore/Langensee, der im Griner Ditsch auch „Liggarer See“ genannt wird. Des Weiteren erzählte sie von einer Frau, die in jüngerer Zeit aus Bayern in das Dorf eingeheiratet habe und die sich langsam an den hiesigen Dialekt, das Ditsche, gewöhne, umgekehrt aber auch die Guriner Dialektsprecher an das Bairische. Dadurch entsteht ein relativ ausgeglichenes Kontaktverhältnis, welches bei Bewohnern von Bosco Gurin die vorhandene Viersprachigkeit um die Kenntnis einer weiteren Mundart erweitert. Neben Locarno ist auch das Pomatt/Val Formazza im italienischen oberen Tocetal bisweilen ein Zielort von Ausflügen. Hier haben sich sozusagen die historischen Kolonisierungsbande 5 erhalten, wenngleich heute der Weg ins Val Formazza nicht mehr über die Passwege (Guriner Furgga) führt, sondern über die Straßen- und Bahnverbindungen der SimplonStrecke oder über Locarno und die Centovalli-Eisenbahn nach Domodòssola. Die Dame fühlt sich in ihrer Mehrsprachigkeit nach eigenen Angaben sehr wohl, wobei auch der Stolz auf den Ortsdialekt besonders herausgestrichen wird, indem sie zwei Dialektwörter nennt, die sich vom Hochdeutschen formal und/oder semantisch stark unterscheiden: Brüach ‚Hosen‘, Hose ‚Socken‘. Die gelebte Mehrsprachigkeit führt im berichteten Fall auch zu einer Stabilisierung und einer objektiveren Einschätzung der diaphasischen Präsenz der Ortsmundart Griner Ditsch/Grinditsch, zumal die Überdachung durch das Standarddeutsche/Schriftdeutsche einen stetigen Abgleich zwischen der Lokalvarietät und der Dachvarietät Hochdeutsch ermöglicht. 6

2. Macugnaga/Makanaa Die zuoberst im Valle Anzasca gelegene ausgedehnte Gemeinde, die ihrerseits aus mehreren Ortsteilen besteht, wurde ebenfalls im Mittelalter (13. Jh.) vom Saastal her kolonisiert, zu welchem bis heute noch familiäre und freundschaftliche Kontakte bestehen. Wie im Tessiner Ort Bosco/Gurin ist auch Macugnaga heute durch den Alpin- und Skitourismus geprägt, wodurch sich die wirtschaftliche Lage der sich ehemals von Weide- und geringer Ackerbauwirtschaft, zeitweilig aber auch durch Goldbergbau ernährenden Gemeinde wieder verbessert

5 Aus Bosco/Gurin stammt „die älteste noch erhaltene Originalurkunde der Geschichte der Walser“ (Rizzi 1991: 99), welche die Gründung der ältesten Walser Pfarrei St. Jakob und Christophorus bezeugt. In Guriner Urkunden finden sich auch Hinweise auf die Zuwanderung von Siedlern aus Pomatt/Formazza (Rizzi 1991: 99, 104). 6 Zur Mehrsprachigkeit in Bosco/Gurin sowie zur rechtlichen Verankerung des Hochdeutschen gibt Russ 2002: 19-29 Auskunft.

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hat. 7 Der Ort selbst liegt, wie die meisten Walsersiedlungen, vom Tal her schwer zugänglich vor der sich gewaltig aufbauenden Ostwand des MonteRosa-Massivs (4634 m) und vermittelt dadurch den Eindruck völliger Abgeschlossenheit. Dieser Eindruck täuscht jedoch, da über den seit alters her begangenen Monte-Moro-Pass (2868 m) wie erwähnt Kontakte ins benachbarte schweizerische Saastal bestehen. In den Zeiten vor der verkehrsmäßigen Erschließung der Täler durch Eisenbahnen und Autostraßen ermöglichte diese Verbindung zu Fuß oder mit Saumtieren wenigstens während der schneefreien Monate einen beständigen Kontakt in das Wallis. Dieser Kontakt ist in jüngster Zeit trotz der sich erhöhenden Reisegeschwindigkeiten in den Tälern über die Bergbahnen, welche über den Monte-Moro-Pass hinwegführen, wieder verstärkt möglich, wodurch verwandtschaftliche Beziehungen, die v.a. zu SaasAlmagell bestehen, aufrechterhalten werden können. In einem Gespräch mit einer Walserin aus Pecetto/Zer Tannu (hochdt. zur Tanne) bestätigte mir diese die Kontinuität von Familien- und Freundeskontakten über den Pass hinweg. Diese zeige sich auch in Familiennamen, die diesseits und jenseits des MonteMoro-Passes vorherrschen, z.B. Zurbriggen (des Öfteren auch ins Italienische übersetzt als Del Ponte), Bumann, Rubben, Andermatter. Auch in Macugnaga haben sich bairischsprachige Neubürger angesiedelt, so z.B. eine Familie Schranz (im Italienischen von Macugnaga „Skranz“), die sich im Rahmen der wirtschaftlichen Umorientierung hin zum Tourismus den örtlichen Verhältnissen anpassen. Im Vergleich zu Bosco/Gurin ist jedoch auffällig, dass in Macugnaga der Zugang zum Hochdeutschen/Standarddeutschen seit mindestens dem Ersten Weltkrieg fehlt. Meine Gesprächspartnerin erzählte mir, dass ihre Grundschullehrerin, die maestra, eine stark antidialektale und nationalsprachliche „Unterrichtspolitik“ verfolgte, was offenbar bei vielen Bewohnern des Ortes eine negative Einstellung zu ihrem alemannischen Dialekt mit sich gebracht hat: Die jüngere Generation ist v.a. auf die Nationalsprache Italienisch ausgerichtet. Das Deutsche fehlt, abgesehen von einigen Namensschildern und Aufschriften an Gasthäusern, im offiziellen und amtlichen Schriftverkehr.

7 Die Besiedlungsgeschichte des oberen Anzascatals und der Gemeinde Macugnaga wird ausführlich von Bertamini 2005 dargestellt. Der Erzabbau, vor allem von Gold, der seit dem Mittelalter bezeugt ist, erlischt nach dem Zweiten Weltkrieg (1961), hat aber wohl zu einem relativ beständigen Kontakt mit romanisch-(wälsch-)sprachigen Arbeitern geführt (Bertamini 2005: 497-508). Zu heutigen Identitätsabgrenzungen vgl. Fassio/Zanini 2014.

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3. Ornavasso Im Gegensatz zu den bergseitig besiedelten obersten Talabschnitten der Walsergemeinden von Macugnaga, Alagna oder Formazza stellt Ornavasso, zusammen mit Migiandone, eine Ausnahme dar. Dies betrifft weniger die historisch auslösenden Momente, die wie in den anderen Gemeinden der Besiedlungswille und die Kolonisationsverordnungen von weltlichen und v.a. kirchlichen Herrschaften darstellen, als vielmehr die vorgeschobene Lage des ehemaligen Walserortes im unteren Tocetal, wo es inmitten lombardischsprachiger Gemeinden liegt und heute selbst einen lombardischen Dialekt besitzt, wenngleich dieser sich, wohl aufgrund des Walser Substrats, von den umliegenden Mundarten unterscheidet. Der Altmeister der Walser-Forschung, Paul Zinsli (72002: 264 f.), nimmt jedoch an, dass auch diese am Rande des Talgrunds gelegene Siedlung zunächst von höher gelegenen Teilen her durch Walser besiedelt wurde, worauf v.a. Toponyme höher gelegener Regionen (Im Boden, Breitawong, Farambudu ‚Farnboden‘) hinweisen. In Ornavasso wie auch in dessen Ortsteil Migiandone ist die ehemalige Walsermundart seit ca. Ende des 19. Jh. erloschen. 8 Neben Substratwörtern, die sich v.a. in Toponymen erhalten 9, ist in jüngerer und jüngster Zeit das Bewusstsein der Bewohner von Urnafasch für ihre historische Sonderstellung im Gebiet zwischen Simplon und den oberitalienischen Seen gewachsen. Freilich können sich heute im Rahmen der staatlichen Förderungen der historischen sprachlichen Minderheiten in Italien (Gesetz 482/Dezember 1999) 10 die Bemühungen nicht mehr auf eine Wiederbelebung des ehemaligen Dialekts, sondern vielmehr auf eine Bewahrung des damit verbundenen kulturellen Erbes richten.

8 P. Crosa Lenz 1984: 151 f. berichtet von einem letzten Ditsch-Sprecher mit dem Übernamen Natalén, der 1963 verstorben ist und mit ihm auch das letzte Relikt der deutschen Sprechtradition in Ornavasso; einer der wenigen Fälle eines „letzten Sprechers“, wie sie auch aus Cornwall oder Dalmatien bekannt sind. 9 Z.B. im Pilgerort Madonna del Boden oder in Calmatta < alem. Chalchmatta ‚Kalkwiese‘; auf dieser (höhergelegenen) Wiese wurden früher Kalk und Marmor verarbeitet. Der heute nicht mehr abgebaute (rosa) Marmor von Ornavasso war im Mittelalter sehr begehrt und wurde u.a. für den Bau des Mailänder Doms verwendet. Auch im appellativischen Wortschatz leben alte alemannische Elemente fort, so z.B. im Kartenspiel Schíbal: Buur ‚Bube/Bauer‘, Bock ‚Trumpf‘ oder im lombardisch-volksetymologisch umgestalteten Verb puzzà (zu pozza ‚Pfütze‘) ‚die Stiche aufsammeln‘ (V. Cantamessi, mdl. Mitteilung). Zur Toponymie von Ornavasso vgl. Cantamessi 2004. 10 Im Sinne von z.B. Lebsanft 2012: 27-32 handelt es sich um autochthone und territoriale Minderheiten, welche auch durch die Charta des Europarats von 1992 besonderem Schutz zu unterstellen sind. Die Walsergemeinden des Aostatals wurden im Rahmen des regionalen Autonomiestatus von 1948 bereits 1993 geschützt (Zürrer 1998: 549).

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Initiativen dieser Art werden sowohl vom örtlichen Schulzentrum 11 mit sorgfältig ausgearbeitetem didaktischen Material ergriffen als auch vom Ornavasseser Bürger und Walserkenner Valerio B. Cantamessi. In aufschlussreichen Gesprächen mit Herrn Cantamessi berichtete mir dieser über seinen persönlichen Erwerb einer Walsermundart sowie auch von seinen zahlreichen Kontakten, die er seit Jahren zu allen Walsergemeinden des Ossola-Tals (dt. veraltet ‚Eschental‘) und rund um den Monte Rosa pflegt. Darüber hinaus verfasst er Gedichte und Erzählungen sowohl auf Walserdeutsch als auch in lombardischem Dialekt; und letztlich geht auf seine Gesprächsbereitschaft auch die Kontaktaufnahme mit zwei Informanten aus Formazza/Pomatt zurück, die ich mit ihm zusammen interviewen konnte. Herrn Cantamessis Erwerb des Walserdeutschen konnte nicht in der Mundart von Ornavasso selbst erfolgen – hier wird Ditsch seit Ende des 19. Jh. nicht mehr gesprochen. Vielmehr erlernte er den alemannischen Dialekt von Saley/Salecchio zusammen mit aus diesem heute nur noch sommers besiedelten Ort ausgewanderten sechs Geschwistern, die in Ornavasso ansässig geworden waren und dort die Familiensprache des Ditsch/Salecchiese pflegten. 12 In der Öffentlichkeit vermieden die zugewanderten Walser jedoch den Gebrauch des Ditsch, da sie dieses mit einem niederen sozialen Status negativ konnotierten. Eine Wiederbelebung des Walserdeutschen in Ornavasso ist wie erwähnt nicht Ziel der dortigen Aktivitäten, es ist jedoch durchaus zu begrüßen, dass es in Form eines „Kulturwalsertums“ nicht gänzlich aus der vielfältigen Sprach- und Kulturlandschaft Nordwestitaliens verschwindet.

4. Formazza/Pomatt, Pumatt Formazza stellt den obersten Talabschnitt des Tocetales dar und gilt als die älteste Walserkolonie südlich des Alpenhauptkammes. Zudem ist die Walser11 Paolo Crosa Lenz, dem ich an dieser Stelle ebenso wie Frau R. Bolognini ganz herzlich für seine Hilfsbereitschaft danken möchte, hat in den Jahren 2002-2003 eine sehr ansprechende Unterrichtsmappe zum Thema Walser herausgegeben (Urnafasch, lingua e cultura walser a Ornavasso). Sie enthält neben historischen und ethnographischen auch sprachliche Informationen, die sich am Istituto Comprensivo di Ornavasso-Anzola-Mergozzo großer Beliebtheit erfreuen. Unterstützung erhielt Herr Crosa Lenz u.a. durch E. Rizzi, V. Cantamessi und die ortsansässige Vereinigung Gruppo Walser Urnafasch. 12 Der oberhalb des Toce (im dialetto ossolano bisweilen auch la Toce), kurz vor dem Anstieg zum Pomatt gelegene Ort Saley/Salecchio besaß einen sehr altertümlichen Dialekt. Dies zeigt sich z.B. im Präteritum-Paradigma von sein [alem. si]: ich was, du wassescht, er was; wer wassun, ehr wassut, se wassun (V. Cantamessi, mdl. Mittlg.). Sprecher des Saleyer Ditsch wohnen heute meist in Formazza/Pomatt. Verbindung in das vermutliche Herkunftsgebiet, das Oberwalliser Binntal, bestehen nicht mehr.

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mundart hier bis heute recht lebendig, wenngleich die Orientierungen hin zum romanischen/wälschen Sprachraum heute überwiegen. 13 Von Formazza aus wurden auch die benachbarte Walsersiedlung Bosco/ Gurin (Kanton Tessin) sowie noch weiter östlich und nordöstlich gelegene Walserkolonien besiedelt, da das Formazzatal über eine Reihe von bis ins letzte Jahrhundert stark frequentierten Alpenübergängen in die Nachbartäler Goms, Val Bedretto (Oberlauf des Tessin/Ticino) und in das Maggiatal verfügt. Wie in allen Walserkolonien, die in den obersten Talabschnitten von Gebirgen umrahmt liegen, ist aufgrund der Beschleunigung der Verkehrsverbindungen auch hier eine Orientierung zu den italienischsprachigen Talregionen hin zu beobachten. 14 Dies hat zur Folge, dass sich die einst dem deutschen Sprachraum zugewandten Kolonien mehr und mehr den administrativen und nationalen, also italienischen Gesellschafts- und Sprachräumen verbunden fühlen. 15 In Formazza, Ortsteil Brändu/Brendo, hatte ich Gelegenheit zu einem Interview. Das ca. zweistündige Gespräch bei (italienischem) Kaffee und Plätzchen („Napolitaners“) fand im Haus eines Pomatter Ehepaares mittleren Alters statt und war von Gastfreundschaft und Herzlichkeit geprägt. Durch ihre Aufgeschlossenheit auch einem Fremden gegenüber war es möglich, einige Informationen über die Mobilität der Formazziner, die Varianten des Ditsch selbst und schließlich auch über die Einstellung zum Hochdeutschen zu erhalten. Die folgenden vier Gesprächsausschnitte mögen dies verdeutlichen:

13 Neben dem Übergang vom Deutschen zum Italienischen als Schul- und v.a. Kirchensprache seit dem 19. Jh. mag auch die Nähe der Verteidigungslinie Linea Cadorna zu einer Abkehr vom Deutschen beigetragen haben. Die Linie sollte, v.a. während des Ersten Weltkriegs, die Nordgrenze des Königreichs gegen eventuelle Invasionen von Norden her schützen. Sie erstreckt sich vom Ossolatal, wo sie u.a. zwischen Ornavasso und Migiandone verläuft, über die Seen hinweg bis ins Bergell und trägt heute den Namen des berühmten Generals Luigi Cadorna (1850-1928) aus Pallanza (heute Ortsteil von Verbania am Lago Maggiore), wo ein großes Denkmal an ihn erinnert. 14 Dies ist vor allem seit dem Bau eines 2008 fertiggestellten Kehrtunnels der Fall, da so die serpentinenreiche alte Staatsstraße kein Verkehrshindernis mehr darstellt. 15 Die Öffnung zum Italienischen wird auch durch soziolinguistische Forschungen zum Pomatter Ditsch bestätigt; vgl. z.B. Dal Negro 1996, 1999.

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Transkripte:16 1. Mobilität GB: Geht ihr oft in’s Goms, oder so… in die Schweiz? : Ja, es g’scheht ab un an emal, dass wr genga. Nit… : Vor zäche Tag, véeze Tag… : viettse Tag, näj, vor vittsä Tag si mr i Locarno g’si, ned i Goms. GB: Über Bosco/Gurin oder…? : Neej, wir sin ganga bis z Döm im Auto sin wr g’fahre, un dann nachher dr Zug g’no… Döm isch Domodòssola… : Wr hä, fifu…fifuvirzg jahr g’hejrat…etz geng mr […] Domodòssola […] mach wr… GB: Händ’r e spezielle Name für Locarno. : Locarno sägge wer… GB: und Bosco/Gurin… : …Bosco, äah Krii sägge wer, Krii. „Kappa Erre I“ : Guriner Ditsch, Kriner Ditsch [älter]. 2. Variation im Pomatterditsch (über ): Wir han au de Unnrschiddä, ich un är, är ischt vom Sud [sut] un ich bi vom Nord. : ich bi meridionale. : Är sät [’vurmeta] un wer säge [’murmeta] ‚Murmeltier‘. : Flíkfoldena. : Flikwólderna [zitiert ] un wir säge Flikhólderna. GB: Isch des de Wachholdr? : Nej. GB: Es Tier? : ’s ischt dr Schmetterling.

16 Die Wiedergabe der Gesprächsausschnitte erfolgt nach orthographischen Maßgaben des Hochdeutschen: ist jedoch stets als [χ] zu lesen; die variierende Schreibung der Okklusive spiegelt die phonetische Variation der Sprecher selbst wider. Okklusive mit Beibehaltung des Stimmtones fehlen ebenso wie stimmhaftes s [z].

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3. Zum Hochdeutschen : tedesco, vrstan i gar nit. : Jo verstäsch [?]… GB: Hochdeutsch, lo capite? : No, io no. Mi viene l’agitazione quando sento Hochdeutsch. GB: Non l’avete imparato a scuola? : No, no…imparato – un po’ di francese, neanche quello bene… GB: e quando scrivete, scrivete in ditsch? : In ditsch, sì, secondo le regole che…, che ci siamo un po’ inventate. 4. Zum Haus und zum Rechnen GB : Es nätts Hüsli händ’r do. : Ja, s… s’ischt a so äs arms Hüsli. Das hän I selbr g’machut… e costa poco; düsig nihundrt tri und achtzg [1983]… Abr ich cha [kann]… sulle date, sui numerali devo sempre pensare in ditsch prima le unità e poi le decine, in italiano dici prima le decine e poi l’unità, allora devo sempre pensare... quando dico i numeri in tedesco. Le operazioni, le faccio in italiano, sì sì, a scuola noi l’abbiamo fatto in italiano, tutto in italiano, allora quelle son cose nuove…le moltiplicazioni, io non sarei capace di fare zwölf… per éllef… GB: E quattro più cinque si dice „vieri und fifi“? : invece noi qui… così dite voi tedeschi ? GB : No... „und“. : noi diciamo „quatr e sinq“ (dialetto lombardo) „tri volt quatr“… + (zu

: „tri und vieri“… ): e dü häschd, dü häsch scho me grächnet i ditsch.

: Ma, ich, wenn i… wenn i sälbr mach un’operazione de… chunts mr automatisch i wälsch z macho. Wägga, i dr Schuel ha i’s wälsch g’machut. Unn, unn…d’operazioni hä i idr Schuel gleart.

In Formazza zeigt sich sowohl die Freude an traditionellen Kultureigenheiten als auch am Ditsch. Die Attrition des Dialekts manifestiert sich jedoch sowohl in den zahlreichen Code-Switchings als auch in der Durchführung von Rechenoperationen auf Italienisch bzw. Lombardisch. Dies ist bemerkenswert, da doch die Persistenz der Gewohnheit des Zählens und Rechnens in der Muttersprache

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L 1 bei mehrsprachigen Sprechern des Öfteren als Indiz für eine stärkere Sprache genannt wird. 17

5. Schlussbemerkungen Die oben angestellten Beobachtungen bestätigen im Großen und Ganzen bisherige Forschungsarbeiten zur Zukunft der Walserdialekte im Valdòssola. Die räumliche und politische Umorientierung nach Süden hin und die damit, spätestens seit der italienischen Einigung von 1861, verbundenen Sprachlenkungsaktivitäten haben das Ditsch diastratisch und diaphasisch so stark eingeschränkt, dass einer Kulturpraxis ‚Ditsch Sprechen‘ ohne Überdachung durch das Hochdeutsche nur geringe Überlebenschancen eingeräumt werden können. Das Italienische Gesetz 482 und die Charta 1992 des Europarates könnten diese Chancen erhöhen. Das Beispiel des Dialekts von Bosco/Gurin mag vor Augen führen, wie im Rahmen einer offiziellen Mehrsprachigkeit die kommunikative Reichweite des Ditsch objektiver eingeschätzt und nicht durch den Kulturbesitz Walsertum verklärt wird. Eine damit verbundene individuelle Mobilität, ohne Inselmentalität und ohne Scheu vor dem Hochdeutschen, trägt vielleicht zu einem „sprachwissenschaftlicheren“ Dialektbewusstsein bei. Dass ausgerechnet im Zeitalter schneller Fortbewegungsmittel die Insellagen der Ossolaner Walserkolonien verstärkt hervortreten, mag als Ironie der Geschichte anzusehen sein. Ditsch wird noch stärker als zuvor zu einem besonderen (materiellen) Kulturbesitz aufgewertet, während der Normalität der (immateriellen) Kulturpraxis des Ditsch-Sprechens im Alltag, so kleinteilig diese auch sein mag, bisher weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird.

17 Freilich gilt es zu berücksichtigen, dass der L1-Erwerb in einem Alter stattfindet, in welchem größere Zahlenräume noch nicht kognitiv erfasst werden. Dies geschieht, wie bekannt, erst durch die schulische Ausbildung. Ähnliche Zählweisen wie in Formazza finden sich auch in bairischen (zimbrischen) Sprachinseln in den Ostalpen, wo z.T. bis 30 auf Deutsch, ab 30 auf Italienisch gezählt wird (D. Kattenbusch, mdl. Mitteilung).

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6. Anhang

: besuchte Orte mit L1-Sprechern des Walserdeutschen (Di(i)tsch, Titsch, Titschu) : besuchte Orte ohne L1-Sprecher des Walserdeutschen

] : Alpenübergang : Talstufe Abbildung 1: Allgemeine Übersichtskarte der nordwestitalienischen Walsersiedlungen (Karte leicht ergänzt übernommen aus Fazzini Giovannucci 1978: 7)

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Abbildung 2: Ornavasso, innerörtliches Ortsteilschild aus leicht ausgewittertem Kiefernholz mit ausgekerbter Inschrift (händische Kopie GB). Auf der Rückseite desselben Schildes befindet sich die Inschrift Roll für den auf der anderen Seite des Wildbaches gelegenen Teil von Urnafasch/ Ornavasso. Holzschilder mit dem in derselben antikisierenden Frakturschrift abgefassten walserdeutschen Namen Urnafasch finden sich, in einigem Abstand von den offiziellen italienischen Ortstafeln (Ornavasso), an den beiden Ortseinfahrten.

Abbildung 3: Sinnspruch (Fresco) auf der Südseite des Glockenturms (unterhalb der Sonnenuhr) der Dorfkirche St. Jakobus und Christophorus in Bosco/Gurin. Witterungseinflüsse zeigen sich in Abdunkelungen des Putzes (händische Kopie GB).

Bibliographie Balestroni, Rolando (2009): Kampell-Campello Monti. Walser Gemeinschaft in der Provinz Verbania. – In: Karin Heller, Luis Thomas Prader, Christian Prezzi (Hg.): Lebendige Sprachinseln. Beiträge aus den historischen deutschen Minderheiten in Italien, 91-117. Bozen: Einheitskomitee der historischen deutschen Sprachinseln in Italien; Dokumentationszentrum Lusern, Centro Documentazione Luserna. Bertamini, Tullio (2005): Storia di Maracugnaga. Bd. I. – Macugnaga: Parrocchia di Maracugnaga. Cantamessi, Valerio B. (2004): Als vir saghen. Dizionario della lingua walser e della toponomastica di Ornavasso. – Ornavasso: Istituto Comprensivo di Ornavasso-Anzola-Mergozzo. Crosa Lenz, Paolo (1984): Decadenza del dialetto Walser a Ornavasso ed elementi residui. – In: Enrico Rizzi (Hg.): La Questione Walser. Atti della prima Giornata internazionale di studio. Orta – 4 Giugno 1983, 149-160. Anzola d’Ossola: Fondazione Arch. Enrico Monti. Crosa Lenz, Paolo (Hg.) (2002-2003): Urnafasch. Lingua e cultura walser a Ornavasso. Materiali per la didattica. – Ornavasso: Istituto Comprensivo di Ornavasso-Anzola-Mergozzo.

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Thomas Krefeld Sprachliche Variation im kommunikativen Raum: Neun Anhaltspunkte 1

1. Sprecher, Sprechen, Sprache Die grundlegenden Ordnungskategorien der sprachwissenschaftlichen Beschreibung sind der individuelle Sprecher, das konkrete Sprechen und das konventionalisierte System der Sprache. Über die Linguistik hinaus sind damit gleichzeitig die Grundkategorien für die Erfassung jeder kulturellen Technik identifiziert: das Individuum, die Interaktion und die Konvention. 2 Allerdings ist die Sprache – im Unterschied zu den meisten (wenn nicht zu allen) anderen Kulturtechniken – tief in der kognitiven und neurophysiologischen Grundausstattung des Menschen verankert. Mit einer Computermetapher ausgedrückt gehört die Sprache sozusagen zur menschlichen Hard- und Software gleichermaßen. Aber genau wie die anderen Konventionen (und im Unterschied zu anderen kognitiven Leistungen) unterliegt die Sprache einer kontinuierlichen und bisweilen radikal beschleunigten historischen Variation, nicht zuletzt deshalb, weil die anderen, rein konventionell fundierten Kulturtechniken sich der Sprache als Instrument bedienen und ihre historischen Veränderungen dadurch mittelbar an die Sprache weitergeben können. In raumorientierter Sicht ist es wichtig festzuhalten, dass die Geltungsräume dieser unterschiedlichen kulturellen Techniken, oder: Konventionen, einschließlich der Sprache, in der Regel nicht kongruent sind. In dieser Hinsicht Deckungsgleichheit in Form kulturell homogener und konsistenter Räume zu erwarten ist – jedenfalls in 1 Die Textsorte ‚Festschrift‘ ist wenig formalisiert; sie gestattet Launiges ohne Strenges auszuschließen. Der vorliegende Beitrag erlaubt sich, in die zweite Richtung zu gehen. Es wird zudem ein wenig der Tonfall eines Vademecums angeschlagen und weitestgehend darauf verzichtet, die andernorts geführte Diskussion der wichtigen romanistischen Referenzarbeiten zu wiederholen (vgl. Krefeld 2011a, 2011b und i. Dr.). 2 Diese Trias lässt sich je nach Zweck ausbuchstabieren, für die Literatur z.B. als Autor, Text, Gattung, für die Religion als Gläubiger, religiöse Praxis, Konfession, für die Jurisprudenz als Rechtssubjekt, rechtsrelevantes Verhalten, gesetzlicher Rahmen usw.

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Thomas Krefeld

Europa – historisch seit je unangemessen und daher ideologischen Voreinstellungen geschuldet.

2. Variations- und Varietätenlinguistik Die unübersehbare und reichlich unübersichtliche Variabilität polarisiert die Sprachwissenschaftler, denn sie lässt sich nur bedingt formalisieren. Manchen liegt es daher am Herzen, sie in theoretisch abgesicherter Weise zum Verschwinden zu bringen; das geschieht am einfachsten durch die Restriktion des Gegenstandsbereichs auf eine womöglich angeborene Universalgrammatik. Eine wichtige Rolle spielt die sprachliche Variation dagegen in anderen Bereichen, wie der Sprachwandelforschung, und von der Variationslinguistik und der Varietätenlinguistik wird sie schließlich programmatisch zum eigentlichen Gegenstand erhoben. Nun werden mit diesen beiden Ausdrücken jedoch keineswegs trennscharfe Subdisziplinen (vgl. Sinner 2014: 11-17) identifiziert; man kann allerdings in den bis zu einem gewissen Grad unterscheidbaren Forschungstraditionen, die vor allem mit den Arbeiten von William Labov einerseits und Eugenio Coseriu andererseits verbunden sind, immerhin komplementäre Forschungsfragen feststellen. 3 Denn beide Ausdrücke sind ganz unterschiedlich pointiert: ‚Variationslinguistik‘ ist deutlich prozessorientiert; der Terminus zielt auf Entstehung und Verbreitung von Varianten (oder: Merkmalen) und impliziert deshalb auch eine größere Nähe zur Diachronie und zum empirisch belegten Sprechen bzw. zu dessen Urheber, dem biographisch im zeitlich-räumlichen Kontext fassbaren Sprecher. ‚Varietätenlinguistik‘ ist dagegen eher auf Aggregation (clustering) der Varianten zu Varietäten ausgerichtet. Für den Idealtyp einer Varietät gilt oft der ebenfalls über den Raum definierte Dialekt, der als eine in sich funktionstüchtige und in diesem Sinn vollständige und semiotisch autonome Sprache anzusehen ist. Der definitorische Bezug eines Dialekts als raumspezifische Varietät auf eine in der Regel als ‚Sprache‘ bezeichnete, weiträumiger geltende und die Dialekte überdachende Standardvarietät (z.B. ‚Hochdeutsch‘ oder ‚Italienisch‘) hat ja nichts mit der Entstehung der dialektalen Formen zu tun, sondern er ist das sprachsoziologische Produkt historischer Veränderungen, die das sprachliche System des Dialekts als Ganzes betreffen und ihn zu einem „Satelliten“ werden

3 Es lassen sich außerdem disziplinäre Vorlieben ausmachen: Im deutschsprachigen Raum tendiert die Germanistik eher zur ‚Variationslinguistik‘ (vgl. zuletzt Purschke 2011), wogegen die Romanistik sich eher an die ‚Varietätenlinguistik‘ hält (vgl. zuletzt Sinner 2014; eine Ausnahme bildet die bereits ältere, aber erst kürzlich veröffentlichte Arbeit von Stehl 2012).

Sprachliche Variation im kommunikativen Raum: Neun Anhaltspunkte

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lassen. 4 Im Übrigen zeichnen sich Dialekte sogar in ihrer lokalen Ausprägung selbst durch eine ausgeprägte interne Variation aus, wie bereits Louis Gauchat in einem längeren Aufsatz über die frankoprovenzalische Mundart von Charmey, einem damals (1905) nur zu Fuß erreichbaren Ort, minutiös beschrieben hat. Diese Arbeit hätte bahnbrechend wirken können, wenn sie in angemessener Weise rezipiert worden wäre. Denn es werden, ohne dass es im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags genau referiert werden könnte, ganz unterschiedliche Quellen der Variation und (in heutiger Terminologie) Dimensionen der Markiertheit erfasst. 5 Hier sein Fazit: […] il importe de constater qu’à Charmey, où toutes les conditions sont plutôt favorables à l’unité, la diversité est beaucoup plus forte que je ne me le serais imaginé après une courte visite. […] L’unité du patois de Charmey, après un examen plus attentif, est nulle […] (Gauchat 1905: 48).

3. Variation, Varianten – Varietät Das horizontale Nebeneinander vitaler Dialekte 6 und das vertikale Übereinander eines vitalen Dialekts und seines zugehörigen Standards kann strenggenommen gar nicht als Variation beschrieben werden, denn ‚Variation‘ bezeichnet die Tatsache, dass sich eine Variable in mehreren Ausprägungen (‚Varianten‘) manifestiert und für komplexe Systeme lassen sich keine das ganze System übergreifende Variablen formulieren. So können allenfalls einzelne sprachliche Einheiten aus mehreren Dialekten inklusive der Standardvarietät als räumliche Varianten einer gemeinsamen historischen Variable oder einer syntaktischen Funktion beschrieben werden; in Oberitalien etwa sind [k-], [ʨ], [ʦ], [ʧ°-] regionale Varianten in der Entwicklung von initialem lat. [k-], das in diesem Fall in diachronischer Perspektive als Variable anzusehen ist. Außerdem können einzelne Formen aus einer Varietät in eine andere durch Kontakt übernommen 4 Diese treffende Metapher hat Žarko Muljačić geprägt; er spricht von der transsatellizzazione ehemals autonomer Idiome; vgl. zusammenfassend Muljačić 1993: 93. 5 Es ist wissenschaftsgeschichtlich wohl kein Zufall, dass sich die Dialektologie im deutschsprachigen Raum (aber nicht nur des Deutschen) zu diesem recht frühen Zeitpunkt – wider besseres Wissen – eben nicht zu einer mehrdimensionalen Variationslinguistik entwickelt hat. Genauer zu untersuchen wäre, welche Rolle ein idealisiertes Verständnis von Dialekt dabei gespielt hat. In Italien ist die Entwicklung insofern ein wenig anders verlaufen, als dass die nur wenig später veröffentlichte, in ähnliche Richtung gehende Arbeit von Benvenuto Terracini (1914-1922) ein starkes, bis heute nachwirkendes Echo hatte. 6 Als ‚vital‘ kann man Dialekte/Sprachen bezeichnen, solange sie in der Alltagskommunikation spontan erworben und von allen Generationen face to face gebraucht werden; dies entspricht Stufe 6 der von Ethnologue vorgeschlagenen Statusermittlung (www.ethnologue.com/about/language-status, 11.01.2015).

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und dort zu Varianten werden (etwa regionalit. bun dí ‚buongiorno‘). Es ist aber nicht sinnvoll, ganze Varietäten, so genannte Kleinsprachen oder gar Standardsprachen wie Surselvisch, Frankoprovenzalisch, Okzitanisch, Lombardisch, (Standard)Italienisch usw. als ‚Varianten‘ zu beschreiben, denn was könnte die zugehörige Variable sein? ‚Romanisch‘? ‚Italoromanisch‘? ‚Zentralromanisch‘? Durchgängig als Variation ließe sich das ‚horizontale‘ Verhältnis zwischen benachbarten Dialekten und das ‚vertikale‘ Verhältnis zwischen einem Dialekt und der Standardsprache nur dann konzeptualisieren, wenn die Kategorie der ‚Varietät‘ zu Gunsten offen variierender Kontinua aufgegeben würde. Das ist jedoch als grundsätzliche Lösung kaum überzeugend, da Sprecher durchaus in der Lage sind, bestimmte Varietäten, vor allem natürlich die eigenen, unmittelbar und in holistischer Manier wiederzuerkennen, ohne dass sie dabei auf saliente Merkmale angewiesen wären. Auch das hat Louis Gauchat trotz seiner bereits herausgestellten klaren Einsicht in die varietäteninterne Variation gesehen: Man hat gesagt, ein Dialekt müsse charakteristische Merkmale enthalten, die sonst nirgends vorkommen, er müsse von den Nachbardialekten durch ein an ganz bestimmten Orten durchgehendes Zusammenfallen mehrerer (wenigstens zweier) Lautgrenzen deutlich geschieden sein. Innerhalb des Dialekts müsse eine ungetrübte lautliche Einheit herrschen. Da dies nicht vorkomme, gebe es keine Dialekte. […] Trotzdem besitzen alle Angehörigen eines Dialekts etwas Gemeinschaftliches, an dem man sie erkennt, das in ihnen, wenn sie in der Fremde zusammentreffen, ein freudiges Heimatgefühl weckt (Gauchat 1903: 96).

Festzuhalten bleibt, dass der dialektale Bereich insofern unproblematisch und daher gewissermaßen privilegiert ist, da die Korrelation einzelner Varianten im Sprechen mit der örtlichen Herkunft eines Sprechers und/oder die Aggregation von ihm durchgängig gebrauchter entsprechender Merkmale zu einem lokalen Dialekt, d.h. zu einer lokalen Sprache mit dem Varietätenstatus eines Dialekts in der Regel evident sind.

4. Pluridimensionalität der Markierung Allerdings ist die Auszeichnung eines Merkmals als ortsspezifisch, d.h. ihre Markiertheit in der diatopischen Dimension, natürlich nicht hinreichend, denn weder sind alle Varianten dialektal, noch sind andere und womöglich zusätzliche Markierungen ausgeschlossen; das gilt selbstverständlich gerade auch innerhalb eines Dialekts. Erforderlich sind mindestens folgende Dimensionen von Markiertheit: die diastratische (nach dem sozialen Milieu), die diaphasische (nach dem Stil der Rede und der situativen Angemessenheit), die diageneratio-

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nelle (nach dem Alter) und die mediale (nach der eventuellen Zuhilfenahme eines Mediums). Es ist übrigens irreführend die phonische Realisierung ebenfalls als ‚medial‘ einzustufen, da sie im Unterschied zur Schrift oder zu elektronischen Medien substantiell für den phylo- und ontogenetischen Aufbau von Sprache überhaupt ist und deshalb im Unterschied zu den Medien nicht ‚herausgerechnet‘ werden kann. In der Tatsache, dass gesprochene und nicht mediatisierte Kommunikation ausschließlich face to face, in konkreter (und nicht metaphorischer) Nähe möglich ist, zeigt sich die genuin räumliche Konditionierung ursprünglicher sprachlicher Kommunikation. 7 Angesichts der skizzierten Vielfalt möglicher Markiertheit erheben sich jenseits der reinen Diatopik gravierende methodologische Fragen, wie, erstens, bei der Zuschreibung von Markierungen und, zweitens, bei der Ableitung von Varietäten vorzugehen sei. Denn während die tatsächliche Okkurrenz einer Variante im Sprechen und die Individualität des Sprechers in der kommunikativen Ursituation der mündlichen face-to-face-Kommunikation evident sind, erweisen sich die genaue Qualifikation ihrer Markierung und vor allem die Aggregation ähnlich markierter Varianten zu Varietäten als theoretisch und empirisch schwierig, wenn nicht prekär. Die Bewältigung beider Aufgaben muss unter der Voraussetzung erfolgen, dass Variation nicht nur Gegenstand der Wissenschaft und damit Bestandteil des linguistischen Expertenwissens ist, sondern grundsätzlich auch zum Wissen der Sprecher selbst gehört und insofern im Laienwissen fundiert ist. Damit sollen die Sprecher natürlich nicht zu Sprachwissenschaftlern erklärt werden, denn die analytischen Kategorien der einen und der anderen sind selbstverständlich grundverschieden.

5. Zwei epistemologische Horizonte Es sind also zunächst zwei epistemologische Horizonte voneinander abzugrenzen, nämlich das Sprecherwissen und das Linguistenwissen. Vor allem im Blick auf das Sprecherwissen ist darüber hinaus noch eine andere Unterscheidung zu beachten: Auf der einen Seite gibt es das Segment des prozeduralen Wissens, mit dem die Fähigkeit etwas auszuführen gemeint ist, das Sprechenkönnen. In diesen Bereich fallen z.B. der selbstverständliche Gebrauch einer Variante, sei sie bereits konventionalisiert oder u.U. sogar neu, oder auch das unreflektierte, spontane Switchen zwischen Varietäten. Auf der anderen Seite findet sich das komplementäre Segment des deklarativen Wissens, also etwa Repräsentationen, 7 Vgl. Krefeld i. Dr.; grundlegend ist räumliche Kopräsenz der Interagenten auch für Tomasellos Theorie des Sprachurspungs aus gestischer und pantomimischer Kommunikation (Tomasello 2008).

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die mit den Varianten und ihrem Gebrauch assoziiert sind, wie z.B. diesen Ausdruck verstehe ich, aber er ist falsch; dieser Ausdruck wird nur von den Jugendlichen in der Stadt/den Alten vom Land usw. verwendet. In der Sprachwissenschaft steht das prozedurale Wissen immer noch stark im Vordergrund, denn die relevanten Daten werden meistens und in vielen Fällen ausschließlich aus Äußerungen, d.h. aus der Sprachproduktion gewonnen. Das deklarative Wissen ist jedoch äußerst wichtig für die Erfassung der Variation: In gewisser Hinsicht sind Variations- und Varietätenlinguistik im Kern nichts anderes als die Hebung des prozeduralen und deklarativen Sprecherwissens auf die epistemologische Ebene des Sprachwissenschaftlers.

6. Komplementäre Serien von Daten aus sprachlicher Produktion und Perzeption Für eine solche linguistische Aufbereitung des Sprecherwissens ist es erforderlich, die üblichen Produktionsdaten um eine qualitativ ganz anders geartete Datenserie zu ergänzen, die aus der Perzeption von Produktionsdaten durch die Sprecher selbst gewonnen wird. Entsprechende Tests, die zu den grundlegenden Instrumenten der mittlerweile fest etablierten perzeptiven Linguistik zählen, sind geeignet, die variationsbezogenen Repräsentationen von Sprechern und Sprechergruppen freizulegen. Es muss betont werden, dass die Erhebung und Auswertung von Perzeptionsdaten, die bislang erst in äußerst geringem Maße verfügbar sind, nicht etwa ein peripheres Interesse von zweifelhafter wissenschaftlicher Seriosität sind; vielmehr bilden sie die eigentliche Grundlage zur konkreten Festlegung variationsspezifischer Markierungen einzelner Varianten gemäß der genannten Dimensionen sowie zur Annahme von Varietäten im Sinne fest aggregierter, konkurrierender Varianten. Für beide Aufgaben sind reine Produktionsdaten aus zweifachem Grund unzureichend. Zunächst gibt es Varianten, die womöglich sogar typologisch relevant sind, wie z.B. die Linearisierung der klitischen Pronomina in it. volevo dirtelo vs. te lo volevo dire etc., ohne jedoch irgendeine Markierung zu tragen: Der varietätenlinguistische ‚Nullpunkt‘ sprachlicher Variation ist nicht Invarianz, sondern vielmehr Unauffälligkeit. Anders gesagt: Markiertheit ist Auffälligkeit und als solche ein Phänomen der Salienz (vgl. grundlegend dazu Purschke 2011: 80-87 und 90-121). Sodann ist sofort anzuschließen, dass die Markierung der jeweiligen Variante nicht fest eingeschrieben ist; vielmehr erweist sie sich als sprecher(gruppen)abhängig und insofern stets als diachronen Veränderungen unterworfen (vgl. Anhaltspunkt 1): Markierungen entstehen, werden aus einer Dimension in

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andere übertragen 8 und verschwinden. Wo Sprecher keine Markierung assoziieren, erübrigt sich auch die linguistische Annahme von Varietäten. Andererseits werden auch vermeintliche Varietäten, auf deren Existenz entsprechende Repräsentationen im Sprecherwissen hindeuten könnten, durch echte Perzeptionstests, d.h. durch Konfrontation der Sprecher mit authentischen Produktionsdaten ebenfalls entlarvt. 9

7. Unauffälligkeit und soziale Identitätskonstruktion Die fehlende Wahrnehmung von Auffälligkeiten, die wie angedeutet durchaus nicht in Invarianz begründet sein muss, ist ein zuverlässiger Indikator für die Standardhaftigkeit eines Merkmals und insofern sehr nützlich für die Erfassung von Regionalstandards. Sie ist eng mit der sozialpsychologisch und soziologisch grundlegenden Konstruktion von Zusammengehörigkeit (‚Wir‘) verbunden, die in unterschiedlichen Abstufungen von Exklusivität gestaffelt sein kann und sich womöglich pronominal manifestiert (etwa in der Opposition von frz. nous/it. noi vs. frz. nous autres/it. noialtri. Dieses Phänomen ist keineswegs auf generationelle, ideologische oder religiöse Gruppen beschränkt, sondern spiegelt sich nicht selten auch in der Selbstbezeichnung der lokalen Dialekte durch ihre Sprechergemeinschaften. Exemplarisch ist das Erhebungsnetz des Atlante linguistico ed etnografico del Piemonte occidentale (ALEPO), in dem die Informanten in etlichen Orten Dialektbezeichnungen lieferten, die einen Bezug zur 1. Pers. Pl. (‚Wir‘) aufweisen. Die folgende Karte verzeichnet diese Orte und zeigt außerdem die teils hochproblematische, wenn nicht unmögliche Zuordnung dieser Ortsdialekte zu den in der Legende genannten, regional übergreifenden Dialekt- und Sprachzonen:

8 Die Markierungsverschiebungen sind weitaus komplizierter, als es die in Koch/Oesterreicher 2011: 16 formulierte, angeblich nur in einer Richtung funktionierende Varietätenkette Diatopik → Diastratik → Diaphasik vermuten lässt. Es gibt ja dialektspezifische Wörter, die über die spätlateinischen Kirchensprachen – eine diastratisch markierte Varietät – verbreitet wurden (z.B. nordital. pieve ‚parrochia‘ < lat. plebe(m)) oder regionale/dialektale Ausdrücke, die sich aus ehemals formeller und latinisierender Diaphasik erklären, wie der bair. Gruß Servus usw. 9 Vgl. Hauchecorne/Ball 1997 zum accent du Havre, der sich als Mythos entpuppt, oder Schmid 2003 zur ebenso wenig fundierten Überzeugung florentinischer und pratesischer Sprecher, klar unterscheidbare Stadtdialekte zu reden.

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Abbildung 1: 1. Pers. Pl. im westlichen Piemont (nach ALEPO 2003a)

Perzeption von sprachlicher Auffälligkeit ist dagegen eine Quelle sprachlicher Dynamik, weil sie zu Akkommodation an den Gesprächspartner bzw. an andere Sprecher und damit zur räumlich-sozialen Diffusion der perzipierten Merkmale führen kann (vgl. Giles/Powesland 1997 [1975]) und Giles/Coupland/ Coupland 1991); Akkomodation ist wohl auch in rein medialen Räumen möglich. Allerdings sollte man auch mit der Möglichkeit einer entgegengesetzten Reaktion, dem Beharren auf der eigenen Sprechweise rechnen.

8. Zwei Perspektiven: Auto- und Heteroperzeption Auch die Perzeption muss präzisiert und differenziert werden; so hat die Wahrnehmung der Äußerungen anderer, d.h. die Fremdwahrnehmung oder Heteroperzeption, in der Regel eine veränderte Selbstwahrnehmung oder Autoperzeption mit den soeben genannten Reaktionen zur Folge. 10 Im Sinne der 10 Was der Turiner Kulturanthropologe Francesco Remotti über die konstruktive Verfasstheit der ‚Identität‘ im Allgemeinen sagt, gilt ganz genauso und je nach Lebensumständen auch in besonders prägnanter Weise für ihre sprachlichen Aspekte: „L’alterità è presente non solo ai margini, al di là dei confini, ma nel nocciolo stesso dell’identità. […] costruire l’identità non comporta soltanto un ridurre, un tagliar via la molteplicità, un emarginare l’alterità, significa anche un far

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erwähnten gestaffelten Exklusivität des „Wir“ ist es wichtig, die „[r]äumliche Aufschichtung der alltäglichen Lebenswelt“ (Schütz/Luckmann 1979: 63) zu beachten. Denn die konkrete Variation und die Wahrnehmung gemeinsamer Varietäten kann mit einer bestimmten „Reichweite“ (ebd.) der Interaktion korrelieren und dadurch unterschiedlich eng/weit gefasste sprachliche Gruppen und Grenzzonen zunehmender Fremdheit definieren. Mit einer sehr nützlichen, auf Kenneth Lee Pike zurückgehenden Opposition unterscheidet man hier die gruppeninterne (oder: emische) Perspektive einerseits und die gruppenexterne (oder: etische) Perspektive andererseits (vgl. dazu Krefeld/Pustka 2010: 22f. und Postlep 2010: 62 ff.). In emischer Sicht profiliert sich die varietäteninterne Variation, z.B. im Blick auf Markierungsverschiebungen; in etischer und varietätenexterner Beschreibung/Wahrnehmung von Variation treten z.B. universale Erscheinungen der Mündlichkeit oder Auswirkungen der medialen Revolutionen hervor, wie die mit der Konsolidierung des Buchdrucks allenthalben in Europa aufkommenden Standardisierungsprozesse.

9. Elementarteilchen des kommunikativen Raums: Glossotope Aus den bisherigen Anhaltspunkten ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit, sprachliche Variation zu verorten. „Verortung“ ist aber keineswegs metaphorisch, sondern buchstäblich zu verstehen. Der Ort der Variation ist kein abstrakter Punkt in einer Matrix formaler Parameter, sondern ein Sprecher in seiner historischen Konkretion: mit seinem Repertoire an Varietäten (von mehr oder weniger Sprachen), mit den kommunikativen Routinen, die den Gebrauch der ihm verfügbaren Varietäten in den Netzwerken seiner Kommunikationspartner regeln, und mit den Rückwirkungen dieser Routinen auf sein eigenes Repertoire. In diesem Sinn ist jeder Sprecher durch seine Netzwerkpflege Architekt seiner eigenen kommunikationsräumlichen Konstruktion und so gewissermaßen der minimale Sprachort; in konsequent raumorientierter Terminologie wurde dafür der Ausdruck ‚Glossotop‘ geprägt (Krefeld 2002: 159 und 2004: 25f.). Damit wird eine Kategorie vorgeschlagen, die zwar nicht in totaler Opposition, aber doch in Konkurrenz zum „Punkt“ bei der dialektologischen Kartierung des sprachlichen Raums steht. Im Unterschied zu diesem eindimensionalen, nur auf das dialektale System (Sprache) bezogenen Konzept ist sie geeignet, die Komplexität kommunikativer Räume abzubilden. Denn an ein und demselben geographischen Ort koexistieren ja sehr häufig ganz unterschiedliche Glossotope, etwa traditionell dialektale auf der einen ricorso, un utilizzare, un introdurre, un incorporare dunque (che lo si voglia o no, che lo si dica o meno) l’alterità nei processi formativi e metabolici dell’identità“ (2003: 63).

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Seite und rezente, durch Sprechermobilität entstandene ‚Migrationsglossotope‘ auf der anderen Seite; auch diese rezenten Konstellationen zeichnen sich jedoch oft bereits durch ortsspezifische Varietäten aus, die sich auf Grund der sich entwickelnden Mehrsprachigkeit der eingebundenen Sprecher und der damit einhergehenden sprachkontaktinduzierten Variation der involvierten Sprachen/Varietäten schnell entwickeln. Selbstverständlich leben auch Repräsentanten identischer Herkunft am selben Emigrationsort keineswegs in identischen Glossotopen (vgl. dazu Melchior 2008). Aus der glossotopischen Verflechtung der mehr oder weniger divergierenden Sprecher mit ihren jeweiligen, emisch extrem verengten ‚Ich‘-Horizonten emergiert der in sich dynamische und variable kommunikative Raum mit seinen teils konvergierenden, teils konkurrierenden und konfligierenden ‚Wir‘Horizonten und den womöglich korrespondierenden Varietäten. 11 In diesem Sinne sind Variations- und Varietätenlinguistik des kommunikativen Raums Gegenstand einer umfassenden ‚Glossotopik‘. Mit Leibniz gesagt: „Raum ist kurzum das, was sich aus den Orten ergibt, wenn man sie zusammennimmt“ (Leibniz 2006 [1716]: 69).

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Krefeld, Thomas (2004): Einführung in die Migrationslinguistik. Von der Germania italiana in die Romania multipla. – Tübingen: Narr. Krefeld, Thomas / Pustka, Elissa (2010): Für eine perzeptive Varietätenlinguistik. – In: Thomas Krefeld, Elissa Pustka (Hg.): Perzeptive Varietätenlinguistik, 9-30. Frankfurt am Main: Lang. Krefeld, Thomas (2011a): ‚Primäre‘, ‚sekundäre‘ und ‚tertiäre‘ Dialekte – und die Geschichte des italienischen Sprachraums. – In: Anja Overbeck, Wolfgang Schweickard, Harald Völker (Hg.): Lexikon, Varietät, Philologie. Romanistische Studien. Günter Holtus zum 65. Geburtstag, 137-147. Berlin/Boston: de Gruyter. Krefeld, Thomas (2011b): Sag mir, wo der Standard ist, wo ist er (in der Varietätenlinguistik) geblieben? – In: Sarah Dessì Schmidt et al. (Hg.): Rahmen des Sprechens. Beiträge zu Valenztheorie, Varietätenlinguistik, Kreolistik, Kognitiver und Historischer Semantik. Peter Koch zum 60. Geburtstag, 101-110. Tübingen: Narr. Krefeld, Thomas (i. Dr.): L’immédiat, la proximité et la distance communicative. – In: Claudia Polzin-Haumann, Wolfgang Schweickard (Hg.): Manuel de linguistique française. Berlin/Boston: de Gruyter. Leibniz, Gottfried Wilhelm (2006 [1716]): Briefwechsel mit Samuel Clarke. – In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, 58-73. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lenz, Alexandra N. (2010): Emergence of Varieties through Restructuring and Reevaluation. – In: Peter Auer, Jürgen Erich Schmidt (Hg.): Language and Space. An International Handbook of Linguistic Variation. Bd. I. Theories and Methods, 295-315. Berlin/New York: de Gruyter. Melchior, Luca (2008): Sù pes Gjermaniis. Zwischen Dissoziation und Integration. Kommunikationsräume friaulischer Einwanderer in Bayern. – Frankfurt am Main: Lang. Muljačić, Žarko (1993): Standardization in Romance. – In: Rebecca Posner, John N. Green (Hg.): Bilingualism and Linguistic Conflict in Romance, 77-116. Berlin/New York: de Gruyter (Trends in Romance Linguistics and Philology 5). Postlep, Sebastian (2010): „Charrem altramén“ – Ein aragonesisches ‚Randproblem‘ zwischen ‚aragonés oriental‘ und ‚catalán occidental‘. – In: Thomas Krefeld, Elissa Pustka (Hg.): Perzeptive Varietätenlinguistik, 61-102. Frankfurt am Main: Lang. Purschke, Christoph (2011): Regionalsprache und Hörerurteil. Grundzüge einer perzeptiven Variationslinguistik. – Stuttgart: Steiner. Remotti, Francesco (22003 [1996]): Contro l’identità. – Bari: Laterza. Schmidt, Sven Christian (2003): Das toscano und seine diatopische Variation. Untersuchung zur Wahrnehmung florentinischer und pratesischer Sprecher. – München (unveröff. MAArbeit LMU). Schütz, Alfred / Luckmann, Thomas (1979): Strukturen der Lebenswelt. – Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sinner, Carsten (2014): Varietätenlinguistik. Eine Einführung. – Tübingen: Narr. Stehl, Thomas (2012): Funktionale Variationslinguistik. Untersuchungen zur Dynamik von Sprachkontakten in der Galloromania und Italoromania. – Frankfurt am Main: Lang. Terracini, Benvenuto (1914-1922): Il parlare d’Usseglio. Appendice I: La varietà nel parlare d’Usseglio. – In: Archivio Glottologico Italiano 18, 105-186. Tomasello, Michael (2008): Origins of Human Communication. – Cambridge: MIT Press.

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iopeagi, murluc bassi, peiudur – Verderbte Turzismen in den Habiti antichi et moderni von Cesare Vecellio

Cesare Vecellios Habiti antichi et moderni di tutto il mondo mit seinen zahlreichen Abbildungen landestypischer Kleidung aus Europa, Afrika und Asien ist eine der wichtigsten Informationsquellen über die Renaissance-Mode. Der Erstdruck mit 450 Holzschnitten stammt von 1590: De gli habiti antichi, et moderni di diverse parti del mondo libri due, fatti da Cesare Vecellio, & con discorsi da lui dichiarati (Venetia, presso Damian Zenaro 1590). 1598 folgte eine im Darstellungsteil auf 503 Holzschnitte erweiterte, aber im Text stark gekürzte italienisch-lateinische Ausgabe: Habiti antichi et moderni di tutto il mondo [...] di nuovo accresciuti di molte figure/Vestitus antiquorum recentiorumque totius orbis [...] Latine declarati (Venetia, appresso i Sessa 1598). 1664 besorgte Salustio Piobbici eine Neuausgabe mit 415 Tafeln, die im Text weiter reduziert wurde: Habiti antichi overo Raccolta di figure delineate dal gran Titiano, e da Cesare Vecellio suo fratello, diligentemente intagliate, conforme alle nationi del mondo (Venetia, Combi & La Noù 1664). Eine spanische Übersetzung erschien 1794: Colección de trages que usaron todas las naciones conocidas hasta el siglo XV, diseñadas por el gran Ticiano Vecellio y por Cesar su hermano (ohne Ort und Verlag 1794). Im 19. Jh. folgte schließlich noch eine französische Übersetzung von Ambroise Firmin-Didot, die auf dem Druck von 1598 basiert (Costumes anciens et modernes/Habiti antichi et moderni di tutto il mondo di Cesare Vecellio, 2 vol., Paris, Typographie de Firmin Didot 1859/ 1860). Der Text von 1590 wurde von Margaret Rosenthal und Ann Rosalind Jones als Faksimile zugänglich gemacht (The Clothing of the Renaissance World: Europe, Asia, Africa, The Americas. Cesare Vecellio’s Habiti Antichi et Moderni, London: Thames and Hudson 2008). Von dieser Ausgabe liegt mittlerweile auch eine italienische Übersetzung vor (Cesare Vecellio: Habiti antichi et moderni. La moda nel Rinascimento. Europa, Asia, Africa, Americhe, Roma: Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato 2010).

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Die Habiti antichi et moderni von 1590 wurden bislang noch nicht aus sprachhistorischer Perspektive untersucht, obwohl sie sich gerade durch ausgedehnte Textpassagen von früheren Darstellungen unterscheiden (Übersicht in Rosenthal/Jones 2008: 45). In der Dokumentation des GDLI fehlt der Titel. Die vorliegenden Studien konzentrieren sich auf die kulturgeschichtlichen und kunsthistorischen Aspekte des Werks (Guérin 1998, Kuhl 2008). Das sprachhistorische Interesse soll nachfolgend am Beispiel des Abschnitts zu den Habiti de’ Turchi verdeutlicht werden. Die darin enthaltenen Turzismen (zum Teil ihrerseits arabischen oder persischen Ursprungs) sind geeignet, die Dokumentation der historischen Wörterbücher zu ergänzen (türkische Entsprechungen und Definitionen nach Meninski, Redhouse und Steuerwald): - serraglio m. (376 r) ‚Schloss, Palast‘ < tk. saray - gianizzeri m.pl. (376 r) ‚Infanterie-Soldaten, Janitscharen‘ < tk. yeniçeri - bassà m. (376 r) ‚Ehrentitel hoher Beamter und Militärs, Pascha‘ < tk.

padişah

- dolimano m. (376 v) ‚Gewand, Überwurf‘ < tk. dolama/dolaman - aga m. (378 r) ‚Ehrentitel hoher Beamter und Militärs, Agha‘ < tk. ağa - chechaia m. (378 v) ‚Verwalter, Präfekt‘ < tk. kahya - solachi m.pl. (379 v) ‚Mitglieder eines Garderegiments‘ < tk. solak - boluc bassi m. (379 r)/baluchi bassi m.pl. (379 v) ‚Oberst, Kompanie-

chef’ < tk. bölük başı - busdegnano m. (379 v) ‚Streitkolben, Keule‘ < tk. bozdoğan - cadil eschier m. (380 r-v)/cadili eschieri m. pl. (380 v) ‚Heeresrichter‘ < tk. kadilesker/kazasker - cadis m.pl. (380 v) ‚Richter‘ < tk. kadı - turbante m./dulipante m. (381 r)/tulipante m. (383 v) ‚Turban‘ < tk. Tülbent - mogevisi m.pl. (381 r) ‚Turbanvariante (für bestimmte Würdenträger)‘ < tk. mucevveze/mücevveze - capugi m. (384 r-v) ‚Türhüter, Titel für Offiziere im Sultanspalast‘ < tk. kapucı/kapıcı - peich m. (385 v) ‚Lakai, Bote, Abgesandter‘ < tk. peyk - chochiach m. (385 v) ‚Gürtel, Leibgurt‘ < tk. kuşak - beciach m. (385 v) ‚Dolch‘ < biçak - beglierbei m. (395 v) ‚Generalgouverneur‘ < tk. beylerbeyi - azappi (397 v) ‚Soldaten, Matrosen‘ < tk. azap/azab - sanghiacchi m.pl. (400 v) ‚Präfekten eines Verwaltungsbezirks‘ < tk. sancak - agiamogliani m.pl. (403 v) ‚Ausbildungszöglinge der Janitscharen‘ < tk. acemi oğlan - spachi m.pl. (403 v) ‚Kavalleristen, Reiter‘ < tk. sipahi - etc.

Verderbte Turzismen in den Habiti antichi et moderni von Cesare Vecellio

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Die wichtigste Quelle für Vecellio sind die Navigationi et viaggi, fatti nella Turchia (1580) von Nicolo de’ Nicolai (das französische Original datiert von 1568: Les quatre premiers livres des navigations et pérégrinations orientales). Eine Textstelle im Vergleich: [l’Agà de’ Giannizzeri] hà un Luogotenente sotto di se in aiuto, chiamato Chechaia, overo Protogero, provisionato ogni giorno di 200. aspri; & in oltre di trenta mille aspri di pensione annuale. Di più per maggior grandezza tiene anchora appresso di se quattro giannizzeropegi, che vuol dir Cancellieri, ò Scrivani, provisionati ogni giorno di 100. aspri; ma non hà Zamaro (Vecellio 1590: 378 v). [il Giannizzero Aga] hà sotto di se un Chechaia overamente Protogero, il quale è come il suo Luogotenente generale sopra i Giannizzeri, che ha dugento Aspri di salario il giorno, & trenta mila Aspri di pensione annualmente. Hà sotto di se anco un Giannizzerozigi (che vuol dire Scrivano de’ Giannizzeri, il quale hà cento Asperi di paga per giorno, ma non hà Timaro) (Nicolai 1580: 84).

Solche Parallelen sind zahlreich. Hinweise auf zeitgenössische Quellen finden sich in Vecellios Text nicht. Aus heutiger Sicht mag dies verwunderlich erscheinen. Im 16. Jh., lange vor der Einführung rechtsverbindlicher Regeln für den Urheberschutz, sind entsprechende Anleihen jedoch weithin üblich. Eine Besonderheit des Textes der Habiti antichi et moderni sind die zahlreichen Verschreibungen und Versehen bei der Wiedergabe der türkischen Wörter, deren ursprüngliche Gestalt vielfach kaum noch erkennbar ist. Der Autor selbst besaß offenbar keinerlei Kenntnisse des Türkischen. Art und Anzahl der Fehler lassen vermuten, dass Vecellio seinen Text zumindest teilweise auf der Grundlage handschriftlicher Notizen und Transkripte ausgearbeitet hat. Dies gilt auch für die Übernahmen aus Nicolai, denn fehlerhafte Schreibungen treten auch dort auf, wo der Druck von 1580 korrekt ist bzw. nahe an der Originalform bleibt (peiclar statt peiudur). Es folgt eine Auswahl der verderbten Formen aus Vecellio mit entsprechenden Korrekturen: - delli cassi m. (401 r, Bildüberschrift) = deli bassi ‚Chef der Deli (Reiter-

truppe)‘ < tk. deli (die ursprüngliche Wortbedeutung ist ‚verrückt‘) + baş ‚Chef‘ (mit Suffix ı der Genitivsyntagmen) (401 v bravo delli cassi ersetzt vermutlich schiavo deli bassi; vgl. dann auch 402 v schiavi delli bassà). - giannizzeropegi m. (378 v: „quattro Giannizzeropegi, che vuol dir Cancellieri, ò Scrivani“) = < tk. yeniçeri ‚Infanterie-Soldat‘ + < tk. yazıcı ‚Schreiber‘. In Nicolai [1580, 84]: „un Giannizzerozigi (che vuol dire Scrivano de’ Giannizzeri)“. - iopeagi m. (398 r, Bildüberschrift)/iopegi m.pl. (398 v: „Iopegi, cioè Bombardieri“) = topci/topgi ‚Artillerist, Kanonier‘ < tk. topçı (top ‚Kanone‘ + -çı Suffix der Nomina agentis). - murluc bassi m.pl. (380 v: „due Murluc Bassi, che fanno l’ufficio del Cavallerizzo“) = imbrohor bassi (mit zahlreichen Varianten) ‚Chef der

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Wolfgang Schweickard

Stallknechte‘ < tk. emir-ahır başı (emir ‚Vorsteher, Kommandant‘ + ahır ‚Stall‘ + baş ‚Chef‘ mit Suffix ı der Genitivsyntagmen). In Nicolai morlubassi (1580, 103). - musti m. (377 r-v, in Bild und Text: „Il suo Musti è simile al Patriarca de’ Cristiani“) = mufti ‚Richter in islamischen Rechtsfragen‘ < tk. müfti/müftü. - peceq m. (385 r, Bildüberschrift) = ‚Lakai, Bote, Abgesandter‘ < tk. peyk. - peiudur m.pl. (385 v: „Tiene il Signore 40. Staffieri, i quali sono per ordinario Persiani di natione, chiamati nella loro lingua Peich, o Peiudur“) = tk. peyk (s. peich und peceq), hier aus dem regulären türkischen Plural peykler. - rom cassi m. (400 r, Bildüberschrift)/roncassi m. (400 v: „Bravo turco detto Roncassi“) = rom bassi ‚Statthalter von Griechenland‘ (ansonsten meist beglerbeg della Rumelia) < tk. rom ‚byzantinisch‘ + baş ‚Chef‘ mit Suffix ı der Genitivsyntagmen. Wie oben bei bravo delli cassi steht bravo an Stelle von schiavo. Im Kontext ist von den Untergebenen des Sultans die Rede: „Schiavi, e paggi del Signore“ (399 v), „cul bassa“ (402 r) (cul ‚schiavo‘). - seichir m.pl. (410 r: „Seichir, che sono i Santoni“) = sceicchi ‚Oberhaupt einer religiösen Gemeinschaft‘ < tk. şeyh, pl. şeyhler. - zamaro m. (378 v: „ma non hà Zamaro“) = timaro ‚feudo militare‘ (tk. timar/tımar < pers. tīmār). In Nicolai (1580, 84): „ma non hà Timaro“). - zervisc m. (411 v: „Zervisc. Questi sono un’altera sorte di religiosi [...]“) = derviscio ‚Derwisch, Bettelmönch‘ < tk. derviş.

Die Fehler gehen unverändert auch in die Folgeauflagen und Übersetzungen ein, sofern die entsprechenden Textpassagen in diese übernommen werden (so steht z.B. peiudur auch noch in der Ausgabe 1598: 366 r, und in der Ausgabe 1860: 382 v). In der Sekundärliteratur wird die Problematik der Fehlerhaftigkeit des Textes nirgends angesprochen. Die Herausgeberin der Neuausgabe von 2008, Jeannine Guérin Dalle Mese, verfügt offenbar nur über rudimentäre Kenntnisse der einschlägigen Terminologie, obgleich die Abschnitte über die Habiti de’ Turchi zum zentralen Gegenstand ihrer Arbeit gehören. Einzelne Verschreibungen bekannterer Turzismen wie bei musti und zervisc werden stillschweigend korrigiert (mufti/dervisci). Die Mehrzahl der Fehler wird jedoch unverändert und ohne weitere Kommentierung übernommen: Due tipi particolari sono presentati per la loro funzione speciale accanto al Gran Signore: i capugi (guardiani della Porta) (ill. 10) e i peich o peceq (staffieri del sultano) (ill. 11) (74). Gli uomini d’arme visti finora appartengono alle categorie più alte e considerate. Il Vecellio non si limita a loro e propone alcuni tipi di grado molto inferiore, o anche irregolari assoluti, come il pirata. Gli azzappi o arcieri di galea (ill. 18) e gli iopeagi o bombardieri (ill. 19) sono un esempio del primo caso (78).

Verderbte Turzismen in den Habiti antichi et moderni von Cesare Vecellio

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In questo senso va pure il romcassi o bravo turco (ill. 20). Anzi si può dire che c’è una gradazione nell’immediatezza del rapporto abito, armi e forza, qui essenzialmente fìsica. L’accetta per lui, il martello per il suo compagno delli cassi (ill. 21), aggiunti alla scimitarra, sono i primi strumenti che si scorgono (79).

Dass weder iopeagi noch peceq, romcassi oder delli cassi eine sprachliche Realität besitzen, erschließt sich der Verfasserin nicht. Auf diese Weise entstehen mehr oder weniger intuitive Beschreibungen, die im Wesentlichen auf den bildlichen Darstellungen beruhen. Eine Einbettung von Bekleidung, Accessoires und Waffen und ihrer entsprechenden Symbolik in den Kontext der gesellschaftlichen, politischen und militärischen Strukturen des osmanischen Reichs ist auf einer derart brüchigen Grundlage allerdings nicht zu leisten.

Bibliographie GDLI = Battaglia, Salvatore (1961-2002): Grande dizionario della lingua italiana. – Turin: UTET. 21 Bde. Guérin Dalle Mese, Jeannine (1998): L’occhio di Cesare Vecellio. Abiti e costumi esotici nel ’500. – Alexandria: Edizioni dell’Orso. Kuhl, Isabel (Hg.) (2008): Cesare Vecellios Habiti antichi et moderni. Ein Kostüm-Fachbuch des 16. Jahrhunderts. – Köln: Universität. Meninski [Franciscus/Franciszek à Mesgnien Meninski] (2000 [1680]): Thesaurus linguarum orientalium Turcicae-Arabicae-Persicae/Lexicon Turcico-Arabico-Persicum. – Istanbul: Simurg. 6 Bde. Nicolai [Nicolay], Nicolo de’ (1568): Les quatre premiers livres des navigations et pérégrinations orientales. – Lyon: Guillaume Roville. Nicolai, Nicolo de’ (1580): Le navigationi et viaggi, fatti nella Turchia [...], nuovamente tradotto di francese in italiano da Francesco Flori da Lilla, aritmetico. – Venedig: Francesco Ziletti. Redhouse = Redhouse yeni Türkç-Ingilizce sözlük/New Redhouse Turkish-English Dictionary (2002). – Istanbul: Redhouse Yayınevi. Rosenthal, Margaret / Jones, Ann Rosalind (Hg.) (2008): The Clothing of the Renaissance World. Europe, Asia, Africa, The Americas. Cesare Vecellio’s Habiti Antichi et Moderni. – London: Thames and Hudson. [Italienische Übersetzung: Rosenthal, Margaret / Jones, Ann Rosalind (Hg.) (2010): Cesare Vecellio. Habiti antichi et moderni. La moda nel Rinascimento. Europa, Asia, Africa, Americhe. – Rom: Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato.] Steuerwald, Karl (1998): Türkisch-deutsches Wörterbuch/Türkçe-Almanca sözlük. – Wiesbaden/Istanbul: Harrassowitz/ABC Kitabevi A.Ş.

IV. Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte: Diskurse, Texte, Traditionen

Raymund Wilhelm Die Geschichte eines individuellen Textes als Gegenstand sprachhistorischer Forschung – Traditionen der altlombardischen Alexiuslegende

1. Die Geschichte individueller Texte in der Sprachwissenschaft In der italienischen Sprachgeschichtsschreibung hat die Geschichte individueller Texte einen festen Platz. 1 Eine besondere Aufmerksamkeit erfahren literarische Werke, die von ihren Autoren selbst einer sprachlichen Revision unterzogen wurden. Solche Autorenkorrekturen betreffen in erster Linie die Diachronie einzelner Texte – vom Decameron (um 1350/ca. 1370–1372) über den Orlando furioso (1516/1521/1532) bis zu den Promessi sposi (1827/1840). Die individuellen Textgeschichten lassen sich jedoch zugleich auf allgemeinere Tendenzen der italienischen Sprachgeschichte beziehen. Insbesondere die Korrekturen Ariosts und Manzonis spiegeln das jahrhundertelange Ringen um eine italienische Literatursprache wider, wie es in der Questione della lingua seinen Niederschlag findet. Die Umformungen des jeweiligen Textes erlangen durch ihre Vorbildwirkung eine sprachgeschichtliche Relevanz. Auch außerhalb des literarischen Diskursuniversums können individuelle Textgeschichten zu sprachhistorischen Prozessen in Beziehung gesetzt werden. So werden zahlreiche Passagen aus Cristoforo Landinos Übersetzung von Simonettas Commentarii rerum gestarum Francisci Sfortiae (1490) in der zeitgenössischen mailändischen Geschichtsschreibung wörtlich übernommen, und dabei wird der Ausgangstext in unterschiedlicher Weise sprachlich adaptiert. In seiner Patria historia (gedruckt 1503) verstärkt Bernardino Corio die Tendenz zum Latinismus, und er korrigiert das aktuelle Florentinische Landinos nach dem Vorbild der Autoren des Trecento. Dagegen ist die Geschichte Mailands von Giovan Pietro Cagnola (abgeschlossen 1497) durch die Aufnahme dia1 Die folgenden Überlegungen entstammen dem von der DFG geförderten Projekt „Altlombardische Texte aus dem Hausbuch von Giovanni de’ Dazi. Edition und sprachhistorische Analyse“ (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt).

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lektaler Elemente und typischer Formen der norditalienischen Koinè geprägt. Die gegenläufigen sprachlichen Korrekturen von Landinos Volgarizzamento illustrieren die unterschiedlichen Sprachniveaus der beiden mailändischen Historiker, und sie bestätigen damit die These eines Nebeneinanders mehrerer Varietäten innerhalb des mailändischen Volgare (vgl. Bongrani 1986). Im literarischen wie im außerliterarischen Bereich wird der Analyse sprachlicher Korrekturen ein besonderer Erkenntniswert zugesprochen, der darauf beruht, dass punktuelle Eingriffe als repräsentativ für allgemeinere Tendenzen gewertet werden. Der Vergleich zweier Textfassungen dient dabei nicht so sehr der Veranschaulichung bereits bekannter Fakten; vielmehr wird der Eingriff in die sprachliche Form eines Textes – durch den Autor oder durch einen späteren Korrektor – als Teil eines sprachlichen Wandelprozesses gedeutet. In der Tat bildet die Korrektur in vielen Fällen die Übernahme einer sprachlichen Innovation. Wenn wir Sprachwandel als „eine Reihe aufeinanderfolgender Übernahmen“ einer sprachlichen Neuerung auffassen, dann bieten uns Korrekturen im hier verstandenen Sinn geradezu die Möglichkeit, sprachliche Wandelprozesse in ihrem Verlauf zu beobachten. 2 Bevor dieser Zusammenhang näher beleuchtet werden kann, ist hier auf eine weitere Forschungstradition zu verweisen, in der seit jeher die sprachliche Veränderung individueller Texte untersucht wird: auf die Philologie als Theorie und Praxis der Textedition. In jüngerer Zeit wurde wiederholt gefordert, die philologischen Varianten, wie sie etwa im Apparat einer kritischen Edition dokumentiert sind, für die linguistische Beschreibung sprachlicher Variation und sprachlichen Wandels nutzbar zu machen. 3 Der mittelalterliche Kopist wird zunehmend als Akteur der Sprachgeschichte wahrgenommen, der bestimmte sprachliche Tendenzen aufgreift und sie durch seine eigene Praxis zugleich verstärkt. In mehreren Studien ist dabei die Notwendigkeit hervorgetreten, zwischen unterschiedlichen Typen von Varianten zu unterscheiden. Die traditionellen Unterscheidungen formes/leçons oder forma/sostanza wurden unter Rückgriff auf unterschiedliche linguistische Modelle abgewandelt. 4 Fundamental ist die Trennung zwischen sprachlichen und textuellen Varianten. Bekanntlich ist die Unterscheidung zwischen einer einzelsprachlichen und einer textuellen Dimension konstitutiv für die Textlinguistik Coserius, und sie bildet die Grundlage für das Konzept der Diskurstraditionen. Die Abgrenzung Einzelsprache/Text liefert jedoch auch das geeignete Ordnungskriterium, das es 2 Vgl. Coseriu 1958/1974: 68: „Der Sprachwandel (‚Wandel in der Sprache‘) ist die Ausbreitung oder Verallgemeinerung einer Neuerung bzw. notwendigerweise eine Reihe aufeinanderfolgender Übernahmen. Das heißt, daß letztlich jeder Wandel eine Übernahme ist.“ 3 Vgl. u.a. Coluccia 2009, Verjans 2012. 4 Vgl. Centili/Floquet 2012, Barbato 2013.

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Traditionen der altlombardischen Alexiuslegende

ermöglicht, die Varianten mittelalterlicher Texte für die historische Sprachwissenschaft fruchtbar zu machen. 5 Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben Coserius Drei-Ebenen-Modell des Sprachlichen im Hinblick auf die Einordnung der Text- oder Diskurstraditionen einer weitreichenden Umdeutung unterzogen: Während Coseriu auf der Ebene des ‚Individuellen‘ die Texttraditionen bereits mitdenkt, schränken Koch und Oesterreicher die dritte Ebene auf die je einmaligen, ‚aktuellen‘ Manifestationen im hic et nunc ein, und sie weisen die Diskurstraditionen der nunmehr gedoppelten historischen Ebene zu; in vereinfachter Form (nach Oesterreicher 2001: 1558): Universelle Ebene: Historische Ebene:

Sprechtätigkeit Einzelsprache

Aktuelle Ebene:

Diskurstraditionen

Diskurs/Text

Abbildung 1

Eine solche Abwandlung der ursprünglichen Coseriuschen Auffassung ist vor allem von Franz Lebsanft einer kritischen Analyse unterzogen worden (vgl. Lebsanft 2005: 30-33). Ein Vorzug des Modells von Koch und Oesterreicher liegt darin, dass es den Parallelismus von einzelsprachlichen und diskurstraditionellen Normen und somit die immer nur historische Gültigkeit und Wandelbarkeit diskurstraditioneller Normen augenfällig macht. Dafür wird allerdings in Kauf genommen, dass Coserius Begriff des Individuellen auf das jeweils Aktuelle verkürzt wird. Die Problematik scheint Peter Koch bewusst zu sein, wenn er anmerkt, dass bestimmte Phänomene – etwa der Individualstil eines Autors – „gewissermaßen zwischen der historischen und der aktuellen Ebene“ anzusiedeln wären (Koch 1997: 52 Anm. 13). Erneut wird dieser Gedanke in der Replik auf Lebsanft formuliert (vgl. Koch 2008: 55f.), wo zugleich die Möglichkeit angedeutet wird, die von der aktuellen Ebene getrennte individuelle Ebene in eine erweiterte Fassung des Drei-Ebenen-Schemas zu integrieren. Eine solchermaßen konzipierte individuelle Ebene – zwischen dem Aktuellen und dem Historischen – ist nun gerade der sprachtheoretische Ort, an dem sich die Geschichte eines individuellen Textes – die Tradition einer ‚Wiedergebrauchsrede‘ (vgl. Lausberg 91987: §§ 14-19) – einordnen läßt. Die Dynamik eines individuellen Textes ist dabei noch nicht im eigentlichen Sinn ‚historisch‘, denn die Textveränderungen repräsentieren nicht notwendig sozial verankerte Normen; sie ist jedoch mehr als eine nur zufällige Addition 5 Vgl. auch Wilhelm 2012, 2013a.

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‚aktueller‘ Manifestationen, insofern sich hier Tendenzen zu erkennen geben, die über den Einzelfall hinaus eine Gültigkeit erlangen können; in graphischer Form: Universelle Ebene: Historische Ebene: Individuelle Ebene (Tradition einer Wiedergebrauchsrede): Aktuelle Ebene (Redeakt im hic et nunc):

Sprechtätigkeit einzelsprachliche Varietät sprachliche Dynamik

Diskurstradition textuelle Dynamik

Diskurs/Text

Abbildung 2

Die Geschichte eines häufig kopierten Textes, der in einer Serie von Abschriften immer aufs Neue ‚aktualisiert‘ wird, soll hier der individuellen Ebene – zwischen der aktuellen und der historischen Ebene – zugeordnet werden. Dabei ist zwischen der textuellen Dimension, etwa den Veränderungen in der Textstruktur, und der sprachlichen Dimension, den Veränderungen im Hinblick auf die verwendete sprachliche Varietät, zu unterscheiden. Die erneute Umdeutung des Drei-Ebenen-Schemas soll es erlauben, einen nicht nur für mittelalterliche Texte fundamentalen Sachverhalt sprachtheoretisch zu situieren. So stellt beispielsweise Brigitte Schlieben-Lange am Beispiel der mündlichen Dichtung fest, dass zuweilen auch „Texte Geschichte haben, weil sie sich im Gebrauch ständig gleich bleiben und verändern“ (SchliebenLange 1985: 331). In der Sprach- und Texttheorie wurde die Rolle individueller Textgeschichten allerdings bislang kaum berücksichtigt. Für die Methodendiskussion der Sprachgeschichte ist zu betonen, dass die hier bestimmte individuelle Ebene gleichsam das Scharnier zwischen der aktuellen Ebene und der historischen Ebene im Sinne von Koch und Oesterreicher bildet: Die Geschichte eines individuellen Textes – prinzipiell eine Abfolge aktueller Redeakte – kann zugleich als Konkretion und als Motor des sprachlichen und des diskurstraditionellen Wandels gedeutet werden. Die Analyse der individuellen Textgeschichte eröffnet solchermaßen einen nicht zu vernachlässigenden Zugang zu einzelsprachlichen und textuellen Wandelprozessen. Dies sei hier – beschränkt auf die einzelsprachliche Dimension – anhand eines Beispiels illustriert.

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2. Traditionen der Legende vom heiligen Alexius und dem Teufel Die ursprünglich aus dem Orient stammende Alexiuslegende ist seit dem 10. Jh. im lateinischen Europa bekannt. Die im Folgenden analysierte Fassung gehört einem späten Überlieferungsstrang an, der durch zwei inhaltliche Innovationen gekennzeichnet ist: Zum einen unternimmt Alexius eine Pilgerreise ins Heilige Land; zum Zweiten greift der Teufel direkt in das Geschehen ein, indem er den Heiligen davon zu überzeugen versucht, dass seine in Rom zurückgebliebene Ehefrau ihn betrügt. Die Legende vom heiligen Alexius und dem Teufel ist in der Volksdichtung Italiens bis ins 20. Jh. hinein nachweisbar (vgl. Golinelli 1987: 89-91). Aus dem 15. und frühen 16. Jh. sind drei handschriftliche Versionen überliefert, die den Text in der Sextinenstrophe präsentieren; seit dem späten 15. Jh. wird eine Fassung in Oktaven im Druck verbreitet. Ich stütze mich hier auf vier Texte: – AlChic: Istoria sancti Allexi, Veneto?, 1439 [Library of the University of Chicago, ms. 61 (It. 5), Bl. 104-120] 6 – AlDazi: Questa sì è la lienda del glorioxo confessore Sancto Allessio bono romano, Milano, 1490; Schreiber: Giovanni de’ Dazi [Mailand, Biblioteca Trivulziana, ms. 92, Bl. 122v-136r] 7 – AlBrit: Istoria sancti Alessii, Veneto?, erste Hälfte 16. Jh.? [British Library, ms. Add 10320, Bl. 76r-77v] 8 – AlPachel: [Storia di Sant’Alessio]. Druck: [Mailand, Leonardo Pachel, ca. 1490]; 4 Bl. [Mailand, Biblioteca Trivulziana, Inc C 309-4] 9 Die Sextinendichtung scheint deutlich älter zu sein als die älteste bekannte Handschrift: Banfi (2000: 43) datiert das Modell von AlChic auf den Beginn des 15., wenn nicht sogar auf das 14. Jh.. Dagegen dürfte die Fassung in Oktaven neueren Datums sein. Einer der ersten Belege der Legende in ottava rima ist der mailändische Druck von Pachel. Die hier analysierten Textzeugnisse legen den Schluss nahe, dass die Legende, die bereits seit einem Jahrhundert in Sextinenform zirkulierte, gegen Ende des 15. Jh. in das ‚modernere‘ Muster der Oktavenstrophe umgeformt wurde. 6 Die Handschrift ist derzeit nicht auffindbar; der Text findet sich in Altrocchi 1925. 7 Der Text wird zitiert nach Wilhelm (in Vorbereitung); er war bereits von Banfi 2000 abgeschrieben worden. 8 Der von Rösler 1905 edierte Text ist anhand des Mikrofilms der Handschrift korrigiert worden; zur Datierung vgl. Rösler 1905: 34. Durch den Ausfall mehrerer Blätter ist der Text fragmentarisch. 9 Vgl. GW 0125315N. Weitere, nahezu textidentische Drucke sind: AlCarc (Mailand, Biblioteca Braidense, AO.17.33.7, Pavia, Antonius Carcanus 1498/1500, vgl. GW 0254) sowie AlCol (Sevilla, Biblioteca Colombina 6-3-27 (11), Venedig (?), vor September 1515; vgl. Sander 1942/ 1996: no. 270).

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Die volkstümlichen Legendendichtungen erfahren in ihrer handschriftlichen Überlieferung zahlreiche und oft tiefgreifende Veränderungen. Häufig stellt jede Abschrift eine neue Redaktion des Textes dar. Dabei kennen wir nur in wenigen Fällen die unmittelbare Vorlage einer mittelalterlichen Handschrift. Beispielsweise hat Giovanni de’ Dazi seine Vita di san Rocco von einem Druck von Pachel und Scinzenzeler (Mailand, ca. 1478–1480) abgeschrieben (vgl. Wilhelm 2013b). Die Kenntnis der Vorlage erlaubt es, die Schreibereingriffe detailliert nachzuvollziehen. So weist Dazis handschriftliche Fassung im lautlichen Bereich eine deutlich stärker regional geprägte Sprachform auf als der Frühdruck. Der für den „semi-privaten“ Gebrauch in einer confraternita bestimmte Kodex bedient sich eines anderen Sprachniveaus als die an ein breiteres anonymes Publikum gerichtete Druckschrift. 10 Im Falle des Alessio geben sich keine eindeutigen Filiationen zwischen den erhaltenen Textzeugnissen zu erkennen. Gleichwohl ist es unabdingbar, Hypothesen zur Texttradition zu entwickeln, denn nur auf diesem Weg lassen sich die Abweichungen zwischen den einzelnen Handschriften und Frühdrucken für eine historische Betrachtung nutzbar machen. Die sprachhistorische Analyse ist hier auf textphilologische Methoden angewiesen, um die überlieferten Daten überhaupt angemessen einordnen und interpretieren zu können. Von besonderem Interesse ist das Verhältnis zwischen den drei handschriftlichen Zeugnissen der Legende. Obwohl hier jeweils starke Abweichungen zu verzeichnen sind, handelt es sich zweifellos um Umformungen desselben Textes (a). Weiterhin lassen sich die drei Textzeugnisse klar zwei Gruppen zuweisen: AlChic bewahrt an vielen Stellen den ursprünglicheren Text, von dem AlDazi und AlBrit mit einer Reihe gemeinsamer Fehler abweichen. Wir dürfen also eine Fassung (b) ansetzen, von der die beiden jüngeren Handschriften abhängen. Die Fassung in der Oktavenstrophe präsentiert einen mit (a) verwandten Text, der jedoch tiefgreifende Veränderungen erfahren hat; es ist ein gemeinsames Modell (x) anzunehmen, von dem alle bekannten Versionen der Verslegende von Alexius und dem Teufel abstammen. Dabei repräsentiert AlPachel eine spätere, sprachlich und inhaltlich elaboriertere, kulturell höherstehende Fassung, die offenbar für die Verbreitung durch den Buchdruck erstellt wurde. Zu betonen ist, dass durch den Eingang in die typographischen Verbreitungskanäle die Tradition des Textes gleichsam „blockiert“ wird: Die weiteren Drucke der Oktavendichtung, AlCarc und AlCol, weisen bis auf minimale Abweichungen denselben Text auf. Die Relationen zwischen den Textzeugnissen lassen sich wie folgt veranschaulichen: 10 Zur Kategorie der livres de confrères vgl. Dessì 1998: 316; die Zuweisung der Handschrift Trivulziana 92 zum „ambiente confraternale milanese“ zeigt De Roberto 2013: 235.

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x

a b

AlChic

AlBrit

AlDazi

AlPachel

Abbildung 3

Wie für die Vita di san Rocco (vgl. Wilhelm 2013b: 264f.) können wir auch für die hier analysierte Version der Alexiuslegende einen Ursprung in Norditalien und wahrscheinlich in der Lombardei annehmen (vgl. auch Banfi 2000: 51f.).

3. Sprachliche Dynamik: der Erkenntniswert von Schreibereingriffen Eine Reflexion über die sprachliche Dynamik der Alexiuslegende setzt die Situierung der erhaltenen Textzeugnisse im Varietätengefüge der Epoche voraus. Über die diatopische Charakterisierung der Handschrift von Giovanni de’ Dazi (um 1490) sind wir in Grundzügen informiert. Die Herkunft aus Mailand ist durch externe Hinweise gesichert (vgl. De Roberto 2013: 237f.). Anhand des Chatto sponito tuto läßt sich die Sprache Dazis der norditalienischen Koinè zuschreiben, wobei jedoch zugleich einige lombardische und sogar spezifisch mailändische Elemente zu verzeichnen sind (vgl. Fumagalli 1983: 131). Dabei wird Dazi als ein „copista poco scrupoloso“ charakterisiert, der sich allzu oft von der Eile hinreißen lässt (Banfi 1956: 26). Das Urteil über den anonymen Schreiber der Sammelhandschrift Chicago, ms. 61 (It. 5) fällt noch drastischer aus: Altrocchi (1925: 337f.) spricht von einem „scribe both ignorant and careless“. Dialektal weist Altrocchi den Text dem „northeastern part of Italy“ zu; die Handschrift, die noch weitere religiöse Texte enthält, ist auf 1439 datiert. Die Herausgeberin des Londoner Alessio verzichtet auf eine sprachliche Analyse des Textzeugnisses, das sie auf die erste Hälfte des 16. Jh. datiert (Rösler 1905: 34, 109f.). Der in der Handschrift British Library, ms. Add 10320 ebenfalls enthaltene poetische Traktat L’Acerba età von Cecco d’Ascoli stammt von einem anderen Kopisten. Ebenso wie AlChic verweist der Londoner Alessio sprachlich auf das Veneto.

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In diastratischer und diaphasischer Hinsicht ist der Kodex Dazi den „gradi medio-bassi“ der zeitgenössischen Schriftsprache zuzuschreiben (vgl. Fumagalli 1983: 148). In dieselbe Richtung deutet die kritische Einschätzung des Kopisten von AlChic durch Altrocchi: Wir haben es mit nicht-professionellen Schreibern zu tun. Das hier dokumentierte mittlere bis niedrige Sprachniveau ist unterhalb der höfischen Dichtung und auch unterhalb der Praxis der mailändischen Kanzlei angesiedelt. Demgegenüber ist der im Druck verbreitete Alessio in sprachlicher Hinsicht elaborierter. Zwar finden wir auch hier, neben dem nunmehr verstärkten toskanischen Element, weiterhin Merkmale der norditalienischen Koinè; hervorzuheben ist jedoch die komplexere und dabei regelmäßige Syntax, die sich von den tendenziell aggregativen Konstruktionen der Sextinentexte abhebt. Die sprachliche Dynamik in der Tradition des Alessio ist sowohl im lexikalischen wie im morphosyntaktischen Bereich greifbar. Im Allgemeinen sind unsere Texte in lexikalischer Hinsicht wenig charakterisiert. Die Heiligenleben bedienen sich eines gemeinsprachlichen Wortschatzes, in den auch abstraktere Termini aus dem religiösen Sprachgebrauch Eingang finden; eine diatopische Markierung weisen am ehesten Bezeichnungen für konkrete Gegenstände des Alltags auf (vgl. De Roberto 2013: 238-250). Sehen wir ein Beispiel: verso Roma prese lo camino. / Suxo la strada trovò uno peregrino (AlDazi: 366f.).

et inver de Roma prese lo camino. / Sopra un bel trogio trovò un pelligrino (AlBrit: 204f.).

E poy se misse in chamino, azonse a uno tby unde el trovo uno pelegrino (AlChic: S. 345).

Das Wort trogio ist den Dialektformen zuzurechnen, die Salvioni (1897/ 2008: 560) unter dem Lemma trozium ‚sentiero, via‘ erzeichnet. Offenbar stammt das Wort trönsg ‚sentiero aspro di montagna‘ aus den lombardischen Alpentälern, von wo aus es sich bis in die Julischen Alpen verbreitet. In der Textgeschichte des Alessio ist trogio ein dynamisches Element. Dazi (oder sein Modell) ersetzt den dialektalen Ausdruck durch das semantisch äquivalente strada. Dagegen hat der Schreiber der Handschrift von Chicago das Wort offenbar nicht verstanden. Der Herausgeber nimmt die Sequenz tby in den Text auf und bemerkt in einer Fußnote: „Little vertical sign above between t and b thus t’by. The t, b, and y are perfectly normal. Resolution difficult; word incomprehensible“ (Altrocchi 1925: 345 n. 15). Offensichtlich haben wir es mit einer Abkürzung zu tun, wobei für tro stehen dürfte. Im Lichte der Londoner Handschrift können wir annehmen, dass das Modell von AlChic eine Form ähnlich trogy aufwies. Die Hinzufügung des Adjektivs in sopra un bel trogio legt

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die Vermutung nahe, dass auch dem Schreiber der Londoner Handschrift die Semantik von trogio nicht völlig durchsichtig war. Die Abwandlungen des Wortes trogio zeigen den Nutzen einer parallelen Lektüre mehrerer Handschriften desselben Textes. So scheint das Wort strada in AlDazi: 367 auf synchroner Ebene wenig bemerkenswert, erst der Blick auf die anderen Handschriften zeigt, dass es das Ergebnis einer Banalisierung darstellt: Da trogio in der Londoner Handschrift und, wenn auch in entstellter Form, in AlChic vorkommt, dürfen wir annehmen, dass es bereits dem Modell der uns bekannten Fassungen des Sextinentextes angehört (a in unserem Stemma). Die sprachliche Dynamik enthält zudem Indizien für die diasystematische Bewertung des in Frage stehenden Lexems. Für das Mailändische des späten 15. Jh. (Dazi oder sein Modell) können wir annehmen, dass der Kopist das Wort trogio zwar versteht, dass er es jedoch wegen seiner dialektalen Markierung, die er möglicherweise als zu ländlich oder zu volkstümlich empfindet, durch den neutralen Terminus strada ersetzt. Der Kopisteneingriff stellt hier einen Hinweis auf das diastratisch-diaphasische Niveau des Wortes dar. Im Nordosten Italiens dagegen ist trogio offenbar nicht geläufig. Wir können annehmen, dass das Wort im Veneto im Jahre 1439 (dem Datum der Handschrift von Chicago) nicht verstanden wurde, und dasselbe scheint noch etwa hundert Jahre darauf zu gelten (als die Londoner Handschrift entstand). 11 Es wird deutlich, dass zuweilen nicht so sehr das bloße Vorkommen eines Wortes, als vielmehr seine Abwandlung und sogar seine Ersetzung Informationen für den Sprachhistoriker bereithalten. Das sprachhistorische Interesse an individuellen Textgeschichten liegt noch in einem weiteren Zusammenhang begründet. So sind Sammelhandschriften, selbst wenn die einzelnen Texte von demselben Kopisten stammen, sprachlich häufig nicht homogen. Der Sprachstand einer Kopie stellt ein Kompromisssystem dar, in dem die sprachlichen Merkmale der Vorlage und die Usancen des Kopisten vermischt werden. 12 Die sprachlichen Divergenzen zwischen den hagiographischen Dichtungen in der Sammelhandschrift von Giovanni de’ Dazi resultieren zweifellos in weitem Maße aus den unterschiedlichen Textgeschichten. In ihrer Wortschatzanalyse konstatiert De Roberto (2013: 243) „la tendenza del Dazi a tollerare la varietà lessicale delle sue fonti“. Dasselbe scheint für den morphosyntaktischen Bereich zu gelten. So findet sich in den Legenden der Handschrift Triv 92 allein im Alessio eine auffällige grammatische Struktur, die mit gut 15 Belegen eine relativ hohe Frequenz aufweist: das Demonstrativ11 Allerdings findet sich das Wort in der Voralpenregion, in den Gedichten von Bartolomeo Cavassico aus Belluno, die ebenfalls aus dem 16. Jh. stammen; vgl. Salvioni 1897/2008: 560. 12 Vgl. hierzu den an Weinreich orientierten Begriff des ‚Diasystems‘ von Segre 1991/1998: 47.

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pronomen des Typs chelo, immer in Subjektfunktion, das jedoch in vielen Fällen auch als die Sequenz aus Konjunktion und Pronomen (ch’elo) gelesen werden kann. 13 Im folgenden Fall können wir das graphische Wort der Handschrift als das Demonstrativpronomen auffassen: Como lo nemigho fo despartito, / santo Alessio prese a caminare. / Tanto andò che apresso uno porto / de mare chelo ebe a ’rivare (AlDazi: 293-296).

Häufig ist die Form jedoch mehrdeutig: Santo Alessio più nonn è dimorato, / inverso Roma tosto è caminato. / […] E dentro de Roma chelo / ch’elo fo intrato, / in mezo de la via incontrò lo suo patre (AlDazi: 396f., 400f.).

Entweder wir lesen das Demonstrativpronomen chelo (‚Und jener war in die Stadt Rom gelangt‘), oder wir lesen einen durch ch’ eingeleiteten temporalen Nebensatz (‚Und als er in die Stadt Rom gelangt war‘). Das in Frage stehende Muster findet sich mit derselben Ambiguität auch in den anderen Fassungen des Sextinentextes. In einigen Fällen stehen sich die Formen chel und el in den Paralleltexten gegenüber. So stützt die Variante E dentro de Roma el fuo jntrato (AlBrit: 238) die Deutung als Demonstrativpronomen in AlDazi: 400 (E dentro de Roma chelo fo intrato), wenn wir annehmen, dass die syntaktische Auffassung in den beiden Handschriften gleichgeblieben ist. Wir haben es hier mit einem bemerkenswerten Fall sprachlicher Unbestimmtheit zu tun, die in der Praxis der mittelalterlichen Handschriften gang und gäbe ist, die jedoch in einer modernen Edition, die unausweichlich den Konventionen der typographischen Darstellung folgt, aufgelöst werden muss. Das Problem chelo/ch’elo konfrontiert uns mit einem System der Wahrnehmung von Sprache, das von dem unseren grundlegend unterschieden ist: Während der mittelalterliche Schreiber die Entscheidung zwischen den beiden Optionen offenlassen kann, verlangt der typographisch geprägte Leser nach einer eindeutigen graphischen Kodierung grammatischer Phänomene. Unter diesem Gesichtspunkt wird die sprachliche Dynamik von der handschriftlich überlieferten Sextinendichtung zur typographisch verbreiteten Umformung in Oktaven relevant. In der Tat findet sich die beschriebene Struktur in AlPachel nicht mehr. Die Neufassung scheint jeweils von der syntaktischen Deutung auszugehen. Diese wird zuweilen wie im folgenden Fall präzisiert: 13 Rohlfs II, 1968: § 493 weist das Demonstrativpronomen des Typs chel, chela dem „lombardo rustico“ zu.

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Inverso Roma chelo caminava / e corriva como uno falchone che volava (AlDazi: 161f.).

Forte camina aceso di mal fare / tanto che a Roma gionse lo maligno (AlPachel, XXVI: 6f.).

Wo Dazi die Form chelo verwendet, die hier auch die weniger wahrscheinliche Auffassung ch’elo erlaubt, wählt Pachel die konsekutive Struktur mit tanto che. Auf diese Weise wird nicht nur das dialektale Demonstrativpronomen vermieden, sondern – was mehr ins Gewicht fällt – ein Muster sprachlicher Unbestimmtheit, das die gesamte Tradition des Alessio in Sextinen im 15. Jh. zu prägen scheint, wird durch eine ‚regelmäßige‘ syntaktische Struktur ersetzt.

4. Philologie und Sprachwissenschaft Vor einigen Jahren hat Franz Lebsanft die Lage der Editionsphilologie in der deutschsprachigen Romanistik recht pessimistisch eingeschätzt. Den Niedergang der Philologie im engeren Sinn setzt er dabei schon früh an: […] l’élite de la romanistique allemande de l’Entre-deux-Guerres se détourne complètement de la philologie romane en tant qu’art ou science de l’édition de textes pour se consacrer à la critique littéraire – que nous appelons ‚science de la littérature‘ (Literaturwissenschaft) – et à la linguistique, bien sûr (Lebsanft 2012: 172).

In der zweiten Hälfte des 20. Jh. waren die beherrschenden Figuren der romanistischen Mediävistik in Deutschland, Jauß und Köhler, zwar um eine Neuausrichtung der Literaturwissenschaft bemüht; die Philologie, verstanden als Theorie und Praxis der Textedition, stand dagegen nicht mehr im Zentrum des Interesses (vgl. Lebsanft 2012: 175). Die von Lebsanft skizzierte Entwicklung stellt eine ernsthafte Bedrohung für die historische Sprachwissenschaft dar. In dem Maße, in dem die philologische Kompetenz aufgegeben wird, ist die Linguistik kaum mehr fähig, ihre empirische Grundlage zu sichern. Die Kontrolle der Daten ist jedoch die Basis einer historischen Wissenschaft. Bis heute wird zuweilen die Tatsache übersehen, dass sprachliche Daten nicht „objektiv“ vorkommen, da sie immer nur im Lichte einer bestimmten Hypothese – und auf der Grundlage einer bestimmten Kenntnis der jeweiligen Sprachstufe – gewonnen werden können. Das Beispiel chelo/ch’elo zeigt, wie eng philologische und linguistische Überlegungen verknüpft sind. Der Linguist, der sich zu mittelalterlichen Sprachstufen äußert, muss in der Lage sein, die verwendeten Editionen kritisch zu bewerten, d.h. die Entscheidungen des Philologen nachzuvollziehen und gegebenenfalls zu revidieren. Eine strikte „Arbeitsteilung“ zwischen Editionspraxis und Linguistik

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birgt dagegen die Gefahr, dass die Modellbildung des Linguisten lediglich die Intuitionen des Herausgebers mittelalterlicher Texte expliziert. In der Analyse der Form trogio ist noch ein anderer Punkt deutlich geworden: Oftmals ist es gerade die Philologie, die es erlaubt, die sprachlichen Daten in der ihnen eigenen Dynamik zu erkennen. Hier sollte die These einsichtig gemacht werden, dass individuelle Textgeschichten, wie sie von der Philologie erarbeitet werden, einen privilegierten Zugang zu sprachlicher Variation und zu Sprachwandelprozessen eröffnen. Zwar ist die Ersetzung einer Form im Abschreibeprozess noch kein Sprachwandelphänomen: Wir befinden uns auf der individuellen Ebene, nicht auf der Ebene der sozial verankerten, historischen Normen. Der Schritt von dem nur individuellen zu einem wahrhaft historischen Faktum kann nur durch die Interpretationsleistung des Sprachhistorikers vollzogen werden, der – auf der Grundlage seiner Kenntnis einer Vielzahl von Texten – eine individuelle Ersetzung als Ausdruck einer allgemeineren Tendenz deutet. Dass die qualitative Bewertung durch den Philologen mitunter aussagekräftiger und verlässlicher ist als eine quantitative Auswertung großer Datenmengen, sei noch anhand eines Beispiels aus der Vita di san Rocco gezeigt. Von Interesse ist hier die sogenannte legge Tobler-Mussafia, die die Enklise unbetonter Pronomina am Satzanfang beschreibt. Im Rocco der Handschrift Triv 92 finden wir 25 Fälle, in denen diese Regel beachtet wird, gegenüber einem einzigen eindeutigen Gegenbeispiel (vgl. Wilhelm 2013b: 282-288). Der quantitative Befund legt somit den Schluss nahe, dass Dazi die Tobler-Mussafia-Regel konsequent anwendet. Und dieses Ergebnis für das Jahr 1490 ließe sich auf die bislang wenig erhellte Diachronie der Enklise am Satzanfang beziehen. In Wirklichkeit führt die bloße Auszählung der Belege jedoch zu einem verfälschten Bild, solange wir nicht die Textgeschichte mitberücksichtigen. Die Belege für die Einhaltung der legge Tobler-Mussafia entsprechen nämlich dem Modell Dazis, dem Druck von Pachel und Scinzenzeler, während das einzige Gegenbeispiel auf einer Umformulierung durch den Kopisten beruht: Das insistierende Chiamossi e chiamasi per nome Cesena wird von Dazi zu Se chiama el suo nome Cesena vereinfacht (v. 303). Das Beispiel zeigt, dass die legge ToblerMussafia für Dazi nicht mehr zwingend ist: Während der Schreiber die Enklisen seiner Vorlage zumeist übernimmt, entfernt er sich von dem traditionellen syntaktischen Muster in der Passage, die er neu formuliert. Ein einziges Beispiel, das eine sprachliche Dynamik abbildet, hat hier mehr Gewicht als die 25 Fälle, die lediglich den Sprachstand des Modells fortschreiben. Als Übernahme einer sprachlichen Innovation verweist das individuelle Faktum bereits auf die historische Ebene.

Traditionen der altlombardischen Alexiuslegende

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1. Historische Pressesprache und Flugschriften im 16. Jh. Die Bedeutung der Flugschriftenproduktion im Rahmen der Pressefrühgeschichte ist unbestritten. Besonders für Deutschland liegen umfangreiche Dokumentationen und Studien vor (z.B. Köhler 1987, Schwitalla 1983, 1999), aber auch für die Länder der Romania (Le pamphlet en France 1983, Wilhelm 1996, Sáiz 1996). Ebenso unbestritten ist, dass die große Zahl erhaltener Flugschriften noch einiges Potenzial für die Sprachgeschichtsschreibung birgt, die hier in einem dichten Textsortenkontinuum die tragenden sprachlichen Merkmale gebrauchsdifferenziert herausarbeiten kann (Claridge 2005). Von Anfang an, bereits im ausgehenden 15. Jh., handelte es sich bei der Verbreitung von Nachrichten um ein medien- und länderübergreifendes Phänomen. Franz Lebsanft (2006) erinnerte am Beispiel des Kolumbusbriefs (1493) daran, dass dieser zunächst handschriftlich, dann im Druck Verbreitung fand, und dies nicht nur in spanischer, sondern auch in lateinischer, italienischer und deutscher Sprache. Im Folgenden möchten wir an einem anderen prominenten Beispiel aufzeigen, welche Perspektiven eine solche länder- und medienübergreifende Herangehensweise eröffnen kann, nämlich am Beispiel der nouvelle sonnante (Braudel 1974: 109) vom Sieg der Heiligen Liga vor Lèpanto gegen die Osmanen im Jahr 1571. Während die politische Nachwirkung dieser militärischen action de brève durée begrenzt war (vgl. Braudel 1974, Hanß 2011: 98), waren das zeitgenössische, aber auch das langanhaltende 1 Echo enorm, sowohl im literarischen 2 als auch im nicht-literarischen Bereich. 3

1 Zu den Augenzeugen, die der Schlacht ein literarisches Denkmal setzten, gehörte Miguel de Cervantes (1605), genannt el manco de Lepanto. Er hielt seine Erfahrungen der Schlacht in Kapitel XXXVIII des Don Quixote fest.

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In einem exemplarischen Zugriff werden wir sowohl die Idee der Rekonstruktion des Wegs einer Nachricht aufgreifen (Lebsanft 2006), als auch den Weg der Nachricht in andere Sprachen und Sprachräume nachvollziehen. 4 Wir fokussieren die Darstellung auf zeitgenössische Drucke und ihre pragmatisch relevanten Merkmale, die eine Präzisierung der Autorenperspektive, der Adressatenorientierung sowie der Textfunktion erlauben. Diese Herangehensweise kann, in der „Rekonstruktion konkreter Kommunikationsabläufe und ihre[r] Einordnung in einen weiteren historischen und kulturellen Rahmen“ als Baustein einer „externen Geschichte von Diskurstraditionen“ angesehen werden (Wilhelm 2005: 65f.). Besondere Aufmerksamkeit widmen wir einem Beispiel, an dem die für die frühe Pressegeschichte so kennzeichnende Involviertheit der Autoren (Percy 2014: 195) festgemacht werden kann: der Darstellung der Türken als zum Erstaunen der Zeitgenossen in der Schlacht unterlegene Feinde. Für diesen Aspekt ist die Berücksichtigung unterschiedlicher Phasen der Nachrichtengeschichte, aber auch unterschiedlicher lokaler Kontexte ergiebig: In Venedig gab es eine stabile türkische Präsenz, so dass man von einem „alltäglichen Mit- und Gegeneinander“ (Hanß 2011: 105) sprechen kann. Im deutschen Sprachraum stellte die Berichterstattung über die Türkengefahr ein zentrales Thema der religiös aufgeladenen Publizistik im 16. Jh. dar (Straßner 1999: 796). Die Darstellung der Türken lässt sich in einen größeren Zusammenhang einordnen: Während in Deutschland neben der informierenden Funktion die meinungsbildende Textfunktion ein Charakteristikum von Flugschriften war (Schwitalla 1999: 6, Straßner 1999: 42, 794, vgl. Bach 1997), tritt diese Funktion in ihrer definitorischen Relevanz für Italien zurück. Wilhelm (1996: 43) weist auf die Notwendigkeit hin, hier eine weite Flugschriftendefinition anzusetzen, die auch „berichtende, chronikartige Flugschriften mit in die Betrachtung [einbezieht]“. Flugschriften sind dann als „eine aus mehr als einem

2 Während im Folgenden nicht-literarische Texte im Mittelpunkt stehen, sei auf die Bedeutung der literarischen Produktion hingewiesen. Sie wurde bereits von den Zeitgenossen in Anthologien zusammengefasst; bis heute erschienen umfangreiche Bibliographien, Regesten und Editionen, vgl. Mammana 2007. Eine traditionsreiche Gattung, die guerre in ottava rima (Beer/Ivaldi 1989) hatte ein Jahrhundert zuvor eingesetzt und erlebte einen letzten Höhepunkt (Ivaldi 1989: 43f., Guthmüller 2000: 321). 3 Lèpanto kann als Erinnerungsort der venezianischen Geschichte gesehen werden, vgl. Stouariti 2002. 4 Übersetzungen sind in vielen Flugschriftentraditionen von großer Bedeutung, vgl. Briesemeister 1981: 148, Guilleminot 1983: 56, wobei die sprachgeschichtliche Relevanz von Flugschriftenübersetzungsserien erst vereinzelt thematisiert wird, z.B. Gerstenberg 2006.

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Blatt bestehende, selbständige Druckschrift“ mit ausgeprägtem Aktualitätsbezug und öffentlicher Verbreitung definiert (Wilhelm 1996: 45). 5

2. Der Seesieg als kommunikatives Ereignis: Kapitel der Nachrichten-Geschichte Die Heilige Liga war auf Betreiben des Papstes Pius V. unter spanischer Führung mit venezianischer und italienischer Unterstützung aufgestellt worden. Dass sie unter Don Juan de Austria über die gefürchteten Osmanen unter Selim II. gesiegt hatte, wurde in Bild und Gesang, Reden – und Schriften gefeiert. Hor queſta è quella Illustre giornata; che ſia de-||ſcritta, celebrata, e ricordata mentre ſian penne, lingue, e memorie da tutta || Chriſtianità (Groto 1571: B1r°). 6

Ein sprachliches, ein mehrsprachiges Fest nahm in Venedig seinen Ausgang. Geschrieben und gedichtet wurde in lateinischer und italienischer 7 Sprache, in (italienischen) Dialekten und anderen (romanischen) 8 Sprachen (Cortelazzo 1974; Mammana 2007: 34ff.). Zum festlichen Szenario trugen die toskanischen Goldschmiede ebenso bei wie die deutschen Händler des Fondaco dei Tedeschi. I mercanti Alemani anda-||rono da principio in Collegio à rallegrarſi con || ſua Serenità, adimandando licentia di feſteggia||re, ilche ſendogli conceſſo, fatte che fuſſero le ſo||lennità ſpirituali, fecero per tre ſere feſta di bel-||liſsimo trattenimento (Benedetti it 1571: B2r°).

Die hier gemachte Beobachtung könnte erklären, dass offenbar nicht nur die Handelswege, sondern auch effiziente Kommunikationswege zwischen Venedig und dem deutschen Sprachraum gebahnt waren: Zeitnah zur Verkündigung des Siegs und den Feierlichkeiten in Venedig erschienen die ersten Flugschriften in Augsburg und Nürnburg, Leipzig und Breslau.

5 Dieser Definition entsprechend werden Einblattdrucke im Folgenden nicht weiter berücksichtigt, wenngleich sich hier eine intensive Forschungsdynamik abzeichnet: Zu illustrierten Einblattdrucken vgl. die neueren Untersuchungen zur Bild-Sprache von Rudolph 2012 und Klug 2012. 6 Die Transkription berücksichtigt die typographischen Druckeigenheiten (Wortabstände wurden angeglichen, die deutsche Letter r rotunda in kursiv gesetzt). Vgl. zur regionalen Bedeutsamkeit der Typographie in Deutschland Voeste 2008: 90f. 7 Die gedruckten italienischen Texte zeigen insgesamt die Orientierung an dem in den venezianischen Offizinen etablierten toskanischen Standard, vgl. Trifone 1993: 432, wenngleich sie gelegentlich diatopisch markierte Merkmale wie Einfach- statt Doppelkonsonanten aufweisen. 8 Auch im spanischen und französischen Sprachraum wurde über die Seeschlacht berichtet, u.a. von Pietro Bizarri, Paris: 1573, und Hieronimo de Costiol, Barcelona: 1572. Diese in größere historische Zusammenhänge eingebetteten Darstellungen erfordern eine breitere analytische Anlage. Vgl. García Bernal 2007; Lesure 2013: Sources.

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2.1. Bericht der Schlacht: Sebastiano Venieri (Lettera und Ragguaglio)

Die ersten Nachrichten von der Schlacht erreichten Venedig in der Form von Briefen mit Augenzeugenberichten, die in Italien und Deutschland unmittelbar in gedruckter Form zugänglich gemacht wurden. So wird in einer frühen, vierseitigen Flugschrift (Ragguaglio particulare 1571) im Titel der Capitano generale dei Venziani als Gewährsmann genannt und im Text auch namentlich auf den späteren Dogen Sebastiano Veniero (1486–1578) verwiesen. Der Ragguaglio ist damit in die Tradition der Briefflugschriften bzw. avvisi einzuordnen (Wilhelm 1996: 88, 90). Der Text beginnt mit einem Komplementsatz (che alli 7. la matina l’armata della Lega), der einen Quotativ (er berichtet o.ä.) implikatiert; der Inhalt des Briefs wird referiert, es handelt sich nicht um den Brief selbst. Die Verwendung des Possessivpronomens nostro als Zeichen der Beteiligung könnte jedoch direkt aus dem Brief übernommen worden sein. In der insgesamt sachlichen Darstellung wird der Feind, i nimici bzw. i turchi, nicht mit pejorativen Attributen belegt (dies gilt auch für eine weitere italienische Flugschrift, Intiero ragguaglio 1571). Ein weiterer Teilnehmer der Schlacht war Pirro Malvezzi (1540–1603). 9 Er wird als Augenzeuge und Informant einer mit Expositio überschriebenen Flugschrift genannt (zusammengebunden mit Benedetti la 1571). Der Drucker äußert in einem abschließenden Kommentar Zweifel an seiner Quelle, die er in Konkurrenz zu möglicherweise widersprüchlichen Darstellungen bzw. narrationes sieht (Malvezzi 1571: [B2r°]). Auch hier ist die Verwendung von hostes, Turchi oder des Adjektivs turcicus an keiner Stelle von pejorativen Attributen begleitet. Deutlich ausgeprägter ist eine solche Bewertung in deutschsprachigen Berichten, die zusammengebunden zeitnah nach der Schlacht in Breslau gedruckt wurden (Warhafftige newe Zeittung 1571). Die häufig fehlerhafte Schreibung von Eigennamen könnte darauf hinweisen, dass sie auf deutschsprachige Informanten zurückgehen. Der Ortsname erscheint zuerst als Delepando mit fehlerhafter Segmentierung, der zweite Bericht benennt bereits den Golfo de Lepando, während der vierte Bericht zur Standardform Lepanto findet. In dieser Flugschrift wird gleich zu Beginn der Gegner als Erbfeind bezeichnet. wider den grewlichen || Erbfeind der gantzen Chriſtenheit den || Trcken (durch Gottes hlff) || ritterlich erhalten wor=||den (Warhafftige newe Zeittung 1571 [erster Bericht]).

Die Darstellung der newen Zeittung folgt der Idee des göttlichen Eingriffs, der nach einer Zeit der Strafe nun wieder pietà walten lässt. Als Gläubige werden 9 Er unterstützte in der Seeschlacht die Galeere des päpstlichen Generals Marc’ Antonio Colonna und wurde in ihrer Folge zum Botschafter bei Papst Pius V. ernannt; Argegni 1937 in WBIS.

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die Adressaten dadurch unmittelbar einbezogen. Der Sieg von Lèpanto wird zur moralischen Lektion, die in ein Gebet mündet. Der Verfasser verbindet sich mit seinem Publikum im uns der Christenheit. Solche ſtraffe aber knnen wir mit Gottes || gnediger hlff gar wol abwenden / durch ein ungeferbte un || rechtſchaffene Buſſe und bekerung zu Gott / durch le=||bendigen Glauben an Chriſtum / und ein Gottſelig || leben und wandel fr den Menſchen: Darzu uns || gnediglich helffen wolle die heilige Dreyfaltig=||keit / Gott der Vater / Sohn / und || Heiliger Geiſt / AMEN (Warhafftige newe Zeittung 1571, Der Vierde Bericht / aus || Augspurg).

Ein weiteres Exemplar dieses Texttyps (Warhafftige Beschreibung 1571) endet ebenfalls mit einem Gebet. 2.2. Bericht der städtischen Feierlichkeiten: Rocco Benedetti (Ragguaglio)

Malvezzis Darstellung ist zusammengebunden mit der lateinischen Fassung des Ragguaglio Rocco Benedettis (Benedetti la 1571). 10 Es handelt sich ebenfalls um einen Augenzeugenbericht, allerdings wird hier der Fortgang der Feiern berichtet. Die Schilderung der Siegesfeiern und ihrer Einzelheiten soll den Widmungsadressaten, und zugleich die Leser bzw. Zuhörer, 11 beteiligen und erfreuen. Die Form des Briefs an Girolamo Diedo wird von der Anrede bis zur auf den 20. November 1571 datierten Unterschrift durchgehalten. Die Verwendung der ersten Person Plural, i nostri, bezieht den Autor und wohl auch den bzw. die Adressaten ein, wenngleich der Autor in der dritten Person über das Volk und die Feiernden schreibt. Die Verwendung der wörtlichen Rede und die insgesamt expressive Darstellung vermitteln den Eindruck einer unmittelbaren Beteiligung, worin sich Gemeinsamkeiten mit der modernen journalistischen Form der Reportage zeigen (Lüger 1995: 113). Auch in dieser Darstellung finden sich keine Attribute der nemici bzw. der turchi. Im Gegenteil, die Aufladung des Feindbildes wird distanziert dargestellt: (Falsche) Propheten verwenden religiöse Metaphern (la selva dei cattivi), und es sind die Kinder, oder die Unwissenden, die zu Übergriffen auf die türkischen – und jüdischen – Bewohner Venedigs bereit wären. I Turchi, & Hebrei Leuantini, che era-||no ſparſi per Realto, inteſo ciò, ſe ne fuggirono || alle loro caſe, & in particolare i Turchi, i quali || habitano in Canareggio [...] e ſtetero rīchiuſi per quattro giorni per il || dubbio, che haueuano di eſſere lapidati dalli || putti, 10 Der venezianische Notar, dessen Lebensdaten unbekannt sind, verfasste neben dem genannten Brief weitere Darstellungen über aktuelle Ereignisse, Mazzuchelli 1760 in WBIS. 11 Besonders die nahezu tagesaktuellen Flugschriften dürften vorwiegend für den mündlichen Vortrag verwendet worden sein; vgl. zum Verlesen von fogli volanti Trifone 1993: 441.

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facẽdo mille ſegni di meſtitia co’l rotolar||ſi per terra, batterſi il petto, pelarſi li moſtacchi, || egraffiarſi il uiſo, e le carni (Benedetti it 1571: A3v°).

In der anonymen lateinischen Übersetzung wird die Distanzierung von möglichen Drangsalen noch deutlicher ausgedrückt; putti wird mit a pueris et alia plebe übersetzt (Benedetti la 1571: B4v°). 2.3. Die gelehrte Festrede: Giovanni Battista Rasario (Orazione)

Nach der Messe für die Verstorbenen, so berichtet Benedetti, hielt der Gelehrte des Lateinischen und Griechischen sowie der Philosophie, Giovanni Battista Rasario (1517–1578), 12 eine Rede in lateinischer Sprache vor dem Dogen und dem Großen Rat Venedigs (Benedetti it 1571: B1r°). Diese Rede wurde noch im selben Jahr in Druck gegeben – und ins Deutsche übersetzt (Rasario la 1571, Rasario de 1571). Die Übersetzung übernahm im Titel die Textsortenbezeichnung Oratio. Die Gattung der orazioni gilt als „kleinere Gattung im Medium der Flugschrift“ (Wilhelm 1996: 88). 13 Der Titel der Oratio Rasarios, der den christlichen Sieg herausstellt, ist programmatisch zu verstehen. Die Ursachen der Schlacht und ihr Ausgang werden dem göttlichen System der Strafe zugeordnet. […] bellum, quod immaniſsimus Turcarum ty||rannus contra Remp. intulit, ille periurij || ac uiolati fœderis pœnas daret: id ſummo || Dei beneficio ſumus his diebus cum maxi-||mo totius Chriſtiani nominis gaudio cu-||mulatisſime conſequuti (Rasario la 1571: A2r°).

Die Übersetzung stellt dem Text einige Randkommentare zur Seite. Die Attribuierungen der Vorlage, die dem Turcarum sævissimus Tyrannus gelten, scheinen dem Übersetzer nicht weit genug zu gehen. Er steigert die Polemik in einer Glosse, die vorgibt, die im Text verwendete Bezeichnung Barbaren im Sinne des Autors zu erläutern. o nēt er || die Türckē. || Diß wort || bedeüt ei=||gentlich gro||be viehische || leůt / vn vn=||menſchen / so || weder Got||tes noch || deß rechten || oder guter || ſitten vnnd || kunſt achtē (Rasario de 1571: Aiiv° in margine).

Die Rede schließt in der lateinischen wie in der deutschen Fassung mit einem Gebet für das Hertzogthum [Venedig]. Die Verwendung der ersten Person Plural sowie des Vokativs schließt potentiell Leser bzw. Zuhörer mit ein. Die Textsortenbezeichnung Rede wird in dieser Szenerie eines öffentlichen Gebets an ihre Grenze geführt.

12 Jöcher 1751 in WBIS; Galloni [1873] in WBIS. 13 Eine italienische Fassung der Rede konnte nicht ermittelt werden.

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Eine weitere Rede, die vor dem Dogen Luigi Mocenigo gehalten wurde, ist ebenfalls in einer zeitnahen Druckfassung erhalten. Autor ist Luigi Groto, detto Cieco d’Adria (1541–1585), der sich einen Namen als Dichter gemacht hatte. 14 Die Gegenüberstellung von Christen und Türken wird hier noch stärker zugespitzt und das Geschehen ebenfalls theologisch als göttliche Strafe und Gnade interpretiert. Hora || ha conoſciuto, che non le ſue forze, ma le nostre diſcordie, non la pietà del || ſuo falſo Maumeto propitio a’ ſuoi meriti, ma la Giustitia del nostro Iddio || moſſo da’ nostri peccati, gli ha dato di noi alle uolte qualche uittoria (Groto 1571: Aiiiir°).

2.4. Flugschrift und Geschichtsschreibung: Giovanni Pietro Contarini (Historia)

Im Jahr nach dem Sieg veröffentlichte der Venezianer Giovanni Pietro (Giampietro) Contarini 15 in Venedig eine als Historia 16 betitelte Beschreibung der Schlacht. In Anbetracht ihres Umfangs liegt der Text nicht mehr im Kernbereich des als Flugschrift anzusprechenden Schrifttums. 17 Contarini gehörte nicht dem Adel an und hatte somit keine politischen Ämter inne; er war nicht auf die offizielle Version verpflichtet (Dionisotti 1974: 142). Auch diese Schrift fand unmittelbares Echo im deutschen Sprachraum, wo sie ins Lateinische und mehrfach ins Deutsche übersetzt wurde (Contarini de 1572, Contarini la 1573, Contarini de 1573). Die – stark gekürzte und überarbeitete – erste deutsche Übersetzung weist den Namen des Übersetzers nicht aus. Ohne Bezug darauf erschienen im Folgejahr 1573 in Basel die lateinische Übersetzung des Schweizers Johann Niklaus Stupanus (1542–1621), Logikprofessor und Mediziner in Basel und, darauf basierend, eine weitere deutsche Übersetzung, von Georg Henisch (*1549), der 1576 Doktor der Medizin wurde. 18 Bei Contarini steht das Sammeln und Sichern der Informationen zur Vorgeschichte und zum Hergang der Schlacht für die Zeitgenossen und Nachfahren im Vordergrund. Dieser Aspekt wird in der ersten deutschen Übersetzung 14 Cannata 1997 in WBIS. 15 Über das Leben Contarinis ist nicht viel bekannt, Jöcher 1750 in WBIS; seine Historia der Seeschlacht gehört zu den wenigen überlieferten Lebenszeugnissen; Contarini it 1572; zitiert wird die zweite Auflage, die nach S. 50 einen doppelseitigen Kupferstich enthält. 16 Als Prosatext grenzt sie sich von früheren, häufig gereimten Historiae ab, vgl. dazu Wilhelm 1996: 88. 17 Bach 1997: 15 etwa setzt ein Höchstmaß von 64 Seiten, das entspricht vier Bögen, an. 18 Von Stupanus sind weitere Übersetzungen aus dem Italienischen bekannt, u.a. Nicolò Machiavellis De Principe, Jöcher 1751 in WBIS. Neben medizinischen und mathematischen Fragestellungen legte Henisch auch Übersetzungen der alten Sprachen vor; daneben verfasste er ein Wörterbuch und eine Sprachgeschichte des Deutschen, Jöcher 1750 in WBIS.

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aufgegriffen und mit dem Hinweis auf die Glaubwürdigkeit des Berichts und den Neuigkeitswert, den er im deutschen Sprachraum hat, verbunden. Die Basler Übersetzer ordnen sich in ihren Widmungsreden in historiographische Traditionen ein, um die Frage nach den Lehren der Geschichte einzugrenzen, was die Historia noch deutlicher von ihrem aktuellen Nachrichtenwert entkoppelt. Die in Ausrufen ausgedrückte Involviertheit Contarinis wird modifiziert. Grande veramente || & miracoloso è ſtato queſto glorioſo fatto, || che in quattro hore || ſole, & quando meno s’aſpettaua, ſi abbaſſaſſe l’ali al gran ſerpe || d’Oriente, crudeliſsima ferità ſcemata al potente Selim (Contarini it 1572: 54r°).

Der exklamative Satzmodus wird in den Übersetzungen nicht übernommen. In der ersten deutschen Übersetzung findet eine Kürzung und Zusammenfügung mit der im Original vorangehenden Schilderung des horrendo spettacolo statt. Diſe Schlacht / hat ungefhrlich 4. ſtund lang ge=||geweret / vnd iſt ſo grauſam vnd erſchrockenlich zůgan=||gan / daß das Meer einem brinnenden Berg geleich / || und von Blůt gantz roth geſehen (Contarini de 1572: Eiv°).

Die Basler Übersetzungen verzichten ebenfalls auf die Wiedergabe des Satzmodus. Das Bild der Flügel, die den Osmanen gestutzt worden seien, wird durch die Metapher des zertretenen Schlangenkopfes ersetzt. Der Rückgriff auf die biblische Quelldomäne bewirkt, dass die Aussage von der politischen Ebene, dem Sieg über den potentissimus tyrannus, auf die religiöse Ebene des Siegs über ein teuflisches Element verschoben wird. Nec minus quoque facit ad augendam huius rei geſtæ || celebritatem, quòd cum quatuor tantum horis pugna-||rint, tamen magni illius Serpentis Orientalis caput con||triuerint, & Selymi potentiſſimi tyranni vires fregerint (Contarini la 1573: 141). Es macht auch dieſen Sieg deſto berůffener / daß || weil beyde armaden nur vier ſtunden lang geſtrit=||ten / doch dadurch der gewaltigen Morgenln-||diſchen Schlangen Kopff zertretten / vnnd des || großmchtigen Tyrannens Selymi gewalt gerin-||gere iſt (Contarini de 1573: 173).

3. Ausblick Die voranstehende Skizze zeigt, dass die Involviertheit der Christen und die Attribute, die in der Beschreibung der grewlichen Türcken verwendet werden, nach Phasen, Kontexten und Autoren differenziert zu betrachten sind. In den venezianischen Flugschriften ist dabei der Moment der politischen Funktionalisierung, der Rede vor dem Dogen, entscheidend. An den Übersetzungen wurde einerseits deutlich, dass Flugschriften eine länderübergreifende Genese haben; andererseits werden sie unter Rückgriff auf die diskurstraditionellen Regeln der

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Zielkultur angepasst. In diesem Spannungsfeld kann eine sprach- und textsortenvergleichende Nachrichten-Geschichte ein ergiebiges Arbeitsgebiet darstellen, nicht zuletzt, um die Pressefrühgeschichte in ihrer europäischen Dynamik zu verstehen.

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19 Begründer der ersten, in gegenreformatorischem Sinn gegründeten Dillinger Offizin, Bucher 1954.

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Warhafftige newe Zeittung 1571: Warhafftige newe Zeitung von dem gewaltigen und frewdenreichen Sieg […] wider den grewlichen Erbfeind der gantzen Christenheit den Türcken […] ritterlich erhalten worden. – Breslau: [Crispin Scharffenberg]. (urn:nbn:de:gbv:3:1– 150431)

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Martin Kött Interview im Spaziergang – eine journalistische Texttradition im Wandel

Wenn ein Sprach- und Kulturwissenschaftler die Entstehung einer neuen Texttradition beobachtet, gerät er darüber in ähnliche Begeisterung wie ein Biologe, der eine neue Spezies entdeckt. In beiden Fällen stellen sich dem Forscher die gleichen Fragen: Was an den Funden ist bekannt und dem Bestehenden ähnlich, was dagegen ist neu und „eigenartig“? Und ab welchem Punkt lässt sich mit Gewissheit von einer neuen, eigenständigen Gattung sprechen? Diese Fragen verweisen auf den sprachlichen Wandel, der sich im stetigen Zusammenspiel von Tradition und Innovation vollzieht. Auch Texttraditionen unterliegen diesem kontinuierlichen Prozess. Wie am Beispiel des journalistischen Interviews zu sehen ist, bilden sich in der Anfangsphase seiner Entstehung historische Prototypen und Subtypen heraus, die nebeneinander existieren, sich mit anderen mischen, sich etablieren oder wieder verschwinden. Hinzu kommen wechselseitige Einflüsse anderer sprachlicher und kultureller Traditionen (z.B. Reportage, Verhör, Besuchskultur), die schließlich in eine eigenständige und als solche klar erkennbare Texttradition münden. 1 Wie sich dieser spannende Prozess des stetigen Wandels fortsetzt, soll im Folgenden exemplarisch an den Promenades et Visites verdeutlicht werden; einer Reihe von Interviews, die unter diesem Titel zwischen 1890 und 1910 in der französischen Tageszeitung Le Temps erschienen sind. Bevor in einer pragmatisch orientierten Textanalyse exemplarisch die besonderen Merkmale dieser Interviews herausgearbeitet werden (3), sollen die zu ihrer Bezeichnung in der Überschrift verwendeten Ausdrücke Promenade und Visite geklärt werden (2). Letzterer verweist auf den bereits an anderer Stelle ausführlich beschriebenen Prototyp des personenzentrierten Interviews in der französischen Presse des 19. Jh. (Kött 2004). In welcher spezifischen Weise sich die journalistische Text-

1 Das wegweisende theoretische Konzept zur Beschreibung von Text- bzw. Diskurstraditionen stammt von Koch 1997. Vgl. Kött 2004: 11-18.

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tradition dort habitualisiert hat, soll ausgehend von den zeitgenössischen Äußerungen des Autors der Promenades et Visites vorab erläutert werden (1).

1. Interview à la française: die Visite Promenades et Visites ist der Titel der persönlichen Rubrik, die der Schriftsteller und Journalist Adolphe Brisson (1860–1925) zwischen 1890 und 1910 in der Tageszeitung Le Temps unterhielt. Wie in der französischen Presse jener Zeit üblich, weisen die dort veröffentlichten Interviews nicht die heute gängige Form eines Frage-Antwort-Protokolls auf. Vielmehr berichtet der Journalist über seine Begegnung mit der von ihm aufgesuchten Person, vermittelt die von ihm vor Ort gesammelten Eindrücke und referiert die gemeinsame sprachliche Interaktion. Im Falle der Promenades et Visites kommen durchweg zu jener Zeit bekannte Persönlichkeiten aus Kunst und Literatur zu Wort. Eine Auswahl der von Brisson verfassten Interviews ist in den Jahren 1894 bis 1901 und damit zeitnah unter dem Titel Portraits intimes veröffentlicht worden. 2 Im Vorwort zum dritten Band (1897) beschreibt der Autor unter der Überschrift Psychologie de l’interview die zeitgenössische Auffassung und Wahrnehmung des Interviews in der französischen Presse des ausgehenden 19. Jh. Darin bestätigt Brisson einerseits, dass sich das Interview in der französischen Presse inzwischen etabliert habe. Zugleich betont der Autor jedoch die weit verbreiteten Vorbehalte gegenüber der neuen Texttradition: Beaucoup de gens répugnent à considérer l’interview comme un genre littéraire. […] Peutêtre l’interview est-elle d’origine trop récente. Il y a des esprits naturellement paresseux, qui n’acceptent les innovations que lorsqu’elles leur sont imposées par l’usage général. […] Mais, en dépit de ces résistances, l’interview poursuit son œuvre; elle est entrée dans nos mœurs (Brisson 1897: V).

Einen entscheidenden Grund für die Vorbehalte gegenüber dem Interview macht der Autor an der generellen Opposition von französischem und amerikanischem Journalismus fest. 3 Im Gegensatz zum nüchtern-stenografischen Interview amerikanischer Prägung zeichnet sich laut Brisson (1897: XII) das interview à la française durch die literarische Tradition Frankreichs aus:

2 Sowohl die Ausgaben der Tageszeitung Le Temps (1861-1942) – dem historischen Vorläufer von Le Monde (seit 1944) – als auch die Buchveröffentlichung von Brisson 1894ff. sind in digitalisierter Form über das Internet-Portal www.gallica.bnf.fr frei zugänglich. 3 Diese wird vor allem an der unterschiedlichen Auffassung von Reportage und Interview deutlich. Vgl. Kött 2004: 126-128, Delporte 1999, Ferenczi 1996, Große 2001. Die zeitgenössische Interview-Kritik liegt zudem in der inflationären Praxis der neuen Texttradition in den 80er und 90er Jahren des 19. Jh. begründet. Vgl. Kött 2004: 197-207 und 230-238.

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Le préjugé qui règne contre l’interview vient surtout de la façon dont cette méthode d’investigation est pratiquée en Amérique. […] Notre éducation latine envisage la presse à un autre point de vue. Nous la voulons plus humaine et plus ornée. […] Il est donc logique que l’interview, implantée chez nous, ait cherché à s’imprégner de littérature (Brisson 1897: X-XII).

Brisson liefert zunächst eine allgemeine Definition des Interviews und formuliert darüber hinaus die besondere Qualität des französischen Interviews. Danach gilt: „Tout récit où sont rapportés les propos d’un personnage réel pouvant être regardé comme interview“ (Brisson 1897: VI). Doch ein wirklich gelungenes und eben französisches Interview muss laut Brisson bestimmte Qualitätsmerkmale aufweisen, von denen die „valeur esthétique de l’interview“ abhänge. Dabei müsse der Interviewer über ein großes Einfühlungsvermögen, ein breites Wissen, eine hohe Auffassungsgabe sowie das rechte Maß an Diskretion und Feingefühl verfügen. Nur so könne der Interviewer der Person des Befragten („un poète, un philosophe, un romancier“ – in jedem Fall „un grand homme“ bzw. „un homme célèbre“) sowie seiner Aufgabe gerecht werden (Brisson 1897: VIf.). Denn: Il ne s’agit pas seulement de rapporter des paroles entendues, mais d’évoquer celui qui parle, de donner l’impression de sa voix, de son geste, de sa physionomie, du milieu où il vous est apparu, et de deviner ce qu’il n’a souvent énoncé qu’à demi, de surprendre le secret de sa pensée (Brisson 1897: VII).

Mit dieser Definition beschreibt Brisson genau jenes personenzentrierte Prominenten-Interview, dessen historischer Prototyp – die Visite – die französische Interview-Tradition in der zweiten Hälfte des 19. Jh. entscheidend geprägt hat (Kött 2004: 239): In szenisch-narrativer Form berichtet der Journalist über den Besuch, den er einer bekannten Persönlichkeit in deren privater Umgebung abgestattet hat. Aus der subjektiv-teilnehmenden Perspektive des Betrachters vor Ort schildert das journalistische Ich seine persönlichen Eindrücke und Beobachtungen und vermittelt diese als situativ-spontane Wahrnehmungen. Eingebettet in diese Besuchsschilderung ist die Wiedergabe der Dialoge, die der Journalist mit der aufgesuchten Person vor Ort geführt hat. Die Visite vermittelt ein hohes Maß an journalistischer Glaubwürdigkeit, da sie den Prozess der Informationsgewinnung auf der Textebene offenlegt (Kött 2005: 280-282). Worin sich die unter der Überschrift Promenades et Visites erschienenen Texte von der Visite unterscheiden und wo die Gemeinsamkeiten liegen, sollen die nachfolgende Begriffsbestimmung sowie die anschließende pragmatisch orientierte Textanalyse zeigen.

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2. Begriffsbestimmung: die Promenade Der Rubrik-Titel Promenades et Visites besitzt wie jede Überschrift textsortenindizierende Funktion. Mit den beiden Begriffen verweist der Autor auf sein sprachliches Handeln und definiert gewissermaßen Muster und Intention der unter diesem Doppeltitel veröffentlichten Beiträge. Wenn es darum geht, eben diese speziellen historischen Textfunktionen zu analysieren, kommt der vorausgehenden Begriffsbestimmung große Bedeutung zu. Während der Begriff Visite auf die zeitgenössische Besuchstradition verweist und zugleich den „historischen Prototyp des personenzentrierten Interviews“ (Kött 2004: 239) benennt, tritt der Ausdruck Promenade als neues Element hinzu. Im Mittelpunkt des mit Promenade bezeichneten Konzepts stehen zweifellos die körperliche Bewegung (‚action de se promener‘) und das Wechseln des Ortes (‚aller d’un lieu à un autre‘). Der „Spaziergang“ findet typischerweise im Freien statt und dient dazu, sich zu entspannen (‚pour se détendre‘), frische Luft zu tanken (‚prendre l’air‘) oder sich zu erfreuen (‚pour le plaisir‘). Die befreiende und gesundheitsfördernde Wirkung einer Promenade, die allein oder in Begleitung und – anders als die Visite – ohne festes örtliches Ziel erfolgen kann, findet sich ebenfalls in den Definitionen der gängigen Wörterbücher wieder. In zeitlicher oder räumlicher Hinsicht wird die Promenade dort nicht begrenzt. 4 Die förderliche Wirkung, die der Spazier- oder Wandelgang auf den Geist und das Denkvermögen ausübt, hatten bereits die griechischen Philosophen der Antike erkannt: Die Peripatetiker um Aristoteles machten sich die anregende und denkfördernde Wirkung des Gehens und Umherwandelns zu Nutze (Weischedel 1975: 52). In dieser Tradition gehören das Verlassen des Studierzimmers und die Bewegung von Körper und Geist zum Konzept „Philosophischer Spaziergänge“, wie sie bis heute kultiviert werden. 5 Bei der Promenade dient somit die ‚körperliche Bewegung‘ des Gehens dazu, das Denken zu beleben, vorhandene Kapazitäten zu aktivieren, sich von störenden Einflüssen zu befreien und den eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen. Darüber hinaus kommt dem ‚Wechseln des Ortes‘ insofern besondere Bedeutung zu, als durch die sinnliche Wahrnehmung der örtlichen Umgebung neue Eindrücke und Denkanstöße gewonnen werden. Dieser zweite Aspekt findet 4 Als Vertreter je eines modernen und eines historischen Wörterbuchs wurden exemplarisch Robert 21992 und Littré 1873/1874 konsultiert. 5 Wie ein Blick ins Internet zeigt, werden Spaziergänge zu den unterschiedlichsten philosophischen Fragen bis hin zur konkreten Lebensberatung und Burn-Out-Prävention veranstaltet. Unter dem Motto „Beim Denken gehen, beim Gehen denken“ wird die „Peripatetische Unterrichtsmethode“ zudem im Schulalltag eingesetzt, um die Denk- und Konzentrationsfähigkeit von Lernenden zu fördern, vgl. Seele 2012.

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sich auch im journalistischen Handlungsmuster des Reporters und Interviewers wieder, der die Redaktion verlässt, sich vor Ort begibt und dort Informationen durch eigene Wahrnehmung sammelt. 6

3. Textanalyse: Interviews im Spaziergang Neben der textsortenindizierenden Funktion der Überschrift spielen für die Analyse und Bestimmung historischer Texttraditionen vor allem metakommunikative Äußerungen eine wichtige Rolle. Denn in ihnen spiegelt sich das zeitgenössische Gattungsbewusstsein der Sprecher wider. 3.1. Metakommunikation

In den Texten von Adolphe Brisson finden sich zahlreiche Formulierungen, mit denen der Autor sein sprachliches Handeln beschreibt. Von hohem Interesse sind an dieser Stelle Formulierungen, die – den Besuch der befragten Person beschreiben und damit auf das Konzept der Visite hinweisen, – die Form und Intention der sprachlichen Interaktion benennen, – den Spaziergang beschreiben und damit auf das Konzept der Promenade verweisen. Ein charakteristisches Merkmal der Visite sind Formulierungen, mit denen der Interviewer beschreibt, wie und mit welchem Ziel er die Person aufsucht. Dabei stehen die Begegnung mit der Person und deren Inaugenscheinnahme ebenso im Zentrum wie die sprachliche Interaktion. Als typische Eingangsformeln dienen aller voir qn. oder rendre visite à qn.: Par une matinée d’octobre, je suis allé voir le poète François Coppée en sa gentilhommière de Mandres (Brisson 1896: 333). J’ai eu l’idée d’aller rendre visite à M. Jules Verne. […] J’avais une grande curiosité de voir et d’interroger cet auteur (Brisson 1899: 111). J’ai voulu lui rendre visite et faire appel à ses souvenirs (Brisson 1894: 255).

6 Als prominentes literarisches Modell für den Reporter, der auf seinen Rundgängen Informationen sammelt, kann auf französischer Seite der Schriftsteller Stendhal mit seinen Promenades dans Rome betrachtet werden. Dem gleichen Handlungsmuster folgte auch Victor Hugo bei seinen Choses vues, vgl. Kött 2006.

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Je me suis acheminé vers l’observatoire de M. Camille Flammarion (Brisson 1894: 173). Je me suis mis en quête de notre baryton national (Brisson 1894: 285).

Entsprechende Formulierungen finden sich am Ende der Besuchsbeschreibung. Sie rahmen die sprachliche Interaktion ein und kündigen das unmittelbare Ende des Besuchs an. Typische Ausgangsformeln sind (avant de) quitter und prendre congé: Au moment de le quitter, je reviens à notre point de départ (Brisson 1894: 293). Je prends congé de mon hôte (Brisson 1894: 55). Il faut qu’avant de quitter mon hôte, j’aborde quelques questions de littérature. Je l’interroge sur le Théâtre-Français (Brisson 1896: 341). Et, avant de prendre congé, je lui demande quelques renseignements sur sa méthode de travail (Brisson 1896: 345).

Auffällig ist die häufige Erwähnung der Tür („la porte“): Sie steht symbolisch für den Zutritt, der dem Journalisten gewährt wird und eine zentrale Bedeutung für das Konzept von Interview und Reportage besitzt. Denn stellvertretend für den Leser, dem dieser Zutritt verwehrt ist, überwindet der Journalist diese soziale Barriere und gewährt Einblicke in nichtöffentliche Bereiche: La porte s’est entr’ouverte (Brisson 1894: 265f.). Le nouveau valet de chambre, correct et grave, m’ouvre la porte (Brisson 1894: 207). M. Boissier m’ouvre la porte de la petite pièce vitrée qui lui sert d’office (Brisson 1894: 200). Je sais le peu de goût de M. Meilhac pour les entretiens qui s’éternisent, et j’abrège ma visite. Une dernière interrogation, avant de gagner la porte (Brisson 1894: 214).

Neben der Charakterisierung des Ortes und der besuchten Person wird die Befragung durch den Journalisten als integraler Bestandteil des Besuchs beschrieben: „J’ai voulu lui demander son sentiment […] et l’interroger sur ces projets“ (Brisson 1894: 285). Dabei begegnet der Interviewer der von ihm besuchten Person stets mit vornehmer Zurückhaltung, die je nach sozialem Rang des Befragten stark ausgeprägt sein kann. Das folgende Beispiel macht zudem deutlich, dass sich das Interview als journalistische Handlungsform und Texttradition zwar inzwischen habitualisiert hat, der Zweck des Besuchs jedoch in Einzelfällen noch der expliziten Erläuterung bedarf: Je pénètre dans le cabinet de Son Altesse (Albert Ier, Prince de Monaco). […] Je me hâte d’exposer l’objet de ma visite, je demande au prince, tout en m’excusant de mon importunité, quelques renseignements sur ses voyages passés et futurs. […] Et c’est d’un air affable, presque familier, que mon royal interlocuteur ajoute : ‚Interrogez-moi‘ (Brisson 1894: 265f.).

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Der Ausdruck promenade, der sich regelmäßig an verschiedenen Stellen in den untersuchten Texten findet, wird in unterschiedlicher Weise verwendet: Zum einen dient er zur Beschreibung der – in einigen Fällen längeren – Anreise zum Ort des Interviews. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um die zur „Reise“ ausgedehnte Eingangsbeschreibung der Visite – ganz im Sinne der oben zitierten Formulierung „je me suis acheminé“: Hier, au cours d’une promenade, je sonnai à la grille du castel; on m’introduisit dans l’oratoire (Brisson 1897: 11). Je m’embarque à onze heures trente sur la ligne de Bruxelles à Bruges. A midi un quart, je serai rendu … Simple promenade ! (Brisson 1894: 297).

Die zweite Verwendung des Ausdrucks promenade bezieht sich auf einen Spazier- oder Rundgang, den der Journalist gemeinsam mit dem Befragten am Ort ihrer Begegnung oder in der näheren Umgebung unternimmt: Nous nous promenons côte à côte, à petits pas, dans l’avenue déserte (Brisson 1899: 118). Nous poursuivons notre promenade […] (Brisson 1894: 49).

Im Anschluss an diese zweite deutet sich eine dritte Verwendung an, die im übertragenen Sinn den Rundgang oder die Reise durch verschiedene Themen oder Zeiten im Laufe des Gesprächs bezeichnet. Im folgenden Fall lässt sich der Journalist einige Gemälde aus der Sammlung des Befragten zeigen, deren Betrachtung die Interview-Partner zu verschiedenen neuen Themen und Gedankengängen anregt: Notre promenade est achevée. L’heureux M. Faure m’a montré les plus beaux fleurons de sa couronne de collectionneur (Brisson 1894: 293).

3.2. Textmuster

Der „Textkopf“ (Kött 2001: 341-343) der Promenades et Visites besteht aus dem einheitlichen Rubrik-Titel sowie einer individuellen Überschrift, die in der Regel lediglich den Namen der besuchten Person präsentiert: M. Jules Verne oder M. J.-B. Faure. In einigen Fällen wird – wie für die Visite typisch – die Person mit dem Ort der Befragung verbunden; sehr auffällig sind hier die folgenden drei Beispiele: François Coppée aux champs M. Aristide Bruant aux champs Alphonse Daudet aux champs

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Wie durch die Überschrift angekündigt, besucht der Autor in allen drei Fällen die genannte Person an deren Land- oder Wochenendsitz im Grünen. Der Textaufbau entspricht dem der ‚klassischen‘ Visite: Auf die Beschreibung von Ankunft und Empfang des Journalisten folgt die Charakterisierung des Ortes und der besuchten Person – und diese stets aus der subjektiv wahrnehmenden Perspektive des Interviewers vor Ort. Daran schließt sich die eigentliche Befragung des prominenten Schriftstellers an: über Aspekte seines literarischen Schaffens, aktuelle und künftige Projekte, aktuelle literarische Debatten oder Erinnerungen, die oft situativ-spontan durch vor Ort befindliche Gegenstände wie Briefe, Bilder, Manuskripte etc. geweckt werden. Eingerahmt wird diese sprachliche Interaktion von einer Eingangsbeschreibung und einer mit ihr korrespondierenden Abschiedsformulierung. Neu und an diesen Texten „eigenartig“ ist die Promenade: die Beschreibung eines gemeinsamen Rund- oder Spaziergangs von Interviewer und Interviewtem, der meist im Gebäude beginnt und sich auf das angrenzende Gelände ausdehnt. Im Fall von François Coppée (1842–1908) macht der Interviewer den Ort des Spaziergangs zum Thema der Befragung. Die im Laufe dieser Promenade gesammelten Äußerungen des Interviewten sowie eigene spontane Reflexionen des Journalisten dienen schließlich dazu, dem Leser die Person und die private Umgebung des Schriftstellers nahezubringen – und damit einen Bereich, der dem Publikum für gewöhnlich verschlossen bleibt: Maintenant, nous errons sous les ombrages du parc. [...] Nous l’interrogeons sur la Fraizière. Ce domaine est ainsi nommé, non point parce qu’on y récolte des fraises, mais parce qu’il appartint à un sieur Fraizier [...] „Je suis ici chez moi; et tout ceci m’appartient, et je l’ai gagné honnêtement par le seul effort de ma pensée...“ J’imagine que lorsqu’il se promène, tout seul, ou au bras de sa chère sœur, dans les sentiers de la Fraizière [...] Ces digressions m’ont entraîné loin de la Fraizière ... J’y reviens en hâte, je rattrape le poète au coin d’une allée; et, avant de prendre congé, je lui demande quelques renseignements sur sa méthode de travail (Brisson 1896: 335-345).

Der Besuch im Schloss von Aristide Bruant (1851–1925) beginnt ebenfalls als klassische Visite, die sich zur Promenade ausweitet: An den Rundgang durch das Gebäude schließt sich – vermeintlich spontan – die Begehung des angrenzenden Geländes an. Im Verlauf des ausgedehnten, etwa zweistündigen Spaziergangs lassen sich die Interviewpartner zu verschiedenen Themen inspirieren: z.B. persönliche Erinnerungen Bruants an seine Zeit in Montmartre sowie Betrachtungen zur Sprache des Sängers und Dichters. In diesem Fall lässt der Autor die Promenade bereits vor der Ankunft am Besuchsort beginnen und macht damit gewissermaßen die Visite zum integralen Bestandteil seines Interview-Spaziergangs:

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Hier, au cours d’une promenade, je sonnai à la grille du castel ; on m’introduisit dans l’oratoire, je veux dire dans le cabinet de travail de sire Bruant. [...] L’impétueux Bruant me pousse à travers les pièces de son logis [...]. „Deux heures de marche ne vous effrayent pas ? Allons faire le tour du propriétaire!“ Ce ‚tour‘ est considérable. [...] Nous avons parcouru plus d’une lieue dans les terres labourées et nous sommes toujours sur le domaine de M. Bruant (Brisson 1897: 11-16).

Auch beim Besuch bei Alphonse Daudet (1841–1897) ergeben sich im Verlauf des Spaziergangs Gesprächsthemen, die sich wie zufällig und spontan aus der Wahrnehmung der örtlichen Umgebung ableiten. Zudem gibt die gleichfalls ungeplante Begegnung mit Madame Daudet dem Interview eine weitere unvorhergesehene Wendung: J’ai passé près de lui, cet automne, une heure charmante, dont il m’est doux de fixer le souvenir. [...] Tout en cheminant le long des sentiers, fleuris d’œillets et de pivoines, il me parle d’un tas de choses, de son jardin, de sa maison, du village de Champrosay et des souvenirs dont ce village est peuplé, il me parle du dernier livre qu’il a publié et de celui qu’il prépare. [...] Nous poursuivons notre promenade. [...] „Cette église que vous voyez sera l’héroïne de mon prochain livre. Son histoire est curieuse.“ [...] Daudet nous conduit au bord de la Seine, en suivant le jardin qui descend doucement jusqu’à la berge. [...] Cependant, Mme Alphonse Daudet vient nous joindre. [...] Nous avons accompli le ‚tour du propriétaire‘ (Brisson 1894: 48-53).

Abschließend zeigt ein Interview mit Jules Verne (1828–1905), bei dem sich an den Besuch in dessen Haus in Amiens ein ausgedehnter Spaziergang durch die Stadt anschließt, wie der Journalist eine spontane Beobachtung aufgreift und damit eine ebenso spontane und authentische Aussage des berühmten Schriftstellers über seine Person und Arbeitsweise provoziert: En gagnant la porte de la rue, j’avise un planisphère, accroché à la muraille et barbouillé de lignes enchevêtrées. „Je m’étais diverti, me dit M. Jules Verne, à indiquer sur cette carte le tracé de tous les voyages effectués par mes héros. Mais j’ai été obligé d’y renoncer. Je ne m’y reconnaissais plus“ (Brisson 1899: 118).

Insgesamt machen alle vier Textbeispiele deutlich, dass der Autor in seinem journalistischen Vorgehen bewusst auf die äußeren Einflüsse setzt, die sich während der Promenade aus der Situation heraus ergeben: Spontane Beobachtungen, unvorhersehbare Begegnungen, beiläufige Assoziationen, die durch die Wahrnehmung der Umgebung hervorgerufen werden, regen das Denken der Gesprächspartner an und geben dem Interview neue kreative Impulse. Letztlich bedient sich der Autor hier der ‚alten‘ Tradition des ‚Philosophischen Spaziergangs‘, um die neue journalistische Interview-Tradition zu bereichern.

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4. Fazit und Ausblick Wie die Analyse gezeigt hat, handelt es sich bei den Interview-Spaziergängen um eine spezielle Form des personenzentrierten Interviews. Die Promenade, die sich der denk- und gesprächsfördernden Wirkung ‚Philosophischer Spaziergänge‘ bedient, stellt eine Erweiterung der Visite dar, indem neben den Besuch des Befragten der gemeinsame Spaziergang tritt. Dabei dient die Promenade – wie die Visite – dem Ziel, die befragte Person zu porträtieren. Wie im Falle des Interview-Besuchs belegen auch beim Interview-Spaziergang die Begehung und die subjektive Wahrnehmung der örtlichen Umgebung durch den Journalisten vor Ort die enge Verwandtschaft mit der Reportage. Hier wie dort überwindet der Journalist eine soziale Barriere und macht seinem Leser Bereiche zugänglich, die dem allgemeinen Publikum grundsätzlich verschlossen sind. Ein prominentes Beispiel für Interview-Spaziergänge aus neuerer Zeit findet sich auf Seiten der deutschsprachigen Presse: „Spaziergänge mit Prominenten“ lautet der Titel einer Sammlung von Texten, die der Journalist Ben Witter Ende der 1960er Jahre in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte (Witter 1969). In welcher Weise sich die Promenade als Subtyp des personenzentrierten Interviews in der Romania weiterentwickelt hat und welche einzelsprachlichen Besonderheiten dabei zu beobachten sind, wäre sicherlich eine weitere Untersuchung wert.

Bibliographie Brisson, Adolphe (1894ff.): Portraits intimes. – Paris: Armand Colin. 5 Bde. Burger, Harald (21990): Sprache der Massenmedien. – Berlin/New York: de Gruyter (Sammlung Göschen 2225). Delporte, Christian (1999): Les journalistes en France, 1880–1950. Naissance et construction d’une profession. – Paris: Éditions du Seuil. Ferenczi, Thomas (1996): L’invention du journalisme en France. Naissance de la presse moderne à la fin du 19e siècle. – Paris: Payot (Petite bibliothèque Payot 279). Große, Ernst Ulrich (2001): Évolution et typologie des genres journalistiques. – In: Semen 13, 15-36. Hugo, Victor (1972): Choses vues. Souvenirs, journaux, cahiers (1830–1885). – Paris: Gallimard. 2 Bde. Koch, Peter (1997): Diskurstraditionen. Zu ihrem sprachtheoretischen Status und zu ihrer Dynamik. – In: Barbara Frank, Thomas Haye, Doris Tophinke (Hg.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, 43-79. Tübingen: Narr (ScriptOralia 99).

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Kött, Martin (2001): Zeitung aus Kopf und Körper. Zur Funktion von Überschrift und Erzählerkommentar in französischen Presseinterviews des 19. Jahrhunderts. – In: Claudia Gronemann, Christiane Maaß, Sabine A. Peters, Sabine Schrader (Hg.): Körper und Schrift. Beiträge zum 16. Nachwuchskolloquium der Romanistik. Leipzig, 14. - 17. Juni 2000, 338350. Bonn: Romanistischer Verlag (Forum junge Romanistik 7). Kött, Martin (2004): Das Interview in der französischen Presse. Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte. – Tübingen: Niemeyer (Medien in Forschung und Unterricht 53). Kött, Martin (2005): Authentizität durch Variation. Zur Funktion sprachlicher Varietäten in journalistischen Texten. – In: Angela Schrott, Harald Völker (Hg.): Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik in den romanischen Sprachen, 279-291. Göttingen: Universitätsverlag. Kött, Martin (2006): Victor Hugo – Reporter seiner Zeit? Ein Beitrag zur Geschichte der Reportage in Frankreich. – In: Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer et al. (Hg.): Historische Pressesprache. Romanistisches Kolloquium XIX, 153-173. Tübingen: Narr. Lebsanft, Franz (1997): Textsorten in der spanischen Tagespresse. – In: Andreas Gather, Heinz Werner (Hg.): Semiotische Prozesse und natürliche Sprache. Festschrift für Udo L. Figge zum 60. Geburtstag, 366-381. Stuttgart: Steiner. Lebsanft, Franz (2001): Sprache und Massenkommunikation. – In: Günter Holtus, Michael Metzeltin, Christian Schmitt (Hg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik. Tübingen: Niemeyer, Bd. I/2, 292-304. Littré, Emile (1873-1874): Dictionnaire de la langue française. – Paris: Hachette. 4 Bde. Robert, Paul (Hg.) (21992): Le Grand Robert. Dictionnaire alphabétique et analytique de la langue française. – Paris: Robert. 9 Bde. Seele, Katrin (2012): Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichtsmethode. – Münster: LIT (Philosophie und Bildung 14). Stendhal (1829): Promenades dans Rome. – Paris: Delaunay. 2 Bde. Weischedel, Wilhelm (1975): Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in Alltag und Denken. – München: dtv. Witter, Ben (1969): Spaziergänge mit Prominenten. – Zürich: Diogenes.

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1. Le texte des Évangiles Matthieu fait commencer sa version de l’Évangile par la généalogie de Jésus. Comme le Nouveau Testament débute traditionnellement par Matthieu, la généalogie constitue en même temps l’ouverture de ce livre: Jésus appartient en lignée masculine directe à la maison royale d’Abraham, de David et de Josias, du moins si Joseph avait été son géniteur (Vulgata, Mt 1, 1-17). Luc 3, 34-38 ajoute ce qui manque pour remonter à Adam et à Dieu. Faisant abstraction de l’action du Saint Esprit, Matthieu appelle Jésus, ou le fait appeler par les habitants naïfs de Nazareth, fabri filius ou τέκτονος υἱός (Mt 13, 55). Son devancier Marc (précédant en termes de philologie et de chronologie) rapporte la même scène, mais ici, Jésus est lui-même le τέκτων: nonne iste est faber, filius Mariae?/οὐχ οὗτός ἐστιν ὁ τέκτων, ὁ υἱὸς τῆς Μαρίας? (Mc 6, 3). Luc, dans le récit parallèle, ne parle que du fils de Joseph, sans indication de métier: nonne hic filius est Ioseph/οὐχὶ υἱός ἐστιν Ἰωσὴφ οὗτος (Lc 4, 22). Jean dit la même chose: nonne hic iste est Iesus filius Ioseph/οὐχ οὗτός ἐστιν Ἰησοῦς ὁ υἱός Ἰωσήφ (Io 6, 42). L’homme moderne, s’il lit Marc dans l’‘original’, apprend que Jésus avait le même métier que son père; par ailleurs il sait que Joseph était charpentier. Nous essayerons de vérifier et de falsifier les lectures et opinions reçues. Cela tient du genre du roman policier: audition des preuves longue, pièces justificatives nombreuses, fausses pistes et épisodes multiples; le procès sera court, mais demandera de la présence au lecteur; il pourra toujours prendre la courte échelle en se rendant directement au jugement.

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2. τέκτων et faber Le terme des originaux grecs désignant le métier de Jésus, voire de Joseph, est τέκτων m. ‘ouvrier travaillant surtout le bois, moins le métal, artisan’, 1 terme que Jérôme traduit par faber (Vulgate, ca. 400). Ce mot a un sens bien général en latin classique, c’est-à-dire ‘ouvrier, artisan (plutôt travaillant en tranchant, taillant, martellant, construisant)’, le ThesLL 61, 8, 5 définit ‘quilibet artifex qui materiem duram (velut metalla ligna lapides ebur) tractat’. C’est pour cela qu’il est fréquemment élargi d’une épithète pour indiquer le métier visé en particulier, par exemple faber aerarius, qui travaille les métaux, fondeur ou forgeron, argentarius, automatarius, balneator, dolabrarius, eborarius, ferrarius, ferrius, frenarius, lapidarius, lignarius, et aussi le tignarius, celui qui travaille le gros bois, charpentier (ThesLL 61, 10, 52). Le faber se distingue peu de l’artifex qui est artisan (corroyeur, joaillier, ...), artiste (dicendi artifices, Cic.) ou créateur (homme, nature ou dieux, ThesLL 2, 700, 58), mais aussi forgeron (Vulcanus artifex ferri, Tert., ThesLL 2, 698, 46). Pour connaître les emplois et le sens de faber, d’abord spécialement dans le texte de Jérôme, nous nommerons rapidement les attestations de la Vulgate. Ensuite nous verrons sa fortune sémantique en latin tardif et en moyen latin et finalement en français fèvre. – Ancien Testament [Vulgate, surtout basée sur la Septuaginta grecque / LXX, parfois aussi sur le texte hébreu]: Gn 4, 22 Thubalcain qui fuit malleator et faber in cuncta opera aeris et ferri; Idc 5, 26 fabrorum malleos; I Sm 8, 12 fabros armorum; I Sm 13, 19 faber ferrarius / τέκτων σίδηρον; II Rg 12, 11 fabris lignorum / τεκτοσιν των ξυλων (construction du Second Temple, an 515); II Rg 22, 5 fabris (id.); II Rg 22, 9 fabris (id.); II Par 24, 12 fabros [...] ferri et aeris;

1 LidScott 1769a 1° ‘worker in wood, carpenter, joiner’, 2° ‘generally, any craftsman or workman’ [rarely metal-workers], ‘sculptor, statuary’, 3° ‘master in any art’. Les sigles employés ici sont ceux du DEAF, cf. www.deaf-page.de; pour la recherche d’attestations nous nous servons des manuels et dictionnaires usuels, de ANDEl, DMF 2012, LLT-A et de Google, mais les citations viennent des sources indiquées, pour la Vulgate de l’éd. R. Weber, Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, 2 vol., Stuttgart (Württ. Bibelanstalt) 1969, incomplète comme toutes les Bibles (cf. Jörg Frey (2013): Die Herausbildung des biblischen Kanons im antiken Judentum und im frühen Christentum. ‒ In: Das Mittelalter 18, 7-26).

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[III Ezra 5, 54 lapidariis et fabris (Second Temple)]; Sap 13, 11 artifex faber de silva lignum [...] fabricet vas utile (LXX); Sir/Ecclesiasticus 38, 28-29 omnis faber et architectus [...] faber ferrarius [...] opus ferri; Is 40, 19 faber aut aurifex/τέκτων ἢ χρυσοχόος; Is 41, 7 faber aerarius/τέκτων καὶ χαλκεὺς τύπτων σφύρῃ; Is 44, 11-13 fabri [...] faber ferrarius [...] artifex lignarius/τέκτων σίδηρον [...] τέκτων ξύλον; Is 54, 16 fabrum sufflantem in igne prunas/χαλκεὺς φυσῶν ἄνθρακας; Ier 24, 1 fabrum et inclusorem/τεχνίτας καὶ τοὺς δεσμώτας; Ier 29, 2 faber et inclusor/δεσμώτου καὶ τεχνίτου; [Bar 6, 7 lingua ipsorum polita a fabro ipsa etiam inaurata [...] sunt, traduction de Theodolphe d’Orléans]; Za 1, 20 fabros/τέκτονας (= BibleRab Za 2,3 forgerons, BibleJSt smiths, bien que le mot hébr. ḥă·rā·šîm soit normalement traduit par ‘artisan’, cf. infra).

– Nouveau Testament [Vulgate, du grec]: Mc 6, 3 faber/τέκτων = Jésus; Mt 13, 55 faber/τέκτων = Joseph; Itala g1 filius Joseph fabri (ThesLL 6, 10, 19, sub ‘quilibet artifex [...] notabilia quaedam ad rem spectantia’).3 Saint Jérôme, Epistola ad Paulinum Presbyterium (53, cap. VI) minores artes [...] agricole, cementarii fabri metallorum, lignorumque cesores, lanarii (cf. infra).

Les attestations de l’Ancien Testament semblent suggérer l’interprétation suivante: faber peut désigner tout ouvrier, mais il faut des précisions épithétiques ou des circonstances claires et connues pour ne pas comprendre ‘forgeron’. Douze des attestations relevées concernent expressément le forgeron, Za paraît confirmé dans le même sens par la Bible juive, Sap documente une précision complexe d’artifex pour désigner un ouvrier travaillant le bois (artifex faber de silva lignum), quatre finalement se réfèrent à la construction du Second Temple, où il s’agira de charpentiers puisqu’on y parle de pierres et de poutres et planches de cèdre, le premier exemple, fabris lignorum, étant univoque. La différenciation de faber ferrarius et de artifex lignarius dans Is 44, 12-13, traduisant τέκτων σίδηρον [...] τέκτων ξύλον (artisans forgerons ou fondeurs et artisans charpentiers, érigeant des idoles), peut donner l’impression que Jérôme voyait déjà dans le faber plutôt un forgeron qu’un autre artisan. Dans son épître, saint 2 Texte non canonique; Vetus translatio ex graeco, lue dans Bibliorum sacrorum latinae versiones antiquae, seu Vetus Italica, par Pierre Sabatier, t. 3, Paris (Didot) 1751, p. 1055a (Versio altera, 1055b: structoribus fabris). 3 Un relevé des attestations d’artifex dans la Vulgate nous fait retrouver des ouvriers travaillant le bois: Ex 38, 23 artifex lignorum; Is 40, 20 lignum [...] elegit artifex; Is 44, 12 artifex lignorum; etc.

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Jérôme semble distinguer fabri metallorum et lignorum cesores (question de logique et de virgules: SJérEp53r et éd. Botfield id., cf. infra). Le Nouveau Testament ne saurait suggérer pour faber que le sens général d’‘artisan’ et aussi, par probabilité, celui de ‘forgeron’; pour le sens de ‘charpentier’ il n’y a aucun indice positif (épithète ou contexte). Les Bibles modernes sont généreuses en parlant de charpentiers bien que les textes anciens ne fournissent pas de base pour ce choix. Un exemple fournit l’Ezra canonique 3, 7, ils donnèrent de l’argent aux tailleurs de pierres et aux charpentiers (A. T., Martin 1744), correspondant à [latomis et] cementariis ‘maçons’ dans la Vulgate, à τέκτοσιν ‘artisans’ dans la Septuaginta et à ḥā·rā·šîm ‘artisans’ dans la version hébraïque. 4

3. Le métier de Jésus et de Joseph Étant donné que père Joseph et fils Jésus sont de sang royal, il sera plausible, du point de vue sociologique, de leur accorder un métier relativement noble, en tout cas rémunérant. L’idée moderne et déjà ancienne (VIe s., Léandre, cf. infra) d’un Jésus d’humble origine est une fonction de l’image christologique, variable selon l’évolution des églises et des croyances. Humilité et modestie sont devenues des propriétés essentielles du caractère de Jésus au point que la communauté culturelle semble avoir oublié sa descendance royale, avant que Bernard de Clairvaux (ob. 1153) donne à l’image de Joseph un nouveau vernis en rappelant son origine royale et en le comparant à David lui-même. 5 Le métier indiqué par l’Évangile, écrit en langue grecque, nommément τέκτων, non restreint par une épithète, convient bien. L’artisan (bois, aussi métal) est respectable, surtout en songeant à son rapport avec la construction du Second Temple, sujet central dans l’Ancien Testament. Le transfert au latin faber est d’abord sans problème, mais son sens général d’‘artisan (de grande ou grosse œuvre)’ se voit peu à peu réduit à ‘forgeron’. Voyons ce qu’en font les doctores de l’Église. Une génération avant Jérôme, Hilaire de Poitiers (ca. 315 ‒ 366/7) écrit son commentaire sur Matthieu. Chez lui pas de doute: il assigne au père de Jésus, en l’appellant faber, clairement le métier de forgeron: 4 Le terme hébreu, ḥā·ra·š, au sens similaire au lt.cl. faber, ici traduit correctement par craftsman dans BibleJSt, mais par smiths pour Za 2, 3, mène, déjà dans la Vulgate et le plus souvent par le biais du texte grec de la Septuaginta, une vie chaméléonesque lui aussi: les offres de translation sont gemmarius Ex 28, 11, abietarius Ex 35, 33, artifex Dt 27, 15, faber aerarius Is 41, 7; fabrum sufflantem in igne Is 54, 16, etc.: allègrement, les traducteurs tant anciens que modernes concluent au sens de la désignation de l’ouvrier, soit en partant de l’objet travaillé soit de leur souvenir culturel. 5 En détail dans Annik Lavaure (2013): L’image de Joseph au moyen âge, Rennes: Presses Univ., p. 33-38, spéc. 34.

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Non enim credunt [les gens de Nazareth] haec in homine Deum agere; quin etiam patrem ipsius matrem fratresque nuncupant et paternae artis quodam opprobrio lacessunt. Sed plane hic fabri erat filius6, ferrum igne vincentis omnem saeculi virtutem iudicio decoquentis massamque formantis in omne opus utilitatis humanae. 7

Évidemment, il pourrait y avoir une rupture dans l’argument, prenant tout à coup Dieu pour le père, ce qui pourrait impliquer une transposition quant au métier (père terrestre: artisan au bois, versus père céleste: artisan au feu), mais la perspective typologique, qui rapproche les deux pères, fait opter pour une identité de leurs métiers. 8 Ambroise de Milan (ca. 340 - 397), Expositio evangeli secundum Lucam, éd. M. Adriaen 1957, lib. 3, 9 ss. (= MignePL 15, 1589A), s’en est inspiré: [Lc, mais modifié en accord avec Mt: Nonne hic est filius Ioseph fabri?] hoc enim typo eum patrem sibi esse demonstrat, qui fabricator omnium condidit mundum iuxta quod scriptum est: in principio fecit deus caelum et terram.

Chromatius Aquileiensis (ca. 345 - Grado 406/7; en contact étroit avec Ambroise), Tract. in Mt, éd. R. Étaix/J. Lemarié 1974, 51A, 112, reste sibyllin: Vere etenim dominus et saluator noster fabri filius erat, sed illius fabri, id est dei patris, qui per eumdem filium caelum et terram atque uniuersum mundum fabricare dignatus est. Hic est fabri filius qui, ut ad exaranda corda credentium ferrum ligno configeret, in cruce suspendi dignatus est. Vere certe fabri filius, idcirco quia dura corda hominum tamquam ferrum ad fidei suae gratiam igne spiritali molliuit. Faber enim ferrum igne mollire consueuit.

Petrus Chrysologus (ob. 454), sermo XLVIII De Christo fabri filio apellato, et de invidia (sur la scène de Nazareth, Mt 13, 55), MignePL 52, 334C, donne au métier son interprétation symbolique:

6 Note: se réfère à Mt 13, 55. 7 ThesLL 61, 10, 22; Jean Doignon (1979): Hilaire de Poitiers. Sur Matthieu, Paris: Cerf, 2, 10, ch. 14,2,6; l’éd. traduit: “Ils ne croient pas que Dieu dans un homme accomplisse ces choses. Bien mieux, ils nomment son père, sa mère, ses frères, et ils prennent pour cible en manière d’outrage le métier de son père. Il est vrai qu’il était le fils du charpentier [sic!], qui dompte le fer par la flamme [sic!], anéantit au feu du jugement toute puissance de ce monde et donne une forme à une masse en vue d’œuvrer en tout à l’intérêt de l’homme”. 8 Voir les deux citations suivantes et infra ad Thomas d’Aquin avec note 17.

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Christus erat fabri filius, sed illius qui mundi fabricam fecit non malleo, sed praecepto [...] [335A] qui massam saeculi auctoritate, non carbone conflavit.9

C’est enfin Leander Hispalensis (ca. 536/8 ‒ 600, athanasien), le frère aîné d’Isidore de Séville, qui peut dire expressis verbis que Joseph était fèvre (Regula ou De instit. virg., éd. J. Campos Ruiz, Bibl. de Auctores Christianos 23, p. 64, 708): Sed et Ioseph cui fuerat disponsata, cum esset iustus erat tamen et pauper; ita ut uictum et uestimentum artificio quaereret, quippe faber ferrarius fuisse legitur.

Isidore de Séville (ca. 560 - 636) bâtit son étymologie de faber sur le sens de ‘forgeron’ (comme souvent, en intervertissant les faits): IsidL XIX vi 1 DE FABRORVM FORNACE. Faber a faciendo ferro inpositum nomen habet. Hinc deriuatum nomen est ad alias artium materias fabros uel fabricas dicere; sed cum adiectione, ut faber lignarius et reliqua, propter operis scilicet firmitatem.

Puis, dans sa Regula monachorum, éd. J. Campos Ruiz, Bibl. de Auctores Christianos, 1971, CPL 1868, c. 5, p. 97, 127, il est net: Ioseph iustus cuius uirgo Maria disponsata extitit faber ferrarius fuit.

Ceci est repris mot à mot dans Fructuosus Bracarensis (pseudo; Portugal 2e m. VIIe s.?), Regula monastica communis, éd. J. Campos Ruiz, Bibl. de Auctores Christianos, CPL 1870, 1971, cap. 9, 275: Ioseph [...] faber ferrarius fuit,

ensuite aussi par Benedictus Anianensis, Concordia regularum (concile d’Aix la Chapelle, 819), éd. P. Bonnerue, 1999, c. 55, p. 478, 190: Ioseph iustus, cui uirgo Maria desponsata extitit, faber ferrarius fuit.

Hrabanus Maurus (Mayence sur le Rhin, Tours, Fulda, 780 - 856), Expositio in Matthaeum, éd. Bengt Löfstedt 2000, CM 174A, lib. 5, p, 407, l. 60: Nam etsi humana non sunt comparanda Diuinis, typus tamen integer est, quia Pater Christi igne operatur et spiritu; unde et de ipso tamquam de

9 La note j discute si Joseph était forgeron ou charpentier, avec une documentation supplémentaire.

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fabri filio praecursor suus ait: Ipse uos baptizabit in Spiritu sancto et igne. 10

Heiricus Autissiodorensis (Heiric d’Auxerre, 841 - 876/7), Homiliae per circulum anni pars hiemalis, éd. R. Quadri, 1992-1994, 43, l. 26, développe Raban: Et intuere quod sicut superius Christum fabrum uel fabri filium, ita nunc eadem erroris insania medicum cognominant. Sed error iste insanus plenus est sanae fidei et ueritatis: reuera enim filius erat fabri illius qui in principio caelum terram que fabricatus est, qui que sicut uerus faber igne operatur et spiritu, iuxta quod de Christo tamquam fabri filio Iohannes dicit: Ipse uos baptizabit in spiritu sancto et igne.

Petrus Damianus (Ravenna ca. 1007 - Faenza 1072), Epistulae CLXXX, K. Reindel, 1983 - 1993, 3, epist. 114, p. 303, 16: Nonne iste est fabri filius et Mariae [...] Ille, inquam, fabri filius, qui et ipse nichilominus faber illic propriis manibus agitat folles [‘soufflets’] [...] De quo fabro per Ysaiam divina vox ait: Ecce ego creavi fabrum sufflantem in ignem prunas [= Is 54,16 cité supra].

D’autres attestations font de Joseph un menuisier-charpentier: Le Protévangile de Jacques, étalant l’histoire de la sainte famille antérieure au récit des Évangiles écrit en grec au milieu du IIe siècle, mentionne que Joseph, plongé dans son travail, est appelé au temple et laisse tomber son herminette: Ἰωσἡϕ δἑ ῥίψας τὁ σκέπαρνον. 11

Justin le Martyr, dans son dialogue (littéraire) avec le juif Tryphon, écrit en grec vers 160: Josephi fabri filius crederetur [...] faberque ipse existimaretur (haec enim fabrilia opera [τεκτονικἀ ἒργα] faciebat, cum inter homines versare, aratra et juga [ἂροτρα καἱ ζυγἀ]).

Les Évangiles arméniens du Ve s. (ms. de 887) écrivent oč’ sa ē hiwsann ordi? (Mt 13, 55, ‘celui / est / menuisier-charpentier / fils?’) et oč’ sa ē manowk hiwsann? (Mc 6, 3, ‘celui / est / enfant / menuisier-charpentier?’). 12 10 Repris par Sedulius Scotus, In euangelium Matthaei, mil. IXe s., 2, lib. 2, cap.13, 55, p. 362, 55d. Löfstedt 2000: 5, 407, l. 60. 11 Ronald F. Hock (1995): The Infancy Gospels of James and Thomas, Santa Rosa Cal.:Polebridge, 48, 9, 2 - 10,1: scène de la sélection du futur mari de Marie (ayant 12 ans) en tirant à la courte paille, en fait en comparant les bâtonnets présentés par les aspirants; Joseph, le plus agé, en a le plus court, mais c’est du sien que, par l’action divine, jaillit le signe de sa qualification, une colombe. LidScott 1606b définit σκέπαρνος ‘carpenter’s axe, adze’, = fr. herminette, all. Dechsel. 12 Beda O. Künzle (1984): Das altarmenische Evangelium, Bern etc.: Lang, 1, 36a et 1, 97b. Le texte dérive prob. d’une version syriaque.

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Le texte connu comme ‘Histoire de Joseph le Charpentier’ est une vie copte écrite probablement après le Ve siècle. La désignation du métier de Joseph y est ḥmw ‘artisan travaillant le bois (ḫt)’. Son éditeur pense que la restriction de sens pourrait provenir du grec τέκτων δούρων. De toute façon, ce texte ancien égyptien paraît avoir été traduit en latin vers 1340 seulement, version connue par une édition-adaptation de 1522. 13 Liber de ortu beatae Mariae (Pseudo-Matthaei euangelium, textus A), déb. VIIe/déb. IXe s., CC SA, 9 (J. Gijsel, 1997), p. 279-481, chap. 10, 1, l. 1: Ioseph in Capharnaum maritima erat in opere occupatus, erat enim faber ligni.

Les mêmes termes se retrouvent dans le Liber de natiuitate sanctae Mariae genitricis Dei et de infantia saluatoris Domini nostri Iesu Christi secundum carnem (Euangelium infantiae, ‘compilatio J’, VIIe s., iuxta recensionem ‘Arundel’, XIVe s.), J.-D. Kaestli/M. McNamara, 2001, par. 37, p. 763, 1: 763, 1 Ioseph [...] eo quod esset faber ligni; 137, 1 Ioseph faber lignarius erat. Iuga boum tantum faciebat et ea que apta erant aggriculture et lectos ligneos; 762, l. 1 faber lignarius.

Bernard de Clairvaux ne précise pas, bien qu’il ait sans doute connu les textes: Quae est haec Virgo venerabilis ut salutetur ab Angelo, tam humilis ut desponsata sit fabro? (ca. 1120?, In laudibus virginis matris I, 5).14

Galandus Regniacensis (diocèse d’Autun, ob. 1128), Libellus prouerbiorum prouerbium, 68 (glossa), éd. J. Châtillon/A. Grélois, 1998 l. 4, p. 112: Porro carpentarius noster Christus, animas nostras spiritaliter dolans, dum tumentia in nobis coequat, tortuosa dirigit, aspera complanat, ad celestem nos structuram parat, iuxta illud: Ego quos amo, arguo et castigo.

13 Paul de Lagarde (1883): Aegyptiaca, Goettinga: Hoyer. Trad. all. et étude par Siegfried Morenz (1951): Die Geschichte von Joseph dem Zimmermann, Berlin: Akad.; trad. fr. et courte ét. par Gustave Brunet (1863): LES ÉVANGILES APOCRYPHES, Paris: Franck, p. 21, ch. ii Il exerça aussi la profession de charpentier en bois. Antonio Battista/Belarmino Bagatti (1978), Edizione critica del testo arabo della Historia Josephi fabri lignarii e ricerche sulla sua origine, Jerusalem: Franciscan Printing Press, 130 [(Joseph) Sciebat autem artem carpentariam]; 126 [texte de 1522 accordé aux prémisses de l’église de Rome]; 130-134 texte de l’imprimé Isidorus Isolanis, Summa de donis sancti Ioseph, Papiae 1522. 14 Éd. Jean Leclercq/Henri Rochais, Romae (Cist.) 1966 (S. Bern. Op. IV), p. 17,19. Annik Lavaure (2013): L’image de Joseph au moyen âge, Rennes: Presses Univ., p. 36, si humble qu’elle est fiancée à un charpentier: téméraire.

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Image ou indice sur le métier de Jésus? Guillelmus Alvernus (évêque de Paris 1229-1249), Sermones de sanctis, sermo 62 (de sancta Maria Magdalena), éd. F. Morenzoni, 2012, p. 233, 11: Narra de singulis. Sed hanc reparat Christus tanquam bonus carpentarius [énoncé isolé].

Bonaventure (Viterbe, études à Paris, ministre général des franciscains, 1217/1218 ‒ 1274), Sermones de diuersis: reportationes, éd. J.G. Bougerol, 1, sermo XII (Epiphania), § 5, p. 219, l. 175: nec Ioseph maritum suum sustinuisse tota die laborare (erat faber lignarius) [pour cette insertion cf. Thomas d’Aquin, infra].

D’autre part, Bonaventure emploie faber seul aussi pour désigner un artisan forgeron, au moins dans ce contexte assez univoque: Ideo deinde constituit Aristoteles librum topicorum, in quo determinat de syllogismo dialectico quantum ad octo partiales eius libros ita quod in .i. libro inquirit et instituit syllogismum dialecticum et deinceps in aliis eo utitur ad terminandum quatuor praedicata, sicut faber primo sibi suum instrumentum, scilicet malleum, fabricat et postea eo utitur ad alia opera fabrilia (Collationes in Hexaēmeron, Visio prima, éd. F. Delorme 1934, 1, § 20, 240).

Sous le titre de Joseph II (Zimmermann), le Reallexikon für Antike und Christentum 18 (1998), 749-761 (Peter Nagel) résume sa vue des choses: ce que l’on sait de la profession de Joseph vient des Évangiles [749]; les spécifications sont apocryphes [752] et feraient de Joseph un artisan en bois. Seulement Léandre et Isidore parleraient du forgeron [ce qui s’avère comme faux]. Quant à l’iconographie, Brigitte Heublein relève une tablette d’ivoire de la 2e m. Ve s. (Evangeliario, Dittico delle cinque parti, Tesoro del Duomo di Milano) montrant Joseph à côté de Marie et du petit Jésus avec sa scie à cadre et peutêtre avec son herminette 15, puis il y a un long silence, les images montrant Joseph charpentier étant documentées d’après 1400 seulement. Annik Lavaure, dans un travail éloquent très approfondi sur le regard des textes et des images sur Joseph, regard se modifiant avec les siècles, ne semble relever Joseph charpentier que dans des images datées d’après 1355 16; un Joseph forgeron n’y est pas mentionné. 15 Der ‘verkannte’ Joseph, zur mittelalterlichen Ikonographie des Heiligen im deutschen und niederländischen Kulturraum, Weimar (Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften) 1998, travail rapide. Pietro Borella a analysé le diptyque dans Arte Cristiana 23 (1935), 67-81, spéc. 70a [‘sega’]; 81b [‘Oriente’]: création byzantine. 16 Annik Lavaure (2013): L’image de Joseph au moyen âge, Rennes: Presses Univ.), p. 216 (image 217, pl. XXXVI ca. 1415, pl. XLVI 1415-20, pl. XLVII déb. XVe s.); écrit dans Johannes de Caulibus,

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4. L’énigme Deux positions s’opposent donc dans ces quelques citations. Nous avons des témoignages nets pour les deux. Heureusement, Thomas d’Aquin en parle dans ses leçons parisiennes et soulève l’énigme, du moins le semble-t-il: – Thomas de Aquino, Catena aurea in Iohannem (1265-1268), éd. J. Nicolai, 1953: cap. 2, lectio 4, 62 (p. 362, 94) [Jésus au temple de Jérusalem] Multo autem maior numerus erat ementium quam vendentium; quorum expulsio transcendebat dignitatem eius qui reputabatur filius carpentarii; cap. 8, lectio 13, 68 (p. 460, 80) Quasi dicant: tu, qui nulla cura dignus es, carpentarii filius de Galilaea, tibi subripis gloriam;

– Catena aurea in Lucam: cap. 12 , lectio 3, 221 (p. 179, 1) Quamdiu igitur ad humana spectantes mente claudicabant dicentes: nonne hic est carpentarii filius?;

– Catena aurea in Matthaeum: cap. 2, lectio 5, 33 (p. 38, 87) Chrysostomus super Matth. [...] tunicam [...] qualem habere potuit carpentarii uxor peregre constituta;

– Super Euangelium Matthaei reportatio (leçon de l’université de Paris 1269/70), éd. J. Nicolai: cap. 1, lectio 4 (leçon parisienne notée par Pierre d’Andria, ob. ca. 1316), num. 107, 3 (p. 16b) Secundum Chrysostomum, Ioseph fuit faber lignarius; et signat Christum, qui per lignum crucis omnia restauravit, caelestia etc.; cap. 2, lectio 3 (id.), num. 196, 8 (p. 31a) uxor carpentarii (Marie); cap. 13, lectio 4 (notée par Léger de Besançon, ob. ca. 1294), num. 1210, 15 (p. 186b) Et ponunt admirationem suam, et cognitionem suam: unde dicebant nonne hic est fabri filius? Ipse enim putabatur filius Ioseph, qui non erat faber ferrarius, sed lignarius: quamvis etiam posset dici filius fabri, qui fabricatus est auroram et solem. Ps. lxxiii, 16.

Par deux fois, Thomas se réfère au témoignage de Jean Chrysostome pour enseigner que Joseph était charpentier: Secundum Chrysostomum, Ioseph fuit faber lignarius. Dans la dernière citation il insiste: Ioseph, qui non erat faber ferrarius, sed lignarius, ce qui est à interprèter comme son opposition à un savoir généralisé qui avait été aussi le sien: dans la perception des gens non touchés par les écrits de Jean Chrysostome (et quelques autres), Joseph était Meditationes vitae Christi, ms. BN it. 115 [Tosc. ca. 1355], éd. Mary Stallings-Taney, Turnhout (1997 CC CM 153), 7, 16 Ioseph, qui erat magister lignarius; 12, 198 Sed et sanctus Ioseph senex aliquid operabatur in arte lignaminis; 15, 162.

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bien un forgeron. La suite de la phrase rappelle quelques-unes des citations traitant typologiquement des deux pères: ‘si l’on veut, on peut aussi dire fils de l’artisan, la création duquel est l’aurore et le soleil’. 17 Le renvoi donné après cette complication argumentative nous mène vers le verset des Psaumes que voici: et existimabam cognoscere hoc labor est ante me (“Toutefois j’ai tâché à connaître cela; mais cela m’a paru fort difficile” [iuxta LXX 73, 16, Martin 1744]; = iuxta hebr. 72, 16 et cogitavi ut intellegerem istud labor est in oculis meis, “Quand j’ai réfléchi là-dessus pour m’éclairer, la difficulté fut grande à mes yeux” [Segond 1910]); ici, Thomas se montre disciple d’Aristote, faisant apparaître par cette indication de prime abord cryptique un certain sens de l’humour, semble-t-il.

5. Les langues vernaculaires Force est de constater que les sujets parlants des domaines catalan, occitan, français ou italien, en disant que Joseph était un fabre, fevre ou fabbro, pensaient qu’il était forgeron. D’une part le moyen latin laisse cette possibilité et d’autre part ‒ et surtout ‒ dans ces langues le mot latin faber ‘artisan’ a pris le sens de ‘forgeron’.18 De la même façon un Anglais, appelant Jésus ou Joseph un smið (smith), devait nécessairement penser à un forgeron. Au contraire, si un moderne parle de Joseph comme d’un charpentier, ce qui est la règle, il emploie le mot fuster, charpentier, falegname ou carpenter. L’homme du moyen âge aurait fait de même, ce qui nous pousse à faire la contre-épreuve: charpentier est bien dans TL, GdfC, ANDEl, DEAFpré, DMF, FEW, LathamDict CARPENTARIUS, etc., mais jamais en rapport avec Joseph. C’est seulement vers 1384 que nous en trouvons une attestation dans la Bible moyen anglaise de Wycliffe, Mc 6, 3: Wher this not a smyth or carpenter? (notée parmi d’autres attestations de carpenter dans MED 2, 68a); c’est la première pour notre groupe de langues vernaculaires. 19 Cette attestation est en même temps particulièrement parlante, car elle reflète les problèmes évoqués par Thomas d’Aquin, sauf que Wycliffe est plus direct: pour lui, Joseph était un forgeron ou un charpentier. Le doute se 17 Cf. encore Thomas de Aquino, Catena aurea in Matthaeum, éd. Jean Nicolai, 1953, cap. 13, lectio 13, 51 (p. 225, 2) Augustinus in serm. dom. infra oct. epiph. Est autem pater Christi faber Deus, qui totius mundi opera fabricatus est, arcam Noe disposuit, Moysi tabernaculum ordinavit, arcam testamenti instituit. Fabrum dixerim, qui mentem rigidam explanat, ac cogitationes superbas excidit. Hilarius in Matth. Fabri etiam hic erat filius, ferrum ignea vincentis ratione [Hilaire de Poitiers cité supra]. 18 La Bible roumaine emploie teslar m. ‘charpentier’ (Biblia, Bucureşti 1938), de teslă ‘herminette’, mot slave. 19 L’OED C 128c enregistre angl. carpenter, rendant Mc 6,3, seulement dans une Bible de 1611. Cp. infra pour l’italien: probablement 1641.

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présente comme une hésitation des bourgeois de Nazareth à ce sujet. L’évangile de Lindisfarne exprime le même embarras, laissant le choix entre ‘forgeron’ et ‘artisan’: smiðes vel wyrihta (lat. ca. 700, glose aangl. ca. 970, v. infra), c’est-àdire non pas une hésitation entre deux opinions populaires (au XIVe s.), mais entre le savoir populaire ‘forgeron’ et le savoir scientifique ‘faber/wyrihta’. Élégante solution: He wæs smið AND mænigteawa wyrhta, ‘forgeron et artisan 20 universel’ (ms. 3e qu. XIe s., Ps.-Mt/Nativity Mary ). Un autre texte de même source affirme l’un ou l’autre, dépendant du manuscrit: Iosep [...] hadde ywonne wharwiþ And wiþ is werk and wiþ is craft, for he was a *smiþ (Nativity of Mary and Christ 21, ca. 1280), mss. IGBr fin XIVe-fin XVe s. smythe, ms. Ay ca. 1330 wriʒt, ms. S 4e qu. XIVe s. carponter and no smiþ (ce scribe avait-t-il lu Thomas d’Aquin?). Il est audacieux de se prononcer sur l’apparition de l’épithète charpentier en français puisque notre base matérielle est mince, pour le moment elle semble documenter le fait à partir de 1542 seulement: dame Marie, tant belle, tant noble, de lignee royalle, enceincte du filz de Dieu, laquelle ne dedaignoit ministrer et servir son mary Joseph charpentier (Pierre de Changy, Livre de l’institution de la femme chrestienne I, 10, Hu 5, 275a sous MINISTRER, pas sous CHARPENTIER, 2, 209a), puis La mer des histoires, 1543 22, etc. C’est l’époque de la dernière attestation de fevre comme épithète de Joseph; on dirait une course de relais, mais la langue ne fonctionne pas ainsi.

6. La lexicographie La lexicographie historique devrait nous renseigner pour comprendre le jeu. Le fichier du DEAF (et donc aussi le DEAFpré, c’est-à-dire les fiches manuscrites réunies depuis 50 ans, saisies tant bien que mal, grossièrement lemmatisées et triées sémantiquement dans la mesure qu’elles portent les indications nécessaires) contient un grand nombre de fiches de fevre m. ‘forgeron’. Elles 20 Éd. Bruno Assmann, Angelsächsische Homilien und Heiligenleben, [Kassel 1889], 2e éd. par Peter Clemoes, Darmstadt (WBG) 1964, X, x, p. 134, 591, var. smið AND moniʒteawa wurhtæ, ms. 2e m. XIIe s., BosTolSuppl 631a et DOE, Toronto. 21 Oliver S. Pickering (1975): The South English Nativity of Mary and Christ, Heidelberg: Winter, 196. 22 Au colophon La fleur et mer des histoires, Paris, impr. Nicolas Couteau, chez L’Angelier, sec. vol., chap. De la Nativité de Jesuchrist, fueillet a ii r° Joseph [...] car il estoit charpentier. Aussi Henri Estienne, L’introduction au traité de la conformité des merveilles anciennes avec les modernes, Anvers, Wendellin, 1568, 359 Joseph [...] vint à dire, Marie ié te pren du temple [...] & m’en iray pour exercer mon mestier de charpentier. Première att. fournie par Frantext: Pierre Boaistuau, Sommaire de la sixiesme histoire, 1559, p. 214, ensuite Pierre de Bérulle, Discours de l’estat et des grandeurs de Jésus par l’union ineffable de la divinité avec l’humanité, 1623, p. 138.

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renvoient à des attestations dans des textes datables de 1164 à 1613, précisément 141 fiches de littérature primaire (textes), 21 de littérature secondaire (études) et 24 de littérature tertiaire (dictionnaires, dont les ‘philologiques’ peuvent faire figure de littérature secondaire), donnant accès à plusieurs centaines d’attestations en tout. TL 3, 1800 correspond, documentant son sens unique ‘Schmied’ par une douzaine de textes, y inclu RoisL I Sm 13,19 fevres forjanz (aucune citation ne se réfère à Mt ou Mc). Gdf 3, 777c propose une définition complexe: ‘ouvrier en quelque métal, celui qui travaille le fer, forgeron, maréchal, armurier; ouvrier, artisan en general’. Les attestations, allant de ca. 1180 à 1613, couvrent tout, aussi SBernAn1L fil de feyvre (= Jésus) et des attestations où le métier pourrait être un autre puisqu’il n’y a pas de preuve positive, par exemple Le potier hait le potier, Le fevre le charpentier, Le poëte tout ainsi Hait celuy qui l’est aussi, Ronsard 23, ou fevre volant (= Dédale, v. infra), ou encore grand febvre du ciel, Chassignet, Psaumes, 1613 24. Huguet s’est inspiré de Gdf mais classe les attestations sous deux définitions, ‘ouvrier, artisan’ (Hu 4, 91b) et ‘particulièrement, celui qui travaille les métaux’ (92a). Cette disposition est visiblement étymologique. Les attestations documentant le sens général ne sont pas sans aléas: 1. Les medicins [...] promettent ce qui appartient aux medicins, les feuvres traictent ce qui appartient au feuvres (Joachim Du Bellay, Deffence) ‒ pourquoi pas ‘forgeron’? 2. Que n’ont osé les hommes attenter Contre les dieux? cet audacieux feuvre De l’air jadis le vyde osa tenter (Joachim Du Bellay, Recueil de Poesie, Vers liriques) [éd. Chamard 3, 1912, 126, 32; n.5 et 6: Du Bellay vise probablement Dédale, cf. infra]. 3. Comme une perle de bonne eau, Enclose dedans un anneau, Enrichist l’estofe du feuvre (Olivier de Magny, Odes) ‒ appartient au sens de ‘forgeron’, respectivement d’‘orfèvre’. 25

23 Éd. Blanchemain, 1857-1866, t. 2, 105; ici, ‘artisan’ et même mieux ‘charpentier’ est suggéré par la source de l’aphorisme, Platon (“Le potier hait le potier, l’aède hait l’aède, et le pauvre hait le pauvre”, Lysis, éd. Alfred Croiset, Platon, Paris 1921, 2, 145; d’après Hésiode); de même un autre passage chez Ronsard, 6, 412,1, De Palladas (daté de 1560). Quand il te plaist becher, Dimanche, Ton grand nez te sert d’une tranche; Quand vendanger, d’un couteau tors;[...] Aux charpentiers de dolüere, Aux jardiniers de sarcloüere, De besaguë au fevre. Le Lexique de Louis Mellerio, Paris 1895, veut assigner à la premiere att. le sens de ‘artisan, ouvrier’, à la seconde ‘forgeron, serrurier’. 24 Jean Baptiste Chassignet vient de Franche Comté, région qui conserve relativement bien ‘forgeron’. 25 C’est un de ces cas qui documente l’inversion du progrès dans notre discipline: l’ancienne éd. de Favre 1885: 401 définit au glossaire ‘ouvrier en général; ici en particulier, Orfèvre’. La nouvelle

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4. Tu aurois part en la grand’œvre De ce feuvre [Dédale] Que tant industrieux on voit (Buttet, Le Premier livre des Vers, Ode). 5. Dedale fut un excellent fevre d’Athenes [...] lequel inventa l’art de charpenterie (M. de la Porte, Epithetes). Les attestations 1° et 3° sont plutôt à classer avec ‘forgeron’, 2°, 4° et 5° parlent toutes les trois de Dédale: de nouveau on nous offre un sens distinct d’un mot pour un seul emploi, ici encore la profession d’un personnage, cette fois-ci Dédale. Naturellement, une reprise du sens premier de lt. faber est bien possible chez les auteurs du XVIe siècle en général et chez Du Bellay en particulier, spécialement à une époque où fevre est à son déclin. Mais sait-on si les humanistes n’étaient pas au courant des rapports entre Héphaïstos et Daidalos, que celui-ci était réputé d’avoir introduit un nouveau style dans l’art statuaire (bois et métal) et pas seulement d’avoir procuré à Pasiphaé certains plaisirs et de ne pas être tombé du ciel? L’exemple 5° se réfère au charpentier Dédale ‒ a-til charpenté autre chose que la vache en bois pour la reine? Le DMF donne deux rubriques sémantiques, A. ‘artisan, ouvrier’, et B., biparti: ‘En partic.’ 1. ‘artisan qui travaille le fer, forgeron, ferronnier’ et 2. ‘charpentier’. Le groupement d’attestations sous B.1., ‘forgeron’, n’appelle pas de remarque; il y a vingt-cinq citations. 26 A., ‘artisan’, est documenté par deux attestations dont la première se réfère à Mc 6,3: Derechief Jhesuchrist si est appellé fevre, conme il appiert, Marcy sexto capitulo, et ainssi il appiert que Jhesuchrist amet miex labourage que mendycité (1378 SongeVergierS). La seconde, Et fut celle esmeute faite pour une chaine destendue par nuit, envers la boucherie, par ung fevre qui demouroit entre deux murs (av. 1453 MonstreletD) prendrait plus naturellement place sous ‘forgeron’, B.1., où il y a déjà une autre attestation tirée de MonstreletD. B.2., ‘charpentier’, s’appuie sur une seule attestation: Tu [Jésus] est filz de Joseph le fevre Et Marie la rouse ta mere [...] Tu es du lignaige Hely, venant de PassSemD (1e m. XVe s., ms. 1488, vers 5674), texte qui a déjà fourni une attestation du mot, placée à juste titre sous ‘forgeron’ (vers 7095). Une remarque des auteurs de l’article tente de justifier le choix: “Réf. à Matth. 13, 55: ‹Nonne hic est fabri filius?›. Daprès une ancienne tradition, éd. de Rouget 1995 définit ‘ouvrier, artisan’, malgré le glossaire de son devancier, probablement s’inspirant de Hu. 26 L’alinéa charbon de fevre pourrait être défini. Placer l’att. aussi sous CHARBON (dans cet article, charbon de mer et charbon de terre sont à transférer sous la déf. ‘houille’). Frantext peut fournir des compléments: il ot un fevre, en Petrone [son terme est faber], qui faisoit vaissiaus de voirre, 1372, DenFoulB 5, 24 (p. 33, -1), intéressant!; Volcan fu fevre, ca. 1400, Jac. Le Grand, Archil., 159; forge [...] com fevre sus enclume, 1416, Alain Chartier, Quatre dames, p. 268; Est il advenant que la doleure se meuve contre le charpentier, ou le marteau se rebelle a son fevre, 1429, Alain Chartier, Esperance, p. 35; 1465, Jehan Bagnyon; 1470, Pass. Autun.

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Joseph était charpentier”. C’est justement l’ancienne tradition qui nous intéresse. Quant au français moderne, Littré enregistre encore fèvre en définissant ‘ouvrier chargé d’entretenir la chaudière dans les salines’ (Li 2 (1876) 1661b 27). En fait, le terme désigne le forgeron employé à construire à partir de plaques de fer forgé et de rivets et à entretenir les poêles ou chaudières des salines de Franche Comté. Comme ce travail certes spécialisé est ancien 28, on ne voit pas pourquoi le FEW 3, 341b le qualifie de ‘secondaire’ [< Li?], s’agissant plutôt d’une survie du sens régulier dans un milieu spécialisé et, par la force des choses, régional. L’Encyclopédie, dans l’article SALINE DE SALINS écrit en effet Les fevres ou maréchaux chargés de l’entretien des poëles (Enc 14, 560b n.r). 29 Anciennement, fevre n’était pas concurrencé: forgeor, dérivé der forger, est peu attesté (depuis 2e qu. XIIIe s. Artus), son pendant au féminin reste isolé (forgeresse, ca. 1332 PelVieD; 1er qu. XVIe s. JLemaire et 1593 P. Charron, DEAF; DMF; Hu). La désignation moderne, forgeron, fait son apparition seulement dep. 1538 (Frantext). 30 Le FEW 3, 344a soutient que ce dernier est en ‘dure concurrence’ avec mareschal, mais pendant très longtemps (jusqu’au début du XVIIIe s.?) et encore aujourd’hui, le maréchal était un officier de l’étable ou d’une station de relais qui pouvait aussi ferrer ses chevaux. 31 Le regard sur les langues romanes est nécessaire pour une vision plus large et meilleure: L’ancien occitan possède un Nouveau Testament en principe assez fidèlement traduit. Le manuscrit languedocien, 2e m. XIIIe s., se lit Donx no es aquest fil de faure? Donx la mare de lui no es dita Maria? (Mt 13, 55) et No es aisso le fil del faure e de Maria? (Mc 6, 3), corrigeant donc la leçon originale plus 27 Mot marqué de †, = ‘manque dans Ac’, mais le terme est dans AcC 1836 361a: “T. de Salines’. Ouvrier chargé d’entretenir les chaudières. On donnait autrefois ce nom Aux artisans qui se servaient de marteaux, et particulièrement à Ceux qui travaillaient en métaux.” L’étymologie de Li est curieuse: “Lat. faber, ‘charpentier’, qui avait donné à l’ancienne langue fevre, très-usité, et aujourd’hui conservé seulement dans un métier avec un sens particulier.” 28 Il faudrait lire le privilège de Philippe II de Bourgogne de 1357, accordé à la ville de Salins, ms. Salins 112 (P.101) [XVIe s.], où l’on parlerait des fevres. 29 Dans la suite, Enc n’emploie plus que maréchal. L’accueil de termes régionaux ou techniques, sans les marquer comme tels, est une constante dans l’Encyclopédie, cf. MöhrenLand 355-358. 30 CoincyII34L 926 *forjeron, ms. R, déb. XIVe s., TLF 8, 1081b, est une mauvaise lecture de foueron m. ‘celui qui creuse la terre, fossoyeur et sim.’, leçon des autres manuscrits (éd. K; ColletCoincy: “reformulation intéressante”). Aimablement, Mme Natalia Elaguina, Mss. Occ., BNR, Saint-Pétersbourg, confirme la leçon foueron. 31 Attesté depuis ca. 1268 LMestD avec cette fonction secondaire; intéressant: Mahy le Fevre, mareschal, doc. 1330, Abb. de S. Magloire, Frantext, ib. aussi att. de la fonction de tavernieraubergier, dès 1389. Le FEW lui-même ne documente pas le sens de ‘forgeron’, mais seulement ‘artisan qui ferre les chevaux, maréchal-ferrant’ (16, 517b); en conséquence on ne peut pas y classer l’attestation fevres ou maréchaux, Enc. L’impression du FEW vient de l’interprétation d’une carte de l’ALF 596: à cette époque déjà le forgeron survivait essentiellement par sa fonction de maréchal-ferrant.

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conservatrice de Mc, en accord avec Mt. L’édition récente omet faure de son glossaire, autrement assez complet. 32 L’Évangile de l’enfance ancien occitan développe le Evangelium infantiae/Pseudo-Matthaei evangelium mentionné supra: XI Quomodo Jesus adaequavit lignum brevius longiori. Aprés cant ac huech anz Jhesus, E Joseph fez, qu’era capus [‘artisan en bois’], A un gran ric home un liech [...] (ÉvEnfH 2085; ms. mil. XIVe s.). Pour l’espagnol la situation est simple: l’Évangile de Matthieu de l’Escorial I.I.6 [3e qu. XIIIe s.] choisit l’univoque ferrero ‘forgeron’: ¿No es est el fi del ferrero? (Mt 13, 55) et ¿No es est fiio del ferrero e de Maria? (Mc 6, 3). 33 Cat. fabre m. n’a que le sens de ‘forgeron’ (CoromCat 3, 838a). Coromines se montre irrité: “En les VidesR [XIIIe s.] apareix aplicat a un fuster i també a un tallador de pedra o picapedrer. El fuster és Sant Josep, i amb referència a Jesús pregunten els sacerdots [erroné: cite Mt] jueus: ‘e no és aycí [l. ayxi] le fil del fabre? [...] fil del fabra’”. La première occurence est inspirée de Mt, la seconde (question de construction en pierre) est sans doute mal interprétée. 34 On s’étonne de voir que Coromines n’avait pas de souvenir de l’esp. ferrero. TLIO offre le même tableau pour l’italien: fabbro désigne bien le forgeron (attestations 1211 ‒ 2e m. XIVe s.); une attestation de la locution nominale fabbro navale dans une traduction de Tite Live a donné lieu à la définition ‘carpentiere’ (1.1.), ce qui n’est pas faux (mieux serait ‘carpentiere navale’). Une seule attestation tirée de l’Évangile harmonisé (1399) a suscité la définition ‘generic. ‘chi produce manualmente’’ (1.2.), ce qui est douteux puisque le sens de ‘forgeron’ s’y prête bien; à cette attestation on peut ajouter la Bible incunable 1 ott. 1471, Costui non è egli figliuolo del fabbro?, Mt 13, 55, et Non è questo il fabbro, figliuolo di Maria?, Mc 6, 3 35, ensuite figlio del fabro, Mt 13, 55, Juan de 32 Peter Wunderli (2009): Le Nouveau Testament de Lyon, 2 vol., Tübingen/Basel: Francke, 1, 68 et 117 (éd. Harris/Ricketts id.). 33 Thomas Montgomery (1962): El Evangelio de San Mateo, Madrid: Torre, p. 45; id., Nuevo Testamento, Madrid (Aguirre-Gral) 1970, p. 75. La Bible esp. mod. n’y met plus herrero, mais carpintero ‘forgeron’ [mot attesté dep. 1209 (carpentero)]. Aussi port. mod. carpinteiro (Nova Bíblia dos Capuchinhos, Lisboa ‒ Fátima (Diff. Bíblica) 1998). 34 Charlotte S.Maneikis Kniazzeh/Edward J. Neugaard/Joan Coromines (1977): Vides de sants rosselloneses, Barcelona: Dalman, 2, 351, f° 84 v1 en l’Avangeli de Sent Matheu en lo ·xii· capítol, dién: E no és ayxi lo fil del fabre?. Coromines traduit dans une note au texte: ¿ne é aquest el fill del fuster?, d’où au gloss. ‘obrer, home d’ofici, esp. fuster; worker, carpenter’ (à corriger). Quant au passage 2, 221, f° 57 r2, Coromines n’a pas saisi que le Diable vise Jésus [‘en un altre passatge es tracta d’un que feia o obrava un sepulcre’]: on co·ls demonis li promesen victòria dels perscens, lo seu maestre dix a un crestià: Què·t cuydes que fasa lo fil del fabra? E·l crestià li respos: Un sepulcre aparela a·N Julià, l’emperador. Donc pas question de charpentier ni de tailleur de pierres. Pas d’att. biblique dans AlcM. 35 Éd. Carlo Negroni, La Bibbia volgare secondo la rara edizione del I di ottobre MCCCCLXXI, Bologna (Romagnoli) 1885, 9, 81; 208 (TLIO cite cette Bible pour fabro ferrario, Is 44,12). Ce

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Valdés italien (ms. fin XVIe s. 36). Sous 1.2.1. fig. [della poesia] il y a une attestation du Purgatoire de Dante, où il s’agit en fait d’un emploi figuré partant du sens de ‘forgeron’ (fu miglior fabbro del parlar materno, 26, 117 37), et sous 1.2.2. fig. [della creazione divina] avec une attestation florentine d’avant 1334 concernant le dieu chrétien (cf. infra). Battaglia 5,546a donne pour fabbro 1° ‘forgeron’ en relevant des locutions nominales comme fabbro ferraio et fabro ferratore, et il classe sous ce sens aussi fabbro comme épithète de Vulcain. Sous 2°, ‘in senso generico: artigiano, operaio; costruttore’, il réunit peu d’attestations: Cavalca (début XIVe s., où il s’agit pourtant de Mt), 2e qu. XVe s. Burchiello, ca. 1600 Guarini, la Bible de Diodati 1641 fabbro di legname (Mt; p.-ê. inspiré du latin faber et d’un savoir extralinguistique; première attestation certaine de Joseph charpentier en italien), puis milieu XVIIe s., etc. Sous 3° Battaglia réunit quelques emplois figurés (du sens 2°?, translations: ‘Artefice, inventore, maestro, chi escogita, chi architetta (e, per lo più, frodi [...], Anche: autore [...]’), dont Dante cité ci-dessus, et un emploi comme épithète de Dieu, fabro celeste (1570), et de Jupiter, séparés donc de Vulcain, probablement à tort, spécialement en ce qui concerne le chef du ciel romain: De’ fulmini il gran fabbro, tocco da questa face, sopra ’l fulmineo fuoco [...] (Delfino 2e m. XVIIe s.). Un coup d’œil sur la Bible haut-engadinoise est surtout intéressant pour connaître son traitement du mot divin: Jakob Bifrun traduit en 1560 le texte latin (probablement la version d’Érasme de Rotterdam, p.-ê. avec quelque contrôle sur le grec) par artischaun (Mt 13, 55 et Mc 6, 3), ce qui est parfait. La Soncha Scrittüra de 1953 au contraire traduit d’une part par marangun ‘ouvrier en bois’ (Mt: Joseph) et d’autre part par falegnam ‘id.’ (Mc: Jésus, il f., il figl da M.), marquant une perte de qualité notable. 38 Il peut être rafraîchissant de voir ce que font les lexicographes dont les langues traitées ne connaissent pas le problème étymologique et sémantique du texte se base sur l’imprimé de 1 agosto 1471, version de Niccolò Malermi, elle-même s’appuyant sur des versions manuscrites du XIVe siècle. 36 Carlo Ossola/Ana Maria Cavallarin (1985): Juan de Valdés. Lo Evangelio di san Matteo, Roma: Bulzoni, p. 320. Ms. Torino Bibl. naz. R.V.21. Le terme aujourd’hui général, falegname, est rare à date ancienne (une att. XIVe s., TLIO; dep. mil. XVIe s. Battaglia 5, 590b), il apparaît dans le contexte biblique ici invoqué dans la Bible du calviniste Diodati, 1641 (Battaglia 1e m. XVIIIe et déb. XXe s. seulement); carpentiere est attesté au sens de ‘charron’ et ‘menuisier, charpentier (édifices, bateaux)’, mais sans toucher à notre champ d’investigation (Battaglia 2, 794b; TLIO). 37 L’éditrice Anna Maria Chiavacci Leonardi (Milano, Mondadori, 21997) annote de façon contradictoire: “fu miglior artefice (s’intende, di me)[...] piegare nei versi (come un fabbro modella il ferro) la lingua volgare”. Dante s’y réfère à l’art d’Arnaut Daniel; Hermann Gmelin (1955): Kommentar II, Stuttgart: Klett traduit “der beste Schmied”. 38 Theodor Gartner (1913): Das Neue Testament. Erste rätoromanische Übersetzung von Jakob Bifrun 1560, Dresden:Niemeyer. Jachen U. Gaudenz/Rudolf Filli (1953): La Soncha Scrittüra, Samedan: Coll. Eng.

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roman, par exemple l’ancien et moyen anglais. BosTol39 définit smiþ, -es m. ‘a smith, a worker in metals or in wood’. Cette définition est appuyée par quatre attestations: 1° cudo [:] smiþ, fin Xe s. Aelfric, Grammaire. 40 2° smiþ : ferrarius [...]; treówyrhta : lignarius, Aelfric, Colloquium ad pueros linguae latinae. 3° smiþ : faber vel cudo, Wright, Voc. 4° concerne Vulcain, le dieu forgeant. On peut facilement compléter ceci p.ex. par Onions, Sweet’s Anglo-Saxon reader, 141959: XIX (une incantation) B 13 Saet smið, slōh seax lӯtel; XX (Beowulf) 202 worhte wǣpna smið; XXVIII (devinettes) D 14 wrǣtlic weorc smiþa wīre bifongen.

Aucun doute, on ne voit pas où l’on travaillerait avec du bois; Onions définit en effet par le simple ‘smith’. Comme la deuxième citation de BosTol contient treówyrhta (‘artisan [travaillant] en bois’) : lignarius, on est tenté d’y soupçonner une source d’inspiration des lexicographes, mais en lisant ce texte on voit immédiatement qu’il s’agit de gloses, et Bosworth et Toller savaient leur latin. Malgré cette documentation, Holthausen, dans son édition des Vices and virtues 41, traduit Iosepe ðe smiðe par ‘Joseph the carpenter’. L’excellent OED définit smith n. ‘one who works in iron or other metals; esp. a blacksmith or farrier; a forger, hammerman’ (t. 91, Si-St, 278a, de 1919). En tête de ses exemples il précise: “In the early examples referring to Joseph, the word does not mean ‘carpenter’, but is simply used to render Latin faber”. 42 Les exemples comprennent Beowulf, Aelfric Gr. et Vices and virtues (cités supra), et ajoutent Mt 13, 55 d’après le ms. Lindisfarne (lat. ca. 700, complété de la glose interlinéaire aangl. ca. 970): Ah ne ðis is smiðes VEL wyrihta [‘artisan’] sunu? (noter que trois de ses versions variantes omettent wyrihta et maintiennent smiðes) 43, Passion de ca. 1275: he [Jésus] is a smyðes sune, etc. Pour le moyen anglais on doit supposer que smið rend régulièrement lat. faber ‘artisan (forgeant)’, mais aussi bien fr. et agn. fevre ‘forgeron’. Le MED 10, 39 Publié 1882-1898, p. 889b; dans son Supplement, p. 706a: travailleur en métaux. 40 Mlt. cudo m. ‘forgeron’, LathamDict 1, 528a; DC 2, 644c. 41 Ferdinand Holthausen, London (Trübner) 1888-1921 (EETS), 51,4; mangl. ca. 1200. 42 Oui, mais l’aangl. rend lat. faber avec son sens de ‘artisan forgeant’. 43 L’ancienne édition scrupuleuse de Walter W. Skeat (1871): The Gospel According to Saint Mark in Anglo-Saxon and Northumbrian Versions Synoptically Arranged, with Collations Exhibiting all the Readings of all the Mss., Cambridge: Univ. Press, spéc. p. 42-43 (pour Mc 60, 3; etc.), n’imprime pas vel, mais donne l’abréviation ł, qui est à rendre par [vel/oððe]. L’auteur use régulièrement de la double traduction liée par ł (souvent sans qu’on puisse parler de binôme synonymique). Ib. p. 43: Mc 6, 3 ah-ne ðis is smið ł wyrihte sunu maries, smið ł wyrihte étant placé dans l’interligne sous faber; au bas de la même page de l’éd.: version du ms. Bodl. Auct. (Rushworth) début IXe s. smiðes; p. 42a: ms. CCCC 140 IXe s. Hu nys [þys] se smið[,] marian sunu; p. 42b: ms. Bodl. Hatton ca.1200 hu nis þis se smið[,] maria sune.

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37b (de 1988), sous smith n., nous offre trois groupements: A. ‘a blacksmith, an ironworker; a farrier; also fig.; also, a worker in various metals’, B. ‘an artisan, a workman; a carpenter’, C. [collocations où smith a le sens de ‘forgeron’]. A. et C. sont sans problèmes. B. se voit documenté par cinq attestations (38a), 1° Vices and virtues déjà vues dans BosTol et OED, 2° une version mangl. de AncrRiwle (Mt; v. infra), 3° un texte pieux du 2e quart du XIIIe s. cité d’après un manuscrit contenant aussi de l’ancien français (après 1256), 4° et 5°, textes (avant 1382 et avant 1400 ms. ca. 1450) où l’on forge (il paraît douteux que ces derniers groupements soient obligatoires, ils pourraient se classer avec A. ‘forgeron’). La définition ‘a carpenter’, s’appuyant sur 1°-3°, est certainement à supprimer. Il est tout de même étonnant que les auteurs n’aient pas lu l’OED ou n’aient pas traité son point de vue. 44 Le dictionnaire du moyen néerlandais VerVer discute sous SMIT m. ‘forgeron’ (7, 1371, sens 1°) le problème touchant quelques attestations où smit désignerait un ouvrier en bois, mais toujours en rapport avec le latin faber, groupement 2°: attestations tirées de Mt et Mc, donc plus que douteuses. 45 La Bible gotique de Wulfila (ca. 370), traduisant du grec, emploie timra m. ‘celui qui édifie’ (cp. all. Zimmermann): niu þata ist sa timrja, sa sunus Marjins? (Mc 6, 3); timrjans (pl., Mc 12, 10). 46 Le regard outre-rhin nous donne à lire Mt chez Hrabanus Maurus/Raban Maur dans sa traduction élégante du Tatian latin (ancien hautallemand, Fulda ca. 830): Eno nist these uuercmeistares sun? (Mt 13, 55), traduction littérale, uuercmeistar se traduisant par ‘maître-artisan’ (werc ‘œuvre’). 47 Mais nous retrouvons le forgeron en moyen haut-all.: Wie, ist dirre nicht der smit, Marîen sun? (Évangile dit de Matthias von Beheim, prob. Halle 1343, Mc 6, 3); Wie, ist dirre nicht eines smides sun? (Mt 13, 55). 48

44 Pas plus que John R.Clark Hall (41960): A Concise Anglo-Saxon Dictionary, Cambridge: Univ. Press (etc.): smið m. ‘handicraftsman, smith, blacksmith, armourer, carpenter’, avec seulement trois att.: Aelfric, Beowulf et Mt ms. Lindisfarne, déjà vues. Le mot germanique sous-jacent à aangl. smið, angl. smith, anord. smiðr, néerl. smid, all. Schmied, etc., aussi gotique aiza-smiþa ‘celui qui travaille le metal’ (Feist 31b; HolthausenGot 5; KöblerGot 26), désigne à l’origine l’artisan qui travaille les matières dures: il y a également eu une restriction de sens, comme pour faber > fèvre (Pokorny 968), mais il importe de bien distinguer les strates historiques. 45 Un renvoi à l’article TIMMERMAN (8, 360) est sans utilité pour notre problème. 46 Wilhelm Streitberg (72000): Die Gotische Bibel, Heidelberg: Winter, p. 183 et 209. 47 Éd. Eduard Sievers, Tatian, Paderborn (Schöningh) 21892, ch. 78, 3. Le texte de Tatianus, ca. 170, est un Évangile grec fusionné des ‘bonnes’ parties des quatre Évangiles Mc, Mt, Lc et Io pour créer un texte unique et complet (on dirait en style d’édition éclectique). 48 Ce texte traduit en principe la Vulgate [auteur influencé par le fr.?]; éd. Reinhold Bechstein, Des Matthias von Beheim Evangelienbuch in mitteldeutscher Sprache 1343, Leipzig (Weigel) 1867.

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7. Appuis supplémentaires Pour l’ancien français nous avions mentionné que quelques centaines d’occurrences ne fournissent qu’un sens unique, ‘forgeron’. Des recherches ponctuelles peuvent ajouter des attestations qui appuyent notre propos, par exemple la traduction lucide de la Bible de Paris (appelée aussi Bible du XIIIe siècle et Bible de saint Louis): Mc 6, 3 (scène à Nazareth) Dom a cestui toutes cez chosez, et quele est la sapience que il a et teles vertuz que il fet? Dont n’est icestui fevre, filz Marie, frere Jaques [...]? (mil. XIIIe s. BibleParS 2, 115); Mt 13, 55 Dont vient a cestui ceste sapience et cez vertuz? Dont n’est il filz d’un fevre? (BibleParS 2, 43). 49 La BibleAgn (1e m. XIVe s., ms. BN fr. 1) se lit de même un fievere, le filz Marie (Mc 6, 3, f° 339 v°b) et N’est pas cesti le filz le fevere? N’est pas sa miere dyte Marie? (Mt 13, 55, f° 332 v°b). Dans Ancrene Riwle (‘règle des reclus’, agn.), traité de vie monastique destiné à trois jeunes religieuses, datant de la fin du XIIIe siècle, il est justifié le fait étonnant que le Dieu omnipotent puisse s’en remettre à un homme pour agir: deu tut puissant se banduna a un homme, a un fevere, et a une femme [...] com conte le evangelie (AncrRiwleTT p. 186, 17 50). Ce texte existe dans une version en moyen anglais (plus ancienne?: discuté): þe godd almihti beah to (se pencha vers) mon, to marie & to ioseph, to a smið & to a wummon, Dieu s’en remet à un forgeron et à une femme. 51 Dans le compte du moyen français on pourra verser le Livre de bonnes meurs de Jacques Legrand (1410): Jhesucrist [...] nez de tres povre mere et nourri de povre fevre, c’est assavoir de Joseph (p. 337; Frantext). D’autres attestations de fevre sont indirectement éclairantes par le fait qu’un texte présente indubitablement le sens de ‘forgeron’ et donne des attestations se référant au métier de Joseph: la Bible de Paris par exemple ne fournit pas seulement Mc et Mt cités, mais aussi le récit de Tubalcaïn de la Genèse: Tubalchaym qui fu maillieres et fevres de oevres d’arain et de fer (BibleParQ Gn 4, 49 Dans la même BiblePar, Is 44,12-13, ms. BN fr. 398 [ca. 1300] f° 77v°b, nous lisons: Li fevres de fer aouvre de lyme et il forma cele chose es charbons et aus martiaus (Vulg.: faber ferrarius lima operatus est in prunis et in malleis formavit illud, LXX: τέκτων σίδηρον)[...] Et li menestrel de buche qui est apelez charpentiers estendra sa ruille (‘règle’, lecture difficile sur film; ms. BN fr. 7 [fin XIVe s.] f°56r°b fevres de fer [...] menesterel de buche [...] charpentier [0] ruille; Vulg.: artifex lignarius extendit normam, LXX: τέκτων ξύλον ἔστησεν αὐτὸ). 50 Version AncrRiwleCH p. 65,2 dieu tout puissant se humilia a homme, et a un fevre et a une femme, ms. déb. XIVe s. 51 2e qu. XIIIe s.; The English Text of the Ancrene Riwle, Ancrene Wisse, Edited from MS. Corpus Christi College Cambridge 402, par John R.R. Tolkien, Oxford (OUP) 1962 (EETS 249), f° 19b,27, p. 42. Autre ms.: god almihti beih him to one monne, to one smiðe & to ane wummone, éd. Mabel Day, The English Text of the Ancrene Riwle Edited from MS. Nero A.XIX, London (EETS, OUP) 1952, p. 33,37; encore un autre ms.: god Almihti beiȝ to mon, to a smihþ and to wommon, Arne Zettersten/Bernhard Diensberg, The English Text of the Ancrene Riwle. The ‘Vernon’ text, Edited from Oxford, Bodleian Library MS Eng. poet. a. 1, Oxford (OUP) 2000 (EETS 310), p. 29.

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22 52). Dans SBernCantG XIX 192 (4e qu. XIIe s.) avoisinent de même lo fevre et la feme, sans doute Joseph et Marie, et un maître des forgerons: Il (Gerart) astoit legierement maistres as mazons, as fevres, as ahanors, as cortilhiers, as suors et as teisors (XXVI 255). 53 Ne passons pas sous silence quatre attestations qui pourraient suggérer l’existence du sens de ‘artisan (en général)’ pour le mot fevre. Ce sont les locutions nominales fevre forjant, fevre de ferrure, fevres de fer et fievre de metalles, rencontrées d’une part pour rendre I Sm 13, 19 porro faber ferrarius non inveniebatur in omni terra Israhel (LXX: τέκτων σίδηρον): nuls fevres forjanz ne pout estre truvez en la terre Israel (2e m. XIIe s. RoisC) et fevre de ferrure ne y fust trovee en tote la terre de Israel (1e m. XIVe s. BibleAgn AND), d’autre part pour rendre Is 44, 12 faber ferrarius lima operatus est in prunis et in malleis formavit illud (LXX: τέκτων σίδηρον): Le fevres de fer aouvre de lyme et il forma cele chose es charbons et aus martiaus (BiblePar ms. BN fr. 398, ca. 1300, f° 77v°b), et finalement aussi pour traduire S. Jérôme Ep. 53, cap. VI minores artes [...] agricole, cementarii, fabri metallorum, lignorumque cesores, lanarii 54: masouns, fievres de metalles et trenchours de fustz (XIVe s. SJérEp53r f° 2 v°a AND). Ce sont là pourtant des calques du latin qui ne donnaient pas à leurs auteurs et lecteurs ou auditeurs le sentiment d’être en présence d’une tautologie, mais d’une locution nominale où le prédicat précise le sens du sujet (excluant de plus l’orfèvre p.ex.); la conformité littéraire avec le texte biblique latin confirmait la fidélité au mot divin. La variabilité de ces traductions indique qu’il s’agit de créations ad hoc. L’italien connaît le même phénomène: Lo fabro ferraio fece l’opera della lima, e formò quello con carboni e col fuoco e in martelli, Is 44, 12 (classé par TLIO sous 1. ‘artigiano che lavora il ferro’). Même les gloses bavaroises du Tegernsee, série M, ca. 1000, disent isarnsmid (Is 44, 12), bien que smid aurait été suffisant dans ce contexte. 55 Finalement mentionnons que les glossaires latin-français donnent l’équation faber : fevre (GlVatR 2557; etc.) et qu’aucun des dérivés de fevre n’a inspiré les lexicographes à leur attribuer le sens de ‘artisan (en général)’: favresse f., *feverer m., fevrel m. et faverele f. (orfevre m. n’entrant pas en ligne de compte). Également forge f. (< lt. fabrica f. ‘atelier’), forgier v.tr. (< lt. fabricare), favrerie f.,

52 Même verset dans ca. 1198 EvratGenABo 1556 fevre [aj. 2282 fevre]. Dans déb. XIIIe s. BibleDécEN, le métier n’est pas nommé directement: Tubalchain, Cist trova de toz metals engin. 53 Le glossaire assigne à cette attestation le sens de ‘forgeron’, à l’autre, concernant Joseph, celui de ‘artisan’. 54 Épître servant de préface à la Bible; cité: ms. Düsseldorf MS-A-17 [ca. 1450] f° 2 v°b; virgules en accord avec Beriah Botfield (1861): Praefationes, Cantabrigiae: Prelo, et avec le texte agn. 55 Hendrik Davids (2000): Studien zu den substantivischen Bibelglossen des Clm 19440 aus Tegernsee, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, p. 245.

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favergier m. et forgeor m./forgeur m. 56 restent dans le champ onomasiologique de ‘forgeron’ et de ses extensions.

8. Les qualités d’un Jésus ou Joseph forgeron En introduisant un Jésus forgeron et un Joseph forgeron, il faut se demander si cela a des répercussions sur les interprétations reçues des écritures. L’idée de base d’un père artisan reste intacte. Cet artisan n’est pas nécessairement un personnage humble, comme le suggère une perception qui s'amorce dès Léandre et qui se voit renforcée par l’écartement de Joseph de l’Arbre de Jessé par Suger en 1144 57 et qui a été entérinée par saint François ayant déjà fait de lui-même un poverello. 58 Au contraire, nous avons vu que Mt débute avec sa généalogie royale. Il peut être utile de se rappeler que le plus ancien des quatre Évangiles, Mc, ne place pas la généalogie en tête, mais l’annonce de la venue du Christ par Isaie (Mc 1, 2, cite Ex 23, 20, Mal 3, 1 et Is 40, 3). Le récit de Luc commence simplement par les débuts de l’histoire: ‘Plusieurs ayant entrepris de composer un récit des événements qui se sont accomplis parmi nous’, il veut présenter ‘toutes ces choses depuis leur origine’: ‘Du temps d’Hérode, roi de Judée, il y avait [...]’ (Lc 1, 1-5); la généalogie est plutôt cachée entre le baptême du Christ et la scène de Nazareth (Lc 3,23-38). Le dernier texte est construit de façon plus stratégique, mûri par le temps et l’évolution idéologique sans doute. En accord avec la typologie, Jean débute par la Genèse: In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbum (Io 1, 1 59); la généalogie y est écartée logiquement et Joseph est mentionné d’abord à des fins typologiques (invenit Philippus Nathanahel et dicit ei quem scripsit Moses in lege et prophetae invenimus Iesum filium Ioseph a Nazareth, 1, 45), puis comme père: dicebant nonne hic est Iesus filius Ioseph cuius nos novimus patrem et matrem? (6, 42).

56 Compléter Gdf par Frantext, p. ex. Robert Garnier 1585 Dieu forgeur de nos plaisirs (Vulcain?). DEAF sub FORGIER. 57 La Vierge se voit installée entre Abias et Jésus dans l’Arbre de la basilique de Saint Denis et de la cathédrale Notre Dame de Chartres; du coup c’est Marie qui précède Jésus, pas Joseph. Noter que le vitrail de Saint Denis tel qu’on le voit aujourd’hui est dans ses détails une copie de celui de Chartres. L’Arbre est p.-ê. une création de Hugues de Saint Victor. Voir Annik Lavaure (2013): L’image de Joseph au moyen âge, Rennes, p. 99-106 (se référant à M.-L. Thérel et al.). L’emplacement de Marie se justifie par la théologie et par la piété populaire; pour une composante politique en faveur des Capétiens cf. ib. 102. 58 Annik Lavaure (2013): L’image de Joseph, Rennes, p. 113-134. 59 Verbum = Logos, un concept de la philosophie grecque, désignant la raison qui gouverne le monde (logos s’opposant tôt à mythos). Pour les chrétiens, il fait partie de Dieu, il œuvre lors de la Création qu’il précède, il communique lumière et vie, et il révèle Dieu (rendant superflue la preuve de l’existence de Dieu).

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La modification du récit avec le temps suit une certaine logique pour chacun des éléments: chez Mc (ca. 70) Jésus est artisan, chez Mt (ca. 80) cette information est portée sur le père, et chez Lc 4, 22 (ca. 85) et Io (ca. 100) elle est omise: dans Io 8, 58, Jésus se place déjà entre Dieu et Abraham, de sorte qu’une généalogie (par adoption) nuirait au tableau. Ce glissement a été discuté et expliqué par les modernes, allant de réflexions théologiques au constat de la qualité médiocre des scribes (toujours en vogue chez les chercheurs à court de savoir); un exemple: le théologien U. Wilckens annote Mc 6, 3: “Die meisten Handschriften lesen hier zwar: ‘Ist das nicht der Zimmermann?’. Aber das ist wahrscheinlich eine Textänderung späterer Abschreiber, die aus Rücksicht auf die Lehre von der Jungfrauengeburt den Vater Jesu nicht erwähnt sein lassen konnten”. 60 Le contraire est vrai: l’Itala donne la même leçon, Nonne iste faber, filius Mariae61, tout comme les dérivés du texte grec comme la Bible de Wulfila citée. Le plus simple est d’accepter qu’il est dit que Jésus appartient à la maison d’un τέκτων et qu’il est héritier du métier de son père selon les mœurs de son temps. Cette leçon de Mc est en même temps la plus organique pour un texte plus proche d’une douzaine d’années des réalités historiques. Le métier exercé n’est pas sans symbolique. L’artisan, charpentier au plus tard au IIe siècle, s’intègre parfaitement dans le ciel des dieux créateurs: pas seulement dans l’Ancien Testament l’argile sert à la création et l’acte de création y est identifié avec les activités des artisanats: Gn 2, 19 formatis igitur Dominus Deus de humo cunctis animantibus terrae; Gn 2, 22 aedificavit Dominus Deus costam quam tulerat de Adam in mulierem; Gn 1, 7 fecit Deus firmamentum; Gn 1, 16-17 fecitque Deus duo magna luminaria, luminare maius ut praeesset diei et luminare minus ut praeesset nocti et stellas, et posuit eas in firmamento caeli; Is 64, 8 et nunc Domine pater noster es tu nos vero lutum et fictor noster et opera manuum tuarum omnes nos; Ier 18, 6 (Dieu dit au peuple d’Israël) ecce sicut lutum in manu figuli sic vos in manu mea.

Le tout permet le rapprochement du Dieu créateur (à travers le Logos ou Verbe selon Io) de l’artisan Jésus (Mc) et Joseph (Mt). À cet égard, les cosmogonies 60 Das Neue Testament, Hamburg (Furche)/Köln (Benziger)/Zürich (Zwingli) 1970, Mc 6, 3, Er ist doch der Sohn des Zimmermannes und der Maria, texte corrigé introduit carrément dans le texte courant (le commentaire cité est en plus illogique). Luther resta plus près du texte: Jst er nicht der Zimmerman, Marie son? (éd. 1544). 61 Adolf Jülicher/Walter Matzkow (²1972): Das Neue Testament in altlateinischer Überlieferung, 2, Marcus-Evangelium, Berlin: De Gruyter.

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mésopotamiennes, grecques et autres ne s’opposent pas à la Genèse, étant toujours proche de l’artisanat (v. p.ex. PaulyKl 5, 1363-66). La question s’impose alors si le glissement de τέκτων (> τέκτων ξύλον) à faber (> faber ferrarius) pouvait nuire aux interprétations chrétiennes ou, au contraire, leur être profitable et s’accorde avec l’estimation dans SidracLR Au temps Adam le premier art que il fist si fu fevre, le secont charpentier, le tiers fu cousture (3e t. XIIIe s., 393). La création du firmament (Gn 1, 8), où sont fixés les étoiles et le Soleil et la Lune (Gn 1, 16) et la purification du peuple Israël qui se fera comme la purification des métaux en fonte 62 rapproche l’action de Dieu du métier de Tubalcaïn (Gn 4, 22), le forgeron qui est identifié avec la paire Héphaïstos et Dédale 63, et par conséquent avec Vulcain qui forge pour Jupiter les carreaux de la foudre. Par ailleurs, Vulcain ne porte pas seulement son tablier de peau, mais aussi un bonnet rond fait de feutre ou de cuir, parfois à tête légèrement relevée en cône arrondi, le même que celui porté par Joseph. Ce n’est pas un bonnet de nourrisson (comme on pourrait l’interpréter d’après l’iconographie tardive qui peint ce Joseph bénin et paternel, en vogue depuis saint François), mais le pileus/pilleus, couvre-chef des artisans et symbole de la liberté chez les Romains. 64 Dieu et Jésus, voire Joseph, pris pour forgerons paraît dès lors donner même plus de signification que l’identification avec le charpentier. Dieu artisan du ciel, 62 (Dieu) eum ipse enim quasi ignis conflans et quasi herba fullonum et sedebit conflans et emundans argentum et purgabit filios Levi et colabit eos quasi aurum et quasi argentum (sera comme le feu du fondeur, comme la potasse des foulons; il s’assiéra, fondra et purifiera l’argent; il purifiera les fils de Lévi, il les épurera comme on épure l’or et l’argent, Mal 3, 2-3. 63 Qui forge Pandore, ce que sait naturellement Ronsard: Dédale l’air coupe. L’execrable Pandore Fut forgee, 4e livre des Odes, 1550, p. 356, Frantext. Dépendant de l’époque du mythe en évolution, Dédale, représentant mythique de l’artisanat (PaulyWiss 4,2, 1994ss.) crée des statues en bois recouvert d’or et d’ivoire ou est joaillier (ib., 2001), crée des statues mobiles (= qui semblent marcher?, 2002), puis aussi architecte en pierre (2005); Héphaïstos est son pendant, dieu des artisans, etc. (1995). Pour cela, l’attestation de Dédale fèvre, citée dans Hu d’après Buttet, pourrait se classer sous ‘forgeron’. 64 Annik Lavaure (2013): L’image de Joseph au moyen âge, Rennes: Presses Univ., fig. 10, 17, 20, 22, Pl. IX et jaquette (Joseph de la Nativité de N.-D. de Chartres, au Metropolitan, New York; ressemblant fortement par le pileus, les cheveux, la barbe et la moustache au buste de Vulcain, bronze 2e m. IIe s., Louvre Br 39, provenant de Sens); confusion avec le chapeau pointu des Juifs au m. â.., ib. 89. Noter que Vulcain est également réputé d’avoir une humeur douce. Par ailleurs, Héphaïstos porte le pilos correspondant (PaulyKl 4, 852). Le symbole de la liberté a été adopté par les révolutionnaires français à partir de 1790 comme ‘bonnet de la liberté’ mais en le confondant avec le bonnet (ou casque) phrygien qui a une autre forme, un autre emploi et qui est fabriqué autrement: Marianne porte un scrotum de taureau sur la tête, tout comme les Amazones (cf. Gérard Seiterle (1985): Die Urform der Phrygischen Mütze. – In: Antike Welt 16/3, 2-13; rapprochement err. avec le pileus ib. 10a). Libertas porte le pileus dans la main (pas sur la tête, car elle décerne la liberté en remettant le bonnet symbolique): strictement rond; M.Iunius Brutus le porte sur la tête sur son denier; un empereur romain ne porte jamais le casque phrygien (Tonio Hölscher, im Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 95, 1980, 277).

Jésus le forgeron – Analyse de signification et savoir extralinguistique

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de l’aurore et du soleil, est un topos invoqué chez Hilaire de Poitiers, peut-être aussi chez Ambroise et Chromatius Aquileiensis (cités supra) 65, et explicité chez Bède. 66 C’est ainsi que le voit aussi Guillaume de Digulleville en 1332, écrivant: (Dieu) Le fevre de hautain païs Qui forga l’aube et le soleil, Sans tenailles et sans martel (PelVieD 4020) et quelques vers plus loin: des claus dont fu enclöé Le fil au fevre et fort rivé (Jésus; 4040). L’image de Dieu créateur à la forge est présent aussi chez Pierre Boaistuau: […] ce que Jesus Christ a enduré, lequel, combien qu’il eust forgé toute la machine du monde, a esté appellé fils de charpentier (Sommaire de la sixiesme histoire, 1559, p. 214) qui thématise l’opposition entre une connaissance des symboles et une dénomination contradictoire. Également le grand febvre du ciel de Jean Baptiste Chassignet 1613 s’interprétera comme forgeron du ciel. 67 C’est Ernst Robert Curtius qui dédie deux pages denses à la question de Dieu artisan. 68 Le dieu chrétien hérite des qualités du dieu de l’Ancien Testament et aussi de celles du demiurge platonien. Sa qualité de figulus (potier-briquetiertuilier, chez Alain de Lille, ob. 1202, aussi avec réference à Jésus figulus, p. 527 n.1), artifex dans un sens très large (fait même les vêtements pour l’homme, Gn 3, 21) et creator mundi se voit complétée par orfèvre (Alain) et fèvre (Matthieu de Vendôme, ca. 1170 69) etc. (p. 527-528). Cette sublimation des représentations antiques aurait profondément enrichi les conceptions du moyen âge. 70 Partant d’un point de vue anthropologique, Mary W. Helms, Univ. of NCarol., développe particulièrement la détermination du métier de Joseph par le biais 65 Pour le second rapport typologique, celui entre Joseph le père de Jésus (Mt 1-2: rêve, fuite en Égypte) et Joseph le patriarche (Gn 37-50: rêve, exile en Égypte), cf. Jürgen Ebach (2009): Josef und Josef, Stuttgart: Kohlhammer. 66 Beda Venerabilis (ob. 735), In Marci Evangelium expositio, éd. David Hurst, CPL 1355, lib. 2, cap. 6, 530-545 In tantum enim cernebant hominem Iesum Christum ut hunc fabrum et iuxta alium evangelistam [= Mt] fabri clamarent filium [...] Non autem sine certi provisione sacramenti dominus in carne apparens faber et fabri filius aestimari ac dici voluit quin potius etiam per hoc se eius ante saecula filium esse docuit qui fabricator omnium in principio creavit Deus caelum et terram. Nam etsi humana non sunt conparanda divinis, typus tamen integer est quia pater Christi igni operatur et spiritu. Unde et de ipso tamquam de fabri filio praecursor suis ait: ipse vos baptizabit in spiritu sancto et igni. Qui in domo magna huius mundi diversi generis vasa fabricat immo vasa irae sui spiritus igne molliendo in misericordiae vasa commutat. 67 Paraphrases sur les cent cinquante pseaumes de David, Lyon (Morillon) 1613 (Gdf). Chassignet était Franc-Comtois, ce qui nous rappelle les fèvres des salines. 68 Chap. XXI ‘Gott als Bildner’ dans Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München (Francke) 61967 (11948), 527-529. Cf. le Createur, le souverain ouvrier dans ExposYmagesC 108,13 (entre 1323 et 1326). 69 Voir Franco Munari (1982): Mathei Vindocinensis, Opera, 2, Roma: Ed. St. e Lett., 105: Epistole Prol.2, 20 avec notes. 70 Plus tard aussi les théories théocentriques de l’art dans l’Espagne du XVIIe siècle. Pour une justification sociologique de la création artisanale Curtius renvoie à Robert Eisler (1910): Weltenmantel und Himmelszelt, München: Beck.

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des croyances païennes germaniques (prévalentes à l’Ouest européen selon elle 71) et le poids symbolique du forgeron. Ce sont des éléments qui corroborent l’explication du changement linguistique (pourtant délaissé par elle): Recognition of Joseph as a smith, presumably well versed in the mysterious supernatural skills of his creative craft, identifies them [Marie, Jésus et Dieu] in him, too. Indeed, metalworking would seem far more appropriate than woodworking as a metaphor for the first principle alpha and omega of original cosmic creativity and ultimate eternal salvation because of its greater technical mystery [...].72

Il ne faut perdre de vue que le terme grec n’était pas restreint à ‘woodworker’, l’option était plutôt ‘artisan édificateur’. Malgré cela l’Église orientale et l’occidentale moderne ont accepté le concept d’un Joseph menuisier-charpentier. 73

9. L’énigme résolue Nous pouvons maintenant relire Thomas d’Aquin et essayer de comprendre. Le problème insoluble pour Thomas résultait de la contradiction entre d’une part l’opinion de Jean Chrysostome avançant que le métier de la famille de Nazareth serait la charpenterie et d’autre part l’identification du métier avec la forge, identification rendue obligatoire par le topos invoqué du forgeron du ciel et l’identité typologique des deux pères de Jésus. Puis, Thomas savait bien que le mot français fevre et l’italien fabbro avaient le sens de ‘forgeron’ et que l’identité de Joseph forgeron était un acquis dans le monde latin depuis Isidore dont les Etymologiae avaient fait école. Le terme désignant le métier de Joseph et de Jésus dans les Évangiles originaux était τέκτων. Au premier plan, être artisan était une occupation honnête d’un homme libre, le distinguant avantageusement des journaliers, pauvres et esclaves, de la population paysanne et des élites cléricales et administratives à la fois. Au second plan, la désignation d’artisan était acceptable pour une mise en rapport avec le créateur céleste dont les tâches étaient multiples et très concrètes. Dans les Églises orientales, le terme est resté (en grec moderne) ou a été traduit en se servant de mots désignant l’ouvrier en bois (bulg. дърводелец p.ex.). Les 71 Hans-Werner Goetz (2011): Gott und die Welt, I, 1 Das Gottesbild, Berlin: Akad. Verl., reste sceptique quant à une christianisation variable selon les langues ou peuples [235-241]. 72 Joseph the Smith and the salvational transformation of matter in early medieval Europe. ‒ In: Anthropos 101, 2006, 451-471, spéc. 462b. Ses exemples s’échelonnent d’Isidore aux att. mangl. 73 Deux de nos textes cités, Liber de ortu beatae Mariae et L’Évangile de l’enfance ancien occitan, mentionnent que Joseph fabriquait des lits. Cela rappelle Platon: Dieu est le créateur du lit dans son essence, le menuisier créant l’objet, le peintre son image (L’État, l. X, trad. Augustin Bastien, L’État ou la République de Platon, Paris (Garnier) s.d. [1879], p. 396; commun. aimable de Peter Pausch).

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traducteurs anciens du grec au latin ont choisi faber, au sémantisme très proche. Mais le mot latin s’est développé vers la désignation usuelle du forgeron. L’interprétation de la Bible a suivi, comme nous le savons maintenant. Le changement servait la signification anthropologique et sociologique: le forgeron représente mieux encore l’action des dieux, et Jésus et Joseph y gagnent aussi. C’est la raison pour laquelle les identifications documentées n’étaient que naturelles. Le changement linguistique pouvait entrainer le savoir extralinguistique sans grande résistance. La nouvelle perception restait apparemment générale jusqu’à la fin du moyen âge et n’était plus liée au mot faber et à ses descendants romans. Dans l’imaginaire collectif, Joseph est alors un forgeron même si les écoles en discutent (Jésus entrant de moins en moins en ligne de compte, car Mt et plus tard Io l’ont emporté sur Mc). C’est pourquoi l’ancien anglais traduit faber par smið, l’ancien espagnol par ferrero, etc. Parallèlement, la Romanité plus orientale et les Églises orientales prennent Joseph pour un charpentier (d’où le diptyque byzantin conservé à Milan) ou pour un maître-d’œuvre (Wulfila). Maintenant que la voie est ouverte, il faudrait une documentation serrée pour pouvoir juger de la continuité et de la chronologie de l’une et de l’autre perception. Sans cette documentation en main, quelques lexicographes et, avant ou après eux, quelques éditeurs de textes ont pris le chemin inverse: ils se sont fiés à leur savoir extralinguistique moderne pour assigner un sens à un mot ancien, sans le prouver pour autant. Le résultat est moins choquant pour le français, l’occitan, le catalan et l’italien que pour l’anglais ou l’allemand, il est vrai, mais pas plus vrai. Ps lxxiii 16.

Angela Schrott Präsente Schreiber(innen). Nähe und Lebendigkeit in privaten Briefen aus diskurstraditioneller Sicht

1. Private Briefe und ihre Traditionen Briefe sind eine kommunikative Praxis, die es erlaubt, einen Dialog über raumzeitliche Distanzen zu führen. Private Briefe ermöglichen im Idealfall eine dialogische Interaktion unter vertrauten Gesprächspartnern in einem von der Öffentlichkeit getrennten privaten Raum. 1 Eine wichtige Voraussetzung zur Erzeugung von Nähe und Vertrautheit ist, dass es dem Schreiber gelingt, sich im Brief als die vertraute Person darzustellen, der sich der Adressat verbunden fühlt. Der Schreiber steht also vor der Aufgabe, sich im Brief als Individuum zu konstruieren und damit die Gemeinsamkeiten aufzurufen, die ihn mit dem Empfänger des Briefes verbinden. 2 Die Konstruktion der eigenen Person in privaten Briefen ist daher ein grundlegendes kommunikatives Bedürfnis der Schreiber, das mit verschiedenen, unterschiedlich komplexen Diskurstraditionen realisiert wird. Im Zentrum steht damit die Frage, wie Schreiber sich in privaten Briefen Präsenz verschaffen, Nähe und Lebendigkeit erzeugen und sich auf diese Weise im Text als Individuum manifestieren. 3 Die Konstruktion des Schreibers in privaten Briefen wird im Folgenden im Rahmen eines Modells der linguistischen Pragmatik analysiert, das eine univer1 Einen umfassenden Überblick zu Traditionen und Normen des (privaten) Briefes als Dialog mit einem nicht anwesenden Gesprächspartner bieten die Artikel zum Eintrag „Brief“ im Historischen Wörterbuch der Rhetorik. 2 Zum Ideal der Natürlichkeit des Schreibens vgl. Stempel 1998: 241-242 und 2005: 136-138 sowie Gauger 1988: 14-15. Zum Brief als kommunikative Praxis vgl. ferner die Sondernummer Letter Writing des Journal of Historical Pragmatics, Nevalainen/Tanskanen 2004. 3 Vgl. hierzu Stempel/Weber 1974, die der Stereotypie von Formeln und wiederholter Rede in Briefen als Gegenpol die Kreativität und „Selbstartikulation“ der Schreiber entgegensetzen (ebd. 29-31, 34-35 und zusammenfassend 61-62).

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Angela Schrott

selle, eine historisch-einzelsprachliche und eine diskurstraditionelle Perspektive umfasst. Das der Untersuchung zugrundeliegende Textkorpus besteht aus privaten Briefen, die an der Wende vom 18. zum 19. Jh. (1792–1813) von französischen Soldaten in Mainz und deren Familienangehörigen geschrieben wurden (Schlindwein 2003). 4 Als kommunikative Praxis sind private Briefe durch ein ganzes Gefüge von Mustern und Diskurstraditionen bestimmt. Diese überindividuellen Traditionen sind einerseits ein Leitfaden, der das Verfassen eines privaten Briefs erst ermöglicht, sie wirken aber zugleich aufgrund ihrer Normativität als ein die Gestaltungsfreiheit des Schreibers begrenzender Faktor. Bei brieflichen Diskurstraditionen denkt man zumeist an Formeln und Elemente wiederholter Rede, die Briefe einleiten und beenden. Doch neben dieser markanten diskurstraditionellen Durchformung an Anfang und Ende finden sich in Briefen auch Diskurstraditionen, die weit weniger auffällig sind und gewissermaßen mit der Absicht verwendet werden, nicht als bewusst eingesetzte Verfahren wahrgenommen zu werden. Zu diesem Typ gehören Diskurstraditionen, mit denen Schreiber ein authentisch-lebendiges Bild der eigenen Person zeichnen. Es mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, dass der Ausdruck der eigenen Person überindividuellen Traditionen folgt und damit durch Muster geprägt ist. Dieser scheinbare Widerspruch klärt sich jedoch vor der Folie des Konzepts der Diskurstraditionen und des damit verbundenen Modells der drei Ebenen und Perspektiven der linguistischen Pragmatik, das verdeutlicht, dass alles Sprechen und Schreiben kulturellen Traditionalitäten unterliegt. Da das Modell engstens mit dem Coseriu’schen System der Sprachkompetenz verbunden ist, wird diese Verankerung einleitend vorgestellt.

2. Traditionen des Sprechens und linguistische Pragmatik 2.1. Die Traditionen des Sprechens und Schreibens

Eine Kernfrage der linguistischen Pragmatik ist, welchen Traditionen Akteure folgen, wenn sie kommunikative Aufgaben lösen (Fritz 1994: 178). Wenn ich einem Menschen, dem ich viel verdanke, zum 60. Geburtstag gratuliere, wenn ich einen Aufsatz schreibe oder ein Gespräch eröffne, dann sind all das Muster verbaler Interaktion, die durch unterschiedliche Regeln und Traditionen geprägt sind. Eine linguistische Systematik dieser Wissensbestände liefert das 4 Zur historischen Situation in Mainz vgl. Radtke/Schlindwein 1993: 184-185 und Schlindwein 2003: 4-17. Zum Textkorpus und zur Edition der Briefe in Schlindwein 2003 vgl. auch die Rezension von Ernst 2006.

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Nähe und Lebendigkeit in privaten Briefen aus diskurstraditioneller Sicht

von Eugenio Coseriu entworfene Modell der Sprachkompetenz. 5 Ausgangspunkt ist, dass das Sprechen als Tätigkeit nach Coseriu (1988: 70) drei Eigenschaften hat: Es ist eine universelle allgemein-menschliche Tätigkeit, die immer in bestimmten historischen Einzelsprachen und Sprachgemeinschaften erfolgt und stets in konkreten Kommunikationssituationen ausgeübt wird, in denen der Sprecher als Individuum agiert. Diese drei Eigenschaften sind die Basis für das Coseriu’sche Drei-Ebenen-Modell, das hier in einer leicht modifizierten Fassung wiedergegeben wird: Ebene

Gesichtspunkt Tätigkeit (energeia)

Wissen (dynamis)

Produkt (ergon)

universell

Sprechen im allgemeinen

allgemein-universelle Regeln des Sprechens

---

historischeinzelsprachlich

Einzelsprache

einzelsprachliche Traditionen

---

individuell

Diskurs

Diskurstraditionen

Text

Abbildung 1: Regeln und Traditionen des Sprechens nach Coseriu 1988

Die drei Eigenschaften des Sprechens konstituieren drei Ebenen der Betrachtung: die universelle Ebene, die historisch-einzelsprachliche Ebene und die individuelle Ebene der Diskurse und Texte. Dabei meint der Begriff des Individuellen in diesem Modell, dass das Sprechen immer von Individuen in konkreten Situationen vollzogen wird und dass die Sprecher bzw. Schreiber immer als Personen in der kommunikativen Verantwortung für ihre Äußerungen stehen. Zusätzlich wird das Sprechen unter drei Gesichtspunkten betrachtet (Coseriu 1988: 70-71): als Tätigkeit (energeia), als Wissen (dynamis), auf das die Sprecher zurückgreifen, und als Produkt des Sprechens (ergon). Im Folgenden liegt der Fokus auf den Regeln und Traditionen des Sprechens und damit auf dem Gesichtspunkt des Wissens (dynamis). Die drei Ebenen strukturieren drei unterschiedliche Wissenstypen (Coseriu 1988: 95-96, 121-125). Der universellen Ebene sind die allgemein-universellen Regeln und Prinzipien des Sprechens 5 Zur ursprünglichen Fassung des Modells vgl. Coseriu 1988: 70, 95-96, 121-125. Zur Diskussion des Modells in der romanistischen Forschung vgl. Schlieben-Lange 1983: 138-140, Koch 1997: 45-47 und 2008: 53-65, Lebsanft 2005: 30-32, 2006: 535-537 und i. Dr., Kabatek 2007: 336-339 und 2011: 91-93, Wilhelm 2001: 467-470 und 2011: 125-130 sowie Schrott 2012: 108-109 und 2014: 7-11.

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zugeordnet, die übereinzelsprachliche Gültigkeit haben. Die historisch-einzelsprachliche Ebene beinhaltet die einzelsprachlichen Traditionen als das sprachliche Wissen, das die Beherrschung konkreter Sprachen wie Deutsch oder Französisch ermöglicht. Den dritten Wissensbestand bilden die Diskurstraditionen. Sie fungieren als Leitfaden, wenn die Sprecher diejenigen sprachlichen Mittel auswählen, mit denen sie eine bestimmte kommunikative Aufgabe, wie z.B. das Verfassen eines Briefs, angemessen und erfolgreich bewältigen können. Im Fall der französischen Privatbriefe sind die Diskurstraditionen maßgeblich für die Auswahl von Strukturen und Wendungen des Französischen sowie für das Arrangement dieser Elemente zu einem Text. 6 Diskurstraditionen des Briefschreibens, die etwa bestimmen, dass ein Brief mit einer Anrede und einer Wohlergehensfrage beginnt und mit einer Grußformel endet, sind nicht Teil der französischen Sprache, sondern gehören zum kulturellen Wissen der Sprecher, das Muster und Traditionen für das Sprechen (und Schreiben) liefert. Als kulturelles Wissen unterliegen die Diskurstraditionen historischen Veränderungen. Diese historische Variabilität verbindet sie mit den einzelsprachlichen Traditionen und unterscheidet sie von den unveränderlichen allgemein-universellen Regeln. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung von Universalität und Historizität wird deutlich, dass das Sprechen und Schreiben immer in zwei Traditionalitäten steht: in der einzelsprachlichen Traditionalität des Sprechens und in der kulturellen Traditionalität der Diskurstraditionen. Für eine Sprachwissenschaft, die sich als Kulturwissenschaft und damit auch immer als historisch denkende Disziplin versteht, sind die beiden historischen Perspektiven entscheidend: zum einen die historisch-einzelsprachliche Perspektive, die untersucht, wie sich sprachliche Formen und ihre Funktionen verändern, zum anderen die historisch-diskurstraditionelle Perspektive, die Diskurstraditionen und deren Wandel analysiert. 2.2. Ebenen und Perspektiven der linguistischen Pragmatik

Das Coseriu’sche System geht vom Sprechen als Tätigkeit aus und steht damit der Perspektive der linguistischen Pragmatik sehr nahe, die das Funktionieren sprachlicher Strukturen in konkreten Kommunikationssituationen betrachtet und das Sprechen als Bewältigung kommunikativer Aufgaben ansieht. Diese konzeptionelle Nähe erlaubt es, das Coseriu’sche System zu einem Drei-

6 Zur Diskussion um den Status der Diskurstraditionen vgl. Coseriu 1988: 89-90, Koch 1997: 45 und 2008: 53, Oesterreicher 1997: 23-24, Lebsanft 2005: 30-31, 2006: 536-538 und i. Dr. sowie Wilhelm 2011: 126-128 und Schrott 2014: 9-11, 29-32.

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Nähe und Lebendigkeit in privaten Briefen aus diskurstraditioneller Sicht

Ebenen-Modell der linguistischen Pragmatik umzudeuten, das drei Felder und Perspektiven differenziert: 7 (1) Ebenen

universelle Ebene

historisch-einzelsprachliche Ebene

individuelle Ebene der Texte

(2) Regeln und Traditionen

allgemein-universelle Regeln des Sprechens

einzelsprachliche Traditionen

Diskurstraditionen

(3) Felder der Pragmatik

universelle Pragmatik

einzelsprachliche Pragmatik

diskurstraditionelle Pragmatik

(4) Perspektiven der Pragmatik

universelle Perspektive

einzelsprachliche Perspektive

diskurstraditionelle Perspektive

Abbildung 2: Felder und Perspektiven der linguistischen Pragmatik

Ausgangspunkt sind die Ebenen des Sprechens (1) und die mit ihnen korrespondierenden Regeln und Traditionen (2), die die Grundlage für drei Felder (3) der Pragmalinguistik bilden, denen drei Perspektiven entsprechen (4). Die auf der universellen Ebene verorteten allgemeinen Regeln und Prinzipien des Sprechens stehen im Fokus der universellen Pragmatik, die sprachliches Handeln in einer universellen Perspektive betrachtet und allgemeingültige Prinzipien aufdecken will. Auf der historisch-einzelsprachlichen Ebene dagegen stehen sprachliche Strukturen und ihre Funktionen im Mittelpunkt. Die einzelsprachliche Pragmatik konzentriert sich folglich auf die semantisch-pragmatischen Profile sprachlicher Mittel in den historischen Einzelsprachen. Die individuelle Ebene der Texte dagegen fokussiert die Diskurstraditionen als kulturelles Wissen. Dieser Akzentsetzung entspricht die diskurstraditionelle Pragmatik. Da es in den Textanalysen um die diskurstraditionelle Gestaltung der privaten Briefe geht, wird dieser Wissensbestand im Folgenden vertieft beschrieben. 8 2.3. Diskurstraditionen und Kriterien ihrer Beschreibung

Diskurstraditionen umfassen trotz ihrer analytisch klaren Definition als kulturelles, sprachbezogenes Wissen ein äußerst breites Spektrum. So zählt etwa 7 Zu den Ebenen und Perspektiven der linguistischen Pragmatik vgl. Schrott 2012: 108-109 und 2014: 7-11. 8 Zu den in den Briefen repräsentierten einzelsprachlichen Traditionen des Französischen vgl. Radtke/Schlindwein 1993 und Schlindwein 2003.

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Koch (1997: 45) Textsorten, Gattungen, Stile, rhetorische Genera, Gesprächsformen und Sprechakte zum Bereich diskurstraditionellen Wissens. Aus diesem Grund bilden Diskurstraditionen ein fuzzy concept, das es ermöglicht, sämtliche kulturellen Techniken des Sprechens und Schreibens von der einfachen Grußformel über den Privatbrief bis zur literarischen Gattung als Elemente eines Wissenstyps zu erkennen. Eine grundlegende Eigenschaft der Diskurstraditionen ist daher, dass sie alle Formen der Sprechtätigkeit erfassen. Aus dieser Omnipräsenz der Diskurstraditionen folgt, dass auch wenig geregelte Kommunikationsformen, wie etwa Gespräche unter Freunden, lockere Plaudereien oder eben Privatbriefe an vertraute, dem Schreiber eng verbundene Personen, einer diskurstraditionellen Formung unterliegen. Der oft als paradoxe Aufforderung kritisierte Spruch „Sei spontan!“ enthält mehr als nur ein Körnchen Wahrheit, denn auch spontane Lebendigkeit im Gespräch und die Konstruktion eines entsprechendes Selbstbildes folgen zu einem nicht geringen Teil kulturellen Mustern und damit Diskurstraditionen. Diskurstraditionen lassen sich als Traditionstyp durch verschiedene Kriterien von Kulturalität beschreiben (vgl. Schrott i. Dr.). 9 So können Diskurstraditionen danach unterschieden werden, ob sie als kulturelles Wissen auf eine definitorische Setzung zurückgehen oder nicht. Definitorisch gesetzte Diskurstraditionen werden explizit gelehrt und gelernt und sind den Sprechern als Normen gegenwärtig. Besonders markante definitorisch gesetzte Diskurstraditionen finden sich z.B. in literarischen Textgattungen, wissenschaftlichen Textsorten und Rechtstexten. Nicht definitorisch gesetzte Diskurstraditionen dagegen entwickeln sich im sprachlichen Alltag ohne explizite Regulierung und werden als Teil der kommunikativen Kompetenz mit der Sprache erworben. Beispiele hierfür sind Routinen wie höfliche Bitten oder Gesprächseröffnungen. Ein zweites Charakteristikum ist der Grad der kulturellen Spezifizierung, der Auswirkungen auf die Gruppe der Akteure hat, die eine Diskurstradition ausübt. So werden stark spezifizierte Diskurstraditionen meist nur von einer kleinen Gruppe praktiziert, wogegen in geringem Grad spezifizierte Diskurstraditionen von vielen Akteuren beherrscht werden und in einem breiten Spektrum von Kommunikationssituationen zum Einsatz kommen. Ein drittes Kriterium der Kulturalität ergibt sich aus dem Faktum, dass Diskurstraditionen entweder 9 Weitere Dimensionen der Beschreibung von Diskurstraditionen, die in diesem Beitrag ausgeklammert werden, sind deren Textualität und Kooperativität (vgl. Schrott i. Dr.). Hinsichtlich der Textualität haben Diskurstraditionen Anteil an der Bedeutungsbildung im Text, sie formen textinterne Strukturen und betten einen Text in externe Umfelder ein. Ferner sind Diskurstraditionen als Anleitungen zum angemessenen Sprechen eng mit dem Grice’schen Kooperationsprinzip verbunden und können durch unterschiedliche Grade an Kooperativität charakterisiert werden: Je enger eine Diskurstradition dem Kooperationsprinzip und seinen Maximen folgt, desto höher ist der Grad an Kooperativität.

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autonom für sich funktionieren oder aber in eine Gattung bzw. Textsorte als größeres Ganzes integriert sind und an deren Gestaltung mitwirken. In dieser Perspektive konstituieren sich Gattungen, indem sich Diskurstraditionen zu einer festen Kombination verbinden und in ihrer Gesamtheit dann eine Textsorte oder Gattung bilden. 10 Im Unterschied zu einer Diskurstradition, die etwa eine literarische Gattung mitprägt, stehen kommunikative Routinen wie höfliche Bitten oder Begrüßungen als Diskurstraditionen ‚für sich‘ und sind kein Bestandteil von Textsorten oder Gattungen. 2.4. Private Briefe und ihre Schreiber

Für die hier analysierten Briefe ist charakteristisch, dass die Verfasser – Soldaten und ihre Familien und Freunde – nicht aus eigenem Impetus schreiben, sondern durch äußere Umstände zum Schreiben veranlasst werden. Politische Spannungen und Krieg erzwingen andauernde räumliche Trennungen, so dass Briefe die einzige Möglichkeit sind, die sozialen Bindungen zu bewahren. Dieser äußere Zwang bewirkt, dass Menschen mit ganz unterschiedlicher Schreibkompetenz zur Feder greifen. Das Coseriu’sche Modell der Sprachkompetenz und seine drei Wissenstypen – universelle Regeln, einzelsprachliche Traditionen und Diskurstraditionen – erlaubt hier eine differenzierte Betrachtung dieser Schreibkompetenzen. So kann nach Coseriu (1988: 88-89) ein Text nach den drei Kriterien von Kongruenz, Korrektheit und Angemessenheit beurteilt werden. Dabei ist die Kongruenz auf die universelle Ebene bezogen und meint die Einhaltung universeller Regeln und Prinzipien. Die Korrektheit dagegen ist als Urteil auf der historisch-einzelsprachlichen Ebene verankert und betrifft die Einhaltung der einzelsprachlichen Traditionen. Die Angemessenheit schließlich ist das Beurteilungskriterium für das Sprechen in konkreten Kommunikationssituationen: Der Sprecher (oder Schreiber) wählt aus seinem Repertoire diejenigen Diskurstraditionen aus, die der Situation und der kommunikativen Aufgabe entsprechen. Die Erfüllung des Kriteriums der Angemessenheit setzt daher voraus, dass der Schreiber über Optionen verfügt. Ein Briefschreiber mit geringer Schreibkompetenz hat wenige oder keine Wahlmöglichkeiten und kann daher einen Brief nur begrenzt der Kommunikationssituation und seiner eigenen kommunikativen Intention anpassen. Dagegen beherrscht ein guter Briefschreiber ein fein abgestuftes Repertoire von Mustern und Formeln, aus dem er die in einem Kontext passenden Diskurstraditionen selegiert. Sprecher, 10 Vgl. hierzu Stempel 1972: 176, der Gattungen als komplexe Verbindungen kompositer Elemente zu einer „historisch-normhaften Kompatibilitätsfigur“ definiert. Zur Relation von Diskurstradition und Gattungen vgl. auch Kabatek 2011: 99.

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die die Diskurstraditionen des Privatbriefs souverän beherrschen, können diesen Traditionen nicht nur folgen, sondern sie auch gekonnt abwandeln, um dem Text ein persönliches Gepräge zu geben. Ein wichtiger Faktor im Kontext privater Schriftlichkeit ist die Kalibrierung des Textes zwischen Nähe- und Distanzsprache. Ungeübte Schreiber sind hier neben der graphischen Kodierung vor allem durch die mit dem Medienwechsel einhergehenden veränderten kommunikativen Strategien gefordert, die über das von Koch/Oesterreicher (1985, 2011) etablierte Kontinuum von Nähe und Distanz paradigmatisch erfasst werden. Dabei schlagen sich Defizite in der Schreibkompetenz zum einen darin nieder, dass ein Schreiber Nähesprache und Distanzsprache nicht sicher genug differenzieren kann und nähesprachliche Elemente ungewollt in den schriftlichen Text übergehen. Ungeübte Schreiber sind gezwungen, auf nähesprachliche Traditionen zu rekurrieren, die in den Text einfließen, ohne als Stilelemente intendiert zu sein (Oesterreicher 1996: 324-325). Zum anderen findet sich jedoch auch das Phänomen, dass Sprecher sich der Gefahr eines zu nähesprachlichen Schreibens bewusst sind und gegensteuern, indem sie gezielt distanzsprachliche Verfahren einsetzen, die allerdings nicht immer rundum souverän beherrscht werden. Im privaten Brief besteht zudem das Risiko, dass die der Schriftlichkeit geschuldete distanzsprachliche Anreicherung dem eigentlichen Zweck des Textes widerspricht. Denn private Briefe sind als schriftliche Fortsetzung eines Gesprächs konzipiert und bedürfen damit einer nähesprachlichen Prägung. Dies impliziert, dass ein kompetenter Briefschreiber die Schriftlichkeit des Briefes nicht mit distanzsprachlichen Diskurstraditionen gleichsetzt, sondern vielmehr Diskurstraditionen auswählt, die innerhalb der Schriftlichkeit Nähe assoziieren. Finden sich daher in privaten Briefen mündlich-nähesprachliche Elemente und Verfahren, dann sind diese nicht in jedem Fall dem Schreiber unabsichtlich entglitten, vielmehr werden sie in vielen Fällen absichtsvoll als nähesprachliche Diskurstraditionen eingesetzt, um Unmittelbarkeit und Lebendigkeit zu erzeugen. Diese gezielte Neuschöpfung ähnelt literarischen Verfahren der Fingierung von Mündlichkeit. Simulationen von Mündlichkeit charakterisieren daher nicht allein literarische Texte, 11 sondern auch Textsorten der pragmatischen Schriftlichkeit wie eben Briefe, in denen es darauf ankommt, Lebendigkeit und Spontaneität zu vermitteln. Im Folgenden werden zwei Diskurstraditionen vorgestellt, die Schreibern (und Schreiberinnen) im Brief Präsenz verleihen: die Fokussierung des Schreibakts und die Inszenierung des Schreibers in Kontexten, die Vertrautheit und Lebendigkeit vermitteln. 11 Zu simultativen Verfahren der Erzeugung von Mündlichkeit und Lebendigkeit in der Literatur vgl. Stempel 1998: 241-242, 253.

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3. Präsenz und Lebendigkeit im Brief – zwei Fallbeispiele 3.1. Die Fokussierung des Schreibakts

Ein Mittel, mit dem ein Schreiber sich in einem privaten Brief als Urheber des Textes profilieren kann, ist die Hervorhebung des Schreibaktes, wie sie einleitende Formeln der salutatio bieten. Eine solche Formel belegt Beispiel (1): (1) Mon Cher pere et Cher maire. Cest avec un grand plaisir que je mais LamainLaplume pour mainformer deLetat devotre Santé allegard de La mienne Est tres BonnepourLepresont je desire que LavotreEnSoit deméme, nous sommes dons un pehie [...]. (Schlindwein 2003, Nr. 54 H A-B; Nicolas Merselain an seine Eltern, 13.10.1798)

Die Eingangsformel belegt eine in mehrfacher Weise limitierte Schreibkompetenz. Neben einer sprachlichen Inkorrektheit – es muss „je mets la main à la plume“ heißen – fällt vor allem auf, dass die Formel dem schlicht-informativen Grundton des Briefes nicht entspricht. Sie ist damit ein typischer Beleg für einen geringen Grad an Sprachkultiviertheit, der es dem Sprecher mangels Optionen nicht erlaubt, eine angemessenere Formel auszuwählen. 12 Dennoch ist die Aktualisierung der Formel im konkreten Schreibkontext insofern geglückt, als die Formel dem Inhalt des Briefes nicht widerspricht und damit kongruent ist. Das ist bei ungeübten Schreibern nicht selbstverständlich, wie Briefe belegen, in denen ein Schreiber in der salutatio sein Wohlergehen versichert, unmittelbar im Anschluss jedoch Krankheiten oder Unglücksfälle schildert (vgl. Stempel/Weber 1974: 41-42). Obwohl der Briefeingang aufgrund seiner ausgeprägten Formelhaftigkeit jegliche individuelle Abtönung ausblendet, erlaubt es die formelhafte salutatio dem ungeübten Schreiber, den horror vacui des Anfangs zu überwinden und den Brief routiniert zu eröffnen. Vor allem jedoch fungiert die Formel als Thematisierung des Schreibens und betont den Schreibakt, der gerade für den ungeübten Schreiber (und seinen Leser) kein sprachlicher Alltag ist. Diesen Wert hat die Formel nicht per se, sie bekommt ihn erst im soziokulturellen Kontext des ungeübten Schreibers. Die Formel „Je mets la main à la plume [...]“ ist daher trotz der angesprochenen Defizite geeignet, die Person des Schreibers zu fokussieren: Der Schreiber benennt explizit seinen Schreibakt und verschafft sich so Präsenz im Text. Die

12 Vgl. hierzu auch die Beispiele zur Stereotypie der Eingangsformel bei Stempel/Weber 1974: 3839.

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Formel fungiert als schriftliches Lebenszeichen und hat im wahrsten Sinne des Wortes ‚vitalen‘ Wert. Die Betonung des Schreibaktes findet sich im Textkorpus noch in einer weiteren, elaborierteren Variante, die Bezug auf den Topos der Schreibbitte nimmt: (2) [...] ecris-moi souvent ecris -moi lettres Sur lettres, s’il y avoit quelque chose d’alarmant. que Si je suis un jour sans recevoir une Lettre, ce Silence m’annonce un mieux certain [...]. (Schlindwein 2003 Nr. 64 H A-C; D. Sarabit an seinen Bruder, 19.12. 1813)

Zahlreiche Briefe dokumentieren, dass ein Schreiber, der schon längere Zeit ohne einen Brief des Adressaten ist, nachdrücklich um baldige Nachricht bittet: Die brieflose Zeit erscheint als Periode der Ungewissheit und der Sorge, wogegen Briefe als Lebenszeichen Beruhigung und Zuversicht geben. Diese traditionelle Briefbitte wird in Beispiel (2) umgekehrt: Der Adressat – es handelt sich um den Bruder des Verfassers – soll immer dann schreiben, wenn etwas Beunruhigendes passiert, so dass es im Umkehrschluss ein gutes Zeichen ist, keinen Brief zu erhalten. Die beiden Beispiele belegen, dass die Thematisierung des Schreibakts in Briefen von sehr unterschiedlicher Komplexität sein kann. So fokussiert der Schreiber in Beispiel (1) den Schreibakt mittels einer Formel. Diese Formel wird zwar sprachlich nicht völlig korrekt wiedergegeben, doch wird sie ihrer Funktion als Eröffnungsformel gemäß angemessen zu Beginn des Briefes eingesetzt. Obwohl die Formel keine individuelle Variation oder persönliche Einfärbung erlaubt, verleiht sie dem Schreiber durch die Explizitheit des Schreibakts Präsenz. Beispiel (2) dagegen belegt, wie ein Schreiber die Routine der Schreibbitte abwandelt. Schreiber und Adressat kennen den Topos dieser Bitte um eine baldige Nachricht und können die Variation als individuelle Abwandlung des Topos schätzen. Während der Schreiber in (1) die Diskurstradition der salutatio lediglich als Formel abrufen und anwenden kann, belegt der Briefausschnitt (2) eine größere Souveränität, da hier die Diskurstradition der Briefbitte so gut beherrscht wird, dass sie vor der Folie des bekannten Musters abgewandelt werden kann. 3.2. Die Inszenierung des Schreibers in Kontexten der Vertrautheit und Lebendigkeit

Eine zweite Strategie, der eigenen Person im Brief Präsenz zu verleihen, besteht darin, dass der Schreiber Situationen schildert, die dem Adressaten Vertrautheit und Lebendigkeit vermitteln. Der Schreiber selbst ist an diesen Szenen in aller

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Regel als Akteur maßgeblich beteiligt. Ein einfaches Mittel für die Schreiber, um die Vertrautheit mit dem Adressaten aufzurufen, ist die Thematisierung gemeinsamer Wissenskontexte oder Erfahrungen: (3) Je desirerois savoir si l’affaire avec Auguste va mieux et sila personne de la rue Taranne a...&c... Je vous prie s’il vous plait deme mettre sur la réponse unoui ou un non seulement [...]. (Schlindwein 2003, Nr. 16 H A-B; J. Gautier an seine Eltern, 09.01.1799)

Die Indirektheit dieser Formulierung, die auf das beiden Briefpartnern bekannte Ereignis lediglich anspielt und keine Namen nennt, ist sicherlich auch durch die Praxis der Briefzensur motiviert und durch das Bestreben, die Vertraulichkeit zu wahren, falls der Brief in falsche Hände gerät. Dennoch hat die sich in Andeutungen ergehende Passage auch den Effekt zu akzentuieren, dass Schreiber und Adressat Geheimnisse und intimes Wissen teilen: Bildhaft gesprochen, stecken Schreiber und Adressat in diesem Brief über die Distanz hinweg die Köpfe zusammen und tauschen gleichsam mit gesenkter Stimme vertrauliche Informationen aus. Ein komplexeres Mittel zur Erzeugung von Lebendigkeit ist es, in Briefen mündlich-nähesprachliche Interaktionen wiederzugeben und auf diese Weise Lebendigkeit und Spontaneität in den Brief einzuspeisen. Eine solche Technik beinhaltet das folgende Beispiel, in dem ein Soldat seiner Mutter eine für die Franzosen siegreiche Begegnung mit den Preußen schildert: (4) tout les jour nous somme attaqué par des patrouille ennemis mais il ne sont pas assez allertte il nous appelle les lapin bleus de gustine [...] nous y avons été cinquante homme de notre regiment et cinquante chasseur a cheval le tout semontoit a cent-homme eh! bien nous les avons repouse nous leur avons pris un magazin de farine d’avoine [...] et tué plusieur prussien. (Schlindwein 2003, Nr. 01 H A-C; Charles Reusse an seine Mutter, 30.12.1792)

Die Art und Weise, wie der Schreiber ein eigenes, für ihn außergewöhnliches Erlebnis thematisiert, evoziert einen Erzähler, der in Gesellschaft eine Geschichte erzählt und diese dabei als performed story bewusst strukturiert und sprachlich gestaltet. Der Ausruf „Eh! Bien“ markiert dabei den Höhepunkt und die glückliche Wendung der Geschichte. Die hier angewandte Technik besteht also darin, Diskurstraditionen mündlichen Erzählens im Brief nachzubilden und auf diese Weise den Briefschreiber als mündlichen Erzähler zu konstruieren. In den zwei folgenden Briefausschnitten, die Ehefrauen an ihre abwesenden Ehemänner schreiben, findet dieses Verfahren der Erzeugung von Lebendigkeit

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eine noch komplexere Anwendung. Die erste Schreiberin inszeniert eine Familienfeier mit den Repliken der Kinder dialogisch für den Ehemann: (5) ce Sont tes enfans qui ont cueillis les fleurs que tu as reçues; c’est pour mon cher petit papa. à dit notre auguste, les deux autresqui suivaient, ont dit aussi: pour papa. – hier Xavier nous a apporté ungâteau de sa noce, ton fils qui était présent, n’pas oublié de dire, et pour papa, il en faut aussi pour lui „ce matin aleur reveil on leur a donné à chacun, un petit morceau. Gustave l’a trouvé si bon, qu’il a dit plus d’une fois encore merci“ [...]. (Schlindwein 2003, Nr. 60 H A-D; Eugénie Testot Ferry an ihren Ehemann, 07.04.1813)

Die Verfasserin liefert keine diegetische Erzählung, sondern eine mimetische Darstellung der dialogischen Interaktion mit wörtlichen Zitaten der Kinder. Ausgewählt werden Äußerungen, die die Zuneigung zum Vater und die gute Entwicklung der Kinder dokumentieren. Auf diese Weise leistet der Text eine szenische Aktualisierung des für den Vater fernen Familienlebens, so dass der den Brief lesende Ehemann und Vater gleichsam zum Augenzeugen der geschilderten Ereignisse wird. Diese Inszenierung stellt die Kinder in den Mittelpunkt, die Schreiberin selbst steht in der geschilderten Szene im Hintergrund. Dennoch entsteht in der Schilderung über die Kinder das Bild einer fürsorglichen Ehefrau und Mutter, so dass die Inszenierung über die Kinder auch der Schreiberin Präsenz verleiht. Auch im folgenden Brief inszeniert sich die Schreiberin in einem Brief an ihren Ehemann, wählt dabei jedoch andere Diskurstraditionen und auch ein anderes Rollenbild: (6) Ah comme je Serois heureusSe Si je pouvois dans 2 Semaines quiter Mayence [...] Quel tems affreus, quelle pluie continuelle – il semb [?] que les élemens pleure avec ta fille – ta pauvre file [...] ah! ce pauvre couer te cherche partout [...] Souviens toi de ce trois chosSes que tu m’a promis le Soir avont ton depart cruel Ah si tu me voiois à l’instant noiée des larmes, tu me le jurés de nouveau [...]. (Schlindwein 2003, Nr. 59 H A-C; Christione Bolluet Dextourelles an ihren Ehemann, 22.11.1806)

Die Schreiberin entwirft von sich das Bild einer Frau, die die Abwesenheit des geliebten Ehemannes als überaus schmerzhaft empfindet und von starken Affekten bewegt ist. Diese emotionale Betroffenheit findet ihren Ausdruck in zahlreichen Interjektionen und in der Selbstdarstellung als weinende und unglückliche Frau, deren seelische Verfasstheit ihr Äquivalent in der Natur und dem heftigen Regen findet. Besonders auffällig ist die mehrfach verwendete Interjektion „Ah!“, die als Mittel der Steigerung dreimal eingesetzt wird.

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Die Lektüre dieses Briefes ruft inhaltlich und formal literarische Muster und Topoi auf. So setzt die Schreiberin ihren Gemütszustand in Analogie zum Wirken der Natur und aktualisiert dabei den zeitgenössischen romantischempfindsamen Topos der Natur als Spiegel der Seele. Die Verwendung der Interjektion „Ah!“ ist kein spontan beim Schreiben niedergeschriebener Ausruf, sondern wird gezielt im Dreischritt eingesetzt, um die Exklamationen und Klagen klimaktisch zu strukturieren. Verortet man den Brief in literarischen Diskurstraditionen, dann steht der Text zum einen in der langen Tradition der Klagerede, in der sich Frauen an den (abwesenden) Geliebten oder Ehemann wenden. Zum anderen orientiert sich der klagende Duktus des Briefes stark an der zeitgenössischen empfindsamen Literatur und dem Bild, das diese Texte von schmerzerfüllt klagenden Frauen entwerfen. Als einen exemplarischen Text für diesen Duktus zitiere ich einen Ausschnitt aus Denis Diderots Jacques le fataliste et son maître, der in Frankreich 1796 publiziert wurde. Der Textausschnitt stammt aus der im Roman erzählten Episode einer weiblichen Rache. Die vom Marquis des Arcis verlassene Madame de la Pommeraye rächt sich, indem sie den Marquis dazu bringt, eine vermeintlich vollkommen tugendhafte Frau zu heiraten, die in Wahrheit eine höchst zweifelhafte Vergangenheit hat. Als die Wahrheit ans Licht kommt, bittet die junge Ehefrau den ihr frisch angetrauten Marquis um Verzeihung: (7) Marquez-moi le recoin obscur de votre maison où vous permettrez que j’habite; j’y resterai sans murmure. Ah! si je pouvais m’arracher le nom et le titre qu’on m’a fait usurper et mourir après, à l’instant vous seriez satisfait! Je me suis laissée conduire par faiblesse, par séduction, par autorité, par menaces, à une action infame, mais ne croyez pas, Monsieur, que je sois méchante: je ne le suis pas […]. Ah! si vous pouviez lire au fond de mon cœur, et voir combien mes fautes passées sont loin de moi. […] Ah! s’il m’eût été libre de vous voir, il n’y avait qu’un mot à dire, et je crois que j’en aurais eu le courage. (Denis Diderot: Jacques le fataliste et son maitre. – Paris 1973: Gallimard Droz, hier S. 194)

Auch wenn die Situation der fiktionalen Figur in Diderots Roman natürlich nicht mit derjenigen der Briefschreiberin von (6) identisch ist, haben beide Texte gemeinsam, dass sich emotional bewegte Frauen an eine ihnen vertraute Person – den Ehemann – wenden. Auffällig ist in Brief und Roman die völlig analoge Verwendung der Interjektion „Ah!“, die im Romanausschnitt ebenfalls mit Exklamationen kombiniert und wiederholt wird. Diese Textstruktur imitiert ein von Affekten bewegtes Sprechen und verfolgt das Ziel, im fiktionalen Text eine von Emotionskundgaben durchwirkte Rede mimetisch zu repräsentieren. Die rekurrente Kombination der konventionalisierten Interjektion

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„Ah!“ mit Exklamationen ist ein Textmuster mit Wiedererkennungswert, das als Diskurstradition die Gestaltung affektgeladener Figurenrede in der Literatur anleitet. Das Faktum, dass diese Diskurstradition sich in identischer Weise im Roman und im privaten Brief (6) findet, belegt nicht nur, dass die Schreiberin über literarische Lektüreerfahrungen verfügt, die sie in ihre Briefe einfließen lassen kann. Die Verwendung im Brief beweist darüber hinaus, dass dieses Muster der affektvollen Rede von den Lesern (und natürlich den Leserinnen) als eine Tradition erkannt wird, die sie für ihre eigene Schreibpraxis übernehmen. Betrachtet man die Beispiele (4), (5) und (6) als Reihe, dann haben alle drei gemeinsam, dass sie gezielt Diskurstraditionen der Verlebendigung verwenden. So wird in Beispiel (4) ein Ausruf eingesetzt, um mündliches Erzählen zu evozieren, und in Beispiel (5) wird die Familienszene nicht allein wiedergegeben, sondern auch bewusst dialogisch gestaltet. Dennoch besteht ein grundlegender Unterschied zwischen (4) und (5) einerseits und (6) andererseits. Denn während der Schreiber in (4) seine Geschichte vor der Niederschrift vermutlich schon mündlich zum Besten gegeben hat und in Beispiel (5) die Äußerungen der Kinder wörtlich so gefallen sein können, hat die Schreiberin in Text (6) ihre Ausrufe nicht in dieser Form produziert. Vielmehr setzt sie die konventionalisierte Interjektion gezielt als Signal für affektiven Aufruhr und Schmerz ein, um den Brieftext emotional anzureichern. Ein weiterer Unterschied der drei Texte besteht darin, dass die drei Schreiber auf unterschiedlich komplexe Diskurstraditionen zurückgreifen. Die geringste Komplexität ist in (4) gegeben, da der Schreiber lediglich eine Technik mündlichen Erzählens nachahmt. Die Inszenierung des Familienlebens in (5) besteht in Auswahl und Arrangement geeigneter Zitate aus dem Gespräch, erfordert also bereits größeres gestalterisches Geschick. In Beispiel (6) dagegen hat die Konstruktion des Selbstbilds der Schreiberin den höchsten Komplexitätsgrad, denn die Schreiberin formt hier ihr eigenes Bild nach literarischen Mustern.

4. Kulturalität und Komplexität – Diskurstraditionen im Vergleich Wie die Beispiele zeigen, nutzen Briefschreiber neben Fokussierungen des Schreibakts vor allem Diskurstraditionen verlebendigender Mündlichkeit, um private Briefe als Gespräch unter Vertrauten zu gestalten und sich als Person im Text zu konstruieren. Die Präsenz nähesprachlicher Elemente in privater Schriftlichkeit geht also nicht in jedem Fall auf ein ungewolltes Eindringen authentischer Mündlichkeit in schriftliche Texte zurück. Vielmehr werden in vielen Fällen Verfahren der Mündlichkeit gezielt genutzt, um den Kommunikationsraum eines nähesprachlichen Alltagsgesprächs zu erzeugen und dem

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Schreiber – oder der Schreiberin – im Brief Präsenz zu verleihen. Die auf diese Weise in den Briefen erzeugte kommunikative Nähe ist ein allgemein-universelles Bedürfnis, während die kulturelle Einkleidung dieses Grundbedürfnisses ein historisches Phänomen ist, das durch die Diskurstraditionen modelliert wird. Die Beispielinterpretationen zeigen, dass diese Diskurstraditionen von stark unterschiedlicher Komplexität sind und auch hinsichtlich der drei Kriterien der Kulturalität – definitorische Setzung vs. freie Entwicklung, Grad der Spezifizierung, Autonomie vs. Integration in eine Textsorte – ein differenziertes Profil aufweisen. Grundsätzlich sind die beiden hier vorgestellten Fokussierungen des Schreibakts in Beispiel (1) und (2) weniger komplex als die Nähe und Lebendigkeit vermittelnden Inszenierungen der Schreiber. Dabei ist die in (1) vorgestellte Formel der salutatio eine definitorisch gesetzte Formel, die vom Schreiber explizit erlernt wird und nicht Teil seines sprachlichen Alltags ist. Von ihrer Struktur her weist die Formel eine geringe Spezifizierung auf, sie ist einfach strukturiert und deshalb auch nicht für individuelle Variationen zugänglich. Als feste Wendung der salutatio ist die Formel Teil des Briefes als kommunikative Praxis und Textsorte; sie steht damit als Diskurstradition nicht für sich, sondern ist in ein größeres Ganzes eingebettet. Die in (2) variierte Briefbitte ist in ihrer ursprünglichen Form als Bitte um baldige Nachricht im sprachlichen Alltag verankert und damit keine definitorische Setzung, die einem Briefschreiber explizit vermittelt werden müsste. Auch die in (2) dokumentierte innovative Variante ist nicht definitorisch gesetzt, sondern eine individuelle Abwandlung durch den Schreiber. Doch während die traditionelle Briefbitte als kulturelle Technik wenig spezifiziert ist und von sehr vielen Schreibern – zumindest in vergleichbaren Situationen – verwendet werden dürfte, ist die in (2) belegte Variante eine Innovation, die hochgradig spezifisch ist und möglicherweise nur von dem hier zitierten Schreiber verwendet wird. Als Diskurstradition ist die Briefbitte eng an den Brief als kommunikative Praxis gebunden und in diesem Sinne in die Gattung integriert. Versteht man die Briefbitte allerdings allgemeiner als Bitte um Nachricht, dann ist sie nicht mehr an den Brief gebunden und entspricht einem im sprachlichen Alltag frequenten, für sich stehenden Sprechakt des Bittens. Die Textbeispiele der zweiten Gruppe decken ebenfalls ein breites Spektrum der diskurstraditionellen Kulturalität ab. Die Evokation von Vertrautheit und Nähe durch Andeutungen und Aussparungen in Beispiel (3) ist ein im Alltag erworbenes Verfahren und benötigt keine definitorische Setzung. Auch ist diese Diskurstradition wenig spezifisch und kann in sehr unterschiedlichen Bereichen und Kontexten zur Anwendung kommen. Was die Einbettung in eine

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Gattung oder Textsorte angeht, so sind Andeutungen und Aussparungen zwar in Gattungen und Diskurstypen arkanen Sprechens häufig, doch sind sie nicht an bestimmte Textsorten gebunden und stehen als Traditionen des Sprechens ‚für sich‘. Die in Beispiel (4) wiedergegebene mündliche performed story ist eine narrative Technik, die als Teil der kommunikativen Kompetenz von den Sprechern erworben und mehr oder weniger elaboriert beherrscht wird, doch wird sie nicht explizit gelehrt und gelernt, so dass keine definitorische Setzung vorliegt. Da das Erzählen eine grundlegende, oft sogar als universell betrachtete Technik darstellt, ist diese Diskurstradition sehr gering spezifiziert. Die mündliche Erzählung hat zwar Affinität zu bestimmten Diskurskonstellationen, wie z.B. zu von kommunikativen Pflichten entlasteten Gesprächen, bei denen Geschichten zum Besten gegeben werden, doch ist keine Einbindung in eine bestimmte Textsorte gegeben. Auch das Erzählen an sich ist für so viele (schriftlich oder mündlich realisierte) Textsorten und Gattungen typisch, dass es als Tradition des Sprechens gleichsam ‚quer‘ zu diesen Typisierungen steht und daher nicht in eine bestimmte Gattung oder Textsorte integriert ist. Während der Schreiber in Beispiel (4) nur die eigene Person als Erzähler auftreten lässt, inszeniert die Schreiberin in (5) eine komplexe nähesprachliche Interaktion, an der mehrere Personen beteiligt sind. Die Wiedergabe dieses Gesprächs basiert auf Formen der Redewiedergabe und der Narration, die ebenfalls im mündlichen Erzählen üblich sind. Diese Techniken werden nicht explizit als Normen gelehrt, sondern vielmehr implizit im sprachlichen Alltag erworben, bauen also auch in dieser Verwendung nicht auf einer definitorischen Setzung auf. Der Grad der Spezifizierung bei der Wiedergabe und Inszenierung eines Gesprächs ist abhängig von der Elaboriertheit, mit der es wiedergegeben wird. Da die Schreiberin durch eine geschickte Auswahl von Zitaten in direkter Rede eine lebendige und intime Familienszene gestaltet, hat ihre Gesprächswiedergabe einen vergleichsweise hohen Grad an Spezifizierung und dürfte in dieser Weise nur von wenigen Schreibern beherrscht werden. Analog zu (4) gilt, dass Wiedergaben von Gesprächen zwar eine Affinität zu bestimmten Textsorten und Gattungen haben, sich aber in einem breiten Spektrum von Texttypen finden. Auch die Technik der Gesprächswiedergabe verläuft daher gleichsam ‚quer‘ zu vielen Textsorten und Gattungen und ist kein integraler Bestandteil einer bestimmten Gattung. Das letzte Beispiel (6) schließlich zeigt, wie eine literarische Diskurstradition Eingang in einen privaten Brief findet. Die Schreiberin greift auf ein literarisches Muster der Affektdarstellung zurück, das in der Literatur der Empfindsamkeit und der Romantik zu verorten ist und vor allem in Romanen frequent auftritt. Auch wenn dieses Muster keine rhetorische Norm ist, die gelehrt und

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gelernt wird wie eine salutatio-Formel, stellt es doch eine Tradition des Schreibens dar, die an eine literarische Norm und konkrete Gattungen gebunden ist. Dies spricht für eine Einordnung der Diskurstradition der affektiven Bewegtheit als definitorisch gesetzte Norm. Da diese Technik in Syntax, Wortwahl und Textstruktur stark festgelegt ist (Interjektionen, Exklamationen, Rekurrenz und klimaktische Struktur), kann sie zudem als hochgradig spezifiziert charakterisiert werden. Wie der Textausschnitt aus Diderots Jacques le fataliste et son maître belegt, ist die Diskurstradition der affektiven Bewegtheit Bestandteil einer literarischen Gattung und gehört einer ganzen Konfiguration von Techniken an, die in ihrer Gesamtheit diese Gattung ausmachen. Betrachtet man das Phänomen, dass literarische Muster in einem privaten Brief verwendet werden, im kommunikativen Gefüge der Traditionen des Sprechens, dann erschließt sich das Bild einer ursprünglich literarischen Diskurstradition der affektiven Bewegtheit, die über das Diskursuniversum der Literatur hinausgehend in Bereiche alltagssprachlicher Schriftlichkeit vordringt. Diese Ausbreitung dokumentiert damit sowohl eine Popularisierung der literarischen Diskurstradition als auch eine Literarisierung alltagssprachlichen Schreibens und illustriert zugleich einen Übergang von Texten und Traditionen zwischen den Diskursuniversen von Literatur und Alltag.

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Nähe und Lebendigkeit in privaten Briefen aus diskurstraditioneller Sicht

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Schrott, Angela (i. Dr.): Kategorien diskurstraditionellen Wissens als Grundlage einer kulturbezogenen Sprachwissenschaft. In: Franz Lebsanft, Angela Schrott (Hg.): Diskurse, Texte, Traditionen. Modelle und Fachkulturen in der Diskussion. Bonn: Vandenhoeck & Ruprecht/Bonn University Press. Stempel, Wolf Dieter (1972): Gibt es Textsorten? – In: Elisabeth Gülich, Wolfgang Raible (Hg.): Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht, 175-179. Frankfurt am Main: Athenäum. Stempel, Wolf-Dieter/Weber, Klaus (1974): Stereotypie und Selbstartikulation. Bemerkungen zur restringierten Schriftpraxis anhand französischer Briefe. – In: Romanistisches Jahrbuch 25, 27-62. Stempel, Wolf-Dieter (1998): Zur Frage der Repräsentation gesprochener Sprache in der altfranzösischen Literatur. – In: Andreas Kablitz, Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation, 235-254. Freiburg im Breisgau: Rombach. Stempel, Wolf-Dieter (2005): ‚Natürliches‘ Schreiben – Randbemerkungen zu einer stilistischen Konjunktur im 16. Jahrhundert. – In: Daniel Jacob, Thomas Krefeld, Wulf Oesterreicher (Hg.): Sprache, Bewusstsein, Stil. Theoretische und historische Perspektiven, 135-154. Tübingen: Narr. Ueding, Gert (Hg.) (1992): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. I. A-Bib. – Tübingen: Niemeyer. Wilhelm, Raymund (2001): Diskurstraditionen. – In: Martin Haspelmath, Ekkehard König, Wulf Oesterreicher, Wolfgang Raible (Hg.): Sprachtypologie und Sprachliche Universalien. Ein internationales Handbuch. Berlin/New York: de Gruyter, Bd. I, 467–477. Wilhelm, Raymund (2011): Die Scientific Community – Sprachgemeinschaft oder Diskursgemeinschaft? Zur Konzeption des Wissenschaftssprache bei Brunetto Latini und Jean d’Antioche. – In: Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer et al. (Hg.): Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen. Romanistisches Kolloquium XXIV, 121153. Tübingen: Narr.

V. Sprach- und Kommunikationsgeschichte aus literaturwissenschaftlicher Sicht

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Douce France – Frankreichs heimliche Nationalhymne und ihre Wurzeln

Die französische Nationalhymne ist bekanntlich das Lied, das die Soldaten aus Marseille bei ihrem Einzug in Paris während der Französischen Revolution gesungen haben, bevor es am 14. Juli 1795 unter dem Titel La Marsaillaise zur offiziellen Hymne Frankreichs erklärt wird. Geht man davon aus, dass Nationalhymnen ein hohes emotionales Identifikationspotential bieten müssen, um das kollektive Empfinden einer Nation einzufangen, dann weist die Marseillaise eine ganze Reihe von Nachteilen auf: Das 1792 von Claude Joseph Rouget de Lisle komponierte Lied war ursprünglich ein Kriegslied für die französische Rheinarmee nach der Kriegserklärung an Österreich. Mit dem blutrünstigen Text und seinen Formeln wie: „Marchons, marchons / Qu’un sang impur / Abreuve nos sillons!“ ist sowohl in Zeiten politisch-militärischer Niederlagen während des Zweiten Weltkriegs als auch in einem vereinigten Europa der Zeit nach 1945 nur wenig anzufangen. Das Lied hat zudem den Schönheitsfehler, dass man ihm immer unterstellt hat, seine Melodie sei ausgerechnet von einem Deutschen, einem Organisten aus Meersburg namens Holtzmann komponiert worden. Die Marsaillaise erlitt daher das Schicksal, dass ihr zu bestimmten Zeiten immer wieder andere Lieder zur Seite gestellt wurden, die ganz offenbar in der jeweiligen historischen Phase ein höheres Einfühlungspotential aufzuweisen hatten. Während des Vichy-Régimes von 1940–1945 trat oft das Lied Maréchal, nous voilà an die Stelle der Marseillaise als sozusagen ‚inoffizielle‘ Nationalhymne. Aus der Zeit des Vichy-Régimes stammt jedoch noch ein weiteres Lied, welches ganz offenbar über alle Epochen historischer Widrigkeiten hinweg bis heute ein ungebrochenes Identifikationspotential für die Franzosen hat: Douce France von Charles Trenet. Dieses aus dem Jahre 1943 stammende Lied wird bis heute im Original sowie in immer neuen Varianten vorgetragen, sogar in einer italienischen Version der zeitweiligen französischen First Lady Carla Bruni.

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Es ist auffällig, dass Proteste gegen die französischen gesellschaftlichen und politischen Zustände sich häufig des Liedes von Charles Trenet bedienen. Ein jüngeres Beispiel der Zeitschrift L’Express vom 18. März 2009 zeigt das Bild einer Demonstration anlässlich des Generalstreiks vom 29. Januar 2009, der eine Frau mit einem blau-weiß-roten Transparent mit der Aufschrift: „Douce France – Pays de mes souffrances“ vorangeht. Besonders auffällig ist die Tatsache, dass die politischen Proteste gegen die französischen Verhältnisse aus der Ecke der „beurs“, der in Frankreich geborenen Kinder maghrebinischer Einwanderer, sich immer wieder auf Trenets Lied Douce France beziehen. Anlässlich eines Protestmarsches gegen den Rassismus von Marseille nach Paris im Jahre 1983, der sogenannten „marche des beurs“, hat der aus Algerien stammende Rai-Musiker Rachid Taha mit seiner Gruppe Carte de séjour bezeichnenderweise nicht auf die französische Nationalhymne zurückgegriffen. Seine Neuvertonung des Liedes von Trenet, welches im Stile eines modernen, auf Elemente der Rockmusik zurückgreifenden arabischen Rai vorgetragen wird, hat einen Sturm der Entrüstung bis hin zu Radioverboten ausgelöst, da diese Variante des mittlerweile zum „patrimoine culturel“ gehörenden Liedes in Frankreich als Sakrileg empfunden wurde. Der maghrebinische Filmemacher Malik Chibane hat mit seinem Film Douce France 1995 nachgezogen, nachdem er sich bereits drei Jahre zuvor cineastisch mit Hexagone in spektakulärer Form mit der Lage der Bevölkerung maghrebinischen Ursprungs in Paris auseinandergesetzt hatte. Am Beispiel des Topos der „Douce France“, der auch für zahlreiche heimatverbundene Fernsehserien, Filme und Internetauftritte steht, wird – so hat man den Eindruck – um das Frankreich gerungen, wie es die jeweiligen Gruppierungen haben wollen. Das Lied von Trenet – dies ist die erste These dieses Beitrags – scheint aufgrund seines besonderen emotionalen Identifikationspotentials so etwas wie die heimliche Nationalhymne der Franzosen zu sein. Der Topos der „Douce France“ kann dabei auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken, die insbesondere in der Lyrik der Renaissance prominent besetzt ist. Diesem Thema ist bislang niemand systematisch nachgegangen. Man kann behaupten, dass das Lied von Trenet und damit die heimliche Nationalhymne Frankreichs durch die Lyrik der Renaissance ganz wesentlich seine Vorformung, sein „shaping“ bzw. „fashioning“ wie es der Vertreter des „New Historicism“ in seiner Arbeit über die Epoche, Stephen Greenblatt, formulieren würde, 1 erhalten hat. Mit Marcus Keller, der in seinem Buch Figurations of France der literarisch-imaginären Erbauung der französischen Nation in der späten Renaissance nachgeht, könnte man von einer Präfiguration der in Trenets Lied

1 Greenblatt 2005: 1.

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besungenen imaginären Gemeinschaft („imaginary community“) 2 in dieser Epoche sprechen. Diese Vorformung lässt sich ganz wesentlich auf einige Gedichte Joachim Du Bellays zurückführen. Dazu muss man jedoch zunächst einen Blick auf Trenets Lied werfen. Charles Trenet, 1913 in Narbonne geboren, startet in den dreißiger Jahren eine bis in die jüngste Gegenwart andauernde Karriere als Filmschauspieler, Romancier und Chansonnier, bevor er 2001 im Alter von 87 Jahren in Paris verstirbt. Die seit dem Beginn des 20. Jh. modische Jazzmusik macht er sich zunutze, um seine zentralen Themen wie die Entdeckung der Natur und die Verbreitung der Lebensfreude musikalisch zu inszenieren. 3 Er schreibt eine große Zahl bekannter Chansons, die sich gegen die von ihm als „philosophie du malheur“ bezeichneten Anschauungen des Existentialismus richten, darunter die bekannten Lieder Y’a d’la joie und La Mer sowie eben auch 1943 Douce France. 4 Dieses Lied trägt er im selben Jahr in dem seit 1880 existierenden Berliner Traditionstheater Wintergarten in Anwesenheit Adolf Hitlers vor, 5 was ihm in der Nachkriegszeit während der „Épuration légale“ von seinen Gegnern als Kollaboration ausgelegt worden ist. Ein genauer Blick auf das Lied zeigt jedoch, dass man dessen Vortrag in diesem Rahmen auch als Akt eines besonderen Patriotismus sehen kann, eine Position, die spätere Freunde des Sängers den Gegnern vorgehalten haben. Die Feier zum achtzigsten Geburtstag Trenets in der Opéra-Bastille im Jahre 1993 im Beisein des französischen Präsidenten François Mitterand sowie des Abbé Pierre gerät jedenfalls zu einer regelrechten „fête nationale“. 1

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Il revient à ma mémoire Des souvenirs familiers Je revois ma blouse noire Lorsque j’étais écolier Sur le chemin de l’école Je chantais à pleine voix Des romances sans paroles Vieilles chansons d’autrefois Douce France Cher pays de mon enfance

2 Keller 2001: 1 und 3f. Der Begriff geht auf Benedict Andersons Konzept der Nation als einer „Imagined Community“ zurück (Anderson 2010). 3 Trenets immer wieder neu bekundetes Lebensmotto, welches er in den beiden letzten Versen seines Chanson Amour...Amour...! von 1937 formuliert, lautet: „[...] la vie n’est pas méchante, ce quelle veut c’est refleurir [...]“ 4 Die Musik zu diesem Lied wurde von Léo Chauliac komponiert. 5 Bei diesem Konzert hat u.a. Édith Piaf das Lied De l’autre côté de la nuit vorgetragen. Zur Bedeutung des Chansons in der Zeit der Okkupation vgl. Mathis 2001: 293-312.

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Bercée de tendre insouciance Je t’ai gardée dans mon cœur! Mon village au clocher aux maisons sages Où les enfants de mon âge Ont partagé mon bonheur Oui je t’aime Je te donne ce poème Oui je t’aime Dans la joie ou la douleur Douce France Cher pays de mon enfance Bercée de tendre insouciance Je t’ai gardée dans mon cœur J’ai connu des paysages Et des soleils merveilleux Au cours de lointains voyages Tout là-bas sous d’autres cieux Mais combien je leur préfère Mon ciel bleu mon horizon Ma grande route et ma rivière Ma prairie et ma maison Douce France Cher pays de mon enfance Bercée de tendre insouciance Je t’ai gardée dans mon cœur! Mon village au clocher aux maisons sages Où les enfants de mon âge Ont partagé mon bonheur Oui je t’aime Je te donne ce poème Oui je t’aime Dans la joie ou la douleur Douce France Cher pays de mon enfance Bercée de tendre insouciance Je t’ai gardée dans mon cœur. 6

Das auf den ersten Blick scheinbar belanglose Chanson beschreibt, wie sehr der Sprecher seine kindlichen Erinnerungen an die Heimat im Herzen aufbewahrt hat. Gewählt wird von Beginn an die Perspektive eines Schülers und damit die einer Betrachtung der Dinge im Stil einer „candeur“ bzw. „simplicité“, die auch die Perspektive der wieder aufblühenden italienischen Lyrik des 20. Jh. seit 6 In: Saka 2001: 144f.

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Giovanni Pascoli ist. Der Sprecher erinnert sich konkret an die Schuluniform, die Gesänge alter Lieder auf dem Schulweg, die seinerzeitige Unbekümmertheit des Lebens, die Eindrücke von der Kirche und den sittsamen Häusern in einer ländlichen Idylle, die durchaus dem heimatlichen Lebensraum Trenets bei Narbonne entsprechen könnte. Dieser Lebensraum der lieblichen Wiesen, des vertrauten Flusses, des Elternhauses, des Schulwegs wird, so heißt es in der zweiten Strophe, den sonnigen Gefilden ferner Länder vorgezogen. Trenets luftige und leichte musikalische Liebeserklärung an die Heimat, die sogar die Hochzeitsformel bemüht: „[...] je t’aime dans la joie ou la douleur [...]“ (Z. 41f.), fordert gleichwohl zu einer Kommentierung heraus. Fünf Punkte sind besonders auffällig, zum ersten der Topos der „Douce France“. Das Chanson ist während der deutschen Besatzung Frankreichs geschrieben worden. Frankreichs Dritte Republik, nach der preußischen Einnahme von Paris 1870 ins Leben gerufen, liegt seit dem Einmarsch der Hitlerschen Truppen im Jahr 1940 am Boden. Und so ist es kein Wunder, dass der Chansonnier zum Ausdruck seiner patriotischen Gefühle nicht auf die republikanische Marseillaise zurückgreift, 7 sondern auf einen Topos, der ursprünglich mit dem ländlichen vorrevolutionären Frankreich verbunden ist. Was liegt näher als auf jene „Douce France“, jene durch Königsherrschaft und Standesgesellschaft statuarische „France rurale“ zu rekurrieren, wo doch der bekannten Aussage Talleyrands zufolge niemand die Süße des Lebens wirklich kennt, der nicht vor der Revolution gelebt hat: „Qui n’a pas vécu avant la Révolution ne connaît pas la douceur de vivre.“ 8 In einem solchen ländlichen Umfeld, wo die Kirche sprichwörtlich noch im Dorf belassen ist, bedarf zweitens die Vorstellung von der „tendre insouciance“ einer Erklärung, da die „insouciance“ nicht gerade eine positiv besetzte Kategorie ist. Gemäß christlich-katholischer Anschauung ist die „Sorglosigkeit“ zunächst eher ein Zeichen eines Abfalls vom Glauben. Das Thema der „cura sui“, des „souci de soi“, taucht nach dem Zusammenbruch des mittelalterlichen ordo-Denkens in der Renaissance auf. Im Rückgriff auf die unterschiedlichsten Modelle der „cura sui“ aus der Antike wird die „insouciance“ vor allem zum Signum des Stoikers, der sich aus einer „tranquillitas animi“ heraus zur Bewahrung seiner Ataraxie das aktive Engagement am öffentlichen Leben aber auch in religiösen Dingen versagt. Diese ganz und gar unchristliche Vorstellung wird allerdings in der Verbindung mit der Kindheit wiederum an die christliche Theologie anschlussfähig: Wenn es bei Matthäus 18,3 von den Jüngern heißt: 7 Die Chansonneuse Lucienne Boyer war 1941 beim Vortrag einiger Zeilen aus der Marseillaise von der Gestapo verhaftet worden; vgl. Mathis 2001: 299. 8 Die Aussage gegenüber Guizot lautet wörtlich: „Qui n’a pas vécu dans les années voisines de 1789 ne sait pas ce que c’est que la douceur de vivre.“ (Vgl. dazu Leclerc 2011: Anm. 1).

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„Wenn Ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ 9 Kindliches Urvertrauen, jener Zustand des „bercée de tendre insouciance“ der elften Zeile des Chansons von Trenet, wird auf diese Weise zu einer christlichen Grundanschauung, einer Haltung des vertrauensvollen Sich-Fallen-Lassens. Die Erinnerung an den vertrauten Kirchturm zwei Zeilen weiter untermauert diese Anschauung. Ins politische Konnotationsfeld der Besatzungsjahre versetzt, kommt hier zudem eine deutlich zu erkennende Sehnsucht zum Ausdruck: die nach Verhältnissen, in denen sich der Einzelne im öffentlichen, politischen Leben gleichsam sorglos führen lassen kann. Michel Foucault spricht in seinen späten Vorlesungen über die Mechanismen der Macht in diesem Zusammenhang treffend von der ‚Pastoralmacht‘. Anders als die Philosophien der antiken Selbstsorge, die den Menschen – unterstützt durch die Pädagogen – Techniken des Gehorsams vermittelt, setzt das Christentum auf eine Regierung der Seelen und Führung zum jenseitigen Heil durch einen ‚Hirten‘, die auf die innere Einsicht in die Wahrheit durch das Subjekt baut. Das so geführte Individuum kann mit einer „insouciance“ auf die Führung vertrauen und durchs Leben gehen. 10 Die Bestimmung von Heimat erfolgt drittens in der Regel durch die Abgrenzung von der Fremde. Schon die Griechen hatten alle jene, die nicht ihre Sprache sprechen konnten, als Barbaren, als „barbaroi“, bezeichnet. Im Chanson Douce France ist die Fremde in Z. 25 und 27 mit den „soleils merveilleux [...] labàs sous d’autres cieux“ angedeutet, denen der Sprecher den blauen Himmel seiner ihm vertrauten Region („Mon ciel bleu mon horizon“, Z. 29) vorzieht. Unmittelbar ist man versucht an den Orient zu denken, von dem sich Europa und die europäischen Nationen, soweit sie bereits existieren, seit dem Mittelalter als dem Fremden par excellence abgrenzen, von den Kreuzzügen über die Begegnung mit den Türken in der Renaissance und im 17. Jh. sowie im Orientalismus des 19. Jh. Ein vierter Punkt kommt hinzu: Setzt die Marseillaise ganz auf die jahrhundertealte Vorstellung von der ‚France belliqueuse‘, vom Frankreich, das Europa allein aufgrund einer verbreiteten Namensetymologie durch den Franken als „Francus“ seit jeher die Freiheit bringt, 11 so bemüht Trenets Lied das ebenfalls seit dem Mittelalter existierende Bild der „France la douce“ als der in Europa führenden Sprach-und Kulturnation 12. Beschworen wird nicht nur die Schönheit des Territoriums, welches im Mittelalter mit dem verbreiteten Bild von

9 Die Bibel 2012: 1104. 10 Vgl. dazu Foucault 1978-1979: 721-723. 11 Beaune 1985: 311. 12 Zu diesen Topoi vgl. Beaune 1985: 313. Vgl. Hampton 2001: 2.

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„jardin de France“ belegt ist, 13 der letztlich dem „hortus conclusus“ der Marianik entspricht. Die Heimat wird bei Trenet auch als Sprachraum jener „romances sans paroles“ evoziert, wo man sich sogar ohne Worte allein durch den Klang der Laute versteht. Über die Musik des Liedes wird allerdings durch die Hintertür die „France belliqueuse“ wieder eingeführt, ist der Refrain doch ein Marsch, gesungen auf der „grande route“, wie es in Z. 30 heißt. 14 Damit ist fünftens der entscheidende Punkt des Chansons aufgerufen: Die Musikalität, die die der französischen Sprache inhärente klangliche Harmonie zum Ausdruck bringt. Die „douceur“ Frankreichs wird in Trenets Lied allein durch eine Eigenart des Französischen vermittelt: die reich klingenden Diphthonge sowie die nasalisierten Vokale. Nasalisierungen wie „enfance“ und „insouciance“ unterstützen nicht nur die Aussagen des Chansons; sie erzeugen gleichsam erst die „douceur“ und haben damit ihren eigenen Aussagewert. Die androgyne Stimme des jungen Trenet, die Beimischung von Harfe und Marimba zu den Klängen der gestopften Jazztrompeten sorgen für die Dämpfung des Klangeindrucks. 15 „De la musique avant toute chose“, hatte Verlaine 1874 in seinem Art poétique propagiert und damit das musikalische Gefühl als bedeutungstragendes Element der Dichtung an die Stelle der klassizistischrationalen Regeln eines Boileau gestellt. Trenet greift diesen Ansatz von der Bedeutungsschwere der Laute auf, den auch Stéphane Mallarmé in seiner Schrift La Musique et les lettres (1895) vertritt. Wenn die Sprecher der Sprache eines Kulturraums wie Frankreich mit einzelnen Lauten gleich ganze Stimmungen und Aussagen verbinden, dann ist dies ein besonders probates Mittel, in Zeiten einer barbarischen Besatzung des Landes über die Musikalität patriotische Gefühle zu erzeugen. Mit den „Romances sans paroles“, die auf den gleichnamigen Gedichtband von Verlaine anspielen, kehrt gleichsam jenes Urvertrauen in die eigene Kultur und damit auch die Stärke wieder, das in Zeiten der Besatzung zu verschwinden droht. Dass die Musikalität die Besonderheit dieses Liedes ist, zeigt insbesondere die vehemente Reaktion auf die Neuvertonung des Chansons durch Rachid Taha, der anlässlich der „marche des beurs“ nichts weiter tut, als dem Lied Douce France die arabischen Klänge der Rai-Musik zu unterlegen, diese damit gleichsam zu orientalisieren und die konnotativ mit der heimlichen Nationalhymne verbundenen Heimatstimmungen anzugreifen. Bei Trenets Beschreibung der Heimat handelt es sich um einen grundständigen Patriotismus mit einer langen Vorgeschichte, welche zunächst in das vom konfrontativen Nationalismus der europäischen Staaten dominierte 19. Jh. 13 Vgl. Beaune 1985: 318-322. 14 Trenet hatte 1942 ein weiteres patriotisches Lied geschrieben, welches als Marsch komponiert ist und ähnliche Vorstellungen wie Douce France entwirft: La Marches des jeunes. 15 Zur musikalischen Gestaltung des Liedes vgl. auch Klöpfer/Scherer 1986: 11f.

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führt. Der Topos der „Douce France“ ist klingende Münze in den Schulbüchern der Dritten Republik. 16 Er ist aus der mittelalterlichen Chanson de Roland überliefert, die im 19. Jh. seit der ersten „editio princeps“ durch Francis Michel 1837 nationalistisch vereinnahmt wird. 17 Während der Besatzung von Paris durch die Preußen im Jahre 1870 hält der bekannte Mediävist Gaston Paris am Collège de France eine Vorlesung mit dem Titel „La Chanson de Roland et la nationalité française“. Paris vertritt darin die These, dass es in erster Linie die Liebe zum heimatlichen Boden ist, die die Basis jedweden Nationalgefühls ausmacht und nicht die Art der Machtorganisation eines Staates und seine juristischen Mechanismen: „[...] c’est l’amour que vous trouverez au fond de toute nationalité réelle [...].“ 18 Der wichtigste Ort, an dem dieses Nationalgefühl aufbewahrt wird, ist für ihn die Literatur, die in der Lage sei, geradewegs Nationen zu erschaffen: „On a vu [...] des littératures créer des nations, c’est-à-dire que la conscience nationale [...] a retrouvé, sous l’influence des efforts incessants [...] concentrés dans la littérature, la plénitude de sa force et de sa vie.“ 19 Im Rolandslied des 12. Jh., wo die kapetingischen Könige das Westreich Karls des Großen als französische Nation zu etablieren und ihr christliches Reich als moralische Hegemonialmacht kulturell und kriegerisch zu festigen suchten, taucht das Nationalgefühl zum ersten Mal in der Bezeichnung „Douce France“ auf: „C’est dans la Chanson de Roland qu’apparaît cette divine expression de „Douce France“, dans laquelle s’est exprimé avec tant de grâce et de profondeur l’amour que cette terre aimable entre toutes inspirait déjà à ses enfants. Douce France! Les Allemands nous ont envié ce mot, et ont vainement cherché à en retrouver le pendant dans leur poésie nationale.“ 20 Zur Katastrophe von 1870 ist es für Gaston Paris gekommen, weil sich das Nationalgefühl aus dem Kindheitsstadium Frankreichs mit der Renaissance verloren hat: „Le moyen âge n’arriva pas à rendre suffisamment viable la civilisation qu’il avait construite [...]: tout ce qu’il avait cherché, voulu, rêvé, fut effacé de la mémoire des peuples quand la Renaissance leur présenta l’idéal resplendissant du monde antique.“ 21 Der Mediävist Gaston Paris sieht seine Aufgabe darin, mit der Wiederentdeckung der mittelalterlichen Literatur in der Romantik den Franzosen auch ihr verloren gegangenes Nationalbewusstsein wiederzubringen.

16 Vgl. dazu Schumann 2000: 182. 17 Vgl. dazu den Artikel von Duggan 1989: 97-106. 18 Paris 41899: 97. 19 Paris 41899: 100. Benedict Andersons Anschauung von den „imagined communities“ geht, wie das Zitat unschwer erkennen lässt, auf solche Vorstellungen des 19. Jh. zurück. 20 Paris 41899: 107f. Zur Kontextualisierung des Topos der „Douce France“ im Rolandslied vgl. auch Rauhut 1942: 25-44. 21 Paris 41899: 111f.

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So sympathisch Gaston Paris’ These von der Bedeutung der Literatur bei der Bildung der Nationen ist, so wenig leuchtet seine Ansicht vom Bruch des Nationalgefühls in der Renaissance ein. Dabei ist weniger an Pierre de Ronsards Versuche zu denken, mit seiner Franciade sowie seiner politischen Dichtung die Mythomotorik eines nationalen Bewusstseins durch die Behauptung in Gang zu setzen, die Franzosen seien die Nachfahren der Trojaner. Es ist vor allem Joachim Du Bellay, der sich durchweg als Dichter der „douceur“ erweist und dieses rhetorische Konzept als Signum der „Douce France“ ausgibt. Der Berufung auf die Antike und der weitgehenden Verbannung der mittelalterlichen Literatur aus dem öffentlichen Bewusstsein zum Trotz setzt Du Bellay gleichwohl auf eine gallische Tradition, die es zu erneuern gilt. In diesem paradoxen Denkschema 22 finden sich alle Anschauungsmuster des Liedes von Trenet, das ohne die Dichtungen eines Du Bellay so kaum denkbar wäre. Nicht um eine Wiedergeburt der Antike geht es Du Bellay, sondern um die Galliens. Während seines vierjährigen Aufenthaltes in Rom von 1553–1557 verfasst er die meisten Gedichte der Sammlung Les Regrets (1558), die sein bekanntestes und zugleich patriotisches Vorzeigegedicht Heureux, qui comme Ulysse a fait un beau voyage enthält.

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Heureux qui, comme Ulysse, a fait un beau voyage,
 Ou comme celui-là qui conquit la toison,
 Et puis est retourné, plein d’usage et raison,
 Vivre entre ses parents le reste de son âge!

 Quand reverrai-je, hélas, de mon petit village
 Fumer la cheminée: et en quelle saison
 Reverrai-je le clos de ma pauvre maison,
 Qui m’est une province, et beaucoup d’avantage ?

 Plus me plaît le séjour qu’ont bâti mes aïeux,
 Que des palais romains le front audacieux:
 Plus que le marbre dur me plaît l’ardoise fine,

 Plus mon Loire gaulois, que le Tibre latin,
 Plus mon petit Liré, que le mont Palatin,
 Et plus que l’air marin la douceur angevine. (Les regrets, Son. 31)23

Das Sonett feiert Odysseus und den in V. 2 nicht namentlich genannten Jason als glückliche Rückkehrer in die vertraute Heimat. Diese Heimat wird nicht mit der höfischen Gesellschaft in Paris identifiziert, wo Ronsard in der Zwischenzeit als Dichter der Nation Karriere gemacht hatte. Es ist auch hier wie bei Trenet die „France rurale“, die ins Zentrum des Gedichts gestellt wird, genauer 22 Zu dieser Paradoxie vgl. insbes. Stierle 2006: 298f. 23 In: Du Bellay 1967: 89.

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das Geburtsdorf Du Bellays Liré im Angevin. Die Sehnsucht nach der „douceur du foyer“ des heimatlichen Kaminfeuers in V. 6, eine Anspielung auf den Anfang der Odyssee Homers, wo vom entsprechenden Wunsch des Odysseus die Rede ist, 24 bestimmt das Denken des Romreisenden Du Bellay. Das Sonett spekuliert die „douceur angevine“ des letzten Verses aus: Es geht um ein Leben abseits großer Paläste, die der Dichter in Rom kennen gelernt hatte (V. 10), ein Leben in vertrauter Bescheidenheit („ma pauvre maison“, V. 7) sowie im Beisein der Verwandten ohne Rücksicht auf die Abläufe der Zeit („Vivre entre ses parents le reste de son âge!“, V. 4). Dieses Leben in der zeitlosen Verbindung mit den Vorfahren („Plus me plaît le séjour qu’ont bâti mes aïeux“, V. 9) erscheint als gewohnt und daher vernünftig („plein d’usage et raison“, V. 2). Es sind aber gar nicht so sehr die explizit patriotischen Gedichte der Regrets, wie das Sonett Heureux qui, comme Ulysse, oder France, mère des arts, des armes et des lois (Nr. 9) und das lateinische Gedicht Desiderium patriae aus den ebenfalls in Rom verfassten Poemata (Nr. 15), die die Grundlagen der von Du Bellay beschriebenen heimatlichen Stimmung reflektieren. In den nach dem Romaufenthalt verfassten Divers jeux rustiques (1558), einem Sammelsurium unterschiedlichster lyrischer Textsorten, kommt die Philosophie des Du Bellay’schen Patriotismus viel deutlicher zum Ausdruck. „Douceur“ ist hier in erster Linie wie bei Trenet die „suavité“ einer Natur und Landschaft, die dem Dichter nur allzu vertraut ist. Diese Landschaft wird als stete Bewegung erfahren. Du Bellays Denken ist von der neuplatonischen Emanationslehre bestimmt, die mit den Plato-Kommentatoren Plotin, Porphyrios und Iamblichos ihren Ausgang nimmt und seit dem 15. Jh. in Europa rezipiert wird. 25 Irdisches Leben erscheint als Emanation des Göttlichen, welches sich nicht als immer Gleiches sondern als ständig wechselnde Dynamik in der Natur manifestiert. Der menschliche Geist folgt diesem Gang, der letzten Endes ins Unendliche führt, da die Seele des Menschen mit einem „göttlichen Funken“ begabt ist 26 und dadurch die Harmonie der Emanation erkennen und ihren einzelnen Stufen folgen kann. Es ist die „douceur“, die sich angesichts dieser Emanation des Göttlichen in den einfachen Dingen der sinnlichen Außenwelt einstellt. Besonders in der Natursprache des Windes macht die göttliche Entäußerung ihren steten Wandel erfahrbar. In dem Gedicht D’un vanneur de blé aux vents fordert 24 Odyssee I, 61f. Vgl. auch Ovids Ex Ponto III, 33. 25 Zum Neuplatonismus Du Bellays vgl. insbes. Ley 1975: 34-71. Wichtige Vertreter des Neuplatonismus der Renaissance waren Georgios Gemistos (1355 bzw. 1360-1454), der unter dem Pseudonym „Plethon“ in Mistra bei Sparta schreibt und 1439 am Unionskonzil in Ferrara teilgenommen hat, und vor allem Marsilio Ficino (1433-1499), dem Cosimo de’ Medici einen Kodex mit sämtlichen Werken Platos schenkt. 26 Im Frühlingsgedicht Chant de l’amour et du printemps der Divers jeux rustiques heißt es: „Le Dieu qui mes désirs / Brûslé d’une saincte flamme [...]“ (Du Bellay 1996: 74 [V. 53f.]).

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der Sprecher die personifizierten Winde auf, den süßen Atem der Blumen über die Ebene zu verbreiten: „De votre doulce haleine / Éventez ceste plaine [...]“(V. 13f.). 27 Im Frühlingsgedicht Chant de l’amour et du printemps werden die Blütenblätter der Nelke als Zeichen der Natur für die noch geschlossenen Lippen gelesen. In der Naturentäußerung entdeckt der Sprecher somit deren Antriebskraft, die Liebe: „Je vois dedans ces œillets / Rougir les deux lèvres closes [...].“ 28 Das Gedicht zeigt, wie die Erkenntnis der Emanation des Göttlichen funktioniert: Der Wind bringt die Ränder der Ebenen sowie die Wasseroberflächen in Bewegung. Dies wiederum weckt beim lyrischen Ich die süße Erinnerung an die heimatlichen Hänge der Loire, deren Harmonie der Gegensätze in dem Naturbild aufscheint. Hervor tritt Eros, als Triebkraft der Natur, da die Szene metaphorisch ausstaffiert wird, als handle es sich bei der Bewegung der Natur um ein Liebesspiel: „Ce vent qui rase les flancs / De la plaine colorée, / À longs soupirs doux soufflants, / qui rident l’onde azurée, / M’inspire un doux souvenir / De cette haleine tant douce / Qui fait doucement venir / E plus doucement repousse / Les deux sommets endurcis / De ces blancs coteaux d’ivoire, / Commes les flots adoucis, / qui baisent les bords de Loire.“ 29 In einem solchen bewegten Tableau kann auch das aktuelle politische Kräftemessen in Europa angesichts der Bedrohung durch den Orient als Stufe der Emanation des Göttlichen erkannt werden: „Tel fut le siècle doré, / Tel sera le nôstre encore / Dessouz le sceptre honoré / De Henry, qui le redore. / [...] Ô de quel bien redoublé / L’Europe sera saisie, / Si son repos n’est troublé / Par le tyran de l’Asie!“ 30 Wie im Rolandslied und wie später im Lied Douce France wird hier die Vorstellung von der süßen Heimat Frankreich von der bedrohlichen Fremde des Orients – Du Bellay denkt an die Türken – abgegrenzt. Wie bei Trenet ist die Erinnerung an die Heimat auch gepaart mit der Sehnsucht nach der „insouciance“. Im Sonett France, mère des arts aus den Regrets erinnert sich der Dichter im römischen Exil an jenes Frankreich, welches ihn genährt und ihn als Kind wie eine Hirte seine Lämmer geführt hat: „Tu m’a nourri longtemps du lait de ta mamelle: / Ores, comme un agneau qui sa nourrice appelle, / Je remplis de ton nom les antres et les bois. / Si tu m’as pour enfant avoué quelquefois, / que ne me réponds-tu maintenant, ô cruelle? / France, France, réponds à ma triste querelle.“ 31 Das in der Renaissance geläufige Bild der Pastoralmacht ist gepaart mit der Vorstellung von einem Leben in völliger Selbstgenügsamkeit. 27 Du Bellay 1996: 48. 28 Du Bellay 1996: 76 (V. 105f.). 29 Du Bellay 1996: 77 (V. 137-148). 30 Du Bellay 1996: 75 (V. 73-76 und V. 81-84). 31 Du Bellay 1967: 74 (V. 2-7).

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Im Sonett 38 der Regrets, welches mit den Eingangsversen: „O qu’heureux est celui qui peut passer son âge / Entre pareils à soi [...]“ nicht nur rhetorisch, sondern auch thematisch das Gedicht vom glücklichen Heimkehrer Odysseus Heureux qui, comme Ulysse wieder aufnimmt, erklärt der Sprecher, ein leidenschaftsloses Leben im „pauvre ménage“ ohne „crainte, envie et ambition“ und ohne den aufreibenden Wunsch einer ständigen Vermehrung des Besitzes (V. 3) zum Ideal eines friedfertigen Bei-Sich-Seins: „Son principal espoir ne dépend que de lui, / Il est sa cour, son roi, sa faveur et son maître. [...] / Et plus riche qu’il est ne voudrait jamais être.“ 32 Im Widmungsgedicht der Divers jeux rustiques an den Sekretär und Berater Heinrichs II., Jean Duthier, laufen diese Themen zusammen. Hier erklärt Du Bellay auch, dass er in seiner Dichtung der Macht der französischen Kultur und Natur, also der Beschreibung der „Douce France“, den Vorzug vor der militärischen Stärke der Nation gibt: „Encore qu’on ne raisonne / Que de Mars et de Bellone / De discorde et de fureur [...] / Ne laisse pourtant de lire / Les petits vers, que ma lyre / Te vient présenter ici, / Mêlant au bruit des trompettes / Le son des douces musettes, / Pour adoucir ton souci.“ 33 Für den Sprachtheoretiker und Spachpolitiker Du Bellay, der seine Deffense et Illustration de la Langue Françoyse (1549) nach eigenem Bekunden aus der „affection naturelle envers ma patrie“ 34 heraus geschrieben hat, steht aber vor allem die französische Sprache für die „douceur“ des Landes. Jede Sprache hat für ihn eine letzten Endes undefinierbare Eigenschaft („[...] chaque langue a je ne sais quoi propre seulement à elle [...]“). 35 Die Eigenschaft der französischen Sprache ist die „douceur“, die der angeblichen „douceur“ des Griechischen und Lateinischen in Nichts nachstehe: „Quant au son, et je ne sais quelle naturelle douceur (comme ils disent) qui est en leurs langues, je ne vois point que nous l’ayons moindre, au jugement des plus délicates oreilles.“ 36 Und so hat die französische Sprache aufgrund ihrer „douceur“ ganz andere Qualitäten als das stark vokalisch geprägte Italienische, welche Du Bellay im Sonett Heureux qui, comme Ulysse durch die zahlreichen Nasalisierungen sowie die Diphthongierungen ausspielt. Und im Gedicht D’un vanneur de blé, aux vents aus den Divers jeux rustiques wird die Einheit des Menschen mit der heimatlichen Natur, hier des Korndreschers, der mit den Winden spricht, durch eine rhythmisch wogende Sprache zu Bewusstsein gebracht: „De votre douce haleine /

32 Du Bellay 1967: 93f. (V. 1f., V. 3, V. 10f. und V. 14). 33 Du Bellay 1996: 37 (V. 7-10 und V. 11-18). 34 So in der Épître à Monseigneur le révérendissime Cardinal du Bellay S. (Du Bellay 1967: 199). 35 Du Bellay 1967: 211f. (I, 5). 36 Du Bellay 1967: 218 (I, 9).

Douce France – Frankreichs heimliche Nationalhymne und ihre Wurzeln

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Éventez cette plaine, / Éventez ce séjour: / Cependant que j’ahanne / À mon blé, que je vanne / À la chaleur du jour.“ 37 Das französische Nationalgefühl basiert auf der Liebe zum heimatlichen Boden sowie der Sprache des Landes. Dieser Patriotismus wird vom Mittelalter über die Renaissance bis ins moderne Lied eines Charles Trenet transportiert.

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Mechthild Albert Wissensvermittlung und Konversationsrhetorik in Lope de Vegas Novelas a Marcia Leonarda und Francisco Rodrigues Lobos Corte en aldea 1

Im Gefolge der Cervantinischen Novelas ejemplares (1613) dienen auch Lope de Vegas Novelas a Marcia Leonarda (1621/1624) gemäß dem Gebot des „deleitar aprovechando“ neben der Unterhaltung einem nützlichen Zweck, nämlich der Wissensvermittlung. Dabei richtet sich die Erzählinstanz dialogisch in familiärem Ton an eine Adressatin, zugleich Auftraggeberin und implizite Leserin, eben besagte Marcia Leonarda, hinter der sich Lopes Geliebte Marta de Nevares verbergen soll. In diesem Sinne formuliert Lope hier eine programmatische Definition der Gattung Novelle: en este género de escritura ha de haber una oficina de cuanto se viniera a la pluma, sin disgusto de los oídos aunque lo sea de los preceptos [i.e. estéticos]. Porque ya de cosas altas, ya de humildes, ya de episodios y paréntesis, ya de historias, ya de fábulas, ya de reprehensiones y ejemplos, ya de versos y lugares de autores, pienso valerme para que ni sea tan grave el estilo que canse a los que no saben, ni tan desnudo de algún arte que le remitan al polvo los que entienden (NML 183).

Lope siedelt die Novelle in diesem metaliterarischen Exkurs auf einer explizit als nicht regelkonform charakterisierten („disgusto […] de los preceptos“) mittleren Stilebene an („ya de cosas altas, ya de humildes“) und unterstreicht ihre diskursive wie thematische Heterogenität („de cuanto se viniera a la pluma“), welche auch Digressionen („paréntesis“) und gelehrte Zitate („lugares de autores“) umfasst. Als potenzielle Leser werden sowohl „los que entienden“ als auch „los que no saben“ adressiert, weshalb er passenderweise eine weibliche, prinzipiell nicht speziell gebildete Adressatin wählt, Repräsentantin jener „nueva nobleza“, die das Publikum der „nueva novela“ ausmacht (Romero 1 Der vorliegende Aufsatz ist im Rahmen der Drittmittelprojekte I+D+i des MINECO La novela corta del siglo XVII (y II) (FFI2013-41264-P) und „Los saberes del ocioso – Muße, Geselligkeit und Wissen im Siglo de Oro“ (DFG) entstanden.

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2002). Sie verkörpert den „receptor no profesional de las letras aunque interesado en las obras puestas al alcance de un extenso público (cortesano, burgués) en el nuevo mercado“ (Rallo 1989: 163). Dieser städtisch-höfischen Öffentlichkeit vermitteln Werke wie die Novelas a Marcia Leonarda –nach Francisco Rico „uno de los testimonios más directos de un hacer literario dentro de un contexto humano“ (Rico zitiert bei Sobejano 1978: 9, Anm. 26) – einen kulturellen Fundus, der, anders als die ebenfalls weit verbreiteten enzyklopädischen Misceláneas, zugleich Verhaltens- und Gesprächsmodelle für neue Formen der Geselligkeit liefert (vgl. Albert 2013). Die „novela cortesana“, und insbesondere Lopes novellistisches Meisterwerk, fungiert insofern nicht zuletzt als pädagogisch intendierte „escuela de cortesanía“ (Rallo 1989: 174) bzw. „anatomy of courtesy“. 2 Die Novelas a Marcia Leonarda bilden mithin ein unterhaltsames Kompendium galant-urbaner Geselligkeit, das sich durch die virtuose Entfaltung des sermo familiaris bzw. „doméstico estilo“ (Sobejano 1978: 9) als Stilregister der Gesprächsrhetorik auszeichnet: 3 „lo que hace la novedad y el encanto de los relatos a Marcia, [es] precisamente la ostentación del diálogo llano del narrador con el receptor, la desenvoltura del estilo y la tendencia a la interrupción y al comentario“ (Sobejano 1978: 8f.). Dazu tragen vor allem zwei Kunstgriffe bei: zum einen die weibliche Adressatin (valga la tautología), welche die Ablösung eines „tono erudito“ durch einen „modo conversacional“ motiviert (Rallo 1989: 168); zum anderen das Geflecht der Exkurse, die im Dienste der varietas einen „arte digresivo“ hervorbringen, welcher im Grunde einen „arte de conversación“ darstellt (Sobejano 1978: 11). Diese im Rahmen der Lope’schen Narrativik inszenierte Konversationsrhetorik schreibt sich ein in das internationale Stilideal höfischer Kommunikation, lassen sich doch die dem dialogischen Stil der Novelas a Marcia Leonarda zugeschriebenen Attribute wie „desaliño“ (Cirot zitiert bei Rallo 1989: 168), „desenvoltura“ oder „estilizada llaneza“ (Sobejano 1978: 11) in einen kulturgeschichtlichen Kontext einreihen, der von der „sprezzatura“ des Cortegiano (vgl. Lee 2000: 74-78) bis zum ‚nature‘ eines La Fontaine oder einer Madame de Sévigné reicht. Die fingierte Mündlichkeit der Lope’schen Novellen soll daher im Folgenden mit den Regeln geselliger Unterhaltung in Bezug gesetzt werden, die Francisco Rodrigues Lobo den Lesern seines Dialogtraktats Corte en aldea y noches de invierno empfiehlt. Die spanische Übersetzung dieses bezeichnenderweise 2 Unter diesem Begriff analysierte Shifra Armon in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1993 die Novellistik Mariana de Carvajals; 1999 wandte Christina Hyo Jung Lee ihn in ihrer Dissertation (2000) auf die Novelas a Marcia Leonarda an. 3 Die ebenfalls dieser Stillage zugehörige Briefrhetorik und mithin die Affinität zwischen dem Dialog in den Novelas a Marcia Leonarda und Lopes Briefkorpus (vgl. Lee 2000: 48-80, im Anschluss an Sobejano 1978 und Vossler) sollen im vorliegenden Zusammenhang ausgeklammert bleiben.

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ebenfalls einer Dame, nämlich Doña Ana Porto Carrero y Cárdenas, Marquesa de Montalbán y de Alcalá, gewidmeten Werkes erscheint 1622, 4 just in der Entstehungszeit der Novelas a Marcia Leonarda. Im Gefolge des Galateo español (1590) von Lucas Gracián Dantisco strebt Rodrigues Lobo eine Popularisierung der Höflichkeitsnormen vom höfischen in den städtisch-bürgerlichen Bereich an, konzentriert er sich doch auf die ‚buena crianza‘ als allgemeinste Ebene kodifizierter Umgangsformen: „de la ceremonia se deriva la cortesía, y della la buena crianza, bajando por gradas“ (CA 200). Neben dem Hof (Diálogo XIV) bringen auch das Militär (Diálogo XV) und die Universitäten (Diálogo XVI) spezifische Ausprägungen der ‚(buena) crianza‘ hervor. Ureigenes Milieu der Höflichkeit bleiben jedoch der Hof und die Stadt, wo sie primär als Erfahrungswissen erlernt und eingeübt wird – „Buena crianza es el trato de hombres bien doctrinados, o por experiencia de la Corte, y de la Ciudad, o por enseñanza de otros que en ella vivieron“ (CA 201) – und zwar im Wesentlichen durch situatives Lernen anhand folgender „cuatro escuelas principales“: „el encuentro, la visita, la mesa, y la conversación“ (CA 202). Angesichts der durch die soziale Mobilität bedingten wachsenden Nachfrage nach diesem kulturellen Wissen und dem Prestige, das es verleiht, wird es zunehmend auch als Buchwissen vermittelt, durch pragmatische Traktat- und Ratgeberliteratur. Diese ist im vorliegenden Fall einem humanistischen Ideal verpflichtet, denn nicht nur der Autor beruft sich auf Ciceros Verständnis der urbanitas, d.h. „cortesía“, „comedimiento“, „buen modo“ (CA 200), als Tugend, sondern auch der Übersetzer annonciert dem geneigten Leser das von ihm übertragene Werk rundweg als eine „Escuela universal donde puede aprender uno a ser hombre, y merecer este nombre“ (CA s.p.). Die gesellige Unterhaltung als Kernstück der Höflichkeit ist Gegenstand des Diálogo IX, in dem die Konversationsrhetorik unter dem Titel „De la platica, y disposición de las Palabras“ abgehandelt wird. Zwei Aspekte sind dabei von besonderer Relevanz im Hinblick auf die Dialoggestaltung in den Novelas a Marcia Leonarda: zum einen die Verstöße gegen das decorum, welche auf der Ebene von Gender und Sprachreflexion zu Buche schlagen, und zum anderen die Scherzrede mit ihren ebenso unterhaltsamen wie subversiven Effekten. Norm des sermo familiaris, der „platica vulgar“ (CA 150), ist die schmucklose und „natürliche“, 5 zugleich angemessene und treffende Rede: „es lo mismo hablar vulgar y propriamente que hablar bien“ (CA 155), und: „hablar con propiedad es con palabras naturales“ (CA 150). Ausgehend von diesem Maßstab 4 Portugiesisches Original 1619, Übersetzer Juan Baptista de Morales, Publikationsort Montilla, „por el autor y a su costa“. Die Zitate aus dieser Ausgabe sind in Orthographie und Interpunktion leicht modernisiert. 5 Vgl. „la verdadera discreción es natural“ (CA 144).

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wird jene Normabweichung zensiert, die im Interesse individueller Profilierung auf Kosten der Klarheit und Allgemeinverständlichkeit geht, womit vor allem Adepten des vielgestaltigen sprachlichen Barockismus gemeint sein dürften: „Con una sola razón […] condenara yo a toda esa turba de los que en el hablar quieren parecer singulares, y es que no hablan para que los entiendan mejor, sino para que se admiren de su extraña elocuencia y admirable elegancia“ (CA 154). Auch das Ausspielen eines Wissensvorsprungs aus persönlicher Eitelkeit verstößt gegen das decorum und das sorgfältige Abwägen der Worte – „la balança de las palabras“ (CA 156) – entsprechend den Erfordernissen der jeweiligen Kommunikationssituation und ihrer Teilnehmer. Dieser der Pedanterie vergleichbare „vicio“ beinhaltet verschiedene Formen der Impertinenz, die sich bei Lope wiederfinden und als Grundlage der folgenden Analyse ausführlicher zitiert werden sollen: El segundo descuido es, cuando el discreto habla, o alega latines entre personas que no lo saben, o que no tienen la obligación de entenderlo, como son mujeres, o cuenta delante dellas historias de la India, o de otras regiones remotas, à donde estuvo, diciendo las cosas con muchas palabras de los nombres propios de aquellas partes, que hay algunos, que en cogiendo en platica, Ormus, Malaca, o Sofala, no saben dar un paso, sin palanquines, vagios, boyas, babor, estribor, y otras palabras que dejan en ayunas al entendimiento de los oyentes, sin que los suyos, por eso, queden mejor acreditados (CA 157f.).

Kritikwürdig ist es also, den in einem geselligen Zirkel anzunehmenden Verständnishorizont der Adressaten zu überschreiten – etwa durch die Verwendung von Latinismen, entlegenen geografischen Referenzen oder spezialisiertem Fachvokabular. All dieser „Verstöße“ macht sich Lope gegenüber seiner privilegierten Adressatin Marcia Leonarda „schuldig“ – wobei es natürlich gilt, die spezifischen Bedingungen im Rahmen literarischer bzw. literarisierter Kommunikation zu berücksichtigen. Wenn also beispielsweise die Erzählinstanz der Novellen deren Rezipientin mit Elementen humanistischer Bildung traktiert, so konfligiert die oben genannte Höflichkeitsnorm mit der platonischen Grundkonstellation der Novelas a Marcia Leonarda, in deren pädagogischem Eros sich Strategien der Verführung (Bonilla 2007) mit dem Diskurs humanistischer Gelehrsamkeit und Belehrung (Rallo 1989, Schwartz 2000) verquicken. Weiterhin ist Marcias Rolle im ‚platonischen‘ Dialog wiederum nicht ausschließlich unter Gender-Aspekten zu bewerten, repräsentiert sie doch grundsätzlich besagtes Leserpublikum, an das sich im Übrigen auch die Ratgeber und Misceláneas richten, nämlich das „público con cierta cultura referencial pero no culto“ (Rallo 1989: 170). Und schließlich respektiert Lope das decorum insoweit, als er mit Rücksicht auf seine weibliche Adressatin und seine Leser

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alle lateinischen Referenzen in spanischer Übersetzung zitiert 6 und zudem jede Überschreitung ihres anzunehmenden Wissenshorizonts als solche markiert, etwa: „Falerno, autor que vuestra merced no habrá oído decir“ (NML 288). Die sich häufig daran anschließenden gelehrten Exkurse, welche zumeist mit dem formelhaften „Pues sepa vuestra merced“ (NML 208, 236, 257, 320, passim) eingeleitet werden, versieht er überdies mit entsprechenden Kautelen. Selbstverständlich sind dabei die Grenzen zwischen Galanterie und Wissensvermittlung, Scherz und Ernst fließend, so dass sich die Konturen weiblichen Wissens, ausgehend von einer männlichen Sprecherinstanz, die zwischen höflicher Rücksichtnahme und männlichem Imponiergehabe oszilliert, nicht genau ermitteln lassen, beispielsweise bezüglich eines womöglich ironisch gemeinten Hinweises auf Marcias Vertrautheit mit Ovid und Cicero: „le quiero preguntar a vuestra merced, pues es persona que conoce a Cicerón, a Ovidio y a otros sabios, y se puede hablar con vuestra merced en materia de definiciones y etimologías […]“ (NML 319, vgl. Hernández Valcárcel 1978/79: 271). Die Novelas a Marcia Leonarda enthalten einen hohen Anteil gelehrter Referenzen, primär in den sog. „digresiones instructivas“ (Sobejano 1978: 2), die häufig mit Kommentaren der Erzählinstanz bezüglich des Wissensstandes seiner Adressatin (und damit implizit der Leser) versehen sind und eine Rücksichtnahme auf das oben dargelegte decorum beinhalten. Inwieweit Lope neben dem delectare und unbeschadet der cortesía das prodesse zur Geltung bringt, illustrieren einige gelehrte Exkurse der Novelle La prudente venganza, welche die diskursiven Strategien veranschaulichen, mit denen Lope den Normen der Schicklichkeit Tribut zollt. Zu Beginn dieser dritten Novelle behauptet Lope als captatio benevolentiae, diese narrative Gattung entspreche nicht seinem persönlichen Genius, seinem „genio particular“. Ausgehend davon unternimmt er eine erudite Erläuterung dieses Konzepts, die er mit dem Hinweis einleitet: „Es genio, por si vuestra merced no lo sabe, que no está obligada a saberlo, aquella inclinación que nos guía más a unas cosas que a otras“ (NML 235). An anderer Stelle vergleicht der Erzähler die Entstehung der Liebe – nach Aristoteles, Leon Hebreo und Hippokrates – mit der Wirkung der gegensätzlichen Elemente Feuer und Luft, deren jeweilige Eigenschaften er detailreich erläutert bis er sich schließlich unterbricht, um sich mit folgenden Worten an seine Adressatin zu wenden: „Pero dirá vuestra merced: ‚¿qué tienen que ver los elementos principios de la generación de amor con las calidades elementales?‘.“ In Anbetracht ihres vermuteten Unverständnisses greift er den Faden seiner Argumentation auf einer weniger komplexen Ebene wieder auf, um ihr den Sachverhalt mithilfe der klassischen Temperamentenlehre nahezubringen: 6 Einzige Ausnahme bildet ein lateinisches Ovid-Zitat im Rahmen einer Hommage an Lopes Mäzen, den Conde-Duque de Olivares; vgl. auch enkomiastische Digressionen NML 289f.

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Mas bien sabe vuestra merced que nuestra humana fábrica tiene de ellos [sc. los elementos] su origen, y que su armonía y concordancia se sustenta y engendra deste principio que, como siente el Filósofo, es la primera raíz de todas las pasiones naturales (NML 251).

Später gibt dann die Hochzeit der Protagonistin Laura dem Erzähler die Gelegenheit, seiner geliebten Schülerin Marcia eine poetische Anspielung auf den Gott Hymenaios zu erklären: „Y porque vuestra merced no ignore la causa por que invocaba la gentilidad en la bodas este nombre, sepa que Himeneo fue un mancebo, natural de Atenas […]“ (NML 257). Er erzählt ihr, wie Hymenaios seine Geliebte eroberte, um mit ihr in glücklicher und fruchtbarer Ehe zu leben, wobei er abschließend die kulturelle und rhetorische Bedeutung dieses Mythos hervorhebt: de donde tomaron ocasión los atenienses de invocarle en sus bodas como a hombre tan dichoso en ellas, y poco a poco se fue introduciendo el cantarle himnos, como a su protector, de que se hallan tantos en los poetas griegos y latinos, y a recibirse su nombre por las mismas bodas (NML 258).

Marcia fungiert eben trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer mangelnden klassischen Bildung als Adressatin der vielfältigen metanarrativen bzw. poetologischen Exkurse, 7 mit denen Lope seine Novellen durchsetzt. Obwohl sie nie Rhetorik studiert hat – „Atrévome a vuestra merced con lo que se me viene a la pluma, porque sé que, como no ha estudiado retórica, no sabrá cuánto en ella se reprehenden las digresiones largas“ (NML 159) –, verfügt sie über Erfahrung als Leserin und besitzt daher ein Vorverständnis von literarisch-rhetorischen Gattungen wie Novelle, Schäferroman oder Predigt. Der zweite von Rodrigues Lobo erwähnte Verstoß gegen das decorum der Konversation ist das Prahlen mit Übersee-Erfahrungen und die ständige Erwähnung exotischer Ortsnamen. Diesbezüglich bieten die Novellen zwei besonders aufschlussreiche Beispiele im Hinblick auf Raumerfahrung bzw. Raumwissen seiner Adressatin bzw. Leser und Leserinnen. Als in La desdicha por la honra der Schauplatz nach Neapel wechselt, heißt es: „Nápoles, ciudad que vuestra merced habrá oído encarecer por hermosura y riqueza“ (NML 200). Bezeichnender noch ist der Kommentar zu einer weitschweifigen Beschreibung Konstantinopels, die Lope, selbst aus gelehrten Quellen schöpfend (NML 207, Anm. 89), nicht nur literarisch rechtfertigt, sondern zusätzlich mit der beschränkten Raumerfahrung Marcias kontrastiert: „Pues sepa vuestra merced que las descripciones son muy importantes a la inteligencia de las historias, y hasta agora yo no he dado en cosmógrafo por no cansar a vuestra merced, que desde su casa al Prado le parece largo el mundo“ (NML 7 Vgl. die Ausführungen zu „digresión reflexiva“ (Sobejano 1978: 2) bzw. „reflexiones técnicas“ (Hernández Valcárcel 1978/79: 270).

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208). Im Lichte der von Rodrigues Lobo erläuterten Gesprächsnormen lassen sich Bemerkungen wie diese nicht allein misogyner Häme, sondern teils auch den Regeln zeitgenössischer Höflichkeit zuschreiben. Ein dritter und letzter Aspekt des decorum ist der ausgesprochen bewusste und restriktive Sprachgebrauch im Rahmen geselliger Unterhaltung. Zur Wahrung der Allgemeinverständlichkeit ist nicht nur, wie oben gesehen, die Verwendung fachsprachlicher Termini verpönt, sondern auch der Gebrauch von Archaismen und Neologismen, Latinismen und Fremdwörtern, deren Häufung zu einem monströsen „lenguaje de puras mezclas“ führe, den Rodrigues Lobo mit dem Bild der Sirene illustriert: „las palabras que se deben usar para hablar vulgarmente, no han de ser extranjeras, ni exquisitas, ni inovadas, ni tan antiguas que esté perdido el uso dellas“ (CA 152). Die Verinnerlichung dieser Normen wie auch generell ein durch die zeitgenössische Lexikographie oder die Polemik um Cultismo und Conceptismo geschärftes Sprachbewusstsein (vgl. Gauger 1989), das durchaus für weitere Kreise der kulturellen Öffentlichkeit angenommen werden kann, manifestiert sich in den zahlreichen sprachkritischen Betrachtungen, mit denen Lope de Vega seine Novelas a Marcia Leonarda durchsetzt. So verwendet er Neologismen (etwa espinela für ‚décima‘, NML 339), bildet sie sogar (platonizar, NML 272) und markiert deren Gebrauch durch Hinweise wie „un perulero rico – así se llaman“ (NML 253); andererseits signalisiert er das Verb festejar als Archaismus: „que es lo que agora llaman ‚galantear‘ entre los vocablos validos, que cada tiempo trae su novedad“ (NML 334). Er stellt Spekulationen zur Herkunft des Familiennamens seines Mäzens Guzmán (NML 289) und zur Etymologie von mojicón an, die einen Seitenhieb auf die Lücken des zehn Jahre zuvor (1611) erschienenen Lexikons von Covarrubias beinhalten: „Esto no lo ha topado vuestra merced en el Tesoro de la lengua castellana; para que vea que es razón estimarla en su pureza, pues hasta cosas tan viles no las tiene sin causa“ (NML 320). Auch die Verwendung fremdsprachlicher Termini gibt Anlass zu teils scherzhaften, teils ernst gemeinten Kommentaren. So führt er beispielsweise in der in Konstantinopel spielenden Novelle La desdicha por la honra die ortsüblichen Bezeichnungen für ‚Boot‘ ein („las barcas [… ] que en su lengua llaman ‚caiques‘ o ‚permes‘“, NML 207) und greift dann einige Seiten später mit folgender ironischen Bemerkung auf dieses Lexem zurück: „un caique (si vuestra merced se acuerda que le dije que era pequeña barca, pero no escuso una palabra turca, como algunos que saben poco griego)“ (NML 224). Ähnliches geschieht, als er in Guzmán el Bravo das arabische Wort fende einführt, erklärt – „que debe de querer decir ‚señor‘, ‚amo‘ o ‚dueño‘“ – und alsbald wieder verwendet, um entschuldigend anzumerken: „Y advierta vuestra merced que no repito otra vez este nombre porque me güelgo de hablar arábigo, sino

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por no exceder de las palabras de esta ocasión; así me precio del rigor de la verdad a ley de buen novelador“ (NML 319). Der Erzählerkommentar erläutert, dass keine Prahlerei, mithin kein Verstoß gegen die Höflichkeit vorliegt, sondern vielmehr den Geboten der Erzählökonomie entsprochen wurde. Er unterstreicht so die spezifische Differenz zwischen Konversationsrhetorik und literarischer Rhetorik und präzisiert den unterschiedlichen Referenzrahmen sowie den damit einhergehenden jeweiligen Verständnishorizont. Schließlich sind auch zwei ausführliche apologetische Exkurse zur Verwendung des Italienischen als einer „lengua […] muy dulce y copiosa y digna de toda estimación“ (NML 193) aufschlussreich, 8 die anlässlich des Neologismus afratelarse in einer grundsätzlichen Verteidigung von Fremdwörtern gipfelt. Damit nimmt er explizit eine der gängigen Konversationsrhetorik – welche offensichtlich Marcia zugeschrieben wird, heißt es doch „no se altere vuestra merced“ – widersprechende Position ein: Esta voz, señora Marcia, es italiana; no se altere vuestra merced, que ya hay quien diga que están bien en nuestra lengua cuantas peregrinidades tiene el universo, de suerte que aunque venga huyendo una oración bárbara de la griega, latina, francesa o garamanta, se puede acoger a nuestro idioma, que se ha hecho casa de embajador, valiéndose de que no se ha de hablar común, que es vulgar bajeza (NML 294).

Neben dem decorum bildet die Tugend der Eutrapelie (Rahner 1954) – bei Rodrigues Lobo wie bei Lope – einen zweiten Schwerpunkt der Konversationsrhetorik. Identisch mit der affabilitas äußert sie sich spielerisch in Witz und Scherz, wobei sie einer Ethik und Ästhetik des Gefallens dient – „agradar a aquellos con quienes se convive“ (Strosetzki 2013: 81) –, die den Kern geselligen Zusammenlebens bildet. Ausgehend von der Nikomachischen Ethik und Thomas von Aquin zollen ihr zahlreiche Schriften des Siglo de Oro Tribut, etwa Gracián Dantiscos Galateo español (1590) oder Cervantes’ Novelas ejemplares (1613; Wardropper 1982) bis hin zum Traktat des Jesuiten Fomperoso y Quintana, La Evtrapelia (1683; vgl. Tietz 2013). Rodrigues Lobo rekurriert nicht auf dieses gelehrte Konzept, sondern verwendet den volkssprachlichen Begriff sal, den er folgendermaßen definiert: „La sal es una gracia, y composición de la plática, del rostro, o del movimiento del andar, que hace a las personas apacibles. Y esta según algunos particularmente se declara en lo que obliga a risa, y alegría, con un modo de murmuración ligera“ (CA 159). Rhetorisch ist diese Qualität mithin der Ironie verwandt, die er, neben Metapher und Antonomasie, als einzige Stilfiguren des sermo familiaris zulässt und die gerade auch ein wesentliches Charakteristikum der Lope’schen Novelas a Marcia Leonarda 8 Daran schließt sich eine ironische Bemerkung gegen diejenigen „Halbgelehrten“ an, die, des Lateinischen nicht mächtig, aus dem Italienischen übersetzen und dies als Übertragungen aus dem Lateinischen ausgeben (NML 193); zu den Italianismen bei Lope vgl. Arce 1981.

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darstellt: „La Ironía es más propia de la conversación […], pues consiste en la gracia o risa, o disimulación del que habla que en las palabras“ (151). Im Verlauf der längeren Abhandlung – „Que cosa sea sal en la conversación“ –, in der Rodrigues Lobo vermutlich auf den Dialogtraktat des Bischofs Bernardino Gómez de Miedes, Commentariorum de sale libri quattuor/quinque (1572/1579), zurückgreift, setzt er sal immer wieder mit „gracia y galantería“ (CA 161) bzw. mit „lo bien dicho“ (CA 159) als Würze jeder Unterhaltung gleich: „y así la conversación que tiene más della, es más apetitosa y deseada de los oyentes“ (CA 159) bzw. „agradable[.] y sabrosa[.] a todo entendimiento“ (CA 161). Und, wie der Autor abschließend mahnt, sie bedarf einer feinen Dosierung, so dass das Konzept in seiner Bedeutung und Subtilität an Mérés ‚agréments‘ oder Bouhours’ ‚je ne sais quoi‘ erinnert: „y de la sal no me queda otra cosa que advertir mas que se haya con ella de manera el Cortesano, que no sea la platica toda de gracias ni sin ellas, sino una cierta liga, con que se componga el galano, y el hombre de juicio“ (CA 161). Auf die Erörterung der Scherzrede folgen bei Rodrigues Lobo bezeichnenderweise zwei Dialoge zur Kunst des Geschichtenerzählens mit entsprechenden Beispielen: „De la manera de contar historias en conversación“ (Diálogo X) und „De los cuentos, y dichos graciosos, y agudos en la conversación“ (Diálogo XI). Vor allem in Letzteren sind Ironie und sal entscheidend, ganz im Sinne der barocken ‚agudeza‘: Los dichos agudos consisten en mudar el sentido a una palabra para decir otra cosa, o en mudar alguna letra, o acento a la palabra para darle otro sentido, o en un tono y gracias con que en las mismas cosas muda la intención del que las dice; y de unos y otros los más graciosos y excelentes son las de las respuestas (CA 190).

Während Lopes Novellen über eine dialogische Rahmung verfügen, öffnet sich Lobos pragmatischer Dialog bei dieser Gelegenheit auf Erzählungen, Anekdoten und Pointen – in einer für das Siglo de Oro typischen Permeabilität von Gattungen und Textsorten. Lope selbst streut gelegentlich in den Rahmen wie in die Spannungsbögen seiner Novellen humoristische ‚historias intercaladas‘ ein, scherzhafte Geschichten und witzige Anekdoten, die teils der Ästhetik des concetto nahestehen, teils dem mündlich überlieferten Fundus traditioneller cuentos entstammen, von denen es heißt: „En tiempo menos discreto que el de agora, aunque de más hombres sabios, llamaban a las novelas cuentos. Estos se sabían de memoria y nunca, que yo me acuerde, los vi escritos […]“ (NML 104). Im Dialog zwischen dem Erzähler und Marcia zielen solche ‚dichos agudos‘ gelegentlich in ironischer Absicht auf Gender-Aspekte ab, wie etwa in jener gewitzten Antwort eines anonymen ‚Philosophen‘, „que diciéndole un amigo suyo que por qué se había casado con una mujer tan pequeña, respondió: ‚del mal lo menos‘“ (NML 260). Zumeist jedoch besitzen derlei Scherzreden eine weiterreichende Bedeutung, sei es in poetologischer oder in

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philosophischer Hinsicht. Auf metanarrativer Reflexionsebene etwa vergleicht Lope die emotionale Anteilnahme des Erzählers am Gegenstand seiner Erzählung anhand einer Anekdote mit der unterschiedlichen Implikation der Akteure bei einer Hinrichtung: Realmente, señora Marcia, que cuando llego a esta carta y resolución de Laura, me falta aliento para proseguir los que queda. […] Pero, paréceme que me podrían decir lo que el ahorcado dijo en la escalera al que le ayudaba a morir y sudaba mucho: ‚Pues, padre, no sudo yo, ¿y suda vuestra paternidad?‘. Si a Laura no se le da nada del deshonor y del peligro, ¿para qué se fatiga el que sólo tiene obligación de contar lo que pasó?, que aunque parece novela, debe de ser historia (NML 276f.).

Zugleich wird hier die Differenz zwischen fiktiver ‚novela‘ und authentischer ‚historia‘ in Frage gestellt, scheint der Autor doch im Eifer des Erzählens an die Wahrheit seiner eigenen Erfindung zu glauben. Ein weiteres Beispiel für die wirklichkeitsstiftende Macht der Fiktion liefert die Anekdote eines italienischen Quijote-Lesers, der einer ähnlichen Verwechslung von ficta und facta zum Opfer fällt wie Don Quijote angesichts des Puppenspiels von Maese Pedro: Aquí entra bien aquella transformación de un gran señor de Italia que leyendo una noche en Amadís de Gaula, sin reparar en la multitud de criados que le miraban, cuando llegó a verle en la Pena Pobre con nombre de Valtenebros comenzó a llorar y, dando un golpe sobre el libro, dijo: Maledeta sia la dona che tal te a fatto passare (NML 335).

Durch die scherzhaften Kommentare, die mal den Wahrheitsanspruch der Literatur, mal deren pure Fiktionalität herausstellen, verwirrt Lope seine Adressatin bzw. seine Leser und macht ihnen damit, ähnlich wie Cervantes, die Problematik literarischer Wirklichkeitssimulation bewusst. Die Freiheit und Beliebigkeit der literarischen Wirklichkeitserzeugung veranschaulicht er etwa in Hinsicht auf den Schauplatz seiner Novellen – „¿Dije la ciudad? No importa […]“ (NML 198) – oder deren Akteure: „Resolvióse Fátima (si a vuestra merced le parece que se llame así, porque yo no sé su nombre) a ir a ver a su marido […] (NML 223). Deren Wahrheitsanspruch bekräftigt er hingegen, als er den Realitätsgehalt eines maurischen Protagonisten gegen den Verdacht seiner Literarizität, als einem aus dem Romancero bekannten Typus, verteidigt: „Si está vuestra merced diciendo que de cuál de los moros del romancero le he sacado, no tiene razón, porque los otros estaban en Madrid o en Granada, y éste en medio de Túnez, con una lanza de veinticinco palmos, que aquí no hay que quitar nada […]“ (NML 324f.). Die bewusste Widersprüchlichkeit dieser metanarrativen Kommentare ist besonders auffällig bei präzisen Zahlenangaben, wie die „veinticinco palmos, que aquí no hay que quitar nada“. Der freilich ironischen Bezifferung des Gewichts von Ketten und Fesseln – „de peso de ciento y cincuenta escudos (que soy tan puntual novelador, que aun he querido que no le quede a vuestra merced este escrúpulo de lo que pesaba)“ (NML 196) – steht

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die ausdrückliche Gestattung des Zweifels entgegen – „Y es tan inmenso el número que come, que el de los cocineros es de cuatrocientos y cincuenta hombres, cosa que la cuentan y la escriben, y que podrá vuestra merced no creer sin ser descortés a la novela ni a la grandeza del Turco“ (NML 227) –, mit der wiederum die Versicherung von Gewissheit kontrastiert: „yo gusto de que vuestra merced no oiga cosas que dude“ (NML 198). Als poetologischer Kommentar betreibt die Scherzrede ein erhellendes Verwirrspiel zwischen verosimilitud und Fiktionalität. Sie erweist sich als spielerische Strategie der Subversion, lässt sie doch hinter dem vertrauenswürdigen Erzähler einen ‚unreliable narrator‘ aufscheinen und lockt den gutgläubigen Leser auf den Weg zur Autonomie. Schließlich bleiben vom subversiven Humor der Eutrapelie selbst die klassischen Autoritäten nicht verschont (vgl. Albert 2014), womit das einst elitäre und autoritative Humanistenwissen definitiv in den pragmatischen Rahmen geselliger Konversation überführt wird. Nicht zuletzt Aristoteles, der Philosoph schlechthin und Begründer des Konzepts der Eutrapelie, fällt derselben am Ende selbst zum Opfer. 9 Die erste dieser Nennungen steht in einem poetologischen Zusammenhang: In dem für die Salonkultur typischen beiläufigen Ton wird Aristoteles als Befürworter einer volkstümlichen Ästhetik zitiert und sodann, mit Rücksicht auf die mangelnde humanistische Bildung seiner Adressatin, als ihr ebenbürtig präsentiert, fehle es ihm doch auch an Lateinkenntnissen, was freilich als Verteidigung der Volkssprache zu verstehen ist: […] yo he pensado que tienen las novelas los mismos preceptos que las comedias, cuyo fin es haber dado su autor contento y gusto al pueblo, aunque se ahorque el arte; y esto, aunque va dicho al descuido, fue opinión de Aristóteles. Y por si vuestra merced no supiere quién es este hombre, desde hoy queda advertida de que no supo latín, porque habló en la lengua que le enseñaron sus padres, y pienso que era en Grecia (NML183f.).

Es wird deutlich, in wie intrikater Weise die Scherzrede, die Normen höflicher Konversation respektierend, Kompliment und Ironie, ästhetische und linguistische Überzeugungen, Autorisierung und Subversion miteinander verknüpft. An anderer Stelle empfiehlt Lope seiner Adressatin, die Autorität des Aristoteles rein pragmatisch als Argumentationsstrategie im Salongespräch zu verwenden: „dígale que Aristóteles no lo sintió desta suerte; y que a vuestra merced le consta que este filósofo era más hombre de bien que Plinio, y que trataba más verdad en sus cosas“ (NML 197). Und schließlich gibt er ihn aufgrund seiner tautologischen Definition der Fortuna vollends der Lächerlichkeit preis, wobei

9 Nicht so Seneca, den Lope unbestritten als „el mayor filósofo“ schätzt (NML 271) und mehrfach zitiert: als Tragödiendichter (NML 239), als Poet(en) der Nacht (NML 254 mit Statius) oder als Anthropologe(n), der sich zur Liebe (NML 271) wie zur menschlichen Unbeständigkeit autoritativ äußerte (NML 122, 225, 228).

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er zwar zynisch die Fallhöhe unterstreicht, aber doch in Humanistenmanier die entsprechende Textstelle nennt: Y en esta parte no puedo dejarme de reír de la definición que da Aristóteles de la Fortuna; no le faltaba más a este buen hombre sino que en las novelas hubiese quien se riese dél. Dice, pues, que la buena fortuna es cuando sucede alguna cosa buena y la mala cuando mala. Mire vuestra merced si tengo razón, pues en verdad que lo dijo en el segundo de los Físicos […] (NML 217).

In letzter Konsequenz erweist sich die Scherzrede in den Novelas a Marcia Leonarda jenseits ihrer unterhaltsamen Funktion als Würze der Konversation, als Waffe in der Auseinandersetzung zwischen Moderni und Antiqui. Diese weitreichende Konsequenz erschließt sich anlässlich eines ironischen Erzählerkommentars, der am Beispiel Antonio de Guevaras zwei Grundpfeiler humanistischen Denkens in Frage stellt: das Autoritätsprinzip und das Prestige der klassischen Sprachen: La común fortuna hace mayores las confianzas del remedio y menores los sentimientos de las adversidades, como dijo no sé si era el filósofo Mirtilo, como solía la buena memoria de fray Antonio de Guevara, escritor célebre a quien de aquí y de allí jamás faltó un filósofo para prohijarlo una sentencia suya. Y cierto que algunas veces es menos lo que de ellos dijeron que lo que podría decir ahora cualquier moderno; pero dase autoridad a lo que se escribe diciendo: ‚como dijo el gran Tamorlán‘, o ‚se halla escrito en los Anales de Moscovia, que están en la librería de la universidad del Cairo‘. Porque si ello es bueno, ¿qué importa que lo haya dicho en griego o en castellano? Y si malo y frío, ¿cómo podrá vencer la autoridad al entendimiento? (NML 208f.).

Wenn es bei Lope heißt, Novellen seien „libros de grande entretenimiento“, deren Verfasser „hombres científicos o por lo menos grandes cortesanos“ sein sollten, „gente que halla en los desengaños notables sentencias y aforismos“ (NML 106), so postuliert er für diese Gattung eine beispielhafte Verbindung von Theorie und Praxis, Wissen und Erfahrung, humanistischer Tradition und Geselligkeit. Im Vergleich zwischen seinen Novelas a Marcia Leonarda und Rodrigues Lobos Corte en aldea wird so deutlich, dass die in dem Dialogtraktat vermittelten sozialen Normen, speziell bezüglich der Konversationsrhetorik, weite Geltung besaßen. In der dialogischen Rahmenstruktur seiner Novellen bezieht sich Lope immer wieder implizit auf dieses Regelwerk, nicht selten auch ex negativo, in Form von Normverstößen. Durch die Markierung der Normabweichung signalisiert er die Unterschiede zwischen Pragmatik und Literarizität. Insbesondere die Eutrapelie bzw. Scherzrede als Würze der Konversation und Bindemittel geselligen Zusammenlebens gewinnt im Medium der Literatur ungeahnte Tragweite. Lope nutzt sie als Verfahren der Dekonstruktion sowohl auf poetologischer wie auf philosophischer Ebene, womit er die Priorität des individuellen ‚entendimiento‘ gegenüber der traditionellen

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‚autoridad‘ begründet. Neben die für die Novellistik des Siglo de Oro veranschlagten Funktionen der Unterhaltung und Belehrung tritt insofern in den Novelas a Marcia Leonarda, dank der ebenso vielschichtigen wie gezielten Verwendung der Scherzrede, die Emanzipation des Lesers bzw. der Leserin.

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Saluto – salute : Der Gruß der Dame und das Heil des Liebenden – Zur semantischen Transformation eines Motivs in der italienischen Liebesdichtung des Mittelalters

Wer sich mit dem immer wieder zitierten Motiv des Grußes der Dame in der Liebesdichtung des Mittelalters genauer beschäftigt, stößt bei seinen bibliographischen Recherchen auf eine recht überschaubare Anzahl von Studien. 1 Darüber hinaus stellt man fest, dass die einzige systematische Untersuchung, die der Sprache und Funktion des Grußes in literarischen Texten des romanischen Mittelalters gewidmet ist, aus der Feder eines Sprachwissenschaftlers stammt. Es ist nun im Kontext einer Festschrift unschwer zu erraten, dass der Autor dieser Studie der in diesem Band zu ehrende Franz Lebsanft sein muss, der mit einer Dissertation über die Linguistik des Grußes im Altfranzösischen im Jahre 1986 in Tübingen promoviert wurde. Die zwei Jahre später bei Niemeyer erschienene Arbeit (Lebsanft 1988) ist eine geradezu enzyklopädische Erfassung der sprachlichen Strukturen von Grußformeln in ihren lexikalischen und phraseologischen Komponenten und Funktionen, so wie es ihre Okkurenzen in den untersuchten narrativen Texten aus dem 12. und 13. Jh. zeigen. Entsprechend der Hoffnung, die Franz Lebsanft in der Einleitung zu seiner Dissertation u.a. mit seinen Untersuchungen verbindet, nämlich, dass seine „Arbeit auch dem textnahen Literaturwissenschaftler von Nutzen sein“ möge (4), möchte ich mich in den folgenden Ausführungen seiner Methode verpflichtet fühlen und die Belegstellen, die ich zum Gruß der Dame in der italienischen Liebeslyrik des Mittelalters bei einer kursorischen Lektüre finden konnte, „in ihrem Kontext eingehend [...] interpretieren“ (4). Dies will zunächst einmal heißen in ihrem jeweiligen textuellen Kontext, um dann im Vergleich die 1 Vgl. am eingehendsten Warning 1983, der allerdings eine andere Zielsetzung verfolgt als dieser Beitrag und mit einer dekonstruktivistischen Lektüre das mittelalterliche Frauenlob in eine Genealogie mit Baudelaires A une passante setzt. Nur punktuell erwähnt wird das Grußmotiv bei Friedrich 1964: 72, 114 und Schiaffini 1943: 101f.

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semantischen Transformationen in der Behandlung des Motivs von der scuola siciliana bis zu Petrarca zu beschreiben. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen des vorliegenden Beitrages weder eine vollständige noch eine systematische Erfassung des Phänomens angestrebt werden konnte. Es soll vielmehr an punktuellen Beispielen aus verschiedenen Phasen der Frühgeschichte der italienischen Lyrik gezeigt werden, wie sich das Grußmotiv als Gradmesser für die historischen Wandlungsprozesse in der Liebessemantik der mittelalterlichen Minnedichtung auswerten lässt. Im Gegensatz zum methodischen Vorgehen von Franz Lebsanft wird dabei allerdings die Beschreibung der grammatischen und lexikalischen Strukturen des Grußes in den Hintergrund treten, da sich dieser in den zu behandelnden Fällen fast ausschließlich stumm vollzieht und sich lediglich in der Zeichensprache des Blicks bzw. einer Kopf- oder Handbewegung artikuliert. Bereits in der frühesten Etappe der italienischen Liebeslyrik, in der scuola siciliana, deutet sich in einer Kanzone eines ihrer prominentesten Vertreter, Giacomo da Lentini, die Bedeutung des Grußes bzw. des Blicks in der Begegnung des lyrischen Ichs mit seiner Angebeteten an, auch wenn dies hier noch ex negativo, d.h. als bewusste Vermeidung des Blickkontaktes mit der vorübergehenden Dame, geschieht. Zunächst entfaltet das lyrische Ich in den ersten drei Strophen der insgesamt siebenstrophigen Kanzone, die häufig unter ihrem Incipit „Meravigliosamente“ zitiert wird, eine Liebessituation, die vor allem geprägt ist durch die physische Abwesenheit der Dame und ihre imaginäre Vergegenwärtigung in einem Bild, das sich das lyrische Ich in seinen Gedanken schafft und in seinem Herzen zu tragen pflegt: „In cor par ch’eo vi porti, / pinta come parete“ (V. 10). 2 Diese Verinnerlichung der Geliebten nimmt Züge des Einzigartigen an, wenn der Sprecher die affektive Qualität seiner Begegnung mit der Dame durch einen Vergleich mit einem Gläubigen verdeutlicht, der die Wirkung seines Glaubens wie eine Erlösung in sich verspürt, auch wenn er Gott dabei nicht vor seinen Augen wahrnehmen kann: e par ch’eo v’aggia avante: come quello che crede salvarsi per sua fede, ancor non veggia inante (Str. 3, V. 24-27).

Mit diesem Vergleich wird die Dame zu einem überhöhten, unerreichbaren Wesen entrückt, das sich dem Sprecher in dem Maße wieder entzieht, wie er es in der Realität zu konkretisieren versucht. So macht das lyrische Ich im Abgesang der vierten Strophe deutlich, dass sich jede (imaginierte) Begegnung mit

2 Das Gedicht wird zitiert nach Contini 1960, I: 55-57.

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der geliebten Dame wie im Vorübergehen vollzieht und ihm nolens volens keinen Blick in ihr Gesicht eröffnet: similemente eo ardo quando pass’e non guardo a voi, vis’amoroso (Str. 3, V. 34-36).

Der Moment der Begegnung nimmt damit die Aura des Flüchtigen und nur Geistigen an, eine Aura, die durch die nicht realisierte oder gar nicht möglich erscheinende sinnliche Kontaktaufnahme verstärkt wird. Dieser Eindruck bestätigt sich in der fünften Strophe, wo der Sprecher zwischen den Zeilen erkennen lässt, dass, selbst wenn er seine Augen bei einer solchen Begegnung auf die Dame richtet, diese konturen- und reaktionslos bleibt: S’eo guardo, quando passo, Inver’ voi, no mi giro, bella, per risguardare (Str. 5, V. 37-39).

Trotz des Appellativs „bella“, der hier nur eine rhetorische Funktion erfüllt, sieht das lyrische Ich offensichtlich keine andere Möglichkeit, als an der Dame vorüberzugehen, und selbst ein Blick zurück, um sich ihrer zugeneigten Präsenz zu vergewissern, scheint von ihm von vornherein als aussichtslos verworfen zu werden. Diese Situation thematisiert letzten Endes einen Mangel, nämlich das Ausbleiben der Erwiderung des Blickes durch die Dame oder das Fehlen ihres Grußes, also die Abwesenheit all jener Gesten, die eine Aussicht auf Erfüllung des Begehrens signalisieren könnten. Deshalb bricht das lyrische Ich im Weitergehen bei jedem Schritt in einen „gran sospiro“ (Str. 5, V. 41) aus. Für unseren Zusammenhang ist Giacomos Kanzone also bedeutsam, weil sie ein frühes Zeugnis dafür ist, wie die Unnahbarkeit der Dame durch eine Leerstelle ihres Blicks oder gar Grußes zum Ausdruck gebracht wird. Daraus resultiert im Umkehrschluss, dass eine entsprechende Präsenz der Dame zu jenem Gefühl des „salvarsi“ (Str. 3, V. 26) führen würde, das eine gläubige Person im Angesicht Gottes verspüren kann: die Rettung, die Erlösung, das Heil oder, um es mit Hugo Friedrichs Worten zu präzisieren: „Vom Gruß der Herrin kommt das Heil des Liebenden“ (Friedrich 1964: 114). Im Italienischen wird diese Verbindung durch die Paronomasie der beiden entsprechenden Begriffe noch enger zusammengeschweißt: saluto – salute. Interessant ist nun, dass die oben von Hugo Friedrich für die Vita nuova diagnostizierte begriffliche Allianz zwischen saluto und salute von Giacomo da Lentini zumindest inhaltlich schon angedeutet und von seinen Nachfolgern noch deutlicher aufgegriffen wird, bis hin zu ihrer explizitesten Formulierung in Dantes Vita nuova, aber auch noch darüber hinaus bei Petrarca. Dies zu verfolgen wird das Ziel der weiteren

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Ausführungen sein, die dabei vor allem um die Frage nach der Funktionalisierung der saluto-salute-Beziehung kreisen werden. Festzuhalten gilt es, dass in Giacomo da Lentinis Kanzone die fin’amor der Provenzalen vom Außenraum einer sozialen Aporie in den Innenraum einer gedanklichen verlagert wird. 3 Die Unlösbarkeit des Dilemmas zwischen dem Liebesbegehren und seiner Nicht-Erfüllung wird nicht mehr durch die Differenz in der sozialen Rangordnung zwischen Sänger und Herrin bestimmt, sondern durch das fast schon ludische Ausschreiten der psychischen Wirkungen dieses Konfliktes in der Dichtung. Hugo Friedrich hat diesen Wandlungsprozess durch die Tatsache erklärt, dass der „Beamtenstaat Friedrichs II. [...] nur weniges [hatte], was sich mit dem Feudalismus der französischen Höfe vergleichen lässt“ (Friedrich 1964: 26) und dass es der sizilianischen Lyrik deshalb „nur auf eines an[kam], auf das Wortwerden aller rituellen Phasen zwischen der Freude und dem Leiden [der Liebe]“ (Friedrich 1964: 35). Um dieses Ritual aufrechtzuerhalten, ist es geradezu zwingend, dass die Liebe keine Erfüllung findet, denn Letzteres bedeutet die Auflösung der psychologischen Spannung von Hoffnung und Enttäuschung, Freude und Schmerz und in letzter Konsequenz den Abbruch des Dichtens über die fin’amor. Die Präsenz der Dame muss deshalb momenthaft oder illusorisch bleiben, ihr Gruß oder Blick muss flüchtig oder bloßes Desiderat sein, wie dies in Giacomos Kanzone der Fall ist. Die Entrückung der Herrin oder ihre Abwesenheit und der damit verbundene Entzug des Heils des Liebenden ist letztlich poetische Notwendigkeit, d.h. die conditio sine qua non des Dichtens über die Liebe. Und selbst wenn die Dame im Moment einer epiphaniehaften Erscheinung dem Liebenden einen grüßenden Blick gewährt, geschieht dies im Bewusstsein des unmittelbar wieder drohenden Verlustes der heilsbringenden Geste und löst deshalb mehr das Gefühl von Furcht und Leid als von Freude und Erfüllung aus, wie dies im folgenden Gedicht von Guido Guinizelli angedeutet wird: 1 2 3 4

Lo vostro bel saluto e ’l gentil sguardo che fate quando v’encontro, m’ancide: Amor m’assale e già non ha reguardo s’elli face peccato over merzede

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ché per mezzo lo cor me lanciò un dardo ched oltre ’n parte lo taglia e divide; parlar non posso, ché ’n pene io ardo sì come quelli che sua morte vede.

3 Vgl. die Interpretation der Giacomo-Kanzone von Bernsen 2001: 241-246 und seine Charakterisierung der sizilianischen Lyrik als „Konzentration des lyrischen Ichs auf seinen inneren Zustand“ (175).

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Per li occhi passa come fa lo trono, che fer’ per la finestra de la torre e ciò che dentro trova spezza e fende:

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remagno como statüa d’ottono, ove vita né spirto non ricorre, se non che la figura d’omo rende. (Contini 1960, II: 468)

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Auffallend in diesem Sonett ist, dass die erfüllende Wirkung, die wir bislang dem Gruß und dem Blick der Dame zugeschrieben haben, nur im ersten Vers kurz aufscheint: „bel“ ist der „saluto“ und „gentil“ der „sguardo“, wobei das Attribut gentile das Edle, Reine, Anmutige und Erhabene dieses Augenblicks zum Ausdruck bringt, so wie es in der Poetik des dolce stil novo zur Bezeichnung der idealen Form der Liebe Usus werden sollte. 4 Die übrigen Verse stehen dagegen im Zeichen einer negativen Erfahrung: die Isotopien des Todes, der Vernichtung und der Erstarrung zeugen auf Schritt und Tritt davon. Die „mercede“ (V. 4), der Gnadenakt des Glücks, der aus dem grüßenden Blick der Dame eigentlich resultieren müsste, wird zwar noch flüchtig erwähnt, ist aber bereits überlagert von den Empfindungen des Gegenteils, zu sehr weiß der Sprecher im Augenblick der Begegnung schon um die Vergänglichkeit des Ereignisses und antizipiert somit nur noch die inneren Befindlichkeiten, die er durch den Verlust der Präsenz der Dame erleiden wird oder bereits erleidet. Auf jeden Fall rücken die beiden Terzette den Augenblick des innamoramento ganz ins Licht einer erschütternden Erfahrung, die durch die gewaltigen Bilder der inneren Zerstörung und Leblosigkeit zur Artikulation gelangt: der Pfeil Amors durchfährt die Augen des lyrischen Ichs wie ein Blitz („trono“, 5 V. 9), der durch das Fenster eines Turmes zuckt und alles in dessen Innenraum zerbricht und spaltet. Deshalb nimmt sich das Ich nur noch als eine körperliche Hülle wahr, vergleichbar mit einer Statue, die weder mit „vita“ noch „spirto“ (V. 13) erfüllt ist. Diese innere Leere, die letztlich schon wieder die Abwesenheit der Dame im Augenblick ihrer grüßenden Präsenz signalisiert, ist bei Guinizelli allerdings nicht mehr einem Minneritual geschuldet, das noch bei den Sizilianern gerade aus diesem Paradox die poetische Kraft des Dichtens über die Liebe gewinnt, sondern lässt sich bei ihm auf eine Vergeistigung der Liebe zurückführen, die das Objekt des Begehrens in die Transzendenz entrückt. Diese Konnotierung 4 Vgl. zu den Konnotationen des Begriffes gentilezza in der stilnovistischen Lyrik Friedrich 1964: 51f. 5 Der Begriff trono ist laut Zingarelli eine Variante von truono und tuono und ist hier in seiner Bedeutung Donner sicherlich als Metonymie des Blitzes zu verstehen, der in Verbindung mit Amors Pfeil und der Metaphorik des Auges als empfangendes Organ des Liebespfeils adäquater in die Bildreihe passt.

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der Liebe wird in dem vorliegenden Gedicht allerdings nur zwischen den Zeilen angedeutet, und zwar in der Sprachlosigkeit, die das lyrische Ich heimsucht, als es bei der Begegnung einerseits in Liebe erglüht, andererseits aber auch durch das Feuer der Liebe Qualen erleidet, die vergleichbar sind mit jenen, mit denen sich der Mensch im Tod konfrontiert sieht: „parlar non posso che ’n gran pene eo ardo / sí come quelli che sua morte vide“ (V. 7f.). Vor dem Hintergrund dieses Bildes weisen die beiden Verse den Gruß der Dame als eine Grenzerfahrung aus, die an etwas Transzendentes heranreicht, das in Ermangelung seiner wahren Substanz unaussprechbar bleibt. Dieser Zusammenhang erfährt eine Bestätigung, wenn wir einen Blick auf ein weiteres Grußsonett von Guinizelli werfen: 1 2 3 4

Io voglio del ver la mia donna laudare Ed assembrarli la rosa e lo giglio: Più che stella dïana splende e pare, e ciò ch’è lassù bello a lei somiglio.

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Verde river’ a lei rasembro e l’âre, tutti color di fior’, giano e vermiglio, oro ed azzurro e ricche gioi per dare: medesmo Amor per lei rafina meglio.

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Passa per via adorna, e sì gentile ch’abbassa orgoglio a cui dona salute, e fa ’l de nostra fé se non la crede;

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e nolle pò apressare om che sia vile; ancor ve dirò c’ha maggior vertute: null’om pò mal pensar fin che la vede. (Contini 1960, II: 472)

Auch hier handelt es sich um eine flüchtige Begegnung mit einer Dame, die im Vorübergehen grüßt, wie es in den ersten beiden Versen des ersten Terzetts hervorgehoben wird. Dem gemeinen Menschen bleibt ihre in den Quartetten beschriebene Anmut allerdings versagt: „nolle pò appressar omo ch’è vile“ (V. 12). Er kann ihr erhabenes Wesen allenfalls erahnen, wenn sie ihm die Gnade ihres Grußes schenkt, denn dann wird er ganz demütig durch die Wirkung, die in diesem Augenblick von dieser Geste ausgeht („abbassa orgoglio“, V. 10). Was in diesem Sonett jedoch besonders hervorsticht, ist, dass das italienische Verb des Grüßens durch eine morphologische Auffälligkeit die ganze Suggestionskraft seines allegorischen Heilssinns deutlich macht: anstelle der Verbform saluta benutzt Guinizelli für die dritte Person Singular die nach Rohlfs (1949: 290) äußerst seltene und eigentlich auf Ligurien und Korsika begrenzte Form mit der Endung auf -e, salute, und erreicht damit auf funktionaler Ebene einen

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höchst bedeutungsvollen Effekt. Der durch die Verbform evozierte Akt des Grüßens setzt durch die Homonymie mit dem Substantiv „salute“ gleichzeitig das ganze Bedeutungsvolumen von Heil und Erlösung frei, das hier mit der Begegnung unmittelbar assoziiert wird. In diesem Sonett wird also mehr als deutlich, dass der Gruß der Dame im lyrischen Ich eine Wirkung entfaltet, deren Ursache nicht mehr in dieser Welt zu verorten ist. Damit wird der Liebe eine Spiritualität verliehen, die dem Objekt des Begehrens zwar einen religiösen Charakter zuschreibt, sich aber nur schwerlich einem bestimmten religiösen oder metaphysischen Credo zuordnen lässt. Selbst wenn in dem Begriff salute der Heilsgedanke anklingt, signalisiert dieser im vorliegenden Fall allein den Dualismus von niederem Dasein und geistiger Erhabenheit, ohne dass dabei die christlichen Mechanismen von irdischer Sündhaftigkeit und jenseitigem Läuterungsweg ins Spiel gebracht werden. Der Sprung ins Heil ist in der Liebestheorie des dolce stil novo kein prozessualer, sondern ein kategorialer, d.h. ein zwar denkbarer, aber nicht realisierbarer unmittelbarer Übergang von den Niederungen des defizitären irdischen Daseins in die Höhen einer geistigen Idealität. Dass das Wesen dieser Idealität keine genauere Ausformulierung erfährt, ist der Tatsache geschuldet, dass sie eben weder erkennbar noch benennbar ist. Um dem Zusammenhang zwischen dem Gruß der Dame und den Heilserwartungen des lyrischen Ichs noch mehr Profil zu geben, sollen im Folgenden noch einige Belegstellen aus Gedichten von Guido Cavalcanti und Cino da Pistoia herangezogen werden, ohne dass die jeweiligen Texte in toto interpretiert werden. In Cavalcantis Sonett „Chi è questa che vèn ch’ogn’om la mira [...]?“ (Contini 1960, II: 495) zeugt schon diese Frage im Eingangsvers von dem überwältigenden Eindruck, den die Minnedame auf all jene ausübt, die ihr begegnen, und der dann in den folgenden Versen präzisiert wird: Sie bringt die Luft in ihrer Umgebung zum Erzittern (V. 2), und ihr Begleiter Amor sorgt dafür, dass es allen die Sprache verschlägt: „parlare null’omo pote“ (V. 4). Eine der Ursachen für diese Sprachlosigkeit ist nicht nur das Begehren, das die Dame in allen erweckt („ciascun sospira“, 6 V. 4), sondern auch die Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes, ihre heilsbringende Wirkung in nuce zu erkennen: Non fu sì alta già la mente nostra e non si pose ’n noi tanta salute, che propriamente n’aviàn canoscenza (V. 12-14).

Dennoch genügt bereits die punktuelle und partielle Wahrnehmung des Wesens der Dame im Augenblick ihres Grußes, um im erlebenden Subjekt das 6 Das Wort sospirare weist in seiner Doppeldeutigkeit von ‚seufzen‘ und ‚herbeisehnen‘ eindringlich auf die Spannung zwischen Verlust und Begehren der Minnedame hin.

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Gefühl auszulösen, dass sie als Zeichen des höchsten Seelenheils zu gelten hat, wie es Cino da Pistoia in einem seiner Sonette hervorhebt: Tutto mi salva il dolce salutare che ven da quella ch’è somma salute [...]. (Contini 1960, II: 660, V. 1f.)

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass dieser Augenblick zum Fluchtpunkt des Begehrens wird und vom sprechenden Subjekt immer wieder herbeigesehnt und in Gedanken präsent gehalten wird, um den Unbillen des Daseins ein Gegengewicht zu geben. Ein Beispiel hierfür ist die folgende an Amor gerichtete Apostrophe am Anfang einer Kanzone desselben Autors: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Quando potrò io dir: ‚Dolce mio dio [i.e. Amor], per tua grande vertute or m’hai tu posto d’ogni guerra in pace, però che gli occhi miei, com’io disio, veggion quella salute che dopo affanno riposar mi face‘? Quando potrò io dir: ‚Signor verace, or m’hai tu tratto d’ogni oscuritate, or liberato son d’ogni martiro, però ch’io veggio e miro quella ch’è dëa d’ogni gran biltate, che m’empie tutto di soavitate‘? (Contini 1960, II: 660)

In einer Projektion auf die Zukunft bittet das lyrische Ich Amor, die Wiederbegegnung mit jener „salute“ (V. 5) herbeizuführen, die ihm – metaphorisch gesprochen – Frieden nach dem Krieg und Ruhe („riposar“, V. 6) nach dem Leiden („affanno“, V. 6) gewährt und ihn aus der „oscuritate“ (V. 8) und dem „martiro“ (V. 9) des Lebens hinausführt, weil es ihm dabei vergönnt ist, die „gran biltate (beltà)“ einer „dëa“ (V. 11) zu schauen, die seine Seele mit ihrer ganzen „soavitate“ (V. 12) erfüllt. Die Klangähnlichkeit der beiden Wörter salute und saluto legt nahe, dass auch hier die Heilserwartung durch den Gruß der Dame verursacht wird, die die positiven Aspekte der Ruhe, Sanftheit und Schönheit auf den Sprecher ausstrahlt und in ihm wirken lässt. Dass es sich bei dieser Begegnung um eine flüchtige Erfahrung der Vergangenheit handeln muss, wird durch die Tatsache angedeutet, dass das lyrische Ich alle Symptome des Ereignisses bereits kennt, aber sie nur als Desiderat formulieren kann („com’io disio“, V. 4). Summa summarum ist die Minnedame im dolce stil novo eine unbestimmte „dëa“, die allein an den Wirkungen Amors für einen

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Moment erfahrbar wird und dabei das liebende Ich mit ihrer „soavitate“ und „gentilezza“ veredelt. 7 In Dantes Vita nuova wird die Spiritualität der Dame dagegen eindeutiger mit den Attributen der moraltheologischen Eschatologie des Christentums besetzt und die von ihrem Gruß ausgehende Heilswirkung mit dem Begriff der beatitudine korreliert, der hier als Synonym zu salute zu verstehen ist. Die Urszene in dieser Hinsicht vollzieht sich in der Erzählprosa des Werkes, die bekanntlich Dantes Abwendung von der stilnovistischen Ausrichtung der in den Prosateilen eingelassenen Gedichte thematisiert, die in einer früheren Schaffensphase des Autors entstanden sind. 8 Diese Szene schildert die zweite Begegnung mit Beatrice und rückt im Gegensatz zur ersteren, die einen Vergleich ihrer Erscheinung mit der Christusfigur und der Trinität nahelegt, 9 ihren Gruß ins Zentrum der Beschreibung. „[M]irabile“ und „vestita di colore bianchissimo“ (Dante 1983: 73) taucht Beatrice plötzlich mit einem Gruß vor den Augen des Erzählers auf und lässt ihn an ihrer „beatitudine“ teilhaben: [...] passando per una via, volse gli occhi verso quella parte ov’io era molto pauroso, e per la sua ineffabile cortesia [...], mi salutòe virtuosamente tanto, che mi parve allora vedere tutti li termini della beatitudine. L’ora che lo suo dolcissimo salutare mi giunse, era fermamente nona di quel giorno. E però che quella fu la prima volta che le sue parole si mossero per venire alli miei orecchi, presi tanta dolcezza, che come inebriato mi partio dalle genti, e ricorso al solingo luogo d’una mia camera, puosimi a pensare di questa corstesissima (Dante 1983: 73).

Im Vergleich zur Thematisierung des Grußes im dolce stil novo ist hier auffällig, dass die Dame einerseits viel konkreter in Erscheinung tritt und einen Namen hat, andererseits aber in ihrer Wirkungsmacht nach wie vor unaussprechbar – „ineffabile“ – bleibt und damit eine Distanz markiert, die dem erlebenden Ich keine andere Alternative belässt, als von ihr abzulassen und sich zurückzuziehen, wenn auch noch berauscht von ihrer „dolcezza“. Die wahre Bedeutung des Grußes und seiner einzigartigen Wirkung wird dem erzählenden Ich aber erst klar, als ihm Beatrice eines Tages den Gruß verweigert, weil er, wie mit ihr verabredet, anderen Damen den Hof macht, um seine eigentliche Liebe zu ihr zu verheimlichen. Dennoch muss er trotz des abgesprochenen Rituals feststellen:

7 Vgl. u.a. Kablitz 1991: 39. 8 Auf diesen Zusammenhang kann hier nicht weiter eingegangen werden: vgl. hierzu einschlägig Wehle 1986. 9 Hierfür spricht die Zahlensymbolik bei der Datierung der ersten Begegnung und die Epitheta, die Beatrice zugeschrieben werden: „[...] quasi dal principio del suo anno nono apparve a me, ed io la vidi quasi la fine del mio nono. Apparve vestita di nobilissimo colore, umile e onesto, sanguigno [...] ‚Ella non parea figliuola d’uomo mortale, ma di deo‘“ (Dante 1983: 70f.).

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[...] quella gentilissima, [...] mi negò lo suo dolcissimo salutare, nello quale stava tutta la mia beatitudine. E uscendo alquanto del proposito presente, voglio dare a intendere quello che lo suo salutare in me virtuosamente opera. Dico che quando ella apparia da parte alcuna, per la speranza della mirabile salute nullo nemico mi rimanea, anzi mi giugnea una fiamma di caritade, la quale mi facea perdonare a chiunque m’avesse offeso. [...] E quando questa gentilissima salute salutava, [...] appare manifestamente che nelle sue salute abitava la mia beatitudine [...]. Ora tornando al proposito dico che poi che la mia beatitudine mi fu negata, mi giunse tanto dolore che, partito me dalle genti, in solinga parte andai a bagnare la terra d’amarissime lagrime (Dante 1983: 86f.).

Die hier zugegebenermaßen durch Auslassungen verdichtete Passage macht nichtsdestotrotz die hohe Frequenz deutlich, mit der die Begriffe salutare und salute in der Originallänge von gut einer Seite vorkommen und in ihrer Bedeutung zwischen Gruß und Heilserfüllung oszillieren. Lapidar formuliert könnte man sagen, dass sich der zitierte Abschnitt in der folgenden Aussage auf den Punkt bringen lässt: kein saluto ohne salute und keine salute ohne saluto. In der genaueren linguistischen Analyse stellt sich diese Aussage allerdings komplizierter dar, da der Text bewusst mit den rhetorischen Figuren der Paronomasie und der Homonymie spielt, um die enge Verbindung zwischen Beatrices Gruß und der Teilhabe an ihrer beatitudine herzustellen. Beim eindeutigen Verweis auf das bloße Grüßen wird in der zitierten Passage das Verb salutare verwendet. Dort, wo der Gruß in einen engeren Kontext mit der beatitudine tritt, benutzt Dante das Wort salute, im Singular und Plural, aber auch in diesen Fällen zunächst im buchstäblichen Sinn von ‚Gruß‘. 10 Gleichzeitig lässt er jedoch auf der Klangebene auch ohne Zweifel den allegorischen Sinn der Heilserfahrung mitschwingen, denn wenn man in der Vita nuova nach den Okkurenzen der Begriffe salute und saluto sucht, wie es die Datenbank des Princeton Dante Project bequem möglich macht, 11 fällt auf, dass die Häufigkeit von saluto mit vier Fällen weitaus geringer ausfällt als jene von salute mit 14 Fällen. 12 Dies weist eindeutig darauf hin, dass Dante die semantische Ambivalenz des letzteren Begriffes dazu ausnutzt, um die numinose Aura von Beatrices Gruß zu forcieren. Die Minnedame wird zur sakralen Ikone, die in Dantes Neuem Leben den christlichen Erlösungs- und Heilsgedanken symbolisiert und die Phase seines stilnovistischen Dichtens, das noch auf eine die Dame im Unbestimmten lassende Amortheologie fokussiert war, überwindet. 10 Der Zingarelli gibt unter dem Eintrag salute die archaische Form saluta an, die auf einen Gebrauch im Sinne von saluto zurückblicken kann, und zitiert als Beispiele tendere salute und darsi salute im Sinne von salutare und salutarsi. 11 Vgl. etcweb.princeton.edu/dante/pdp/search.html, den Link „Minor Works Search“, Zugriff 21.3.2014. 12 Vgl. für saluto III 3, XVIII 4, XIX 20, XXVI 1 und für salute III 4, III 10, VIII 11, VIII 12, XI 1, XI 3, XI 4, XII 6, XIX 10, XXVI 9, XXVI 10, XXVII 4, XXXI 10, XXXII 6. Die römische Ziffer verweist auf das Kapitel, die arabische auf die Satznummerierung innerhalb der Kapitel.

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Wenn wir jetzt noch einen abschließenden Blick auf ein Grußsonett von Petrarca werfen, wird sich zeigen, dass die heilige Aura, die bei Dante vom Gruß der Dame ausgeht, vom Verfasser des Canzoniere wieder auf eine profanere Ebene zurückgeführt wird. 13 Hier der Wortlaut des Gedichtes: 1 2 3 4

La donna che ’l mio cor nel viso porta, là dove sol fra bei pensier’ d’amore sedea, m’apparve; et io per farle honore mossi con fronte reverente et smorta.

5 6 7 8

Tosto che del mio stato fussi accorta, a me si volse in sì novo colore ch’avrebbe a Giove nel maggior furore tolto l’arme di mano, et l’ira morta.

9 10 11

I’ mi riscossi; et ella oltra, parlando, passò, che la parola i’ non soffersi, né ’l dolce sfavillar degli occhi suoi.

12 13 14

Or mi ritrovo pien di sì diversi piaceri, in quel saluto ripensando, che duol non sento, né senti’ ma’ poi. (Petrarca 42010, Sonett 111)

Ausgangspunkt des Sonetts ist das plötzliche Auftauchen jener donna Laura, der das Herz des Sprechers gehört, wie er im ersten Vers gleich deutlich macht. Ungewöhnlich im Vergleich mit den vorher betrachteten Gedichten ist, dass das lyrische Ich zuerst den Gruß an die Dame richtet und nicht umgekehrt. Dies geschieht mit einer bloßen Bewegung des Hauptes („mossi con fronte“, V. 4), die aber voller Hochachtung („farle honore“, V. 3) und Ehrfurcht („reverente“, V. 4) zugleich ist. Sein erblasstes Gesicht („smorta“, V. 4) lässt diese emotionale Verfasstheit des lyrischen Ichs nach außen dringen. Das Überwältigtsein des Sprechers spielt also auch bei dieser Begegnung eine bedeutende Rolle, die sich dann in der Beschreibung der Reaktion der Dame fortsetzt. Auch diese wendet sich dem lyrischen Ich zu, als sie dessen Zustand der Bewegtheit bemerkt, und manifestiert sich ihm gegenüber in einem so überraschend farbigen Glanz („in sì novo colore“, V. 6), dass, so sinniert das Ich, selbst ein zornig gewordener Jupiter bei ihrem Anblick besänftigt würde. Im Vorübergehen

13 Zu Dante wäre in dieser Hinsicht noch nachzutragen, dass sich nichtsdestotrotz auch in der Beatrice-Figur der Vita nuova stellenweise latent profane Züge erkennen lassen, die ihre absolute sakrale Präsenz entzaubern, aber ihre Numinosität nicht grundsätzlich in Frage stellen. Dies kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Ich verweise auf einen diesbezüglichen Beitrag von mir (Zaiser 2014).

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richtet sie dann grüßend das Wort an ihn („oltra, parlando, passò“, V. 9f.), 14 er kann aber weder diesen Gruß („la parola“, V. 10) noch das dabei empfundene süße Leuchten ihrer Augen („dolce sfavillar“, V. 11) aushalten, so intensiv scheint diese Erfahrung an sinnlichen Eindrücken zu sein, genauso wie sie flüchtig ist. Denn als das lyrische Ich von der Benommenheit dieser Begegnung wieder zu sich kommt, bleiben ihm nur noch ein „in quel saluto ripensando“ (V. 13) und der Nachhall von „sì diversi piaceri“ (V. 13f.), die ihm in ihrer Außergewöhnlichkeit 15 in seiner Erinnerung den Trennungsschmerz zu kompensieren helfen, den er durch das Entschwinden Lauras erleidet. Der bloße textuelle Kontext dieses Grußsonetts lässt die Faszination der Liebe, die von der Dame ausgeht, sehr stark im Lichte eines ästhetischen Eindrucks erscheinen, den das lyrische Ich in seinen Gedanken zu einer Idealfigur der Liebe kultiviert, die das Vakuum der Abwesenheit der geliebten donna Laura füllen soll. Jeder, der den Canzoniere in toto kennt, weiß jedoch, dass die Liebespoetik Petrarcas komplexer ist als dieser Eindruck, der sich unmittelbar aus der Lektüre von Sonett 111 ergibt. Schon ein Blick auf das vorausgehende Sonett, im übrigen auch ein Grußsonett, zeigt, dass bei Petrarca die Erscheinungsweise der Dame auch ganz stilnovistisch als eine vom Himmel herabgestiegene Göttin oder gar christlich als eine Botin Gottes inszeniert sein kann: Volsimi, et vidi un’ombra che da lato Stampava il sole, et riconobbi in terra Quella che, se ’l giudicio mio non erra, era più degna d’immortale stato. (Petrarca 42010, Sonett 110, V. 5-8)

Diese Verse machen allerdings auch deutlich, dass in der numinosen Deutung der donna durch das lyrische Ich („d’immortale stato“) der Zweifel mitschwingt: „se ’l giudicio mio non erra“. Ohnehin bleibt auch hier die sinnliche und emotionale Wirkung, die von der Dame ausgeht, die entscheidende Erfahrung des Sprechers. So lesen wir im Schlussterzett desselben Gedichtes: Come col balenar tona in un punto, così fu’ io de’begli occhi lucenti et d’un dolce saluto inseme aggiunto. (Petrarca 42010, Sonett 110, V. 12-14)

Bei Petrarca tritt die Erfahrung der Liebe im Zeichen des Grußes der Dame folglich in eine gewisse Spannung zwischen der Begegnung mit einer höheren numinosen Macht und einem überwältigenden ästhetisch-affektiven Erlebnis. 14 Vgl. zur Deutung des „parlando“ im Sinne eines sprachlich artikulierten Grußes von Laura den Kommentar von Santagata in Petrarca 42010: 523, Anm. 10. 15 Santagata liest „diversi“ als „straordinari“, vgl. Petrarca 42010: 523, Anm. 12f.

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Im Gesamtzusammenhang des Canzoniere betrachtet wird diese Spannung jedoch auf zwei sich gegenseitig ausschließende und moraltheologisch konnotierte Formen der Liebe verteilt: die vom christlichen Stigma der Sünde belastete sinnlich-körperliche Liebe und die unbefleckte, reine amor Dei, und beide Formen werden in unterschiedlichen Etappen des Werkes und in unterschiedlicher Intensität in die Laura-Figur hineinprojiziert. Auch wenn sich dabei im zweiten Teil des Canzoniere, der in Morte di donna Laura gewidmet ist, eine Verklärung der Minnedame zur „Donna del ciel“ 16 abzeichnet, bis hin zu ihrer Ersetzung durch die Jungfrau Maria in der abschließenden Marienkanzone, hat die jüngere Petrarca-Forschung herausgearbeitet, dass bis in den Schluss des Canzoniere hinein nichtsdestotrotz die Spannung zwischen dem sinnlichen Faszinosum der Laura-Liebe und der heilsbringenden Wirkung der Gottesliebe aufrechterhalten wird. 17 Petrarca lässt diese Spannung in seiner poetischen Inszenierung des Grußes der Dame in den beiden betrachteten Sonetten en miniature durchscheinen. Im Zusammenhang mit den anderen hier analysierten Textbeispielen erhärtet sich damit einmal mehr die These, dass gerade in den Grußszenen der italienischen Liebesdichtung des Mittelalters oftmals die ganze Liebespoetik der entsprechenden Autoren in nuce angelegt ist, eine Poetik, die mit jeweils unterschiedlichen ideologischen, affektiven und ästhetischen Akzentuierungen und Nuancierungen die Liebe in ein oszillierendes Spektrum zwischen heilig und profan einschreibt.

Bibliographie Quellen Alighieri, Dante (1983): Opere minori. Bd. I. Vita nuova, De vulgari eloquentia, Rime, Ecloge. Hg. von Giorgio Bárberi Squarotti, Sergio Cecchin, Angelo Jacomuzzi und Maria Gabriella Stassi. – Turin: UTET (Classici italiani 1). Alighieri, Dante (2007): La Divina Commedia. Bd. II. Purgatorio. Kommentar von Anna Maria Chiavacci Leonardi. – Mailand: Mondadori (Ristampa Oscar grandi classici). Contini, Gianfranco (Hg.) (1960): Poeti del Duecento. – Neapel: Riccardo Ricciardi Editore (Classici Ricciardi). Petrarca, Francesco (42010): Canzoniere. Hg. von Marco Santagata. – Mailand: Mondadori (I Meridiani).

16 Vgl. Canzoniere: 366, V. 98. 17 Vgl. zu dieser Problematik, auf die im Rahmen dieses Beitrages nur hingewiesen werden kann, Küpper 2003.

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Sekundärliteratur Bernsen, Michael (2001): Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca. – Tübingen: Niemeyer. Friedrich, Hugo (1964): Epochen der italienischen Lyrik. – Frankfurt am Main: Klostermann. Kablitz, Andreas (1991): Intertextualität als Substanzkonstitution. Zur Lyrik des Frauenlobs im Duecento. Giacomo da Lentini, Guido Guinizelli, Guido Cavalcanti, Dante Alighieri. – In: Poetica 23, 20-67. Küpper, Joachim (2003): Palinodie und Polysemie in Petrarcas Mariencanzone. Mit einigen Gedanken zu den Bedingungen der Unterschiede von antiker und abendländischer Kunst. – In: Klaus W. Hempfer, Gerhard Regn (Hg.): Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner, 113-146. Stuttgart: Steiner. Lebsanft, Franz (1988): Studien zu einer Linguistik des Grußes. Sprache und Funktion der altfranzösischen Grußformeln. – Tübingen: Niemeyer. Princeton Dante Project. (etcweb.princeton.edu/dante/pdp/search.html, 21.03.2014) Rohlfs, Gerhard (1949): Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten. Bd. II. Formenlehre und Syntax. – Bern: Francke (Bibliotheca Romanica). Schiaffini, Alfredo (21943): Tradizione e poesia nella prosa d’arte italiana dalla latinità medievale a G. Boccaccio. – Rom: Edizioni di Storia e Letteratura. Warning, Rainer (1983): Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire. – In: Klaus W. Hempfer, Gerhard Regn (Hg.): Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, 288-317. Wiesbaden: Steiner. Wehle, Winfried (1986): Dichtung über Dichtung. Dantes Vita nuova. Die Aufhebung des Minnesangs im Epos. – München: Fink. Zaiser, Rainer (i. Dr.): Beatrices Erscheinungen zwischen heilig und profan. Zur Modernität des Augenblicks in Dantes Vita nuova. – In: Michael Bernsen, Milan Herold (Hg.): Der lyrische Augenblick. Eine Denkfigur der Moderne. Berlin/Boston: de Gruyter (Mimesis). Zingarelli, Nicolò (111990): Il Nuovo Zingarelli. Vocabolario della lingua italiana. Hg. von Niro Dogliotti, Luigi Rosiello. – Bologna: Zanichelli.

VI. Wissen und Sprache: Textgeschichte, Übersetzung, Wissenstransfer

Manfred Eikelmann / Arne Schumacher Paratexte in der Klassiker-Rezeption – Zum experimentellen Textstatus der spätmittelalterlichen deutschen Übersetzungen der Consolatio Philosophiae des Boethius

Die Consolatio Philosophiae des Boethius galt schon Ernst Robert Curtius als eines jener kulturell fundierenden Werke, die das klassische Erbe der griechisch-lateinischen Antike an das europäische Mittelalter und noch lange darüber hinaus kontinuierlich weitergeben: ein Buch sei es, so sagt Curtius, „das Unzähligen Erquickung geboten hat – bis in unsere Tage hinein: das einzige Werk der römischen Spätantike, das noch im 20. Jh. verdeutscht worden ist“. 1 Ein solches Verständnis, das eine zeitübergreifende Präsenz des berühmten Trostbuchs geltend macht, muss man heute zweifellos differenzieren. Denn selbst bei einem in der mittelalterlichen Latinität so konstant tradierten Werk wie der Consolatio Philosophiae greifen Kontinuitäten und Diskontinuitäten oft paradox ineinander. Es stellt sich daher die Frage, wie es möglich war, dass die Texttradition der Consolatio in der mittelalterlichen Latinität und den volkssprachigen Literaturen in immer neuen Aneignungs-, Übertragungs- und Vermittlungsansätzen dauerhaft präsent gehalten werden konnte. In der Rezeption eines kulturellen Textes wie der Consolatio geht es dabei nicht nur um „anreichernde Leseverfahren“ 2, die das Werk auslegen und mit Geltung ausstatten. Hinzu kommen nämlich vor allem auch mediale Übertragungsprozesse, die darauf zielen, das kanonisierte Werk auf der Ebene seiner Textmaterialität und speziell mittels paratextueller ‚Rahmungen‘ 3 in neue kulturelle und diskursive Kontexte einzupassen. Bei diesem Punkt – der Frage nach dem paratextuellen Beiwerk sowie seiner medialen und pragmatischen Funktionsweise – setzen wir im Folgenden an. Unser Interesse gilt den deutschsprachigen Übersetzungen der Consolatio Phi1 Curtius 111993: 32. 2 Assmann 1995: 237. 3 Das Konzept der paratextuellen Rahmung erörtert so grundsätzlich wie anregend Lebsanft 2011.

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losophiae, die zwischen 1460 und 1500 neu entstehen. Die Texte gehören damit in die historische Phase des Epochenübergangs vom späten Mittelalter zur Frühneuzeit, in der sich die medialen Rahmenbedingungen der Schrift-, Textund Buchproduktion durch Papier und Druck grundlegend verändern. Dass dieser mediale Wandel die literarische Antikerezeption wesentlich verstärkt, ließe sich auch anhand der lateinisch-gelehrten Consolatio-Tradition zeigen. 4 Doch verdienen die Übersetzungen in die deutsche Volkssprache besondere Beachtung: als Versuche, ein genuin wissenschaftliches Werk der antiken lateinischen Philosophie und Dichtung zu übersetzen und literarisch einzugemeinden. Unter medialer Perspektive stellen sie Buchprojekte dar, bei denen zu fragen ist, welche Rezeptionsformen der Materialität der Texte eingeschrieben sind und inwiefern die Modalitäten der Textpräsentation das Verstehen der Rezipienten steuern. Auch weil man sich in dieser Hinsicht nie sicher sein kann, schicken wir zwei Bemerkungen zur Terminologie voraus, um den methodisch-theoretischen Ort unserer Fragestellung zu markieren (1). Ausgehend von der lateinischen Texttradition ist dann aber die Frage nach den in der deutschen Consolatio-Überlieferung manifesten Rezeptionsmodi zentral (2, 3), und dies auch so, dass als Fallbeispiel die Tröstung der Weisheit des Mainzer Juristen und Diplomaten Konrad Humery zur Debatte steht (4). Einige Schlussüberlegungen gelten dem Rang der Texte für die spätmittelalterliche Antikerezeption, wie sie bereits seit den 1440er Jahren neu einsetzt (5).

1. ‚Paratext‘ und ‚Text/textus‘ Der Ausdruck ‚Paratext‘ meint, um mit Gérard Genette zu sprechen, das „Beiwerk des Buches“, 5 mithin alles das, was dem Haupttext als Rahmenelement beigegeben ist. Paratextuelle Elemente sind ein Mittel zur Textpräsentation und Textorganisation in Handschriften und Drucken, doch müssen die Werke, in denen sie auftreten, nicht unbedingt Bücher sein. Vielmehr ist unter Paratext alles zu verstehen, was Texte präsent macht und strukturiert, so dass sich der Term auch auf Inschriften, Einblattdrucke oder Zettel mit handschriftlichen Notaten bezieht. In jedem Fall sind Paratexte physisch und oft auch inhaltlich

4 Vgl. dazu unten. 5 Nach dem Untertitel der deutschen Übersetzung (Genette 1989). Für eine weiterführende Diskussion des Konzepts ließe sich an Überlegungen von Jacques Derrida anschließen, der nicht nur die Grenze zwischen Werk (Ergon) und Beiwerk (Parergon), sondern auch deren Abhängigkeitsverhältnis problematisiert, indem er anders als Genette das Werk selbst, nicht aber das Beiwerk als unfertige und ergänzungsbedürftige Größe begreift (vgl. Derrida 1992).

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eng an den Text gebunden und haben für dessen Erscheinungsbild konstitutive Bedeutung. Bei der Consolatio Philosophiae umfasst das paratextuelle Beiwerk neben dem Seitenlayout insbesondere Werktitel, Vorreden und Überschriften, doch auch Kommentare, Randeinträge, Illustrationen und Register, die im Textgebrauch als Verstehens- und Lesehilfe dienen und seine Semantik anreichern. Wie sich an solchen Beispielen zeigt, ist es eine wichtige Leistung der noch sehr jungen Paratext-Forschung, die heterogene Formenvielfalt von Rahmenelementen in einem generischen Begriff zu bündeln und dabei die funktionale Leistung des Beiwerks zu fokussieren. 6 In diesem Sinne ist der Term ‚Paratext‘ ein Sammelbegriff für all die Rahmenelemente, die man tatsächlich oft nur marginal wahrnimmt, die aber als ‚Beiwerk‘ keineswegs nebensächlich sind, vielmehr ein Buch als Buch überhaupt erst erkennbar, behandelbar, einschätz- und lesbar machen – kurz: es als Buch konstituieren und charakterisieren.7

Noch bis in die jüngste Zeit ist die Paratext-Forschung vorwiegend auf das gedruckte Buch seit der Frühen Neuzeit ausgerichtet. 8 Gleichwohl hat sich der Begriff ‚Paratext‘ (neben ‚Beiwerk‘) auch in der Mittelalterphilologie als Analysekategorie durchgesetzt. Dies gilt einerseits für die heuristische Frage danach, wo, wie, für wen und wozu ein Rahmenelement verwendet wird und welche Elemente im konkreten Fall einen Text zum Werk und es damit benutz- und lesbar machen. 9 Andererseits gilt dies aber auch für die Einsicht, dass Status, Form und Funktion der Paratexte historisch bedingt sind und sich abhängig von ihren kulturellen und literarischen Kontexten verändern. Ein Beispiel ist die in hohem Maße heteronome Literatur des späten Mittelalters, für die es, wie immer wieder gefordert, auf eine möglichst genaue Kenntnis der Gebrauchszusammenhänge ankommt, auf die ein Text oder auch nur das Exemplar eines Textes zugeschnitten waren. Differenziert man historisch, so tut sich hier die Möglichkeit auf, anhand des Beiwerks gerade auch kanonischer Texte wie der vorlutherischen Bibeln das „allmähliche Heranwachsen eines Lesepublikums für Texte in deutscher Sprache“ 10 in den Blick zu bekommen. Paratextanalysen tragen dazu bei, solche Perspektiven methodisch kontrolliert zu erschließen, da die Beobachtung des Beiwerks in einer Handschrift oder einem gedruckten 6 Die forschungsgeschichtliche Bedeutung des Paratext-Begriffs wird erläutert bei Moennighoff 3 1999. 7 Stanitzek 2007: 198. 8 Vgl. Ammon/Vögel 2008, Wagner 2008, Enenkel 2005, Müller 2013. 9 Diese ‚Leitfragen‘ orientieren sich an dem bei Genette entwickelten Fragenkatalog (Genette 1989: 12). 10 Stackmann 1988: 273.

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Buch „zumindest das eine für sich [hat], daß es nüchterne und überprüfbare Fakten liefert.“ 11 Die grundsätzliche Frage, inwieweit das Paratext-Konzept den Textverhältnissen im Mittelalter zu entsprechen vermag, ist bislang nicht geklärt. 12 Obwohl Genette durchaus berücksichtigt, dass bei Werken des Mittelalters „keine zwei streng identischen Texte“ 13 vorkommen, arbeitet er mit einem Textbegriff, der sich an der Buchproduktion des Druckzeitalters orientiert. Bei allen Relativierungen gibt es für ihn den Text, der „unwandelbar und als solcher außerstande [ist], sich an die Veränderungen seines Publikums in Raum und Zeit anzupassen“, während der „flexiblere, wendigere, immer überleitende, weil transitive Paratext“ 14 der Präsentation des Textes dient und insofern ein Hilfsdiskurs ist. Wie weit sich eine solche Position von den für das Mittelalter charakteristischen Konzepten entfernt, wird klar, sobald man rezente Diskussionen zum lateinischen ‚textus‘-Begriff beizieht. 15 Denn mit diesem gerade für die kanonisierte Literatur zentralen Begriff verbindet sich die von mittelalterlichen Autoren immer wieder ausgesprochene Einsicht, dass ihre Texte hinter dem zurück bleiben, was sie eigentlich zu vermitteln versuchen, und deshalb angewiesen sind auf Stützen, auf Begleitung und Ergänzung: Vorwissen verstehensbereiter Leser, mündliche Erklärungen und Auslegungen oder die Ausstattung der Texte in den Handschriften. 16 Aus diesem Verständnis erklärt sich nicht nur das intensive Bemühen um die Materialität der Texte, sondern mehr noch die Vorstellung, dass Texte stets neuer buchmedialer Gestaltung und Vermittlung bedürfen. Abgelöst von der materialen Erscheinung ist ihr Sinn nicht angemessen erfahrbar. Zur Geltung kommt er erst, wenn die Texte in bestimmte Formen des Gebrauchs überführt werden, wobei – neben der Mündlichkeit des Gesprächs – das paratextuelle Beiwerk geradezu konstitutive Bedeutung für den Text und seine Sinnbildung erhält. Das aber bedeutet: Auch das Beiwerk ergänzt den Text nicht bloß äußerlich, vermittelt nicht etwa nur, was als Sinn schon vorgegeben wäre, sondern ist notwendiger Bestandteil einer medialen Konstellation, die als Ganze im Prozess des Lesens sinnbildend wirkt. 11 ebd. 12 Anregend ist die kritische Auseinandersetzung mit Genettes Paratext-Begriff bei Ott 2010. Für Ott leisten, sichern und ermöglichen Rahmenelemente wie Titelblätter, Vorreden, Widmungen oder Marginalien die für vormoderne Literatur selbstverständlich notwendige „Einbindung in soziale Netzwerke“, so dass man „statt von ‚Paratextualität‘ von ‚Soziotextualität‘“ (Ott 2010: 24) sprechen sollte. 13 Genette 1989: 388, Anm. 10. 14 Genette 1989: 389. 15 Vgl. Scherner 1996, Jaeger 2006, Kuchenbuch/Kleine 2006, Knobloch 2005, Haubrichs/Lutz/Ridder 2006, Lutz 2013: 13-57. 16 Lutz 2010: 17.

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Aus dieser auf historische Differenzierung gerichteten Perspektive, so wird man sagen können, ist das Paratext-Konzept auch dem mittelalterlichen Textverständnis durchaus angemessen. Es in Handschriften wie Drucken verstärkt erforschen zu wollen, erscheint plausibel und bis in die Editionspraxis relevant. 17 Um dies zu illustrieren, wenden wir uns zunächst dem Beiwerk der lateinischen Consolatio und seiner Bedeutung für die Rezeption des Werkes zu.

2. Die lateinische Tradition Die mittelalterliche Rezeption der Consolatio geht in karolingischer Zeit von Alkuin aus, der das Werk in der programmatischen Disputatio de vera philosophia (De grammatica) benutzt und damit seine Aufnahme in den schulischen Bildungskanon anbahnt. 18 Mit diesem frühen Rezeptionseinstieg noch im 8. Jh. beginnt zugleich die ‚verchristlichende‘ Um- und Neudeutung des antik-philosophischen Welt- und Menschenbildes der Consolatio. Ein Beispiel dafür wäre das – von den Kirchenvätern kritisierte – Thema der Fortuna, die bei Boethius als jene Instanz auftritt, die machtvoll über das Vergängliche aller irdischen Güter herrscht. Bis ins 15. Jh. nimmt die Auseinandersetzung mit der antiken Denksubstanz der Consolatio auch literarisch höchst unterschiedliche Formen an. Ihr Bezugspunkt liegt aber nicht nur im lateinischen Text selbst, sondern auch in einem – bislang nicht vollständig überschaubaren – Korpus lateinischer Kommentierungen. Auf Grundlage der von Alkuin initiierten Glossierung und im Rekurs auf weit verbreitete Kommentare wie dem des Remigius von Auxerre entwickelt Wilhelm von Conches, ein Schüler Bernhards von Chartres, mit seinen Glosae super Boecium – um 1120 – eine neue Kommentarform, die den lateinischen Text systematisch von „Lemma zu Lemma“ 19 erschließt. Seit dem späten 13. Jh. zieht sie dann weitere Gesamtkommentare nach sich, so die für das späte Mittelalter wohl repräsentativen Kommentare von Nicholas Trevet (um 1300), Pseudo-Thomas (2. Hälfte 15. Jh.) und Jodocus Badius (1498). 17 Dass herkömmliche Texteditionen den Blick für den „paratexte médiéval“ – Titeleien, Überschriften, Initialen, Marginalien und Illustrationen – oftmals verstellen, hat Bernard Cerquiglini völlig zu Recht beanstandet. In noch höherem Maße als lateinische Manuskripte zeichnen sich für ihn Handschriften der volkssprachlichen Literatur durch ihre „pratique paratextuelle“ (Cerquiglini 1989: 14) aus, weil sie sich modernen Erwartungen entzieht und daher besondere Aufmerksamkeit verlangt. 18 Einen Gesamtüberblick zur Consolatio-Rezeption in Mittelalter und Früher Neuzeit skizziert Gruber 2006: 46-49. Die des Frühmittelalters ist einlässlich dargestellt bei Hehle 2002: 38-58; weiterhin bei Haubrichs 1998: 220f., 234f. Im Unterschied dazu ist die Text- und Kommentartradition des späten Mittelalters erst in Ansätzen erschlossen; vgl. Nauta 2009; zur humanistischen Rezeption bei Jodocus Badius vgl. Glei 2007. 19 Gruber 2011: 100.

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Ablesbar ist an dieser Entwicklung aber nicht nur der viele Jahrhunderte anhaltende Erfolg der Consolatio: In den Blick kommt so auch der Prozess ihrer immer wieder neuen Zurichtung für gelehrte Diskurs- und Gebrauchskontexte. Prägnante Gestalt nimmt dieser Prozess in der Materialität des Textes an. Viele Handschriften und Druckausgaben präsentieren die Consolatio als funktional eng verflochtene Einheit von Werk und Kommentar. Entsprechend weist die Seitengestaltung in den Handschriften die seit dem 13. Jh. systematisch genutzte Klammerform auf – mit dem in größerer Schrift aufgezeichneten Consolatio-Text, der, von Seite zu Seite variierend, von den Glossierungen umrahmt wird. 20 Das unterschiedlich gestaltete Verhältnis von Text und Kommentar, der Einsatz von Lemmata, lebenden Kolumnentiteln, Überschriften und Paragraphenzeichen erlaubt jedes Mal Rückschlüsse auf das Konzept der Textpräsentation und die intendierte Lektürepraxis. Noch die zuerst 1473 bei Anton Koberger in Nürnberg gedruckte Ausgabe der Consolatio orientiert sich in ihren späteren, einsprachig lateinischen Ausgaben an dieser Form der Texteinrichtung. 21 Anders als bei Nicholas Trevet ist dem Koberger-Druck in einem eigenen zweiten Teil der Kommentar von Pseudo-Thomas beigegeben, in dem jeder Textabschnitt mit einer elementaren Erschließung des Wortsinns (expositio ad litteram) eingeleitet wird. Das ist ein Indiz dafür, in welchem „school or unversity context“ 22 die Consolatio gelesen wurde, wobei nun auch der Bedarf an Übersetzungen erkennbar ist, die als Hilfsmittel zum Verstehen des schwierigen lateinischen Ausgangstextes dienen konnten. Inwieweit damit schon ein Faktor genannt ist, der zumindest partiell erklären könnte, warum seit Mitte des 15. Jh. deutsche Übersetzungen neu entstehen, wäre zu prüfen. Jedenfalls fällt auf, dass nach der großen althochdeutschen Glossen-Tradition, die um 1020 in Notkers lateinisch-deutscher Textbearbeitung ihren Höhepunkt findet, die Consolatio erst wieder in der zweiten Hälfte des 15. Jh. übersetzt wird. Für unsere Fragestellung kommt es dabei nicht in erster Linie darauf an, dass es sich bei diesen Texten um sehr unterschiedliche Übersetzungen handelt, die nach der Intention der Übersetzer, doch auch in Stil und Umfang stark differieren. Was vielmehr besondere Beachtung verdient, ist ihre divergierende Einrichtung. Im Grunde genommen hat man es bei jeder der Übersetzungen mit einer anderen Auswahl von Textbeigaben und texterschließenden Elementen zu tun, die nach Ausweis der Schreiber- und

20 Eine Diskussion mit Analysen verschiedener Typen des scholastischen Klammerglossen-Layouts bieten Powitz 1979, Duntze 2005, Pabst 2006. 21 Vgl. zu dieser Ausgabe die Hinweise unten. 22 Palmer 1981: 363. Zum Gebrauch der Consolatio als Schul- und Universitätstext vgl. die Hinweise bei Henkel 1988: 76-78, 223-225.

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Besitzereinträge für jeweils unterschiedliche Benutzerkreise und Rezeptionsräume gedacht ist.

3. Variierende Rezeptionsmodi in der deutschsprachigen Consolatio-Überlieferung Die spätmittelalterlichen deutschsprachigen Übersetzungen der Consolatio Philosophiae sind unabhängig voneinander entstanden. 23 Der textuelle Status der Übersetzungen im Kontext ihrer Überlieferungsträger ist insofern experimentell, als sie sich nicht direkt in den gelehrten Kerndiskurs der ConsolatioRezeption einschreiben, sondern abseits der großen lateinischen Texttradition für lokal begrenzte städtische und monastische Gebrauchsräume verfasst werden. Diese Situationsgebundenheit schlägt sich in der sprachlichen Gestalt wie im materialen Erscheinungsbild der Textträger nieder, in denen das Sinngefüge der Consolatio in eine jeweils andere Konfiguration übersetzt und kontextuell neu ausgerichtet wird. Nicht nur die Übersetzer, die den lateinischen Text in die Volkssprache übertragen, auch die Redaktoren der Handschriften und Drucke müssen die ursprünglich für ein spätantikes Publikum geschaffene Consolatio sprachlich wie semantisch, doch auch medial und material dem Verstehens- und Wissenshorizont volkssprachlicher Rezipienten des 15. Jh. annähern. Zwar kann man noch ein spezifisch mittelalterliches Verständnis unterstellen, wonach selbst gelehrte Texte stets auf kontextuelle Vermittlungen angewiesen sind. 24 Im Falle der Consolatio-Texte kommt aber als entscheidendes Moment hinzu, dass es in der Volkssprache weder für ihre Übersetzung noch ihre mediale Präsentation eingespielte Praktiken und Verfahren gibt. Nicht zufällig stellen sich die Übersetzungen in der Art ihrer Präsentation wenig einheitlich dar, wie zwei knapp skizzierte Beispiele illustrieren können: Die wohl im monastischen Kontext verfasste deutsche Teilübersetzung des Oxforder Codex MS Hamilton 46 von 1465 stellt nur eine von mehreren Textebenen in einer ursprünglich rein lateinischen Handschrift dar. 25 Der lateinische Kommentar und die Übersetzung, die einige Male auf beigebundene Zettel geschrieben ist, gehören späteren Rezeptionsstufen an, die texträumlich neben die lateinische Consolatio gestellt und ihr texthierarchisch untergeordnet sind:

23 Eine ausführliche Vorstellung der Gruppe spätmittelalterlicher deutscher Consolatio-Übersetzungen gibt Bastert 2013. 24 Lutz 2006: 11. 25 Grundlegend für den Text ist die Untersuchung Palmers (1981), vgl. weiterhin Dellsperger 2010.

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The German translation must be seen in the context of the construction of the book, and in the context of the commentary materials assembled around the text of the Consolatio. […] The German translation is added in a later hand, only for the latter part of the text, where there was less Latin commentary material, and using the same techniques of presentation as were employed for Latin commentary in the first part of the manuscript, i.e. the use of margins and added leaves and slips. […] The text is very rough, often barely legible, and has the appearance of an unfinished draft, with additions, deletions, alternative translations and otiose repetitions. There are clear signs that we have here the translator’s own copy. 26

In dieser fast schon kontingent wirkenden Textkonstellation soll die deutsche Übersetzung das lateinische Werk inhaltlich erschließen. So wie andere Textelemente dient auch sie als Hilfe bei Verstehen und kommentierender Auslegung wichtiger Consolatio-Partien und ist in diesem pragmatischen Rahmen funktional. Mit anderen Worten: Der volkssprachliche Text bewegt sich noch ganz im Diskursfeld der lateinisch-gelehrten Lektürepraxis, und er erhält seinen Wert durch die enge Beziehung zu seinem Ausgangstext, den er rahmt, übersetzt und diskursiviert. Ein Buchprojekt ganz anderer Art stellt die Übersetzung in einer frühen Koberger-Inkunabel von 1473 27 dar: In ihr ist die Übersetzung Teil eines höchst aufwendig präsentierten Ensembles von lateinischem Ausgangstext, textnaher Übersetzung und gelehrtem Kommentar im noch jungen Medium des gedruckten Buches. Für die Übersetzung, die mit lateinischen Überschriften an das Prosimetrum der Consolatio zurückgebunden ist, wird vermutet, dass auch sie den lateinischen Text, mit dem sie alternierend dargeboten wird, inhaltlich erschließen soll. 28 Die Annahme einer divergierenden Funktionalität von lateinischem und deutschem Text ergibt sich aus der medialen Präsentation: Der lateinische Text ist durchschossen und lädt zur interlinearen Glossierung ein, wie man es vom Layout in Schul- und Universitätstexten her kennt. Der Übersetzung hingegen ist dieser Durchschuss nicht beigegeben, so dass sie nicht eigenständig für sich gelesen und gedeutet werden will, sondern Hilfsmittel zur Aneignung des lateinischen Texts zu sein scheint. Um diese Interpretation zu stützen, wären – neben der Textpräsentation der Ausgabe – die Gebrauchsspuren in den erhaltenen Exemplaren des Druckes zu untersuchen, und wäre mit Blick auf handschriftliche Einträge zu fragen, wie zeitgenössische Benutzer und Leser auf das mediale Angebot der Inkunabel reagiert haben. Dass damit ein brisanter Punkt berührt ist, belegen die vier weiteren Ausgaben, die noch bis 1495 bei Koberger erschienen sind: Die Übersetzung, was immer ihr Zweck war, wurde

26 Palmer 1981: 386. 27 Vgl. umfassend Bastert 2010. 28 Bastert 2010: 55.

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bereits im zweiten Druck aus der Ausgabe genommen und damit der zweisprachige Rezeptionsmodus revidiert. Immerhin erfuhr die Übersetzung Wiederverwendungen in anderen medialen und kulturellen Kontexten: In der Schaffhausener Handschrift 29 aus den Jahren um 1480/90 steht sie ohne den lateinischen Text, bleibt jedoch durch Lemmata mit lateinischen Initien der Metrum- und Prosastücke auf den Ausgangstext zurückbezogen. Im Jahr 1500 gelangt die Übersetzung bei Johann Schott noch einmal an den Druck, 30 auch hier ohne den lateinischen Text, doch versehen mit einem Titelholzschnitt, der die Dialogsituation der Consolatio in Szene setzt. Auf die sonst selbstverständlichen Rückbezüge zum Ausgangstext verzichtet Schotts Druck fast gänzlich und nähert sich so dem Buchformat eines selbständigen Lesetextes an.

4. Paratexte in den Handschriften der Consolatio -Übersetzung Konrad Humerys Es wird an den Beispielen deutlich, dass die deutschen Übersetzungen der Consolatio nicht zuletzt mit der Ausprägung unterschiedlicher Rezeptionsmodi einhergehen. Abhängig von Anlass und materieller Realisierung haben sie jeweils ein eigenes textuelles und funktionales Profil. Dazu gehört eine differenzierte mediale Präsentation in Handschrift und Druck, die sich in variierenden Fassungen und Exemplaren niederschlägt. In eben diesem Zusammenhang verdient Beachtung, dass es noch eine weitere mehrfach bezeugte Übersetzung gibt: die Tröstung der Weisheit des Mainzer Ratssyndikus und Stadtschreibers Konrad Humery. 31 Wie im Überblick zu erkennen, ist diese Übersetzung in drei Handschriften überliefert, wobei die Präsentation auf der Ebene des paratextuellen Beiwerks signifikant divergiert:

29 Der Text dieser Übersetzung entspricht inhaltlich dem 1473 von Anton Koberger gedruckten. Es handelt sich aber nicht um eine Kopie, sondern um eine unabhängige Abschrift. Die Handschrift wird heute in der Stadtbibliothek Schaffhausen mit der Signatur ‚Generalia 28‘ aufbewahrt; vgl. Gamper/Marti 1998: 130f. 30 Der Druck Schotts bewegt sich näher am Wortlaut des Koberger-Texts als die Übersetzung in der Schaffhausener Handschrift. Neben einem Titelholzschnitt präsentiert das Buch „skurrile, aus Menschen und/oder Tierleibern bestehenden Initialen, die im Gegensatz zur Titelillustration vermutlich nicht eigens für diese Ausgabe geschnitten, sondern wiederverwendet wurden [...]“ (Bastert 2010: 65f.). 31 Autor und Werk untersucht Eikelmann 2010, vgl. weiterhin Herding 1965: 377, Mommert 1963, Worstbrock 21983.

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b Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. fol. 490 Papier . 29 x 21,5 . zweispaltig . Köln 1466/67 . ripuarisch, rheinfränkisch 109r-156v: Konrad Humery ‚Tröstung der Weisheit‘ Teil I: Rechts- und tugendphilosophische Texte; Teil II: Rechtstexte zur Kölner Rats- und Reichspolitik; Teil III: Humery ‚Tröstung der Weisheit‘, ‚Dornenkranz von Köln‘ Eintrag auf dem vorderen Spiegelblatt: dyt Boich is Iacob Schirls Anno domini 1467 m Mainz, Stadtbibliothek, Hs. III 44 Papier . 29x20 . einspaltig . Ulm 1472 . rheinfränkisch, schwäbisch 2r-71r: Konrad Humery ‚Tröstung der Weisheit‘ Mitüberlieferung: Odo von Cheriton, Fabeln; ‚Ad sacram Petri sedem‘ (Papst Nikolaus V.); Ps. Methodicus: Revelationes. 71r: (1472) per me caspar kraft de vlma t Tübingen, Universitätsbibliothek, Md 124 Papier . 21x15 . einspaltig . ca. 1475 . ostschwäbisch 2r-115v: Konrad Humery ‚Tröstung der Weisheit‘ Schenkungseintrag 1v: Item das buech den boecium hant vnss geschenckt vnd geben ain andaechtiger geistlicher herr Barfuosser ordens genant herr hans stainlin zvo vlm jn dem Barfuosser klovster gewessen […] Der suesteren zuo ougelspiren Von den Handschriften bietet die älteste – die 1466 oder 1467 in Köln erstellte Handschrift b, die aus dem Besitz des Patriziers Jacob Schirl stammt – den besten Text. In der Überlieferung macht sich hier insofern eine Besonderheit spätmittelalterlicher Texte bemerkbar, als die Entstehung des Textes und seine Aufzeichnung zeitlich und räumlich eng zusammenrücken. Nachzuweisen ist dies sowohl anhand der Überlieferungsverhältnisse als auch am schreibsprachlichen Profil des b-Textes, das rheinfränkische Merkmale mit Elementen der Mainzer Stadtsprache 32 aufweist, während alle anderen deutschen Texte aus Handschrift b in den ripuarischen Sprachraum gehören. Wann, von wem und auch wie Humerys Text benutzt wurde, beleuchten die Schreiber- und Besitzervermerke und in einem Fall auch die Mitüberlieferung 32 Vgl. z.B. ‹i› als Längenmarkierung nach ‹a› und ‹o› wie bei gedroist und raidt oder mitteldeutsche Senkung von /u/ zu /o/ wie bei togentsam oder notcze.

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der Handschriften: So bietet die aus Köln stammende Handschrift ein Beispiel für stadtbürgerlichen Buchbesitz, was deswegen Interesse verdient, weil Humerys Consolatio hier in eine Sammelhandschrift mit Rechtstexten zur Kölner Stadtpolitik eingebunden wurde. Während diese Handschrift offenkundig dem Repräsentationsbedürfnis ihres Besitzers dienen sollte, weisen beide anderen Textzeugen in den Kontext spätmittelalterlicher Frömmigkeit und religiöser Bildung: Bei Handschrift t geht dies aus einem um 1500 angelegten Besitzervermerk (f. 1v) hervor, wonach „ain andaechtiger gaistlicher herr, Barfuosser ordens, genant herr Hanss stainlin zuo vlm“ im Kloster der Franziskannerinnen in Oggelsbeuren gewesen ist und ihnen „den boecium“ geschenkt hat. Von der heute in Mainz aufbewahrten Handschrift m wissen wir, dass sie 1472 in Ulm entstanden war, vier Jahre später aber von einem Ordensbruder aus dem Würzburger Franziskanerkonvent (Heinrich Pistor) zu Ende geschrieben worden ist. Wie der Benutzernachweis dieser Handschrift andeutet, wurde der deutsche Text auch von Lesern benutzt, die Latein beherrschten und Zugang zur lateinischen Literatur hatten. Man kann also konstatieren, dass die Consolatio Humerys bis um 1500 in Köln, Ulm und Würzburg „unter Patriziern und Franziskanern“ 33 bekannt war. Nach Ausweis des Textes steuern hauptsächlich drei Momente die Rezeption der Übersetzung: 1.) Humery stellt eine Vorrede voran, in der er seinem Projekt einen programmatischen, auf den Verstehens- und Wissenshorizont von Laien ausgerichteten Zuschnitt gibt. Die Vorrede leitet den Leseprozess so an, dass sich der Rückbezug der Übersetzung zum lateinischen Ausgangstext entschieden lockert. 2.) Das Prosimetrum wird in Prosa aufgelöst, wodurch die Grenze zwischen Prosa- und Versstücken eingeebnet wird. Dem Programm der Vorrede entspricht somit ein Verfahren, das den Text dem gelehrten Diskursschema der lateinischen Consolatio enthebt und an neue Verstehens- und Gebrauchsbedingungen anpasst. 3.) Vorrede und Übersetzung werden durch ein je eigenes paratextuelles Dispositiv formiert: Schon die handschriftliche Präsentation der Vorrede gibt die voneinander abweichenden Paratextformate – von anleitender Lektüre bis zu einem eher offenen Lektüreangebot – zu erkennen. Was so bereits für die Vorrede gilt, findet sich ähnlich auch im Übersetzungsteil. Inwiefern die Rahmenelemente dabei zur Sinnbildung beitragen und welchen Rezeptionsmodus sie den Texten beilegen, zeigt sich aber erst, wenn man Vorrede, Übersetzungsverfahren und paratextuelles Konzept im Zusammenhang betrachtet.

33 Dobras 2000: 109.

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4.1. Vorrede

Die Vorrede 34 begründet Absicht und Zweck der Übersetzung sowie die Wahl des übersetzten Werkes, adressiert das Vorhaben an ein Laienpublikum und beschreibt das Selbstverständnis des Autors. Humery gibt vor, die Consolatio für all die Trostbedürftigen zu übersetzen, die das Jammertal des Lebens leidend durchschreiten müssen: Er habe die gute und lehrhafte Geschichte sinngemäß ins Deutsche übertragen. Humery ist daher nicht an einer wortgetreuen Übersetzung gelegen. Sein Konzept zielt darauf, die Consolatio – ihr in Dialog und philosophischem Diskurs entfaltetes Trostpotential – zu einem lebenspraktisch nützlichen Text umzugestalten. Beansprucht ist so eine Rezeption außerhalb gelehrter Kreise wie der Institutionen von Schule und Universität: Es geht um die inhaltliche Transformation für neue Verwendungskontexte. Dieses Programm wird dem Text eingeschrieben, und es bestimmt von dort seine gesamte Gestalt als Prosaauflösung, die den strengen Wechsel von Prosa und Vers aufgibt und sich damit vom ‚klassischen‘ Lektüreformat der Consolatio verabschiedet. Ein Effekt dieses Programms, das die prosimetrische Struktur aufgibt, ist am Übergang von der Vorrede zum ersten Metrum beobachtbar. Die Consolatio beginnt mit jenen elegischen Versen, in denen das von Musen umgebene Ich seine Verzweiflung ausspricht: Carmina qui quondam studio florente peregi, Flebilis heu maestos cogor inire modos. Ecce mihi lacerae dictant scribenda Camenae Et veris elegi fletibis ora rigant. […]35

Bei Humery hingegen ist die Vorrede mit der Vita des Boethius und das Metrum in fließendem Übergang so eng verknüpft, dass die berühmte Eingangsszene – der klagende Boethius im Gefängnis – um ihre Wirkung gebracht ist. Die Vita, die seine Vorrede beschließt, berichtet an ihrem Ende von der Gefangennahme des Boethius in Pavia, womit zugleich der Ausgangspunkt für die dann folgende Handlung gesetzt ist: […] das der konig ſyn vngnade zu yem kerte der ſtat Romen vorwiſete vnd yen in das elende Iagete dar Inn er auch langezijt fenglichen gehalten vnd am leſten zu dem tode vnuerſchulter dinge vnd vnerwonen alles rechtens bracht wart nemlichen in der paphien die da liget funffhondert thuſent ſchrede von der Stadt Romen So nv derſelbe Boeciűs In dem gefengniſſe betrachten was den ſtaite und das weſen auch wirde und gut darin er

34 Zu Prologen als „Typus von Paratexten“ vgl. Haberkamm 2003. 35 Zitiert nach: Boethius 2000: 3. Vgl. dazu den Kommentar bei Gruber 22006: 54-57.

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fűrmals geſeßen vnd nu vertrűngen und beraűbet was wart er in ſyme geműde ſere betrűpte vnd trűrig […]. 36

Humery verzichtet darauf, Lebensbeschreibung und Eingangsgedicht voneinander abzusetzen. Vita und Gedicht sind textuell verschmolzen, ohne dass sie als heterogene Textteile markiert sind. Und dadurch, dass der biographische Bericht direkt in die Ich-Rede des Gedichts mündet, verwischt der Text die Differenz zwischen Fiktion und Realität. 37 Von besonderem Interesse ist daher auch, dass die Humery-Handschrift t – anders als b und m – an der Stelle die Überschrift hye hebt sich an Das erst metrum yn Boecio38 einfügt und den Text auf diese Weise (re-)strukturiert. Während b und m den Eindruck einer bruchlosen Einheit von Vorrede und Übersetzungsteil aufkommen lassen, restituiert t also den Ausgangstext und verstärkt gleich zu Beginn die Aufmerksamkeit für dessen Gliederungs- und Strukturgefüge. Nicht zu entscheiden ist, ob die Verschmelzung von Vita und Eingangsgedicht zufälliger Effekt oder intendierter Texteingriff ist. Die Überschrift in t und die nicht markierten Übergänge in b und m machen aber deutlich, in wie hohem Maße die Präsentation des Textes seine Rezeption beeinflusst: Das eine Mal markiert sie mittels der ergänzten Überschrift die ursprüngliche Textstruktur, das andere Mal verschmelzen Vita und Übersetzung, so dass Humerys Vorrede umso größeres Gewicht erhält. Im Übergang von Vorrede zum Textbeginn wird damit nicht nur die Auflösung der prosimetrischen Form greifbar, sondern auch das Übersetzungsverfahren, das diese Veränderung der Textstruktur ermöglicht. 4.2. Übersetzungsverfahren

Wo im Ausgangstext die Grenzen zwischen Metrum und Prosa verlaufen, findet bei Humery kein Wechsel der Form statt. Und wo im Ausgangstext das Prosimetrum den Sinn des Werkes stiftet, weil die argumentierende Prosarede im metaphorischen Duktus des Metrums aufgeht, gewinnt bei ihm die Umwidmung der Metren an Gewicht: Sie verwandeln sich bevorzugt in Exempel, die die argumentative Prosa paraphrasierend oder auch novellistisch illustrieren und unter Verzicht auf metaphorische oder allegorische Sinnebenen dem Verstehenshorizont volkssprachlicher Rezipienten angleichen. Das Ergebnis ist ein geradezu neuer Text, der den artifiziellen Anspruch der Consolatio

36 Handschrift b, f. 109vb. 37 Vgl. dazu auch Eikelmann 2010: 149f. Grundsätzlicher behandelt die Frage Glei 1998. 38 Handschrift t, f. 4r.

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vergessen macht, indem er ihn durch eine auf wirksamen Trost zielende lehrhafte Prosa ersetzt. 4.3. Paratextuelles Beiwerk

Humerys Übersetzung ist in allen drei Handschriften paratextuell durchgliedert. Dabei fällt allerdings auf, dass der relativ stabile Haupttext in jeder der Handschriften ein eigenes paratextuelles Profil 39 aufweist: Handschrift b hat deutsche Überschriften an den Buchübergängen und lateinische Überschriften an den Grenzen von Prosa- und Vers-Passagen; t hat für beides deutsche Überschriften (daneben für die Buchübergänge Mischformen), während m statt Überschriften fast immer Paragraphenzeichen setzt. 4.3.1. Vorrede

Während die Marker im Textverlauf auf die prosimetrische Struktur des Ausgangstexts verweisen, weist die Vorrede unterschiedliche Abschnittsgliederungen auf. So nennt nur Handschrift t den Titel des Werkes, den die erste Überschrift unter Hinweis auf das Genus der Vorrede einführt: hie facht ſich an eyn vor rede des buochs genant Boecius von der tröſtung der wißheit [...] 40

Die Überschrift markiert zugleich den Aufbau der Vorrede. Gegliedert ist sie in einen ersten Teil mit den textprogrammatischen Ausführungen und einen zweiten mit einer Boethius-Vita. Dieser zweite Teil ist in t mit Die ander vorrede 41 überschrieben, so dass die zwei Prologteile klar geschieden sind. Daneben markiert t, wie schon erläutert, den Übergang von Vorrede und Übersetzungsteil. Im Unterschied dazu hat m an diesen Stellen keine Überschriften, also weder für den – allerdings durch Absatz und Initiale hervorgehobenen – Viten-Teil der Vorrede noch den Übergang zum ersten Metrum. Handschrift b verzichtet sowohl auf Überschriften als auch auf rein visuelle Marker wie Absätze und Initialen.

39 Vgl. künftig die Dissertation von Arne Schumacher, die das Verhältnis von Übersetzungsverfahren und paratextueller Ausstattung in den Humery-Handschriften untersucht. 40 Handschrift t, f. 2r. 41 Handschrift t, f. 3r.

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4.3.2. Übersetzungsteil

b Ein verändertes Bild ergibt sich für die Textmarker des Übersetzungsteils: Handschrift b bietet ab der ersten Prosa eine durchgehende Textgliederung, deren lateinisch-deutsche Überschriften konsequent dem Schema Das erſte gesetcze / proſa prima / metrum secundum folgen. b präsentiert einen Text, dessen Qualität sich daran bemisst, dass der Ausgangstext nicht nur textstrukturell, sondern paratextuell durchweg präsent bleibt. Der angestrebte Rezeptionsmodus gibt sich gelehrt und adressiert ein gebildetes Publikum, das den lateinischen Text kennen könnte. m Auch diese Handschrift verfährt sehr regelmäßig in ihren Markierungen mit Paragraphenzeichen und deutsch-lateinischen Mischüberschriften an den Buchübergängen. Ein gutes Beispiel für die zweisprachigen Überschriften findet sich zu Beginn von Buch 5: dem liber quintus dz funfft gesetze. 42 m zeigt die schwächste Rückbindungstendenz an den Ausgangstext, da die Textstruktur der Consolatio als Gliederungsgröße nicht mehr benannt wird. Indem Paragraphenzeichen an die Stelle von Überschriften treten, löst diese Handschrift den Text von der prosimetrischen Lektüre ab. Eben dies entspricht dem Konzept der Übersetzung Humerys so gut, dass der m-Text insofern in spezifischem Sinn als Verdeutschung gelten kann, als er die Consolatio zu einem Werk der volkssprachlichen Literatur macht. t Allein t weist in der Ausführung der Überschriften zahlreiche Lücken auf. Abschnittsmarker sind in der Handschrift deutsche Überschriften wie daß erst metrum, für die Buchübergänge dagegen lateinisch-deutsche Mischformen wie: Sequit liber quartus / Hie hebt sich an das vierd büch Boecy / Die erst brose des vierden büchs ist etc. 43 In t kommen daneben auch Kolumnentitel vor. Der Text dieser Handschrift orientiert sich an Sinnbedürfnissen und Sinnerwartungen volkssprachlicher Rezipienten. Die Paratexte der drei Handschriften binden Konrad Humerys Text also unterschiedlich eng an die lateinische Consolatio. Folgt man der These von Eckart Conrad Lutz, wonach das Sinnpotential mittelalterlicher Texte erst durch materielle und paratextuelle Unterstützung zur Entfaltung kommt, lassen 42 Handschrift m, f. 57v. 43 Handschrift t, f. 66r.

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sich auf dieser Ebene variierende Modi sinnerschließender Textrezeption ausmachen, die sich im Spannungsfeld zwischen der Rückbindung an das lateinische Werk samt dessen gelehrter Auslegungspraxis und der Präsentation des berühmten Trostbuchs als Text der volkssprachlichen Literatur bewegen.

5. Schlussüberlegungen Die spätmittelalterlichen deutschen Übersetzungen der Consolatio Philosophiae entstehen nicht nur unabhängig voneinander, sondern treten von Fall zu Fall in unterschiedlichen buchmedialen Formen auf, von denen (fast) jede einen anderen textuellen Status und anderen Rezeptionsmodus repräsentiert. Der deutsche Übersetzungstext kann mit der lateinisch kommentierten Consolatio durch Glossen und Interpolationen auf das Engste verflochten sein (Oxford, Bodleian Library, Ms Hamilton 46) oder als selbständiges Element einer gelehrten Auslegungspraxis zu ihr in räumlichem Kontakt stehen (Koberger 1473); der Text kann auch, eher herkömmlich, durch Lemmata auf die Buch- und Kapitelgliederung des Ausgangstextes verweisen (Schaffhausen, Stadtbibliothek, Generalia 28) oder sich aus solchem Rückbezug nahezu vollständig lösen und eine kohärente Buchlektüre ermöglichen (Schott 1500). In einem günstigen Fall wie den Handschriften von Humerys Tröstung der Weisheit ist die Modellierung verschiedener Rezeptionsmodi sogar für ein und dieselbe Übersetzung zu finden. Abhängig von der medialen Konstellation mit ihrer jeweiligen Auswahl der Rahmenelemente stellt sich die Textpräsentation jedes Mal anders dar. Wie ersichtlich ist, kann sich das paratextuelle Dispositiv variabel auf verschiedene Orte und Bereiche des Textgebrauchs ausrichten. Erstaunlich ist daher vor allem auch das buchmediale und textpragmatische Spektrum, das die volkssprachliche Klassiker-Rezeption in diesen wie weiteren Beispielen erprobt und ausschreitet. Worin ist die Bedeutung der spätmittelalterlichen deutschen ConsolatioÜbersetzungen zu suchen? Für die Wieder- und Neuentdeckung der antiken Literatur im 15. Jh. sind die Texte nicht nur wegen ihrer übersetzerischen Qualität zentral. Ihr Rang ist auch deswegen hoch zu veranschlagen, weil sie beispielhaft textuelle und mediale Strategien für den Umgang mit dem klassischen Erbe der Antike entwickeln und durchspielen. Da ihre Entstehung in den – bis 1485 reichenden – Zeitraum des deutschen Frühhumanismus datiert, ist bezeichnend, wie variabel die für die Consolatio vorgesehenen Rezeptionsformen gestaltet sind. Einerseits setzen sie ältere lateinisch-deutsche Aneignungs- und Gebrauchsmuster beharrlich fort und behaupten sich gegen mediale Veränderungen, wie die des Buchdrucks; andererseits sind die für die Übersetzungstexte entworfenen Rezeptionsmodi höchst innovativ; der 1473 bei Anton Koberger in

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Nürnberg mit deutscher Übersetzung herausgebrachte Consolatio-Druck ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Ist die spätantike Consolatio Philosophiae repräsentativ für die literarische Antikerezeption bis um 1500? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten: Das Mittelalter kannte Boethius seit den Anfängen, und die wiederholten und auch mühsamen Versuche, sein poetisches und philosophisches Hauptwerk volkssprachlich werden zu lassen, überraschen deswegen, weil sie auf breiterer Basis erst im späten Mittelalter einsetzen. Sieht man näher hin, geht es bei allen erhaltenen Übersetzungen eindeutig nicht um einen vorgeblich humanistischen Rückgriff ad fontes. Über deren Quellen ist so wenig bekannt, dass sich jede Vermutung in dieser Richtung verbietet – und alles dafür spricht, dass, so weit zu sehen, die Quellen und Vorlagen aller Übersetzungen auf mittelalterliche Texttraditionen zurückgehen. Wichtiger scheint, dass die Übersetzungen seit den 1460er Jahren nicht nur punktuell auftreten, sondern ein emergentes synchrones Feld voneinander unabhängiger Buchprojekte bilden, dessen Bedingungen das parallele Entstehen der Übersetzungen ermöglicht haben. Betrachtet man die Consolatio-Übersetzungen so als spezifisches Phänomen der Klassiker-Rezeption des späten Mittelalters, zeigt sich zugleich, dass in den Jahrzehnten zwischen 1460 und 1500 erstmals Ansätze zu einer volkssprachlichen Boethius-Tradition zu verzeichnen sind. Gerade auch unter diesem Blickwinkel wären die Übersetzungen verstärkt in den Fokus der Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung zu rücken. Aus welchen Gründen bieten sich die Übersetzungen antiker Klassiker für Paratextanalysen an? Unsere vorläufigen Antworten müssten klar geworden sein. Denn sieht man im paratextuellen Beiwerk einen konstitutiven Bestandteil mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, so können gerade auch die Paratexte lebenspraktisch gebundener Übersetzungen Einblick in die Genese eines volkssprachlichen Lese- und Literaturpublikums geben. Wie vielschichtig die erreichbaren Rezeptionsbefunde sind, zeigt sich schon daran, dass Paratexte text- wie exemplarspezifisch auftreten. In diesem Rahmen kommt es aber auch zu Rezeptionseffekten, die systematisch und theoretisch zu beachten wären: Aus neuzeitlicher Sicht ist und bleibt der ‚Text‘ in der Rezeption ‚fest‘ und ‚identisch‘, während Paratexte wandelbare Größen sind. Anders bei den mittelalterlichen Consolatio-Übersetzungen (und wohl nicht nur bei ihnen). Denn ihr Text passt sich immer wieder in neue Gebrauchskontexte ein, während die paratextuellen Rahmenelemente, so flexibel sie sind, einen verfestigten Lektüremodus als Rezeptionsrahmen anzeigen.

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Die spätmittelalterlichen deutschen Übersetzungen der Consolatio Philosophiae

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Désirée Cremer Die providentia und das liberum arbitrium in französischen Consolatio-Übersetzungen – Zur Wiedergabe der boethianischen Konzepte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

1. Ansatz Der 524 von Theoderich zum Tode verurteilte Boethius legt mit der Consolatio Philosophiae in der ausgehenden Antike ein prosimetrisches Meisterwerk vor, welches das geistesgeschichtliche Leben nachfolgender Epochen maßgeblich beeinflusst. Seit ihrer Wiederentdeckung durch Alkuin im späten 8. Jh. dokumentieren zahlreiche lateinische Kommentare und volkssprachliche Übersetzungen die große Bedeutung der als Dialog zwischen ‚Boethius‘ und ‚Philosophie‘ gestalteten Trostschrift. 1 Franz Lebsanft, der als Autor einschlägiger Aufsätze und Mitherausgeber des Sammelbands Boethius Christianus einen wichtigen Beitrag zur Erschließung der Boethius-Rezeption leistet, 2 weckte mit seinem Editionsprojekt der von Colard Mansion als Inkunabeldruck herausgegebenen Übersetzung (Brügge 1477) mein Interesse an der Consolatio. In großer Dankbarkeit und Wertschätzung widme ich ihm diese Studie zu providentia und liberum arbitrium, deren Relation und Vereinbarkeit jahrhundertelang im Zentrum philosophischer und theologischer Reflexionen standen. Angesichts der Originalität und diskursiven Wirkungskraft der in der Consolatio geleisteten Versöhnung von providentia und liberum arbitrium liefert der Umgang französischer Übersetzer mit den

1 Vgl. zu Boethius’ Leben und Wirken zuletzt Kaylor Jr. 2012, zu der lateinischen Kommentartradition Nauta 2009 und Love 2012, zur mittelalterlichen Übersetzungstradition in der Romania u.a. Ricklin 1997, Brancato 2012, Cropp 2007 und 2012. 2 Vgl. Lebsanft 2010, 2011a, 2011b u. 2013, Glei/Kaminski/Lebsanft 2010.

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Désirée Cremer

boethianischen Konzepten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein ergiebiges Forschungsfeld. 3

2. Providentia und liberum arbitrium in der Consolatio Philosophiae Bevor die Wiedergabe von providentia und liberum arbitrium in der französischen Consolatio-Tradition untersucht werden kann, gilt es, die beiden Begriffe in ihrer boethianischen Konzeptualisierung zu bestimmen. 4 Das liberum arbitrium fungiert in der Consolatio als ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT VERNUNFTBEGABTER WESEN, die providentia als GÖTTLICHE VORSEHUNG, genauer als EWIGE ERKENNTNIS UND ORDNUNG DES GÖTTLICHEN PLANS. Die unbestrittene Existenz der providentia stellt nicht nur das liberum arbitrium in Frage – Welche freie Wahl hat der Mensch in einer von Gott gelenkten Welt? –, sondern auch das antike fatum. Boethius gelingt es, das problematische Verhältnis von heidnischem Schicksal und göttlicher Vorsehung zu harmonisieren, indem er das fatum als IRDISCHE, d.h. RAUMZEITLICHE ENTFALTUNG DER UNBEWEGTEN PROVIDENTIA konzeptualisiert und so dessen Daseinsberechtigung im christlichen Mittelalter sichert (s. Cons., IV 6p). 5 Im Hinblick auf die Freiheitsfrage lässt sich feststellen, dass die providentia dem fatum überlegen ist und somit auch einen Bereich verwaltet, der dem Schicksal nicht untersteht: Quo fit ut omnia quae fato subsunt providentiae quoque subiecta sint, cui ipsum etiam subiacet fatum, quaedam vero, quae sub providentia locata sunt, fati seriem superent; ea vero sunt quae, primae propinqua divinitati, stabiliter fixa fatalis ordinem mobilitatis excedunt. Nam ut orbium circa eundem cardinem sese vertentium qui est intimus ad simplicitatem medietatis accedit ceterorumque extra locatarum veluti cardo quidam, circa quem versentur, exsistit, extimus vero maiore ambitu rotatus, quanto a puncti media individuitate discedit tanto amplioribus spatiis explicatur, si quid vero illi se medio conectat et societ, in simplicitatem cogitur diffundique ac diffluere cessat: simili ratione quod longius a prima mente discedit maioribus fati nexibus implicatur ac tanto aliquid fato liberum est quanto illum rerum cardinem vicinius petit (Cons., IV 6p, 14f.).

Während das fatum ‚konditionierbar‘ erscheint – die Menschen können sich durch engelsgleiche Annäherung an den göttlichen Geist, gedacht als Mittelpunkt konzentrischer Kreise, aus den Fängen des Schicksals befreien (vgl. Cons., V 2p, 2-8) –, verliert die Notwendigkeit des göttlichen Wissens nie ihre

3 Vgl. zur boethianischen Harmonisierung von providentia und liberum arbitrium z.B. Gegenschatz 1958, Huber 1976, Lüttringhaus 1982, Sharples 2009. 4 An der Sinngestaltung der Consolatio beteiligte Konzepte werden in Kapitälchen gesetzt. 5 Vgl. die Studie zu fatum in französischen Boethius-Übersetzungen in meiner von Franz Lebsanft betreuten Dissertation (Cremer i. Dr.).

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Gültigkeit, so dass der Widerspruch von liberum arbitrium und providentia, erstmals in V 3p explizit, fortbesteht: Nimium, inquam, adversari ac repugnare videtur praenoscere universa deum et esse ullum libertatis arbitrium. Nam si cuncta prospicit deus neque falli ullo modo potest, evenire necesse est quod providentia futurum esse praeviderit (Cons., V 3p, 3f.).

In der folgenden Prosa beginnt ‚Philosophie‘, die Problemlösung auf der theoretischen Basis der späten Neuplatoniker zu entwickeln. Als Ausgangspunkt dient die auf Iamblich zurückgehende, auch von Ammonios und Proklos dargelegte These, dass Erkenntnis sich nicht nach dem erkannten Objekt, sondern dem erkennenden Subjekt richtet (vgl. Gegenschatz 1958: 124, Huber 1976: 40f.): Cuius erroris causa est quod omnia quae quisque novit ex ipsorum tantum vi atque natura cognosci aestimat quae sciuntur. Quod totum contra est: omne enim quod cognoscitur non secundum sui vim, sed secundum cognoscentium potius comprehenditur facultatem (Cons., V 4p, 24f.).

Um den Widerspruch aufzuheben, muss also die für den menschlichen Verstand eigentlich unfassbare Eigenart der göttlichen Erkenntnis nachempfunden werden (vgl. Cons., V 4p, 2). Die definitive Bestimmung der providentia kulminiert in der letzten Prosa der Consolatio: Quoniam igitur omne iudicium secundum sui naturam quae sibi subiecta sunt comprehendit, est autem deo semper aeternus ac praesentarius status, scientia quoque eius, omnem temporis supergressa motionem, in suae manet simplicitate praesentiae infinitaque praeteriti ac futuri spatia complectens, omnia, quasi iam gerantur, in sua simplici cognitione considerat. Itaque si praesentiam pensare velis qua cuncta dinoscit, non esse praescientiam quasi futuri sed scientiam numquam deficientis instantiae rectius aestimabis. Unde non praevidentia sed providentia potius dicitur, quod porro a rebus infimis constituta, quasi ab excelso rerum cacumine cuncta prospiciat (Cons., V 6p, 15-17).

Indem der Neologismus praevidentia aufgrund seiner zeitlichen Komponente als inadäquat zurückgewiesen und durch providentia – das Präfix ist nicht temporal, sondern direktional zu verstehen – abgelöst wird, enthüllt sich das Wissen des ewigen Gottes als gegenwärtiges Erkennen und nicht als Vorauswissen zukünftiger Ereignisse (vgl. dazu Gegenschatz 1958: 127). Um im letzten Schritt zu klären, wie „die Notwendigkeit der Beziehung von Freiheit und Vorsehung zusammengedacht werden [kann] mit der Nicht-Notwendigkeit von Freiheit“ (Huber 1976: 52), wird der Begriff der zweifachen Notwendigkeit erkenntnistheoretisch angewendet (vgl. diesbezüglich Patch 1935): Respondebo namque idem futurum, cum ad divinam notionem refertur, necessarium, cum vero in sua natura perpenditur, liberum prorsus atque absolutum videri. Duae sunt etenim necessitates, simplex una, veluti quod necesse est omnes homines esse mortales,

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altera condicionis, ut, si aliquem ambulare scias, eum ambulare necesse est. Quod enim quisque novit, id esse aliter ac notum est nequit, sed haec condicio minime secum illam simplicem trahit. Hanc enim necessitatem non propria facit natura sed condicionis adiectio; nulla enim necessitas cogit incedere voluntate gradientem, quamvis eum tum cum graditur incedere necessarium sit. Eodem igitur modo, si quid providentia praesens videt, id esse necesse est, tametsi nullam naturae habeat necessitatem (Cons., V 6p, 26-30).

Die Kompatibilität von menschlicher Entscheidungsfreiheit und göttlicher Vorsehung gründet auf der necessitas condicionis. Im Gegensatz zur necessitas simplex der naturnotwendigen Phänomene (z.B. die Sterblichkeit der Menschen) gilt diese bedingte Notwendigkeit nur, solange ein Zustand oder Vorgang (z.B. das Sitzen oder Gehen) andauert. Gottes Erkenntnis der freien Handlungen der Menschen setzt folglich nicht deren innere Notwendigkeit voraus und die Entscheidungsfreiheit somit nicht außer Kraft. Boethius’ mit terminologischem Nachdruck erzielte Versöhnung von providentia und liberum arbitrium lässt sich abschließend mit dem prägnanten Fazit Hubers (1976: 58) formulieren: „Gottes Vorsehung erkennt das zukünftig Mögliche als Gegenwärtiges in bedingter Notwendigkeit.“ 6

3. Die boethianischen Konzepte in französischen Übersetzungen Die exemplarische Analyse von providentia und liberum arbitrium in französischer Übersetzung stützt sich auf ein Korpus von fünf prosimetrischen Versionen, die zwischen dem 14. und 18. Jh. entstanden sind. Während die ‚jüngeren‘ Verfasser bekannt sind (Le Ber 1578; Ceriziers 1636; Francheville 1744), bleiben die Übersetzer aus dem 14. (= Cropp 2006) und 15. Jh. (= Mansion 1477) anonym. Sprachhistorisch betrachtet dürfte die Wiedergabe den Übersetzern kaum Schwierigkeiten bereitet haben, denn schon früh sind im Französischen Lexeme belegt, die inhaltlich und formal eng mit den lateinischen Begriffen in Verbindung stehen. Als Äquivalent zu providentia bietet sich sowohl die im 12. Jh. erfolgte Entlehnung providence als auch das aus dem erbwörtlichen Verb pourvoir (< lt. PRŌVĬDĒRE) – wohl nach dem Vorbild providentia – abgeleitete Substantiv afr. mfr. po(u)rveance ‚providence‘ an (s. FEW IX, 484a-485b). Die 6 Wenn man mit Gegenschatz 1958 davon ausgeht, dass „sich cognitio und praedestinatio divina als Ausfaltungen der providentia [erweisen], wobei cognitio die passive, bloß wissende, praedestinatio hingegen die aktive, ordnende Seite der divina providentia, des Voraussehens Gottes, umschreiben“ (114f.), harmonisiert Boethius genau genommen nur die Willensfreiheit mit dem passiven Wissen Gottes. Das schöpferische Moment der providentia – sprachhistorisch ersichtlich in den Bedeutungen ‚Vorsorge, Fürsorge‘ (vgl. Georges II, 2044) – wird in der Argumentation ausgeblendet (vgl. Gegenschatz 1958: 128f.).

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Entlehnung fr. arbitre, die das semantische Spektrum des entsprechenden boethianischen Begriffs abdecken kann, ist seit dem 13. Jh. belegt und kollokiert häufig mit einem Adjektiv wie franc oder libre (vgl. FEW XXV.I, 87b). Inwiefern sich trotz der einzelsprachlichen Übereinstimmungen auf der Textebene terminologische Verschiebungen ergeben, wird im Folgenden konsekutiv für die Wiedergabe von providentia und liberum arbitrium ermittelt. Da die Übersetzer die in der lateinischen Consolatio insgesamt 41-mal explizite providentia in der Regel mit einem bestimmten Lexem wiedergeben, scheinen sie ihre Wichtigkeit für den Textsinn erfasst zu haben. In der handschriftlich überlieferten Übersetzung aus dem 14. Jh. wird pourveance zum nahezu konsequenten Äquivalent von providentia erhoben und zehnmal mit dem Genitivattribut de Dieu, dreimal mit dem Relationsadjektiv divine ausgestattet. 7 Durchbrochen ist die terminologische Systematik, wie auch in späteren Übersetzungen, vor allem in V 3p und 4p: Neben der Wiedergabe durch Dieu (V 3p, 4, 8, 9; auch schon IV 6p, 37, 45) greift der Übersetzer zu prescience de Dieu (V 3p, 16) und preco(n)gnoissance (de Dieu) (V 3p, 5, 14, 26; V 4p, 14), wobei der zuletzt genannte Ausdruck an anderen Stellen auch für praescientia, praenotio und praecognitio steht. 8 Providence wird nur in zwei Textpassagen gewählt (in IV 6p, 11 für providentia, in V 4p, 2 für praescientia). In Mansion 1477 findet sich, abgesehen von V 3p, 4 („il“ = Gott) und 8 („dieu“), systematisch die Wiedergabe von providentia durch providence, fünfmal mit dem Zusatz divine und einmal mit de dieu. In V 3p, 9 wird aber auch praescientia mit providence übersetzt. Le Ber hält bis auf zwei Ausnahmen (préscience in V 3p, 9 u. V 4p, 14) konsequent an providence fest. Das Substantiv wird mit bestimmtem Artikel und neunmal mit divine gebraucht. In der Übersetzung Ceriziers’ wird providentia zwar ebenso meist als la Providence, dreimal mit dem Zusatz de Dieu, versprachlicht, doch lassen sich zahlreiche andere Lösungen finden: „cette science“ (V 3p, 5), „Dieu“ (V 3p, 8; V 6p, 30), „la prescience“ (V 3p, 9, 26; V 4p, 14), Auslassung (IV 6p, 13; V 4p, 1). Francheville weicht insgesamt fünfmal von la Providence ab, und zwar mit la Préscience (de Dieu) (V 3p, 9, 14, 16, 32) und „il“ (= Gott) (V 3p, 4). Auch wenn, ausgenommen Mansion 1477, in allen Übersetzungen, besonders der des 14. und Ceriziers’ des 17. Jh., providentia mit mehr als einem Lexem aus dem betreffenden Wortfeld wiedergegeben wird (pourveance, providence, préconnaissance, prescience, science), ist die Sinnkonstitution der Consolatio dadurch kaum gefährdet. Die entsprechenden Abweichungen liegen nämlich ausschließlich vor der oben zitierten präzisen Bestimmung des göttlichen 7 Interessant sind diesbezüglich auch die in Cropps (2006) kritischem Apparat aufgeführten Varianten der verschiedenen Manuskripte. 8 Vgl. auch die ‚Synonymendopplung‘ „la precongnoissance ou pourveance“ in V 3p, 9.

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Wissens (V 6p, 15-17), vor der Boethius selbst keiner strengen terminologischen Differenzierung folgt (vgl. z.B. V 3p, 4: „evenire necesse est quod providentia futurum esse praeviderit“). Im zentralen Passus stellen die Übersetzer die boethianische begriffliche Konstellation wieder her: Unde non praevidentia sed providentia potius dicitur (Cons., V 6p, 17). Et pour ce non pas previdence, mais droictement doit estre appellee pourveance (anonym 14. Jh.).9 pourquoy celle congnoissance daucune chose nest pas ditte preuidence mais aincois prouidence (Mansion 1477, f 278r a). Et pourtant on la doibt nommer prouidence, & non preuoyance (Le Ber 1578). D’où nous pouuons recueillir, que le nom de preuoyance luy est moins propre, que celuy de prouidence (Ceriziers 1636). Ainsi le nom de Prévoiance lui convient moins que celui de Providence (Francheville 1744).

Alle Übersetzer ahmen durch die Verwendung verschiedener Präfixe die grundlegende Gegenüberstellung eines zeitlichen Vorhersehens und einer atemporalen Vorsehung nach. Nur in Mansion 1477 fällt dabei die Entscheidung auf die entlehnten Lexeme aus der lateinischen Consolatio. Aufgrund der gleichen Basis vidence wird so die Betonung der unterschiedlichen Präfixe beibehalten, während die Kontrastierung durch die Asymmetrie von erbwörtlichem und gelehrtem Material aus den anderen Übersetzungen geschwächt hervorgeht. Das Konzept der Entscheidungsfreiheit ist in der Consolatio zehnmal explizit. Trotz der früh erfolgten Entlehnung lässt sich nur in Mansion 1477 und Francheville 1744 eine systematische Wiedergabe von arbitrium durch arbitre feststellen. Während Francheville das im lateinischen Text wenigstens ansatzweise variiert dargestellte Konzept (achtmal: libertas arbitrii, jeweils einmal: arbitrium libertatis und liberum arbitrium) konsequent als Libre Arbitre wiedergibt, weist das Werk Mansions noch eine etwas stärkere Variation auf. Die dominante Wiedergabe durch franc arbitre, von der es zwei Abweichungen (V 3p, 14: „liberte“, V 6p, 31: „liberte de arbitrage“) gibt, wird an mehreren Stellen tautologisch gestaltet, was auf Unsicherheit bezüglich des optimalen Äquivalents hindeutet: „liberte et franc arbitre de lomme“ (IV 6p, 4), „liberte de nostre 9 Fr. prévidence ‚prévoyance‘ wird in FEW (IX, 326b) als gelehrte Ableitung von PRAEVIDERE im Anschluss an PROVIDERE bezeichnet. Da als Erstbeleg Marot aufgeführt ist, bewirkt diese Verwendung eine Vordatierung.

Die providentia und das liberum arbitrium in französischen Consolatio-Übersetzungen

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franc arbitre“ (V 2p, 2), „liberte de franc arbitre“ (V 3p, 5), „franc arbitre de volente“ (V 4p, 4). 10 Während in Ceriziers’ Version der Wert des arbitrium völlig in den Hintergrund tritt und die Freiheit meistens ohne den Willensaspekt explizit wird, 11 entscheiden sich der Übersetzer aus dem 14. Jh. und Le Ber in der Regel für eine Wiedergabe mit volonté. 12 Diese Lösung erweist sich in Anbetracht des Textsinns jedoch als höchst problematisch, da die lateinische Consolatio neben dem liberum arbitrium auch die voluntas – mit anderer Konzeptualisierung – integriert; so wird im semantischen Willensfeld das DEZISIONSVERMÖGEN (liberum arbitrium) von der STREBENSTENDENZ der Menschen (voluntas) begrifflich unterschieden. 13 Deutlich wird diese Differenzierung beispielsweise in der folgenden, am Ende der Consolatio befindlichen Passage, in der die Entscheidungsfreiheit zur Rechtfertigung für die den menschlichen Bestrebungen zuteilwerdenden Strafen und Belohnungen bestimmt wird: Quae cum ita sint, manet intemerata mortalibus arbitrii libertas nec iniquae leges solutis omni necessitate voluntatibus praemia poenasque proponunt (Cons., V 6p, 44). Et comme il soit ainsi, il remaint aux mortelz franchise entiere de voulenté, ne les lois ne sont pas mauvaises qui proposent guerredons et peines aux voulentez franches de toutes neccessitez (anonym 14. Jh.). Lesqueles choses considerees comme elles soient trouuees veritables jl sensuit que franc arbitre demeure aux morteulx jnuiole et non corrompu ¶ Ne les loix aussi ne proposent point jniustement premiations aux bons et paines aux mauuais comme volentes soient exentes de toute necessite (Mansion 1477, f. 280r b). Et estant ces choses ainsi, la liberté & franchise de volonté demeure aux mortels entierre, ny les loix ne proposent poinct iniustement loyer & peine, estans noz volontez libres & desliees de toute necessité (Le Ber 1578).

10 In vier Fällen wird der Freiheits-, in nur einem der Willensaspekt verhandelt. 11 „la franchise de sa liberté“ (V 2p, 2), „liberté“ (V 3p, 3, 5, 14; V 4p, 4; V 6p, 44), „tout ce que l’homme doit faire de libre“ (V 6p, 31). In V 6p, 32 findet sich gar keine spezifische Übersetzung des liberum arbitrium. Nur an zwei Stellen kommt das vollständige Konzept – unterschiedlich – zum Ausdruck: „la franchise de notre volonté“ (IV 6p, 4), „du franc arbitre“ (V 2p, 3). 12 In der Übersetzung aus dem 14. Jh. wird das Konzept siebenmal durch franchise de (la) voulenté, zweimal durch franche voulenté und einmal allein durch franchise wiedergegeben. Le Ber verwendet einmal vouloir, neunmal volonté, und zwar in folgenden Syntagmen: viermal als Genitivattribut zu liberté (V 3p, 5; V 3p, 14; V 4p, 4; V 6p, 31), zweimal in der tautologischen Verbindung la liberté & franchise de (la) volonté (IV 6p, 4; V 6p, 44), viermal mit dem Adjektiv libre (V 2p, 3; V 6p, 32), einmal mit franc (V 3p, 3) und einmal mit beiden (V 2p, 2). 13 Horn 2004: 768 stellt diese terminologische Differenzierung in Boethius’ Aristoteles-Kommentar fest.

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Cela étant ainsi, la liberté de l’homme demeure toute entiere, & les Loix ne sont pas injustes en la disposition des peines & des recompenses (Ceriziers 1636). Et cela étant, le Libre Arbitre de l’Homme demeure pur & entier; On ne peut donc pas regarder les Loix comme injustes, dès qu’elles récompensent ou qu’elles punissent des Hommes, dont les volontés sont affranchies de toute nécessité (Francheville 1744).

Während das liberum arbitrium folglich die neutrale Grunddisposition jedes vernunftbegabten Wesens meint, bezeichnet die voluntas die aktive Willenslenkung zum Guten oder Schlechten. 14 Die beiden Begriffe stehen in enger Relation, sind aber nicht identisch, so dass sich deren Gleichsetzung in den Übersetzungen aus dem 14. und 16. Jh. als unzulässig erweist. 15

4. Ausblick Die im Rahmen dieses Beitrags ermittelten Übersetzungslösungen liefern lediglich den Ansatz terminologischer Erkenntnisse. Um die lexikalischen Entscheidungen der Übersetzer auf ihre diskursive Wirkungskraft zu überprüfen, bieten sich weitreichende Wege an, von denen ich abschließend drei skizzieren möchte. Erstens müssen die bisher für sich betrachteten französischen Äquivalente von providentia und liberum arbitrium in Zusammenhang gebracht werden, um festzustellen, ob die boethianische Kompatibilität in den Übersetzungen in Gänze erreicht wird. Nur eine holistische Betrachtung des Texts verrät, inwiefern sich die punktuellen terminologischen Verschiebungen auf die globale Sinnstiftung auswirken. Zweitens muss neben den Wiedergabelösungen im Text auch die metatextuelle Verhandlung der Konzepte in den Glossen, Rubriken und Anmerkungen Gegenstand der Untersuchung werden. Drei der ausgewählten Übersetzungen sind mit einem umfangreichen erläuternden Apparat ausgestattet (Cropp 2006 [14. Jh.], Mansion 1477, Francheville 1744). Dass eine Auswertung entsprechender, zum Teil auf lateinische Quellen zurückgehender Paratexte gewinnbringend ist, lässt sich beispielsweise an den deutlichen terminologi14 Achtner 2010 erkennt bei Augustinus eine Unterscheidung zwischen dem „traditionellen Begriff des rationalistischen liberum arbitrium“ und dem „sehr viel stärker an der eigenen inneren Erfahrung der Selbsttätigkeit orientierten Begriff der voluntas“ (63); er differenziert diesbezüglich zwischen „Entscheidungsfreiheit“ und „Handlungsfreiheit“ (66f.). 15 Vgl. auch die Wiedergabe von V 3p, 5, in der ebenfalls nur Mansion 1477 und Francheville 1744 an der wichtigen begrifflichen Differenzierung zwischen liberum arbitrium und voluntas festhalten.

Die providentia und das liberum arbitrium in französischen Consolatio-Übersetzungen

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schen Differenzen in der Übersetzung des 14. Jh. erkennen; die im eigentlichen Text vermiedenen Lexeme providence und arbitre sind in den funktionell anders gewichteten Glossen und Rubriken nämlich mehrfach explizit. Drittens müssen die Entscheidungen der Übersetzer im Spiegel des jeweiligen historischen Kontexts betrachtet werden. Während lexikalische Schwankungen für die Version aus dem 14. Jh. aufgrund ihrer frühen Entstehungszeit und pluralen Autorschaft 16 typisch sind und Ceriziers als Vertreter einer Epoche, in der die Tradition der belles infidèles erblüht, generell freie Übersetzungsverfahren und eine gesteigerte variatio bevorzugt, verwundert Le Bers Indifferenz zwischen voluntas und arbitrium am meisten, da er sonst weitaus stärker als Ceriziers zu terminologischer Treue tendiert. Mögliche Erklärungsansätze für die Ablehnung von arbitre sind im kulturellen Umfeld des Übersetzers zu suchen. Beispielsweise suggeriert seine spätere, in der reformatorischen Stadt La Rochelle veröffentlichte Übersetzung von Lipsius’ Politica (Le Ber 1590) eine gewisse Nähe zu protestantischem Gedankengut, weshalb Luthers und Calvins vehemente Zurückweisung des liberum arbitrium von Bedeutung sein könnte. 17 Lipsius selbst plädiert in seiner von Boethius inspirierten Trostschrift namens De Constantia (1582) für die Willensfreiheit, die er bezeichnenderweise häufiger durch voluntas als durch liberum arbitrium versprachlicht. 18 Francheville, der im 18. Jh. ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern Le Ber und Ceriziers konsequent auf dem Libre Arbitre beharrt, liefert ebenfalls das Zeugnis einer zeitgenössischen Denkrichtung, und zwar das eines aufklärerischen Freimaurers, der menschliche Entscheidungsfreiheit und Vernunft als essenziell und untrennbar erachtet. 19 16 Cropp 2006: 22 geht davon aus, dass mehrere Autoren an der überlieferten Übersetzung beteiligt waren. 17 Luther, der sich mit De servo arbitrio (1525) gegen Erasmus von Rotterdam richtet, begreift den Willen als bereits dem Guten oder Schlechten zugewandte Intentionalität; die neutrale Entscheidungsfreiheit existiert für ihn nicht. Calvin bestreitet die Willensfreiheit zugunsten der göttlichen Allwirksamkeit insbesondere in der Christianae Religionis Institutio (1536) (vgl. Achtner 2010: 172, 179, 186f.). 18 Die relevanten Passagen finden sich in Kapitel XX, in dem es um die Kompatibilität von voluntas und fatum geht: „Postremo, voluntati vim illi intulisse visi violentam. abest hoc a nobis, qui & Fatum ponimus, & in gratiam tamen reducimus cum arbitrij libertate. […] At inter secundas, etiam Voluntas tua est: quam fuge credere, vt deus ille cogat aut tollat. […] Homines deliberare, eligere? deliberant sine vlla vi & eligunt, per voluntatem. […] Quomodo enim, inquiunt, si Deus praeuidit peccaturum me, nec falli praeuisio illa potest, non necessario peccem? Fateor, necessario: sed non pro tua mente: libera voluntate hic interueniente. […] quia arbitrium saltem reictum homini, quo reluctari & obniti deo libeat: non vis etiam, qua possit. […] sic in fatali hac naui, qua omnes vehimur, currant licet voluntates nostrae & transcurrant, non via eam eijciant aut sistent. Temperabit & habenas moderabitur semper suprema illa voluntas: & quo visum erit cumque, currum hunc diriget leni quodam fraeno“ (Neumann 1998: 146-154). 19 Zu den Umfeldern und Übersetzungsmethoden der französischen prosimetrischen ConsolatioVersionen vgl. Cremer i. Dr.

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Setzt der Beitrag angesichts der Komplexität der philosophischen Thematik und des Korpusmaterials auch nur kleine Schritte auf weitem Forschungsfeld, gelingt es ihm hoffentlich zu zeigen, wie lohnenswert es ist, die aufgenommenen Spuren der Text-, Paratext- und historischen Kontextanalyse zur Erschließung der französischen Consolatio-Tradition weiterzuverfolgen.

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Wiltrud Mihatsch Referenzielle Besonderheiten von Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

1. Einführung 1 Ansätze zur Erforschung von Grammatikalisierung stammten zunächst überwiegend aus dem funktionalistischen Umfeld, in den letzten Jahren jedoch auch aus formalen Grammatiktheorien, wobei beide Strömungen, teils aufgrund ihres strukturalistischen Erbes, wenig Berührungspunkte mit philologischen Methoden und Erkenntnissen zeigen. Da jedoch besonders in den funktionalistischen Ansätzen zur Grammatikalisierung die Performanz im Mittelpunkt steht, hat die Untersuchung der konkreten Belege, meist korpusbasiert, einen besonderen Stellenwert. So liegt seit einigen Jahren ein besonderes Augenmerk auf der Rolle spezifischer Texttraditionen (ich wähle diesen Begriff anstelle des unschärferen Begriffs der Diskurstradition, vgl. Lebsanft 2005: 26) für Grammatikalisierungsprozesse (vgl. Kabatek 2005b). Damit bekommen auch die Texte selbst 2 und ihre philologische Analyse einen größeren Stellenwert in der Grammatikalisierungsforschung. Neben der soziohistorischen und texttraditionellen Einbettung der Texte spielen gerade für die Untersuchung von Sprachwandel meines Erachtens text- und texttraditionsspezifische sowie fachspezifische Kommunikationsprinzipien und -funktionen eine entscheidende Rolle für die Analyse sprachlicher Innovationen, ein Ansatz, den Franz Lebsanft in zahlreichen zentralen Arbeiten im Bereich der historischen Pragmatik verfolgt. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als eine Skizze einiger referenzieller Besonderheiten von altspanischen NPs mit persona und hombre in Rechtstexten. Substantive der Bedeutung ‚Mensch‘ (im Folgenden MS abgekürzt) sind 1 Désirée Friedrich und Christin Schmidt möchte ich sehr herzlich für ihre Unterstützung bei der Auswertung der Korpusdaten danken. 2 So argumentiert bereits Raible 1985: 67 für eine Herangehensweise, die es sich vornimmt, „Texte zunächst einmal als Texte – mit ihren charakteristischen Notwendigkeiten und ihrer charakteristischen Tradition – zu sehen, nicht nur gewissermaßen als „Steinbrüche“ für die Beobachtung von Einzelerscheinungen“.

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Wiltrud Mihatsch

bekanntermaßen Ausgangspunkte für zahlreiche Grammatikalisierungsprozesse, insbesondere der Pronominalisierung. Es soll exemplarisch mikroskopisch auf der Grundlage einzelner Textbeispiele sowie makroskopisch anhand einiger quantitativer Korpusauswertungen gezeigt werden, welche texttraditionell und kommunikativ bedingte Besonderheiten diese NPs in altspanischen Rechtstexten auszeichnet und inwieweit die Verwendungen in Konkurrenz zu Pronomina treten bzw. Anzeichen für eine beginnende Pronominalisierung zeigen.

2. Historische und sprachliche Besonderheiten von Rechtstexten 2.1. Altspanische Rechtstexte im Kontext der Rechtsgenese

Fachsprachliche Besonderheiten können nicht unabhängig vom Fach, insbesondere der Historizität des Fachs und seiner Texte, betrachtet werden (hierzu Lebsanft 2003 zu einer exzellenten kritischen Einschätzung der Beziehungen zwischen Geschichtswissenschaften und der historischen Sprachwissenschaft). Eine Skizze der Rechtsgeschichte Europas, die in besonderem Zusammenhang mit der Verschriftlichung der romanischen Sprachen steht, scheint mir daher an dieser Stelle angebracht. Typisch für Rechtstraditionen und damit Rechtsprache ist der Übergang vom mündlich tradierten und vollzogenen Recht, über konkrete Einzelfälle, Präzedenzfälle übers Gewohnheitsrecht bis hin zur schriftlichen Kodifizierung von Gesetzen. Diese setzt in Europa mit der Entstehung des römischen Rechts ein (Kaser 151989). Nach dem Niedergang des weströmischen Reichs verlor das elaborierte römische Recht an Einfluss, wenngleich die römische Rechtstexttradition nie völlig abbrach 3 und ab dem 12. Jh. im Zuge der bolognesischen Renaissance wieder verstärkt rezipiert wurde. Bis weit ins Mittelalter hinein ist daher zunächst ein erneuter Übergang vom mündlich tradierten zum schriftlich kodifizierten Recht zu beobachten. Auf der iberischen Halbinsel entstanden im Kontext des germanisch geprägten Gewohnheitsrechts in der Zeit der Wiedereroberung Beschreibungen von Einzelfällen, sogenannte fazañas, die wiederum eingingen in allgemeinere, aber nur lokal gültige Fueros (Kabatek 2005a: 183ff., 197), die schließlich unter Einfluss des gelehrten römischen Rechts wiederum zu Kodifikationen mit größerem territorialen Geltungsbereich ausgebaut wurden (Kabatek 2005a: 169, 187). Die 3 Über den Bruch hinweg blieben schriftliche Kodifikationen in begrenztem Umfang aus der Antike erhalten, vor allem durch die Tradition des Kirchenrechts (Erdő 2006), aber auch über die Verwaltungspraxis (Härtel 2011: 57).

Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

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letztendlich aus dem westgotischen Recht entspringenden Texte, die im 13. Jh. auf der iberischen Halbinsel unter Alfons dem Weisen entstanden, sind bereits mehr oder weniger stark geprägt durch die verstärkte Vermittlung des gelehrten römischen Rechts ab dem 12. Jh. über Bologna (Kabatek 2005a: 69ff., 81-87, 94, 101ff., Allorant/Tanchoux 2009: 90). Rechtstexte spielten ihrerseits eine besondere Rolle für die Verschriftung und Verschriftlichung romanischer Sprachen. Unter den ganz frühen romanischen volkssprachlichen Texten finden sich zahlreiche Rechtsstexte, wie z.B. mündlich tradierte Rechtsgepflogenheiten und oral realisierte, aber in bestimmten Kontexten schriftlich festgehaltene Texte wie Eidesschwüre (Koch 1993). Volkssprachliche Elemente treten außerdem sehr früh in Privaturkunden auf, die einen starken Alltagsbezug besitzen (Kabatek 2005a: 129). Bezeichnenderweise gelten seit November 2010 die Cartularios de Valpuesta, die für das Kloster Santa María de Valpuesta relevante Urkunden aus der Zeit von 804-1200 erhalten, offiziell als die Quelle der ältesten Zeugnisse des Kastilischen und lösen damit die in der religiösen Domäne angesiedelten Glosas emilianenses ab. Dabei diente das Lateinische, internationale Fachsprache des Mittelalters, als einigendes Moment der romanischen (Fach-)prosasprache in dieser Zeit (vgl. auch Barra Jover 2010: 64). Aufgrund ihrer Pionierrolle bei der Verschriftlichung und ihrer starken Alltagsrelevanz waren besonders im Spätmittelalter Rechtstexte vermutlich prägend für die Herausbildung volkssprachlicher (Fach-)prosa generell, ein Aspekt, der meines Erachtens eingehender Untersuchungen bedarf. 2.2. Sprachliche Besonderheiten von Rechtstexten

Franz Lebsanft (2005: 33) betont die geschichtliche Kontingenz kommunikativer Praktiken vor der Folie texttraditionsspezifischer epochenübergreifender Kommunikationsziele. Vor diesem Hintergrund müssen auch die sprachlichen Charakteristika von Rechtssprache und Rechtstexten betrachtet werden. Eine Besonderheit von Rechtstexten ist epochenübergreifend die Autorität dieser Texte und damit verbunden der nur mit religiösen Texten vergleichbare Stellenwert des genauen Wortlauts, was zum Erhalt zahlreicher sprachlicher Archaismen in Lexikon und Grammatik führte, die auf den ersten Blick sicher hervorstechendste Besonderheit von Rechtstexten. Dieses Phänomen ist in allen mir bekannten modernen wie auch schon mittelalterlichen europäischen Rechtssprachen zu beobachten. Daneben zeigen Rechtstexte auch wichtige übereinzelsprachliche und relativ epochenunabhängige Besonderheiten gegenüber anderen Fachdomänen auf, die funktional bedingt sind. Im Bereich der Terminologie wäre hier das besondere Bedürfnis nach Generalisierung zu nennen, da normative Gesetzestexte

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Wiltrud Mihatsch

möglichst lückenlos eine große Diversität von Einzelfällen abdecken müssen. Mehr noch als semantisch sehr spezifische Termini, die für viele andere Fachbereiche besonders typisch sind, sind hier klar definierte Termini auf einer hohen Generalisierungsebene wie ‚Person‘ oder ‚Sache‘ zentral. Neben der Bedeutung allgemeiner ontologischer Kategorien für die Rechtsterminologie ist auf der Textebene mehr noch als in anderen Fachsprachen „die Absicherung der Eindeutigkeit des mitgeteilten Textinhalts oberstes Ziel der sprachlichen Gestaltung. Dafür werden auch sprachliche Mittel eingesetzt, die in normaler Kommunikation als redundant gewertet werden müssen“ (Selig 1992: 126). Diese beiden Aspekte wie auch die besondere Rolle menschlicher Akteure (die allerdings in religiös-didaktischen und philosophischen Texten ebenfalls zentral sind) unterscheiden die Rechtssprache von anderen Fachsprachen. Daneben müssen auch epochenspezifische, beispielsweise stilistische Charakteristika dieser Text berücksichtigt werden. Die folgende Studie wird zeigen, dass sowohl epochenübergreifende wie auch epochenspezifische Merkmale beobachtet werden können. 2.2.1. Der fach- bzw. rechtssprachliche Ursprung allgemeiner menschlicher Substantive 4

Wie bereits erwähnt sind gerade sehr generelle ontologische Unterscheidungen in der Rechtsterminologie zentral – so ist lat. PERSONA ein alter juristischer Fachterminus, der bereits im römischen Recht in der Bedeutung ‚rechtsfähige Person‘ verwendet wurde, der RES ‚Sache‘ gegenüber stand (Ernout/Meillet 1959, s.v. persona). In der Gemeinsprache müssten MS aufgrund des Anthropozentrismus der Sprache ebenfalls zentral sein. In der Tat spielt das Konzept ‚Mensch‘ für eine Reihe morphosyntaktischer Unterscheidungen, beispielsweise bei den Pronomina, eine grundlegende Rolle, was auch die übereinzelsprachliche, vielleicht universelle Belebtheitshierarchie von Silverstein (1976) reflektiert. Allerdings müsste das Konzept auch in der gemeinsprachlichen Lexik eine besonders prominente Rolle einnehmen. Betrachtet man jedoch die Entstehung und den Gebrauch von MS in der Gemeinsprache, so stellt man fest, dass ihre Verankerung hier eher schwach ist (Mihatsch i. Dr. a und b). Die meisten heute gebräuchlichen MS romanischer und anderer Sprachen, so auch Spanisch persona, individuo und (ser) humano, sind in der Tat gelehrten Ursprungs, mit Ausnahme des ältesten volkssprachlichen Synonyms hombre, das jedoch durch die Polysemie ‚Mensch/Mann‘ (vgl. Koch 2005) in der generellen Bedeutung 4 Die vorliegenden Überlegungen gehen aus dem Kooperationsprojekt „Menschliche Substantive zwischen Lexikon und Grammatik“ mit Catherine Schnedecker (Straßburg) im Rahmen von PROCOPE (DAAD) (2011-2012) hervor.

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Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

heute stark eingeschränkt ist (vgl. auch Mihatsch i. Dr. b). Das zweitälteste MS ist persona, das nach CORDE bis ins 12. Jh. ausschließlich in Rechtstexten, und zwar bis auf wenige Belege in mittellateinischen Rechtstexten auftritt. Allerdings beträgt der Anteil von Rechtstexten (ausschließlich rechtswissenschaftlicher Texte, so auch in den folgenden Auswertungen) am Gesamtkorpus fürs 12. Jh. 85%, im 13. Jh. nur noch 40%, so dass absolute Belegzahlen mit Bedacht interpretiert werden müssen. Im 13. Jh. zeichnet sich jedoch noch eine klare Spezialisierung von persona(s) auf Rechtstexte ab, die in der Tat sehr stark für eine Übernahme dieses Lexems aus rechtssprachlichen Texten spricht. Die ältere lateinische Bedeutung ‚Maske‘, ‚Rolle‘ wurde vermutlich nicht in die romanischen Sprachen übernommen, da mit der Verbreitung des Christentums die antike Theatertradition unterging (vgl. FEW, s.v. persona), während Rechtstexte aber, wie oben ausgeführt, weiterhin tradiert und rezipiert wurden. Im Übrigen ist auch das MS hombre besonders häufig in Rechtstexten zu finden. Im Folgenden ein Überblick über die Belegzahlen von hombre und persona in CORDE: 12. Jh. NichtRechts t.

12. Jh. Rechts t.

13. Jh. NichtRechts t.

13. Jh. Rechts t.

14. Jh. NichtRechts t.

14. Jh. Rechtst.

15. Jh. NichtRechts t.

15. Jh. Rechtst.

persona

0

746

1819

4990

5852

8102

79.754

79.309

personas

0

264

1734

4833

4354

10.422

48.373

124.645

hombre

886

4695

85.811

122.747

69.087

120.199

229.027

116.595

hombres

1072

4229

75.969

71.794

44.297

97.580

158.082

118.043

Tabelle 1: persona und hombre in CORDE 5

Die Daten zeigen, dass hombre insgesamt zunächst das übliche menschliche Substantiv ist, wobei persona immer mehr zunimmt und in Konkurrenz zu hombre tritt, zunächst in Rechtstexten. Im Übrigen ist das Verhältnis später genau umgekehrt, nach CORDE finden sich im Código Civil von 1889 699 Belege für persona(s) gegenüber 15 Belegen für hombre(s) ‚Mensch‘.

5 Wie auch in den folgenden Tabellen umgerechnet auf Vorkommen pro 5.000.000 Wörter, alle graphischen Varianten (inkl. Diakritika und Groß- und Kleinschreibung) wurden berücksichtigt. Als Rechtstexte analysiert wurden alle Texte unter „10. Derecho“ in CORDE, rechtswissenschaftliche (in der Regel nicht normative) Texte wurden also nicht berücksichtigt. Das Lexem hombre ‚Mensch/Mann‘ wurde nicht disambiguiert. Dies muss zukünftigen Analysen vorbehalten bleiben.

584

Wiltrud Mihatsch

Sp. individuo ist ab dem 15. Jh. in der Bedeutung ‚Mensch‘ zunächst überwiegend in belehrenden Texten belegt, (ser) humano nach CORDE ab dem 16. Jh. zunächst in literarischen Texten und in nicht rechtssprachlichen Fachprosatexten. Diese Substantive sind heute nach wie vor distanzsprachlich markiert und in der Gemeinsprache nicht sehr frequent (vgl. auch Mihatsch i. Dr. a). Demgegenüber ist im Spanischen (wie auch im Französischen und Portugiesischen) der ursprüngliche Rechtsterminus persona nach eigenen Korpusanalysen in C-ORAL-ROM heute das häufigste MS noch vor hombre und damit in einer dem deutschen Mensch vergleichbaren Position (vgl. Mihatsch i. Dr. a). Alle genannten MS sind jedoch in der Gemeinsprache, besonders in der Nähesprache, bei spezifischer Referenz auf ein Individuum stilistisch markiert und häufig pejorativ, da die Abstraktion vom Geschlecht kognitiv nahezu unmöglich ist. Bei spezifischer Referenz auf einzelne Individuen präferieren Sprecher, wenn möglich, Eigennamen, die ja meist Geschlechtsunterschiede anzeigen, relationale Substantive wie amigo, madre, 6 die in den romanischen Sprachen ebenfalls meist fürs Geschlecht spezifiziert sind (mit Ausnahme von bestimmten Berufsbezeichnungen), oder aber zumindest generelle Substantive wie hombre ‚Mann‘, chica, mujer, señora, die ebenfalls zwischen den Geschlechtern unterscheiden (vgl. Enfield/Stivers 2007 für pragmatische Analysen diskursiver Präferenzen bei der Benennung von Menschen). Dies erklärt auch, weshalb genuin umgangssprachliche menschliche Substantive des modernen Spanischen wie tía, tío, tronco, macho – mit Ausnahme von Kollektiva wie gente, gentuza etc. – fürs Geschlecht spezifiziert sind und weshalb MS meist gelehrten Ursprungs sind. Dennoch stellen gerade diese doch markierten Substantive in zahlreichen Sprachen der Welt wichtige Quellen für Grammatikalisierungspfade dar, insbesondere der Pronominalisierung (vgl. Heine/Song 2011). Dieses Spannungsverhältnis zwischen lexikalischer Markiertheit und einem starken Sog in die Grammatik ist bedingt durch die weitgehende Deckung mit der semantischen Information insbesondere von Indefinitpronomina, die ja häufig keine Geschlechtsunterschiede versprachlichen. Romanische Beispiele für Pronominalisierungsprozesse von MS sind die unpersönlichen und teils schon persönlichen Pronomina fr. on (wie auch dt. man), Portugiesisch a gente und a pessoa, as pessoas, uma pessoa (Mihatsch i. Vorb. b), aber auch Negativpronomina wie fr. personne und dt. niemand.

6 Im Spanischen gibt es keine umgangssprachlichen Verwandtschaftsbezeichungen mit singularischer Referenz ohne Geschlechtsunterscheidung, Substantive wie pariente sind distanzsprachlich markiert.

Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

585

3. Der Verweis auf menschliche Akteure in altspanischen Rechtstexten Die sprachlichen Bezüge auf menschliche Akteure spielen in Rechtstexten mit Weisungscharakter eine besondere Rolle. Im Folgenden sollen daher die Besonderheiten dieser Bezüge, die sich vor allem in ihrer Kombination mit Determinanten oder Quantoren und in der Gegenüberstellung mit semantisch und referenziell äquivalenten pronominalen Ausdrücken nachweisen lassen, untersucht werden. Zunächst soll der Erstverweis, dann die anaphorische Wiederaufnahme untersucht werden. Diese Besonderheiten sind vermutlich auch bei allgemeinen Substantiven für nichtbelebte Referenten zu finden, allerdings spielen diese in Rechtstexten eine deutlich weniger prominente Rolle. 3.1. Menschliche Substantive im Erstverweis

In Urkunden oder Prozessprotokollen, die sich auf konkrete Einzelfälle beziehen, werden in der Regel bei der Einführung von insbesondere menschlichen Referenten Eigennamen genannt, die zur Identifikation von Individuen dienen. Nach meinen Pilotuntersuchungen (hier müsste jedoch eine systematische Korpusanalyse anschließen) dominieren in gewohnheitsrechtlichen Texten und Gesetzen indefinite unspezifische NPs oder Indefinitpronomina. Häufig beziehen sich diese Verwendungen auf temporäre soziale Funktionen oder Rollen in bestimmten Situationen, die oft durch modifizierende Adjektive oder Relativsätze spezifiziert werden. Semantisch unterscheiden sich Indefinitpronomina für menschliche Referenten auf den ersten Blick nicht von indefiniten NPs mit MS (vgl. Haspelmath 1997, aber Mihatsch i. Vorb. a für eine Reihe von Unterschieden). In den romanischen Sprachen wie auch in vielen anderen Sprachen sind Indefinitpronomina für menschliche Referenten nicht fürs Geschlecht spezifiziert. Dies hängt damit zusammen, dass bei den meisten indefiniten, insbesondere den unspezifischen Verwendungen, der Unterschied zwischen Mann und Frau keine Rolle spielt. 7 Nach einer kursorischen Korpusanalyse in CORDE treten die Indefinitpronomina alguno und alguien, das im Altspanischen allerdings noch selten ist, insgesamt weitaus häufiger auf als die lexikalisch spezifizierten NPs mit einem Substantiv der Bedeutung ‚Mensch‘, was deren grammatischen Status spiegelt. Sie zeigen, was angesichts der Dominanz hypothetischer Kon-

7 Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung von Correas zum Unterschied zwischen alguien und alguno/alguna (vgl. DHLE, s.v. alguien).

Wiltrud Mihatsch

586

texte mit indefinit-unspezifischer Referenz auf menschliche Akteure nicht überrascht, eine überwiegende Verwendung in altspanischen Rechtstexten. Genauer untersucht habe ich Indefinitdeterminanten, die ja deutlich später als der Definitartikel grammatikalisiert wurden. Der Indefinitartikel un(a) wurde zunächst im Altspanischen präferenziell indefinit-spezifisch verwendet, während in unspezifischen Verwendungen, die ja in Rechtstexten dominieren, der Nullartikel bevorzugt wurde, der erst ab dem 14. Jh. langsam abgelöst wurde (Garachana Camarero 2006: 412, 423). Gleichzeitig beobachtet Pozas Loyo (2010: 147, 173), dass gerade in altspanischen Rechtstexten der nicht obligatorische Indefinitbegleiter algún besonders häufig auftritt, erklärt dieses Faktum jedoch nicht. Der deutlich schwächer grammatikalisierte und damit seltenere pluralische Indefinitartikel uno/as wurde der Vollständigkeit halber aufgeführt. In weiteren Studien müssten auch Nullartikel erhoben werden. Die folgende Tabelle zeigt die relative Häufigkeit der Vorkommen indefiniter NPs mit un und algún mit persona und hombre in altspanischen nichtrechtssprachlichen gegenüber rechtssprachlichen Texten:

una persona alguna persona unas personas algunas personas un hombre algun hombre unos hombres algunos hombres

12. Jh. NichtRechts t. 0

12. Jh. Rechts t.

13. Jh. Rechts t.

0

13. Jh NichtRechts t. 32

14. Jh. Rechts t.

173

14. Jh. NichtRechts t. 43

15. Jh. Rechts t.

123

15. Jh. NichtRechts t. 996

0

0

11

31

11

246

1218

1557

0

0

0

0

0

0

0

66

0

0

0

0

75

457

1702

9387

0

31

3758

2699

1886

2671

11.304

746

0

47

592

10.294

194

5589

1467

768

0

0

323

16

97

0

332

0

0

0

258

973

539

1213

886

395

680

Tabelle 2: Un vs. algún mit persona und hombre nach CORDE (zur Auswertung vgl. Anmerkung 3) 8

8 Das nachgestellte alguno wurde nicht berücksichtigt, da hier die negativen Verwendungen zu überwiegen scheinen. Der insgesamt relativ hohe Anteil dieser NP mit MS in Rechtstexten ist bedingt durch die relativ hohen Gesamtanteile der MS in Rechtstexten insgesamt (vgl. Tabelle 1). Es ist daher nur sinnvoll, einen Vergleich zwischen den Indefinitbegleitern anzustellen.

Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

587

Tabelle 2 zeigt deutlich bis ins 15. Jh. eine rechtssprachliche Präferenz für algún gegenüber un (mit Ausnahme von persona im 13. Jh.), bei hombre wird der Unterschied dieser Spezialisierung zwischen dem Indefinitartikel un und algún besonders deutlich. Unos ist insgesamt offensichtlich nur sehr schwach etabliert. Im 15. Jh. ist die Präferenz für algún noch sehr deutlich bei persona. Besonders auffällig nach diesen Daten ist also die Tendenz zur Verwendung der indefinitunspezifischen NP mit algun(a) wie in Bsp. (1), die referenziell identisch ist mit dem Indefinitpronomen oder aber, im Altspanischen, mit der (noch) artikellosen Verwendung (Bsp. 2) oder der noch nicht allzu stark etablierten Verwendung des Indefinitartikels (Bsp. 3), alle drei Beispiele stammen aus dem 13. Jh.: (1) Si algún omne faz falso escripto o lo husar en juyzio o en otra cosa sabiéndolo (CORDE, Anónimo (1250-1260): Fuero Juzgo) (2) E si omne dentro quemare, peche CC marauedis et salga enemigo (CORDE, Anónimo (1218-1250): Fuero de Zorita de los Canes) (3) [...] si un ome diere a otro muchas feridas en una baraia, maguer que muchas sean las feridas o los golpes, que non pueden mas montar las feridas de quinientos sueldos [...] (CORDE, Anónimo (1255-1280): Leyes nuevas)

Weshalb wird aber gerade in altspanischen Rechtstexten redundanterweise algún verwendet? Algún ist zunächst, als Erbe seines lateinischen Ursprungs, ein indefiniter Determinant, der auf spezifische, aber dem Sprecher unbekannte Referenten Bezug nimmt oder der indefinit nichtspezifisch verwendet wird und Beliebigkeit ausdrückt (Pozas Loyo 2010: 134). Erst später funktioniert der Ausdruck auch generell spezifisch (Pozas Loyo 2010: 267). Dies scheint in der Tat eine allgemeine rechtssprachliche Besonderheit des Mittelalters zu sein, denn fr. aucun überlebt in positiven Verwendungen, die heute quelque bzw. quelqu’un übernehmen, deutlich länger in Rechtsdokumenten als in anderen Texttraditionen (Meyer-Lübke 1923 [1890-1906]: III,99, zit. in Pozas Loyo 2010: 137). In allen obigen durchaus typischen Beispielen steht die NP in präverbaler Subjektposition, die tendenziell topikalisch ist (Leonetti 1999: 855). Topikalische indefinite NPs zeigen allerdings eine starke Präferenz für spezifische oder generische Lesarten, während indefinit-unspezische NPs eher nicht topikalisch sind und damit eher postverbal auftreten, mit wenigen Ausnahmen z.B. in modalen Kontexten (Leonetti 1999: 855, vgl. auch Pozas Loyo 2010: 223). Die topikalische Verwendung indefinit-unspezifischer NPs ist aber nun gerade eine sehr typische Verwendung in weisungsgebenden Rechtstexten, so dass hier vermutlich alguno der expliziten Topikalisierung dient, was auch erklären mag, weshalb häufig lexikalisch vollspezifizierte NPs verwendet werden, wenn doch ein Indefinitpronomen genügen würde. Die indefinit unspezifische Referenz

588

Wiltrud Mihatsch

hat in den Rechtstexten in der Regel außerdem eine zusätzliche Bedeutungsnuance. Meines Erachtens indiziert solch ein expliziter Begleiter einen besonderen, wenn auch hypothetischen Bezug zu spezifischen Referenten, da ein indefiniter Referent eines Gesetzestextes bei der Rechtssprechung im konkreten Rechtsfall durch die Referenz auf ein Individuum ersetzt wird. Umgekehrt verweisen diese Verwendungen auf den konkreten Einzelfall und damit die spezifische Referenz als Ausgangspunkt der Rechtsgenese und der Generalisierung. Das unspezifische Indefinitpronomen ist damit ein explizit markierter Platzhalter mit komplexen Instruktionen zur Identifikation von Referenten. Dies klärt die eigentlich redundante Verwendung von Determinanten wie sp. alguno – vgl. auch Company Company/Pozas Loyo (2009: 1108), die das explizite zusammengesetzte free-choice-Indefinitpronomen cualquiera ebenfalls vor allem in altspanischen Rechtstexten beobachten und dort auch seinen Ursprung annehmen, dies aber nicht erklären. Diese spezielle Art der außerdem formal sehr expliziten bis hin zur redundanten Referenzmarkierung zeigt sich auch in einem noch expliziteren alternativen Verfahren, nämlich dem Einsatz von Platzhaltern von Eigennamen (Mihatsch 2006). Hierbei können hochfrequente Eigennamen umfunktioniert werden, wenn nämlich konkrete oder hypothetische Einzelfälle zur Veranschaulichung herangezogen werden oder aber in Musterformularen für Urkunden oder Prozesse, in denen Eigennamen Platzhalterfunktionen übernehmen können. Das Verfahren findet sich sowohl im klassischen römischen Recht (Kaser 151989: 16, 371-373, Liebs 41993: 66) als auch in den mittelalterlichen romanischen Texten, die noch keine hochentwickelte Fachsprachlichkeit aufweisen, beispielsweise in mittelalterlichen kastilischen Fueros (Giménez Jurado 1995: 518, Kabatek 2005a: 185). Ein weiterer Typ von Platzhalter, dessen Entstehung schwieriger zu erklären ist (Mihatsch 2006) beruht auf ursprünglich anaphorischen Ausdrücken, z.B. lat. ILLE vom 7.-9. Jh. in lateinischen Rechtstexten (Selig 1992: 113, Raible 1985), die in bestimmten Kontexten nicht mehr anaphorisch, sondern wie auch das pronominale soundso des Deutschen oder der Determinant der und der beim Erstverweis nichtspezifisch indefinit in expliziter Platzhalterfunktion verwendet werden. In den romanischen Sprachen entstehen hier analog, aber auf der Basis anderer Quellen, ebenfalls solche Platzhalter, insbesondere auf der Grundlage von sp. tal (tal y tal und Varianten) und fr. tel (bzw. un tel), vergleichbar auch der Arabismus fulan(o) ‚ein gewisser (N)‘ (DCECH, s.v. zutano, fulano), der ebenfalls nach CORDE zunächst als Platzhalter in Rechtstexten eingesetzt wurde. Bei modellhaften oder hypothetischen Einzelfällen können in Platzhalterfunktion jedoch auch primär indefinit-spezifische Determinanten mit Gattungsnomina auftreten wie sp. cierto, die Entsprechung von lat. QUIDAM (Pozas

589

Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

Loyo 2010: 134), zuerst im Gerichtsstil im 13. Jh. belegt (Gamillscheg 1957: 222, Pozas Loyo 2010: 136). Solche eigentlich indefinit spezifischen Determinanten suggerieren m.E., dass sich der Autor der generalisierenden und zu spezifizierenden Natur dieser Indefinitausdrücke bewusst ist. Es handelt sich hier also insgesamt um eine besondere rechtsprachliche Ausprägung der unspezifischen Indefinitheit, die sich klar von der Gemeinsprache unterscheidet. Wie Haspelmath (1997) zeigt, sind es in der Gemeinsprache nicht die indefinit-unspezifischen Funktionen in hypothetischen Kontexten, die das Einfallstor zur Pronominalisierung von lexikalisch spezifizierten NPs (oder anderer Quellausdrücke) darstellen. Indefinitpronomina in dieser Funktion sind auch übereinzelsprachlich nicht expressiv und immer unbetont. Ausgangspunkte für Pronominalisierungsprozesse, gekoppelt an die Tendenz, gerade hier bei Bedarf expressive, lexikalisch spezifizierte NPs mit expliziten Determinanten zu setzen, sind nach Haspelmath (1997: 123) dagegen betonte emphatische Indefinitfunktionen wie free-choice Verwendungen, aber auch solche im Kontext der Negation. Im Altspanischen sind, wie gleich gezeigt werden soll, bis ins 16. Jh. in der Tat solche emphatischen Verwendungen von persona neben solchen mit hombre keine Seltenheit. Bis zur frühen Neuzeit taucht persona auch im Spanischen (und wie Stark (2006) zeigt, auch im Italienischen) bis ins 15. Jh. in unterschiedlichen negativen Konstellationen, häufig mit Verstärkungen, auf (vgl. fr. personne wie auch dt. kein Mensch). Überraschend ist aber, dass nach Company Company/Pozas Loyo (2009: 1176) gerade in Rechtstexten gehäuft ningun omne auftaucht, während in literarischen Texten das grammatikalische Indefinitpronomen ninguno bevorzugt wird. Diese Tendenz der Negationsverstärkung findet sich in der Tat in Rechtstexten des Altspanischen besonders gehäuft: 12. Jh. NichtRechts t.

12. Jh. Rechts t.

13. Jh NichtRechts t.

13. Jh. Rechts t.

14. Jh. NichtRechts t.

14. Jh. Rechts t.

15. Jh. NichtRechts t.

15. Jh. Rechts t.

ninguna persona

0

0

11

126

237

123

941

2149

ningunas personas

0

0

0

0

0

123

28

307

ningun hombre

89

78

452

4331

647

3164

1148

88

ningunos hombres

0

0

22

94

54

18

42

22

ninguno

974

1695

26263

42488

20058

4253

76599

43932

Tabelle 3: Ninguna persona und ningún hombre in CORDE (zur Auswertung vgl. Anm. 3)

590

Wiltrud Mihatsch

Auch hier zeigt sich, dass in Rechtstexten persona ab dem 13. Jh. in Konkurrenz zu hombre tritt. Insgesamt fällt auf, dass zumindest bezüglich emphatisch negativer Verwendungen altspanische Rechtstexte ab dem 13. Jh. durchaus, wenn auch nicht durchgängig, eine im Verhältnis zu nichtrechtsprachlichen Texten stärkere Präferenz für expressive Verfahren zeigen. 9 Dies scheint mir in der Ausprägung in der Tat epochenspezifisch zu sein, denn im Código civil 1889 (nach CORDE) finden sich nur zwei Belege von cualquier persona , keiner für ninguna persona, von insgesamt 357 Belegen von persona. Das insgesamt natürlich sehr viel frequentere negative Indefinitpronomen ninguno – nadi(e) ist noch selten – zeigt bis ins 13. Jh. eine deutliche rechtssprachliche Spezialisierung, die genauer unter die Lupe genommen werden müsste, danach kehrt sich das Verhältnis zu den nichtrechtsprachlichen Texten um. 3.2. Exkurs: Generische Verwendungen

Generische Verwendungen menschlicher Substantive, die die Geschlechterunterscheidung nicht treffen, sind in Rechtstexten nicht sehr frequent. Nach Company Company/Pozas Loyo (2009: 1171) wird hombre durchaus generisch verwendet – im Fuero Real zu 20%, allerdings relativ selten im Vergleich zu den 71% quantifizierenden Verwendungen, die auch die free-choice und die negativen Verwendungen umfassen. In moralisierenden altspanischen Texten ist der Anteil generischer Verwendungen nach Company Company/Pozas Loyo (2009: 1171) etwa doppelt so hoch. Heute ist nach einer eigenen Auswertung von CORAL-ROM im Spanischen wie auch im Französischen, Italienischen und Portugiesischen eine klar komplementäre Verteilung von sp. persona, das fast ausschließlich nicht generisch verwendet wird und den (Quasi-)synonymen hombre, ser humano und humano zu beobachten, die auf generische Verwendungen spezialisiert zu sein scheinen. NPs mit persona referieren dabei meist auf temporäre Funktionen oder Rollen von Akteuren (z.B. in la persona responsable), so dass man hier durchaus von stage-level-Substantiven sprechen kann (vgl. Mihatsch i. Dr. a). Eine systematische Korpusanalyse des Altspanischen müsste überprüfen, ob diese Tendenz bereits hier zu beobachten ist. Die Dominanz von indefiniten Verwendungen menschlicher Substantive in Rechtstexten insgesamt und der rechtsprachliche Ursprung von persona legt dies durchaus nahe. Interessant ist jedoch ein systematischer Unterschied im Altspanischen 9 Der Gebrauch des negativen Indefinitpronomens müsste in den Texten überprüft werden. Nach Stichproben wird ninguno fast ausschließlich pronominal verwendet. Berücksichtigt werden muss insgesamt die Tatsache, dass natürlich, wie oben gezeigt wurde, hombre und persona insgesamt präferenziell in Rechtstexten auftreten.

Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

591

bei den durchaus zu findenden, nach erstem Eindruck aber eher selteneren generischen Verwendungen von persona, die durch den Definitartikel markiert werden, im Unterschied zu hombre, das in generischen Verwendungen häufig artikellos erscheint. Hierbei ist allerdings anzumerken, dass bei zahlreichen Beispielen alternativ eine anaphorische Verwendung von persona mit generischem Antezedens denkbar ist, wie auch im folgenden Beispiel: (4) El quarto tunbo por que omne tunba en el infierno digo que es carnaliter conversando. Esto es, que quando la persona ha dexado las buenas obras e santas de Dios non finca synon que se dé a plazeres de la carne [...] (CORDE, San Vicente Ferrer (1411-1412): Sermones)

Bei omne mit Nullartikel handelt es sich um eine fossilisierte artikellose Verwendung speziell bei hombre (Company 1991: 409, 417), die so bei fr. on oder generischen Verwendungen von engl. man (OED, s.v. man) bis heute erhalten sind. Hierbei handelt es sich um ein Anzeichen für (beginnende) Grammatikalisierung. In der Tat sind generische Verwendungen allgemeiner menschlicher Substantive typische Ausgangspunkte der Grammatikalisierung unpersönlicher Pronomina. Interessanterweise sind im Mittelalter auffällige Grammatikalisierungsprozesse der Kognaten von homo in mehreren romanischen Sprachen wie auch im Englischen zu beobachten, die heute keine unpersönlichen Pronomina mehr besitzen, z.B. im Altitalienischen, Altspanischen und Altportugiesischen (Giacalone Ramat/Sansò 2007). Mögliche Vorgänger beobachten Giacalone Ramat/Sansò (2010) im Lateinischen ab der Spätantike insbesondere in biblischen Weisungstexten, in Synodentexten und Predigten. Eine unpersönliche Interpretation, die sich nicht mehr auf die Gesamtgattung bezieht, findet sich meines Erachtens bei folgendem (habituellen) Beispiel im Altspanischen: (5) Ancianament quando hombre passaua dela tierra prestre johan en aquella ysla en naues ancianas metia hombre bien .xxiij. dias a passar / o mas / et con las naues que fazen agora hombre passa bien de luno a lotro en .viij. dias & vee hombre el fondon de lagoa en muchos logares (CORDE, Anónimo (1400): Viaje de Juan de Mandevilla)

Im Altspanischen sind solche noch schwach grammatikalisierten Verwendungen von der Mitte des 13. Jh. bis 1580 belegt (vgl. Barrett Brown 1931: 270ff., Giacalone Ramat/Sansò 2007, Company Company/Pozas Loyo 2009: 1165). Entsteht aus der generischen NP, die ja inhärent pluralisch ist und den Sprecher potenziell einschließt, eine unpersönliche unspezifische NP, ist nicht mehr die Gesamtmenge gemeint, sondern eine nicht klar abgegrenzte oder kontextuell gegebene Teilmenge (Giacalone Ramat/Sansò 2007). Die Entstehung – und der Erhalt – unpersönlicher Pronomen korreliert vermutlich mit der Besetzung der Subjektposition. Siewierska (2011: 77) stellt fest, dass häufig gerade Sprachen,

592

Wiltrud Mihatsch

die obligatorisch Subjektpronomina setzen, deutlich grammatikalisierte spezielle unpersönliche Pronomina auf der Basis von MS entwickeln (vgl. auch die Entstehung der unpersönlichen portugiesischen Pronomina a pessoa, as pessoas und uma pessoa ‚man‘, ‚wir‘ (Mihatsch i. Vorb. b) vor dem Hintergrund der aktuell zunehmenden Obligatorisierung des Subjektpronomens (z.B. Costa 2011). Hierbei scheint es sich insgesamt jedoch um keine von Rechtstexten ausgehende Entwicklung zu handeln, in denen Generizität ja gerade eine geringe Rolle spielt. Allerdings könnte alternativ hier m.E. auch eine nichtgenerische Verwendung eine Rolle spielen, nämlich zumindest beim Plural die Verwendung in der Bedeutung ‚Leute‘, die auf eine spatiotemporal vage abgegrenzte Gesamtheit referiert, nicht aber auf die globale Klasse Menschheit, ein verwandter, aber referenziell anders gelagerter Gebrauch, der ebenfalls in den Rechtstexten eine marginale Rolle spielt, gemeinsprachlich aber etabliert ist. 3.3. Anaphorische Verwendungen

Explizite Verweistechniken sind, wie oben gezeigt wurde, ein besonderes Charakteristikum der Rechtssprache, die sowohl eine eineindeutige Identifikation beim Erstverweis aber auch präzise anaphorische Beziehungen innerhalb der Texte gewährleisten müssen, insbesondere bei mehreren menschlichen Akteuren. Gerade in Rechtstexten, besonders in Gesetzen und Urkunden (Raible 1985: 56) entstehen daher immer wieder aufs neue explizite strikt-anaphorische Verfahren. Am deutlichsten sind sicher Wiederholungen von Eigennamen oder lexikalisch spezifizierten NPs. Häufig begleitet werden diese von Determinanten, neben dem stark grammatikalisierten Definitartikel auch von schwächer grammatikalisierten, expliziteren demonstrativen oder reflexiven Determinanten oder auch metatextuellen Ausdrücken wie supra scriptus, deren Verwendung in Abhängigkeit von Epochen und Texten stark variiert (Raible 1985, Selig 1992). Den Determinanten entsprechende Formen werden und wurden außerdem pronominal verwendet. Im Unterschied zu stärker grammatikalisierten Personalpronomina fordern all diese schwächer grammatikalisierten Verfahren durch ihre formale Explizitheit eine präzise Identifikation ein. Die Besonderheit in den juristischen Texten besteht neben dem eindeutig herzustellenden Bezug bei in der Regel mehreren menschlichen Akteuren in komplexen, häufig situationsabhängigen Beziehungen auch in der Dominanz des anaphorischen Bezugs auf indefinit-unspezifische Antezedenten (s.o.) – auch heute noch zeigt sich gerade bei der anaphorischen Verwendung von sp. persona auch in der Gemeinsprache nach C-ORALROM eine starke Tendenz zu unspezifisch-indefiniten Antezedenten (Mihatsch in Vorb. b), vermutlich ein Erbe aus den rechtsprachlichen Ursprüngen.

Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

593

Bei spezifischen referenziellen Antezedenten im Singular wird bei der Wiederaufnahme durch Pronomina fürs Geschlecht differenziert. Die Geschlechterindifferenz bleibt bei der Wiederaufnahme der unspezifisch-indefiniten NPs dagegen explizit, und so könnte auch aus diesem Grund die Verwendung von Personalpronomina problematisch sein, vgl. auch folgendes Beispiel: (6) Agora, buena gent, sabet que quando algúnd omne o mugier está a punto de muerte e está en graçia de Dios, luego viene un ángel bueno del çielo con una corona [...] E por el contrario, si la persona es de mala vida, viene un diablo del Infierno e trae una cadena de fuego. (CORDE, San Vicente Ferrer (1411-1412): Sermones)

Die betonten Personalpronomen él und ella müssen im Unterschied zum Deutschen auf Personen referieren. Bei der Wiederaufnahme einer NP mit persona müsste das feminine Pronomen gewählt werden, bei hombre das maskuline, in beiden Fällen jedoch zeigt das grammatische Genus eine starke Tendenz, bei der Referenz auf Menschen einen Geschlechterbezug herzustellen, so dass hier die Wiederaufnahme durch eine lexikalisch spezifizierte NP weniger problematisch und klarer ist – auch wenn das grammatische Geschlecht bei Substantiven der Bedeutung ‚Mensch‘ häufig eine Geschlechtsspezifizierung auslöst, die auch konventionalisiert werden kann (Mihatsch i. Dr. b). Die Spezifik der expliziten anaphorischen Ausdrücke in Rechtstexten ist vermutlich epochenunabhängig und ist nach wie vor zu beobachten, da dies über die Frage der Geschlechtsneutralität hinaus bedingt ist durch allgemeine Kommunikationsbedingungen und -ziele von Rechtstexten, während ihre formale Realisierung stark epochenabhängig ist. Auffällig ist bereits im römischen Recht die überproportional häufige Verwendung von Demonstrativa. Seit dem 2. Jh. v. Chr. ist ein dichtes anaphorisches System in römischen Rechtstexten zu beobachten, zunächst is, ea, id, aber auch idem, teils verstärkt durch que de agitur, qui supra scriptus est, die allerdings seit dem 1. Jh. n. Chr. im Rückgang begriffen sind (Raible 1985: 52ff., Selig 1992: 128f.). Ab dem 2. Jh. n. Chr. treten metasprachliche Ausdrücke wie supra scriptus an deren Stelle (Raible 1985: 55), in der Spätantike auch kataphorisches ille und anaphorisches ipse, das bis ins 9. und 10. Jh. in cluniazensischen Urkunden vorherrscht. Im 6. Jh. n. Chr. tritt verstärkt ipse auf, das idem ersetzt und beispielsweise in merowingischen Urkunden üblich war (Raible 1985: 61), aber auch noch in notariellen Urkunden des 12. Jh., das allerdings in den romanischen Volkssprachen – zumindest im Altspanischen – nicht als calque etabliert war (Barra Jover 2010: 133) – vgl. aber das moderne el/la mismo/a, das amtssprachlich markiert ist (Lavric 2000), laut Real Academia jedoch vermieden werden soll (DPD, s.v. mismo). Diese Ausdrücke wurden ab dem 10. Jh. durch suprascriptus und analoge Partizipien abgelöst, die außerdem zunehmend vorangestellt wurden (Barra Jover 2010: 70,

Wiltrud Mihatsch

594

Raible 1985: 56ff., Selig 1992: 129-135) und die bereits in frühmittellalterlichen Urkunden und verstärkt ab dem 10. Jh. in zahlreichen Varietäten üblich waren (Kabatek 2005a: 203). Ab dem 13. Jh. wurden sie in altspanischen Texten üblicherweise ohne Präfixe und – vor allem dictum – in Voranstellung verwendet (Barra Jover 2010: 69f.). Die Recherche in CORDE zeigt (vgl. Tabelle 4), dass in der Tat zunächst rechtssprachliche Verwendungen von dich* N klar vorherrschen, das in späteren Jahrhunderten aber auch in anderen Fachbereichen und anderen Texttraditionen frequent wurde, zumindest vorübergehend. Insgesamt fällt die zeitliche Parallele zu den abgebrochenen Grammatikalisierungspfaden von homo im Spanischen und Italienischen auf, die in derselben Zeit anzusiedeln sind (Barra Jover 2008: 142ff.). Weniger frequent, aber ebenfalls in mehreren romanischen Sprachen bekannt, ist das ursprünglich relativische el cual, das seit 1330 auch mit Substantiven belegt ist (Barra Jover 2008: 136). Auch diese strikten Anaphern, als Erbe ihrer Entstehung aus Relativpronomen am Satzanfang vorkommend, entstammen m.E. vermutlich der Rechtssprache (entgegen Barra Jover 2008: 136, der literarische Quellen annimmt) und wirken heute archaisierend bzw. typisch verwaltungssprachlich. Hierbei scheint es sich um romanische Neuerungen zu handeln (Barra Jover 2008: 131). In Tabelle 4 folgen die Belegzahlen für diese beiden Verfahren, die in der Tat auf einen rechtssprachlichen Ursprung hinweisen:

dicha persona dichas personas dicho hombre dichos hombres cual persona cuales personas cual hombre cuales hombres

12. Jh. NichtRechtst. 0

12. Jh. Rechtst.

13. Jh. Rechtst.

0

13. Jh. NichtRechtst. 0

14. Jh. Rechtst.

0

14. Jh. NichtRechtst. 0

15. Jh. Rechtst.

0

15. Jh. NichtRechtst. 0

0

0

0

15,69

21,56

35,15

193,71

1908,16

0

0

0

0

10,78

17,58

179,88

65,8

0

0

10,77

62,77

43,12

808,48

96,86

3026,74

0

0

10,77

0

21,56

0

96,86

87,73

0

0

0

125,55

32,33

17,58

83,02

526,39

0

0

279,98

282,47

183,23

35,16

415,1

21,93

0

0

32,31

109,85

32,34

52,73

152,21

43,87

131,6

Tabelle 4: Dicha persona und dicho hombre in CORDE (zur Auswertung vgl. Anmerkung 3)

Nominalphrasen mit hombre und persona in altspanischen Rechtstexten

595

Im 13. Jh. ist die Verwendung von dicho klar rechtssprachlich spezialisiert, etwas weniger deutlich cual (wobei hier nichtanaphorische Verwendungen aus der quantitativen Erhebung nicht ausgeschlossen wurden). Im 14. Jh. überwiegen nach wie vor rechtssprachliche Verwendungen bei dicho, nicht aber bei cual. Im 15. Jh. ist die rechtssprachliche Spezialisierung von dicho noch erkennbar, aber weniger deutlich ausgeprägt. Insgesamt am stärksten rechtssprachlich etabliert sind dabei bei beiden Verfahren die Pluralformen. Diese sehr grobe quantitative Auswertung muss in weiteren Studien ergänzt werden durch eine Auswertung aller Vorkommen, auch mit unbelebten Substativen, außerdem muss der Bezug zum Gesamtanteil der MS in Zukunft berücksichtigt werden. Eine weitere romanische Neuerung scheint die anaphorische Verwendung von sp. tal in verschiedenen romanischen Sprachen zu sein, die ursprünglich keine Koreferenz, sondern anaphorisch Ähnlichkeitsbeziehungen zum Antezedenz herstellten, die aber sehr leicht reinterpretiert werden können als koreferenzielle Verfahren, ähnlich auch sp. semejante (Barra Jover 2008: 131, 136, vgl. auch Lavric 2003). Wie oben erwähnt können diese Ausdrücke zu Platzhaltern werden. Auch die modernen Sprachen besitzen ganze Serien solcher rechtsbzw amtssprachlichen strikt anaphorischen bzw. kataphorischen Ausdrücke, z.B. sp. dicho, tal, este último, el [...] en cuestión, el tal, el presente, el mencionado, el mismo (vgl. Lavric 2000). Die sprachliche Überspezifizierung in Rechtstexten lässt sich auf der Grundlage von Ariels accessibility hierarchy interpretieren. Nach Ariel (1990: 73) bestimmt der Grad der Verfügbarkeit von Referenten im Kurz- bzw. Langzeitgedächtnis die Wahl der sprachlichen Verfahren, die sie in ihrer accessibility marking scale darstellt. Voll lexikalisch spezifizierte NPs zeigen dabei immer einen niedrigeren Zugänglichkeitsgrad an als stark grammatikalisierte Pronomina. Der niedrige Zugänglichkeitsgrad von Referenten in Rechtstexten wird vermutlich durch mehrere Faktoren bedingt – durch die Anzahl kookkurrierender NPs mit menschlichen Referenten, die außerdem nicht aus dem Kontext inferierbar sind (vgl. die experimentellen Ergebnisse hierzu von Sanford/ Garrod 1981, zit. in Ariel 2007: 277). Darüber hinaus sind die anaphorischen Ausdrücke wichtige Topiks, deren Beibehaltung durch die genannten besonders expliziten Verfahren signalisiert wird (vgl. Barra Jover 2008: 134). Typisch für Rechtstexte ist im Übrigen die (redundante) Kombination mehrerer dieser schwach grammatikalisierten anaphorischen Determinanten: (7) Por la qual vos mandamos que, luego que con ella fuerdes requerrido, vos juntedes con la persona o sabio que se suelen e acostunbran juntar con vos en semejantes casos, a la qual dicha persona o sabio mandamos que se junte luego con vos (CORDE, Anónimo (1485–1488): Documentación medieval abulense en el Registro General del Sello)

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Die Recherche in CORDE zeigt einen sprunghaften Anstieg der Kombination c/qual dich* im 15. Jh. und eine deutliche Dominanz in Rechtstexten, die im folgenden Jahrhundert abnimmt – offensichtlich übernehmen andere Fachdomänen das Verfahren, wie auch die genannten einfachen Ausdrücke. Raible (1985: 56) spricht hier von einer „déformation professionnelle“, die dazu führt, dass aus anaphorischen Ausdrücken reine Textsortenmarker bzw. Stilmarker werden (vgl. auch Mortelmans 2008), die dann vermutlich zu Markern anspruchsvoller (Fach-)prosa wurden.

4. Konklusion Wie exemplarisch in dieser Pilotstudie gezeigt wurde, unterscheiden sich Rechtstexte im Bereich der Nominalreferenz nicht nur deutlich von gemeinsprachlichen Texten, sondern auch von anderen Fachtexten. Diese kommunikativen Besonderheiten, die vermutlich epochenübergreifend zu beobachten sind, führen zur Entstehung spezifischer Verfahren der Referenz, besonders bei menschlichen Referenten, die unter bestimmten Bedingungen zu Grammatikalisierung führen können, die bei diesen Verfahren jedoch nur in Ansätzen bis in die moderne spanische Gemeinsprache gelangt sind. Die einzelnen Verfahren, oft auch die sprachlichen Formen selbst, stammen dabei in vielen Fällen aus lateinischen Rechtstexten und müssen vor dem Hintergrund allgemeiner rechtssprachlicher Kommunikationsziele, aber auch im Kontext der epochenspezifischen Texttraditionen interpretiert werden.

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Martin G. Becker Informationsstruktur und Satzanordung in der Vulgata und den frühen volkssprachlichen Bibelübersetzungen von Lefèvre d’Etaples und Casiodoro de Reina

1. Einleitung Die Bibel ist vermutlich das am häufigsten übersetzte Werk in der Geschichte der Weltliteratur und eignet sich daher hervorragend für den Sprachvergleich. In dem vorliegenden Beitrag sollen drei zentrale Übersetzungen analysiert und verglichen werden, weil sich an ihnen wichtige Erkenntnisse über die syntaktischen Entwicklungen der jeweiligen Sprachen gewinnen lassen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht an erster Stelle die Vulgata – die lateinische Übersetzung des Neuen Testaments, die von Hieronymus auf der Schwelle zum 5. nachchristlichen Jh. in einem längeren Translationsprozess angefertigt wurde –, sodann die erste vollständige Übersetzung der Bibel ins Französische von Jacques Lefèvre d’Etaples (1450–1537) und schließlich die ebenfalls erste Gesamtübersetzung der Bibel in die spanische Sprache, die aus der Feder des Protestanten Casiodoro de Reina (1515–1594) stammt und aufgrund der Darstellung eines Bären auf der Frontispiz-Seite auch als Biblia de Oso bekannt wurde. Im Zentrum der linguistischen Analyse steht die Satzanordnung im Deklarativsatz, vor allem die Subjektposition, die insbesondere vor dem Hintergrund der Informationsstruktur beleuchtet werden soll. Als textliche Grundlage der Untersuchung dienen das Markus-Evangelium sowie der 1. Paulusbrief an die Korinther. ‚Informationsstruktur‘ wollen wir im Einklang mit Chafe (1976) als Portionierung von Information (information packaging) im Rahmen einer Äußerung, und zwar nach den unmittelbaren kommunikativen Bedürfnissen der Gesprächspartner, verstehen. 1 Ein wesentliches Augenmerk der Studie liegt nun 1 Vgl. auch Krifka 2007: 13.

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darauf, ob und wenn ja, in welcher Weise der informationelle Status vor allem die Position der Subjekt-Konstituente im Aussagesatz bestimmt. Im Einzelnen sollen dabei die folgenden drei Fragestellungen bzw. Aspekte im Vordergrund stehen: – Die Frage nach den Stellungsprinzipien der spätlateinischen Syntax, welche die Satzanordnung im Deklarativsatz, so wie sie sich in der Vulgata des Hieronymus manifestiert, determinieren; – des Weiteren die Frage nach der typologischen Einordnung des Spanischen und Französischen des 16. Jh. im Verhältnis zu den in der Vulgata erkennbaren Stellungsprinzipien; – und schließlich die Frage, ob mit Blick auf die syntaktische Struktur der Übersetzungen von einem Einfluss der Textvorlage (bzw. Textvorlagen) gesprochen werden kann. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Zunächst sollen die untersuchten Bibelübersetzungen kurz textgeschichtlich eingeordnet werden, um jeweils die sprachhistorische Bedeutung sowie die spezifischen Entstehungsbedingungen der untersuchten Texte hervortreten zu lassen. Es folgt die Analyse der informationsstrukturell bedingten Stellungsprinzipien im Deklarativsatz des Hieronymus-Texts. Hieran schließt sich ein Vergleich mit den syntaktischen Verhältnissen in der spanischen bzw. französischen Übersetzung an. Ein kurzes Fazit fasst die Hauptergebnisse unseres Beitrags zusammen.

2. Die Textgrundlagen: Anmerkungen zur Bibelübersetzung Hieronymus und der ersten volkssprachlichen Übersetzungen ins Französische und Spanische Die Sprache, in der die jungen christlichen Gemeinden der westlichen Reichshälfte das Alte und das Neue Testament zunächst vernahmen, war das Griechische. 2 So verfassten noch Irenäus von Lyon (2. Jh. n. Chr.) und Hippolyt von Rom (auf der Schwelle zum 3. Jh.) ihre Schriften in griechischer Sprache. Seit der 2. Hälfte des 2. Jh. war es örtliche Praxis, Bibeltexte ins Lateinische zu übersetzen. Allerdings besaßen diese Übersetzungen zunächst lediglich einen privaten bzw. ortskirchlichen Charakter. Schon früh gibt es Belege für lateinische Übersetzungen in der Peripherie des römischen Reiches, so in Nordafrika und Gallien. Demgegenüber sind für die Hauptstadt Rom entsprechende lateinische Bibeltexte erst um 250 n. Chr. belegt – vermutlich, weil das Griechische hier aufgrund seiner Rolle als Kultursuperstrat weitaus präsenter war und es mit der 2 Für das folgende Stotz 2011: 10ff.

Informationsstruktur und Satzanordung in der Vulgata und frühen Bibelübersetzungen

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Griechischkompetenz in der Hauptstadt generell deutlich besser bestellt war als in den Provinzregionen. Die verschiedenen, teilweise stark divergierenden lateinischen Texte werden heute unter der Sammelbezeichnung Vetus Latina zusammengefasst. Hieronymus, der von 347-419 (oder 420 n. Chr.) lebte, hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine einheitliche lateinische Bibelfassung zu schaffen. Dazu sichtete er die Textfassungen in lateinischer Sprache, und zwar auf der Grundlage griechischer Handschriften. Die Vulgata entstand in drei Phasen: Hieronymus übersetzte zunächst in der Zeit seines Rom-Aufenthalts als Sekretär von Papst Damasus das Neue Testament. Erst später, nach seiner Übersiedlung nach Bethlehem, wandte er sich dem Alten Testament zu und bediente sich dabei der sog. Hexapla, einer auf Origines zurückgehenden synoptischen Zusammenstellung unterschiedlicher griechischer Übersetzungen sowie des hebräischen Urtextes. In seinen späten Lebensjahren übersetzte Hieronymus schließlich die Bücher der hebräischen Bibel (also das Alte Testament) noch einmal völlig neu. Erst allmählich wird die Vulgata zu dem Bezugstext des kirchlichen Lebens. Einschneidend dürfte die Zeit um 600 n. Chr. gewesen sein, als Papst Gregor d. Große zu einem glühenden Propagator des Vulgatatextes wurde. Die Vulgata bleibt bis ins 16. Jh. der zentrale Referenztext des Abendlandes. Gehen wir nun in der Zeit etwas weiter und richten den Blick auf erste Bibelübersetzungen im französisch- und spanischsprachigen Raum: Die Praxis der Bibelübersetzung in die langue d’oïl lässt sich bis ins 12. Jh. zurückverfolgen: 3 Zunächst treten im 12. Jh. erste Interlinearübersetzungen im anglonormannischen Raum (Psalter des Eadwin, ca. 1120) auf, wenig später Versübersetzungen von zentralen Bibelpassagen in die Volkssprache (vgl. vor allem Jehan Malkaraumes Bible versifiée), ab dem 13. Jh. entstehen dann auch schon Prosaübersetzungen wie La Bible du XIIIe siècle, 4 vor allem aber die Bible historiale von Guyart des Moulins (1291–1295), die zum Prototyp für alle spätmittelalterlichen Vertreter dieser Textgattung und ihrer Erweiterung zur Bible historiale complétée wurde. Die bible historiale stellt keine textgetreue Übersetzung des Bibeltextes (der Vulgata) dar, sondern war eher eine recht freie Einführung in die Bibel, die zentrale Texte des Alten und des Neuen Testaments paraphrasiert und vielfach auf einer miserablen Vulgatafassung beruhte. Verschiedene Herrscher (etwa Jean le Bon und Charles V) ließen sich kunstvolle Exemplare einer solchen Bible historiale anfertigen, wobei das Aufkommen des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jh. stark zu ihrer Verbreitung beitrug. Hiervon heben sich nun die frühen Bibelübersetzungen des 16. Jh. ab: Bei ihnen handelt es sich um textgetreue Übersetzungen, die entweder im 3 Vgl. Delforge 1991: 33-44, Bogaert 1991: 16-34 sowie Pétavel 1970: 15 ff. 4 Vgl. Quereuil 1988.

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Geiste des Humanismus (und seiner Rückkehr ad fontes) oder im Zuge der protestantischen Reformation (und ganz im Einklang mit dem sola scripturaPrinzip) entstanden. Im Jahre 1523 erschien zunächst Lefèvre d’Etaples Übersetzung des Neuen Testaments in zwei Bänden, deren Grundlage der lateinische Text der Vulgata bildete. Sowohl diese Ausgabe des Neuen Testaments als auch die erste Gesamtübersetzung der Bibel im Jahre 1530 (La saincte bible en Francoys, translatée selon la pure et entière traduction de sainct Hierome) erschienen in Antwerpen, wo sich der Herausgeber Martin Lempereur nach dem konservativen, von der Sorbonne und dem Pariser Parlament initiierten Umschwung in Frankreich, niedergelassen hatte. Weitere Editionen der ersten vollständigen Bibelübersetzung in französischer Sprache erschienen ebenfalls bei Martin Lempereur (1534 und 1546) und wurden nach dem Eingreifen der theologischen Fakultät von Louvain auf den Index gesetzt. 5 Im Nachbarland Spanien wurde das Alte Testament erstmals um 1430 von Rabbi Moshe Arragel de Guadalajara aus dem Hebräischen ins Spanische übersetzt. Die Übersetzung mit ausführlichem Kommentar gab der Großmeister des Calatrava-Ordens, Don Luis González de Guzmán, in Auftrag. 6 Die erste Übersetzung des Neuen Testaments erschien erst rund 100 Jahre später, 1543 in Antwerpen bei Stephan Mierdmann, und war das Werk des spanischen Protestanten Franzisco de Enzina. Die erste Gesamtübersetzung der Bibel verdanken wir Casiodoro de Reina (1515–1594), 7 der sich neben dem hebräischen und dem griechischen Text der lateinischen Übersetzung Santes Pagninos sowie der auf Ladino abgefassten sephardischen Bibel von Ferrara bedient haben will. 8 Aber auch die Übersetzungen von Francisco de Enzina und Juan Pérez de Pineda dürften ihm zur Verfügung gestanden haben – und selbstverständlich auch die Vulgata, der der Übersetzer aber ausdrücklich nicht gefolgt sein will. 9 Die Übersetzung erschien 1569 in Basel. Reinas Übersetzung wurde später durch Cipriano de Valera (ca. 1520–1602) überarbeitet (Amsterdam, 1602). Dieser überarbeitete Text, die Reina-Valera-Bibel, sollte über Jahrhunderte hinweg der verbreitetste Übersetzungstext der Bibel in spanischer Sprache sowie Grundlage aller protestantischen Bibeln in spanischer Sprache werden. 10

5 Vgl. Kunze 1935: 9ff., Delforge 1991: 55-61 und Bogaert 1991: 58ff. 6 Vgl. Gampel 2002: 431. 7 Siehe dazu: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Bd.1, Artikel: Bibelübersetzungen, 1215 sowie Menéndez Pelayo (1947 [1880], Bd. IV, 137-152. 8 Vgl. dazu die „Amonestación al lector“ zit. in Menéndez Pelayo 1947 [1880], Bd. IV, 142f., Anm. 1. 9 Dies betont Reina in seiner „Amonestación al lector“: „Primeramente declaramos no haber seguido en esta translación en todo y por todo la vieja Translación Latina que están en el común uso“, zit. nach Menéndez Pelayo 1947 [1880], Bd. IV, 142, Anm. 1. 10 Vgl. hierzu RGG 1, s.v. Bibelübersetzungen, 1215.

Informationsstruktur und Satzanordung in der Vulgata und frühen Bibelübersetzungen

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3. Informationsstruktur und Satzanordnung in Hieronymus Bibelübersetzung Wie wir in diesem Kapitel sehen werden, spielt der informationelle Status der Satzkonstituenten im Text der Vulgata eine zentrale Rolle für ihre syntaktische Anordnung im Deklarativsatz. Zugleich kann man feststellen, dass bestimmte Verbklassen mit einer charakteristischen Portionierung der Satzinformation verbunden sind, sodass sich deutliche Korrelationen zwischen bestimmten Verben und typischen Satzmustern in der Vulgata erkennen lassen. Welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen können, wollen wir an dieser Stelle noch offen lassen – kein Zweifel kann allerdings an der Tatsache bestehen, dass die Satzanordnung in der Vulgata auf konsistenten und systematisch durchgehaltenen Stellungsprinzipien beruht, sodass man mit einigem Recht von einer ‚Grammatik der Vulgata‘ sprechen kann, deren vollständige Beschreibung allerdings noch aussteht. 11 3.1. Grundlegende syntaktische Prinzipien und deren Entwicklungen in der Geschichte des Lateinischen

Als Hintergrund (und teilweise Kontrastfolie) unserer Untersuchung sollen einige Ausführungen zu grundlegenden Stellungsprinzipien der lateinischen Syntax in ihrer Entwicklung gemacht werden: Brigitte Bauer hat in ihrem Beitrag zur Satzanordnung im Lateinischen 12 Grundtendenzen der lateinischen Syntax im Wandel von der Frühphase des Lateins bis zur Spätantike herausgearbeitet. So lässt sich als Grundmovens einer Entwicklungsdynamik im Lateinischen ein typologischer Wandel feststellen, der durch den Übergang vom Strukturprinzip der Linksverzweigung (left-branching) zu dem der Rechtsverzweigung (right-branching) gekennzeichnet ist. Das Prinzip der Rechtsverzweigung lässt sich als Kopf-Komplement-Konfiguration beschreiben und manifestiert sich in unterschiedlicher Weise, so etwa in der linearen Abfolge des Verbs und seines Komplements (videt Petrum im Gegensatz zu Petrum videt), des Verbs und seines Adverbs (ridere leniter vs. leniter ridere) oder auch des Nomens und seines Attributs (Adjektiv, Genitivfügung). 13 Die Verbendstellung (also SOV) lässt sich für das klassische Latein als unmarkierte Satzanordnung bestimmen, die im Übrigen im berühmten Zwölf11 Vgl. die noch sehr rudimentäre und nicht auf Begrifflichkeiten der modernen linguistischen Theorie beruhende „Grammatik“ der Vulgata von Plater/White 1997 [1926]. 12 Vgl. Bauer 2009: 241ff. 13 Bauer 2009: 248.

Martin G. Becker

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tafelgesetz (Mitte des 5. Jh. v. Chr.) noch ausnahmslos befolgt wird. Aber schon früh, bei Plautus (in der 2. Hälfte des 3. vorchristl. Jh.), lassen sich Beispiele für eine VO-Struktur finden – sie stellt die eigentliche Innovation des Lateinischen im Konzert der indoeuropäischen Sprachen der Antike dar. VO-Strukturen gewinnen im Laufe der Entwicklung immer mehr an Gewicht. Sie machen bei Petron immerhin schon zwischen 25% und 30% der Deklarativsätze aus und bei Apuleius gar 35%. Im Itinerarium Egeriae „kippt“ das Verhältnis von OV- und VO-Strukturen zugunsten des innovativen Stellungsmusters (nun ca. 60% vs. 40%). 14 Am längsten hält sich die ursprüngliche SOV-Satzanordnung im subordinierten Nebensatz. Die Verberststellung gilt als stark markiert. Sie ist allerdings durchaus üblich bei einer Reihe von syntaktischen Konstellationen – unter anderem im Rahmen der Abfolge Hauptsatz-Nebensatz sowie in Verbindung mit der Negation oder einem Adverb. Üblich ist die Initialstellung des Verbs auch bei Präsentativkonstruktionen sowie grundsätzlich bei der Einführung eines neuen Rahmens (frame-settings), also der Vermittlung von relevanten Hintergrundinformationen zu Personen, Ort und Zeit im Rahmen einer Erzählung, wie das folgende Beispiel illustriert: (1) Erat in Carnutibus summo loco natus Tasgetius (Caes. Gall. 5,25, zit. nach Bauer 2009: 278) (‚there was among the Carnutes a man of highest linage, Tasgetius‘)

Diese zuletzt genannten beiden Fälle entsprechen den sog. thetischen Aussagen – Aussagen, die vollkommen neue Informationen in den gemeinsamen Redehintergrund der Gesprächspartner einführen und dabei in ihrer Gesamtheit den Informationsfokus des Satzes bilden (dazu weiter unten). Die Subjektinversion gewinnt ein immer größeres Gewicht in der Geschichte des Lateinischen. Zur Erklärung führt Bauer Behagels 1909 formuliertes „Gesetz“ an: Je komplexer eine Subjekt-Konstituente ist, umso wahrscheinlicher ist ihre Nachstellung hinter das Verb. 15 Auch Spaltsatzkonstruktionen existieren schon im Lateinischen. Sie sind aber äußerst rar. Das Lateinische „benötigt“ solche Konstruktionen eigentlich nicht, denn sowohl für Objektkonstituenten als auch für das Verb bestand immer die Möglichkeit eines fronting, also der fokussierenden Voranstellung, mit der die informationelle Relevanz der entsprechenden Satzkonstituente markiert werden konnte.

14 Bauer 2009: 270. 15 Bauer 2009: 299.

Informationsstruktur und Satzanordung in der Vulgata und frühen Bibelübersetzungen

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3.2. Informationsstrukturelle Prinzipien und Tendenzen der Subjektstellung in der Vulgata

Welche informationsstrukturellen Prinzipien, die die Subjektstellung bestimmen, lassen sich in Hieronymus’ Bibelübersetzung erkennen? Zur Beantwortung dieser Frage haben wir zwei Schlüsseltexte des Neuen Testaments – das Evangelium nach Markus sowie den 1. Brief des Paulus an die Korinther – ausgewertet. Insgesamt fällt die hohe Frequenz von V-S-Strukturen in der Vulgata auf. Die Subjektinversion tritt dabei systematisch bei den – schon oben erwähnten – thetischen Satzaussagen auf. Thetische Sätze 16 sind dadurch gekennzeichnet, dass bei ihnen nicht die übliche Portionierung der Satzinformation in das SatzTopik (Worüber wird eine Aussage gemacht? bzw. Unter welchem Eintrag/auf welcher Karteikarte wird der Inhalt der Prädikation abgelegt?) und den Kommentar (Was wird über das Topik im Rahmen der Prädikation ausgesagt?) vorgenommen wird, sondern die Satzinformation als ganze dem Kommentar entspricht. Da zudem die gesamte Satzinformation ausschließlich aus neuer Information besteht, befindet sich mithin der gesamte propositionale Gehalt des Satzes im Fokus (sog. all-focus-Sätze). All-focus-Sätze beantworten die implizite Frage: Was ist geschehen? bzw. Was ist los? Betrachten wir zur Illustration ein Beispiel: Im folgenden Beispiel – vgl. (2) – ist der Deklarativsatz mit V-S-Abfolge die Antwort auf die Frage: Wie lautet das Gebot? – mithin befindet sich der gesamte Aussagesatz im Fokus: (2) Ad duritiam cordis vestri scripsit vobis praeceptum istud: Ab initio autem creaturae masculum et feminam fecit eos Deus. (Mk 10:5) (‚Aufgrund der Härte Eueres Herzens hat er Euch dieses Gebot geschrieben: aber von Anbeginn der Schöpfung hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen‘)

Die Subjektinversion tritt ebenfalls systematisch in Verbindung mit sog. Unakkusativen Verben auf. Bei diesen Verben, zu denen die Zustands- bzw. Ortsveränderungsverben sowie die Existenz- und Erscheinensverben zählen, 17 verhält sich das Subjekt-Argument wie ein internes Argument (es realisiert etwa die thematische Rolle des Themas, tritt postverbal auf und verhält sich zudem hinsichtlich der Determinierung sowie der Auxiliarselektion (im Französischen und Italienischen) wie ein direktes Objekt). 18 Die Subjektinversion bei inakkusativen Verben lässt sich (wie auch im Italienischen oder Spanischen) gut 16 Vgl. etwa Neumann-Holzschuh 1997: 68ff. und 79-82. 17 Mendikoetxea 1999: 1588ff. 18 Mendikoetxea 1999: 1581-1583.

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aufgrund von informationsstrukturellen Aspekten motivieren: Das Subjektargument stellt entweder den Informationsfokus dar und beantwortet dann zum Beispiel eine Frage des Typs „Wer kam?“ („Quis venit?“). Das grammatische Subjekt kann aber auch als nicht eigens profilierter Teil einer „kompakten“, also thetischen Aussage auftreten. Hier fungieren nun Sätze wie Ein Fremder ist angekommen/Ein Komet ist erschienen/Der König ist gestorben als Antworten auf die Frage „Was ist geschehen“ („Quod accidit“)? Vor allem Zustands- und Ortsveränderungsverben (und unter ihnen die besondere Teilklasse der Bewegungsverben) eignen sich hervorragend für die Schaffung von Ereignisprogression und Erzähldynamik, da sie im Rahmen von Aussagen auftreten, die eine Antwort auf die Frage „Was geschah dann?“ geben. Wir finden im Markus-Evangelium besonders charakteristische, vielfach wiederholte und dadurch fast stereotyp anmutende unakkusative Prädikate wie venire (mit seiner Wortfamilie, etwa convenire), accedere, defungi und abire. Einige Beispiele: venire/convenire: (3) Et inde exsurgens venit in fines Iudaeae ultra Iordanem et conveniunt iterum turbae ad eum (Mk 10,1) (‚Und dann machte er sich von dannen und kam in die Gegend von Judäa und jenseits des Jordans und wiederum lief eine große Menschenmenge zu ihm‘) accedere/praecedere: (4) [...] et accessit unus de scribis qui audierat illos [...] (Mk 12,28) (‚und es trat einer von den Schriftgelehrten zu ihm, der ihnen zugehört hatte‘) defungi: (5) novissima omnium defuncta est et mulier (Mk 12,22) (‚zuletzt starb auch noch die Frau‘) abire: (6) et abierunt discipuli eius (Mk 14,16) (‚und seine Jünger gingen weg‘)

Es fällt in der Hieronymus-Übersetzung aber auch die starke Variabilität der Subjektposition bei Deklarativsätzen mit einer klaren Topik-KommentarStruktur, den sog. kategorischen Aussagesätzen, auf. Vergleicht und analysiert man die einzelnen Satzbeispiele, so zeigt sich, dass der Diskursstatus der Subjektkonstituente eine zentrale Rolle für ihre prä- oder postverbale Position spielt. Für die weitere Analyse sollen nun die folgenden Unterscheidungen berücksichtigt werden, die hier kurz vorgestellt werden: 19 19 Wir lehnen uns hier an Frascarelli/Hinterhölzl 2007: 87ff. sowie an Krifka 2007: 13ff. an.

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Auf der Satzebene fungiert die Subjekt-NP zumeist als Topik des Satzes, wobei sie in diesem Fall unterschiedlichen Topik-Status besitzen kann: – als sog. aboutness topic (auch aboutness-shifting topic) führt sie ein Satztopik („what the sentence is about“) neu oder wieder ein; – als Kontrast-Topik (contrastive topic) stellt sie eine Alternative zu einem oder mehreren schon im Diskurs vorhandenen Satztopiks in den Diskursraum. Das Kontrast-Topik tritt vielfach im Rahmen von klärenden Teilfragen zu einer im Text entweder explizit gestellten oder implizit vorhandenen globalen Frage auf. Eine globale Frage wäre etwa: „Wer macht was?“, woraus sich die Teilfragen: „Was macht A?“ (Topik 1), „Was macht B?“ (Topik 2), „Was macht N?“ (Topik N) generieren lassen. – das vertraute Topik (familiar topic) verweist auf ein im Vortext eingeführtes Topik und erscheint oftmals als pro-Form, durch die die Topik-Kontinuität deutlich wird. Auf der Diskursebene ist vor allem das Management der verschiedenen Diskursreferenten, die neu eingeführt, wieder aufgegriffen oder weitergeführt werden können, im Rahmen der Schaffung von Diskurskohärenz von grundlegender Bedeutung. Nach Princes Versuch einer Taxonomie 20 können Diskursreferenten neu sein – a) brandneu (brand-new), wenn sie unbekannt sind oder b) unbenutzt (unused), wenn sie zwar in den Diskurs neu eingeführt werden, jedoch dem enzyklopädischen Wissen der Gesprächspartner angehören. Sie können – zweitens – inferierbar (inferrable) sein, d.h. aufgrund metonymischer Relationen, die innerhalb eines Frames bestehen (etwa zwischen Auto und Autofahrer), erschlossen werden. Sie können – drittens – evoziert (evoked) sein, d.h. insofern schon gegeben sein, als sie entweder im sprachlichen Kontext bereits erwähnt wurden (textually evoked) oder in der Sprechsituation deiktisch gegeben (situationally evoked) sind. In einer diskursstrukturellen Perspektive müssen schließlich solche Diskursreferenten besonders hervorgehoben werden, die zentral für das Diskurstopik eines Textes sind. Das Diskurstopik eines Textes oder einer textlichen Einheit kann im Rahmen des Quaestio-Ansatzes von Klein/von Stutterheim charakterisiert werden. Es lässt sich als explizite oder implizite Globalfrage formulieren, die der Text im Verlauf seiner Entfaltung beantwortet. Einzelne Textabschnitte lassen sich in dieser Perspektive als Beantwortung einer Teilfrage verstehen, die aus der globalen Quaestio des Textes abgeleitet bzw. generiert wird. 21 Auf der Grundlage dieser begrifflichen Unterscheidungen können im Weiteren die

20 Prince 1981: 233-237. 21 Vgl. dazu den mittlerweile klassischen Beitrag von Klein/von Stutterheim 1987: 163ff.

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Prinzipien der Subjektstellung (bzw. allgemein der Satzanordnung) in der Vulgata angemessen beschrieben werden. Ein zentrales Diskursmuster des Markus-Evangeliums ist die antithetische Gegenüberstellung von Diskursreferenten und den Ereignissen, in die sie als Argumente einer bestimmten Ereignisstruktur involviert sind. Die antithetische Grundstruktur wird üblicherweise durch das Adverb autem markiert, so dass vielfach der Wechsel des Diskurstopiks mit einer Kontrastierung von Ereignissen oder Redebeiträgen der relevanten Agens-Subjekte verbunden ist. Mit anderen Worten: Die jeweils wechselnden Topiks werden in der Regel als Kontrast-Topiks elaboriert. Sie treten mithin als Subjekt-Konstituenten im Rahmen von Satzantworten auf implizite Teilfragen des Typs „Was hingegen macht Y (im Gegensatz zu vorausgegangenem X)?“ auf. Kontrast-Topiks werden stets in präverbaler Position realisiert, wie etwa das folgende exemplarische Beispiel zeigt: (7) Et circumspiciens Iesus ait discipulis suis quam difficile est confidentes in pecuniis regnum Dei introire. Discipuli autem obstupescebant in verbis eis at Iesus rursus respondens ait illis: [...]. (Mk 10,22-10,24) (‚Und Jesus sah um sich und sagte zu seinen Jüngern: Wie werden die, die auf Reichtum vertrauen, in das Reich Gottes kommen. Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte, aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: […].‘)

Ein weiteres schönes Beispiel entstammt dem 1. Paulusbrief an die Korinther (Beispiel (8)). Hier antworten die drei koordinierten Hauptsätze auf die Makrofrage „Wer hat welchen Beitrag zum Gedeihen der Gemeinde geleistet?“. Die einzelnen kontrastiven Topiks stehen jeweils in präverbaler Position, wobei – gewissermaßen als Klimax – der Beitrag Gottes besonders (durch die Konjunktion sed) herausgestellt wird. (8) Ego plantavi Apollo rigavit sed Deus incrementum dedit (1 Kor 3,6) (‚Ich habe gepflanzt, Apollo hat gegossen, aber Gott hat das Gedeihen gegeben‘)

Wir können also als erstes Ergebnis festhalten, dass Kontrast-Topiks bildende Subjekt-NPs in der Vulgata ausnahmslos in präverbaler Position erscheinen. Diese systematische präverbale Position von Kontrast-Topiks macht deutlich, dass die präverbale Position offenbar als besonders prominente Position im Rahmen des Deklarativsatzes angesehen wurde. Am entgegengesetzten Pol befinden sich die sog. vertrauten Topiks (familiar topics), welche dazu beitragen, Topik-Kontinuität zu realisieren. In den entsprechenden Kontexten steht die das vertraute Topik explizit benennende

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Subjekt-NP systematisch postverbal. Der folgende Textausschnitt, die berühmte Abendmahlszene, verdeutlicht diesen Aspekt: (9) 14,17 vespere autem facto venit cum duodecim 14,18 et discumbentibus eis et manducantibus ait Iesus [...]. 14,19 at illi coeperunt contristari et dicere ei singillatim [...]. 14,20 qui ait illis [...]. 14,22 et manducantibus illis accepit Iesus panem et benedicens fregit et dedit eis [...]. (Mk 14,17-14,22) (‚Am Abend aber kam er mit den Zwölfen. Und als sie zu Tisch saßen und aßen, sprach Jesus: [...]. Sie aber wurden traurig und sagten zu ihm einer nach dem anderen: [...]. Er sagte ihnen [...]. Und während sie aßen, nahm Jesus das Brot, brach es segnend und gab es ihnen [...].‘)

In der Textpassage wechseln sich die beiden Diskurstopiks Jesus (zunächst Nullsubjekt bei venit, explizite Nennung in 14,18 Iesus) und die „Jünger“ (pronominale Wiederaufnahme durch illi) ab. Ebenfalls pronominal (jetzt mittels qui) wird der abermalige Wechsel zum ersten Diskurstopik (Jesus) vollzogen, das im Weiteren fortgeführt wird. Die explizite Nennung in Markus 14,22 ist mit der Inversion der Subjekt-Konstituente verbunden (accepit Iesus panem). Wie der Textausschnitt zeigt, kann das Diskurstopik mithilfe von pro-Formen (illi, qui etc.) wiederaufgenommen werden. Im Falle der Topik-Kontinuität sind oftmals auch Nullsubjekte üblich, wie die Konjunkte in Markus 14,22 ([pro] fregit et [pro] dedit eis) zeigen. Den systematischen Charakter der postverbalen Subjektposition bei einem expliziten familiären Topik belegt auch das folgende Beispiel: (10) Et adhuc eo loquente venit Iudas Scarioth unus ex duodecim et cum illo turba cum gladiis et lignis a summis sacerdotibus et a scribis et a senioribus. Dederat autem traditor eius signum eis [...]. (Mk 14,43-14,44) (‚Und während sie noch redeten, kam Judas hinzu, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine große Anzahl von Menschen mit Schwertern und Stangen, von den Hohepriestern und den Schriftgelehrten und den Ältesten. Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben [...].‘)

In dieser Textpassage wird zunächst Judas als Diskurstopik eingeführt und als solches im darauffolgenden Satz beibehalten. Die Fortführung des Diskurstopiks erfolgt hier aber unter Verwendung des wertend-rekategorisierenden Prädikats traditor. Topik-Kontinuität ist in diesem Beispiel wie auch schon in dem vorangegebenen Zitat mit der Nachstellung des Subjekts verbunden. Die Verhältnisse zwischen den beiden Polen, dem Kontrast-Topik auf der einen und dem familiären Topik auf der anderen Seite, stellen sich allerdings

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etwas komplexer dar. Betrachten wir hierzu unterschiedliche Beispiele für den Topik-Wechsel bzw. für die Stellung von abountness-shifting-topics: In den folgenden beiden Zitaten findet ein Topikwechsel statt, wobei die als Satztopik fungierenden Diskursreferenten diskursneu (brandneu in (11) und zumindest im unmittelbareren sprachlichen Kontext unbenutzt in (12)) sind: (11) et praetereuntes blasphemabant eum moventes capita sua [...] (Mk 15,29) (‚Und die Vorübergehenden diffamierten ihn und schüttelten ihre Köpfe […]‘) (12) Et accedentes Pharisaei interrogabant eum si licet viro uxorem dimittere (Mk 10,2) (‚Und Pharisäer kamen zu ihm und fragten ihn, ob ein Mann sich von seiner Frau scheiden dürfe‘)

Der Topikwechsel korreliert, wie die beiden Satzbeispiele deutlich machen, grundsätzlich mit einer präverbalen Stellung der das Satztopik bildenden Subjekt-NP. Anders scheinen jedoch die Verhältnisse bei Beispiel (13) zu liegen, das ein differenzierteres Stellungsprinzip im Hinblick auf aboutness-shifting-topics andeutet: (13) Et confestim mane consilium facientes summi sacerdotes cum senioribus et scribis et universo concilio vincientes Iesum duxerunt et tradiderunt Pilato et interrogavit eum Pilatus: [...]. (Mk 15,1-15,2) (‚Und sogleich in der Frühe hielten die Hohepriester einen Rat mit den Ältesten und den Schriftgelehrten und dem ganzen Hohen Rat und sie fesselten Jesus, führten ihn ab und übergaben ihn dem Pilatus. Und Pilatus fragte ihn: [...].‘)

Im ersten Satz wird zunächst mit der Subjekt-NP summi sacerdotes ein neues Satz-Topik eingeführt, das zumindest nicht im unmittelbaren sprachlichen Kontext aufgetreten ist, obwohl es allerdings im Diskursuniversum durchaus präsent ist, wie etwa die schon vorangegangene Einführung als allgemeine Rollenkategorie (zunächst im Rahmen einer Mitglied-von-Funktion, etwa in Mk 14,53 adduxerunt Iesum ad summum sacerdotem) verdeutlicht. So korreliert die präverbale Stellung auch hier mit einem Topikwechsel. Interessanterweise wird in dem darauffolgenden Satz mit der Dativ-NP Pilato ein weiterer Diskursreferent – zunächst in der syntaktischen Funktion des indirekten Objekts – eingeführt, der allerdings zum festen enzyklopädischen Wissensbestand (‚historischer Kontext‘) gehört und damit den Diskursstatus unused besitzt. Dieser Diskursreferent wird zum Diskurstopik des nachfolgenden Satzes und erscheint nun – ganz konsequent – in postverbaler Position. Mit anderen Worten: Das Diskurstopik wechselt zwar, es ist aber – da es im unmittelbar vorangegangenen

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Kontext schon eingeführt wurde – bekannt bzw. – um Princes Taxonomie aufzugreifen – textually evoked. Syntaktisch gesehen werden also ein vertrautes Topik (familiar topic) und ein aboutness-shifting-Topik mit bekanntem Diskursreferenten (Status: evoked) gleich behandelt, was sich an der übereinstimmenden Subjektinversion bzw. der postverbalen Stellung des Subjekts zeigt. Diese Analyse wird durch eine Vielzahl weiterer paralleler Satzbeispiele gestützt – wir zitieren nur drei exemplarische: (14) Et facta hora sexta tenebrae factae sunt per totam terram usque in horam nonam. Et hora nona exclamavit Iesus voce magna dicens: [...]. (Mk 15,33-15,34) (‚Und um die sechste Stunde senkte sich eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und zur neunten Stunde rief Jesus laut und sagte: [...].‘) (15) 1,25 Quia quod stultum est Dei sapientius est hominibus et quod infirmum est Dei fortius est hominibus. [...]. 1,27 Sed quae stulta sunt mundi elegit Deus ut confundat sapientes et infirma mundi elegit Deus ut confundat fortia. 1,28 et ignobilia mundi et contemptibilia elegit Deus ut [...]. (1 Kor 1,25-1,28) (‚Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. [...]. Aber was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen aus der Fassung bringt. Und was unbedeutend und wenig gilt vor der Welt, das hat Gott erwählt, um [...].‘) (16) 12,28 et accessit unus de scribis [...] (et) interrogavit eum quod esset primum omnium mandatum […]. 12,29 Iesus autem respondit ei [...]. 12,32 Et ait illi scriba: [...]. (Mk 12,32). (‚Und einer von den Schriftgelehrten trat zu ihm [...] und fragte ihn, was das vornehmste aller Gebote sei [...]. Jesus aber antwortete ihm [...]. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: [...].‘)

In Beispiel (14), der Kreuzigungsszene, findet ein mehrmaliger Wechsel des Satztopiks statt. Der Wechsel zum zentralen Diskursreferenten bzw. dessen Wiederaufnahme ist mit der Nachstellung der als Satztopik fungierenden Subjekt-NP verbunden. Im 1. Paulusbrief an die Korinther (Beispiel 15) ist Deus ebenfalls zentraler Diskursreferent, der in unterschiedlichen syntaktischen Funktionen auftritt (meist im Genitiv). In Paulus, 1 Kor 1,27, erscheint das

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Nomen Deus dann als Satztopik und befindet sich aufgrund seines Status als textlich evoziertes Element konsequent in postverbaler Position. Im zuletzt zitierten Beispiel treten noch einmal gleich mehrere der schon behandelten Stellungsprinzipien für das Subjekt hervor: Auf die die Szene eröffnende thetische Aussage mit unakkusativem Verb und nachgestelltem Subjekt folgt ein Kontrast-Topik (Iesus autem), welches dem provokanten Schriftgelehrten (scriba) entgegenstellt wird. Nach einer längeren Redepassage (Mk 12,30-12,31) wird der schon eingeführte (textually evoked) Diskursreferent scriba nun zum Satz-Topik. Er befindet sich aufgrund seines Diskursstatus’ in postverbaler Position. Wir können also mit Blick auf die Satzanordnung des Aussagesatzes und insbesondere der Subjektposition in der Übersetzung Hieronymus’ folgendes Fazit ziehen: Kontrast-Topiks stehen stets präverbal, vertraute (familiar) Topiks im Rahmen der Topik-Kontinuität grundsätzlich postverbal. Dass letztlich der Vertrautheitsstatus (die assumed familiarity nach Prince) 22 des als Topik fungierenden Diskursreferenten ausschlaggebend ist, zeigt sich anhand der Stellung von aboutness-shifting-Topiks: Ist der in den Topikstatus erhobene Diskursreferent bekannt und damit im Diskurs „aktiviert“ (textually evoked), wird er in postverbaler Position platziert. Wird er hingegen (zumindest im Rahmen einer relevanten Textdomäne) neu eingeführt, so steht er typischerweise präverbal. Weitere Untersuchungen auf einer noch breiteren Textbasis müssten zeigen, ob die hier aufgewiesenen, auf informationsstrukturellen Faktoren beruhenden Tendenzen verallgemeinerbar sind und auch typologische Schlussfolgerungen gestatten. Zweifellos decken sich die hier gemachten Beobachtungen mit Bossongs Nachweis einer protoromanischen VS-Satzanordnung, die systematisch als (langfristig nicht stabile) Übergangsstruktur in den Glosas Emilianenses in Erscheinung tritt. 23 Wenn sich in einer Übergangsphase die VS-Anordnung tatsächlich als unmarkierte Satzstruktur herauskristallisiert hat, so muss die präverbale Position den Status einer herausgestellten Topik-Position besessen haben. Diese besondere Topik-Position wäre dann reserviert gewesen für Kontrast-Topiks bzw. für die in der relevanten Textdomäne neu eingeführten abountness-shifting-Topiks, die ihrerseits mit einem unbekannten oder zumindest nicht „aktiven“ Diskursreferenten verbunden waren. Im weiteren Verlauf der syntaktischen Entwicklung von der VS- zur SV-Anordnung 22 Vgl. Prince 1981: 233 ff. 23 Vgl. Bossong 2006: 536: „En aquel período, la sintaxis románica era indudablemente del tipo VSO: el verbo no solo precede al objeto, sino también al sujeto en la casi totalidad de los casos. El testimonio de las glosas confirma tanto el cambio mayor, el de la centripetalidad del látin clásico a la centrifugalidad románica, por la consistencia absoluta con la que las construcciones OV latinas están reemplazadas por VO, como la persistencia del tipo más arcaico VS frente al más innovador SV de las lenguas románicas ulteriores.“

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hätte sich dann diese besondere Topik-Position zur allgemeinen bzw. kanonischen Subjekt-Position generalisiert. Diese sich hier andeutende Entwicklung müsste aber auf der Grundlage weiterer spätlateinischer sowie frühromanischer Daten überprüft und systematisch rekonstruiert werden. Kommen wir nun noch auf zwei besondere Satzanordnungen der Vulgata zu sprechen, die deutlich seltener, aber durchaus systematisch auftreten: Zunächst fällt eine Reihe von Objektvoranstellungen im Text der Vulgata auf. Diese treten allerdings in unterschiedlichen Kontexten und Funktionen auf. Eine erste Funktion manifestiert sich im folgenden Beispiel aus dem Markus-Evangelium: (17) Et coepit illis in parabolis loqui: Vineam pastinavit homo et circumdedit sepem et fodit lacum [...]. (Mk 12,1) (‚Und er begann, zu Ihnen in Gleichnissen zu sprechen: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und umzäunte ihn und grub eine Kelter [...].‘)

In diesem Textbeispiel führt der zweite Satz das Gleichnis vom Weinberg ein. Dieser befindet sich als ganzer im Fokus, denn er beantwortet die RahmenFrage „Was ist eigentlich geschehen?“ (= auslösendes Initial-Ereignis). Das direkte Objekt vineam wird in diesem Kontext nun durch Erstpositionierung (fronting) herausgestellt und nennt den zentralen Diskursreferenten des übergeordneten Diskurstopiks, das sich als ‚die Parabel vom Weinberg‘ charakterisieren lässt. In ganz analoger Weise wird in dem folgenden Beispiel das Diskursthema durch Nennung des zentralen Diskursreferenten, der sich wiederum in initialer Position befindet, herausgestellt. In der zitierten Textpassage aus dem 1. Paulus-Brief an die Korinther geht es um die „Weisheit Gottes“ (sapientiam autem loquimur inter perfectos), wobei sich das Nomen sapientia als der zentrale Schlüsselbegriff der Textpassage erweist: (18) 2,6 Sapientiam autem loquimur inter perfectos sapientiam vero non huius saeculi neque principum huius saeculi qui estruuntur 2,7 sed loquimur Dei sapientiam in mysterio quae abscondita est (1 Kor 2,6-2,7) (‚Wir sprechen aber von der Weisheit bei den Vollkommenen; nicht eine Weisheit dieser Welt und auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergeht, sondern wir sprechen von der heimlichen, verborgenen Weisheit Gottes‘)

Anders als im vorangegangenen Beispiel besteht aber der Satzfokus in Beispiel (18) aus der – syntaktisch diskontinuierlichen – Konstituente sapientiam [...] inter perfectos (als Antwort auf die Frage „Worüber wollen wir jetzt eigentlich sprechen?“). Herausgestellt durch Erstplatzierung wird hier aber das zentrale Konzept der sapientia und nicht etwa die im Fokus stehende Satzinformation.

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Ganz parallel verhält sich auch das letzte Beispiel, das wir unter diese Fallgruppe der Herausstellung durch fronting subsumieren wollen: (19) Si quis autem dixerit hoc immolaticium est idolis nolite manducare propter illum qui indicavit et propter conscientiam. Conscientiam autem dico non tuam sed alterius [...]. (1 Kor 10,28f.) (‚Wenn jemand zu Euch sagen würde: „Das ist Opferfleisch“, so esset nicht, um desjenigen willen, der es euch anzeigte, auf dass ihr das Gewissen nicht beschweret. Ich rede aber von Gewissen, nicht deinem eigenen, sondern von dem des anderen [...].‘)

Auch hier wird das Schlüsselkonzept conscientia in Initialposition gebracht, wobei das Nomen wiederum Teil eines Kontrastfokus – hier: conscientiam [...] non tuam sed alterius – ist. Einen zweiten Falltyp vorangestellter Objekte, der insbesondere in den Paulusbriefen sehr häufig auftritt, stellt der Kontrastfokus dar, der mögliche Antwortalternativen auf eine implizite Frage gegenüberstellt. Im folgenden Beispiel etwa geht es um die Frage „Was hat Paulus in seiner Funktion als Lehrer seinen Schülern vermittelt?“. Die metaphorisch formulierte Antwort lautet: (20) Lac vobis potum dedi non escam (1 Kor 3,2) (‚Milch habe ich euch zu trinken gegeben, und nicht feste Speise‘)

Es stehen sich in diesem Beispiel folglich die Antwortalternativen lac und escam (lac non escam) gegenüber, wobei sich die Objekt-NP lac in präverbaler Position befindet. Vergleichbar ist auch ein Beleg mit vorangestelltem (und betonten) indirekten Objektpronomen: Auf die zitierte kryptische Einlassung des Propheten Jesaja (sicut scriptum est, Jes 64,3) folgt die besondere Herausstellung der Eingeweihten (nobis autem revelavit Deus) gegenüber den Nichtsahnenden. (21) Sed sicut scriptum est [...]. Nobis autem revelavit Deus per Spiritum suum (1 Kor 2,9-2,10) (‚Aber es ist gekommen, wie es geschrieben steht [bei Jes 64,3] [...]. Uns aber hat Gott offenbart durch seinen Geist‘)

Schließlich lässt sich eine dritte Gruppe von systematischen Objektvoranstellungen identifizieren, die als feststehendes Diskursmuster die Argumentationsstruktur in den Paulus-Briefen mit gestalten. In diesen Kontexten steht jeweils die neutrale, kataphorisch oder anaphorisch verwendete pro-Form hoc (im Singular) und haec (im Plural) als syntaktisches direktes Objekt in präverbaler Position. So bezieht sich haec etwa in Beispiel (22) auf das im Vortext Gesagte, nimmt also als anaphorischer Rückverweis den propositionalen Gehalt des vorangegangenen Satzes wieder auf:

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(22) Haec autem fratres transfiguravi in me et Apollo [...] (1 Kor 4,6) (‚Das aber, Brüder, habe ich auf mich und Apollo gedeutet [...]‘)

In kataphorischer Funktion hingegen wird die pro-Form hoc in (23) verwendet: (23) Hoc autem dico fratres quoniam caro et sanguis regnum Dei possidere non possunt (1 Kor 15,50) (‚Dies aber sage ich, Brüder, dass Fleisch und Blut nicht das Reich Gottes besitzen können‘)

Der Sprecher, Paulus, verweist jeweils in der formelhaften Wendung hoc (autem) dico, (fratres) auf den im Weiteren entfalteten Inhalt seiner Rede, lenkt also die Aufmerksamkeit des Lesers/Hörers auf die im weiteren folgende Lehraussage. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Voranstellung des direkten Objekts im Rahmen von drei spezifischen informationsstrukturellen Konstellationen möglich bzw. üblich ist: a) Sie dient der Herausstellung eines zentralen, zum übergeordneten Diskursthema gehörenden Schlüsselkonzepts (fronting); b) Sie tritt im Rahmen eines kontrastiven bzw. emphatischen Fokus in Erscheinung; c) Im Rahmen der diskursiven Organisation argumentativer Textpassagen tragen die vorangestellten Pronominalformen hoc und haec in Objektfunktion zur Aufmerksamkeitssteuerung bei: Dabei wird die pro-Form haec anaphorisch verwendet, um rückwirkend auf den propositionalen Gehalt einer zentralen Aussage Bezug zu nehmen. Im Gegensatz hierzu tritt hoc in kataphorischer Funktion auf und antizipiert den propositionalen Gehalt der im Weiteren entfalteten Aussagen. Ganz kurz soll zum Abschluss dieses Kapitels auf die durchaus in der Vulgata noch präsenten SOV-Strukturen eingegangen werden. Bei der SOV-Anordnung handelt es sich um ein – wie oben schon dargestellt – älteres syntaktisches Strukturmuster. Es tritt allerdings vielfach im Rahmen stereotyperer Kollokationen und fester Redewendungen auf, die – offenbar als ganze Einheiten im Lexikon abgespeichert – noch die ursprüngliche VO-Syntax des Deklarativsatzes konservieren. Als charakteristische Beispiele einer SOV-Syntax im Rahmen von Kollokationen lassen sich – exemplarisch – die folgenden Beispiele nennen, bei denen typische Verb-Nomen-Kollokationen erkennbar werden: a) falsum testimonium/testimonium falsum dicere: (24) [...] ne falsum testimonium dixeris (Mk 10,19) (‚[…] du sollst kein falsches Zeugnis reden‘)

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b) potestatem habere: (25) [...] et principes eorum potestatem habent ipsorum (Mk 10,42) (‚[…] und die Fürsten üben Macht über sie aus‘) c) debitum reddere: (26) uxori vir debitum reddat [...] (1 Kor 7,3) (‚Der Manne soll der Frau die schuldige Pflicht leisten […]‘) d) fundamentum ponere: (27) [...] secundum gratiam Dei [...] ut sapiens architectus fundamentum posui (1 Kor 3,10) (‚ich habe nach Gottes Gnade [...] den Grund gelegt als ein weiser Baumeister‘)

Mit diesen Anmerkungen zur Syntax der Vulgata am Beispiel des Markusevangeliums sowie des ersten Paulusbriefes an die Korinther können wir nun der Frage nachgehen, ob und in welcher Weise sich die frühen Übersetzer des NT in die romanischen Sprachen mit den syntaktischen Besonderheiten bzw. informationsstrukturellen Gestaltungsprinzipien der lateinischen Textvorlage auseinandersetzten bzw. den Versuch unternahmen, mit den ihnen in ihrer Muttersprache zu Gebote stehenden Ausdrucksmittel die Textinformation angemessen zu elaborieren.

4. Die Syntax des Deklarativsatzes in Lefèvre d’Étaples und Reinas Übersetzungen 4.1. Prinzipien und Tendenzen der Subjektstellung

Untersucht man die Satzanordnung im Deklarativsatz beim französischen Übersetzer Lefèvre d’Etaples, so ist man erstaunt darüber, in seinem Text eine generalisierte SVO-Struktur anzutreffen. Selbst in Kontexten mit unakkusativen Verben sowie im Rahmen von thetischen Aussagen rekurriert Lefèvre grundsätzlich auf eine SVO-Satzanordnung. Dies legt die Vermutung nahe, dass sich SVO bis zum Beginn des 16. Jh. als kanonische Satzanordnung des französischen Deklarativsatzes generalisiert hatte. Diese Entwicklung hatte sich, wie Marchello-Nizia in zahlreichen Studien zum syntaktischen Wandel des Französischen aufgezeigt hat, bereits seit dem Mittelfranzösischen abgezeichnet: Kristallisierte sich SVO bis zum 13. Jh. als dominante, wenngleich auch noch keineswegs majoritäre Satzanordnung heraus, 24 so etablierte sich die präverbale 24 Vgl. Marchello-Nizia 1995: 82.

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Subjektposition im Mittelfranzösischen als das mit Abstand frequenteste Stellungsmuster, das – je nach Textgattung – zwischen 52% und 75% schwankte, nun jedoch stets majoritär war. 25 Vor allem bei Sätzen, die mit dem koordinativen Element et (oftmals in Verbindung mit écrire und dire) eingeleitet wurden, die unpersönliches on als Subjekt hatten oder sich um intransitive Verben bzw. das Verb être konfigurierten, war die Verbnachstellung auch noch auf der Schwelle zum 16. Jh. und darüber hinaus keineswegs selten. 26 Bei Lefèvre begegnet uns – schon in den 20er Jahren des 16. Jh. – eine generelle SVO-Satzanordnung. Dieser besondere Befund zur Syntax des Deklarativsatzes bei Lefèvre macht aber auch deutlich, wie die – im Hinblick auf Bibelübersetzungen regelmäßig anzutreffende – Behauptung einer sprachlichen Abhängigkeit von bzw. Orientierung an der Textvorlage zu interpretieren sind: Wenn etwa Kunze in seiner Monographie zu den ersten Bibelübersetzungen in französischer Sprache die Übersetzung Lefèvres als „reine imitatio der Vulgata“ bzw. als „wörtliche Hinübersetzung“ – „translatio“27 charakterisiert und von einem „primitiv und hölzern aus dem Lateinischen ins Französische „umgewandelten“ Wortlaut“ spricht, 28 so kann er sich ausschließlich auf den Wortschatz beziehen. Der in seiner Diktion „latinistische Sprachgebrauch“ Lefèvres besteht im Wesentlichen darin, „die lateinischen Begriffe zu übernehmen und nur leicht zu französieren“. 29 Im Gegensatz dazu zeigt aber die Syntax des Übersetzers, dass dieser sich weder einer latinisierenden noch einer archaisierenden Syntax bedient, sondern sich klar an den innovativen syntaktischen Regeln seiner Zeit orientiert. Diese syntaktischen Regeln des Deklarativsatzes, wie sie sich zu Beginn des 16. Jh. konsolidert haben, vergrößern aber den typologischen Abstand des Französischen zum Spanischen noch weiter, wie der Vergleich mit Reinas Übersetzung zeigen wird. So ist für Reinas Übersetzung die systematische Subjektinversion bzw. VSX-Satzanordnung sowohl bei thetischen Aussagen wie auch bei Sätzen mit unakkusativen Prädikaten kennzeichnend. Illustrieren wir diesen grundlegenden syntaktischen Kontrast zwischen dem französischen und dem spanischen Übersetzungstext anhand einiger Beispiele: Zunächst zeigt sich der syntaktische Unterschied sehr deutlich bei den thetischen Aussagen. Wir haben jeweils die lateinische Version der Vulgata und die französische bzw. spanische Übersetzung gegenübergestellt:

25 Vgl. die prozentualen Angaben zu SV bzw. VS in verschiedenen Studien zum Mittelfranzösischen bei Marchello-Nizia 1997: 414f. Zusammenfassend auch Marchello-Nizia 1995: 104f. 26 Marchello-Nizia 1997: 415. 27 Kunze 1935: 221. 28 Kunze 1935: 220. 29 Kunze 1935: 209.

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(28a) Et post dies sex adsumit Iesus Petrum et Iacobum et Iohannem (Mk 9,2) (28b) Et apres six jours Jesus prent Pierre et Jaques et Jehan (Lefèvre, Mk 9,2) (28c) Y seis dias despues tomó Iesus a Pedro, y a Iacobo, y a Ioannes (Reina, Mk 9,2)

Ebenso kontrastieren die Satzstrukturen in den Kontexten, in denen unakkusative Verbklassen wie Verben der Bewegung (venire/convenire, venir ensemble, volver; abire, ir(se), (se) partir) sowie Existenzverben (defungi, mourir, morir) die Argumentstruktur determinieren. Man vergleiche die Beispiele: convenire/venir ensemble/volver: (29a) [...] et conveniunt iterum turbae ad eum (Mk 10,1 = (3)) (29b) Et derechief les turbes vindrent ensemble a lui (Lefèvre, Mk 10,1) (29c) [...] y bolvió la compaña a juntarse a el (Reina, Mk 10,1) defungi: (30a) novissima omnium defuncta est et mulier (Mk 12,22 = (5)) (30b) Apres tous: la femme mourut la derniere. (Lefèvre, Mk 12,22) (30c) a la postre murió también la muger. (Reina, Mk 12,22)

Betrachten wir im Weiteren die Markierung des Topik-Status der Referenten in Subjektfunktion in den drei Textversionen ein wenig näher: In der Übersetzung Lefèvres spielt der Topik-Status für die informationsstrukturelle bzw. syntaktische Organisation keine Rolle, da der Übersetzer in allen Deklarativsätzen konsequent auf die SVO-Anordnung rekurriert. So behandelt er die Fälle mit kontrastivem Topik (wie das schon weiter oben zitierte Beispiel (7) autem obstupescebant in verbis ei) und mit vertrautem Topik (wie (9) et manducantibus illis accepit Iesus panem et benedicens fregit) syntaktisch gleich und kennzeichnet den kontrastiven Charakter der Aussage lediglich lexikalisch mittels des Diskursmarkers mais: (31) Et les disciples se estonnoient de ses parolles. Mais Jesus derechief respondit et leur dit. (Lefèvre, Mk 10,24) (32) Et quant ilz mangeoient: Jesus print le pain et le beneist et le rompit et leur donna et dit: [...]. (Lefèvre, Mk 14,22)

In Reinas spanischer Übersetzung hingegen variieren die SV- und die VSAnordnung systematisch. In unserem Beispiel mit kontrastivem Topik (Mk 10,23ff.) befinden sich die Subjekte jeweils in präverbaler Position (Iesus vs. sus Discipulos). Die Textpassage mit vertrautem Topik (Mk 14,20ff.) verdeutlicht hingegen, dass seine Position postverbal ist:

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– kontrastives Topik: (33) Entonces Iesus mirando alderredor, dize a sus Discipulos: Quan dificilmente entrarán en el Reyno de Dios los que tienen riquezas. Y los Discipulos se espantaron de sus palabras: mas Iesus respondiendo, les bolvió a dezir: [...] (Reina, Mk 10,23f.)

– vertrautes Topik: (34) Y llegada la tarde, vino con los Doze. Y como se sentaron a la mesa, y comiessen [sic!], dize Iesus: [...]. Entonces ellos començaron a entristecerse [...]. Y estando ellos comiendo, tomó Iesus el pan, y bendiziendo, partió y dióles, y dixo: [...]. (Reina, Mk 14,20ff.)

Interessant ist auch die spanische Entsprechung von Beispiel (13) (= Mk 15,2 interrogavit eum Pilatum): In diesem Satz wird der im Vorsatz wieder eingeführte und damit vertraute Diskursreferent Pilatus zum Topik erhoben (TopikShift mit vertrautem Diskursreferent). Genauso wie in der lateinischen Fassung erscheint das Subjekt in postverbaler Stellung (VSX-Anordnung): (35) Y luego por la mañana, hecho consejo, los Summos Sacerdotes con los Ancianos, y con los Escribas, y con todo el concilio, truxeron a Iesus atado, y entregaronlo a Pilato. Y preguntóle Pilato: [...] (Mk 15,1 -15,2)

Ganz analog wird auch in dem folgenden Illustrationsbeispiel der zum Satztopik avancierte, zudem vertraute Diskursreferent (hier nun Deus) postverbal platziert: (36a) 1,27 Sed quae stulta sunt mundi elegit Deus ut confundat sapientes et infirma mundi elegit Deus ut confundat fortia. 1,28 et ignobilia mundi et contemptibilia elegit Deus [...]. (1 Kor 1,27 - 1,28 = (18)) (36b) 1,27 Antes lo que es la locura del mundo escogió Dios para avergonçar a los sabios: y lo que es la flaqueza del mundo escogió Dios para avergonçar lo fuerte. 1,28 Y lo vil del mundo, y lo menospreciado escogió Dios: [...]. (Reina, 1 Kor 1,25-1,28)

Nicht parallel ist hingegen die folgende Passage, bei der der spanische Übersetzer für die präverbale Position optiert. Das Adverb entonces markiert zudem den kontrastiven Charakter des Satz-Topiks, das jedoch einem vertrauten Diskursreferenten entspricht:

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(37a) 12,29 Iesus autem respondit ei quia [...]. 12,32 Et ait illi scriba: [...]. (Mk 12,29, 12,32 = (19)). (37b) 12,29 Y Iesus le respondió: [...]. 12,32: Entonces el Escriba le dixo: [...]. (Reina, Mk 12,29, 12,32)

Die syntaktischen Parallelismen zwischen dem Hieronymus-Text und der Übersetzung Reinas sind zweifellos bemerkenswert. Wie es scheint, bestimmen die gleichen bzw. ganz ähnliche Prinzipien die Stellung des Subjekts in der Vulgata sowie in der spanischen Übersetzung. In beiden Texten kommt dem Status des Satz-Topiks sowie dem Vertrautheits-Grad des entsprechenden Diskursreferenten die entscheidende Rolle für die Determinierung der Subjektposition zu. Reina weicht hinsichtlich der Satzanordnung da von dem Text der Vulgata (die er ja im übrigen nicht als Textgrundlage verwendet haben will!) ab, wo er den Status des Subjekts anders akzentuieren möchte – wie etwa im letzten Beispiel, wo er das Subjekt als Kontrast-Topik herausstellt. Aber auch neuere Beiträge zum Verhältnis von Informationsstruktur und syntaktischer Anordnung im Spanischen belegen, dass die bei Reina anzutreffenden Stellungsprinzipien grundsätzlicherer Natur sind. Zubizarreta betont etwa in ihrem Beitrag zur Gramática Descriptiva, 30 dass die XVS-Anordnung im Spanischen durchaus eine übliche, wenngleich konkurrierende Satzanordnung zu SVO ist. Weiter geht Leonetti (i. Dr.), der das Spanische (zusammen mit dem Portugiesischen und Rumänischen) als eine – in typologischer Hinsicht – VSXSprache charakterisiert, die sich dadurch auszeichnet, dass komplexe Konstituenten als einzelne Informationseinheiten behandelt werden könnten, folglich also keine obligatorische interne Portionierung der Information erforderlich ist. 31 Die Subjektinversion bzw. VSX-Anordnung ist nun so zu interpretieren, dass der gesamte informationelle Gehalt des (Kern-)Satzes sich im Fokus befindet (weiter Fokus), d.h. die Satzinformation als ganze – und eben nicht portioniert – präsentiert wird. In Leonettis Worten:

30 Vgl. Zubizaretta 1999: 4217. 31 So schreibt Leonetti i. Dr.: 42: „the dividing line between VSX languages –Spanish, Portuguese, Romanian– and non-VSX languages –Catalan, Italian, French– can be based on the capacity of a language to admit complex constituents processed as single informational chunks, without internal partitions, especially in marked word orders such as subject inversion“.

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The second order (=VSX, M.B.) is much more restrictive: it is wide focus by default, in any context – both topic/comment and focus/background partitions are banned in VSX. It acts as a device to present events as single informational units, and this is its defining feature. 32

Neumann-Holzschuh (1997) und vor allem González de Sarralde (2001, 2005) haben versucht, die grundlegenden Vorkommenskontexte der VSX-Stellung zu beschreiben bzw. genauer zu systematisieren. Die Anordnung VSX erweist sich zunächst, wie wir auch schon oben herausgestellt haben, als die charakteristische Satzstruktur thetischer Aussagen. González de Sarralde hat zudem versucht, die Funktion der Subjektinversion im Rahmen von narrativen Texten zu bestimmen. Sie konnte anhand eines umfassenden Korpus von Erzähltexten die folgenden Text-Funktionen bzw. typischen Vorkommenskontexte der VSXAnordnung ermitteln: 33 – eine präsentative Funktion; – eine deskriptive Funktion, v.a. bei der Wiedergabe von Wahrnehmungsvorgängen 34 bzw. überhaupt bei der Festschreibung des Erzählrahmens (scenesetting function); 35 – die Wiedereinführung eines bereits im Diskurs verankerten Referenten (Topik-Reintroduktion); – die Herausstellung der Handlung, v.a. in Verbindung mit Topik-Kontinuität; – die VSX-Anordnung ist zudem charakteristisch für ein flash back. Die Opposition zwischen SVO- und VSX-Anordnung spielt ebenfalls eine zentrale Rolle für die Organisation der Makro-Struktur einer Erzählung, da hierdurch die Ereignisse nach ihrer Relevanz (primäre vs. sekundäre Relevanz) gekennzeichnet und im Rahmen einer komplexen Ereignistopologie hierarchisiert werden können. Diese diskursstrukturierende Grundfunktion der konkurrierenden Stellungsmuster fasst González de Sarralde folgendermaßen prägnant zusammen: En resumen, los enunciados con orden SV especifican sucesos nuevos en orden cronológico, con lo que forman parte de la estructura principal de la narración. Los enunciados con orden VS, por el contrario, al retomar sucesos ya mencionados, se salen de la línea cronológica de la narración y forman parte, por tanto, de su estructura secundaria. 36

Diese hier aufgelisteten Grundtendenzen decken sich in zahlreichen, jedoch nicht in allen Punkten mit den Ergebnissen der Analyse von Reinas Bibel32 Leonetti i. Dr.: 17f. 33 Für das Folgende vgl. González de Sarralde 2001: 21-27 sowie 2005: 79-87. 34 Vgl. González de Sarralde 2005: 80: „pasajes descriptivos de una narración, especialmente en aquellos que describen sonido, olores u cualquier otro tipo de percepciones.“ 35 So der Terminus Bledsoes (1988), zit. nach González de Sarralde 2005: 80. 36 González de Sarralde 2005: 88.

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übersetzung. Die Subjektnachstellung haben wir bei unakkusativen Verben (die oftmals in präsentativen und scene-setting-Kontexten auftreten), bei thetischen Aussagen sowie im Falle der Topik-Kontinuität bzw. der Wiederaufnahme eines schon bekannten Diskursreferenten als Topik aufweisen können. Nicht wirklich deutlich trat die durch die Opposition von SV und VS geleistete Hierarchisierung der Ereignisse im Rahmen einer Makrostrukturierung des Diskurses hervor. Dies dürfte allerdings an der Diskursstruktur der beiden untersuchten Texte liegen: Während das Markus-Evangelium vor allem Zeugnis von Taten und Worten ablegt, es mithin also gar keine sekundären (Erzähl-)Strukturen gibt, steht in den Paulus-Briefen die theologische Lehre und ihre argumentative Rechtfertigung im Vordergrund. In den beiden Texten (und den durch sie repräsentierten Subgattungen des Bibeltextes) manifestiert sich mithin nur ein Teilausschnitt des funktionalen Spektrums der VSX-Satzanordnung. 37 Kommen wir nach diesen Ausführungen zur kanonischen Satzanordnung noch zu den besonderen Stellungsmustern in den beiden romanischen Übersetzungen. 4.2. Die Objektvoranstellung

Die in Kapitel 3 ausführlicher behandelten Fälle der Objektvoranstellung in der Vulgata werden in den romanischen Übersetzungen in der Regel nicht durch gleichwertige, besonders markierte, syntaktische Konstruktionen wiedergegeben. Während Lefèvre d’Etaples sich so gut wie gar nicht um syntaktische Variation bemüht (etwa durch besondere Herausstellungskonstruktionen), schöpft Casiodoro de Reina neben den beiden syntaktischen Grundmustern SVO und VS noch weitere syntaktische Stellungsmöglichkeiten aus. So findet sich in Reinas Version des 1. Briefs an die Korinther (1 Kor 10,29) tatsächlich eine das Diskursthema herausstellende Objektvoranstellung (vgl. lat. conscientiam autem dico, Beispiel (19)): 38) Mas si alguien hos dixere, Esto fue sacrificado los idolos, no lo comays por causa de aquel que lo declaró, y por causa de la consciencia. La consciencia digo, no tuya, sino del otro. Mas porque es juzgada mi libertad por otra consciencia. (Reina, 1 Kor 10,28f.)

Den Kontrastfokus in 1 Kor 2,10 (Nobis autem revelavit Deus) gibt Reina nicht durch eine markierte Satzanordnung wieder, sondern stellt das im Kontrast37 Ausführlicher zur diachronen Entwicklung siehe insbesondere Neumann-Holzschuh 1997: 3664, die vor allem in Anlehnung an Sasse 1995: 4f. die Relevanz der Opposition von Thetizität und kategorialem Charakter der Satzaussage für die syntaktische Variation in der Geschichte des Spanischen herausarbeitet.

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fokus stehende Element – hier das indirekte Objekt – durch Klitikondoppelung (nos lo reveló a nosotros) besonders heraus: (39) Empero Dios nos lo reveló a nosotros por su Espiritu: por que el Espiritu todo lo escudriña, aun [sic!] en lo profundo de Dios. (Reina, 1 Kor 2,10)

Im Hinblick auf die anaphorische bzw. kataphorische Herausstellung des propositionalen Gehalts des Vor- bzw. des Folgesatzes in der Vulgata (anaphorischer Rückverweis bzw. kataphorische Vorausweisung) fällt auf, dass die romanischen Übersetzungen nicht wie der lateinische Text systematisch auf vorangestellte Objektpronomina (bei Hieronymus waren dies hoc und haec) zurückgreifen. Wir finden vielmehr unterschiedliche syntaktische und lexikalische Verfahren bei Lefèvre und Reina: Lefèvre verwendet in allen Fällen der kataphorischen Herausstellung konsequent proleptisches ce in Verbindung mit der Konjunktion que, so beispielsweise in 1 Kor 1,12 und 1 Kor 15,50 (im Lateinischen jeweils hoc autem dico): (40) Et je dis ce pourtant que ung chascun de vous dit. (Lefèvre, 1 Kor 1,12) (41) Mais mes freres je vous dis ce que la chair et le sang ne peuent posseder le royaulme de dieu: [...]. (Lefèvre, 1 Kor 15,50)

In Reinas Übersetzung wird das neutrale Demonstrativpronomen ello als direktes Objekt – ebenso wie lat. hoc – in Erstposition platziert, und zwar sowohl in anaphorischen (Beispiel (42)) wie in kataphorischen Kontexten (Beispiel (43)): (42) Esto empero, Hermanos, he passado por exemplo en mi y en Apollos (Reina, 1 Kor 4,6) (43) Esto empero digo, Hermanos, Que la carne y la sangre no pueden heredar el Reyno de Dios (Reina, 1 Kor 15,50)

Auf eine letzte Besonderheit der spanischen Übersetzung soll hier noch kurz hingewiesen werden. In Mk 10,5 (Ab initio autem creaturae masculum et feminam fecit eos Deus) elaboriert Hieronymus das biblische Diktum der Genesis als thetische Aussage. In der spanischen Textversion finden wir hingegen eine andere informationsstrukturelle Konfiguration, nämlich eine Linksdislokation mit Erstnennung des direkten Objekts und seine Wiederaufnahme durch ein geeignetes Objektpronomen. Dabei besitzt das linksdislozierte Element keinen Topikstatus (es soll ja nicht von Mann und Frau ausgesagt werden, dass Gott sie geschaffen hat – dies ist in diesem Kontext nicht der springende Punkt), sondern es stellt den Fokus der Aussage dar, ist mithin die Antwort auf die implizite Frage „In welcher Konstellation hat Gott die Menschen geschaffen?“ (mit der Anwort hierauf: „Als Mann und Frau hat Gott sie geschaffen“).

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An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich, dass Reina die Satzinformation in seiner Übersetzung in je eigener Weise strukturiert („portioniert“) und akzentuiert hat. (44) Y respondiendo Iesus, dixoles, Por la dureza de vuestro coraçon os escrivió este mandamiento: Que al principio de la Creacion, macho y hembra los hizo Dios (Reina, Mk 10,5).

5. Eine conclusio Wir haben in diesem Beitrag zeigen können, dass die Syntax des Deklarativsatzes – und allen voran die Stellung des Subjekts – in der Vulgata systematischen Stellungsprinzipien folgt, die ganz wesentlich informationsstrukturell begründet sind. Wie sich gezeigt hat, ist dabei die Art des Topiks (Kontrast-Topik vs. vertrautes (familiar) Topik) sowie der Informationsstatus (der Vertrautheitsstatus bzw. die assumed familiarity) des als Topik fungierenden Diskursreferenten (evoziert vs. neu) im Falle der aboutness-shifting topics von zentraler Bedeutung für die Stellung des Subjekts. Wenn tatsächlich, wie Bossong nachzuweisen versucht hat, in einer Übergangsphase eine Tendenz zur VS-Anordnung bestanden hat, dann hätte die präverbale Position zunächst den Status einer besonderen Topik-Position besessen, die sich dann – im Zuge der Entwicklung zu SVO als dem kanonischen Satzmuster – zur generellen, d.h. unmarkierten Subjektposition grammatikalisiert hätte. Diese durch den Text der Vulgata bestätigten Tendenzen müssen allerdings noch durch weitere exhaustive Untersuchungen zu spätlateinischen und frühromanischen Texten erhärtet werden. Im Hinblick auf die Objektvoranstellung konnten drei unterschiedliche charakteristische Vorkommenskontexte bzw. Funktionen in der Vulgata identifiziert werden, und zwar: 1. die Herausstellung einer Konstituente (die einem das Diskursthema ankündigenden Schlüsselkonzept entsprach) durch fronting, 2. die Markierung eines kontrastiven bzw. emphatischen Fokus und 3. – im Bezug auf die vorangestellten Objektpronomina hoc und haec – der anaphorische Rückverweis bzw. die kataphorische Vorwegnahme im Dienste der textlichen Aufmerksamkeitssteuerung. Schließlich konnte gezeigt werden, dass es sich bei den Okkurrenzen einer – eigentlich das klassische Latein kennzeichnenden – SOV-Syntax in der Vulgata um Manifestationen einer lexikalisch „erstarrten“ älteren syntaktischen Entwicklungsstufe handelt, die sich im Rahmen von Kollokationen und idiomatischen Ausdrücken konservieren konnte. Der Vergleich mit den frühen Bibelübersetzungen Lefèvre d’Etaples und Casiodoro de Reinas im 16. Jh. hat interessante Einsichten hinsichtlich konvergierender und divergierender syntaktischer Strukturprinzipien der verglichenen

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Sprachen erbracht: Wie die französische Übersetzung zeigte, hatte sich offenbar schon zu Beginn des 16. Jh. die SVO-Satzanordnung im französischen Deklarativsatz praktisch generalisiert. In der spanischen Übersetzung zeigten sich dagegen bemerkenswerte Übereinstimmungen mit den Stellungsprinzipien des spätlateinischen Textes der Vulgata: Auch in Reinas Text erwies sich die XVSAnordnung als üblich im Kontext unakkusativer Verben (die oftmals in präsentativen und scene-setting-Kontexten auftraten), im Falle von thetischen Aussagen, bei Topik-Kontinuität bzw. bei der Wiederaufnahme eines schon bekannten Diskursreferenten als Satz-Topik. Objektvoranstellungen waren jedoch in den untersuchten romanischen Texten sehr selten: Während sich in der Übersetzung Lefèvres keine Beispiele fanden, konnte bei Reina immerhin eine Objektvoranstellung im Rahmen einer Linksdislokation zur Kennzeichnung eines emphatischen Fokus dokumentiert werden. Insgesamt ist beim Übersetzungsvergleich deutlich geworden, dass die Übersetzungstexte zwar in lexikalischer Hinsicht von ihren Vorlagen beeinflusst sein können, dass dies aber in der Regel nicht für syntaktische Strukturen gilt. In syntaktischer Hinsicht orientieren sich die Übersetzer – was eigentlich auch naheliegend ist – ganz an den Stellungsprinzipien ihrer Mutter- bzw. der jeweiligen Zielsprache. Diese wichtige Tatsache rechtfertigt es, Bibelübersetzungen als eine zentrale Quelle für die Dokumentation und Analyse des syntaktischen Wandels heranzuziehen.

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Heidi Aschenberg Sprachgeschichtsschreibung und Übersetzung – eine Skizze

1. Vorbemerkungen Die Bedeutung der Übersetzertätigkeit für die Herausbildung und Entwicklung der romanischen Sprachen ist in sprachhistorischen Studien am Beispiel von exemplarischen Texten immer wieder gewürdigt worden. Übersetzungen im weitesten Sinne 1 haben die Geschichte der romanischen Sprachen in ihren verschiedenen Phasen und diesen Phasen jeweils entsprechend begleitet und können somit als wertvolle Zeugnisse der Sprach- und Textgeschichte einer Gemeinschaft angesehen werden. Dies gilt bereits für die Zeit der Emergenz dieser Sprachen, in der Glossen, Nachahmungen und Bearbeitungen von lateinischen Texten zur Entwicklung der Schriftkultur entscheidend beigetragen haben. So betrachtet etwa Richard Baum das Übersetzen in der Anfangsphase der romanischen Schriftkultur als eine der „wirkungsmächtigsten“ Modalitäten „der Sprach- und Textgestaltung“ (Baum 1995: 45). 2 Aber auch in den späteren Entwicklungsstadien, insbesondere in den Ausbauphasen, können Übersetzungen für die Bereicherung des Wortschatzes, die Elaboration syntaktischer Strukturen und die Herausbildung von Diskurstraditionen eine wichtige Rolle spielen, da sie ja prinzipiell von Texten jedweder Gattung und jedweden Diskursuniversums angefertigt werden können, von religiösen wie von literarischen Texten, von Texten des Alltagslebens wie von wissenschaftlichen Texten. Dessen ungeachtet ist die systematische Erforschung des Einflusses von Übersetzungen auf die romanische Sprachgeschichte bislang weitgehend ein 1 Neben dem Begriff der Übersetzung in der üblichen übersetzungswissenschaftlichen Verwendungsweise (vgl. u.a. Albrecht 2005: 23-30) gebrauche ich diesen Begriff in diesem Zusammenhang auch in einem weiteren Sinn, d.h. als Hyperonym für die verschiedenen Formen der Übertragung eines ausgangssprachlichen Textes in einen zielsprachlichen Text, um damit auch die mittelalterlichen Verfahren der Imitation und Bearbeitung abdecken zu können. Zur Abgrenzung von ‚Übersetzung‘ (im engeren Sinn) und ‚Bearbeitung‘ vgl. Schreiber 1993. 2 Vgl. auch Job 2008.

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Desiderat geblieben. In den einschlägigen Handbüchern wird dieses Thema in der Regel ausgehend von einzelnen Übersetzerleistungen bloß episodisch kommentiert, insbesondere im Hinblick auf die Relatinisierungsprozesse während des Mittelalters und der Renaissance, ohne dass die Bedeutung der Übersetzung für Sprachwandelprozesse und für die Entwicklung von Diskurstraditionen genauer untersucht würde (vgl. Albrecht 2003a). Interessante Analysen zu unserer Fragestellung finden sich in einer Reihe von ausgezeichneten, z.T. älteren philologischen Einzelstudien, die es verdienen, im Hinblick auf eine engere Verknüpfung von Sprach- und Übersetzungsgeschichte neu gesichtet zu werden. 3 Schließlich sind die von Vertretern der Übersetzungswissenschaft entwickelten Überlegungen zu nennen (vgl. Koller 21998, Albrecht 2003a, 2003b, 2004, 2007), mit denen in den vergangenen Jahren Möglichkeiten und Grenzen des Einflusses von Übersetzungen auf die Entwicklung von Einzelsprachen geprüft wurden. Ausgehend von diesen Arbeiten und von drei prominenten Übersetzungen des französischen Mittelalters – Jean de Meun (1284): Vegetius, L’art de chevalerie, Pierre Bersuire (1354-56): Titus Livius, Histoire romaine und Nicolas Oresme (1370): Le livre de éthiques d’Aristote – möchte ich im Folgenden einige Gedanken zur Einbeziehung der Übersetzung in die Sprachgeschichtsschreibung entwickeln. Dabei kann es sich in Anbetracht der gebotenen Kürze nur um eine Skizze handeln.

2. Übersetzungswissenschaftliche Überlegungen Die von Vertretern der Übersetzungswissenschaft entwickelten Überlegungen gelten insbesondere den Fragen erstens, wie sich die Übersetzertätigkeit auf den Standardisierungsprozess einer Sprache auswirken kann und zweitens, welche Bereiche einer Einzelsprache durch den Einfluss von Übersetzungen bevorzugt tangiert werden. Bezüglich der ersten Frage unterscheidet Koller entsprechend den beiden grundlegenden Übersetzungsmethoden zwei Formen von Auswirkungen: Normstabilisierung durch adaptierendes, zielsprachenorientiertes Übersetzen und Normerneuerung durch transferierendes, ausgangssprachenorientiertes Übersetzen (vgl. Koller 21998: 114). Zur zweiten Frage: Welche sprachlichen Ebenen können durch die Übersetzung in besonderer Weise betroffen sein? Dazu ist vorweg zu bemerken, dass 3 Für das Französische denke ich u.a. an Arbeiten wie Becker 1921, Bruneau 1951, Buridant 1983, Monfrin 1962 und 1964, Rychner 1963 und Stempel 1987; auch in den Herausgebervorworten von Übersetzungen finden sich häufig wertvolle Kommentare und Beobachtungen, vgl. z.B. Robert in Jean de Meun 1897: I-LVI; Löfstedt in Jean de Meun 1977: 7-66, Menut in Nicolas Oresme 1940: bes. 36-91.

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durch Übersetzung induzierter Wandel immer Wandel „von oben“ ist, da er durch schriftliche Modelle verursacht wird. 4 Während sich die „Kernbereiche“ einer Sprache (phonologisches Inventar, Morphologie, Syntax des einfachen Satzes und Grundstrukturen des Wortschatzes) nach Albrecht dem Einfluss des schriftlichen Modells gegenüber erfahrungsgemäß als widerständig erweisen, sind die phonologische Distribution, Wortbildung, komplexe Syntax, Terminologie und Phraseologie weniger resistent (vgl. Albrecht 2007: 1097f.). Durch Übersetzung ausgelöster Sprachwandel ist bekanntlich schwer nachweisbar. Um ihn festzustellen, schlägt Koller verschiedene methodische Schritte vor, u.a. den synchronen Vergleich einer Übersetzung mit Originaltexten der Zielsprache, den Vergleich mit später verfassten Übersetzungen sowie die Überprüfung der sprachsystematischen Konformität einer Innovation (vgl. Koller ²1998). Die seit der Publikation seines Aufsatzes entstandenen elektronischen Textkorpora der romanischen Sprachen können derartige Analysen nicht nur erleichtern, sondern ermöglichen darüber hinaus auch an der Schnittstelle von Sprach- und Übersetzungsgeschichte eine genauere Rekonstruktion sprachhistorischer Prozesse.

3. Drei Beispiele: Übersetzung im französischen Mittelalter Werfen wir zunächst einen Blick auf die ausgewählten Texte von Jean de Meun, Pierre Bersuire und Nicolas Oresme, um ausgehend von diesen Beispielen erneut die Frage nach der Bedeutung der Übersetzung für sprachhistorische Prozesse zu stellen. Vorab sind einige Dinge zu klären: Wie ist im Fall der mittelalterlichen Übersetzung das Verhältnis zwischen dem „Originaltext“ der Ausgangssprache A und seiner Übertragung in die Zielsprache B näher zu fassen? Nach übersetzungswissenschaftlichem Verständnis bilden Text (A) und Text (B) die Bezugsgrößen für die Eruierung der sie miteinander verbindenden Äquivalenzrelation sowie der dieser entsprechenden Invarianten 5 und Übersetzungsverfahren. Aus der Perspektive der Editionsphilologie ist dieses Verhältnis für die mittelalterlichen Texte allerdings so einfach nicht zu sehen. Die Debatte um die Fragen, wer unter der Berücksichtigung der Tradierung eines Textes eigentlich als dessen Urheber anzusehen sei oder inwieweit die uns heute vorliegende(n) Version(en) überhaupt als authentisch oder als ein bloßes, durch die Geschichte seiner Edition bedingtes Konstrukt gelten kann/können, 6 betrifft im Falle der Übersetzung nicht nur den ausgangssprachlichen, sondern 4 Vgl. Kabatek 2005: 64-67. 5 Zu Äquivalenz und Invarianz in der Übersetzungswissenschaft vgl. Albrecht 2005: 30-39. 6 Vgl. dazu Gleßgen/Lebsanft 1997: 8-11.

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auch den zielsprachlichen Text, ist also noch einmal komplizierter als ohnehin schon. Des Weiteren ist zu fragen, wie die Übersetzer selbst ihre Arbeit verstehen und kommentieren. Wie sehen sie die Beziehung zwischen dem Text, den sie übertragen und dem Resultat ihrer Arbeit? Inwieweit lassen sich implizit oder explizit die Invarianten und die diesen entsprechenden Verfahren aus ihrer Übersetzung herleiten? Wie definieren sie den Zweck, den ‚Skopos‘ 7 ihrer Übersetzung? Auf welche zielsprachlichen Modelle können sie gegebenenfalls bei ihrer Arbeit zurückgreifen? Bei den genannten drei Beispielen handelt es sich ausnahmslos um vertikale Übersetzungen von Sachtexten, d.h. um Übertragungen aus einer der prestigereichen klassischen Sprachen in eine Volkssprache. Solche ‚volgarizzamenti‘ 8 von antiken Texten sind häufig Auftragsarbeiten, 9 deren erste Funktion der Wissenstransfer ist. In den ‚volgarizzamenti‘ werden zwei Einzelsprachen miteinander in Beziehung gesetzt, zunächst lexikalisch und syntaktisch, darüber hinaus aber auch auf der Ebene des Textes im Sinne von Coseriu: Le processus de vulgarisation ne concerne pas seulement la dimension linguistique – le niveau lexical et syntaxique – mais dans beaucoup de cas, l’adaptation d’un savoir spécifique à un public moins instruit comporte aussi le recours à des formes textuelles ‚simplifées‘ (Wilhelm 2008: 2). 10

Anders als die früheren, an der Schwelle des Übergangs zur Schriftlichkeit aus lateinischen Vorlagen entstandenen Adaptationen sind die Texte von de Meun, Bersuire und Oresme in den mittelalterlichen Ausbauprozess des Französischen selbst involviert. Wegen der komplexen Überlieferungsgeschichte der lateinischen Vorlagen steht bei keinem der genannten Übersetzer fest, auf welche ausgangssprachliche Textbasis sich die jeweilige Übertragung gründet. Die Textgeschichte der zielsprachlichen Versionen ist nicht weniger kompliziert: in keinem Fall liegt uns ein Autograph vor. 11 Übersetzungskritik im heutigen Verständnis auf der Grundlage eines direkten Vergleichs des Ausgangstextes mit

7 Zum Skoposbegriff in der Übersetzungsforschung vgl. Reiß/Vermeer 1984: 95-104. 8 Zu Begriff und Geschichte der ‚volgarizzamenti‘, vgl. u.a. Segre 1953, Folena 1991; speziell zum ‚volgarizzamento‘ Jean de Meuns vgl. Folena 1991: 21-24. 9 Auftraggeber war Jean I, comte d’Eu, im Falle von de Meun, Jean le Bon im Fall von Bersuire und Oresmes Auftraggeber war Charles V. 10 Weitere interessante Fragen eröffnen sich, wie Wilhelm ausführt, mit der Frage nach den medialen Bedingungen des mittelalterlichen Wissenstransfers: „Les tableaux, les roses, les schémas en forme d’arbre qui jalonnent nos manuscrits d’oeuvres scientifiques sont là pour confimer: ces moyens graphiques reflètent la volonté de visualiser des systèmes de savoir parfois très élaborés“ (Wilhelm 2008: 3). 11 Vgl. dazu Löfstedt in Jean de Meun 1977: 7-11, Monfrin 1962, 359-74, Menut 1940: 36-44.

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seiner Übersetzung 12 ist bei diesen Texten folglich nicht möglich, sondern allenfalls approximativ zu leisten, da ein „Originaltext“ im eigentlichen Sinn nicht vorliegt und auch bei den Übersetzungen in jedem Fall eine komplexe Tradierung vorauszusetzen ist. Die in Herausgebervorworten und in historischen Studien von einzelnen Übersetzungen zum Zweck des Vergleichs übliche Hinzufügung einer lateinischen Version hat somit in erster Linie demonstrative Funktion. Im Grunde handelt es sich hier um idealisierende Analysen. 3.1. Übersetzung als Ausdruck des Sprachbewusstseins

Prologe von Übersetzungen sind für sprachhistorische Belange insofern besonders aufschlussreich, als sich der Übersetzer in ihnen in Bezug auf den ausgangssprachlichen Text und die eigene Aufgabe positioniert. Obwohl das Selbstverständnis von de Meun, Bersuire und Oresme in diesem Punkt zunächst vergleichbar ist – alle drei verbinden mit ihrer Loyalitätsbekundung gegenüber ihrem Auftraggeber die Erklärung, durch ihre Übersetzung den Zeitgenossen sprachlich nicht (mehr) zugängliches Wissen verfügbar zu machen – zeigen sich in ihrer Einstellung angesichts der sprachlich-diskursiven Anforderungen der zu übertragenden Texte erhebliche Unterschiede. De Meun bezieht aus der Parallelisierung der schriftlichen Fixierung von Wissen für den antiken Herrscher mit der Tradierung von Wissen durch Übersetzung das Bewusstsein der Gleichwertigkeit seiner Arbeit mit der der antiken Schriftsteller: Par ceste semblance sui ge esmeuz et quant ie regart vostre debonaireté qui plus puet pardoner au hardement des escrivains que nus autres, de tant me sembla il que ie pooie bien pres d’aussi seurement escrire comme li ancien escrivain, et senti a poine que ie fusse plus bas ou mendres qu’il ne furent (1977: 69).

Demgegenüber bekundet sich in Bersuires Prolog eine eher demütige Haltung: combien que la tres haute maniere de parler et la parfonde latinité que a le dit aucteur soit excedent mon senz et mon enging […] ay je pris le labur de la translater pour obéïr a vous, qui estes mon seigneur (zit. nach Monfrin 1962: 360).

Als besonders schwierig für die Übersetzung hebt er die „constructions trenchiees et brieves“ (zit. nach Monfrin 1962: 360) des Lateinischen hervor, die den Zeitgenossen kaum verständlich seien. Oresme, der, des Griechischen nicht kundig, aus dem Lateinischen übersetzt, nimmt seine Aufgabe zunächst unter dem Aspekt der involvierten Einzelsprachen in den Blick. Das Lateinische betrachtet er zwar als dem Französischen

12 Vgl. dazu Albrecht 1999: 227-233.

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seiner Zeit gegenüber vollkommener, das Französische sei jedoch auch eine edle und vor allem ausbaufähige Sprache: Mais se Dieux plaist, par mon labeur pourra estre mieulx entendue ceste noble science et ou temps avenir estre bailliee par autres en françois plus clerement et plus complectement. Et, pour certain, translater telz livres en françois et baillier en françois les arts et les sciences est un labeur moult proffitable; car c’est un langage noble et commun a genz de grant engin et de bonne prudence (Oresme 1940: 101).

3.2. Übersetzen als diskursive Praxis

Wenngleich die mittelalterlichen Übersetzer, wie Buridant bemerkt, das Übersetzen noch nicht als einen „exercice en soi“ begreifen (Buridant 1983: 89), so finden sich doch sowohl in den Prologen wie auch in den Übersetzungen selbst metadiskursive Reflexionen, die sich auf die generelle Haltung gegenüber dem ausgangssprachlichen Text, die Textgattung, das Register 13 oder besondere Übersetzungsschwierigkeiten beziehen. De Meun, Buridant und Oresme betonen insbesondere den fachsprachlichen Charakter des zu übertragenden Textes: Nicht „biauté de parole“, sondern ein „travail ententif et leal“ sei gefordert, heißt es kurz bei de Meun (1977: 69); Bersuire verweist auf die „estranges moz“ des ausgangssprachlichen Textes (zit. nach Monfrin 1962: 360); Oresme definiert seine Position als Übersetzer demgegenüber wesentlich differenzierter: D’autre partie, une science qui est forte quant est de soy ne puet pas estre baillee en termes legiers a entendre. Mais y convient souvent user de termes ou de moz propres en la science qui ne sont pas communelment entendus ne cogneüs de chascun. Mesmement quant elle n’a autre fois esté traictiee et exercee en tel langage. Et telle est ceste science ou regart de françois. Par quoy je doy estre excusé en partie se je ne parle en ceste matiere si proprement, si clerement et si ordeneement comme il fust mestier; car, avec ce, je ne ose pas esloingnier mon parler du texte de Aristote, qui est en pluseurs lieux obscur, afin que je ne passe hors son intencion et que je ne faille (Oresme 1940 : 100 f.).

Dieser kurze Passus enthält einige bemerkenswerte Beobachtungen: Eine Wissenschaft bedarf einer Terminologie, die nicht jedermann verständlich sein kann; dies betrifft ebenfalls die Übersetzung eines fachsprachlichen Textes, und zwar auch dann, wenn es in der Zielsprache noch keine etablierte Terminologie gibt, wie es für die Philosophie im Französischen der Fall ist. Die möglichen Defizite seiner Übersetzung verortet Oresme jedoch nicht allein auf der Ebene des Wortschatzes, sondern auch auf der Ebene der Diktion („proprement“, „clerement“) und der Gedankenordnung („ordeneement“). Diese eventuellen 13 Unter ‚Register‘ sind hier „die einzelsprachliche[n] Mittel als Bestandteile von Texttraditionen“ zu verstehen (Lebsanft 2005: 33).

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Mängel sind seinen Worten zufolge einerseits zurückzuführen auf den unzureichenden Ausbau der französischen Sprache, andererseits auf seine Bemühung, die Absicht des Verfassers in der Übersetzung wiederzugeben, auch wenn diese nicht immer deutlich sei. Die bekundete Respektierung der ausgangssprachlichen Vorlagen kann umso mehr erstaunen, als es den mittelalterlichen Übersetzern von Sachtexten gar nicht darum geht, einen etwa als unantastbar angesehenen „Originaltext“ (wie auch immer die Quellenlage jeweils beschaffen sein mochte) als solchen in der Zielsprache wiederzugeben. Sowohl bei de Meun wie auch bei Bersuire handelt es sich um amplifizierende Übersetzungen oder Bearbeitungen in dem Sinne, dass ganze Textpassagen aus Kommentaren und anderen Texten ins Französische übertragen und in den zielsprachlichen Text eingefügt werden. Im Falle von de Meun sind nicht alle Zusätze in ihrer Herkunft identifiziert, z.T. stammen sie aus dem Roman de Thèbes, dem Roman d’Alexandre und den Fet des Romains. (vgl. Löfstedt in Jean de Meun 1977: 11 f.); 14 Bersuire hat seinen Text insbesondere durch die Kommentare von Nicolas Trevet zu Titus Livius erweitert (vgl. Monfrin 1962: 374); Oresmes Version ist unter Verwendung verschiedener lateinischer Versionen der Aristotelischen Ethik sowie der Kommentare von Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Walter Burley und Jean Buridan entstanden (vgl. Menut in Oresme 1940: 36-44). „Treue“ des Übersetzers bedeutet bei den Sachtexten folglich keineswegs eine dem Wortlaut des Ausgangstext möglichst dicht folgende Übertragung, sondern vielmehr Loyalität gegenüber dem Übersetzungsauftrag, d.h. Wissenstransfer im Sinne einer im Hinblick auf das zeitgenössische Wissen „adaptierenden“ Bearbeitung. Die Bearbeitung betrifft zunächst die Auswahl der in die zielsprachliche Version jeweils eingehenden, aus verschiedenen Quellen stammenden Textfragmente, darüber hinaus äußert sie sich in deren Arrangement und in den diskursiven Strategien, die dieses Arrangement begleiten. Bersuire ist der erste, der seinem Text ein Glossar mit den verwendeten fachsprachlichen und enzyklopädischen Erläuterungen hinzufügt, was von späteren Übersetzern nachgeahmt wird; und Oresme setzt in der volkssprachlichen Gestaltung des Fachtextes eine Reihe von Verfahren ein, die ihm, wie Stempel ausführt (Stempel 1987: 13-21), z.T. aus den lateinischen Texten bekannt sind: Abkürzungen, Zitate mit Quellenangaben, etymologische Erläuterungen, dazu „Relativierung des eigenen Kenntnisstands“, Erklärungen zum Textinhalt und wie Bersuire ein Glossar, eine „table des moz divers et estranges“.

14 Die freie Bearbeitung der lateinischen Ausgangstexte zeigt sich nicht nur in den Hinzufügungen, sondern auch in den Auslassungen, zu de Meun vgl. Robert in de Meun 1897: XXXVIII-XLI.

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3.3. Wortschatz

Die im Zuge der volkssprachlichen Bearbeitung von Sachtexten entstandenen lexikalischen Innovationen beruhen auf einer Reihe von Verfahren, die hinlänglich bekannt sind: Latinismen, terminologische Fixierung eines gemeinsprachlichen Lexems, Lehnübersetzung sowie Derivation und Komposition auf der Grundlage von griechischen und lateinischen Lexemen bzw. Morphemen (vgl. u.a. Taylor 1965, Stempel 1987: 29, Monfrin 1962: 375-385). 15 Im Hinblick auf den lexikalischen Ausbau von Einzelsprachen hat solchen Neuschöpfungen immer ein besonderes Interesse gegolten. Dazu ist zu sagen, dass aufgrund der bisweilen sehr spezifischen, im Falle von Titus Livius und Vegetius der römischen Geschichte und dem römischen Heerwesen zuzuordnenden Sachgebiete und Realienbenennungen die ihnen entsprechenden volkssprachlichen Äquivalente, auch wenn sie z.T. an die zeitgenössische Wirklichkeit angepasst wurden, allenfalls in den Randbereichen des Lexikons, d.h. in den Fachwortschätzen von Bestand sein konnten. Anders verhält es sich bei Oresme: Ihm werden 450 neue Wörter zugeschrieben, von denen eine Reihe in die französische Gemeinsprache eingegangen ist. 16 Allerdings stammt – so Taylor – nur ein Drittel dieser Neuprägungen aus den Übersetzungen; auch wenn sie zum ersten Mal in den Texten Oresmes belegt seien, lasse dies im Übrigen nicht den Schluss zu, dass sie tatsächlich ausnahmslos durch ihn gebildet worden seien (Taylor 1965: 727). 3.4. Syntax

Die Übersetzer des Mittelalters verfügen noch nicht über syntaktische Strukturmuster, auf die sie bei der Reformulierung ihrer Vorlagen hätten zurückgreifen können. 17 So weist die syntaktische Wiedergabe der lateinischen Sätze unabhängig von ihrer Beschaffenheit in den ausgangssprachlichen Texten grundlegende Unterschiede in den verschiedenen Übersetzungen auf. De Meun löst sich weitgehend von der lateinischen Syntax und es gelingt ihm, Sätze „à l’allure 15 Im Falle von de Meun sind sich die Kommentatoren einig, dass z.T. wegen mangelnder Sachkenntnis seine Terminologie die lateinische von Vegetius häufig verfälscht (miles wird zu chevalier!) oder unklar wiedergibt: bataille als Äquivalent von acies, bellum, expeditio, ordo, pugna etc. (vgl. Löfstedt in de Meun 1977: 8; Robert in de Meun 1897: XXII-XXXI). Zur Terminologiebildung von Oresme vgl. Ducos 2008: 20. 16 U.a. complication, communication, abstraction, distraire, décorer, scientifique, vgl. dazu Heinz 2003: 64f. 17 Bruneau bemerkt in seinem Aufsatz zur „Phrase des traducteurs au XVIe siècle“, dass bis zum Ende des 16. Jh. keine „conception d’une phrase logique et harmonieuse“ vorgelegen habe: „[…] il n’existe pas un certain nombre de types de phrases préétablis où les idées (et, dans un récit, les faits) peuvent se ranger de façon plus ou moins automatique“ (Bruneau 1951: 281).

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française“ zu bilden (vgl. Löfstedt in de Meun 1977: 9). Dazu – trotz der idealisierenden und somit nicht unproblematischen Gegenüberstellung – wenigstens ein kurzes Beispiel: Violenta autem impugnatio quando castellis vel civitatibus praeparatur, mutuo utrimque periculo sed maiore oppugnantium sanguine exercentur luctuosa certamina (Vegetius 2004: 131f.). Quant len apareille fort assaut aus chastiaux ou aus citéz, il sont em perill d’une part et d’autre, mais comment qu’il aille de leur plours, plus i perdent de sanc li assaillant que li assailli (de Meun 1977: 172).

Der Inhalt des lateinischen Satzes wird paraphrasiert, durch Hinzufügungen ergänzt und in eine neue syntaktische Form gebracht, wobei die lateinischen Konjunktionen quando und sed in quant und mais erhalten bleiben. Die Informationsstruktur wird durch den Wechsel vom Passiv ins Aktiv verändert. Bersuire tut sich schwer, Integration und syntaktische Kohäsion der lateinischen Ausgangstexte im Französischen angemessen nachzubilden. Wie Rychner zeigt, werden transphrastische Verbindungen häufig nicht angemessen zum Ausdruck gebracht (vgl. Rychner 1963: 245-249); Subordination des lateinischen Satzes wird durch Koordination in der französischen Version ersetzt (Rychner 1963: 249-263). Auch dazu ein Beispiel: Interim Tullus ferox praecipue morte regis, „magnumque deorum numen ab ipso capite orsum in omne nomen Albanum expetiturum poenas ob bellum impium“ dictitans, nocte praeteritis hostium castris, infesto exercitu in agrum Albanum pergit. Quant Tulles ot oy dire pour certain que li roys albin estoit mort, il fu plus fiers que devant et li sembla bien que la souverainne puissance des dieux, qui ja avoit commencié au chief de ses anemis, demanderoit venjance contre tout le nom albin de la bataille indeument emprise. Si se leva Tulles par nuit et trespassa avecques son ost les tentes de ses anemis et se loga ou champ des Albins (Rychner 1963: 250).

Dieser Passus zeigt zunächst einmal eine stark interpretierende und amplifizierende Vorgehensweise – so werden „quant Tulles ot oy dire pour certain que“, „il fu plus fiers que devant“, „qui ja avoit commencié au chief de ses anemis“ und „si se leva Tulles“ hinzugefügt; das Zitat entfällt in der Übersetzung; die Partizipialkonstruktionen werden aufgelöst und die von „pergit“ abhängige Hypotaxe wird in zwei komplexe Sätze mit Koordination umgewandelt. Obwohl die Übersetzung Bersuires insgesamt als schwerfällig und nicht leicht verständlich gilt, hat sie modellhaft wirken und einen Weg bahnen können für weitere Übertragungen aus dem Lateinischen unter Jean le Bon und Charles V. 18 18 Dazu heißt es bei Monfrin: „Cette traduction est loin d’être un chef d’œuvre; il n’y manque ni contresens de phrases ou de mots, ni erreurs grossières quand il s’agissait de rendre, dans un

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Auch bei Oresme finden wir ein paraphrasierendes und zugleich amplifizierendes Übersetzen, wobei er die syntaktischen Beziehungen des lateinischen Textes zu explizieren versucht: Existente autem requie in vita, et in hac conversatione, cum ludo, videtur et hic esse collocatio quaedam consona, et qualia oportet dicere, et ut oportet, similiter autem et audire. Differt autem in dicendo in talibus, vel talia audire. Manifestum autem quoniam circa hoc est et superabundantia quaedam, et defectus medii. (zit. nach Menut 1940: 75) Comme il soit ainsi que en ceste vie et en conversacion humaine un repos soit en gieu ou en esbatement, pour ce est il en teles choses une maniere de parler et de soy avoir avecques les autres qui se acorde a raison ; par quoy l’en dit en gieu choses qui appartiennent a dire et si comme il appartient. Et semblablement quant a oïr ou escouter. Car il a grant difference en tele matiere entre parler ou dire aucunes choses et les oïr ou escouter. Et donques est il manifeste que vers tele chose peut estre superhabondance et deffaute ou resgart du moien (Oresme 1940: 270).

Die Auswahl der satzeinleitenden Konjunktionen/Ausdrücke (comme, pour ce, par quoy , car, donques) verdeutlicht, dass Oresme den zu übersetzenden Text in der zielsprachlichen Version in einen strengeren argumentativen Duktus zu überführen versucht, der dem Leser die Erfassung der gedanklichen Zusammenhänge der Aristotelischen Ethik erleichtern soll.

4. Perspektiven und Desiderata Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den skizzierten Beobachtungen und Überlegungen für das Verhältnis von Sprachgeschichte und Übersetzung ziehen? In den vergangenen Jahren ist anlässlich von Kongressen und in mehreren Publikationen für eine neue Sprachgeschichtsschreibung in der Romanistik plädiert worden, die nicht mehr nur teleologisch auf die Dokumentation der Herausbildung von Standardsprachen ausgerichtet sein sollte, sondern auf der Grundlage einer kohärenten Theorie auch auf die Erforschung von varietätenlinguistischen Entwicklungen innerhalb einer Einzelsprache sowie auf die Geschichte von Diskurstraditionen. 19 Im Rahmen einer in diesem Sinne breiter ausgelegten Historiographie könnte die Untersuchung von Übersetzungen, die ja ein breites Spektrum von Textgattungen und Sprachstilen abdecken, français qui n’est souvent qu’un décalque du latin, des idées et des choses particulières aux temps lointains de la République. Néanmoins, elle a ouvert la voie à d’autres traductions d’auteurs latins qui, après elle, se sont multipliées en France sous les règnes de Jean le Bon et de Charles V“ (vgl. Monfrin 1962: 429). 19 Lebsanft 2003, Aschenberg/Wilhelm 2003, Kabatek 2006, Hafner/Oesterreicher 2007.

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insbesondere im Hinblick auf die Herausbildung von schriftsprachlichen Registern und Textgattungen von großem Interesse sein. Wie unsere Beispiele aus dem Bereich der mittelalterlichen Sachtexte gezeigt haben, sind Übersetzungen grundsätzlich – dazu gehören auch die frühen Formen wie Glossen und Bearbeitungen – bedeutsame Dokumente des zeitgenössischen Sprachbewusstseins. Darüber hinaus werden gerade in der Transformation der Ausgangstexte sprachliche Verfahren deutlich, die den bewussten Umgang mit der Zielsprache angesichts der Gegebenheiten der Textvorlagen dokumentieren. Wichtig erscheint es mir, zunächst von bestimmten Textgattungen innerhalb verschiedener Kommunikationsbereiche auszugehen (wie etwa Religion, Recht, Wissenschaft, Literatur, Alltag) und diese in ihrer historischen Entwicklung epochenübergreifend in den Blick zu nehmen. Dabei wäre etwa zu untersuchen, a) auf welchen Textgrundlagen und auf welchem Textverständnis die Arbeit der Übersetzer basiert; b) welche orthographischen, lexikalischen, syntaktischen, pragmatischen und ästhetischen Verfahren sie in der Auseinandersetzung mit den ausgangssprachlichen Vorlagen wählen; c) inwieweit ihr Vorgehen zeitgenössische Text- und Übersetzungspraktiken reflektiert oder zur Erneuerung bzw. Etablierung derartiger Praktiken beiträgt, sowohl hinsichtlich der schriftsprachlichen Register wie auch der Diskurstraditionen, denen sie zuzuordnen sind; 20 hier wäre der von Koller (²1998) geforderte Textvergleich notwendig; d) schließlich könnte im Ausgang von herausragenden Übersetzungen durch Korpusanalysen zumindest selektiv überprüft werden, welche Lexeme, Phraseologismen, grammatikalischen Ausdrucksmittel und syntaktischen Strukturmuster auf Übersetzungen zurückgeführt werden können und/oder inwieweit diese aufgrund ihrer Frequenz die Rekurrenz und Konventionalisierung derartiger Phänomene befördert haben. Ein weites Forschungsfeld tut sich hier auf, das zunächst sicherlich nur exemplarisch bearbeitet werden kann. Bleibt zu wünschen, dass es viele Neugierige findet!

20 Vgl. dazu insbesondere die oben mehrfach erwähnten Studien von Rychner 1963 und Stempel 1987.

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Bibliographie Quellentexte Bersuire, Pierre: Tite-Live. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b6001280q/f1.image) Meun, Jean de (1897): L’art de chevalerie. Traduction du De re militaris de Végèce. Publié par Ulysse Robert. – Paris: Firmin Didot. Meun, Jean de (1977): Li abregemenz noble honme Vegesce flave René des establissemenz apartenanz a chevalerie. Traduction par Jean de Meun de Flavii Vegeti Renati viri illustris Epitoma institutorum rei militaris. Édition critique avec introduction et commentaire par Leena Löfstedt. – Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia. Oresme, Nicolas (1940): Le livre de ethiques d’Aristote. Published from the Text of MS. 2902 [Bibliothèque Royale de Belgique] by Albert Douglas Menut. – New York: Stechert. Vegetius Renatus, Flavius (2004): Epitoma rei militaris. Edited by M. D. Reeve. – Oxford: Clarendon Press.

Studien Albrecht, Jörn (1995): Der Einfluss der frühen Übersetzertätigkeit auf die Herausbildung der romanischen Sprachen. – In: Christian Schmitt, Wolfgang Schweickard (Hg.): Die Romanischen Sprachen im Vergleich. Akten der gleichnamigen Sektion des Potsdamer Romanistentages (27.-30.09.1993), 1-20. Bonn: Romanistischer Verlag. Albrecht, Jörn (1999): Die literarische Übersetzung. Geschichte, Theorie, Kulturelle Wirkung. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Albrecht, Jörn (2003a): Die Berücksichtigung des Faktors ‚Übersetzung‘ in der Sprachgeschichtsschreibung. – In: Alberto Gil, Christian Schmitt (Hg.): Aufgaben und Perspektiven der romanischen Sprachgeschichte im dritten Jahrtausend, 1-37. Bonn: Romanistischer Verlag. Albrecht, Jörn (2003b): Können Diskurstraditionen auf dem Wege der Übersetzung Sprachwandel auslösen? – In: Heidi Aschenberg, Raymund Wilhelm (Hg.): Romanische Sprachgeschichte und Diskurstraditionen, 37-52. Tübingen: Narr. Albrecht, Jörn (2006): Übersetzen und Sprachgeschichte. Übersetzungen ins Französische und Okzitanische. – In: Gerhard Ernst, Martin-Dietrich Gleßgen, Christian Schmitt, Wolfgang Schweickard (Hg.): Romanische Sprachgeschichte, 1386-1403. Berlin/New York: de Gruyter (HSK 23/2). Albrecht, Jörn (2007): Bedeutung der Übersetzung für die Entwicklung der Kultursprachen. – In: Harald Kittel, Armin Paul Frank, Norbert Greiner et al. (Hg.): Übersetzung – Translation – Traduction, 1088-1108. Berlin/New York: de Gruyter (HSK 26/2). Aschenberg, Heidi / Wilhelm, Raymund (Hg.) (2003): Romanische Sprachgeschichte und Diskurstraditionen. – Tübingen: Narr. Baldinger, Kurt (1975): Zum Übergang von der lateinischen zur französischen Fachterminologie im 14. Jahrhundert. – In: Zeitschrift für Romanische Philologie 91, 485-490.

Sprachgeschichtsschreibung und Übersetzung – eine Skizze

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Heidi Aschenberg

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Monika Schmitz-Emans Das Wörterbuch als literarisches Format – Zu Spielformen und Poetik diktionaristischer Schreibweisen

1. Alphabetisches Die alphabetische Anordnung schriftlich vermittelter Informationen ermöglicht flexible Zugänge zu großen Wissensmengen. Dies gilt auch für das Wissen über Wörter, das dort, wo es um große Wortbestände geht, zweckmäßigerweise im Wörterbuchformat dargeboten wird. Im Zeitalter der alphabetisierten Wissenskompendien ist zwischen Sach-Enzyklopädien und Wörterbüchern im Übrigen nicht mehr trennscharf zu unterscheiden – werden die Dinge doch in ersteren am Leitfaden ihrer Namen präsentiert, oft eingeleitet durch Worterläuterungen, 1 während letztere in der Regel auch ‚Weltwissen‘ enthalten. Gerade alphabetische Kompendien machen sinnfällig, dass Wortwissen und Sachwissen letztlich ohne das jeweils andere nicht auskommen. 2 – Zu literarischen Texten und Schreibweisen unterhalten Wörter- und Sachlexika auf mehr als einer Ebene enge Beziehungen. So basieren Wörterbücher zu erheblichen Teilen auf der Auswertung kanonisierter literarischer Texte. Zudem sind sie natürlich oft nützlich, wenn es um die Lektüre literarischer Texte geht. 3 Umgekehrt profitieren literarische Autoren – oft explizit und ostentativ – von der 1 Ulrike Haß fasst unter dem Begriff ‚Lexikon‘ Wörterbücher und kulturbezogene Informationen wie Enzyklopädien und Lexika zusammen; zugleich verweist sie auf unterschiedliche Tendenzen hinsichtlich deren Differenzierung oder Entdifferenzierung. Es scheine, so Haß, „dass in nordeuropäischen Kulturen Wörterbücher und Enzyklopädien stärker unterschiedene Textmuster ausgebildet haben als in der Romania, wo Mischformen bzw. konvergente Textmuster sehr populär sind“, und sie verweist auf die „Enciclopedia Italiana“ als Beispiel für die „anhaltende Popularität von Mischformen, bei denen sprachliches Wissen in eine Enzyklopädie integriert wird und nicht umgekehrt“ (Haß 2012: 1). – Auffällig viele der folgenden Beispiele literarischer Diktionaristik entstammen der Romania. 2 An der Unterscheidung von Sachwissen und Wortwissen möchte D’Alembert im Artikel „Dictionnaire“ der Enzyklopädie zwar festhalten, doch er selbst stellt diese Differenzierung dann auch gleich wieder in Frage (D’Alembert 1754: 958. Vgl. dazu Kilcher 2003: 218). 3 Vgl. dazu Lebsanft 2012: 73.

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Benutzung alphabetischer Lexika, erzählen etwa von deren Benutzung, konstruieren intradiegetische Welten aus ihren Lexikonlektüren – und geben ihren Texten womöglich gar die Form lexikographischer Kompendien. Alphabetischdiktionaristische Formen werden vor allem in der jüngeren Literatur auf vielfältige Weisen erkundet und zur Auseinandersetzung mit zentralen Themen literarischen Schreibens genutzt. Die Wahl der alphabetischen Artikelfolge als solche indiziert dabei bereits ein hohes Maß an Selbstreflexivität.

2. Aufklärung Voltaire versteht im Vorwort seines Dictionnaire philosophique portatif die asemantische Ordnung des Alphabets als Ausdruck der Ablehnung dogmatischer Inhalte, insbesondere theologisch fundierter Bedeutungs- und Sinnmuster. Damit verdeutlicht er den inneren Zusammenhang zwischen Aufklärung und der Form des alphabetischen Kompendiums 4 – einen Zusammenhang, der auch und gerade für manch rezentes literarisches Experiment dieser Form prägend ist. Die Arbitrarität der Anordnung des alphabetisierten Wissens wird als Chance begriffen, frei und selbstbestimmt mit diesem umzugehen. Vorreden zu alphabetisierten Wörterbüchern der Aufklärung heben dies schon früh hervor. In Christian Heinrich Schmidts Verzeichniß der in deutscher Sprache verfaßten Real-Wörterbücher über Wissenschaften und Künste heißt es, solche Wörterbücher machten es möglich, „frey von allen Banden der Systeme, über einzelne Materien raisoniren zu können“. 5 – Philosophisch-kritische Reflexionen, die erkennbar in der Tradition der Aufklärung stehen, bedienen sich bis heute gern der Form alphabetisch gereihter Artikel. Georges Bataille, Michel Leiris und diverse Kollegen aus dem Kreis Pariser Avantgardisten und Ethnologen widmeten sich über eine Reihe von Jahren einem einschlägigen Projekt. 6 Rezentere Beispiele bieten Rainer Maria Kiesow mit seinem diskurskritischen Alphabet des Rechts (2004) 7 und Andreas Urs Sommer mit Die Kunst, selber zu denken. Ein philosophischer Dictionnaire (2002). – Mit ihrem Alphazet stellen sich auch Ulrich Schödlbauer und Paul Mersmann in die Tradition des

4 Vgl. Haß 2012: 3, die daran erinnert, dass bis in die Frühaufklärung hinein Enzyklopädien vielfach nicht alphabetisch, sondern entsprechend einer unterstellten Ordnung der „Sachen“ und der Wissensinhalte selbst aufgebaut waren. Erst als mit der Aufklärung „das fraglose Gebäude des Wissens ins Wanken“ gerät, setzt sich „das sinn-lose Alphabet als einzig mögliches Anordnungskriterium“ durch (ebd.). 5 Christian Heinrich Schmidt: Verzeichniß der in deutscher Sprache verfaßten Real-Wörterbücher über Wissenschaften und Künste, 1061 (zit. bei Kilcher 2003: 225). 6 Vgl. dazu: Bataille et al. 1995, Kiesow/Schmidgen 2005. 7 Vgl. auch Kiesow 2005: 9-18.

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aufklärerisch-kritischen Dictionnaire. 8 Haben diktionaristische Schreibexperimente auch vielfach eine dezidiert ludistische Komponente, so signalisieren sie ebenso oft (und manchmal in enger Verbindung mit ersterer) ihre Bindung an das bis heute nicht abgeschlossene und unabschließbare Projekt „Aufklärung“.

3. „Autor?“ Der für die Literatur und die Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte maßgeblichen (teils kritischen, teils re-affirmativen) Diskussion über Autorschaftskonzepte tragen diktionaristische Schreibweisen auf eigene Weise Rechnung. „Ein philosophischer Dictionnaire ist gewissermaßen ein Gefechtsjournal […] imaginärer Privatkriege gegen sich selbst. Aber vielleicht doch nicht nur gegen sich selbst“ – so Andreas Urs Sommer (2002: 56f.). Wie lässt sich die Instanz charakterisieren, die sich schreibend der Form des Wörterbuchs bedient? Ist sie Sommers Bemerkung zufolge immerhin ein Subjekt, allerdings eins, das mit sich selbst im Widerstreit liegt, sehen andere Liebhaber der Wörterbuch-Form in der Instanz des Wörterbuchverfassers einen Gegenentwurf zur tradierten Autorfigur. Roland Barthes nimmt das Wörterbuchformat zum Anlass, den Begriff des scripteur an die Stelle des auteur-Begriffs treten zu lassen – und zwar unter Verweis auf Flauberts Dictionnaire. 9 Im Wörterbuch, wie er es durch dieses Projekt repräsentiert sieht, artikuliert sich kein souveräner auktorialer Sprachbenutzer, sondern ein Sammler sprachlicher Bestände. Kein Subjekt beherrscht die Bedeutungen der Wörter und agiert dementsprechend als Kommentar und Kontrolleur, sondern Wörter werden allein durch andere Wörter erklärt. 10 So betrachtet, dokumentiert gerade das Wörterbuchverfassen einen programmatisch anti- oder postauktorialen Schreibgestus. Ob dies aber generell der Intention literarischer Verfasser von Wörterbüchern entspricht, wäre mit Blick auf Beispiele wie die von Fuentes, Sommer, Ugrešić, u.a. zumindest zu fragen (→ Aufklärung, Fictionary, Persönliches Wörterbuch).

8 Mersmann/Schödlbauer [o.J.]. 9 Vgl. Kilcher 2003: 198. 10 „[…] les mots ne peuvent s’expliquer qu’à travers d’autres mots […]; succédant à l’Auteur, le scripteur n’a plus en lui passions, humeurs, sentiments, impressions, mais cet immense dictionnaire où il puise une écriture qui ne peut connaître aucun arrêt: la vie ne fait jamais qu’imiter le livre, et ce livre lui-même n’est qu’un tissu de signes, imitation perdue, infiniment reculée“ (La mort de l’auteur (1968). – In: Barthes 1995b: 491-495, 494).

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4. Barthes Roland Barthes hat sich mehrfach auf mehr oder weniger verdeckte Weise alphabetischer oder durch das Alphabet geprägter Schreibweisen bedient; er hat sich zu diesen (und zum Alphabet) explizit geäußert; er hat maßgeblich auf die Interpretation und Kontextualisierung solcher Schreibweisen eingewirkt – und er dürfte rezenten Verfassern diktionaristischer Literatur maßgebliche Anregungen gegeben haben. 11 In den 1970er Jahren entstanden mehrere Texte, denen – offen oder verdeckt – die Form eines alphabetischen ‚Dictionnaire‘ zugrunde liegt: Le plaisir du texte (1973), 12 ROLAND BARTHES par roland barthes (1975), 13 Fragments d’un discours amoureux (1977). 14 Posthum veröffentlicht wurden die Variations sur l’ecriture (entstanden 1973), 15 deren einzelne Artikelgruppen alphabetisch angeordnet sind. Für alle diese Werke ist die rahmende Thematik verbindend: Es geht um Sprache, Sprechen, Schreiben, die Wörter, den Diskurs – und um die Beziehung des Sprachbenutzers zur Welt der Wörter. Repräsentativ für Barthes’ Reflexionen über Texte, Schreibweisen, Lektüren und Literatur insgesamt, ist auch und gerade der Umgang mit dem Lexikographischen geprägt durch einen Diskurs der ‚Befreiung‘, ‚Mobilisierung‘ und ‚Subversion‘. Akzentuiert wird das Anti-Systematische, das Un-Geregelte, die Emanzipation von Systemzwängen, die Überschreitung der bloßen Denotation zugunsten der Polyvalenz, das Unterlaufen von Identifizierungen qua ‚Feststellungen‘, die ‚Offenheit‘ entsprechender Schreibweisen. Ein Sinn für das Spielerische, eine Emanzipation von Systemzwängen dokumentiert sich in Form von Artikelsequenzen in ostentativ loser Folge. Konzepte der ‚Mobilisierung‘, ja der ‚Lebendigkeit‘ sowie die Affinität zum Vieldeutigen und Deutungsoffenen sind gerade hier leitend. Lektüren und Lebenserfahrungen des Schriftstellers Barthes fließen in die Artikel ein. In der jüngeren Geschichte literarischer Schreibweisen am Leitfaden des Alphabets kommt gerade Barthes eine Schlüsselrolle zu; seine autoreferenziellen Alphabet-Texte nutzen auf reflexiv-metaisierende Weise die Gestaltungsoptionen dieser Form, inszenieren aber auch deren Ambiguitäten und latente innere Widersprüche. Zu denken gibt der Umstand, dass für Le plaisir du texte die alphabetische Folge einerseits gewählt und dann andererseits

11 Vgl. dazu den ausführlichen Kommentarteil in: Barthes 2010. 12 In: Barthes 1995b: 1493-1532. 13 In: Barthes 1995c: 79-250. 14 In: Barthes 1995c: 457-687. 15 In: Barthes 1995b: 1535-1574.

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an einer Stelle verletzt wird. 16 Ein Schreiben, das sich eine Regel gibt, nimmt sich hier zugleich die Lizenz, diese zu brechen.

5. Biographistische Experimente Diktionaristische Texte können u.a. als Schauplätze literarischer Auseinandersetzung mit dem Ich konzipiert sein; ROLAND BARTHES par roland barthes ist ein solch ‚autobiographisches‘ Buch. Die alphabetische Form, einerseits Inbegriff kontingenter Anordnung, wird gerade hier in motivierter und explizit reflektierter Weise genutzt. Damit steht gerade dieses Buch für einen literarischen Umgang mit dem Format des Wörter-Buchs, bei dem dessen Struktur selbst semantisiert und zu Inhaltlichem in Beziehung gesetzt erscheint. Das Subjekt ist für Barthes keine Einheit, keine homogene ‚organische‘ Instanz, sondern etwas Zerstreutes, Partikuläres: „c’est une diffraction qui est visée, un éparpillement dans le jeté duquel il ne reste plus ni noyau principal ni structure de sens: je […] suis dispersé“ (Barthes 1995c: 204). Die traditionelle Form des autobiographischen Bekenntnisses erscheint damit als obsolet, schon weil sie eine innere Identität des gegenwärtigen (schreibenden) Ichs mit dem vergangenen (dem beschriebenen) Ich suggeriert. 17 – Einzelne ‚Biographeme‘ ersetzen die ‚große Geschichte‘: In ROLAND BARTHES par roland barthes wird Leben nicht linear im Sinn einer kohärenten, womöglich sinnvollen, Folge dargestellt, sondern vor den Augen des Lesers in einzelnen Stücken ausgebreitet. Schon die Typographie des Titels (ROLAND BARTHES par roland barthes) deutet an, dass der ‚Beschriebene‘ (ROLAND BARTHES) nicht einfach ein sich ‚authentisch‘ artikulierendes Ich ist, sondern eine Kunstfigur, die (ganz buchstäblich) abhängig von den Buchstaben ist. Der ursprüngliche Sinn von „articulus“ wird buchstäblich genommen: Das ‚autobiographische‘ Ich erscheint als ein Patchwork-Ich aus Einzelgliedern.

16 Le plaisir du texte ist zwar ein alphabetischer Text. Aber in der alphabetischen Textsequenz gibt es eine Unstimmigkeit: Der Abschnitt „Commentaire“ folgt auf „Corps“. Offenbar ist selbst die kontingente alphabetische Ordnung als Ordnung noch ein Anlass zur subversiven Übertretung der eigenen Spielregel. Vgl. Barthes 2010: 152. 17 „Quel droit mon présent a-t-il de parler de mon passé ? Mon présent a-t-il barre sur mon passé ? Quelle ‚grâce‘ m’aurait éclairé ?“ (Barthes 1995c: 187).

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6. Dekontextualisierung, Desystematisierung, Dezentrierung, Desillusionierung … und Demokratisierung Nicht nur das „Ich“ findet ein Modell im Patchwork-Text, sondern auch die Welt, auf die es sich bezieht, eine Welt ohne verbindliche Ordnung und ohne Zentrum. Das „dictionnairistisch-enzyklopädische Bewußtsein“ wird in Sommers Dictionnaire als ‚ex-zentrisch‘ charakterisiert; der Autor versteht sein Unternehmen selbstironisch als „Versuch, die Welt in Stichworte zu zerlegen“ (Sommer 2002: 56f.). Die mit der alphabetisch-lemmatisierten Form verbundene Zerlegung des Dargestellten in Artikel als ein Akt der Zergliederung ist keine Äußerlichkeit, sondern prägt die Wahrnehmung und intellektuelle Wieterverarbeitung des Dargestellten maßgeblich. Allerdings wurde diese Eigenschaft unter verschiedenen Akzentuierungen kommentiert und interpretiert: Erstens als eine antisystematische, nicht hierarchisierende, ‚parataktische‘ Darstellung. Eine solche suggeriert gar nicht erst, eine geschlossene, in sich gerundete Totalität von Wissensinhalten zu repräsentieren; die Gegenstände alphabetischer Darstellung sind (mit einer von Barthes vorgeschlagenen Vokabel) „heteroklit“. 18 – Zweitens als eine Darstellungsform, die witzigen, u.a. humoristisch nutzbaren Kontrastierungen Vorschub leistet. Schreiben in alphabetischer Form gestattet es, ja legt es sogar förmlich nahe, Unzusammengehöriges, ja Diskrepantes zu reihen. Die alphabetische Ordnung erscheint insofern u.a. als eine Steigerungsform des Witzes, der auf die Verknüpfung von Diskrepantem setzt; auf Kontrastierungen, auf ‚schräge‘ Kombinationen. – Drittens als Darstellungsform von Verlustbilanzen, als Sinnfälligmachen eines (postmetaphysischen) Defizits von Sinn und Zusammenhang. Alberto Savinio verfasst seine → Nuova Enciclopedia im expliziten Bewusstsein von der Unmöglichkeit einer Enzyklopädie, die dem Anspruch gerecht würde, ‚alles‘ Wissen darzubieten. 19 Hans Ulrich Gumbrecht wählt 2004 für sein Buch über 1926 die alphabetisch-lexikographische Form, um eine historische Umwelt präsent zu machen, von der wir wissen, (oder: von der wir nicht mehr wissen, als) daß es sie während des Jahres 1926 an dem einen oder anderen Ort gegeben hat (Gumbrecht 2004: 9).

Einer Zeit, die den Glauben daran verloren hat, aus der Geschichte lernen zu können, und die Geschichte nicht mehr als sinnvollen Verlauf zu deuten bereit 18 „Non seulement le fragment est coupé de ses voisins, mais encore à l’intérieur de chaque fragment règne la parataxe. Cela se voit bien si vous faites l’index de ces petits morceaux ; pour chacun d’eux, l’assemblage des référents est hétéroclite […]. L’index d’un texte n’est donc pas seulement un instrument de référence ; il est lui-même un texte, un second texte […]“ (Barthes 1995c: 166). 19 Vgl. Savinio (nach Schroetters Nachwort) 2005: 465f.

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ist, erscheint die alphabetische Form eher angemessen als die mit Suggestionen von Sinn und Zusammenhang verbundene chronologisch-historiographische. 20 – Viertens als befreiende Form. In Einzelartikeln zu schreiben bedeutet für Barthes und andere Schriftsteller insofern eine Befreiung – nämlich der vom Zwang zu Zusammenhang, Systematik und womöglich gar Vollständigkeit der dargestellten Inhalte. 21 Es gibt keine Verpflichtung auf ganze Geschichte mehr, weder für Historiographen noch für Autobiographen. Wer an komplette Geschichten nicht glaubt, wird darüber erleichtert sein. – Fünftens als egalitäre Form. Die alphabetische Anordnung des Gesammelten und Aufgelisteten als ein Modus der Strukturierung, mit dem bewusst auf die Suggestion einer sachlichen Systematik und Hierarchisierung verzichtet wird, wurde u.a. als egalitär und antihierarchisch gedeutet: Bringt es doch ohne jeden Sinn für Hierarchien Verschiedenartiges in eine Reihenfolge, die allein den Namen folgt; eine Ordnung der Wörter als ‚grundlegend‘ verstandene Ordnung der Dinge. Be- und Verfremdungseffekte, die sich ergeben können, wenn sich dabei eigenartige Nachbarschaftsverhältnisse erheben, tragen im Übrigen dazu bei, eingefahrene Denkweisen und Vorstellungsmuster aufzubrechen. – Sechstens als paradoxes Unternehmen. Wer in Wörterbuchform schreibt, verweigert sich dem Ansinnen, ein System zu entwerfen, folgt einer arbiträren Ordnung – aber doch immerhin einer Ordnung. Dass mit der alphabetischen Strukturierung von Texten (und damit von Gegenständen und Begriffen!) das Bedürfnis nach Abbildung einer gegebenen Ordnung der Dinge unterlaufen und doch zugleich eine neue (kontingente) Ordnung gesetzt wird, gibt solchem Schreiben einen paradoxalen Zug. 22 Un dictionnaire est un objet parfaitement paradoxal, vértigineux, à la fois structuré et indéfini, ce qui en fait un très grand exemple, car il est une structure infinie décentrée puisque l’ordre alphabétique dans lequel il est présente n’implique aucun centre (Barthes 1981: 96).

Im Zeichen eines zweifellos intendierten performativen Selbstwiderspruchs betont Sommer die Beliebigkeit der gewählten Form, die eben damit der eigenen Zeit entspreche. 23 Aber wie kann etwas beliebig sein, das ‚zeitgemäß‘ ist?

20 Gumbrecht erklärt die Form des Buchs mit der „Entscheidung, im Rahmen der historiographischen Rekonstruktion des gewählten Zeitabschnitts […] nach Möglichkeit von Sequentialität und Kausalität zu abstrahieren“ (Gumbrecht 2004: 479). 21 „L’alphabet est euphorique : fini l’angoisse du ‚plan‘, l’emphase du ‚développement‘, les logiques tordues, fini les dissertations ! une idée par fragment, un fragment par idée, et pour la suite de ces atomes, rien que l’ordre millénaire et fou des lettres françaises […]“ (Barthes 1995c: 208). 22 Vgl. Kilcher 2003: 198f. 23 Vgl. Sommers Artikel „Beliebigkeit“ (Sommer 2002: 42) und „Kontingenz“ (Sommer 2002: 146).

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7. Fictionary Das Spiel mit den Anordnungsmöglichkeiten von Inhalten, wie es die alphabetische Artikelfolge gestattet, ist keineswegs stets Ausdruck einer ludistischen Distanz. Diktionaristische Literatur widmet sich in manchen Fällen auch politisch-zeitgeschichtlichen Themen, bezieht Stellung, mahnt, insistiert, klagt an, beklagt. Dubravka Ugrešićs Buch My American Fictionary, 24 ein zwar nicht alphabetisch aufgebauter, wohl aber in lemmatisierte Artikel strukturierter Wörterbuchtext, ist der Leitidee verpflichtet, angesichts einer der Zerstörung ausgelieferten kulturellen Welt komme Wörtern mehr denn je die Funktion von Schlüsselwörten zu – nicht zuletzt für die persönliche Erinnerung an Flüchtiges, Unverarbeitetes, Unbewältigtes. Einleitend erzählt Ugrešić über die Genese des Fictionary während ihrer Abwesenheit aus ihrer vom Krieg zerstörten Heimat. Ihre Texte waren zunächst Beiträge zu einer Kolumne für eine niederländische Zeitschrift, verfasst anlässlich eines USA-Aufenthalts. Relikte und Reminiszenzen eines zum Untergang verurteilten kulturellen Wissens finden sich gesammelt – und mit Beobachtungen aus den USA konfrontiert. Ugrešić, die ihr Buch angeblich zunächst Dictionary statt Fictionary nennen wollte – der Titel ergab sich angeblich durch einen Tippfehler, erschien ihr dann aber gerade als besonders passend, als eine vom zunächst ‚fehlerhaft‘ wirkenden Buchstabengebrauch vermittelte Einsicht (Ugrešic 1994: 14) 25 –, beobachtet, wie ihr Land von den Landkarten verschwindet und zu einem imaginären Land wird (Ugrešić 1994: 14). Das Wörterbuch wird zum Surrogat all dessen, was verschwunden ist – und irgendwann auch vergessen wird. Jetzt denke ich, daß das häufige Genre der Wörterbücher – das aus der Linguistik in die Belletristik übergesiedelt ist – in dieser postmodernen Zeit nicht nostalgischen Ursprungs ist, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Die Anwendung dieses Genres ähnelt eher dem Bemühen von Alzheimer-Kranken, sich mit Hilfe von Zettelchen, Aufklebern, Notizen in der sie umgebenden Welt zu orientieren, bevor sie (oder die Welt?) in völligem Vergessen versinken. Die diversen Wörterbücher sind in dieser postmodernen Zeit nur eine Vorahnung vom Chaos des Vergessens (Ugrešić 1994: 14f.).

Die Lemmata in Ugrešićs Wörterbuch sprechen in ihrer Zusammenstellung für sich: Sie verweisen auf die spannungsvolle Situation einer Fremden in der Konsumgesellschaft der USA, die von Erinnerungen an eine verlorene heimatliche Kultur verfolgt wird – und vom Bewusstsein der Vorläufigkeit und Instabilität

24 Ugrešićs 1994 (Orig.: Americki fikcionar [1993]). 25 Ugrešić verweist hier u.a. auf Alain Finkielkrauts Petit fictionnaire illustré (1981) als „Aufbewahrungsort für jene Wörter, die nur Anlaß, nur ‚Vorwand zum Erzählen‘ sind.“ (Ugrešić 1994: 15).

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der eigenen Lage. 26 Allen Artikeln liegt, Ugrešić zufolge, eine gleichartige Ausgangserfahrung zugrunde: das Empfinden einer Verdrehung der Wörter, die in einem Wörterbuch – zumindest notdürftig – geordnet werden mussten (Ugrešić 1994: 9). Ugrešićs verzweifeltem Versuch, ihre Erinnerungen an ein verschwundenes Land zusammenzutragen, macht sich ein Wille zur Selbstbehauptung geltend: Das in der amerikanischen Fremde von Schreckensnachrichten aus der Heimat verfolgte autobiographische Ich klammert sich an Wörter, um zu überleben. […] warum Wörterbuch? Vielleicht steckt dahinter dieselbe dunkle Angst, die meinen amerikanischen Studenten David Lehman trieb, den Satz zu schreiben: Die Welt ist zerbrechlich, und ich fürchte mich (Ugrešić 1994: 15).

Als etwas, an dem man sich festhält, wenn ringsum alles zerstört und dem Vergessen überantwortet wird, gleicht das Wörterbuch den Strickarbeiten von Frauen in den heimatlichen Kellern, die bei Luftalarm mit einer (so Ugrešić) „der Situation völlig unangemessene[n] Leidenschaft“ (1994: 15) hergestellt wurden.

8. Lemmata Dass Vokabularien das sprachliche Ich und seine Welt generieren, machen diktionaristische literarische Texte in besonderem Maße sinnfällig. Seit den 1960er Jahren verstärkt gepflegt, sind sie nicht zuletzt geprägt durch den ‚linguistic turn‘, der Wissenschaften und Literatur ganzer Jahrzehnte gleichermaßen geprägt hat. In Roland Barthes’ Fragments d’un discours amoureux (1977) geht es um ‚Diskurse‘, Sprechweisen. Der einzelne Sprecher bedient sich solcher Schreibweisen – auch und gerade wenn es um Persönliches geht. Die ‚Sprache der Liebe‘ ist ein Reservoir von Formeln, Ausdrucksmöglichkeiten, Textmustern, Deutungsmustern für persönliche Erfahrungen, auf die man zurückgreift, um über sich als Liebenden zu sprechen. Auf einen einleitenden Teil unter dem Titel „Comment est fait ce livre“ (Barthes 1995c: 461-464) folgen Einzelartikel. Diese sind jeweils unter ein Lemma gestellt und tragen zusätzlich einen auf dieses Lemma abgestimmten Titel (manchmal in Form eines literarischen Zitats). Sinnfällig macht Barthes’ Buch zudem, dass die 26 Auf die Einleitung, „FICTIONARY“ folgen die Einträge „REFUGEE“, „ID“, „ORGANIZER“, „MISSING“, „MANUAL“, „SHRINK“, „JOGGING“, „HOMELAND“, „ADDICT“, „INDIANS“, „MAILBOX“, „COUCH-POTATO“, „YUGO-AMERICANA“, „SUSPECT“, „BODY“, "HARASSMENT", "EEW", "PERSONALITY", "CONTACT", "COMFORTER", "TRASH", „REPORT“, „COCA-COLA“, „CAPUCCINO“, „BAGEL“, „DREAMERS“, „AMNESIA“, „LIFE VEST“; schon die Lemmata verdeutlichen die Diskrepanz zwischen Exilerfahrung und Konsumkultur.

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‚Sprache der Liebe‘ (der Liebes-Diskurs) aus verschiedenen Quellen gespeist wird, darunter aus literarischen. 27 Kein → „Autor“ der eigenen Rede im emphatischen Sinn empfindet womöglich immer auch so, wie es in Büchern steht. So kontingent die alphabetische Sequenz von Lemmata als solche auch sein mag, sie ist bei aller Beliebigkeit der entstehenden Lemma-Nachbarschaften doch an eines eng gebunden: an die jeweilige Sprache, der die Lemmata entstammen. Dies macht – via negationis – den Versuch einer Übersetzung solcher Wörterbücher sinnfällig. Die „Vorbemerkung des Übersetzers“ (Barthes 1988: 11) enthält Erläuterungen zu Terminologischem und zu der übersetzerischen Entscheidung, um der alphabetischen Ordnung willen die Reihenfolge der Artikel im Deutschen gegenüber dem französischen Original umzustellen. Weil der Autor hier […] direkt auf eine ‚absolut bedeutungslose Gliederung‘ hingearbeitet hat, schien es sinnvoll, die Fragmente in der Reihenfolge des deutschen Alphabets zu präsentieren. Der einzige Zufall, den diese Umstellung mit sich gebracht hat: was in der französischen Ausgabe den Anfang bildet – ‚S’ABÎMER‘ –, rückt hier an den Schluß – ‚ZUGRUNDEGEHEN‘ (Barthes 1988: 11).

Bei einem Autor wie Barthes hat man allerdings allen Anlass zu zweifeln, dass die Platzierung von „s’abîmer“ am Anfang des Textes ein Zufall ist. Und so macht sein Text, als er übersetzt werden soll, exemplarisch auf das Problem aufmerksam, das jede Übersetzung literarischer Vokabularien und Texte mit sich bringt.

9. Nuova Enciclopedia Betrachtet man die literarische Arbeit als Konstruktion von Textwelten, ja von sprachlich repräsentierten Mikrokosmen, so erscheinen enzyklopädistische Schreibweisen als ein in hohem Maße programmatisches Unternehmen, und zwar sowohl bezogen auf die Idee enzyklopädischer Fülle als auch mit Blick auf den Umstand, dass auch und gerade enzyklopädische Wissenspräsentationen stets Produkte einer spezifischen historischen Wissenskultur und ihrer Rahmenbedingungen sind. Eine Art Prototyp des → persönlichen Wörterbuchs als einer Mischform zwischen Weltdarstellung und Selbstdarstellung im Spiegel persönlich-privater Interessen bietet Alberto Savinios Privates Lexikon, die 27 Unter dem Stichwort „Références“ heißt es, die Einleitung abschließend: „Pour composer ce sujet amoureux, on a ‚monté‘ des morceaux d’origine diverse. Il y a ce qui vient d’une lecture régulière, celle du Werther de Goethe. Il y a ce qui vient de lectures insistantes (Le Banquet de Platon, le Zen, la psychanalyse, certains Mystiques, Nietzsche, les lieder allemands). Il y a ce qui vient de lectures occasionnelles. Il y a ce qui vient de conversations d’amis. Il y a enfin ce qui vient de ma propre vie“ (Barthes 1995c: 464).

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Nuova Enciclopedia. 28 Die Nuova Enciclopedia, aus zunächst einzeln erschienenen Artikeln nachträglich zusammengestellt, reiht am Leitfaden des Alphabets heterogene unter dezidiert subjektiven Aspekten kompilierte Wissensbestände, Erinnerungen, Überlegungen, Anschauungen und Einfälle auf. Bei der Abfassung seines Lexikons hat Savinio Wörterbücher und Nachschlagewerke aller Art verwendet, darunter vor allem Petrocchis Nuovo Dizionario della Lingua Italiana, die Enciclopedia Italiana und Jaconos Dizionario di Esotismi. Die Lemmataliste stellt sich als veritables Sammelsurium von nicht nur inhaltlich, sondern auch kategorial Heterogenem dar. Dem A als dem Anführer der Buchstaben, an deren Leitfaden sich die Enciclopedia entlangbewegt, wird gebührende Aufmerksamkeit zuteil: Unter den das Kompendium begleitenden Zeichnungen findet sich u.a. die eines Stiermenschen (eines bürgerlich gekleideten Minotaurus), der als „Il signor A“ vorgestellt wird; ihm korrespondiert eine Bemerkung im Artikel über das „A“, dessen schriftgeschichtlich frühe Form mit der eines Stiergehörns in Verbindung gebracht wird. Savinios ‚Enzyklopädie‘ ist insofern ein paradoxales Projekt, als ihr Verfasser von der Unmöglichkeit von Enzyklopädien in der Gegenwart überzeugt ist; was bleibt, ist die abundante Präsentation von Bruchstücken der Erfahrung und Lektüre.

10. Optionales Lesen Komplementär zur Rolle des → „Autors“ ist die des „Lesers“ ein Kernthema selbstreferenzieller Literatur. Diktionaristische Texte unterhalten zu diesem Thema besondere Affinitäten. Auf den ersten Blick scheint es, als biete gerade der in Einzelartikel gegliederte, diese allenfalls durch Verweise miteinander verknüpfende Text ein Idealbeispiel des „Offenen Kunstwerks“, das dem Rezipienten mit der Herstellung des jeweils ‚eigenen‘ Werkkontextes ein denkbar hohes Maß an Freiheit zugesteht. Die Einladung zu einem von jeweils besonderen Interessen geleiteten Lesen ist es ja schließlich, welche das alphabetische Lexikon oder Wörterbuch zu einem so effizient nutzbaren Format macht: Man liest das, und genau das, was man lesen will, wählt dabei anlassspezifisch seinen Lese-Parcours, stellt sich seinen Text selbst zusammen. In seinem lexikographisch-alphabetischen Roman Hazarski rečnik (dt.: Das Chasarische Wörterbuch) gestattet es Milorad Pavić seinen Lesern zwar, sein Buch in beliebiger Reihenfolge zu lesen, er übertreibt dabei aber die Beliebigkeit des 28 Savinio plante selbst die Veröffentlichung seiner Enciclopedia als Buch und sammelte Material dazu, ohne das Projekt vollenden zu können; 25 Jahre nach seinem Tod veröffentlichte der Adelphi-Verlag seine Kollektion von Artikeln als Nuova Enciclopedia (1977). Die erste, 1983 dann auch auf Deutsch erschienene, Zusammenstellung wurde durch mittlerweile neu aufgefundene Artikel in späteren Ausgaben ergänzt (vgl. Savinio 2005).

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Umgangs derart, dass seine Lizenz-Erteilung sich wie die Parodie wirklicher Leserermächtigung ausnimmt. 29 Zudem spricht Pavić an anderer Stelle vom Leser als einem vom Autor zu dirigierenden „Reitpferd“ (1988: 24). Auch in László Földényis Kleist-Buch wird die Freiheit des Lesers als Konsequenz der alphabetischen Struktur betont. 30 Aber dies geschieht auf eine erkennbar (selbst-)ironisch gebrochene Weise. Alphabetisch strukturierte Texte sind hinsichtlich der Frage nach der Leserrolle und nach ihrem paradigmatischen Status für rezeptionsästhetisch geprägte Texttheorien also keineswegs ein eindeutiger Fall – schon bei Barthes ist ein Bewusstsein davon spürbar. Lemmata können so manipuliert werden, dass der Autor ‚von hinten‘ die Sequenz ‚motiviert‘ und so die Rezeption steuert (einmal abgesehen davon, dass er ja ohnehin die Bausteine bereitstellt). Und vielleicht korrespondieren die ‚heimlichen‘ inhaltlichen Bezüge in scheinbar sinnindifferent-alphabetisch geordneten Texten – die es ja auch bei Barthes gibt – womöglich einer ‚heimlichen‘ Autorität – etwa, wenn die Wahl der → Lemmata doch für einen Sinn der Sequenz sorgt, die nur scheinbar zufällig ist.

11. Persönliche Wörterbücher Das ‚Persönliche Wörterbuch‘ übernimmt unter dem Vorzeichen verschiedener möglicher Semantisierungen des Wörterbuchformats (vgl. → Dekontextualisierung, Desystematisierung, Dezentrierung, Desillusionierung … Demokratisierung) bei diversen Autoren die Funktionen autobiographischer Selbstdarstellung. Es hat sich als entsprechendes literarisches Genre inzwischen etabliert. Auch wenn dabei die Akzentuierungen wechseln, gibt es ein per se verbindendes Moment: Als Leitfaden und Stimulus der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Lebenserfahrung, dem eigenen Denken und Empfinden sowie, dadurch vermittelt, auch mit deren Hauptgegenständen, dient zunächst einmal eine Wörtergruppe. Selbstreflexive und sprachreflexive Impulse und Interessen verbinden sich bei deren Erkundung, sei es, dass das schreibende Ich aus der Perspektive kritischer Distanz Stellung zu bestimmten, irritierenden oder anstößigen Vokabeln nimmt, sei es, dass es Lieblingsthemen anlässlich von Lieblingsvokabeln anschneidet, sei es auch, dass ihm die Vokabeln zu Platzhaltern für deren Signifikate werden. Der polnische Schriftsteller und Essayist Czesław Miłosz reflektiert in einer alphabetisch organisierten Darstellung 29 „Diese ins einzelne gehenden Anweisungen sollen jedoch den Benutzer dieses Wörterbuchs nicht entmutigen. Er kann guten Gewissens all diese einleitenden Anmerkungen überspringen und lesen, wie er ißt: indem er liest, kann er das rechte Auge als Gabel, das linke als Messer benutzen und die Knochen hinter sich werfen“ (Pavić 1988: 22). 30 Vgl. Földényi 1999: 9.

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seines Lebens, seiner Erfahrungen und seiner Überzeugungen ausdrücklich darüber, warum er seinen Erinnerungen diese fragmentarische Form gibt. 31 Alphabetisch aufgebaut ist auch Carlos Fuentes’ Buch In esto creo (dt.: Alphabet meines Lebens) von 2001. In Form einzelner essayistischer Artikel, die Personen, Abstrakta und allgemeinen Themen gewidmet sind, reflektiert Fuentes über Dinge, die ihn angehen, teilt seine persönlichen Erfahrungen und Meinungen mit, bezieht Stellung. Eine kohärente Lebensgeschichte erzählt er gerade nicht, aber das „ABC“ ist ein Selbstporträt in Artikelform, in das auch Lebenserinnerungen einfließen. Schon die Lemmata-Liste lässt u.a. erkennen, dass es sich nicht zuletzt um Bausteine zu einer Leser-Biographie handelt; zugleich verweisen mehrere Stichworte auf Fragen kulturellen Lebens, auf politische Themen, auf Topographisches und Gesellschaftliches. 32 Gisela Dischners Wörterbuch des Müßiggängers (2009) ist eine alphabetische Selbstdarstellung der Verfasserin, die sich selbst als „Müßiggänger, genannt M.“ vorstellt. Die Artikel enthalten Reflexionen und Stellungnahmen zu Fragen der persönlichen Lebenseinstellung, zu politisch-gesellschaftlich-weltanschaulichen Themen und zu verwandten Gegenständen. Deutlich ist die Prägung des Buchs durch den Emanzipationsdiskurs der 1960er Jahre. Explizit oder implizit wird in persönlichen Vokabularien jedenfalls auf die Bedeutung von Schlüsselwörtern hingewiesen: Auf die Rolle, die bestimmte Begriffe, Namen, Stichwörter im Leben des Einzelnen spielen. Nicht immer allerdings schreiben die Philosophen ihre ‚Dictionnaires‘ ganz allein. Gilles Deleuze hat sich in einem Interview ausführlich über wichtige Stichworte geäußert, das dann zu einem Abecédaire zusammengestellt wurde. 33 Was den Autobiographen recht ist, ist den Biographen übrigens billig: Porträts in Form alphabetischer Artikelfolgen, deren Grundkonzept nicht die 31 Miłosz 1997 und 1998; dt. Auswahlausgaben Miłosz 2002a und 2002b. 32 Vor allem künstlerische Einflüsse werden im alphabetischen Selbstporträt von Fuentes aufgedeckt bzw. bekräftigt. Der Artikel zu „Balzac“ beginnt mit einem Bekenntnis zu Balzac als dem eigenen Vorbild; der zu „Buñuel“ beginnt mit der Erinnerung an frühe Eindrücke von Buñuel-Filmen. – Die Lemmata in alphabetischer Folge: Amistad – Freundschaft / Amor – Liebe / Balzac / Belleza – Schönheit / Buñuel / Celos – Eifersucht / Cine – Kino / Dios – Gott / Educacion – Bildung / Experiencia – Erfahrung / Familia – Familie / Faulkner / Globalizacion – Globalisierung / Hijos – Kinder / Historia – Geschichte / Iberomerika / Izquierda – Die Linke / Jesus / Kafka / Lectura – Lesen / Libertad – Freiheit / Mexiko / Muerte – Tod / Mujeres – Frauen / Novela – Roman / Odisea – Odyssee / Politica – Politik / Quijote / Revolución – Revlution / Sexo – Sex / Shakespeare / Silvia / Sociedad Civil – Bürgerliche Gesellschaft / Tiempo – Zeit / Urbes, urbes – Städte / Velázquez / Wittgenstein / Xenofobia – Fremdenfeindlichkeit / Yo – Ich / Zebra (hier geht es u.a. um phantastische Zoologien, phantastische Literatur, imaginäre Welten und Borges) / Zürich. 33 Abécédaire (1988). Bei diesem Deleuze-Porträt handelt sich um die filmische Dokumentation eines mehr als siebenstündigen Gesprächs von 1988. Gesprächspartnerin (auf die auch das Konzept zurückgeht): Claire Parnet, Produzent: Pierre-André Boutang, ein Freund Deleuzes.

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Nacherzählung einer zusammenhängenden Lebensgeschichte, sondern die Bespiegelung eines Lebens am Leitfaden zentraler → Lemmata ist, sind dabei, sich als eine Schreibweise zu etablieren, die (beispielsweise) Autorenbiographisches, Werkspezifisches und Zeitgeschichtliches zusammenbringt. 34

12. ‚Randonée‘ Der rezente ‚topographical turn‘ hat stimulierend auf Poetiken des Raumes und auf die Entfaltung implikationsreicher Raum-Metaphoriken gewirkt. Das Buch als ein Raum, der lesend durchstreift wird, erscheint unter diesem Vorzeichen nicht zuletzt als Modell anderer Räume, die ‚er-fahren‘ oder ‚er-wandert‘ werden. Alphabetisch organisierte Texte korrespondieren mit spezifischen Raumerfahrungen. Für Michel Serres ist das alphabetische Lexikon – bei ihm in pointierender Gegenüberstellung zum ‚Buch‘, das von vorn nach hinten gelesen werden will und die Suggestion sachgegründeter Folgerichtigkeit der Darstellung erzeugt – die Konkretisierung eines anderen Denkens, einer anderen, dezentrierten, auf Offenes gerichteten Vernunft, eines Denkens im Zeichen der ‚randonée‘. 35 Serres’ Argument zugunsten des alphabetischen Lexikons interpretiert dieses als Inbegriff postmoderner Wissenskultur: Postmodernes Wissen bewegt sich seinem eigenen Selbstverständnis nach über Oberflächen; es dringt nicht in ‚Tiefen‘. Es bewegt sich nicht zielgerichtet, sondern es streift umher. Das alphabetisch organisierte Lexikon ist ein ‚oberflächlicher‘ Text, die alphabetische Ordnung ist eine ‚Oberflächen‘Ordnung. Sie hat nichts mit einer wie auch immer vorzustellenden Tiefe der Dinge zu tun. Wer ein alphabetisches Lexikon liest, navigiert zwischen ‚Inseln‘, die keine festen Kontinente sind. Ein ‚typisch‘ postmodernes Format ist das Lexikon, weil es zur ‚randonée‘ einlädt, dem Unerwarteten eine Chance gibt – und darum Vergnügen bereitet. 36

13. Romane als Ich-Geschichten in Wörterbuchform Nicht nur biographisches und autobiographisches Schreiben, sondern auch das Erzählen von Romanen ist unter dem Einfluss diktionaristischer Schreibweisen gelegentlich neue Wege gegangen. A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2007) von Xiaolu Guo ist ein Roman in Wörterbuchform. 37 Die 34 Vgl. Vinken/Wild 2010. 35 Vgl. Serres/Farouki 2001: IX-XXXIX (Vorwort). 36 Serres/Farouki 2001: XVIII. 37 Dt. Ausgabe: Guo 2008.

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chinesische Ich-Erzählerin erzählt von einem längeren Aufenthalt in England, ihren Begegnungen mit der englischen Sprache und Kultur sowie über ihre Liebesbeziehung zu einem Engländer, die zuletzt scheitert. In den Mühen des Spracherwerbs spiegelt sich die Widerständigkeit der fremden Kultur. Die einzelnen Artikel des Lexikonromans sind jeweils Stichwörtern zugeordnet, und sie wirken wie Wörterbucheinträge: Kommentiert werden viele Stichwörter und ihre Verwendungskontexte, wobei sie Anlass zu Bemerkungen über sprachliche und kulturelle Unterschiede zwischen China und dem Westen geben. Dass die Ich-Erzählerin ihre Stichwörter nicht alphabetisch aufreiht, erscheint verständlich. Sie lernt die Wörter, an deren Leitfaden sie ihre Geschichte erzählt, ja nicht in alphabetischer Folge, sondern jeweils situationsabhängig. Und ihr Text lädt zu einem Herumblättern in der WörterWelt Englands ein, wie es für Wörterbuchbenutzer charakteristisch ist. Insgesamt ist der Dictionary-Roman Xiaolu Guos dem Konzept des ‚ethnographischen Blicks‘ verpflichtet, der sich hier – in charakteristischer Modifikation des Modells ‚Fremder Besucher in Europa‘ (Montesquieu, Goldsmith, Rosendorfer) – vor allem auf Vokabeln richtet. Das Ich der chinesischen Erzählerin erscheint zwar irritabel und verletzlich, aber seine Distanz zur beobachteten Wörterwelt stabilisiert doch auch seine Identität; wenn auch die einer trotz aller Lern- und Assimilationsbemühungen unwiderruflich Fremden. Wie man Eigenes mit Wörterbuchbeständen selbstbewusst und auktorial verknüpft, demonstriert dagegen ein weiterer rezenter Roman, der zwar nicht als Artikelfolge komponiert ist, dessen Kapitel aber der alphabetischen Ordnung unterliegen und als Hommagen an die Bände des Grimmschen Wörterbuchs verfasst sind. Günter Grass’ Roman Grimms Wörter enthält neben den Wortbeständen des Grimmschen Wörterbuchs und Rekonstruktionen der Entstehungsgeschichte dieses voluminösen Nachschlagewerks auch ein persönliches Wörterbuch des Autobiographen, eine in die Kapitel integrierte Präsentation von Kernvokabeln eines Autorlebens. Persönlichen Erfahrungen, Interessen und Anliegen verknüpfen sich mit diesen Vokabeln ebenso wie historische Reminiszenzen.

14. Sprachreflexion Die alphabetische Artikelfolge erscheint als weitestgehend ‚neutral‘, was die Abstinenz gegenüber hypostasierten Ordnungen der in Enzyklopädien und Lexika dargestellten Dinge angeht; darum wird sie von der → Aufklärung geschätzt und etabliert. Dennoch ist sie nicht völlig implikationslos, rückt sie doch als erstes die Namen der verhandelten Gegenstände in den Blick; und lenkt dadurch den Blick auf die sprachliche Dimension des Gegenstands selbst,

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auf seine Gebundenheit an und Vermitteltheit durch Wörter, auf sein Immerschon-sprachlich-ausgelegt-Sein. Von hier bis zur Reflexion über „Sprachwelten“, über sprachlich konstituierte „Weltbilder“ und über die transzendentalhermeneutische Dimension der historischen Sprachen ist es nur noch ein Schritt. Die literarische Nutzung des Formats Wörterbuch erscheint gerade mit Blick auf rezente Beispiele als besonders wichtiger Anlass kritisch-reflexiver, dabei aber dezidiert und absichtlich subjektiver Auseinandersetzung mit Wörtern und ihren Bedeutungsdimensionen; dadurch aber auch mit diskursiven Regeln und historisch-politischen Strukturen. Das Format des Wörterbuchs bietet Gelegenheit zur Reflexion über etablierte Semantiken, aber auch zu deren Parodie, zur Erfindung neuer Ausdrucksweisen, zum Spiel mit PseudoErläuterungen; kurz: zur vielschichtigen Reflexion über Sprachliches, seine Gebrauchskontexte, seine Wirkungen. Vor allem die Nutzung des Formats ‚Wörterbuch‘ durch sprachreflexive und sprachexperimentelle Autoren wie Michel Leiris, Francis Ponge, Michel Tournier, Felix Philipp Ingold u.a. lässt dieses zum literarischen Genre mit einem sprachreflektorischen Profil werden.

15. Wörterbücher – ein Rückblick Diktionaristische Texte korrespondieren in besonderem Maße den Herausforderungen, vor die sich moderne und zeitgenössische Literatur gestellt sieht. Dies beginnt bei der Problematik, zwischen Fiktionalem und Faktualem zu unterscheiden – und bei der nicht minder schwierigen Unterscheidung zwischen Wörter-Wissen und Welt-Wissen. Die Pseudo- oder Nicht-Ordnung des Alphabets erinnert zudem an die Geschichtlichkeit und Kulturspezifik aller Organisationsformen von Wissen und aller Praktiken der Wissensnutzung; die Kontingenz und Wandelbarkeit von Wortbedeutungen wird in Wörterbüchern besonders sinnfällig. Wo freilich die Wörterbuch-Ordnung zum Organisationsprinzip literarischer Texte wird, da tritt ja immerhin die Ordnung der Wörter an die Stelle der Ordnungen, deren Verlust in Diskursen über Moderne und Postmoderne beklagt (oder auch begrüßt) wird. Dass literarische Vokabularien zudem eine ludistische Komponente haben, verdeutlicht exemplarisch der Fall Roland → Barthes. Serres’ Konzept der → „randonée“ lässt selbst die Nutzung von alphabetischen Enzyklopädien als spielerisches Unternehmen erscheinen. Eine alphabetische Anordnung ist der falschen Suggestion einer absoluten Ordnung vorzuziehen; dieser Gedanke verbindet wissensvermittelnde und literarische Verfasser von ‚Dictionnaires‘ und Lexika seit der → Aufklärung. Diktionaristische Schreibweisen ermöglichen vor allem eins: den entspannten Umgang damit, dass sich niemals alles sagen (aber doch immerhin manches unterbringen) lässt, dass alles komprimiert und in reduzierter Form gesagt werden

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muss, dass alles Gesagte immer auch anders hätte gesagt werden können, dass also jeder realisierte Text nur der unzulängliche Platzhalter unrealisierter anderer ist. Czesław Miłosz schreibt in seinem → persönlichen Wörterbuch Mein ABC: Während meiner Arbeit an meinem ‚ABC‘ habe ich mir bisweilen gedacht, dass ich eigentlich Leben und Schicksal jeder der erwähnten Personen eingehender hätte untersuchen sollen, anstatt mich mit der Beschreibung von äußeren Begebenheiten zu begnügen. Nur schlaglichtartig werden meine Helden beleuchtet, meist sogar ohne ein besonders bedeutungsvolles Ereignis. Doch damit müssen sie sich zufrieden geben – es ist allemal besser, als ganz in Vergessenheit zu versinken. So ist mein ‚ABC‘ etwas wie ein Ersatz: anstelle eines Romans, anstelle eines Essays über das 20. Jahrhundert, anstelle eines Tagebuchs. Jede der erwähnten Personen versetzt einen Teil der Verknüpfungen im Netz der Bezüge und Wechselwirkungen der Daten meines Jahrhunderts in Schwingung. So bedaure ich es letzten Ende nicht, dass ich recht willkürlich Namen eingestreut und dabei wohl auch Banalitäten aufgewertet habe (Miłosz 2002: 25).

Bibliographie Abécédaire. Gilles Deleuze von A bis Z. Das Interview (2009 [1988]). 3 DVDs, 453 Minuten. Mit dt. Untertiteln und Voice-Over-Fassung. Hg. von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann. – Berlin: Absolut Medien. Barthes, Roland (1981): Le grain de la voix. Entretiens 1962–1980. – Paris: Éditions du Seuil. Barthes, Roland (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. von Hans-Horst Henschen. – Frankfurt am Main: Suhrkamp. Barthes, Roland (1995a): Œuvres complètes. Bd. I. 1942–1965. Édition établie et présentée par Éric Marty. – Paris: Éditions du Seuil. Barthes, Roland (1995b): Œuvres complètes. Bd. I. 1966–1973. Édition établie et présentée par Éric Marty. – Paris: Éditions du Seuil. Barthes, Roland (1995c): Œuvres complètes. Bd. I. 1974–1980. Édition établie et présentée par Éric Marty. – Paris: Éditions du Seuil. Barthes, Roland (2010): Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Ottmar Ette. Kommentar von Ottmar Ette. – Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp-Studienbibliothek 19). Bataille, Georges / Lebel, Robert / Waldberg, Isabelle / Duchamp, Marcel (Hg.) (1995): Encyclopedia Acephalica. Comprising the Critical Dictionary & Related Texts. – London: Atlas Press. D’Alembert, [Jean-Baptiste le Rond] (1754): Dictionnaire. – In: Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Paris, Bd. IV, 958-970. Földényi, László (1999): Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. – München: Matthes & Seitz (Batterien 66). Fuentes, Carlos (2006): Alphabet meines Lebens. Woran ich glaube. Übers. von Sabine Giersberg. – Frankfurt am Main: Fischer.

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Carsten Sinner Zur Bedeutung von Wörterbüchern und wissenschaftlichen Abhandlungen für den Umgang mit Gallizismen im Portugiesischen – Das Beispiel von port. marna , marne , marno

1. Einführung Der mit diesem Beitrag zu ehrende Jubilar hat sich wiederholt mit Themen der historischen Wort- und Begriffsgeschichte auseinandergesetzt (vgl. Lebsanft 2004, 2006). Zu den immer wieder zitierten Positionen in der portugiesischen Sprachgeschichtsforschung gehört die Einschätzung, dass das Französische besonders wesentlichen Einfluss auf die portugiesische Sprache hatte, dass das Französische – vor allem nach der Ablösung des Lateins als Wissenschaftssprache, verstärkt seit dem 18. Jh. – bei der Herausbildung der portugiesischen Fachsprachen eine besondere Rolle eingenommen habe und zum Teil gar, dass sich das Portugiesische im Hinblick auf die Lexik allgemein und aus terminologischer Sicht im Speziellen in einer Art Abhängigkeitsverhältnis zum Französischen befunden habe. Nur ausnahmsweise wird – so bereits 1994 von Telmo Verdelho – explizit darauf hingewiesen, dass derartige Ansichten ohne empirische Analysen auf Grundlage repräsentativer Textsammlungen und unter Berücksichtigung der Signifikanz der behandelten Daten in vielen Forschungsbereichen nur unbewiesene Annahmen darstellen. In der überwältigenden Mehrzahl der Arbeiten zum Portugiesischen im 18. und 19. Jh. findet sich in unterschiedlichen Formulierungen die Aussage, dass in dieser Zeit der Anteil der Entlehnungen, Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen aus dem Latein „zum Vorteil“ anderer, moderner Sprachen, v.a. des Französischen, zurückgegangen sei und man in Lexik und Grammatik massive Übernahmen aus dem Französischen konstatieren könne. Angesichts der sprachlichen Fakten, die bei der Lektüre der Texte und bei einer allgemeinen Betrachtung der Lexik wahrnehmbar sind, muss diese Schlussfolgerung relativiert werden. Es ist unbedingt zu berücksichtigen, dass diese Positionen offenbar zu einem nicht

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unwesentlichen Anteil auf entsprechende Aussagen zeitgenössischer Autoren, Klagen über die Übermacht der Gallizismen, puristische „Fehlerlisten“, Streitschriften gegen die Flut französischer Lexik usw. zurückgehen, während empirische Forschungen die Ausnahme und Verallgemeinerungen aufgrund von nicht repräsentativen Einzelstudien und impressionistischen Darstellungen die Regel sind (vgl. die Übersichtsdarstellung in Sinner 2012). Tatsächlich konnte aber auf Grundlage einer umfangreichen – und für ihre Zeit zweifellos repräsentativen – Sammlung von akademischen Preisschriften (Memórias) der portugiesischen Academia das Ciências de Lisboa festgestellt werden, dass der Anteil der eindeutig als Gallizismen identifizierbaren Elemente äußerst gering ist, das Französische aber offensichtlich eine bedeutende Rolle als Vermittler zwischen anderen Sprachen und dem Portugiesischen eingenommen hat und insgesamt gesehen das Französische zumindest als Kulturadstrat des Portugiesischen tatsächlich eine besondere Rolle gespielt hat (Sinner 2012: 611-614). Neben der erwähnten Möglichkeit der Überhöhung oder Übertreibung des französischen Einflusses durch zeitgenössische Autoren wird die Möglichkeit des Gebrauchs von Gallizismen bzw. der Entlehnung von Elementen aus französischen Quellen als ideolektales Phänomen und insbesondere auch aufgrund von ideologischen oder politischen Positionen zu wenig berücksichtigt. Der Nachweis von Lexemen in Texten muss nicht gleichbedeutend sein mit ihrem tatsächlichen Gebrauch durch die Sprachgemeinschaft oder, im Fall von Fachtexten, durch die Gemeinschaft der gleichgesinnten oder ähnlich interessierten Wissenschaftler. Ihr Vorkommen in einzelnen Texten muss immer kritisch betrachtet und vor der Folie der zeitgenössischen Tendenzen, der jeweils herrschenden soziopolitischen Bedingungen und im Hinblick auf ihre Einbettung in Traditionen gesehen werden. Somit ist also auch zu fragen, inwiefern ihr Gebrauch mit der Prägung durch einzelne Autoren, bestimmte Texte bzw. Referenztexte (vgl. Haßler 2000) oder aufgrund der Übertragung oder des Gebrauchs ausländischer Quellen durch bestimmte Herkunftssprachen zu erklären ist bzw. damit in Verbindung stehen könnte. Damit erscheint es insbesondere sehr wichtig, die verbreitete Praxis der Suche nach Erstbelegen und nach der frühesten Datierung mit Vorsicht zu behandeln. Das wiederholte Auftreten bestimmter Termini in der bisher kaum sprachwissenschaftlich untersuchten Sammlung von Preisschriften der Academia das Ciências de Lisboa – und zwar in Texten unterschiedlicher Autoren – legt nahe, dass es sich eindeutig nicht um isolierte Erstbelege handelt. Angesichts der besonders exponierten Rolle der Preisschriften in der portugiesischen Wissenschaftslandschaft ist eine Untersuchung der Rezeptionsgeschichte unbedingt erforderlich, etwa der Nutzung von Tupismen (vgl. Hoepner 2001, 2006) oder von aus diversen europäischen Sprachen entlehnten Elementen; geschehen

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muss dies durch die Analyse weiterer zeitgenössischer Texte und die Betrachtung des weiteren Schicksals der Termini, insbesondere ihres Auftretens in später verfassten Arbeiten (Sinner 2012: 430-431). Nur dadurch könnte bestimmt werden, ob Termini mit frühen Erstbelegen in den Memórias möglicherweise vor ihrer eigentlichen Durchsetzung im Portugiesischen bzw. vor ihrer Lexikalisierung im Portugiesischen erscheinen, ob sie also von den Autoren möglicherweise überhaupt erst geprägt wurden, und nur so kann eine Bestimmung ihrer Rolle im Wortschatz der Sprache vorgenommen werden. Damit kann der in der historischen Sprachwissenschaft viel zu selten beachteten Gefahr vorgebeugt werden, isolierten Erstbelege, die einmaliges Erscheinen eines Wortes lange vor seiner eigentlichen Lexikalisierung belegen, einen falschen Stellenwert beizumessen (Thomaßen 1997: 39). 1 Die Stützung auf Belegkorpora gilt seit dem 19. Jh. als wissenschaftliche Selbstverständlichkeit in der lexikographischen Beschreibung (Schlaefer 2004: 359), und nur auf diese Weise, so Schlaefer (2004: 359), scheine eine objektive Abbildung des Gegenstandsbereichs und eine begründete Befunderhebung gewährleistet. Tatsächlich wird bei der Befunderhebung aber immer wieder übersehen, dass die Belege nicht unbedingt aussagen, dass ein Element zum gegebenen Zeitpunkt über die Belegquellentexte hinausgehend tatsächlich bereits genutzt wurde bzw. verbreitet war. Andererseits wird es durch die Betrachtung der Gebrauchsgeschichte nach den aufgeführten Erstbelegen möglich, den tatsächlichen Status bzw. die tatsächliche Verankerung des jeweiligen Lexems in der Sprache zu ermitteln. Anhand von einem Beispiel, marne ‚Mergel‘, soll nachfolgend exemplarisch aufgezeigt werden, welche Probleme sich bei der Betrachtung der Lexik im Hinblick auf eine Wertung des französischen Einflusses und des Stellenwertes des Gallizismus in der aufnehmenden Sprache – hier Portugiesisch – ergeben können, sofern die Umstände des Gebrauchs und der Rezeption sowie der tatsächliche Gebrauch vor und nach den bisher erwähnten Erstbelegen nicht geprüft werden.

1 Zur Fehleinschätzung des Stellenwertes von Erstbelegen und der Gefahr der „chasse à la première date“ vgl. Thomaßen 1997: 39 und Monjour 1999: 125.

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2. Der Gallizismus marne (marna, marno) 2.1. Einführung

Im brasilianischen Wörterbuch Dicionário Houaiss da língua portuguesa findet sich der folgende Eintrag: marna s.f. (1835 vgl. TMin) GEOL. m.q. MARGA.  GRAM VOC. consid. gal. pelos puristas  ETIM fr. marne (1287) ‚rocha com proporções variáveis de argila e calcário‘, alt. do fr.ant. marle, do gaul. margila; f.hist. 1835 marna, 1858 marne (Houaiss 2001: s.v.)

Neben der Form marna und ihrem Erstbeleg von 1835 wird hier eine weitere Form marne mit Erstbeleg von 1858 erwähnt, wichtig sind zudem die Angaben zum Ursprung im Französischen, das es wiederum aus dem Keltischen (dem Gallischen) übernommen habe. Tatsächlich gilt marne im Französischen als Lexem keltischen Ursprungs. Die meisten keltischen Lexeme der romanischen Sprachen sind Substantive, die normalerweise übliche Gegenstände und Werkzeuge aus dem Ackerbau, Gefäße, Begriffe aus dem Bereich der Bierherstellung, Pflanzen und Beschaffenheit des Bodens bezeichnen (Iordan/Manoliu 1972: 105); wie Rohlfs feststellt ist es „eine aus allen Sprachen bekannte Tatsache, dass gerade im sinnlichen Bereich der Geländebezeichnungen ältere Termini einer Substratsprache erhalten bleiben (vgl. im Französischen lande, marne, grève, boue, bourbier)“ (Rohlfs 1957: 501). Der Eintrag bei Houaiss informiert weiter, Puristen lehnten die Form als Gallizismus ab, was die Interpretation zulässt, dass das Lexem nur gebraucht werden könne, so man nicht puristische Positionen vertritt. Hinweise auf eine Einschränkung des Gebrauchs bzw. diasystematische Einschränkungen gibt es abgesehen von dieser diaintegrativen bzw. dianormativen Markierung (vgl. Hausmann 1989) allerdings nicht. Diasystematische Einschränkungen, v.a. die Assoziation eines Ausdrucks mit „niedrigen“ Registern oder die regionale Beschränkung des Gebrauchs, werden bei Nutzung von Wörterbüchern vielfach als Argument für ihre Vermeidung gewertet, da die Nutzer in der Regel nur Einträge ohne diatopische oder diastratische Einschränkungen als unmarkiert ansehen (zur Sicht auf Wörterbücher und zu den Attitüden der Sprecher bezüglich der in Wörterbüchern aufgenommenen und nicht aufgenommenen Elemente vgl. Sinner 2013: 70 sowie 607-610). Entsprechende Belege für über reine Identifizierung als Gallizismus hinausgehende referierte Zurückweisung des Gallizismus marna werden jedoch in Houaiss nicht gegeben und konnten auch in den bekannteren sprachpuristischen Arbeiten und Empfehlungen zur „Reinhaltung“ des Portugiesischen nicht gefunden werden.

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Daher ist unklar, auf welche Puristen hier Bezug genommen wird. In anderen relevanten Wörterbüchern des Portugiesischen, insbesondere aber im Dicionário da Lingua Portuguesa Contemporânea da Academia das Ciências de Lisboa (Verbo 2001), finden sich weder marne noch marna. Tatsächlich finden sich im Portugiesischen wesentlich frühere Belege als die bei Houaiss angegebenen: O Sal de Epsom, ou Cathartico, póde-se recolher em Monterojo de Coimbra, e tambem n uma especie de marne junto ás Necessidades, poucos passos longe desta Academia (Vandelli 1789a: 179). Da pedra hume (p) [(p) Alumen plumosum.] ha huma abundante mina em Piauhy, e Ciará, e tambem misturada com hum marne encarnado se acha salitre (q) [(q) Nitrum nativum)], do qual tem vindo a Bahia porçaõ purissima, disposta em pequenos veios horizontaes, entre huma argilla misturada com arêa, e endurecida, de côr amarella, como se pode ver em huma amostra, que está no Muséo do Excellentissimo Senhor Marquez de Angeja (Vandelli 1789b: 202). Na Ilha de S. Miguel, além de algumas marnes para fertilizar os terrenos, se encontra a muito estimadas Argilla fullonica (b) [(b) Argilla fullonica.], a que los Hollandezes costumaõ tirar e que serve em lugar de Sabano para purificar as lans, a qualem Inglaterra erstá prohibida extrahir-se com pena de morte (Vandelli 1789b: 206). O Sal semelhante ao de Epsom ao pé de Coimbra (n) [(n) Em hum banco de Marne de Montarrojo.] (Vandelli 1789c: 231). Por entre as rimas destes bancos se achaõ varias pederneiras (3) [(3) Silex Cretaceus)] dispostas em linha quase horizontal; e por entre os bancos de algumas pederneiras, alguma argilla marne (4) [(4) Argilla Marga) […]] (Baptista 1789: 270). Os materiaes capazes de produzirem aquelles effeitos, e por consequencia proprios para beneficiar as terras, saõ os estercos, os marnes, a cal, o cré, as pedras calcarias, e todas as que reduzidas a pó se fazem absorventes, a argilla, as cinzas, o cascalho, a arêa, &c (Costa 1789: 361).

Neben mehreren Belegen, aus denen das Genus von marne nicht hervorgeht („uma especie de marne“, Vandelli 1789a: 179; „hum banco de Marne“, Vandelli 1789c: 231), finden wir in den Texten aus den Memórias von 1789 beide Genera, darunter sogar Schwankungen zwischen beiden Genera innerhalb eines Textes („hum marne encarnado“, Vandelli 1789b: 202; „algumas marnes“, Vandelli 1789b: 206; „os marnes“, Costa 1789: 361), dazu das Kompositum „argilla marne“ (Baptista 1789: 270). Einzige glaubwürdige Interpretation ist, dass es sich bei argilla marne um ein Nominalkompositum (N + N) handelt, bei dem der zweite Bestandteil den ersten genauer bestimmt. Eher unwahrscheinlich (aber ohne Kenntnis der dazugehörigen Pluralform doch nicht vollständig auszuschließen) ist eine Interpretation von marne als adjektivischer Zusatz zur genaueren Bestimmung von argilla.

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Zwar ist in vielen der Memórias der Academia das Sciencias de Lisboa unklar, welche Sekundärliteratur die Autoren verwendeten (und somit auch, ob die Entscheidung für den Gebrauch einer Form marna, marne oder marno mit bestimmten Referenztexten zu tun hat und um welche es sich dabei handelt); aufgrund der an anderen Stellen immer wieder deutlich werdenden klaren Orientierung auch an französischen Autoren ist jedoch naheliegend, dass die hier betrachteten Belege in den Memórias letztlich auf französische Referenztexte zurückgehen (vgl. Sinner 2012). Zu den bedeutendsten Arbeiten, die sich im 18. und 19. Jh. um die Systematisierung und Klassifizierung der neuen bzw. erneuerten Wissenschaften bemühten, deren Terminologie sammelten und für portugiesische Leser zugänglich machten, gehören neben dem 1788 erschienenen Diccionario dos termos technicos de historia natural von Vandelli 2 und dem 1788 von Brotero in Paris veröffentlichten Compendio de botanica das zwischen 1804 und 1806 in fünf Bänden erschienene Diccionario de agricultura, extrahido em grande parte do cours d’agriculture de Rosier von Francisco Soares Franco. Bemerkenswert ist, dass diese Werke, und ganz besonders das Wörterbuch Francos, in der portugiesischen Sprachwissenschaft, Lexikologie bzw. Terminologie nur selten zum Nachvollziehen historischer Entwicklungen des Wortschatzes herangezogen wurden, obwohl die Bedeutung der Publikationen schon in zeitgenössischen Arbeiten immer wieder hervorgehoben wurde und bis in die Gegenwart immer wieder angeführt wird (vgl. dazu Sinner 2012, vgl. Verdelho 1994: 346). 3 Tatsächlich findet sich im dritten Band des Diccionario de agricultura Francos von 1805 unter dem Eintrag marne eine recht deutliche Darlegung der Hintergründe der Entlehnung aus dem Französischen, an der bei Franco kein Zweifel herrscht: MArne

(I). Marne. He huma terra calcarea, que effervesce com os acido, mais ou menos branca, mais ou menos barrenta, quasi sempre pulverulenta, e situada profundamente na terra. Os seus principios saõ terra calcarea, argillosa, e silicea, ou arêa; tambem se lhe acha magnesia. Quando os primeiros tres principios se achaõ em huma justa proporçaõ temos o marne perfeito, que he hum excellente estrume, e hum thesouro em Agricultura. A proporçaõ destes tes principios influe muito sobre os seus caracteres externos: se a arêa domina, o marne he mais friavel, attrahe a humidade, e a agoa, e as conserva; se a he muito porosa, o ar se introduz nos seus poros, de modo, que deitando-se-lhe agoa elle sahe para fóra, e o marne parece escumar. Se a argilla domina, a tenacidade e a ductilidade augmen-

2 Das Diccionario dos termos technicos de historia natural stellt eine Übersicht und Erläuterung des den Werken Linnés entnommen Spezialwortschatzes zur historia natural dar (Vandelli 1788). 3 Franco 1806b: 367 etwa begründet eine ausbleibende Darlegung des „Systema de Linneo“ u.a. mit der Existenz einer entsprechenden Erläuterung in portugiesischer Sprache im zweiten Band des Compendio de Botanica von Brotero (1788).

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taõ na sua proporçaõ; emfim a efferfescencia he tanto maior, quanto mais abunda a terra calcarea. Do que temos dito facilmente se concluem os caracteres do bom marne; exposto ao ar deve desfazer-se, e redizir-se a pó; lançando em agoa deve dissolver-se, largando muitas bolhas de ar, ser muito friavel, adstringir fortemente a lingoa; emfim fazer efferfescencia com vinagre, agoa forte, &c. Não só se acha o marne em fórma pulverulenta, mas tambem em fórma solida, e em pedra. Estas pedras marnosas expostas ao ar se desfazem como a cal viva. ________ (I) Marga dos Latinos; preferimos o termo Francez, porque tem huma accepção mais geral, marga he propriamente, e sómente o marne argilloso (Franco 1805: s.v., hier: 316).

Der Autor schreibt weiter: O marne fertiliza as terras de muitos modos; […] o marne muito argilloso pode irgualmente servir, para estrumar as terras areentas, como diz Joung, e Rosier (I). […] De modo, que passados alguns annos, os animais lavraõ muito mais facilmente o terreno marnado. ________ (I) Cito alem de Rosier, Joung, porque a opiniaõ popular he que o marne só serve para estrumar as terras barrentas (Franco 1805: s.v., hier: 317).

In der Fußnote auf S. 316 begründet Franco die Entscheidung, im Text den Gallizismus marne und nicht marga zu verwenden, mit einer terminologischen Überlegenheit des ersten Ausdrucks, der allgemeiner sei, da marga nur eine bestimmte Form von Mergel bezeichne. Anstelle einer Bedeutungserweiterung von marga zieht er also eine Entlehnung aus dem Französischen vor. Ob eben diese Sicht auch andere Autoren vor Franco bewogen hat, marne gegenüber marga zu präferieren, ist nicht nachvollziehbar. Die dargelegte terminologische Unterscheidung von marga und marne wird jedoch in der portugiesischen Lexikographie bis heute nicht nachvollzogen, da marne und die alternativen Formen auf a oder o durchgehend mit marga gleichgesetzt werden (vgl. unten), Verweise auf diesen wesentlichen Beitrag Francos oder seine Überlegungen zur Semantik des allgemeinsprachlichen marga und des von ihm als Fachterminus auserkorenen Gallizismus marne finden sich jedoch in den einschlägigen Publikationen nicht. 2.2. Kritische Analyse

Die Genuszuschreibung ist bei der Analyse der Anpassung von aus anderen Sprachen ins Portugiesische aufgenommenen Elementen von besonderem Interesse. Genusschwankungen können unterschiedliche Motive bzw. Erklärungen haben, etwa die noch nicht weit zurückreichende Übernahme aus einer anderen

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Sprache, den parallelen Gebrauch von miteinander konkurrierenden Entlehnungen aus verschiedenen Sprachen oder parallel verlaufende intra- und extralinguistisch motivierte Neologie; Genusalternanz gilt insbesondere als charakteristische Interferenzerscheinung aufgrund von Zweisprachigkeit (vgl. Baetens Beardsmore 1986: 66, Sinner 1996: 26). Auch kann Genusschwankung als Hinweis auf die Konkurrenz volkssprachlicher und bildungssprachlicher (oft fremdsprachlicher oder latinisierender) Substantive verstanden werden, wodurch es zur Substituierung der einen durch die andere Form kommen kann. Letztendlich sind Genusschwankungen Hinweis auf geringe Festigung eines Lexems in der Sprache. Die Genusschwankungen in den Texten der Memórias sind ein wertvolles Indiz für die Existenz konkurrierender Tendenzen der Genusattribution, die auf noch nicht abgeschlossene Prozesse der Naturalisierung des entlehnten Lexems hindeuten. Die Alternanz im Genusgebrauch bei marne, mit Belegen für Schwankungen sogar im Text eines einzigen Autors, lassen sich klar als Hinweis auf das Vorliegen eines erst neu aufgenommenen Gallizismus deuten. Die Schwankungen sind Anzeichen der Neuheit und der geringen Verbreitung und Üblichkeit von marne, was insgesamt auf eine wenig fortgeschrittene Durchsetzung des Lexems hindeutet (Sinner 2012: 555f.). Die Alternanz von einer dem französischen Ausgangslexem entsprechenden Form marne und der an die portugiesische Morphologie assimilierten Form marna ist ebenso ein Zeichen für eine wenig weit zurückgehende Geschichte der Verwendung im Portugiesischen und fehlende Stabilität bzw. Klarheit der Form. Dass diese Alternanz bis heute in den Wörterbüchern nachvollzogen ist, indem beide Formen (mitunter neben einer dritten Form marno) aufgenommen werden, ist zweifellos auf das Vorliegen der entsprechenden Belege in portugiesischen Texten zurückzuführen. Dem Umstand aber, dass es sich bei den Quellen nur um Texte aus dem 18. und 19. Jh. handelt, wird dabei nicht einmal durch eine entsprechende diachronische Markierung wie ‚veraltet‘ oder ‚ungebräuchlich‘ Rechnung getragen. Im Corpus Lexicográfico do Português ist weder marna – die einzigen Belege sind für den Namen des französischen Flusses, Marna – noch marne zu finden. In einigen Werken erscheinen Marna und Marne lediglich als Name des französischen Flusses (vgl. Glosbe, Melhoramentos). Im Dicionário Priberam (DPLP) wird nur marna, nicht marne verzeichnet, als Singular Femininum und, wie in Houaiss (2001: s.v.) unter Verweis auf marga, als galicismo markiert. In den Wörterbüchern von Figueiredo (1973), von Caldas Aulete et al. (1987) und von Morais (1990) findet sich (ebenso wie in der Onlineversion von Caldas Aulete, vgl. Aulete digital) neben marna, wo auf marga verwiesen wird, auch marno, ebenfalls mit Verweis auf marga. Bemerkenswert ist bei Caldas Aulete, dass sich der Zusatz „É considerado galicismo“ nur bei marno findet.

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Mitunter finden sich Einträge für eine Form marnel ‚Sumpf, Sumpfland‘, das synonymisch neben paul und pântano tritt. Verweisen einige Autoren auf einen Ursprung in marinel (von marino) (etwa Figueiredo 1973, Dicionário ingral 2008), so wird bei anderen Autoren ein Bezug zu marga (und somit implizit marne) hergestellt. Im Wörterbuch von Porto Editora (1993) z.B. wird neben marga auch marnel registriert, während marna, marne oder marno nicht aufgenommen sind und marnel unter Rückgriff auf marga definiert wird. Im Wörterbuch Porto Editora (2001) wird marnel explizit – aber nur im Sinne einer Vermutung – auf das ebenfalls verzeichnete marna zurückgeführt: „de marna + -el?“ (2001, s.v. marnel). Eine Ausnahme stellen die Berücksichtigung einer auf marne zurückgeführten, als „O mesmo que margoso“ definierten Form marnoso ‚mergelartig, mergelhaltig‘ neben marne und marno dar, wie sie bei Séguier (1996) gegeben wird (das Element findet sich bei Franco 1805, vgl. Zitat oben). Viterbo (1966) nennt marnel und das von ihm als Synonym von marnel dargestellte marnoceiro in seiner Liste der veralteten, im modernen Portugiesischen nicht mehr verstandenen Lexik. Dies ist der einzige explizite Hinweis darauf, dass diese Elemente nicht mehr gebräuchlich sind, alle anderen Wörterbücher (etwa Moreno 1971) übergehen diese zugleich diachronische, diafrequentative und diaintegrative Markierung. Andere Ableitungen werden nicht verzeichnet; so ist das bei Franco (1805) gebrauchte marnado in den untersuchten lexikographischen Werken nicht – also auch nicht als veraltet – aufgeführt. In manchen der lexikographischen Werke zum Portugiesischen, vor allem in den von Grund auf neu erarbeiteten Veröffentlichungen, findet sich nur marga, so etwa im Akademiewörterbuch (Academia das Ciências de Lisboa 2001). Die Schwankungen in den Texten spiegeln sich in den Darstellungen hinsichtlich Genus und Endung (marne, marna, marno) in Wörterbüchern und Enzyklopädien also wider. Marne ist in einigen der Texte des Korpus offenbar mit marga gleichgesetzt bzw. wird in einigen der Texte synonymisch gebraucht. Problematisch ist, dass port. marga mit der lateinischen Form marga (vgl. Machado 1952) völlig übereinstimmt, warum in einigen Fällen nicht zu klären ist, wann marga als portugiesisches Synonym von marne angegeben wird und wann es die lateinische Entsprechung darstellt. Eine Ausnahme stellt die Angabe eines gallischen Ursprungs von marga dar (Dicionário integral 2008); 4 ebenfalls eine Ausnahme ist die Rückführung von marna bzw. marne auf marga, so bei Cunha (1994), der offenbar aufgrund falscher Interpretation anderer Quellen dazu schreibt: „Marna, s. De marga. No séc. XVII“ bzw. 4 Die klassische Frage, ob für die Herkunftsbestimmung eines Etymons die Sprache, aus der ein Element entlehnt wurde, anzunehmen ist, oder die Sprache, aus der das Lexem wiederum in eine oder mehrere Mittlersprachen übernommen wurde, ist hier nicht zu beantworten.

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„Marne, s. De marga? No séc. XVII“; bemerkenswert ist der Hinweis auf die Unsicherheit der Etymologie nur bei der auf e auslautenden Form. Marga findet sich schon in Plinius’ Naturalis historia, die Herkunft des lat. marga aus dem Keltischen wird diskutiert (vgl. Machado 1952: s.v.). In den Wörterbüchern wird unter marne immer wieder, mitunter mit dem Zusatz „Galicismo“ und vielfach ohne weitere Ausführungen, direkt auf marga verwiesen (vgl. etwa Dicio, Infopédia, Michaelis 1998, Michaelis online, Machado 1984), marga ist also aus lexikographischer Sicht der Haupteintrag. Marga findet sich, anders als marne, bis in die Gegenwart in allen konsultierten Wörterbüchern des Portugiesischen, und zwar durchgängig ohne Hinweise auf diastratische oder diatopische Einschränkungen. Die einzige diasystematische Markierung zu marna, marne, marno ist mit „Geol.“ für Geologie diatechnischer Art (vgl. Houaiss 2001, Aurélio 1986), für marga findet sich neben „Geol.“ auch „petrol.“ (Porto Editora 1993) bzw. „petrologia“ (Porto Editora 2001). Ergebnisse der Suche nach marne(s) und marga(s) im Corpus do português 5 von Davies und Ferreira sind ein weiteres deutliches Indiz dafür, dass sich marga durchgesetzt hat und marne nicht Fuß fassen konnte. In diesem Korpus finden sich vier Belege für marga aus dem 19. und 20. Jh. und vier Belege für margas aus dem 20. Jh., während marna(s) und marne(s) im Korpus kein einziges Mail belegt sind.

3. Schluss Dass marne sich offensichtlich nicht durchsetzen konnte, kann einerseits damit erklärt werden, dass trotz Ausführungen Francos, wonach marga und marne nicht etwa Synonyme darstellen, sondern marga nur Teile der von marne abgedeckten Gesamtbedeutung benennt, eine wirkliche Leerstelle im Wortschatz offenbar als solches nicht wahrgenommen wurde. Möglicherweise hat dies damit zu tun, dass marga genau wie marne mit Zusätzen wie argillosa genauer präzisiert werden kann, womit eine wirkliche Bezeichnungsleerstelle nicht vorlag. Gegenüber dem auch in der Volkssprache verbreiteten marga hatte marne offenbar keine wesentlichen Vorteile, die eine Durchsetzung gegen das von der Frequenz her wichtigere marga befördert hätten. Damit kann das Fortdauern von marga und die Nichtkontinuität bzw. Nichtetablierung von marne bzw. einer der morphologisch assimilierten Formen marna oder marno im Wesentlichen wohl mit Sprachökonomie – nämlich der Vermeidung unnötiger Synonymien – und fehlender Akzeptanz des Gallizismus marne erklärt werden. 5 Das Corpus do português (Georgetown University) mit 45 Millionen Wörtern umfasst mehr als 50.000 Texte von 1300 bis 1999.

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Darüber, ob die für das 19. Jh. aufgezeigte ablehnende Haltung gegenüber Gallizismen einen Beitrag zum Triumph von marga geleistet hat, kann dagegen nur spekuliert werden. Die Aufnahme von marna, marne, marno in modernen Wörterbüchern des Portugiesischen ohne Anmerkung, dass es sich um ein ungebräuchliches Lexem handelt, lässt sich nur als Reminiszenz aus vergangenen Sprachstufen interpretieren; inwiefern der nur in einigen wenigen Referenztexten nachgewiesene Gebrauch eines – bei Franco explizit als Gallizismus identifizierten – Lexems auf die agrarwissenschaftliche Fachsprache allgemein ausstrahlte, war hier nur ansatzweise zu überprüfen. Das Fehlen in den Korpora des Portugiesischen ist trotz des Umstandes, dass agrarwissenschaftliche Fachtexte dort offenbar unterrepräsentiert sind, ein wichtiger Hinweis darauf, dass der Terminus als solcher in der portugiesischen Fachsprache nie wirklich implementiert war. Somit stellt sich die Frage, ob die in modernen Wörterbüchern des Portugiesischen verzeichneten Einträge marna, marne, marno nicht eher als Wörterbuchleichen anzusehen sind, die ihr Dasein einigen wenigen isolierten Erstbelegen und hinsichtlich der Aussonderung von ideolektalen Elementen wenig kritischen Wörterbuchautoren verdanken.

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Raúl Sánchez Prieto Visibilidad dialectal en la web social – herramientas para su determinación

Dialektsprecher haben in jüngster Zeit das WWW als Kommunikationsplattform entdeckt. Die Rolle der neuen Medien und insbesondere des Internets bei der Erhaltung der germanischen und der romanischen Dialekte ist kaum untersucht worden. In diesem Beitrag wird die Notwendigkeit begründet, das Vorhandensein dialektaler Web 1.0- und Web 2.0-Angebote innerhalb einer virtuellen Sprachgemeinschaft empirisch durch die Analyse von Online-Korpora näher zu untersuchen. Dafür wird der Begriff der dialektalen Visibilität eingeführt. Um die Präsenz dialektaler Webseiten, Posts und Threads prozentual zu allen zu einer bestimmten Sprache gehörenden Web-Inhalte zu quantifizieren, wird ein Visibilitätsindex vorgeschlagen.

1. Las aplicaciones de la web social: una nueva plataforma para la expresión en dialecto Las lenguas minoritarias, para las que se ha puesto de moda en los últimos años la denominación de ‘minorizadas’ (Cotano 2000: 15), han sido objeto de estudio lingüístico preferente en los últimos veinte a treinta años y aún continúan siéndolo. En parte, la discusión acerca del status de las lenguas minoritarias se lleva a cabo en Internet, poderoso medio a través del cual las comunidades lingüísticas se expresan preferentemente en la actualidad. Pero no solo los hablantes de lenguas minoritarias han descubierto las ventajas que les brinda este nuevo medio digital. A través de la Red también los usuarios de un determinado dialecto también pueden interactuar en la variante lingüística propia cuando quieran y donde quiera que vivan. Por lo tanto, la era digital favorece tanto una red multilingüe como una mayor visibilidad escrita (y audiovisual) de los dialectos de aquellas sociedades con un alto grado de acceso

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a internet. No es de extrañar, por lo tanto, que ciertos dialectos ya tengan más contenidos en línea que impresos. Pero mientras que las lenguas minoritarias que son cooficiales en sus territorios hace ya tiempo que se incorporaron a la era digital con la ayuda de las administraciones locales y regionales, los dialectos europeos se han ido incorporando a esta plataforma comunicativa en los últimos años. Han surgido grupos de discusión en las redes, foros, blogs, wikis y se han subido videos a plataformas de video-sharing. Hoy en día, los interesados en los fenómenos dialectales y en especial los dialectólogos pueden acceder a golpe de ratón a gran cantidad de información (contrastada y no contrastada) sobre un dialecto determinado hablado en su región o a miles de kilómetros de distancia de su lugar de residencia. A pesar de la relevancia de este fenómeno y de su fácil acceso, la dialectología aún no ha trabajado lo suficiente sobre estas nuevas situaciones comunicativas dialectales. De hecho, la denominada Web 2.0 o ‘red social’ posibilita la apertura de la red a contenidos dialectales anteriormente muy difíciles de publicar. Podría darse la siguiente paradoja: mientras que desciende el uso del dialecto en la vida real no digital, aumenta el uso del dialecto como factor identitario en la red. Los aún no excesivamente numerosos estudios lingüísticos sobre la red social se emplean en analizar los comportamientos lingüísticos e identitarios de los usuarios en la red (cf., entre otros, Klein 2007 y Shimada 2007), en especial los nuevos hábitos de escritura (p.e. Rehm 2002 o Schlobinski 2005b). De igual forma se ha estudiado el uso de la lengua en aplicaciones concretas como los chats (Beißwenger 2000, Dorta 2005, etc.), los foros (Androutsopoulos 2007, Ehrhardt 2009, entre otros), los blogs (Herring 2004, Schlobinski 2005a, etc.), las wikis (Mehler/Sutter 2008) o las redes sociales (Renz 2007). Pero, aunque ya hace algunos años que se comprobó que “the Internet also fosters written communication in dialects and languages that previously were used principally for oral communication” (Wahrschauer et al. 2007: 304), apenas se han publicado trabajos sobre las características de las webs escritas en dialecto. Uno de los pocos trabajos de envergadura es el de Carroll (2008) sobre el español puertorriqueño. Los investigadores se suelen centrar en determinar la vitalidad de las lenguas (no dialectos) minoritarias en la red. A ese respecto son destacables los trabajos de Cunliffe (2005) sobre el galés, el de Flemming/ Debski (2007) sobre el gaélico irlandés, el artículo de Fernández (2001) sobre el vasco, los de Sánchez Prieto (2010) y Wagner (2010) en relación al luxemburgués y el de Micó/Masip (2009) sobre el catalán.

Visibilidad dialectal en la web social - herramientas para su determinación

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2. El concepto de “visibilidad dialectal en la red” dentro de la dialectología Desde hace tiempo es conocido el hecho de que los dialectos pueden cumplir funciones lingüísticas y sociales divergentes en diferentes áreas lingüísticas (Berruto 2004: 191). El nuevo campo de investigación que es necesario desarrollar dentro de los estudios dialectológicos tendría como objetivo determinar el uso del dialecto en la web (sobre todo en la web social) de una lengua determinada. El término que se empleará para denotar este concepto será ‘visibilidad dialectal’. A continuación se expondrán brevemente las principales cuestiones que se podrían examinar para establecer el grado de visibilidad dialectal de un dialecto tipo románico o germánico en la red. La primera de las preguntas a las que se debería dar respuesta por medio del análisis empírico de un corpus relevante, de cuya recogida y composición nos ocuparemos más tarde, se refiere a la posibilidad de que existan o no sitios web de tecnología 1.0 en la red. En el caso de existir habría que determinar qué institución o asociación cultural es responsable de la web y de su actualización. De esta manera se pondría de manifiesto el grado de apoyo que tiene el uso de un determinado dialecto en internet y si esa institución ha creado o está intentando crear unos hábitos de escritura determinados desde la red. Como ejemplo se podría citar la página web de la Dirección Xeneral del Política Llingüística (www.politicallinguistica.org, 16.06.2011), portal de presentación de los diferentes dialectos hablados en el Principado de Asturias dependiente de la Consejería de Cultura y Turismo del Gobierno del Principado. Una segunda interrogante se presenta con la cantidad y variedad de aplicaciones de segunda generación (web 2.0) que son utilizadas diariamente por los hablantes dialectales. En el caso de dialectos vivos de transmisión directa los hablantes más jóvenes seguramente utilizarán todos los mecanismos y aplicaciones a su alcance para comunicarse en su variedad lingüística habitual e intercambiar ideas sobre todo tipo de situaciones de la vida cotidiana en las que normalmente utilizan el dialecto. De esta forma, en el dialecto ripuario, hablado en partes de Renania-Palatinado y Renania del Norte-Westfalia, incluida la ciudad de Colonia, se pueden encontrar tanto grupos de Facebook como wikis (Wikkipedija en Ripoarisch Platt: ksh.wikipedia.org, 16.06.2011) e incluso podcasts y videos en la plataforma Youtube. En tercer lugar cabría preguntarse si existen directorios en línea de blogs, wikis, podcasts en dialecto y si se han formado comunidades virtuales que lo usan como medio de expresión. Particularmente interesantes serían aquellas páginas colaborativas en las que el dialecto no es el tema único de conversación, sino un mero vehículo de expresión. A este respecto sería importante determi-

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nar hasta qué punto están disponibles ya plantillas (templates traducidas, por lo general) en dialecto. A modo de ejemplo baste con comparar el leonés cántabro (leonés oriental), que no cuenta con directorios de webs y para cuyos blogs no existen plantillas completas en dialecto, con el dialecto leonés asturiano central, para el que existen plantillas propias en esa variedad lingüística a disposición de los usuarios y directorios y comunidades de blogs (como Esbilla: www.esbilla.net). De igual forma sería sociolingüísticamente interesante analizar cómo interactúan los hablantes dialectales con aquellos a los que podríamos denominar ‘hablantes del estándar’: ¿Contestan en dialecto a preguntas formuladas en el estándar? ¿qué actitudes muestran éstos hacia los hablantes dialectales? La interacción de los hablantes de la lengua estándar con aquellos que escriben en dialecto puede resultar en una batalla lingüística acerca de cuestiones metalingüísticas y sociopolíticas en general y sobre el estatus del dialecto en cuestión en particular (como por ejemplo en: www.youtube.com/watch?v=pA5Q0UrjN es). Para determinar el grado de visibilidad del dialecto en la red es necesario poner en relación los contenidos dialectales presentes en la red con el total de los contenidos pertenecientes a la lengua dentro de la cual se encuadra el dialecto. La realización de esta tarea solo puede ser estadística y debe partir de una selección representativa del material lingüístico que encontramos en línea.

3. Herramientas para la determinación de la visibilidad dialectal 3.1. El corpus

Con el objeto de determinar la visibilidad de un dialecto dado en la red es necesario trabajar con un corpus que refleje, en la medida de lo posible, la realidad lingüística de la red. A pesar de las limitaciones que las máquinas de búsqueda imponen al lingüista (Hoffmann 2007: 69), éstas son decisivas a la hora de construir un corpus ajustado a nuestras necesidades. A este respecto es necesario señalar que alguno de ellos, como Google, se ha convertido en el buscador de referencia de comunidades lingüísticas enteras. Además, los buscadores supuestamente aplican criterios logarítmicos basados en la importancia de las webs indexadas o el número de visitas que reciben para la obtención de resultados, lo que, en un principio, podría garantizar la relevancia y suficiencia de un corpus que recoja, al menos la cinco primeras páginas de resultados encontrados. Deberían ser suficientes para constatar si los hablantes dialectales hacen uso de internet y leen en su dialecto, pues según estudios empíricos en el

Visibilidad dialectal en la web social - herramientas para su determinación

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mejor de los casos solo el 5% de los usuarios llega a abrir la quinta página de resultados (Jansen et al. 2000: 215). La mayor parte de los usuarios no pasa de los primeros veinte resultados de la lista (esto es, de la segunda página, Odom 2011: 18). Como parámetros de búsqueda se podrían introducir en el buscador datos metalingüísticos como la denominación del dialecto y del territorio en el que se habla el dialecto tanto en la lengua estándar como en la variante en cuestión. Este proceder tiene en cuenta la estrecha relación entre identidad de grupo y el nombre de la lengua o del dialecto (Weber 1995: 202) y el territorio en el cual se habla (Williams 1991: V). Si se quisiera analizar, por ejemplo, hasta qué punto está presente en la red el dialecto franconio-renano palatinado se podrían introducir en el buscador Google los siguientes metadatos: nombre del dialecto en alto alemán moderno (Pfälzisch), glotónimo en dialecto (Pälzisch), nombre de la región en alemán estándar (Pfalz) y en dialecto (Palz). Los glotónimos usados deben ser los populares, nunca los términos científicos usuales en dialectología pero sin reflejo en el uso lingüístico popular. En aquellos casos en los que los hablantes de ese dialecto se refieren a su habla con varios términos populares, debería contemplarse el más usual. Éste es el caso por ejemplo del leonés asturiano central o asturleonés central, en la voz del pueblo ‘bable’ o ‘asturianu’. Debido a que los diferentes tipos de presencia en web pueden presentar distintos problemas de recogida, se hace preciso explicar la recogida y posible validez representantiva aplicación por aplicación. En el caso de las páginas webs estáticas de tecnología 1.0, junto al buscador generalista Google, también podrían ser relevantes ránkings de páginas basados en el tráfico que recibe cada web, como Alexa (www.alexa.com). Alexa pone a disposición del usuario de su web categorías idiomáticas y geográficas con las cuales es posible obtener un listado de las webs más leídas y más enlazadas de un tema determinado (por medio de tags) o de un estado concreto. Lógicamente solo deben ser consideradas páginas webs de formato 1.0 escritas total o parcialmente en dialecto. Esto incluye los numerosos glosarios y gramáticas dialectales en línea redactados en estándar. Es necesario excluir los resultados que remiten a contenidos de la web social, que pueden ser sustituidos por el mismo número de resultados de web 1.0 procedentes de la sexta página del listado de resultados. Una vez elaborado los cuatro listados y hallada la relación porcentual de webs con contenidos dialectales escritos para uno de ellos, se hallará el promedio igualmente porcentual de presencia en la web 1.0. Así, por ejemplo, para la etiqueta de búsqueda “asturiano” (glotónimo en estándar) en Google.es se obtienen de esta manera los siguientes resultados sobre un total de los cincuenta primeros: Dos webs están escritas completa o parcialmente en

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Raúl Sánchez Prieto

dialecto, 41 en castellano estándar. Siete son web de segunda generación. Si se sustituyen estos últimos siete resultados referentes a la web social por los siguientes en el listado de Google, los resultados finales arrojan que la presencia dialectal para el parámetro de búsqueda dado es del 4% (2 resultados) y la del castellano estándar del 96% (48 resultados). En lo que respecta a los blogs, la aplicación que más problemas presenta para la recogida de datos (Erlhofer 2010: 145), se propone un análisis basado en los resultados obtenidos en el motor de búsqueda de blogs y demás contenidos sociales de Google, BlogSearch (blogsearch.google.com). Como parámetros de búsqueda podrían adoptarse los ya mencionados para la web 1.0, a saber: glotónimo y nombre del territorio en la lengua estándar y en dialecto. Más fácil es la recogida del corpus en el caso de las wikis, pues la mayoría de ellas pertenecen al portal multilingüe (y multidialectal) Wikipedia. Pero como los criterios para la puesta en marcha de nuevas versiones de Wikipedia ni son claros ni filológicos, y muchas veces están sometidos a presiones políticas, es preciso buscar posibles wikis fuera del radio de acción de Wikipedia. El criterio de presencia para las enciclopedias en línea será tanto su existencia como el número de entradas de cada wiki en cada dialecto en comparación con las entradas de la Wikipedia de la lengua estándar. En lo que se refiere, tomemos por ejemplo, al bávaro, la Boarische Wikipedia contaba a mediados de julio de 2010 3.581 artículos, mientras que en la Wikkipedija en Ripoarisch Platt se podían consultar 10.968 entradas. Si comparamos y ponemos en relación procentual estas versiones con la Wikipedia en lengua alemana (1.092.425 artículos), llegamos a la conclusión de que el número de entradas de la wikipedia bávara correspondería al 0,3278% y el de la ripuaria al 1,004% del total de artículos que integran la wiki altoalemana. Las redes sociales con buscadores internos como Facebook o Twitter se pueden incorporar al corpus de manera similar. Para que se consideren como dialectalmente relevantes, en el muro de discusión de cada página o grupo de Facebook debe encontrarse al menos un post y una respuesta en dialecto. Cada vez más importante para los hablantes dialectales son las plataformas de videosharing como Youtube. Utilizando como etiquetas de búsqueda el glotónimo y del nombre del territorio en dialecto y en la lengua estándar, se propone que pasen a integrar el corpus los cincuenta primeros resultados de cada búsqueda. Será necesario hallar dos porcentajes. El primero de ellos medirá la presencia porcentual de contenidos audiovisuales en Youtube. El segundo tendrá como fin determinar si el dialecto es utilizado en la función de comentario. Lógicamente las búsquedas en todas las asplicaciones se han de efectuar desde las interfaces de ubicación de cada lengua a la que pertenece el dialecto y desde el país correspondiente, si es necesario por medio de vpn. La tabla

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Visibilidad dialectal en la web social - herramientas para su determinación

siguiente resume las herramientas propuestas para realizar el análisis de visibilidad y la muestra base. web 1.0 páginas estáticas web 2.0 blogs

buscador/ránking

tags/búsqueda

muestra

Google

glotónimo(s) y nombre del territorio en dial. y estándar

sobre 400 resultados estáticos (50 por tag, 200 por aplicación)

glotónimo(s) y nombre del territorio en dial. y estándar

200 primeros resultados (50 por tag)

Alexa BlogSearch

wikis Facebook (o Twitter)

Wikipedia o similar buscador interno

Youtube

buscador Youtube

glotónimo(s) y nombre del territorio en dial. y estándar glotónimo(s) y nombre del territorio en dial. y estándar

Una o varias sobre 200 resultados (50 por tag) sobre 400 resultados (50 por tag, 200 comentarios y 200 de audio)

Tabla 1: Corpus

3.2. El índice de visibilidad dialectal

El cálculo del índice de visibilidad dialectal en la red pone en relación porcentual los contenidos encontrados redactados en dialecto en una o varias aplicaciones de la web 1.0 y 2.0 con el número total de webs integrantes de la muestra. Esto permite hallar la media estadística sobre el tanto por ciento del total de resultados arrojados por los buscadores. Para calcular el índice se propone la siguiente fórmula básica que puede ser adaptada en función de las variables que se pretendan considerar: x = ā + ē + ī + ō + ū (… + ȳ)/n. En ella cada vocal con macrón representa la media estadística porcentual de aparición de contenidos dialectales en un buscador determinado de una aplicación concreta. La variable “n” indica el número de aplicaciones consideradas en el dividendo.

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4. A modo de ejemplo: visibilidad dialectal del bable asturiano y del palatinado en la red social A modo de ilustración del método expuesto anteriormente para determinar el grado de presencia de un dialecto en la red, se recurrirá a dos dialectos pertenecientes a dos lenguas distintas y en una situación sociolingüística diferente: el bable asturiano y el palatinado. Se analizará su presencia en blogs, wikis, Facebook y Youtube. El bable asturiano es un dialecto de la lengua española que ha intentado ser estandarizado. Un pequeño grupo de filólogos de la Universidad de Oviedo agrupados en torno a la Academia de la Llingua Asturiana y que Bauske (1995: 218) define como “sprachnationalistische Kräfte”, eleva esta variedad a la categoría de “llingua”.1 Mediante su codificación se pretendió evitar “die Unterordnung des Asturischen (bzw. Asturianischen) als spanischer Dialekt” (Kabatek 2003: 178). Para buena parte de la hispanística, el bable asturiano no es una lengua, sino un conjunto de dialectos leoneses englobados dentro de una entidad mayor denominada lengua española o castellana (Menéndez Pidal 1906: 129, Neira 1976: 31, Martínez Álvarez 1996: 119). Quizá se podría convenir en denominarlo un neolecto a medio camino entre dialecto y lengua por elaboración (Kabatek 2006: 157). Se trata, por lo tanto, de un dialecto con cierto reconocimiento institucional y del que esperamos que esté ampliamente representado en la red social. El palatinado, por su parte, es una denominación popular de un grupo dialectal que pertenece al franconio-renano, englobado éste a su vez en lo que se denomina alemán medio occidental (Wiesinger 1983, Post 1992). 4.1. Visibilidad dialectal del asturiano y el palatinado en la blogosfera

Encontrar bitácoras escritas en asturiano no es difícil si alimentamos el motor de búsqueda elegido (Blog Search) con el glotónimo y el topómino dialectal. De hecho, respectivamente el 70% y el 58% de los resultados encontrados mediante el uso de asturianu y Asturies remiten a contenidos mayoritariamente escritos en esta variante. La visibilidad de la blogosfera en dialecto asturiano es nula o muy baja al utilizar como referencia el glotónimo y el topónimo en castellano (tabla 2). 1 No obstante, algunos dirigentes de la Academia de la Llingua Asturiana denominaban anteriormente a su radicalización lingüística a estas variedades leonesas como “bable”, admitiendo que se trataba de un “conjunto de hablas” diversas (Cano/García Arias 1976). Las denominaciones locales para los diferentes dialectos leoneses hablados en esta región son “bable(s)” y “asturianu” (Kabatek 2003: 178).

Visibilidad dialectal en la web social - herramientas para su determinación

término de búsqueda

estándar

dialecto

otra lengua/dial.

glotónimo estándar (asturiano)

98%

0%

2%

glotónimo dialectal (asturianu)

30%

70%

0%

territorio estándar (Asturias)

98%

2%

0%

territorio dialecto (Asturies)

40%

58%

2%

685

Tabla 2: El bable en Blog Search (información extraída el 29.11.2010)

Al analizar de modo temático los blogs recogidos en el corpus dialectal asturianu, sorprende el elevado tanto por cierto de posts (y blogs) de temática predominantemente política o político-nacionalista (32%), frente a un 52% de bitácotoras que versan sobre temas de la vida cotidiana. Otros temas tratados son metalingüísticos (8%) y folklorísticos (6%). A modo de ejemplo valga un fragmento en el que un bloguero cercano a la formación nacionalista Bloque por Asturies solicita que se obligue a Microsoft a traducir el sistema operativo Windows al asturiano (falarylleer.blogspot.com/2010/11/piden-windows-nasturianu.html). El palatinado tiene una mucho menor presencia en la blogosfera que el asturiano. Solo el 38% y el 8% de los posts y blogs consultados mediante los parámetros de búsqueda Pälzisch y Palz están escritos completa o parcialmente en este dialecto renanofranconio (tabla 3). término de búsqueda

estándar

dialecto

otra lengua/dial.

glotónimo estándar (Pfälzisch)

84%

6%

10%

glotónimo dialectal (Pälzisch)

58%

38%

4%

territorio estándar (Pfalz)

100%

0%

0%

territorio dialecto (Palz)

40%

8%

52%

Tabla 3: El Pfälzisch en Blog Search

Otra diferencia esencial con el asturiano es la inexistencia de temática políticonacionalista en los resultados encontrados. Así, por ejemplo, los post recogidos mediante el parámetro de búsqueda Pälzisch son bien pertenecientes a cuestiones cotidianas (72%), bien reflexiones sobre el dialecto propio y su uso (28%). Perteciente a ambos ámbitos temáticos es el post “Die Roode Deiwel misse Pälzisch lerne”, donde se comenta un artículo aparecido en el periódico regional Die Rheinpfalz sobre la falta de conocimientos lingüísticos del equipo de fútbol FC Kaiserslautern (http://www.fck-news.de/?p=18504).

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4.2. Visibilidad dialectal del asturiano y el palatinado en wikis

Ambos dialectos tiene su propia enciclopedia colaborativa en línea, la Uiquipedia en asturianu y la Pälzisch Wikipedia. En el momento en el que se llevó a cabo la recogida del corpus, la Wikipedia asturiana (ast.wikipedia.org, 29.11.2010) tenía 13.951 entradas, mientras que el incubator de la Wikipedia palatinada (incubator.wikimedia.org/wiki/Wp/pfl/Hääptsaid, 08.09.2010, actualmente en pfl.wikipedia.org/) solo contaba con 282. Si se halla el índice porcentual de este número de entradas sobre el total de entradas que en esas fechas abarcaban las Wikipedias española (676.279 entradas) y alemana (1.118.637 artículos), se obtiene un índice de 2,0629% para el asturiano y de solo 0,0252% para la palatinado. Es decir, el asturiano, sobre todo esa variedad escrita que se ha calificado antes de neolecto, es mucho más visible con respecto a la Wikipedia española que el palatinado con referencia a la alemana.

5. Visibilidad dialectal del asturiano y el palatinado en la web social 5.1. En la red social Facebook

A diferencia de blogs y de wikis, aplicaciones en las cuales los hablantes dialectales pueden y suelen ocultar su identidad, los usuarios de la red social Facebook por regla general son personal reales con nombres y apellidos. Quizá por eso el uso del dialecto sea comparativamente menor. En lo que se refiere a los resultados sobre el bable asturiano, solo es de relevancia el uso del dialecto en threads personales, grupos y páginas obtenidos a través del glotónimo asturianu (34,4%) y del topónimo Asturies (16%). En el resto del corpus la presencia del dialecto es prácticamente inexistente (tab. 4). término de búsqueda

estándar

dialecto

otra lengua/dial.

glotónimo estándar (asturiano)

97%

1%

2%

glotónimo dialectal (asturianu)

64,1%

34,4%

1,5%

territorio estándar (Asturias)

97%

0%

3%

territorio dialecto (Asturies)

55%

16%

29%

Tabla 4: El bable en Facebook

La mayor parte de los resultados obtenidos mediante el uso del tag ‘glotónimo dialectal’ en el buscador de Facebook son en su mayor parte de temática cotidiana (66%). No obstante, el 16% son temas de índole político-nacionalista, el 6%

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Visibilidad dialectal en la web social - herramientas para su determinación

folklorística y el 12% metalingüística. Casi todos los threads nacionalistas se centran en la exigencia de hacer oficial el asturiano en el Principado. El palatinado es muy poco visible en esta red social. Solo se pudieron recoger dos muestras partiendo del parámetro de búqueda del glotónimo estándar y tres del glotónimo dialectal. En el resto del corpus la presencia dialectal no supera el 1% (tab. 5), por lo que se puede concluir que el Pfälzisch todavía no ha llegado a Facebook. término de búsqueda

estándar

dialecto

otra lengua/dial.

glotónimo estándar (Pfälzisch)

solo dos muestras encontradas

glotónimo dialectal (Pälzisch)

solo tres muestras encontradas

territorio estándar (Pfalz)

81%

1%

18%

territorio dialecto (Palz)

2%

1%

97%

Tabla 5: El Pfälzisch en Facebook

5.2. Visibilidad dialectal del asturiano y el palatinado en la plataforma de video-sharing Youtube

La presencia de contenidos audiovisuales en bable asturiano en Youtube es sensiblemente menor que la del palatinado, como se observa en la tabla 6. Esto se puede deber a que el palatinado es un dialecto que, no teniendo grupos de presión ni instancia alguna que intente su estandarización, es fundamentalmente hablado. Gran parte de los contenidos audiovisuales en palatinado son doblajes humorísticos de fragmentos de conocidas películas, como por ejemplo La Guerra de las Galaxias/Star Wars (http://www.youtube.com/watch?v=Vbtj77tum0). término de búsqueda - audiovisual glotónimo estándar (asturiano) glotónimo estándar (Pfälzisch) glotónimo dialectal (asturianu) glotónimo dialectal (Pälzisch) territorio estándar (Asturias) territorio estándar (Pfalz) territorio dialecto (Asturies) territorio dialecto (Palz)

estándar 62% 46% 14% 2% 42% 96% 26% 46%

dialecto 24% 50% 84% 98% 0% 0% 24% 30%

otra lengua/dial. 14% 4% 2% 0% 58% 4% 50% 24%

Tabla 6: Ambos dialectos en Youtube

Entre los videos asturianos parte del corpus se hallan también fragmentos doblados de películas. De igual forma encontramos algún programa de la tele-

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visión pública asturiana y videos de carácter político-nacionalista, como “El asturiano, lengua prohibida” (www.youtube.com/watch?v=evbc_exY-4M). En los comentarios realizados por los usuarios a los videos que forman parte del corpus se observa igualmente una mayor visibilidad del palatinado que del asturiano (tabla 7). término de búsqueda - comentarios glotónimo estándar (asturiano) glotónimo estándar (Pfälzisch) glotónimo dialectal (asturianu) glotónimo dialectal (Pälzisch) territorio estándar (Asturias) territorio estándar (Pfalz) territorio dialecto (Asturies) territorio dialecto (Palz)

estándar 90% 54% 70% 18% 28% 94% 70% 6%

dialecto 4% 26% 66% 80% 0% 0% 0% 4%

otra lengua/dial. 6% 20% 16% 2% 72% 6% 30% 90%

Tabla 7: Ambos dialectos en Youtube

5.3. Índice de visibilidad del asturiano y del palatinado en la web social

Este análisis ejemplar de 1200 entradas por dialecto ha demostrado que el asturiano tiene una mayor visibilidad que el palatinado en las aplicaciones de la web social en las que prima la escritura (blogs, wikis, redes sociales). Por el contrario, el palatinado alcanza un mejor índice de visibilidad en aplicaciones audiovisuales. La estructura temática de los usuarios de ambos dialectos se diferencia en la elevada recurrencia de temas político-nacionalistas del corpus asturiano, inexistente en el corpus palatinado. Para calcular el índice de visibilidad de ambos dialectos en las cuatro aplicaciones consideradas adaptamos la fórmula anteriormente expuesta, resultando x = ā + ē + ī (ī 1 +ī 2 /n) + ō/4, donde porcentualmente “ā” es la media de blogs integrantes del corpus con contenidos dialectales, “ē” la media de contenidos dialectales en la red social Facebook, “ī” la media de contenidos dialectales presentes en Youtube obtenida mediante la puesta en relación de la media de la oferta audiovisual (“ī 1 ”) y de los comentarios (“ī 2 ”), y “ō” el porcentaje de artículos enciclopédicos escritos en dialecto en Wikipedia con respecto al total de artículos redactados en la lengua estándar. Los contenidos dialectales presentes en el corpus asturiano ascienden al 15,6% de todos los resultados obtenidos mediante los buscadores. El palatinado alcanza un índice de visibilidad inferior, llegando a un 12,5%.

Visibilidad dialectal en la web social - herramientas para su determinación

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6. Conclusiones En este artículo se ha expuesto la necesidad de un análisis riguroso y de corpus de la presencia de los dialectos románicos y germánicos en internet, especialmente en la web de segunda generación. El término acuñado para medir esa presencia es el de ‘visibilidad dialectal’. Las herramientas que se proponen para la realización del análisis parten de cuatro parámetros de búsqueda, dos glotónimos en dialectal y en la lengua estándar y los topónimos dialectales y estándares de la región donde se habla la variante en cuestión. Las aplicaciones consideradas son la web 1.0, los blogs, las wikis, Facebook y Youtube. El corpus mínimo que permitiría obtener un resultado adecuado es de 1200 resultados por dialecto. Con posterioridad a las explicaciones procedurales y basándonos en el método expuesto se llevó a cabo un análisis ejemplar de la presencia dialectal del bable asturiano y del palatinado en la web social, dos dialectos opuestos en cuanto a su posición sociolingüística. El asturiano está más presente en la web social que el palatinado, lo cual es fácilmente explicable debido a los esfuerzos de algunos de sus hablantes por convertirlo en lengua por ausbau y dotarlo de una variante escrita. Creemos que el método desarrallado puede ser de utilidad a la hora de determinar el uso de los dialectos europeos occidentales en internet, tarea aún pendiente dentro de los estudios dialectológicos.

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Raúl Sánchez Prieto

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