Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt 9783666539688, 9783525539682

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Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt
 9783666539688, 9783525539682

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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments In Verbindung mit der Stiftung »Bibel und Orient« der Universität Fribourg/Schweiz herausgegeben von Max Küchler (Fribourg), Peter Lampe, Gerd Theißen (Heidelberg) und Jürgen Zangenberg (Leiden)

Band 69

Vandenhoeck & Ruprecht

Thomas Schmeller (Hg.)

Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-53968-2

© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort Die „Arbeitsgemeinschaft katholischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler“, die alle zwei Jahre im deutschen Sprachraum eine thematische Tagung durchführt, traf sich im Februar 2007 in Mödling bei Wien. Ihr Thema war: „Historiographie und Biographie“, ein ausgesprochen umstrittenes Forschungsgebiet gegenwärtiger Exegese des NT. Schon die Frage, wie sich die beiden Gattungen in der nichtchristlichen Antike zu einander verhalten, wird kontrovers diskutiert. Klar ist, dass es sich um verschiedene Gattungen handelt, dass aber Mischformen häufig sind. Diese Unsicherheit macht es nicht einfach, die ntl Evangelien einzuordnen. Während sich seit den 1980er Jahren die Überzeugung verbreitet hat, die Evangelien gehörten zur Vitenliteratur, werden sie in manchen neuesten Veröffentlichungen stärker zur Historiographie gerechnet. Besondere Probleme bereitet das lk Doppelwerk: Lassen sich beide Bücher einer gemeinsamen Gattung zuordnen, und wenn ja, welcher? Auch für das Verständnis von Q ist die genannte Diskussion relevant, denn es stellt sich die Frage, wie weit im Blick auf biographisch-narrative Elemente die Gemeinsamkeiten des „Spruchevangeliums“ Q mit den „Erzählevangelien“ des NT gehen. Für das Corpus Paulinum ist das Thema insofern von Interesse, als manche Abschnitte der Paulusbriefe (bes. Gal 1f.) in heutiger Wahrnehmung autobiographische Elemente enthalten. Die Antike kannte keine Gattung „Autobiographie“. Immerhin sind autobiographische Abschnitte in anderen Gattungen (etwa Reden, Briefen, Hypomnemata) zu finden. Es gab bestimmte Voraussetzungen für einen Rückblick auf das eigene Leben – ohne plausiblen Anlass über sich selbst zu sprechen, war anstößig. Wie positioniert sich Paulus in einem solchen Umfeld? Die Frage lässt sich auf die Deuteropaulinen ausdehnen und gewinnt hier noch an Komplexität. Der vorliegende Sammelband versucht, die gerade gestreiften Fragen einer Klärung näher zu bringen. Die Beiträge gehen teils auf Vorträge, teils auf Arbeitsgruppen der Tagung in Mödling zurück. Ich danke Prof. Dr. Max Küchler für die Aufnahme des Bandes in die Reihe NTOA, seinem Mitarbeiter Dr. Matthias Schmidt für Unterstützung beim Layout. Danken möchte ich auch der Erzdiözese Wien und der Universität Fribourg für beträchtliche Druckkostenzuschüsse. Frankfurt a.M., im Dezember 2008

Thomas Schmeller

Inhalt DETLEV DORMEYER Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament ..........................................................................

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MARTIN EBNER Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswerken. Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römischer und urchristlicher Literatur .........................................................................................

35

CHRISTOPH HEIL Evangelium als Gattung. Erzähl- und Spruchevangelium ............

63

CHRISTOPH GREGOR MÜLLER 'KJIJUKLnach Lukas. Zwischen historiographischem Anspruch und biographischem Erzählen .......................................................

95

STEFAN SCHREIBER Die Vita des Königs Jesus. Über die Gattung des Johannesevangeliums .................................................................... 127 INGO BROER Autobiographie und Historiographie bei Paulus ........................... 155 GERD HÄFNER Biographische Elemente der Paulusrezeption ............................... 179 Autoren und Herausgeber ............................................................. 208

Detlev Dormeyer

Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament Einleitung Die letzte Tagung der Arbeitsgemeinschaft katholischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler 2005 in Fribourg stand unter dem Thema „Archäologie und Text“.1 Das heutige Rahmenthema „Antike Geschichtsschreibung und Neues Testament“ setzt dieses Thema z.T. fort. Denn Gattungen werden von den Archäologen anerkannt als ein überprüfbares, konventionelles „Erzähl- und Argumentationsmuster“. Mit ihrer Hilfe lassen sich die erhaltenen Arte-Fakte in einen humanen, kommunikativen Zusammenhang stellen. Es entsteht ein kulturelles und kommunikatives Gedächtnis.2 Diese Interpretationsleistung vermögen besonders einige spezifische, kleine Gattungen zu leisten wie Herrscher-Inschriften,3 Autobiographien in Grabanlagen4 und „Einfache Formen“ der mündlichen Überlieferung.5 Gehört auch die Geschichtsschreibung zur Archäologie? Die Archäologie deutet ja die erhaltenen Arte-Fakte mit den Texten der kritischen Geschichtsschreibung, sonst bleiben die Artefakte stumm. Und umgekehrt interpretiert die Geschichtswissenschaft den historischen Gehalt der Dokumente u.a. mit der Archäologie.6 Bei diesem Wechselprozess ergeben sich allerdings die Fragen, die das Wesen der Geschichtsschreibung betreffen. Inwieweit erlauben die unterschiedlichen Gattungen der Geschichtsschreibung einen Rückschluss auf historische Ereignisse und historische Artefak1 M. Küchler/K.M. Schmidt (Hrsg.), Texte-Fakten-Artefakte. Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung (NTOA 59), Fribourg/Göttingen 2006; S. Alkier/J. Zangenberg (Hrsg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42), Tübingen/Basel 2003, bes. 21–64. 2 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 11992, 22005. 3 G. Misch, Geschichte der Autobiographie. 2 Bde. Frankfurt 1949. 4 K. Vössing (Hrsg.), Biographie und Prosopographie, Düsseldorf 2005, 7–73. 5 A. Jolles, Einfache Formen, Tübingen 51974. 6 W. Bösen, Mehr als eine freundliche Gesprächspartnerin. Zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Exegese, in: M. Küchler/K.M. Schmidt, Texte (s. Anm. 1) 161–196.

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Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung

te? Welche Kriterien unterscheiden die Kulturen und Gattungen der Geschichtsschreibung in der Antike? So sollen folgende Punkte behandelt werden: 1. Griechische, alttestamentliche und frühjüdische Geschichtsschreibung. 2. Pragmatische und pathetische bzw. mimetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie. 3. Griechische Spezialgattungen der Geschichtsschreibung. 4. Einwirkung der griechischen Geschichtsschreibung auf das Neue Testament.

1. Griechische, alttestamentliche und frühjüdische Geschichtsschreibung Theodor Zahn stellte 1888 fest: „Von Art und Kunst griechischer Geschichtsschreibung hat jedenfalls der Verfasser unseres ersten Evangeliums nichts gewusst. Es liest sich wie ein alttestamentliches Geschichtswerk“.7 Die griechische Sprache ist nur ein äußeres Gewand für atl Erzählen und Geschichtsverstehen. Die Polarisierung zwischen griechischer und alttestamentlicher Geschichtsschreibung geht bekannter Weise bis zu Gerhard von Rad. Von ihm stammt 1960 die pointierte Gegenüberstellung: „Auch Israel ist sich nach einer archaischen Zeit der ordnenden Kräfte der ratio bewusst geworden, aber es hat dieses Vermögen – einmal mündig geworden – in ganz anderer Richtung als die Griechen betätigt, nämlich in immer neuen Reflexionen über die Bedeutung geschichtlicher Ereignisse, in Reflexionen, die freilich immer nur in Gestalt von ad hoc-Deutungen in Erscheinung treten.“8 In „ganz anderer Richtung als die Griechen“ beruht wesentlich auf den „ad hoc-Deutungen“, die aus der einzigartigen Erfahrung von Gott in der Welt hervorgehen.9 Von dieser Erfahrung Gottes ist das ganze AT geprägt, so dass von Rad bereits 1952 den programmatischen Satz bilden konnte: „Das Alte Testament ist ein Geschichtsbuch“.10 7 Th. Zahn, Der Geschichtsschreiber und sein Stoff im Neuen Testament, in: ZKW 9 (1888) 581–596, 588; dazu D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung (EdF 263), Darmstadt 1989, 51f. 8 G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments. 2 Bde., München 1960, 130f.; dazu H. Cancik, Zur Verwissenschaftlichung des historischen Diskurses bei den Griechen, in: E. Blum u.a. (Hrsg.), Das Alte Testament – Ein Geschichtsbuch?, Münster 2005, 87; so auch A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums (11900), hrsg. u. komm. T. v. Rendtorff, Gütersloh 1999, 67. 9 G. v. Rad, Theologie (s. Anm. 8) 1.131. 10 G. v. Rad, Das Alte Testament ist ein Geschichtsbuch, in: C. Westermann (Hrsg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik (ThB 11), München 1968, 11–18, 11.

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2005 wird dann ein Symposium anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971) unter dem Titel herausgegeben: „Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?“.11 Spannend für unser Thema ist die Spätdatierung des Jahwisten in die Zeit des Exils und seine Gleichsetzung mit früher griechischer Geschichtsschreibung.12 Also J und die griechischen Logographen (Hekataios von Milet u.a.) schreiben zu gleicher Zeit und mit gleichem Stil.13 Die Frage einer nachweisbaren Intertextualität muss noch offen bleiben, aber eine interkulturelle Parallelität muss festgehalten werden. Erste methodologische Bemerkung: Blum, der Herausgeber, erklärt diese Parallelität formgeschichtlich. Er unterscheidet das „ionische“ Paradigma vom „israelitischen“ Paradigma und gelangt zum Ergebnis: „In kulturgeschichtlicher Perspektive dürfte das ionische Paradigma die Ausnahme darstellen.“14 Denn Israel bildet mit der Sage u. ä. eine Fiktionalität 1. Grades, während die griechische Geschichtsschreibung ab Herodot eine Fiktionalität 2. Grades hat, die von der Hörerschaft als mögliche Fiktion neben anderen Fiktionen rezipiert wird.15 Diese Differenzierung zwischen Ereigniserzählung mit theologischen ad-hoc Deutungen (= Fiktionalität 1. Grades) und kritischer Geschichtsschreibung mit reflektierter Fiktionalität 2. Grades trifft m.E. den Unterschied zwischen AT und NT. Die Fiktionalität ist eine textpragmatische Kategorie.16 Die Hörer entscheiden bei der Fiktionalität 2. Grades über die Plausibilität oder NichtPlausibilität des Geschichtsentwurfs.17 Das auktoriale „Ich“ des griechischen Historiographen bietet die Plausibilität an und steht für sie ein.18 Die Hypothesenbildung über diese Entscheidungsprozesse prägt von Anfang an die Synoptikerforschung. Deren Methodenparadigmen teilten ja die Aktivität der Gemeinde geradezu gegensätzlich ein. Nach der Formgeschichte rezipierte die Gemeinde die Sammlungen „Evangelium“ als „nichtfiktionale“ Geschichtsschreibung, also als Fiktionalität 1. Grades. Die Redaktionsgeschichte arbeitete anschließend zwar die Autor-Konstruktion heraus, 11 E. Blum, Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: E. Blum, Geschichtsbuch (s. Anm. 8) 65–87. 12 J. v. Seters, The Pentateuch as Torah and History: In Defense of G. v. Rad, in: E. Blum, Geschichtsbuch (s. Anm. 8) 62. Van Seters stellt fest: „This is what early Greek historiography of the antiquarian type tried to do, and this resembles so closely the product that I am labeling J that I must believe it is the result of the same process, the activity of a historian“ (a.a.o.) 13 Van Seters, Pentateuch (s. Anm. 12) 62: same process. 14 E. Blum, Historiographie (s. Anm. 11) 74. 15 E. Blum, Historiographie (s. Anm. 11) 78–81; ähnlich H. Cancik, Verwissenschaftlichung (s. Anm. 8) 87–101. 16 E. Blum, Historiographie (s. Anm. 11) 75–81. 17 G. Theißen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung (NTOA 34), Freiburg 1997. 18 E. Blum, Historiographie (s. Anm. 11) 71.

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Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung

doch die Gemeinde verblieb auf der Ebene nicht-fiktionaler Rezeption. Der poetologische Ansatz des literaturgeschichtlichen Vergleichs, zu dem eine Vielzahl von neuen Zugängen zu rechnen sind, unterstellte hingegen eine Hörerschaft mit reflektierter, fiktionaler Rezeption (Fiktionalität 2. Grades).19 Für die Hörerschaft des AT muss hier nicht weiter diskutiert werden, ob sie nur den 1. Rezeptionsgrad vertrat und den beginnenden Sonderweg der Griechen nicht kannte. Doch für das griechischsprachige NT muss die Intertextualität zu Rate gezogen werden, weil die griechischen Dokumente der Geschichtsschreibung den Gemeinden bekannt waren. Zweite methodologische Bemerkung: Es lässt sich eine produktionsorientierte und rezeptionsorientierte Intertextualität unterscheiden.20 Nach der produktionsorientierten Intertextualität nehmen die Autoren des NT die griechische Septuaginta auf und verarbeiten sie als verifizierbaren Prätext. Wenn es nur die produktionsorientierte Intertextualität gegeben hätte, müsste das NT ganz im Sinne von Zahn die atl Geschichtsschreibung 1. Grades, die Zahn „kunstlos“ nennt,21 fortgesetzt haben. Doch nach der rezeptionsorientierten Intertextualität wirken alle Texte, die ein Hörer kennt, beim Akt des Hörens und Lesens mit. Der Autor kann sie bei Kenntnis der Hörer antizipieren, der Hörer kann sie auch ohne Autor-Intention einbringen. Die gesamte christliche Antike hat die Evangelien der Geschichtsschreibung zugerechnet.22 Hatten nur die ersten Hörer sie falsch interpretiert? Bereits die Zitierung der griechischen Bibel im NT muss doch den Hörer zur Fiktionalität 2. Grades zwingen. Er muss fortwährend entscheiden, ob 19

J. Schröter, Konstruktionen von Geschichte und die Anfänge des Christentums: Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive, in: Ders. mit A. Edelbüttel (Hrsg.), Konstruktion von Wirklichkeit, Berlin 2004, 201–221, 204f. 20 S. Alkier, Intertextualität, in: K. Erlemann u.a. (Hrsg.), Neues Testament und antike Kultur, Bd 1, Neukirchen 2004, 60–65. 21 Th. Zahn, Geschichtsschreiber (s. Anm. 7); bereits Herder deutete so die Evangelien: „Sind ihre Evangelien Geschichte und Biographie nach einem Ideal der Griechen und Römer? Nein… Der Geschichtsstil der Ebräer gehört, wie ihre Poesie, in die Kindheit des Menschengeschlechts…“ (J.G. Herder, Vom Erlöser der Menschen: Nach unseren drei ersten Evangelien, 1796 in: J.G. Herder, Sämtliche Werke 19, hrsg.v. B. Suphan, Berlin 1880 = Hildesheim 1967, 135–252, 194 ff., zit. in D. Dormeyer, Das Markusevangelium, Darmstadt 2005, 17.) 22 M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, 20–31; D. Dormeyer, Evangelium (s. Anm. 7) 4–25. Die Väter und der Kritiker Kelsos hatten Recht, die Evangelien und die Apg der Geschichtsschreibung 2. Grades zuzurechnen (Orig., Princ IV,2,9; „Anführer der Entstehung der Christen aber ist Jesus gewesen; er hat vor ganz wenigen Jahren diese Lehre eingeführt, von den Christen angesehen als der Gottessohn“ [Cels 1,26]). Eusebius rechnet das Markusevangelium dem Prozess der „Hypomnema“-Bildung zu (Eus., Hist Eccl II 15; s.u. 3.1); grundlegend die Neuerscheinung: M. Lang, Die Kunst des christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 29), Leipzig 2008.

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seine erlernten, griechischen Geschichtstexte plausibel sind oder nicht und ob die ntl Geschichtstexte mit den atl Zitaten plausibler sind oder nicht.23 Josephus kann als Kronzeuge für diese rezeptionsorientierte Intertextualität dienen. Im Vorwort zu den Antiquitates, den jüdischen Altertümern, sagt er gleich in Satz 5: „Die vorliegende Geschichtsschreibung (RTCIOCVGKC) habe ich in Angriff genommen, weil ich glaubte, dass sie allen Griechen würdig des Studiums erscheine. Sie wird nämlich unsere ganze Altertumskunde (CXTECKQNQIKC) und Gemeinschaftsverfassung (RQNKVGWOC) enthalten, die aus den hebräischen Schriften übersetzt worden sind“.24

Josephus verfasst für griechische Leser eine pragmatische Geschichtsschreibung (KBBUVQTKC 1,1; RTCIOCVGKC 1,5). Die darin enthaltenen Berichte von den geschichtlichen Anfängen und von der alten Verfassung sollen die Neugier des Lesers reizen (s.u. 2: Hdt., Prolog) Doch dann fährt Josephus fort, von seinem früheren Werk, der „Geschichte des Krieges (…) gegen die Römer“ zu berichten und es vom jetzigen Werk abzuheben (1,6–7). Dabei fällt als neues Thema des neuen Werkes: „die Erkenntnis Gottes“ (1,14). Zu Recht erwähnt Josephus sofort eine Trägheit und ein Zögern, „ein so gewaltiges Vorhaben (WBRB QSGUKL) in einer fremden, ungewohnten Sprache wiederzugeben“ (1,7). Denn der lange Bericht von fortlaufenden Taten Gottes an einem Volk gehört nach griechischem Verständnis nicht zu einer kritischen pragmatischen Geschichtsschreibung. Es darf nur in Ausnahmefällen von einer indirekten Einwirkung einer Gottheit gesprochen werden.25 Josephus legt daher in seinem Alterswerk „Contra Apionem“ nach, da er die Ablehnung seiner „Archäologia“ durch die griechischen Leser erfahren musste.26 In einem Exkurs (Ap 1,6– 59) behandelt er die Mängel der griechischen Geschichtsschreibung. Denn diese genießt bei den Lesern unverdient einen Vorsprung an Glaubwürdigkeit. Die griechische Geschichtsschreibung aber ist jung, sie hat nur wenige alte, öffentliche Urkunden zur Verfügung, und es mangelt an Übereinstim23 Häfner führt folgende Kriterien an, „Entwürfe des Wirkens Jesu“ zu falsifizieren: zum einen „die Analyse von literarischem, archäologischem und epigraphischem Quellenmaterial“, zum anderen „Entscheidungen, die den Referenzmodus der verschiedenen Jesusüberlieferungen betreffen“ (K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen, Neukirchen 2007, 113.). Der Referenzmodus hängt von den literarischen Gattungen ab (a.a.O. 111). Die griechische Geschichtsschreibung zwingt (im Unterschied zur atl Historie) den Leser ständig zur Überprüfung der Quellen, Augenzeugen und historischen Plausibilität (s.u. 4. zu Lk 1,1–4) 24 Jos., Ant 1,5. 25 S.u. 2. 26 Jos., Ap 1,1–5; D. Dormeyer, Des Josephus zwei Suasoriae (Übungsreden) „Über das Volk der Juden“. Die beiden Vorworte (Proömien) Contra Apionem 1:1–5; 2:1–7 und die beiden Vorworte Lk 1,1–4; Apg 1,1–14, in: J.U. Kalms (Hrsg.), Internationales Josephus-Kolloquium Amsterdam 2000 (MJSt 10), Münster 2001, 241–262.

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Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung

mung der Geschichtsdarstellungen. Diese sind allerdings in der Rhetorik den anderen Kulturen überlegen. „Hinsichtlich der Worte (NQIYP) und der Redegewalt (VJLGXPVQWVQKLFGKPQVJVQL) müssen wir den griechischen Schriften den Vorzug einräumen (RCTCEYTGKP), nicht aber hinsichtlich der wahren Geschichtsschreibungen (KBBUVQTKCL) von den Altertümern (CXTECKYP) und am wenigsten hinsichtlich der Geschichtsschreibung der jedem (Volk) eigenen Einrichtungen.“ (Ap 1,27)

Die jüdische Geschichtsschreibung der Hohenpriester und Propheten gehört daher zu der alten, überprüfbaren Geschichtsschreibung der Ägypter und Babylonier; sie bewahrt sogar am gewissenhaftesten die alten Aufzeichnungen im Gegensatz zur unsicheren mündlichen griechischen Tradition auf und hat einen Kanon der anerkannten Bücher (Ap 1,28–59). Es wird das erste überlieferte Kanon-Verzeichnis der hl. Schriften Israels aufgeführt. Der Vorwurf des arroganten Übergehens fremder Geschichte entspringt nicht nur spezieller jüdischer Verteidigungshaltung gegenüber den Griechen (Ap 1,60–72). Auch Tacitus erhebt diesen Vorwurf gegen die griechischen Historiker.27 Es handelt sich also um einen verbreiteten Topos, dass die Griechen nur auf ihre eigene Geschichte fixiert sind (Dion. Hal., Ant Rom 1,4,2) und die Römer nur die Universalgeschichte der Vergangenheit ausführlich darstellen. Josephus begnügt sich aber nicht mit der Wiederholung dieses Topos wie in seinem Proömium zum Bellum (Bell 1,13–17), sondern analysiert zusätzlich die speziellen Gründe für das Verhalten der griechischen Historiker.28 Gemeinsam mit den Römern, gräzisierenden Ägyptern (Manetho, eventuell Lysimachos u.a.) und gräzisierenden Babyloniern (Berossos) greift Josephus das griechische Monopol auf Geschichtsschreibung an. Es findet so der griechische Agon (Wettkampf) um die richtige, wahre, universale Geschichtsschreibung auf dem römisch-griechischen Weltmarkt statt. Erster Kronzeuge für diesen Konkurrenzkampf ist Cicero. Der renommierte römische Historiker Attikus (Nepos, Att.) verlangt von Cicero eine historia, „damit wir auch in dieser literarischen Gattung hinter Griechenland in nichts mehr zurückstehen“ (Cic., Leg 1,5). Zuerst übergab Josephus das Bellum Judaicum an die „Herrscher Vespasian und Titus“, 27 „Die griechische Geschichtsschreibung, die nur die eigenen Taten bewundert, kennt ihn (den Germanenführer Arminius) nicht, und bei den Römern spielt er nicht die ihm gebührende Rolle, da wir die alte Geschichte rühmend hervorheben und der neuen gleichgültig gegenüberstehen“ (Tac., Ann. 2,88). 28 Jos., Ap 1,60–72: Sie begrenzen die Augenzeugenschaft auf die Gebiete, die für sie als Seefahrervolk von Interesse sind. Die griechische Geschichtsschreibung ist daher begrenzt. Sie kann deshalb den Anspruch auf die Wahrheit nur begrenzt einlösen. Die Zeugnisse anderer Kulturen müssen aber gehört werden (vgl. Cic., Leg 6–8).

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dann, so fährt er im Exkurs fort, „verkaufte ich (die Bücher) vielen der Römer, die mitgekämpft haben, und vielen der unseren“ (Ap 1,51). Der Aufweis der imperialen Engstirnigkeit der Griechen dient wie bei Tacitus in erster Linie der Werbung, erst in zweiter Linie dem grundsätzlichen Kampf um die kulturelle Gleichberechtigung.29 Die Werbung findet bei den Römern und beim eigenen Volk statt. Die Binnensicht ist wie im Prolog deutlich angesprochen, aber nicht rein apologetisch gemeint, wie die gängige Meinung ist.30 Der Versuch des Josephus, seiner Archäologie (= Antiquitates) einen gleichberechtigten Sonderplatz neben der griechischen Geschichtsschreibung einzuräumen, ist lobenswert, kommt aber zu spät und verfehlt sein Ziel. Denn Josephus erkennt die rhetorische Überlegenheit der Griechen an. Er versucht sogar, sie mit allen Mitteln nachzuahmen. Der unterscheidende Altersbeweis, den die christlichen Apologeten später von Josephus übernehmen werden, kann dagegen weder einen Griechen noch einen modernen Hörer überzeugen. Josephus übersieht die Möglichkeit, seine Veränderung der griechischen Rhetorik aufgrund des Nacherzählens der biblischen Geschichtsdarstellungen (1. Grades) als eine positive Leistung darzustellen. Stattdessen beteuert er ständig seine rhetorische Korrektheit.31 Er meint im Prolog zum „Bellum“, die pathetische Geschichtsschreibung auf die Reden begrenzen und im Erzählteil kritisch-pragmatisch bleiben zu können (Jos. Bell 1,11–12). Für Josephus ist klar, dass er seinem griechischsprachigen Publikum, das aus Judenhellenisten, Heidenhellenisten und zweisprachigen Lateinern besteht, nur rhetorisch einwandfreie Geschichtsschreibung bieten kann. Andererseits nimmt er deutlich deren Fremdheit gegenüber der israelitischen Geschichtstradition wahr. Ihm selbst gelingt keine Lösung, die die Griechen überzeugt. Wie sieht der Sonderweg der griechischen Geschichtsschreibung aus, den Josephus geradezu prophetisch richtig gesehen hat?

29 P. Bilde, Contra Apionem 1.28–56: Josephus’ View of his own Work in the Context of the Jewish Canon, in: H. Feldman/R. Levison (Hrsg.), Josephus contra Apionem, Leiden 1996, 94–114, 111; E. Blum, Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thronfolgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel, in: A. de Purg/T. Römer (Hrsg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids (OBO 176), Freiburg (Schweiz) 2000, 4–37. 30 Krieger stellt zum einen die Apologetik bei Josephus heraus, weist zum andern aber auch die Übernahme der „Gattung und Methode griechischer Geschichtsschreibung“ nach; die Werbung könnte stärker betont werden (K. Krieger, Geschichtsschreibung als Apologetik bei Flavius Josephus [TANZ 9], Tübingen/Basel 1994, 338); ähnlich Ch. Gerber, Ein Bild des Judentums für Nichtjuden von Flavius Josephus. Untersuchungen zu seiner Schrift „Contra Apionem“ (AGJU 40), Leiden 1997. 31 Ap 1,1–5 u.ö. s. Anm. 40; D. Dormeyer, Josephus (s. Anm. 26) 249–254.

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Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung

2. Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie Mit Herodot beginnt die kritische Geschichtsschreibung. Die Anfänge bei den Logographen wird hier nicht näher ausgeführt. Der Autor Herodot stellt sich als kritischer Forscher vor.32 Er nennt drei Ziele: 1. die Ereignisse unter den Menschen vor dem Vergessen zu bewahren (Memoria), 2. nur die großen und wunderbaren Taten der Hellenen und Barbaren für die Erinnerung auszuwählen (Selektion), 3. die Ursachen zu erklären, insbesondere für Kriege (Theorie). Das auktoriale „Ich“ fällt erst am Schluss des Prologs: „Ich selbst will nicht entscheiden, ob es so oder anders gewesen ist […]“ (Hdt. 1,5,3). Und dann nennt Herodot „Kroisos“ als Ursache des Krieges zwischen Persern und Griechen. Herodot markiert mit diesen Zielen einen scharfen Schnitt zur epischen Geschichtserzählung seit Homer.33 Die Ereignisse „unter Menschen“ sind nicht mehr Mythen, in denen Götter mit Menschen handeln, sondern historische, von Menschen erzeugte Taten. Für die geschichtliche Forschung sind nur die Handlungsweisen der Menschen beobachtbar, in ihrer Größe mitteilbar und in ihrer Ursächlichkeit erklärbar. Geschichte wird zu einer Summe von autonomen Erlebniseinheiten und Lebensverläufen. Herodot unternimmt lange Reisen, um Augenzeuge wenigstens der Schauplätze und der fremden Völker zu werden. Er betreibt Ethnologie. Darauf kann Josephus Bezug nehmen. Thukydides erweitert später diese „historische Betrachtungsweise“,34 er schafft sie nicht neu. Doch hält sich Thukydides strenger an das Kriterium der Beobachtbarkeit. Außerdem führt er das Kriterium der „Wahrheit“ ein.35 32 Das Vorwort von Herodot lautet: „Herodotos von Halikarnassos gibt hier eine Darlegung seiner Forschungen, damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist; auch soll das Andenken an große und wunderbare Taten nicht erlöschen, die die Hellenen und Barbaren getan haben, besonders aber soll man die Ursachen wissen, weshalb sie gegeneinander Krieg führten“ (Hdt., Prolog 1 übs. v. W. Haussig). 33 R. v. Haehling, Herodot, in: K. Brodersen (Hrsg.), Große Gestalten der griechischen Antike. 58 historische Portraits von Homer bis Kleopatra, München 1999, 165–175. 34 R. Bichler/R. Rollinger, Herodot, Darmstadt 2000, 15. 35 „So fand ich die Vorzeit, in mühsamer Untersuchung, da nicht jedem ersten besten Zeugnis zu trauen war. Denn die Menschen nehmen alle Nachrichten von Früherem, auch was im eigenen Land geschah, gleich ungeprüft voneinander an [...]. So unbemüht sind die meisten in der

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Thukydides fährt fort: „Von allen früheren Taten (GTIQP) war also die bedeutendste der Perserkrieg“ (Thuc. 1,23). Nach Thukydides bietet nur die kritische, pragmatische Geschichtsschreibung gegenüber Dichtung und fabulierendem Erzählen die objektiv überprüfbare Realität und damit die historische Wahrheit. Der Begriff „RTCIOC“ von Polybios (Polyb. 1,1) wurde später gegenüber „GTIQP“ zum terminus technicus der Geschichtsschreibung (Poseidonios [135–51 v.Chr.], „Die Geschichte nach Polybios“; Jos., Ant 1,5). Herodot ist anderer Meinung. Er erlaubt sich, weiterhin einzelne, wunderbare Ereignisse in mythischer Form zu überliefern und auf eine kritische, objektive Analyse der Wahrheit oder auf eine Selektion zu verzichten. So wird Herodot zum Vater zweier und weiterer Söhne, zum einen zum „Vater“ der kritisch-pragmatischen Geschichtsschreibung (Cic., Leg 1,5), zum anderen zum Vater der tragisch-pathetischen Geschichtsschreibung und anderer Literaturgattungen der Ethnographie und Geographie.36 In Fortführung der Fabulierfreude Herodots trägt später Duris von Samos erneut die Dramatik der Tragödien und Epen in die Geschichtsschreibung ein, und zwar gegen Thukydides. Duris von Samos (ca. 340–270 v.Chr.) polemisiert im Proömium zu den Makedonika gegen die Vorgänger Ephoros und Theopomp: „Ephoros und Theopomp blieben hinter der geschichtlichen Wirklichkeit (VCIGPQOGPC) meilenweit zurück. Denn sie gaben in ihrer Darstellung weder irgendwelcher Nachahmung (OKOJUKL) noch Freude (JBFB QPJ) Anteil, sondern kümmerten sich lediglich um den Stil“ (Phot., Bibl 176 p. 121a 41 = F1, übs. v. K. Meister). Duris hält den Kritisierten vor, gegenüber der pragmatischen Geschichtsschreibung nur auf den Stil stärker zu achten. Gemeint ist offenkundig die Rhetorisierung des Stils ab dem späten 4. Jh. v.Chr.37 Duris selbst arbeitet hingegen das zentrale Prinzip der aristotelischen Tragödientheorie, die Mimesis = Nachahmung, ein (Aristot., Poët 1 = 1447a 15–20).38

Erforschung der Wahrheit und bleiben lieber bei den herkömmlichen Meinungen. Wer sich aber nach den genannten Zeichen die Dinge doch etwa so vorstellt, wie ich sie geschildert habe, wird nicht fehlgehen, unverführt von den Dichtern, die sie in hymnischer Aufhöhung aufgeschmückt haben, noch von den Geschichtenschreibern (logographos), die alles bieten, was die Hörlust lockt, nur keine Wahrheit [...]“ (Thuc. 1,20–21 übs. v. G.P. Landmann). 36 R. Bichler/R. Rollinger, Herodot (s. Anm. 34) 114–120; R. v. Haehling, Herodot (s. Anm. 33). 37 K. Meister, Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart u.a. 1990, 80–102; D. Flach, Römische Geschichtsschreibung, Darmstadt 1998, 42–54. 38 B. Effe (Hrsg.), Hellenismus, Die griechische Literatur in Text und Darstellung 4, Stuttgart 1985, 258 ff.

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Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung

B+FQPJ = Freude, Vergnügen, Lust gehört dagegen nicht zentral zur Tragödientheorie.39 Zwar spricht Aristoteles von „JBBFQPJ“ als Ergebnis von „Mitleid“ und „Furcht“, die von der Nachahmung ausgelöst werden (Aristot., Poët 14 = 1453b. 11-12). Aber das Ziel der Tragödie bleibt die Reinigung (MCSCTUKL) der Affekte „Mitleid“ und „Furcht“ (Aristot., Poët 6 = 1449b. 25-30). Daher warnt er davor: „Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße“ (Aristot., Poët 14=1453b 10).

Ob Duris den Tragödienstil strikt beibehalten oder dem Unterhaltungsinteresse entsprechend modifiziert hat, muss angesichts der wenigen Fragmente offen bleiben. Lendle beobachtet „mimetische und tragische Tendenzen […] in stark zunehmenden Maße aber in der Alexandergeschichte“ und ordnet zu Recht dieser Richtung Duris zu.40 Ein Dauerstreit um „wahre Geschichtsschreibung“ bricht im Anschluss an Duris aus: Polybios gegen Phylarchos, den Fortschreiber von Duris, dann gegen Theopomp und gegen Timaios (Polyb. 2,56,8–12; 12), Plutarch gegen Duris (Plut., Pericl 28) und Herodot (Plut., Herod Mal), Cicero gegen die „innumerabiles fabulae“ von Herodot und Theopomp (Cic., Leg 1,5), der auctor ad Theophilum gegen die Versuche „vieler“ (Lk 1,1–4), Lukian gegen unwahrhafte Historiker (Luc., Hist Conscr 14–34). Cicero stellt in „Über den Redner“ eine literaturgeschichtliche Liste von Historiographen auf; sie setzt mit Herodot ein und lässt Thukydides als „Sieger (vicit)“ über alle folgen (Cic., Orat 2,56–58). 39

Gegen K. Meister, Geschichtsschreibung (s. Anm. 37) 96f. O. Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Von Hekataios bis Zosimos, Darmstadt 1992, 187; Josephus greift in seinem Prolog zum „Jüdischen Krieg“ deutlich die pathetische Geschichtsschreibung auf und setzt ihre „Einschübe“ von der kritischpragmatischen Geschichtsschreibung ab: „Wenn also jemand gehässig den Finger darauf legen möchte, dass wir mit unserm Wort die Tyrannen oder deren Verbrecheranhang beschuldigen, oder dass wir das unselige Geschick der Heimat beklagen, dann möge er dem Kummer Nachsicht gewähren, selbst wenn dies der strengen Regel der Geschichtsschreibung widersprechen sollte. Denn unserer Stadt ist es zugestoßen, dass sie, die einst den größten Wohlstand von allen unter römischer Herrschaft stehenden Städten erreicht hatte, ins äußerste Unglück stürzte. Ja, alles Unheil, was sich seit jeher sonst ereignet hat, scheint mir vergleichsweise geringer zu sein, als dasjenige, welches die Juden betroffen hat. Und die Schuld daran trägt niemand aus fremdem Stamm, darum ist es unmöglich, der Trauer Herr zu werden. Fände sich aber ein Beurteiler, der für Mitleidsregungen zu hart wäre, so wolle er die Tatsachen der Geschichtsschreibung zurechnen, die Klagen darüber aber der Person des Geschichtsschreibers“ (Jos., Bell 1,11–12). Allerdings gelingt Josephus die hier angezielte Trennung zwischen „Tatsachen der Geschichtsschreibung“ (RTCIOCVCVJ^KBBUVQTKC^) und „Klagen des Geschichtsschreibers“ (QXNQHWTUGKLVYҡ ITCHQPVK) nicht. Seine Geschichtsschreibung ist durchgängig pathetisch und wird als solche auch weniger zutreffend „apologetisch“ genannt (so K. Krieger, Geschichtsschreibung (s. Anm. 30); dagegen D. Dormeyer, Josephus (s. Anm. 26). 40

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Lukian beginnt sein satirisches Vorwort mit einer Erzählung von der „Abderitischen Krankheit“ (Luc., Hist Conscr 2). Die Einwohner von Abdera sind verrückt geworden auf die „Tragödie“ und deklamieren fortwährend die bekanntesten, insbesondere die des Euripides (Luc., Hist Conscr 1). Diese Krankheit hat vergleichsweise auf „viele Gebildete (RGRCKFGWOGPQL)“ übergegriffen, die aber nicht beim Tragödien Deklamieren bleiben, sondern Geschichte schreiben im Stile der großen Vorgänger „Thukydides, Herodot und Xenophon“, diesen Anspruch aber nicht einlösen können (Luc., Hist Conscr 2; 4).41 41 Quintilian nennt als lat. Vorbilder Livius und Sallust (Quint., Inst Orat 2,,19). Backhaus stellt dagegen folgende „Leitthese“ auf: „Hellenistisch-frühreichsrömische Geschichtsschreibung ist im Hauptstrom ein Mischtypus, der die Rekonstruktion extratextualer Sachverhalte mit ordnenden Konstruktionselementen aus Rhetorik, mimetischer Kunst (Epos, Drama, Roman) und paideutischem Traktat zur narrativen Kohärenz verbindet“ (K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie [s. Anm. 23] 4). Er räumt sofort ein: „Ich spreche vom Hauptstrom und bin mir bewusst, dass (um die beiden zeitlichen Pole zu nennen) Teile der Ausführung Polybios mit Zorn und Lukian mit Hohn begegnen würde, aber gerade der Protest der Ausnahmen lenkt den Blick auf die Konvention“ (a.a.O. 5). Doch gerade dieser suggestiven Bestimmung von „Hauptstrom“, „Ausnahmen“ und „Konvention“ ist entschieden zu widersprechen. Bereits in der Leitthese ist die einleitende Definition „Hellenistisch-frühreichsrömische Geschichtsschreibung“ irreführend. Es gibt eine hellenistische Geschichtsschreibung, es gibt eine römische Geschichtsschreibung. Die Vertreter der Altertumswissenschaft haben bisher sorgfältig zwischen beiden Typen unterschieden. In der Biographie dagegen könnte es zu einem gegenseitigen Austausch gekommen sein (H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Darmstadt 22003, 7); doch sicher ist die Rezeption lateinischer Vitae durch die Griechen nicht, wohl aber umgekehrt die Rezeption der griechischen Bioi durch die Lateiner (Corn. Nep., Vit praefatio; H. Sonnabend, Biographie, 108–113; M. Holzbach, Plutarch: Galba-Otho und die Apostelgeschichte – ein Gattungsvergleich [Religion und Biographie 14], Münster 2006, 18–25). Ähnliches gilt neuerdings auch für die Geschichtsschreibung ab dem frühen Prinzipat (A. Mehl, Römische Geschichtsschreibung, Stuttgart u.a. 2001, 15–35). Ab Cicero wurde bewusst die griechische Geschichtsschreibung imitiert, das Umgekehrte geschah nur vorsichtig. Was aber ist der „Hauptstrom“ in der griechischen Geschichtsschreibung? Die erhaltenen griech. Universalgeschichten nach Polybios sind die Werke von Dionysios von Halikarnass (30 v.Chr. in Rom) und von Diodorus Siculus (60/56 v.Chr. in Ägypten). Beide sind Kompilatoren, die ihren Stoff rhetorisch aufbereiten und gleichzeitig sich dem thukydideischen Ideal der „Wahrheit“ und „Sorgfalt“ ausdrücklich verpflichtet wissen (Dion. Hal. 1,6,5; Diod. S. 1,4–5; O. Lendle, Einführung [s. Anm. 40] 239–244). Die Behauptung: „Diese so geformte Kohärenz stärkt im Selbstverständnis der Verfasser den Wahrheitsanspruch ihres Werkes, der sich nicht an der Norm verifizierbarer empirischer Daten messen lassen will“ (K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie [s. Anm. 23] 4) geht auch für die späten Universalgeschichten völlig fehl, weil sich diese wie Lk 1,1-4 weiterhin um Autopsie und kritische Quellenüberprüfung bemüht haben. Die weitere Bezugnahme auf die amerikanische Diskussion um „fiction“ und „faction“ (a.a.O. 4) kann wohl eher für einen gegenwärtigen Bestseller wie „Dan Brown, Sakrileg“ gelten als für die antike und ntl griechische Geschichtsschreibung. Entsprechend ist die Betonung des Einflusses des antiken Romans mit Skepsis zu betrachten. Drama und Epos wirken auf die Rhetorik von Dionysios Halikarnass und Diodorus Siculus ein, aber nicht der Roman. Deren Ausrichtung auf Rom trägt eventuell rezeptionsorientierte, römische Stilistik ein (A. Mehl, Römische Geschichtsschreibung, Stuttgart 2001, 15–35). Die Evangelien und die Apg sind aber nicht auf römische Geschichte ausgerichtet. Die Alexander-Historien erhalten stärker dramatische und epische Ausgestaltung und zusätzlich geographische und ethnographische Exkurse, werden da-

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Der neuzeitliche Begriff „tragische bzw. pathetische Geschichtsschreibung“ kann sich also u.a. mit Lukians Vorwort begründen.42 Meister sieht mit Polybios in der Aufnahme von VGTCVGKC = Wunder, Sensationen, das „entscheidende[…] Merkmal ihrer Geschichtsschreibung.“43 Der von Meister dafür vorgeschlagene Begriff „mimetische“ Geschichtsschreibung kann ebenfalls verwandt werden.44 Herodot hat an einzelnen Stellen solche Wunder (Hdt. 1,84–91). Und diese gehen weiter bei dem Alexander-Historiker Kallisthenes (Fr Gr Hist 124, F 14, 22, 31), bei Duris und bei Phylarchos, gegen den dann Polybios ausgiebig polemisiert (Polyb. 2, 56, 6–12). Polybios verzichtet zwar ausdrücklich auf „VGTCVGKC“ (15,36,1), lässt aber mit der gesamten antiken Geschichtsschreibung „Wunder“ bei anderen Autoren zu, wenn sie nicht „aller Wahrscheinlichkeit widersprechen“ (16,12,6).45 Die Wunder und Zeichenhandlungen in den Evangelien und in der Apostelgeschichte widersprechen daher nicht der griechischen Geschichtsschrei-

durch aber auch nicht zu Romanen (D. Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte. Eine Einführung, Darmstadt 1993, 159–161.; Ders., Markusevangelium (s. Anm. 21) 183–185). Im gemeinsamen Schlusskapitel gehen Backhaus/Häfner dann ausdrücklich auf die Differenzen ihres Konstruktivismus als Paradigmenwechsel gegenüber Produktionen wie denen von Dan Brown ein (K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie [s. Anm. 23] 131–137). Diesen Ausführungen kann weitgehend zugestimmt werden. Doch über die antiken Kriterien der Grenzziehung von kritischer pragmatischer und pathetischer oder rhetorischer Geschichtsschreibung zu unkritischen Geschichtserzählungen wie dem antiken Alexander-Roman (3. Jh.) muss noch weiter diskutiert werden (vgl. dazu die gründliche Untersuchung von E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie [WUNT 194], Tübingen 2006). 42 Luc., Hist Conscr 23: „tragische Proömien“; 16: „VTCIKMQVGTQP“ als Charakterisierung des Kallimorphos u.ö; vgl. auch Theophrast, „Über die Geschichte“ in Diog. L. V 47; Cic., Orat 39. Meister hält trotz dieser Quellen den Begriff „tragische Geschichtsschreibung“ für einen „Interpretationsfehler“ (K. Meister, Geschichtsschreibung [s. Anm. 37] 95f.), während Timpe an ihm festhält (D. Timpe, Römische Geschichte und Heilsgeschichte, Berlin/New York 2001, 43 Anm. 63). Doch sollte der Streit um die Begriffe pathetisch oder mimetisch nicht zu grundsätzlich gesehen werden (O. Lendle, Einführung [s. Anm. 40] 185–189). Die Mimesis (Nachahmung) beinhaltet sowohl Pathos und Tragik als auch Komödiantisches, und die pathetische Geschichtsschreibung bildet nicht die Tragödie ab, sondern bleibt Geschichtsschreibung mit pathetischen, tragischen und auch komödiantischen Zügen. 43 K. Meister, Geschichtsschreibung (s. Anm. 37) 100; Polyb. 2,56, 8–12; 7,7,1–5; 15,34– 36; 16,12,3–5; E. Plümacher, Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hrsg.v. J. Schröter und R. Brucker (WUNT 170), Tübingen 2004, 38–67. 44 Plümacher wechselt unter dem Einfluss von Meister und Lendle von „tragischpathetischer“ Geschichtsschreibung (E. Plümacher, Art. Apostelgeschichte, in: TRE 3 [1978] 483– 528, 514) zur „mimetischen“ Geschichtsschreibung über (E. Plümacher, Geschichte [s. Anm. 43] 34). In seiner Dissertation hatte er noch zu Recht auf den „Mimus“ verwiesen, der sowohl Auszüge aus den Tragödien als auch aus den Komödien aufführte, so dass beide Begriffe berechtigt sind (E. Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte [SUNT 9], Göttingen 1972, 28f.). 45 E. Plümacher, Geschichte (s. Anm. 43) 65–68.

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bung, sondern gehören in den Zweig der pathetischen oder mimetischen Geschichtsschreibung hinein.46 Allerdings ist diese Strömung fast völlig verloren gegangen. Wenige Fragmente sind erhalten geblieben. Nur in der erhaltenen Bios-Literatur, in der frühjüdischen Geschichtsschreibung (Josephus, Philon; 1–4 Makk) und in der neutestamentlichen Erzählliteratur werden die Konturen dieser Geschichtsschreibung erkennbar. Welche Gattungen gehören zur griechischen Geschichtsschreibung?

3. Die griechischen Spezialgattungen der Geschichtsschreibung47 Die Gattungsfrage kann nun schlagwortartig abgehandelt werden. Herodot schildert den Krieg zwischen Hellenen und Barbaren (Hdt., Prolog 1), Thukydides den Krieg zwischen „Peloponnesier und Athener“ (Thuc. 1,1), Polybios den Aufstieg Roms zur Weltherrschaft „in nicht ganz dreiundfünfzig Jahren“, und zwar in der Zeit von 220/219–166 v.Chr. (Polyb. 1,1–3). Allen dreien geht es um entscheidende Epochen der Universalgeschichte, die mehr oder minder ausführlich miteinbezogen wird. Eine solche Universalgeschichte hat das NT nach erstem Augenschein nicht, wohl aber historisch ausgerichtete Spezialgattungen. Eigens vorgestellt werden auf dieser Tagung Biographie, Evangelium und Autobiographie.48 Die Monographie fehlt noch. So kann kurz auf die Monographie als favorisierte Gattung für die Apg eingegangen werden. Denn die Frage nach der Gattung der Apg lenkt den Blick auf einen kuriosen, antiken Streit zwischen Cicero und seinen Freunden.49 Dieser Streit führt unmittelbar in die antike Diskussion um Spezialgattungen der Geschichtsschreibung ein. Am 15. März 60 v.Chr. schreibt Cicero an seinen Freund Atticus: „Die griechisch abgefasste Denkschrift (commentarius) über mein Konsulat habe ich Dir zugestellt“ (Cic., Att 1, 19,10, übs. v. H. Kasten).50 Die lateinische 46

E. Plümacher, Geschichte (s. Anm. 43) 33–85. F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker, Zweiter Teil. Zeitgeschichte B. Spezialgeschichten, Berlin 1929 48 Vgl. die Beiträge von M. Ebner, Ch. Heil und I. Broer in diesem Band. 49 O. Lendle, Ciceros WBRB QOPJOCRGTKVJLWBRB CVGKCL, in: Hermes 95 (1967) 90–109. 50 „Die griechisch abgefasste Denkschrift über mein Konsulat habe ich Dir zugestellt. Findest Du darin etwas, was einem ‚Atticus‘ ungriechisch und nicht ganz stilvoll erscheint, so will ich nicht wiederholen, was Lucullus dir einst – war’s nicht in Palermo? – über sein Geschichtswerk gesagt hat: man solle gleich merken, dass ein Römer es geschrieben habe; deshalb habe er ein paar Barbarismen und Solözismen eingestreut. Findest Du also etwas Derartiges bei mir, so ist es ohne mein Wissen und Wollen hineingeraten. Die lateinische Fassung schicke ich Dir, sobald sie fertig ist. Als drittes darfst Du ein Epos erwarten, denn ich möchte keine Literaturgattung ungenutzt lassen, mein Lob zu singen. Nun sag’ Du bloß nicht: ‚Wer wird den Vater loben‘, gibt es auf 47

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Gattungsbezeichnung „commentarius“, mit der der Absatz einsetzt, hat als griechisches Äquivalent die Kleingattung „WBBRQOPJOC“-„Erinnerung“.51 Die Parallelgattung „CXRQOPJOQPGWOCVC“, die zuerst von Xenophon verwandt wird, ist fiktional aus der Erinnerung auf Reden und Dialoge konzentriert, die wiederum beim Hypomnema fehlen können. Cicero hat also zu seinem Konsulat mit der Catilinarischen Verschwörung (63/62 v.Chr.) eine Autobiographie in Griechisch verfasst. Diese will er von Atticus auf „Barbarismen“ und „Solözismen“ durchgesehen und korrigiert haben. Als negatives Beispiel dienen die „Historien“ des Lucullus. Autobiographische Hypomnemata und pragmatische Historien stehen also auf einer Stufe. Im Gegensatz zum späteren Josephus propagiert Cicero den Standard der Griechen als Kanon und will dessen Ansprüche vorbildlich erfüllen (Cic., Leg 1,5; Brut 286-288). Gleichzeitig arbeitet Cicero einen lat. „commentarius“ als lateinische Version aus. Welche Sprachform Cicero zuerst verfasst hat, ist für den Gattungsvergleich uninteressant. Im Juni 60 v.Chr. schreibt Cicero erneut an Atticus, nun aber sichtlich enttäuscht.52 Vor Atticus hatte Cicero dem Historiker Poseidonios sein, nun Erden etwas, was eher Lob verdient, so mag man mich tadeln, dass ich nicht lieber fremdes Verdienst rühme. Im Übrigen schreibe ich ja gar keine Lobreden, sondern Geschichte“ (Cic., Att 1,19,10). 51 O. Lendle, Ciceros (s. Anm. 49) 90ff.; Fuhrmann unterscheidet zwischen 3 Gattungen von Hypomnema: 1. autobiographische Memoiren, 2. Sammelwerke, 3. philologische Kommentare (Art.: Hypomnema, in: KP 2,1282f.); Mehl macht darauf aufmerksam, dass die Commentarii amtlich nüchtern und öffentlich sind, während die Hypomnemata privat sind und nachträglich ausgestaltet werden (A. Mehl, Geschichtsschreibung [s. Anm. 41] 65f.). 52 „Als ich mich am ersten Juni, den Gladiatorenspielen des M. Metellus glücklich entronnen, auf dem Wege nach Antium befand, begegnete mir Dein Kurier und übergab mir einen Brief von Dir sowie Deinen griechischen Bericht (commentarius) über mein Konsulat. Es freut mich doch, schon bedeutend eher ein ebenfalls griechisch geschriebenes Werkchen über denselben Gegenstand dem L. Cossinius zur Beförderung an Dich mitgegeben zu haben. Denn hätte ich Dein Büchlein vorher gelesen, so würdest Du wohl gar sagen, ich hätte bei Dir gestohlen. Allerdings, Dein Schriftwerk – ich habe es natürlich mit großem Vergnügen gelesen – scheint mir ein wenig schlicht (horridula) und kunstlos (incompta), findet aber wohl seinen Schmuck gerade darin, dass es so schmucklos ist, und riecht, wie die Weiber, darum gut, weil es nach gar nichts riecht. Meine Schrift dagegen hat die ganze Palette des Isokrates und die Farbkästen all seiner Schüler verbraucht, dazu auch ein wenig aristotelische Schminke aufgelegt. Du hast es ja, wie Du mir in einem anderen Briefe andeutest, in Korfu flüchtig in der Hand gehabt und nun wohl durch Cossinius erhalten; erst nach eingehender, peinlicher Prüfung habe ich es Dir zu senden gewagt. Jedoch habe ich aus Rhodus von Posidonius schon eine Antwort. Ich hatte ihm meine Denkschrift zugeschickt, damit er über diese Ereignisse etwas Geschmackvolles schriebe; nun hat ihn deren Lektüre nicht nur nicht zum Schreiben angeregt, sondern ihn vollends eingeschüchtert. Was sagst du dazu? Ich habe die griechische Welt in Verlegenheit gebracht! So hören sie, die mich allenthalben um einen Stoff angingen, den sie geschmackvoll behandeln können, nun wohl auf, mich zu belästigen. Wenn Dir mein Buch gefällt, sorg’ doch dafür, dass man es in Athen und den anderen Griechenstädten bekommen kann. Das könnte wohl zur Verbreitung meiner Taten betragen“ (Cic., Fam 2, 1, 1–2).

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wörtlich: „Hypomnema“ zugesandt mit der Bitte, es „ornatius= schmuckvoller“ herauszugeben. Doch Poseidonios gab eine Absage. Nachdem auch Attikus es bei einem schlichten Hypomnema belässt, das vermutlich den Commentarii des späteren Julius Caesars gleicht,53 und die anspruchsvollere Vorlage von Cicero nicht übernimmt, unternimmt Cicero einen dritten Anlauf. Er bittet den Historiker Lucceius um eine Verherrlichung und ein Feiern des eigenen Namens („nomen ut nostrum scriptis inlustretur et celebretur“, Cic., Fam 5, 13, 1). Aber auch Lucceius schweigt. Die Gründe für die strikte Ablehnung, eine Autobiographie im Enkomion-Stil zu verschönern oder auf ihrer Grundlage ein kritisches Bios zu schreiben, sind offenkundig. Wegen der Gefahr der hybriden Konzentration auf die eigene Person „sind autobiographische Schriften bei den Griechen relativ selten anzutreffen.“54 Auch das Schreiben eines Bios von einer lebenden Person war unüblich.55 Ausnahmen sind die griechisch sprechenden Orientalen Nikolaos von Damaskus und Josephus Flavius. Ganz erfolglos blieb Cicero aber nicht. Es folgt ein Treppenwitz der Weltliteratur. Ein Hinterbänkler aus der Cäsarpartei, den Cicero nie in Erwägung gezogen hatte, schreibt die ersehnte „Monographie“, allerdings erst nach dem gewaltsamen Tod von Cicero: Sallust, Die Verschwörung Catilinas. Und Plutarch (45–125) verfasste um 100–120 n.Chr. ein Bios von Cicero unter Berücksichtigung seiner Hypomnemata.56 Nun geht es uns hier nicht um das Schicksal und die damals nicht akzeptierte Eitelkeit Ciceros, sondern um die Austauschbarkeit der Gattungsbegriffe. Hypomnema, Bios, Historia, Commentarius können komplikationslos miteinander verglichen und synonym gebraucht werden.57 Allerdings lässt der Briefwechsel Ciceros doch Differenzen in der rhetorischen Stilhöhe erkennen. Hypomnema und Commentarius gehören zu dem einfachen Stil, die Historia ist anspruchsvoller (Cic., Att 1,19,10; Fam 2,1,2).58 Die Gattung Bios erwähnt Cicero zwar nicht ausdrücklich, scheint 53 Cäsar verschönert und manipuliert die trockenen Commentarii durch Stilistika der Hypomnemata (A. Mehl, Geschichtsschreibung [s. Anm. 41] 66–71). 54 K. Meister, Geschichtsschreibung (s. Anm. 37) 187; Aristot., Rhet 3, 17, 16= 1418 b (Mason 2001, XLIf.); Plutarch, Über das vorwurfsfreie Selbstlob (Moral 539–547); D. Dormeyer, Die Vita des Josephus als Autobiographie eines gescheiterten Herrschers, in: J.U. Kalms/F. Siegert, Internationales Josephus-Kolloquium Dortmund 2002 (MJSt 14), Münster 2003, 15–34, 26f. 55 Vgl. J. Malitz (Hrsg.), Nikolaos von Damaskus. Leben des Kaisers Augustus, übs. u. komm., Darmstadt 2003, 5ff. 56 Plut., Cic. 10–23; O. Lendle, Einführung (s. Anm. 40) 96–109; E. Plümacher, Geschichte (s. Anm. 43) 9. 57 R. M. Errington, Biographie in hellenistischen Inschriften, in: K. Vössing, Biographie (s. Anm. 4) 16f. 58 A. Mehl, Geschichtsschreibung (s. Anm. 41) 71–75.

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sie aber gleichwohl anzuzielen. Die lateinischen Vitae des Nepos sind jedenfalls „kunstvoller“ (ornatius) als die Aneinanderreihung von Commentarii.59 Die griechischen Bioi sind zwar erst mit Plutarch aus dem 1.–2. Jh. n.Chr. belegt, haben aber eine lange Liste von verlorengegangenen Vorgängern.60 Historia kann zwar jede Gattung historischen Erzählens bezeichnen, im Munde Ciceros muss aber die historia in der Stilhöhe über dem commentarius liegen. Historia und Bios erfordern also eine gepflegte Literatursprache.61 Allerdings haben sie nicht die Stilhöhe eines Enkomions. Cicero verwahrt sich daher ausdrücklich dagegen, ein Enkomion geschrieben zu haben (Att. 1,19,10). Ob der neuzeitliche Begriff „Monographie“ eine zusätzliche hilfreiche Differenzierung ist, muss offen bleiben.62 Denn es lassen sich nur die beiden erhaltenen Werke von Sallust über Catilina und Jugurtha der Monographie zurechnen. Beide Werke können auch dem Bios zugeschrieben werden, weil beide mit dem Lebensende von Catilina und Jugurtha abschließen. Beide Werke können aber auch einer biographischen Geschichtsschreibung zugerechnet werden, die sich ab der Alexanderzeit herausbildet. Jetzt geht es nicht mehr um Kriege mit universaler Bedeutung zwischen Völkern wie bei Herodot, Thukydides und Polybios, sondern um die Aneinanderreihung von Personen, die mit Episoden Universalgeschichte machen.63 Die Annalen und Historien des späteren Tacitus erhalten ja Konkurrenz von der eigenen Biographie über „Agricola“, von den Kaiserbiographien Plutarchs und Suetons und von den nachfolgenden Biographiesammlungen.64 Die damaligen behandelten Spezialgattungen Hypomnema, Commentarius, Bios, Autobios und die neuzeitlich gebildeten Gattungen Monographie und biographische Geschichtsschreibung setzen Schwerpunkte, haben aber 59

J. Geiger, Cornelius Nepos and Ancient Political Biographie, Stuttgart 1985. K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW II 25.2, 1984, 1232–1236; A. Dihle, Die Entstehung der historischen Biographie, Heidelberg 1987, 7–22; H. Sonnabend, Biographie (s. Anm. 41) 62–84. 61 K. Meister, Geschichtsschreibung (s. Anm. 37) 188–190; D. Dormeyer, Literaturgeschichte (s. Anm. 41) 31–33. 62 E. Plümacher, Geschichte (s. Anm. 43) 7f. 63 H. Hofmann, Die Geschichtsschreibung, in: L.J. von Engels/H. Hofmann (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft Bd. 14: Spätantike, Wiesbaden 1997, 403–469, 412–418; K. Sallmann (Hrsg.), Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur 117 bis 248 n.Chr., München 1997, 13f.; F. Römer, Biographisches in der Geschichtsschreibung der frühen römischen Kaiserzeit, in: E.-M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 137–157, 139f. 64 A. Dihle, Biographie (s. Anm. 60) 64–81; H. Sonnabend, Biographie (s. Anm. 41) 133– 183. 60

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keine festen Gattungsgrenzen, zeigen aber zugleich unterschiedliche Stilhöhen an.

4. Die Einwirkung der griechischen Geschichtsschreibung auf das Neue Testament Die Evangelien und die Apostelgeschichte könnten nach der Sammlungshypothese als fiktionale Geschichtsschreibung 1. Grades angesehen werden, wenn es u.a. die Vorworte nicht gäbe.

4.1 Das lukanische Doppelwerk Inzwischen besteht ein Konsens, dass der auctor ad Theophilum mit seinen Prologen seine zwei Bücher der griechischen Historiographie, also der fiktionalen Geschichtsschreibung 2. Grades, zurechnet.65 Er rechnet seine „FKJIJUKL= Erzählung“ (Plut., Lyc 1,7; Dion. Hal., Ant 1,7,4) sogar wie Josephus explizit der pragmatischen Geschichtsschreibung zu: RTCIOCVYP= Taten (Lk 1,1). Doch wie Josephus kündigt er zugleich eine Abweichung an: „RGRNGTQHQTJOGPYPGXPJBBOKP = unter uns erfüllten

65 W. Radl, Das Evangelium nach Lukas. Kommentar 1,1–9,50, Freiburg 2003, 17–19; vorsichtig L. Alexander, The Preface to Luke’s Gospel. Literary Convention and Social Context in Luke 1,1–4 and Acts 1,1 (SNTS MS 78), Cambridge 1993, 23–42; bereits Hengel betonte die Nähe der griechischen Geschichtsschreiber zum Lk-Ev, hielt aber an der „alttestamentlichjüdischen Geschichtsdarstellung“ als „Vorbild für die Sammlung und literarische Darbietung“ fest (M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, 33). Eine Differenzierung zwischen kritisch-pragmatischer und kritisch pathetischer Geschichtsschreibung bringt dagegen größere Klarheit und berücksichtigt die von den Evangelisten geleistete griechische Reflexivität von Geschichte; dagegen %ackhaus, zum lk Doppelwerk gehöre nicht „kritischer Abstand“, weil es „distanzlos ein Geschichtsbild durchzusetzen“ versuche und wie die „biblisch-jüdische Tradition monotheistischer Geschichtswahrnehmung“ einen parteiischen Gott im Blick habe (K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie [s. Anm. 23] 56f.) – Thesen, die wohl für das dtn-dtr Geschichtswerk zutreffen, aber nicht für die atl Spätschriften (1–4 Makk: H. Cancik, Mythische und historische Wahrheit [SBS 48], Stuttgart 1970, 118–124: „tragisch-pathetische Geschichte“) und erst recht nicht für Philon und Josephus; gerade für Josephus bleibt festzuhalten, dass die gegenwärtige Forschung ihn nahe beim lk Doppelwerk sieht und nicht gegen es (S. Mason, Flavius Josephus und das Neue Testament [UTB 2130], Tübingen/Basel 2000, 270–327); gegen „institutional history“ (H. Cancik, The History of Culture, Religion, and Institutions in Ancient Historiography: Philological Observations concerning Luke’s History, in: JBL 116 [1997] 673–695) hält Backhaus daher auch an „apologetischer Historiographie“ für Apg fest (K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie [s. Anm. 23] 46). Abgesehen von diesen Zuspitzungen gelingt es Backhaus, die fiktionalen Ausgestaltungen der Apg in den Rahmen der griechischen und römischen Geschichtsschreibung einzupassen und überzeugende Kriterien für die historische Rückfrage aufzustellen (a.a.O. 59–67).

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(Taten)“ (Lk 1,1). Von wem sind die Taten erfüllt worden? Die logischen Subjekte werden gleich in der ersten Erzählung Lk 1,5–25 nachgetragen. Es handelt sich um Personen der Zeitgeschichte, um einen „Engel Gottes“ und um Gott selbst. Der Prolog zum zweiten Band nennt rückblickend Jesus als Hauptperson: Den „Anfang“ seines „Tuns“ und „Lehrens“ hat der Ich-Autor im „ersten Buch“ dargestellt (Apg 1,1). Im ersten Teil der einleitenden Satzperiode Apg 1,1–5 wird so mit diesem Rückblick das erste Buch als Bios gekennzeichnet;66 eine Gattungsbezeichnung für das zweite Buch fehlt allerdings. Doch der folgende Satzteil gibt, etwas versteckt, das Thema des zweiten Buches an: „bis zu dem Tag, an dem er, Weisung erteilend den Aposteln, die er durch den heiligen Geist erwählt hatte, aufgenommen wurde“ (Apg 1,2). Es geht um die Weisungen an die Apostel bis zum und besonders am Himmelfahrtstag und deren Einlösung durch die Apostel unter Führung des Hl. Geistes „bis an die Grenzen der Erde“, wie Apg 1,6–8 ausführen. Rom wird zwar als Mittelpunkt der „Erde“ Endstation des Paulus und Ende der Apg (Apg 28, 16–31), aber die römische Geschichte wird nicht zum Zentralthema. Es geht also um Universalgeschichte, die ohne Rom-Zentrierung von Menschen einerseits und vom Hl. Geist, von Engeln, vom Auferstandenen und von Gott selbst andererseits erzeugt wird. Wie bei Josephus weicht eine solche Geschichtsschreibung von der angezielten pragmatischen Geschichtsschreibung bewusst ab. Doch der Evangelist entschuldigt sich nicht wie Josephus. Selbstbewusst setzt er die VGTCVGKC(= Wunder) der Angelophanie vor dem Priester Zacharias und der Jungfrau Maria an den Anfang des ersten Buches und die Herabkunft des Hl. Geistes an den Anfang des zweiten Buches.67 Nach Lukian liegen Fieberphantasien vor (vgl. Apg 26,24), nach dem Evangelisten geschieht dagegen die reflektierte Nennung der verborgenen göttlichen Kräfte.68 66 D. Dormeyer, Literaturgeschichte (s. Anm. 41) 228; D. Timpe, Geschichte (s. Anm. 42) 42: „Biographie vornehmlich der Philosophen – und andererseits der Herrscherbiographie […]“; D. Dormeyer/F. Galindo, Die Apostelgeschichte, Stuttgart 2003, 26–36. 67 Es geht um die Gründe (CKXVKCK) für die „in Epochen gegliederte und vom Willen Gottes geleitete(n) Endzeit“ (U. Busse, Theologie und Christologie in drei Evangelien, in ders. [Hrsg.], Der Gott Israels im Zeugnis des Neuen Testaments [QD 201], Freiburg u.a. 2003, 90). 68 Rainer Riesner und Daniel Marguerat führen im Heft 18 der Zeitschrift für Neues Testament (2006) eine grundlegende Diskussion um die Historizität der Apg (R. Riesner, Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte, In: ZNT 18 [2006] 38–44; D. Maguerat, Wie histo-

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risch ist die Apostelgeschichte, in: ZNT 18 [2006] 44–52). Der Freimut (RCTTJUKC) und der „WirBericht“ dienen u.a. als Beispiele. Riesner ordnet die Apg der Gattung „historische Monographie“ zu. Die Kriterien des Vorworts Lk 1,1–4 gelten auch für die Apg (39). Plümacher stellt ebenfalls in demselben Heft fest: „Die beträchtliche Übereinstimmung, die in Topik und Vokabular zwischen lukanischem Prooemium und Thukydides Methodenkapitel besteht, ist deutlich genug, um das literarische Selbstverständnis des Lukas zu enthüllen: Ganz offensichtlich wollte er auch Historiker sein“ (2). Marguerat nennt 10 Regeln der griechisch-römischen Geschichtsschreibung nach Lukian (Ver Hist) und spricht Lukas die Einhaltung von 8 Regeln zu. Nur Regel 1 „Wahl eines noblen Themas“ und Regel 3 „Unabhängigkeit des Geistes und Abwesenheit von Parteilichkeit“ werden bewusst verletzt (48f.). Über den Verstoß von Regel 1 besteht ein Konsens. Das Thema, „wie Gott sich in das Glück und das Unglück eines kleinen Volkes mischt“, anstatt wie Generäle und Kaiser die Universalgeschichte machen, gehört in die jüdische Linie der Geschichtsschreibung (42f.48). Über den Verstoß gegen Regel 3 besteht allerdings ein entscheidender Dissens. Nach Marguerat erfordert die RCTTJGUKC (Freimut) des westantiken Historiographen eine kritische Distanz zum Thema (Luc., Hist Conscr 41.61). Nach Riesner wird diese Distanz durchaus von der letzten Apologie des Paulus mit der Verteidigung gegen den „Wahnsinn“-Vorwurf des Festus erzeugt (Apg 26,25–26) (39). In der Tat stoßen an dieser Stelle kritisch-pragmatische Geschichtsauffassung und kritisch-urchristliche Geschichtsauffassung in fiktionaler Konfrontation aufeinander (D. Dormeyer/F. Galindo, Apostelgeschichte [s. Anm. 66] 366–370). Nach Marguerat aber gibt der „Freimut“ des Paulus nicht „die intellektuelle Autonomie des Historikers“ Lukas wieder, sondern dessen gläubige „Leseart der Geschichte“ (49). Doch wird Marguerat mit „intellektueller Autonomie“ dem westantiken Spektrum von Historiographie gerecht? Die kritischpragmatische Linie ab Thukydides und Polybios bemüht sich um diese Autonomie, doch die pathetische Linie ab Duris benutzt das massive Einwirken von Gottheiten den antiken Tragödien gemäß. Leider berücksichtigen weder Riesner noch Marguerat die pathetische oder mimetische Geschichtsschreibung, die Plümacher erneut als Parallele der Apg betont (5f.). Mit Hilfe dieser Linie lassen sich die offenen Fragen ansatzweise klären. Marguerat baut zur Geschichtsschreibung folgende Antithesen auf. „Die griechische ist kritisch, die jüdische ist es nicht (…) Josephus macht eine Ausnahme“ (49). Müsste nun nicht die gesamte juden-hellenistische Geschichtsliteratur durchgemustert werden, ob sie nicht auch einschließlich des NT zu der Ausnahme gehört? Denn originäre griechische Geschichtswerke können gar nicht anders als das Paradigma kritischer Geschichtsbetrachtung einnehmen. Ob in Thema und philosophischer Distanz (Freimütigkeit) der Glaube an eine Gottheit eine Hintergrundrolle oder Hauptrolle spielt, entscheiden die historiographischen Stilarten und die religiös-politischen Traditionen einer Stadt oder Volkskultur. Gerade die Gründungsgeschichten (u.a. in den Bioi von Plutarch) kennen ein starkes Mithandeln der Götter (D. Dormeyer, Markusevangelium [s. Anm. 21] 4–11; 123–138; 268–286). Ein schwaches Mithandeln mit Träumen und unspektakulären Zeichen bleibt sogar nach Polybios (16,12,9) erlaubt, den Marguerat als Antithese zur Apg zitiert: „Alles im Gegensatz zu den Acta“ (49). Diesen Gegensatz vermag ich nicht zu erkennen, zumal Marguerat Lukas einen „Realitätseffekt“ zuerkennt (46). Wenn aber der Leser die Apg als quellenbezogene, realistische Fiktion entschlüsseln soll, und zwar ausdrücklich gegen den Roman (46f.), dann darf göttliches Einwirken nicht nur gemäß der kritisch-pragmatischen Geschichtsschreibung angedeutet werden, sondern darf auch gemäß der pathetischen Geschichtsschreibung als Führungsmacht entfaltet werden wie beim Tod von Cäsar und Brutus (Plut., Caes 63–66; Brut 47). Zuzustimmen ist dagegen dem linguistischen, weiten „Wir“-Begriff, den Marguerat betont (50). Plutarch berichtet von einer Reise, die er nachträglich zum Schauplatz einer Schlacht unternommen hat (Otho 14; M. Holzbach, Plutarch [s. Anm. 41] 199). Das „Wir“ ist für antike Historiographen offen für eine nachträgliche Einordnung des Erzählers. Auch Riesner bleibt aufgrund der Datenlage vorsichtig, dass „der Paulus-Begleiter Lukas als Verfasser nicht ausgeschlossen bleibt“ (39). Die Berücksichtigung des linguistischen „Wir“ innerhalb einer fiktionalen, nicht fiktiven historischen Monographie vermag diese Vorsicht zu verstärken.

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Der Evangelist trifft genauer als Josephus die unzulässige Grenzziehung der Theoretiker der pragmatischen Geschichtsschreibung gegenüber den Kräften des Göttlichen. Denn der methodische Atheismus der pragmatischen Historiker blendete die eigentliche Wirkkraft der Geschichte aus, den Glauben an das Göttliche.69 Plutarchs frühe Schrift „Über den Aberglauben“ deutet diese Engführung der pragmatischen Geschichtsschreibung an. Das Gebet zu Zeus als Vorbereitung auf einen Kampf gemäß Homer (Ilias 7,193f.) wird als „vernünftig“ (NQIKUOQL) bezeichnet, während die jüdische Verweigerung des Kampfes am Sabbat dem „Aberglauben“ zuzurechnen ist (Plut., Superst 8b–8c).70 Wegen des Protestes gegen den theoretischen Atheismus schreibt Plutarch auch keine pragmatische Geschichte mit ihrem eingegrenzten Vorverständnis, sondern Bioi, in denen Götter durch „Zeichen“ mitwirken. Die Berücksichtigung göttlichen Handelns mahnen sowohl der Evangelist als auch Josephus an (vgl. 2 Makk 2,19–32: himmlische Erscheinungen). Doch Josephus hatte die falschen Adressaten, und zwar die Atheisten der griechisch-römischen Oberschicht. Der Evangelist hingegen sprach mit der gesamten pathetischen oder mimetischen Geschichtsschreibung die antiken Gruppen an, die bei aller berechtigten Kritik an der tradierten Götterwelt offen blieben für das verborgene Einwirken des unbewegten Bewegers, der mit Hilfe von Dämonen in „Wundern“ und Offenbarungen „epiphan = offenkundig“ werden konnte.

4.2 Das Markusevangelium Der Prolog des ersten Evangeliums, des Mk-Ev, setzt ebenfalls mit einer deutlichen Anspielung auf eine hellenistische Spezialgattung, und zwar auf Abschließend ergibt sich als erfreulicher Konsens, dass Lukas in der Apg Quellen verarbeitet und eine „theologische“ Konstruktion von Geschichte geleistet hat, die er im Rahmen der westund ostantiken Historiographie verantworten kann. 69 Vgl. Ciceros Ablehnung von „Zeichen“ in Cicero, Über die Wahrsagung. 70 Plutarch, Über den Aberglauben (De superstitione), in: H. Görgemanns (Hrsg.), Plutarch. Drei Religionsphilosophische Schriften, Düsseldorf/Zürich 2003, 8–44; von Haehling verweist auf das Weitergehen theologischer Deutung bei Herodot: „Zum Postulat jeder Geschichtsschreibung, die stets Geschichte vom Menschen ist, gehört, dass die in der Geschichte wirksamen Kräfte gemäß der rationalen Kausalität definiert sind. Gegen dieses Prinzip verstößt Herodot jedoch häufig, etwa bei der Erklärung für den überraschenden Sieg der Griechen über die Perser. Gerade hier zeigt sich, wie sehr Herodot noch an der Schwelle der mythischen zur rationalen Welterklärung steht. Die Ursache für den wundersamen Sieg des numerisch unterlegenen Griechenheeres sucht Herodot in einer theologischen Ausdeutung.“ (R. v. Haehling, Herodot (s. Anm. 33) 173; vgl. Th. Söding, Ereignis und Erinnerung. Die Geschichte Jesu im Spiegel der Evangelien [Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 411], Paderborn 2007, 27f.).

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den Bios, ein. „Anfang des Evangeliums Jesu Christi“ (Mk 1,1) beginnt mit dem typischen Einsatz „CXTEJ = Anfang“ und nennt die Hauptfigur des Bios „Jesus“. Gleichzeitig bietet die Überschrift Mk 1,1 wie Lk 1,1–4 Abweichungen, und zwar zwei. „Evangelium“ ist eine neue Spezialgattung der Geschichtsschreibung.71 Das Cognomen „Christos = Gesalbter“ wirkt fremdartig.72 Das anschließende Zitat wirkt schwerfällig; doch es klärt den Leser auf. Christos und Evangelium müssen von den heiligen Schriften Israels und insbesondere von den Prophetenbüchern her erschlossen werden.73 Inhaltlich stellt das Zitat (Mk 1,2f.) zwei Personen vor. Dass Markus zu diesem Zwecke zwei unterschiedliche Prophetenbücher ohne Angabe des einen miteinander kombiniert, sei kurz vermerkt. Die eine Person kündigt als endzeitlicher, wiedergekommener Elija (Mal 3,1, nicht erwähnt von Mk) die Ankunft einer zweiten Person als herrscherlicher „Herr“ an (Jes 40,3). Dieser wird in Repräsentanz Jahwes das Gericht und die Vollendung der Welt bringen (Mk 13,24–27). Er wird als „Kyrios“, als Herr, einen Weg gehen, der der Vorbereitung und der begleitenden Zubereitung bedarf. Wer ihn anerkennt, wird schon jetzt und in Zukunft seine Vollmacht heilvoll erfahren (2,28; 7,28; 11,3; 12,36f.; 13,35). Dabei gibt es verschiedene Stufen der Anerkennung. Die beiden Phasen des Auftretens Jesu werden deutlich vorausgesagt: Johannes als der wiedergekommene Elija (9,11.13) bereitet mit der Umkehrtaufe Jesus den Weg zur Einsetzung als Sohn Gottes vor; die Hörer des Johannes (2,18–22) und die Hörer Jesu setzen beim anschließenden öffentlichen Auftreten Jesu die Wegbereitung in unterschiedlicher Weise fort. Das zentrale Weg-Thema ist so zweimal genannt. Der Weg des Johannes in die Wüste am Jordan bereitet den Weg des öffentlichen Wirkens Jesu von Galiläa mit Ver71 D. Dormeyer, Markusevangelium (s. Anm. 21) 21–24; E.-M. Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 41) 54–76, 410–413. 72 G. Zuntz, Ein Heide las das Markusevangelium, in: H. Cancik (Hrsg.), Markus-Philologie (WUNT 33), Tübingen 1984, 205–223. 73 D. Dormeyer, Markusevangelium (s. Anm. 21) 24–31. Das nachexilische Esra-Buch setzte mit einem Schriftverweis auf den Propheten Jeremia ein (Esr 1,1). Auch Homer leitete die Odyssee mit dem „Künden“ der Muse ein (Hom., Od 1,1). Apollonius von Rhodos, 3. Jh.v.Chr., folgte ihm mit dem Anfang des Argonautenepos: „Beginnend (CXTEQOGPQL) mit dir, Phoibos, will ich an die Ruhmestaten jener alten Heroen erinnern […]. Von folgendem Orakel nämlich hatte Pelias erfahren“ (Apoll. Rhod. 1,1–5). Und Lukian lässt auf seine Überschrift „2YLFGK KBBUVQTKCP UWIITCHGKP= wie man Geschichte schreiben soll“ eine anekdotische Erzählung aus dem 3. Jh.v.Chr. folgen, den Wahnsinn der Abderiten. Es wird der Alexander-Diadoche Lysimachos als König der Abderiten genannt (Luc., Hist Conscr 1); die „Überschrift, die noch aus dem Altertum stammt und in den vollständig erhaltenen Handschriften überliefert ist, stimmt mit dem in Kapitel 4 und 6 geäußerten Vorhaben überein“ (H. Homeyer [Hrsg.], Lukian. Wie man Geschichte schreiben soll, übs. u. komm., München 1965, 167). Der Vergleich mit dem gegenwärtigen Hörer folgt sogleich (Luc., Hist Conscr 2).

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kündigungserfolg nach Jerusalem mit Todesschicksal vor. Der Evangelist bindet diese Weg-Achsen durch das Autor-Zitat ausdrücklich an die atl Prophetie an. Gott erfüllt jetzt seine Zusagen an Israel durch die gleichzeitige Berufung von zwei Verkündern. Das Buch „Evangelium“ erfüllt entsprechend die atl Geschichtsschreibung74 und setzt sie in neuer, reflektierter Weise in der Gattung des Bios fort.75 Einem zügigen, konsistenten Verstehen entzieht sich anschließend die Christologie. Der Christustitel erscheint zwar als Beiname in der Überschrift Mk 1,1, taucht dann aber nur vereinzelt für die Jünger ab der Mitte auf und wird erst in der Passion Jesus öffentlich unter Missverständnissen zugesprochen.76 Der zugehörige Königstitel bestimmt zwar das römische Verwaltungsverfahren in der Passion, bleibt aber unbestimmt und offen. Eine weitere Facette erhält der Christustitel durch den unproblematischen Sohn-Davidstitel. Ein durch den Geist „gesalbter“ Jesus darf Wunder, Weisheit und Tempelaufsicht ausüben wie die königlichen Vorfahren David und Salomo, muss sich dabei aber mit dem Hohen Rat arrangieren, der wiederum unter dem Druck des sympathisierenden Volkes steht (Mk 11,27–33). E.-M. Becker betont zu Recht die pathetische Bedeutung des mk „Sohn-Davids“ Titels, der eine auffallende Parallele im „Bios Kaisaros“ des Nikolaos von Damaskus hat77. Erst der später mit Druck vorgetragene Verdacht auf machtpolitischen Aufstand (Stasis) gegen Rom zwingt den Präfekten Pilatus zur Verurteilung. Christus wird mit dem Sohn Davids- und Königstitel in die Interaktionen der irdischen Welt voll eingebunden. Der leidende Christus und König der Juden am Kreuz kehrt den Herrschaftsanspruch von jüdischem Königtum und römischem Kaisertum radikal um und lässt sie als relative, untergeordnete Größen weiterbestehen. Der Anspruch des Cäsars auf göttliche Abstammung und Vollmacht zur Legitimation des römischen Herrschaftsmo74 Th. Pola, Die Versuchungsgeschichte bei Markus (Mk 1,12f.) und die alttestamentliche „Fundtradition“, in: ThB 37 (2006) 313–325. 75 Becker bestätigt die „historiographische Funktion dieser Buch-Eröffnung“ und betont: „Die von Markus erzählte Geschichte wird dadurch in eine Makro-Geschichte gestellt“ (E.-M. Becker, Markus-Evangelium [s. Anm. 41] 245f.). Ob die Verhältnisbestimmung des Täufers zu Jesus das Mk-Ev eher zur Historiographie als zur Biographie machen (a.a.O.), erscheint mir nicht zwingend, da die Mehrzahl der Herrscherbiographien am Anfang den starken Einfluss von Lehrern auf den Helden bringt. 76 Zur folgenden Zusammenfassung vgl. D. Dormeyer, Markusevangelium (s. Anm. 21) 188–211. 77 E.-M. Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 41) 253–301; P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick (UTB 2798), Tübingen 2007, 405–407.

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nopols wird aufgehoben und umdefiniert durch Jesu leidende Messianität und Gottessohnschaft. Aspekthaft zusammengesetzt ist der Titel „Menschensohn“. Der heutige Leser wird weiterhin ratlos vor ihm stehen; der damalige hatte sicherlich auch seine Mühe mit ihm. Menschensohn gerinnt zur Selbstverrätselung des Selbstverständnisses Jesu. Der Titel erhebt apokalyptische, himmlische Ansprüche und transportiert sie mit eschatologischer Spannung gemeinsam mit der Metapher von der Königsherrschaft Gottes in die Gegenwart. Mit Menschensohn erhält die Christologie einen singulären, hohen Anspruch. Dieser steht über den Ansprüchen der Cäsaren, widerspricht ihnen aber nicht prinzipiell. Woher die Vollmacht des Menschensohnes kommt, lässt das Evangelium zunächst offen (Mk 2,10.28) und deutet die Klärung erst ab der zweiten Hälfte an. Der Leser muss herausfinden, dass singuläre Vollmacht, Leiden und apokalyptisches Gericht eine Einheit bilden, der irdische Menschensohn schon jetzt eschatologische, universale Ansprüche vorwegnehmend stellt und die Unterordnung der jüdischen und römischen Autoritäten unter sich deshalb schon jetzt verlangt (Mk 13,37; 14,62; 15,2)78. Alle Hoheitstitel werden in der Passion zum letzten Male verwandt. Sohn Davids fehlt zwar, lässt sich aber dem Christus- und Königstitel zuordnen. Doch die Erlösungsaussage, die Jesus während des letzten Passamahles zentral setzt, bleibt ohne Hoheitstitel (Mk 14,22–25). Die Ansage vom dienenden und leidenden Menschensohn Mk 10,45 bereitet zusätzlich die Einsetzungsworte des Herrenmahles vor. Nur diese beiden Stellen sprechen explizit vom „Lösegeld für viele“ bzw. „vom für viele vergossenen Bundesblut“. Du Toit schließt aus dem Fehlen der Hoheitstitel zu Recht, dass in der Zwischenzeit die „Abwesenheit Jesu“ im Mittelpunkt steht.79 Gerade dieses Gefühl der Verlassenheit und des Niedergangs nach einer goldenen Gründerzeit passt zur pathetisch-tragischen Geschichtsschreibung. Zwischen hoheitlichem, vollmächtigem Menschensohn und hoheitlichem, leidendem Christus vermittelt der Sohn-Gottes-Titel. Er ist sowohl für den atl König wie den römischen Cäsar theologischer Nebentitel. Jesus wird nach seinem ersten öffentlichen Auftreten bei Johannes dem Täufer zum „Sohn Gottes“ deklariert wie der jugendliche David einerseits oder der jugendliche Octavian und der erwachsene Tiberius andererseits, die durch die Adoption in die Julius Cäsar-Familie die göttliche Abstammung erhalten. Das davidische Modell der Repräsentanz steht der Taufszene allerdings näher als die Adoption in eine vererbbare Gottessohnschaft. Für den Hörer 78 Dazu neuerdings D.S. du Toit, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen (WMANT 111), Neukirchen-Vluyn 2006, 113– 116.221–227. 79 D.S. du Toit, Herr (s. Anm. 78) 113–266.

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bleibt das Ergebnis, dass der gesalbte königliche Christus am Anfang, in der Mitte und am Schluss gemäß der Handlungs-(Mythos)-Definition von Aristoteles von himmlischen Stimmen zum Sohn Gottes und Auferweckten mit wachsendem Bekanntheitsgrad deklariert wird. Die göttliche Handlung interpretiert als Hintergrundbühne die biographische Handlung des Christus und Lehrers mit der Umkehr Jesu am Anfang, dem geheimen Christusbekenntnis der Jünger in der Mitte und dem Grab am Ende als Startpunkt der Verkündigung an alle. Den Vordergrund beherrschen die vollmächtigen Taten und Werke Jesu Christi und der Widerstand gegen ihn. Sie lassen die Königsherrschaft Gottes im Kleinen schon anbrechen. Sie machen das gesamte öffentliche Auftreten Jesu zum Evangelium. Dieses geht nach Ostern in der Verkündigung der Anhänger weiter. Die Biographien des Täufers Johannes und seines ihn überragenden Schülers Jesus Christus bilden bleibenden Anfang und bleibende Grundlage des Evangeliums. Zugleich wird dessen Vollendung für alle Glaubenden beim Ende dieser Welt zu gesagt (Mk 13,24–27). Mit den Jüngern, dem Volk und den Gegnern werden eine Fülle gemischter Charaktere geschaffen. Sie gerinnen nicht zu Stereotypen, sondern agieren in lebendigen Interaktionen. Der Leser wird zu widersprüchlichen Identifikationen eingeladen, die nicht glatt aufgehen. Irritierend und aufrüttelnd ist besonders der massive Rollenwechsel während der Passion. Alle drei Positionen Jünger, vertrauendes Volk und Gegner, geraten ins Wanken und verändern sich ins Gegenteil. Es gibt keine Standpunktsicherheit und Heilsgewissheit. Nur wer sich auf diese Charaktere einlässt, sie durchlebt und die ständige Umkehr mitmacht, wird den Sinn der gesamten Evangeliumsbiographie erfassen und vom Lehrer und Christus Jesus gerettet werden. Die Anteilnahme beim Lesen und bei der Nachfolge bleibt vieldeutig. Wie das Volk kann der Leser in neugieriger, vertrauensvoller, aber unverbindlicher Distanz den Weg Jesu bis zum Kreuzestod Jesu mitgehen, ohne zum Bekenntnisglauben zu gelangen. Der Leser kann wie die Gegner in kritische Distanz gehen, diese zur Todfeindschaft verhärten, sie immer wieder gesprächsbereit in Frage stellen, um schließlich doch in der letzten Entscheidung sich gegen Jesus mit Missverständnissen abzuschließen. Schließlich kann der Leser von der vertrauensvollen Position des Volkes sich in den offenen Jüngerinnen- und Jüngerkreis berufen lassen. Er kann wie der unbefugte Wundertäter (Mk 9,38–41) und die opferbereite Witwe (Mk 12,41–44) ohne Bekenntnis Nachfolge vollziehen oder wie die erweiterte Familie Jesu ihm zeitweise nachfolgen (Mk 3,31–4,36) oder wie die kleinen Charakteren für eine Einzelsituation Nachfolge praktizieren und Bestätigung erfahren.80 80

Zu den Nebenrollen vgl. D. Dormeyer, Markusevangelium (s. Anm. 21) 211–226.

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Zusätzlich zu diesen offenen Fluktuationen bietet Jesus mit dem festen Jüngerinnen- und Jüngerkreis dem Leser ein dauerhaftes Identifikationsangebot an. Mit ständigem Wiederlesen kann sich der Leser Impulse zu einer ständigen Umkehr seines gewohnten Handelns holen. Aus dem Jüngerkreis wird der Zwölferkreis für punktuelle Situationen berufen. Er stellt das Leitungsgremium für das erneuerte Israel dar. Er repräsentiert die enge Lebensgemeinschaft mit Jesus und teilt mit den anderen Jesusanhängern die Vollmacht zum Verkündigen und Dämonen-Vertreiben. Seine Leitungsfunktion vollzieht er im Dienst. Trotz engster Gemeinschaft mit Jesus fällt er wie das Volk in der Verfolgung von Jesus ab. Allen Lesern wird die Hoffnung zugesprochen, dass nach jedem Versagen das Angebot des Evangeliums zur Umkehr erneut ergeht. Denn die Königsherrschaft Gottes ist in Jesus von Nazaret für jeden ohne Widerruf angebrochen. Sie gliedert jeden Umkehrenden in die erweiterte Familie Jesu und in die universale Gemeinschaft der Völker (Mk 11,17; 13,10) und Vaterstädte (Mk 6,4) ein, die in der Königsherrschaft Gottes ihre einengenden, politischen Herrschaftsansprüche verlieren. Der monopolistische Anspruch Roms auf Eroberung und patriarchalische Beherrschung (Patrocinium) der bewohnten Erde (Ökumene) wird von der angebrochenen Königsherrschaft Gottes aufgehoben und als Dienst umdefiniert.81 Entsprechend wird der Anspruch des Cäsars auf göttliche Abstammung und Vollmacht zur Legitimation des römischen Herrschaftsmonopols aufgehoben und umdefiniert durch Jesu von Nazaret leidende Messianität und Gottessohnschaft. Der Kaiser soll weiterhin Steuern eintreiben (Mk 12,13–17) und Völker und Städte beherrschen, aber nur in der Form des Dienstes (Mk 10,41–45). Die tastenden Versuche ab Julius Cäsar, mit dem „Kaiser“ der römischen Weltherrschaft eine personale Spitze mit oligarchischer und demokratischer Legitimation zu geben, erhalten im ältesten Evangelium ein kritisches Gegenmodell. Der Leser muss wie für Julius Cäsar, Octavian, dessen Nachfolger und die neu aufgestiegenen Flaviern eine Herrschaftstitulatur aus den Taten und den divergierenden Ansprüchen entwickeln. Im Unterschied zum rückwärts gewandten „Sohn Gottes“ und „Princeps-Messias“-Anspruch 81 M. Ebner, Kreuzestheologie im Markusevangelium, in: A. Dettwiler/J. Zumstein (Hrsg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 151–168, 166–168. Wördemann betont, dass im Gegensatz zur aktiven „Retter“-Politik des Augustus die Hoheit Jesu allein durch den Heilsentschluss Gottes erzeugt wird; das Markusevangelium wird zur Anti-Biographie gegen die plutarchische Herrscherbiographie: „Der Bote Jesu behält eine geheimnisvolle Differenz zu seiner Botschaft („Wer ist er?“), der Kaiser ist Grundlage der Botschaft und verursacht die Frage des Lesers nach der Art und Weise („Wie“)“ (D. Wördemann, Das Charakterbild im bios nach Plutarch und das Christusbild im Evangelium nach Markus [SGKA 1,19], Paderborn 2002, 160–198, 174).

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leitet Jesus mit „Menschensohn“ seine Vollmacht von der Zukunft und von der schon eingetretenen Umkehrung der Gegenwart ab. Den antithetischen, ethischen Dualismus zwischen Evangelium und Welt des späteren Johannesevangeliums und die dämonisierende Systemkritik der späteren Offenbarung will der erste Evangelist nicht. Satans Herrschaft ist auf eine nachträgliche Einflussnahme auf die Hörbereitschaft und Durchhaltewilligkeit beschränkt (Mk 4,15); in prinzipatlicher, lockerer Abhängigkeit von ihm üben Dämonen eine begrenzte Herrschaft über die Menschen mit Hilfe von psychischen und somatischen Krankheiten aus (Mk 3,22–30). Aber weder befindet sich die Menschheit insgesamt in der Gewalt von Satan und Dämonen, noch werden die moralisch Verführten von himmlischen Mächten vernichtet. Wie bei Thukydides und Plutarch sind die Handelnden autonom entsprechend der griechischen Frühaufklärung und der atl Geschichtsschreibung. Thukydides unterscheidet ja zwischen Ursache und Grund: „Es fing damit an, dass Athener und Peleponnesier den dreißigjährigen Vertrag aufhoben, den sie nach der Einnahme Euboias geschlossen hatten. Die Ursachen, warum sie ihn aufhoben, und die Streitpunkte schreibe ich vorweg, damit nicht später einer fragt, woher denn ein solcher Krieg in Hellas ausbrach. Den wahrsten Grund freilich, zugleich den meistbeschwiegenen, sehe ich im Wachstum Athens, das die erschreckten Spartaner zum Kriege zwang“ (Thuc.1,23).

Die „Ursachen“ liegen offen zutage. Sie gehören zum Bereich der menschlichen Motive, führen zu Streitpunkten und verursachen Kriege. Der „Grund“ ist verborgen und wird verschwiegen. Er besteht in der Angst. Den Ursachen geht Thukydides gründlich „mit aller erreichbaren Genauigkeit nach“ (Thuc. 1,22; Lk 1,1–4); zum Grund äußert er sich nur sporadisch und vorsichtig hypothetisch. Die historiographische Biographie hingegen kann der Hypothetisierung von Gründen mehr Raum geben. Wie Plutarch deckt das erste Evangelium auf, welche geheimen Gründe einen gescheiterten Lehrer und Herrscher zu seinem öffentlichen Aufruhr mit seinen erkennbaren Ursachen angeleitet haben. Zu den Ursachen zählen die konkreten Erfahrungen mit Ungleichgewichtszuständen wie Krankheit, Verbrechen, Unterdrückung, Missbrauch, parteiische Justiz. Ihre Veränderung durch Jesus bleibt korrelierbar mit den Erfahrungen aller künftigen Leser. Der verschwiegene Grund ist „das Geheimnis der Königsherrschaft Gottes“ (Mk 4,11). Dieser Grund wird im Prozess nicht genannt, er ist nur in den Mysterienfeiern der Nachfolge Jesu erfahrbar. Himmelsstimme, Satan, Dämonen und Engel tauchen ebenfalls in der gesamten Passion nicht auf. Der „Grund“ für Jesu Identität, Konfliktstrategie und Leiden bleibt den Gegnern mit Ausnahme des Hauptmanns als Hintergrundbühne verborgen. Das Evangelium Jesu Christi

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und von Jesus Christus erschließt dagegen den glaubenden, forschenden Lesern intensiv den „Grund“ (Evangelium Jesu Christi als Verkündigung der Königsherrschaft Gottes) und versucht, die Ursachen, Taten und Lehren des Lebens Jesu genau zu erzählen und als Evangelium allen Lesern nahezubringen (Anfang des Evangeliums von Jesus Christus), so dass auch die distanzierten Leser nach dem Grund zu forschen und voll Vertrauen zu glauben beginnen.

4.3 Das Matthäusevangelium Matthäus schafft in Weiterführung von Markus eine Vita, die den Gründungsbiographien griechischer Herrscher-Philosophen stärker vergleichbar ist und sie zugleich kritisiert.82 Jesus erfüllt die ganze Gerechtigkeit und setzt den Anfang der eschatologischen Vollendung, den Markus ausschließlich betont. So nimmt Matthäus deutlicher als Markus die frühjüdischen, religiösen Traditionen auf und schafft eine Geschichtsdarstellung des neuen Volkes Gottes mit seiner Gründergestalt Jesus Christus, der das politische, weisheitliche und wundertätige Amt des Sohnes Davids und Christus einerseits mit den atl Rollen als leidender Gottesknecht, Prophet und Lehrer, und andererseits mit den neuen eschatologischen Rollen als Verkünder der Gottesherrschaft und geistbesitzender Sohn Gottes uminterpretiert.83 In den vergangenen, irdischen Rollen Sohn Davids, Christus, Lehrer, Prophet und Herr bleibt Jesus wie ein Gründungsherrscher Modell der Identifikation für die Lebenspraxis, für die „Nachfolge“.84 Die Historisierung des Lebens Jesu durch Matthäus hat Strecker vorbildlich erarbeitet. Leider hat er den anderen Punkt, die Nachfolge durch Identifikation, übersehen und den erzählenden Jesus Christus nur als äußere Addition einer historisierend dargestellten irdischen Peron und eines eschatologisch-nachösterlichen Erhöhten gekennzeichnet.85 82 K. Berger, Gattungen (s. Anm. 50) 1259–1264; D. Dormeyer, Evangelium (s. Anm. 7) 161–181; D. Dormeyer, Mt 1,1 als Überschrift zur Gattung und Christologie des Matthäusevangeliums, in: The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck) (BETL 100), Leuven 1992, 1361–1383. 83 H. Frankemölle, Jahwebund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus (NTA 10), Münster 21984, 360–365; ders. Evangelium. Begriff und Gattung. Ein Forschungsbericht, Stuttgart 21994, 153f.; J. Gnilka, Das Matthäusevangelium 1–2, Freiburg u.a. 2000, 529f. 84 C.H. Talbert, What is a Gospel? The Genre of the Canonical Gospel, Philadelphia 1977/London 1978, 100–109; P.L. Shuler, A. Genre for the Gospels. The Biographical Character of Matthew, Philadelphia 1982, 92–103; vgl. A. Sand, Das Matthäus-Evangelium (EdF 275), Darmstadt, 1991, 160–167: „Matthäus – ein katechetisches Handbuch“. 85 G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchungen zur Theologie des Matthäus (FRLANT 82), Göttingen 21966,123ff.

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Aber für die alttestamentliche Geschichtsschreibung und die klassische Antike fallen Historie und göttliches Wirken nicht zeitlich auseinander. Im irdischen Jesus zeigt sich von Anfang an der endzeitliche Anbruch der Gottesherrschaft. Nur die Mitakteure sind durch Kleinglauben und Widerstand gegen das Leiden verblendet, erfahren aber gleichzeitig den Anbruch des Himmelreiches in Jesus. Die Gottessohnschaft nach 2,15 ist gemäß der atl Offenbarungsgeschichte mit Abraham, David und dem ganzen Israel in irdischer, aber geheimer Weise Jesus Christus verliehen. Die Würde des Erhöhten kommt Jesus Christus erst nach der Auferweckung zu und erstreckt sich allein auf die Ostergeschichten. So gibt es für Matthäus nach 1,1 deutlich eine irdische Zeit des Abrahams- und Davidssohnes Jesus Christus, der in der Kontinuität von Verheißung und Erfüllung die Geschichte des Volkes Israel universal für alle Völker öffnet.86 Für heidenhellenistische Hörer, die von ihren Heroen, Philosophen und Staatsführern das Nacheinander von irdischem Wirken und Apotheose kannten, war diese Zweistufenchristologie des Matthäus nachvollziehbar.87 Sie durchkreuzte aber zugleich die heidenhellenistische Vorstellung der Heroisierung als eines beliebig wiederholbaren Aktes. Die Titel Sohn Davids und Sohn Abrahams verweisen die Heiden auf die lange Geschichte einer alten Kultur, die sich in der Lebenszeit des irdischen Jesus endgültig und unwiderrufbar vollendet hat. Nach Jesus gibt es keinen eschatologischen Christus = Messias und somit auch keinen messianischen Sohn Davids mehr. Die Überschrift 1,1 kündigt daher die eschatologische Erfüllung einer weisheitlich-universal ausgeweiteten (Sohn Davids) und lange tradierten (Sohn Abrahams) Bundesgeschichte eines Volkes mit seinem Gott in der singulären Person „Jesus“ für Heiden und Juden an. Die Geschichte Jesu ist gegen antikes Verständnis einmalige Offenbarungsgeschichte und vorbildliche Gründungszeit zugleich. Die bewusste Aufnahme jüdischer Traditionen sichert der neuen Gründungszeit in Jesus die Authentizität eines hohen Alters. Zugleich ermöglicht diese „Rejudaisierung“ die Bewahrung der einmaligen, langen Offenbarungsgeschichte Gottes mit dem Volke Israel und die Öffnung dieser Geschichte auf die Heiden hin. Für christliche Judenhellenisten und Palästinenser wurde diese Korrelation und Konvergenz des Lebens Jesu mit Gottes Bundesvolk Israel (1,1.23) zwar eine unverzichtbare Grundlage, den Bruch mit dem Judentum theologisch zu ertragen und zu legitimieren. Matthäus hat dennoch nicht für eine rein jüdische Gemeinde geschrieben. Der Weg der Königsherrschaft Gottes vom Judentum zum Heidentum (21,43; 28,16–20) ist auch nicht nur 86

H. Frankemölle, Matthäus-Kommentar. 2 Bde., Düsseldorf 1995–1997, I 132–134. C.H. Talbert, Gospel (s. Anm. 84) 49ff.; P.L. Shuler, Genre (s. Anm. 84) 56 (einschließlich der Geistzeugung). 87

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ein Identifikationsangebot für die Heiden. Am wahrscheinlichsten ist noch immer die mittlere Lösung, dass Matthäus für eine gemischte Gemeinde geschrieben hat.88 Nicht die Ersetzung des empirischen Israels durch die Gemeinde Jesu Christi ist das Ziel des matthäischen Biblos, sondern die Öffnung Israels und seiner Geschichte mit Gott für die Heiden (1,1). Diese Öffnung ist nach Matthäus ein bleibendes, kritisches Unternehmen, da das empirische Israel sich der Öffnung verweigert und dadurch sein Heilsprivileg auf vorrangige Führung durch Gott verloren hat. Mit dieser Verhärtung bleibt Israel für die Gemeinde und alle künftigen Hörer ein warnendes Beispiel der Gründungszeit, sich der Lehre und dem Lernen der Gerechtigkeit nach dem Modell Jesu Christi nicht zu verschließen, sondern ständig umzukehren. So bleibt die Gemeinde ein corpus mixtum aus Guten und Bösen (13; 18). Allein die Dialogbereitschaft mit dem Bruder, die Offenheit für den anderen, das Leben der Gerechtigkeit nach dem Modell Jesu als Abrahamssohn und das Verstehen und Bekennen Jesu Christi als des machtvollen und zugleich leidenden davidischen Sohn Gottes bewahren vor der Verhärtung und dem Verlust der Herrschaft Jesu Christi. Auf kleinem Raum in der Lesezeit von 2–3 Stunden bietet Matthäus den jüdischen und heidnischen Lesern eine Fülle von Hoheitstiteln und Titeln für Jesus, den Nazoräer. Kein Titel wird definiert. Jeder aktiviert dagegen aus seinem Hof von virtuellen Bedeutungen und Konnotationen im Verlauf der Vita-Erzählung einzelne Bedeutungssegmente und bestimmte Konnotationsketten. Es entsteht ein assoziationsreiches, verwirrendes Gewebe von Jesus-Bezeichnungen, die mit den weiten Bedeutungsfeldern von Gesalbter (Christus), Davidssohn und Abrahamssohn einsetzen und sich durch die unterschiedlichen Erzählstränge, Reden und Zitate untergründig vernetzen.89 Die Christologie des Matthäus potenziert die assoziative Dunkelheit des Markus, den antiken Stil der obscuritas. Die matthäische Christologie bleibt deshalb ein Kreuz der Exegese. Da Matthäus mit Klarheit, dem der obscuritas entgegen gesetzten Stil der claritas, 5 große Reden schafft, hat er die Weiterführung der dunklen, markinischen Christologie bewusst betrieben. Eine solche dunkle Färbung der Hauptfigur ist für atl und antike Biographien ungewöhnlich. Matthäus setzt den obskuren Stil des Markus fort, um dem Leser zu verdeutlichen, dass mit Jesus aus Nazareth die letzte, eschatologische Heilsgestalt aufgetreten ist, die alle Heilsvorstellungen aufnimmt 88 W. Trilling, Das wahre Israel (SANT 10), München 31964, 223f.; vorsichtig Frankemölle, der auf den Vorrang des impliziten Lesers verweist, weil der explizite Leser nicht mehr ermittelbar ist (H. Frankemölle, Matthäus [s. Anm. 86] I 48–52). 89 J. Ernst, Matthäus. Ein theologisches Porträt, Düsseldorf 1989, 36.

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und zugleich sprengt.90 Markus dagegen konnte mit der binnenkirchlichen Metapher „Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes“ hauptsächlich bei Insidern, bei Gemeindemitgliedern, Aufmerksamkeit erreichen.91 Matthäus wählte den entgegen gesetzten Weg der kritischen Korrelation, mit der Metonymie „Buch der Geschichte Jesu Christi, des Davids- und Abrahamssohnes“ jeden Leser, den gläubigen wie den ungläubigen, potentiell mit einer singulären, eschatologischen Gründungsgestalt (Gesalbter) aus einer mit divergierenden Heilserwartungen besetzten Königsdynastie eines religiös privilegierten Volkes anzusprechen und die korrelierenden Lesererwartungen im Verlauf des Lesens umzukehren. Aber dann baute er zugleich die obscuritas in den Jesus-Titeln aus, um den Leser vorsichtig apokalyptisch unter Geheimhaltungen, Schweigegeboten und Unverständnissen in die „Mysterien der Gottesherrschaft“ (13,11) einzuführen, die sich einer Vereinnahmung ständig versagt. Die claritas der Reden wiederum verleiht dem Leser die Sicherheit, dass dieser obskure Jesus einsichtig und verstehbar zu lehren weiß, insbesondere die unversale Ethik. Das Wiederlesen des matthäischen Buches in erprobender Praxis und suchender Theorie bleibt eine ständige Aufgabe.

4.4. Das Johannesevangelium Culpepper hat den erzählerischen Aufbau des Joh-Ev grundlegend erschlossen.92 Als Gattung wird dann von Schenke das „Drama“ genannt, und zwar das antike „Lese- bzw. Rezitationsdrama“.93 Nun waren die griechischen Dramen in Versen verfasst, nicht in Prosa. Die Evangelien sind keine Dramen, aber letztere haben Einfluss auf den Stil gehabt.94 Denn der dramatische Episodenstil passt zur pathetischen Geschichtsschreibung. Burridge rechnet daher das Joh-Ev zur hellenistischen Gattung „Bios“.95 Der hymnische Prolog ist allerdings für einen Bios ungewöhnlich. Doch auch Tacitus leitet den Bios „Agricola“ mit einer langen Lobrede auf die 90 E. Schweizer, Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments (SiebensternTaschenbuch 126), München/Hamburg 1968, 18. 91 G. Zuntz, Heide (s. Anm. 72) 205ff. 92 A. Culpepper, The Fourth Gospel from a Literary Perspective (Semeia 53), Atlanta (GA) 1991; vgl. M.W.G. Stibbe, John as Storyteller. Narrative Criticism and the Fourth Gospel (SNTS MS 73), Cambridge 1992; U. Busse, Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual. Mit einer Bibliographie über den Zeitraum 1986-1998 (BETL 162), Leuven 2002, 22. 439f. 93 L. Schenke, Das Johannesevangelium, Stuttgart 1992, 398–400. 94 D. Dormeyer, Evangelium (s. Anm. 7) 156–161. 95 R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography (SNT MS 70), Cambridge u.a. 1992, 220–240.

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„Clarorum vivorum facta moresque (Erlauchter Männer Taten und Art)“ ein.96 Und Tacitus bleibt bei einem prosaischen Stil. Van Tilborg schlägt daher vor: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass er seinen Text wie die großen klassischen Tragödien beginnen lassen wollte. Sein Prolog gleicht formal und inhaltlich sehr stark den Prologen dieser Texte. Hier wie da präsentiert sich der Sprecher als Glied einer Wir-Gruppe.“97

Der Prolog gehört zum dramatischen Stil der pathetischen Geschichtsschreibung. Das Joh-Ev ist wie die Synoptiker der pathetischen Geschichtsschreibung zuzuordnen. Es soll nur noch angedeutet werden, dass die Korrespondenz des Joh-Ev zur historischen Welt beachtenswert ist, auch wo sie den Synoptikern widerspricht. Die historische Plausibilität gilt zwar nicht für alle joh Erzählzüge, wohl aber besonders für die Passionsgeschichte und die Chronologie des öffentlichen Wirkens Jesu.98

5. Schluss 1. Die griechischen Historiker schaffen mit der pragmatischen Geschichtsschreibung ein Modell, mit dem sie die Geschichtsschreibungen anderer Völker – Römer, Ägypter, Babylonier, Juden – als fehlerhaft abwerten können. 2. Die moderne Unterscheidung von Fiktionalität 1. und 2. Ordnung erfasst zutreffend diese griechische Differenzierungsleistung. 3. Der Römer Cicero übernimmt diese Differenzierung und fordert die Umgestaltung der lateinischen Geschichtsschreibung nach dem Modell der griechisch-pragmatischen historia. 4. Der Jude Josephus wehrt sich gegen die griechische Abwertung der jüdischen Geschichtsschreibung, findet aber nicht zu überzeugenden Gegen-Kriterien. Er erkennt den rhetorischen Vorrang der griechischen pragmatischen Geschichtsschreibung an, unterstellt ihr aber unplausibel absichtliche Lügen und mangelndes Alter. Josephus stellt zwar das Einwirken des monotheistischen Gottes als Abweichung deutlich heraus, vermag aber diese Abweichung nicht als notwendige Korrektur der pragmatischen Geschichtsschreibung zu begreifen. 96 97

Tac., Agricola 1,1, übs. v. R. Feger; R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 95) 223. S. van Tilborg, Das Johannesevangelium, hrsg. v. R. Dillmann/D. Dormeyer, Stuttgart

2005. 98

U. Busse, Johannesevangelium (s. Anm. 92), 49–57; 233–249.

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5. Die im späten 4. Jh. v.Chr. aufkommende pathetische Geschichtsschreibung trifft hingegen genauer. Sie unterstellt der pragmatischen Geschichtsschreibung einen Mangel an „Mimesis“ und „Hedone“. Die tragische Verstrickung der Menschen zwischen dem Willen der Götter und ihrem autonomen Handeln wird als ein entscheidendes Motiv in die Geschichtsschreibung eingetragen. Die Affekte der Leser sollen zum „Vergnügen“ angeregt und zugleich gereinigt werden. 6. Die gleichzeitig aufkommende biographische Geschichtsschreibung zur Alexanderzeit arbeitet ebenfalls die Mimesis und Hedone ein. 7. Von den Evangelisten führt nur der auctor ad Theophilum explizit eine Diskussion mit den Ansprüchen der pragmatischen Geschichtsschreibung. Er ordnet seine beiden Schriften einerseits den „Pragmata“, also der pragmatischen Geschichtsschreibung zu, andererseits führt er polemisch einen abweichenden Begriff ein: „sich erfüllen (RNJTQY)“. Göttliche und menschliche Akteure erzeugen gemeinsam wie in der pathetischen und jüdischen Geschichtsschreibung die Geschichte. 8. Cicero wird zum Musterfall für den Konflikt von griechischer Geschichtsschreibung und lateinischer, autobiographischer Literatur. Sowohl pragmatische als auch pathetische und biographische Geschichtsschreibung lehnen die biographische Beschreibung einer lebenden Person ab. Isokrates baut zwar eine Ausnahmeregel aus, und zwar das erlaubte, autobiographische Enkomion in einer Gerichtsrede (Isoc. 2,117–179 bes. 159–166), bleibt aber bis zu Nikolaos von Damaskus und Josephus ohne überlieferte Nachfolger im griechischen Raum. 9. Die griechischen Spezialgattungen Hypomnema, lat. Commentarius, und Apomnemoneuma sind vorliterarisch. Sie gehören sowohl der mündlichen Kommunikation als auch der schriftlichen Kommunikation an. Sie sind Vorarbeiten für literarische Veröffentlichungen. Historia und Bios gehören der gehobenen, schriftlichen Literatur an. Die Evangelien und die Apostelgeschichte sind dieser gehobenen Literatursprache zuzuordnen. 10. Der erste Evangelist setzt mit seiner Überschrift Mk 1,1 eine deutliche Parallele zu den Überschriften der zeitgleichen und früheren Biographien. Zugleich gibt er mit der Neuprägung „Evangelium“ und dem ungewöhnlichen Christus-Beinamen seiner Schrift eine Sonderstellung. Das nachfolgende Zitat aus dem jüdischen Jesaja-Buch verstärkt die Sonderstellung. Es geht um die Weiterschreibung der als fehlerhaft verachteten jüdischen Geschichtsschreibung. Allerdings imitiert der erste Evangelist diese nicht, sondern hält sich in Aufbau und Stil an die griechische Biographieschreibung. Die nachfolgenden Evangelisten führen diese Sonder-Form der Biographie weiter.

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11. Das „zweite Buch“ des auctors ad Theophilum betont wie die biographische Geschichtsschreibung, die Biographien und die Monographien das Zusammenwirken von Einzelpersonen, der Gottheit und den Völkern zu Episoden der Universalgeschichte. Zugleich knüpft es bewusst an die Geschichtsschreibung Israels an. 12. Die Christen ordnen ihre erzählenden Bücher einerseits der griechischen Geschichtsschreibung zu und heben sie zugleich aufgrund des Einbezugs der jüdischen Geschichtsschreibung deutlich ab. Es geht nicht um eine esoterische Glaubensgeschichte, sondern um wissenschaftlich verantwortete Geschichtsschreibung 2. Grades, die gemeinsam mit der pathetischen und biographischen Geschichtsschreibung gegen die Engführung der pragmatischen Geschichtsschreibung die Einwirkungen von Gottheiten und Glaubensüberzeugungen als Faktoren der Geschichte anerkennt und einarbeitet.99

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Eusebius von Cäsarea greift im 4. Jh. deutlich auf die Prologe des auctors ad Theophilum zurück (Hist Eccl 1,1,1–8). Es geht ihm nicht mehr um eine Chronik, die er bereits verfasst hat, sondern um eine ausführliche historia. Wie die Evangelisten will er seine „Schrift mit dem als übermenschlich erkannten Wirken Christi und seinem göttlichen Wesen beginnen“ (Hist Eccl 1,1,7). Leider fehlt bei ihm die Einordnung in die griechisch-römische Geschichtsschreibung. Er geht von vornherein von der Eigenständigkeit der christlichen Geschichtsschreibung aus (Hist Eccl 1,1,8). Sie wird nicht mehr gemeinsam mit der heidnischen Geschichtsschreibung vermittelt.

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Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswerken Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römischer und urchristlicher Literatur

Ich beginne mit zwei Texten und bin sicher, dass die Leser dieser Zeilen ohne Zögern den einen der Vitenliteratur, den anderen der Historiographie zuordnen werden: „[…] Anfänglich erschraken die Karthager wegen des Mutes des römischen Feldherrn und der Größe seines Heeres, dem sie kaum halb so viele Kämpfer entgegenzustellen hatten. Hannibal gab jedoch den Truppen den Befehl, sich zu wappnen, und ritt selber mit einem kleinen Gefolge auf einen sanft ansteigenden Hügel, um die Feinde zu beobachten, die bereits in Schlachtordnung aufmarschierten. Da sagte einer seiner Begleiter – er trug den Namen Giskon und war ihm im Rang gleichgestellt –, wie bewundernswert ihm die Masse der Gegner erscheine. Hannibal runzelte die Stirn und entgegnete: ‚Etwas anderes ist dir entgangen, lieber Giskon, worüber du dich noch mehr wundern könntest.‘ Und als dieser fragte: ‚Worüber denn‘, antwortete Hannibal: ‚Darüber, dass unter einer derartig großen Menschenmenge niemand ist, der Giskon heißt!‘ Alle lachten über diesen unerwarteten Scherz, und während sie von dem Hügel hinabritten, erzählten sie jedem, der ihnen begegnete, den witzigen Einfall weiter, so dass das Gelächter sich immer mehr verbreitete und die Leute in Hannibals Umgebung sich gar nicht mehr beruhigen konnten“ (Plut., Fab Max 15).

Und nun der zweite Text: „Die Britannier nämlich, keineswegs gebrochen durch den Ausgang der letzten Schlacht, sahen vor sich nur Rache oder Knechtschaft und hatten – endlich belehrt, dass die gemeinsame Gefahr nur in Eintracht zurückgeschlagen werden könne – durch Gesandtschaften und Bündnisse die Streitkräfte sämtlicher Völkerschaften aufgeboten. Und schon ließen sich über 30.000 Bewaffnete sehen, auch strömte die ganze Jugend herzu und wer noch frischen und rüstigen Alters war, ausgezeichnete Krieger, und jeder trug seine Ehrenzeichen. Damals soll ein Mann namens Calgacus […] vor der gedrängten und kampfheischenden Menge in dieser Weise gesprochen haben: ‚Sooft ich die Gründe dieses Krieges und unsere Not betrachte, gewinne ich das gewisse Vertrauen, der heutige Tag und eure Einmütigkeit werde der Anfang der Freiheit für ganz Britannien sein. Denn allesamt seid ihr zusammengetreten, frei von Sklaverei. Hinter uns ist kein Land

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mehr und nicht einmal das Meer ist sicher; denn dort droht uns die römische Flotte. Deshalb sind Kampf und Waffen, ehrenhaft für die Tapferen, auch für die Feigen das Sicherste […]. Uns hier am Rande der Erde, uns letzte Söhne der Freiheit, hat gerade unsere Entlegenheit und Verborgenheit vor der Welt bis zum heutigen Tag verteidigt […]. Doch jetzt liegt die Grenzmark Britanniens offen – kein weiteres Volk ist mehr hinter uns, nichts als Wogen und Felsen – und noch feindlicher: die Römer. Und ihrem Frevelmut wird man vergeblich durch Fügsamkeit und Bescheidung zu entrinnen suchen. Als Räuber der Welt durchspüren sie […] nun auch das Meer […]. Stehlen, Morden, Rauben heißen sie mit falscher Bezeichnung ƍHerrschaftƍ, und wo sie Einöde schaffen, nennen sie das ƍFriedenƍ […].‘ Erregt nahmen sie nach Barbarensitte die Rede mit Getöse und misstönigem Schreien auf. Und schon zeigten sich die Heerhaufen und blitzten die Waffen beim Vorpreschen der Verwegensten […]“ (Tac., Agr 29,3–30,4.33).

Die Entscheidung dürfte nicht schwer fallen: Der zweite Text ist ein Exempel für historiographische Schriften. Die Rede vor der Entscheidungsschlacht ist dafür ein unverwechselbarer Topos. Darin wird das Movens der Geschichte zur Sprache gebracht und die übergreifenden Zusammenhänge werden reflektiert. Der erste Text steht zwar auch im Zusammenhang mit einem historischen Ereignis, der Schlacht von Cannae, aber weder kommt es zu einer Schilderung der Schlacht, noch werden Ursachen oder Folgen reflektiert. Was interessiert ist die Reaktion des Helden auf die Situation. Die geschichtliche Situation ist sozusagen die Hintergrundfolie, vor der ein bestimmter Zug des Helden plastisch werden soll. So arbeiten Vitenschreiber. Antike Autoren genauso wie ihr Publikum hätten nicht minder eindeutig entschieden. Die Sensibilität für die Gattungsunterschiede wird in den erhaltenen Primärtexten sehr klar zur Sprache gebracht.1 Bevor wir uns mit dem Verhältnis der Vitenliteratur zur Historiographie beschäftigen, schauen wir uns deshalb zunächst unter der Überschrift „Typik“ an, wie die Grenzlinien der beiden Gattungen von antiken Autoren bestimmt werden. Unter „Variation“ soll sodann in einem synchronen Querschnitt die Bandbreite der Möglichkeiten für Viten vorgestellt und der Versuch einer Klassifizierung gewagt werden. Unter „Produktion“ stellen wir in einem diachronen Querschnitt die Frage, ab wann und warum es zu Vermischungen und zu einer Durchdringung der beiden Gattungen kommt. Schließlich, eher als Ausblick gedacht, folgt eine exemplarische Anwendung der Ergebnisse auf ntl Texte.

1

Merkwürdigerweise lässt uns diesbezüglich die antike Literaturtheorie und -kritik fast völlig im Stich; vgl. A. Dihle, Zur antiken Biographie, in: W.W. Ehlers (Hrsg.), La biographie antique (EnAC 44), Genf 1997, 119–140, 124f.

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1. Typik: Das Bewusstsein von virtuellen Gattungsunterschieden In seiner Pelopidasvita schreibt der aus dem Lateinunterricht bestens bekannte Cornelius Nepos (ca. 100–25 v.Chr.): „Der Thebaner Pelopidas ist mehr den Historikern (historicis) als der breiten Masse (vulgo) bekannt. Ich weiß nicht genau, wie ich seine Fähigkeiten (virtutes) darstellen soll. Denn ich fürchte, dass, wenn ich beginne, die Ereignisse auszufalten (res explicare), es so aussehen mag, als erzähle ich nicht sein Leben (vitam), sondern schreibe Geschichte (historiam)“ (Pelop 1).

Mehrere Grunddaten sind an diesem Text interessant. Wir stoßen auf eine klare Terminologie; vita und historia stehen sich gegenüber.2 Die unterschiedlichen Adressatenkreise werden grob angedeutet; historia – und das durch sie verbreitete Wissen – kursiert in Insiderkreisen, Viten berühmter Männer dagegen wollen unter die Leute kommen und sollen breitere Leserkreise anziehen.3 Bei den Ereignissen kommt es auf den Modus der Darstellung an. Daran entscheidet sich alles. Kriege, Städteeroberungen, Siege über Könige und deren Gefangennahme, also das Material für Historiker schlechthin (vgl. Tac., Ann IV 32),4 sind für einen Vitenschreiber nur dann interessant, wenn sich daraus etwas über die Persönlichkeit des von ihm Dargestellten entnehmen lässt. Hören wir Plutarch (45–ca. 120 n.Chr.): „Das Leben (DKQL) des Königs Alexander und das des Cäsar […] wollen wir in diesem Buch darstellen. Wegen der Fülle des vorliegenden Materials wollen wir 2 Die entsprechenden griechischen Termini lauten DKQL und FKJIJUKL. Im Blick auf antike Texte sollten wir die Bezeichnung „Biographie“ vermeiden, weil dadurch falsche Assoziationen geweckt werden. Der Mensch als Produkt von familiärer, gesellschaftlicher und politischer Umwelt, der gegebenenfalls seiner eigenen Zeit gleichzeitig seinen unverwechselbaren Stempel aufdrückt, ist nicht das Thema der antiken Vita. Ihr geht es um die Darstellung eines exemplarischen Lebensmodells; vgl. H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Stuttgart 2002, 2f.; A. Dihle, Die Evangelien und die biographische Tradition der Antike, in: ZThK 80 (1983) 33–49, 41. 3 Erhellend ist der Vergleich, den F.-H. Mutschler, Geschichtsbetrachtung und Werteorientierung bei Nepos und Sallust, in: A. Haltenhoff/A. Heil/F.-H. Mutschler (Hrsg.), O tempora, o mores! Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik (Beiträge zur Altertumskunde 171), München 2003, 259–285, 280–282, zwischen Nepos und Sallust (86–35/34 v.Chr.) zieht, die beide aus dem gleichen Milieu, nämlich dem Ritterstand, stammen und etwa zur gleichen Zeit literarisch tätig geworden sind: Während Letzterer in der Linie der senatorischen Geschichtsschreibung Angehörige der oberen Schichten anzielt, schreibt Nepos seine Viten für eine breitere Leserschaft. 4 Tacitus (ca. 56–ca. 118 n.Chr.) bedauert, dass ihm derartige Stoffe für die Darstellung der Geschichte seiner eigenen Zeit, in der seiner Meinung nach „tiefer oder nur wenig gestörter Friede“ herrscht, nicht mehr zur Verfügung stehen. Trotzdem will er die „auf den ersten Blick unbedeutenden Ereignisse“ unter einem ganz bestimmten – eben dem „historischen“ – Gesichtspunkt ins Auge fassen (introspicere): nämlich inwiefern sie Ausgangspunkt für „Staatsumwälzungen“ (rerum motus) geworden sind. Der historia geht es also um Ursachenforschung bezüglich geschichtlicher Entwicklungen.

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nichts weiter vorausschicken, als die Bitte an unsere Leser, es uns nicht übel zu nehmen, wenn wir die Ruhmestaten nicht sämtlich eine nach der anderen ausführlich darstellen, sondern das meiste nur kurz streifen. Denn wir schreiben nicht Geschichtsdarstellungen (KBUVQTKCLITCHGKP), sondern Viten (DKQWL). Und es sind durchaus nicht immer die großen Heldentaten (RTCZGKL), in denen sich die Tüchtigkeit (CXTGVJ) oder die Verworfenheit (MCMKC) offenbart. Oft sagt ein unbedeutender Vorfall (RTCIOCDTCEW), ein Ausspruch (TBJOC) oder ein Scherz (RCKFKC) mehr über den Charakter (JSQL) eines Menschen aus, als die blutigsten Schlachten, die größten Heeresaufgebote und die Belagerung von Städten. Wie nun die Portraitmaler die Ähnlichkeit (sc. des Bildes mit dem Dargestellten) aus dem Gesicht und den Zügen um die Augen zu gewinnen suchen, in denen sich der Charakter (JSQL) darstellt, und den übrigen Körperteilen weniger Aufmerksamkeit schenken, so möge man es auch uns gestatten, dass wir uns mehr mit den Zeichen der Seele befassen und daraus das Lebensbild (DKQL) eines jeden zeichnen. Die großen Heldentaten aber und die Schlachten überlassen wir anderen“ (Alex 1).

Während Plutarch in diesem Vorwort zu seiner Alexandervita versucht, falsche – d.h. nicht gattungsgemäße – Lesererwartungen einzudämmen, hält Polybius (ca. 200–ca. 120 v.Chr.) in einem berühmten Kapitel seiner Historien (X 21) sich selbst als Autor und Produzenten die Gattungsgesetze vor Augen. Ich paraphrasiere: Eine Vita ist enkomiastisch ausgerichtet. Die Taten eines Helden werden so ausgewählt und dargestellt, dass dieser in einem möglichst positiven bzw. negativen Licht erscheint.5 Für diesen Zweck ist „Übertreibung“ (CWZJUKL) im Sinn einer im Parteiinteresse vorgenommenen gradmäßigen Steigerung, so die rhetorische Definition,6 ausgesprochen nötig. Historia dagegen muss eine „wahre Darstellung“ (VQPCXNJSJCXRQNQIKUOQP) anstreben. Auch das wird von Polybius präzisiert: ein ausgewogenes Urteil in Lob und Tadel fällen, Belege und Nachweise für die Informationen liefern genauso wie die Motive des Handelns aufgrund des vorhandenen Materials eruieren. So klar diese theoretischen Ausführungen auch sein mögen: Das virtuelle Muster einer Gattung ist die eine Seite, die konkrete Realisierung die andere. Gattungsrealisierung in Reinkultur gibt es nicht. Es sind immer bestimmte Signale, aufgrund derer – im Kopf des Lesers – ein Text mit anderen in Beziehung gesetzt und in diesem Horizont verstanden wird. G. Genette schlägt dafür den Begriff „Architext“ vor – und meint damit genau diese Verlinkung eines Textes mit bestimmten Architekturmomenten anderer Texte. Dieses Gewebe macht den „Architext“ aus.7 Der Textproduzent 5 Vgl. die Kurzformel laudatus esse in Tac., Agr 2,1, als Kurzformel für „in einer Vita dargestellt werden“. 6 Vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 21973, § 259. 7 G. Genette, Einführung in den Architext, Stuttgart 1990, bes. 100–102.

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kann nachhelfen, indem er ganz bewusst Signale setzt, die seinen Text mit anderen verlinken, bzw. indem er – wie Plutarch und Nepos – gleich zu Beginn, sozusagen im Label der Schrift, die Zuordnung einfach postuliert. Die präzise Durchführung steht dann auf einem anderen Blatt. Das heißt aber: Variationen gehören zum Gattungsphänomen, ohne dass man von einer „Verletzung“ der Gattung sprechen sollte. Es geht eher um eine stärkere oder schwächere Verlinkung mit bestimmen anderen Texten. Die Rezipienten sind prinzipiell frei, ob und womit sie den vorliegenden Text in Verbindung bringen. Das kommt einerseits auf ihre Textkenntnis und andererseits auf die vorherrschende Literatur ihrer Zeit an. Schauen wir uns also im zweiten Schritt die Bandbreite der möglichen Variationen an.

2. Variation: Formen und Intentionen (synchroner Querschnitt) Die hauptsächlichen Variationsmöglichkeiten innerhalb der Historiographie werden durch die Klassifizierungen „pragmatische“ und „mimetische“ Geschichtsschreibung markiert.8 Ist die eine auf abgewogenes Urteil und die Überprüfbarkeit der Aussagen bedacht, will die andere mit Hilfe dramatischer Darstellung den Leser bewegen. Ich beschränke mich hier auf die Variationsmöglichkeiten in der Vitenschreibung.

2.1 Formen der Vita (Aufbau) 2.1.1 Erkennungsmerkmale Die Sachpunkte, die in einer Vita abzuhandeln sind, werden von Cornelius Nepos geradezu schulmeisterlich aufgereiht. Zu Beginn seiner Epaminondasvita hält er fest: „[…] Wir werden zuerst über seine Herkunft (genus) sprechen, zweitens erläutern, in welchen Fächern und von wem er ausgebildet (eruditus) wurde. Als Drittes werden wir auch die Ausprägung seines Charakters (mores ingenii), seiner Fähigkeiten (facultates) und, wenn es sonst noch Erwähnenswertes gibt, auch das noch darstellen. Am Schluss gehen wir auf seine militärischen Taten (res gestae) ein, die von den meisten höher geachtet werden als seine geistigen Fähigkeiten“ (Epaminondas 1).

Ich füge hinzu: und auf seinen Tod, den Epaminondas, wie zu erwarten, in der Schlacht findet. Die moderne Forschung hat unter Aufnahme von 8

Vgl. dazu den Beitrag von D. Dormeyer in diesem Band.

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Begriffen aus der Primärliteratur9 folgendes Raster etabliert: Herkunft – Ausbildung – Taten und Worte – Tod.10 Die kürzeste und einprägsamste moderne Definition einer Vita stammt vermutlich von Arnaldo Momigliano. Er hat sie im Rahmen der Carl Newell Jackson Classical Lectures an der Harvard University im Jahr 1968 formuliert: „An account of the life of a man from birth to death is what I call biography.“11 In der Durchführung lassen sich allerdings erhebliche Variationen feststellen. R.A. Burridge hat ein empirisches, geradezu statistisch auswertbares Kriterium zur Gattungsbestimmung eingebracht: Wenn in einer Schrift ein erheblicher Teil der Verben auf eine einzige Person konzentriert ist, dann liegt eine Vita vor. Mit entsprechenden Graphiken zu den homerischen Epen bzw. typischen Viten der späten Kaiserzeit versucht er, den Erkenntnisgewinn zu veranschaulichen.12 Aber diese Statistik stößt schnell an Grenzen, vor allem, wenn wir auf die Mischgattungen stoßen.

2.1.2 Variationsmöglichkeiten Zwei Paare von Gegensatzpolen will ich benennen: Der Stoff kann, vor allem in dem Teil der Vita, der im Anschluss an Genos und Ausbildung die Taten behandelt, chronologisch oder thematisch geordnet sein,13 also nach Sachgebieten bzw. nach Tugenden und Lastern. Sueton hat dafür die Termini per tempora bzw. per species (Aug 9,1) geprägt und verknüpft in seinen Kaiserviten beide Darstellungsformen, allerdings nicht ohne an den Übergangsstellen eigens darauf hinzuweisen.14 Und: Der Stoff kann eher als 9 Unter dem Gesamtmotto facta moresque (1,1) sind in der Agricolavita des Tacitus folgende Signalwörter zu finden, die die Gliederung bestimmen: pater illi – mater – pueritia adolescentiaque – magistratus – finis vitae (4,1f.; 6,1; 43,1). Der hellenistisch gebildete, jüdische Religionsphilosoph Philo rekapituliert den chronologisch bestimmten Teil seiner Mosevita folgendermaßen: IGPGUKL– VTQHJ– RCKFGKC– CXTEJ (Karriere als Herrscher) – RGRTCIOGPC (Vit Mos II 1). Dass sich Philo eines Gattungsrasters bewusst ist, zeigt Vit Mos I 5: „Ich werde beginnen, womit man notwendigerweise anfangen muss: Das Genos des Mose […]“ Im bereits erwähnten Reflexionskapitel des Polybius findet sich als Sachgerüst einer Vita: MCKVKLJP– MCKVKPYP– MCKVKUKPCXIYICKL (X 21,5). 10 Vgl. die Definitionen von H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 18; A. Dihle, Die Entstehung der historischen Biographie (SHAW 1986/3), Heidelberg 1987, 8f. In beiden Fällen finden die Variationsmöglichkeiten sowohl hinsichtlich der literarischen Ausgestaltung (vgl. 2.1.2) als auch im Blick auf die Pragmatik (vgl. 2.2) zu wenig Berücksichtigung. 11 A. Momigliano, The Development of Greek Biography. Four Lectures, Cambridge (MA) 1971, 11. 12 R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography (The Biblical Resource Series), Grand Rapids (MI) 22004, 130f.158f.308–321 (Graphiken). 13 Das eine knüpft am Annalenstil der Historiographie an, das andere am Enkomium; vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier ersten Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen 1997, 278. 14 So Aug 9,1; vgl. Caes 44,4; das wird sehr gut herausgearbeitet von H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 180f. Analoges lässt sich von der Mosevita des Philo sagen: Das erste Buch ist chronologisch geordnet, das zweite thematisch nach Tugenden.

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Ansammlung von Datenmaterial vorgelegt werden, also katalogmäßig aufgereiht sein (so die Philosophenviten des Diogenes Laertius), oder eher an Erzählstrukturen orientiert sein, Handlungsbögen mit Kontrasten und Höhepunkten aufbauen (so vor allem die Viten von Nepos und Plutarch15).16 Das eine dient eher der Information, das andere will den Leser bewegen und mitreißen. Damit kommen wir zu den wesentlichen Intentionen der Vita.

2.2 Intentionen der Vita (Pragmatik) Viten können als reines Informationsmaterial eingesetzt werden. Vor allem Dichterviten werden gern den Ausgaben ihrer Werke vorangestellt,17 eine etwas ausgefeiltere Form unseres heutigen Klappentextes. Auf diese Weise hat die Vergilvita des Sueton überlebt.18 Auf der anderen Seite, und das ist viel häufiger der Fall, lässt sich die Intention erkennen, mit der Vita ein Leitbild vor Augen zu stellen. Nicht selten ist metaphorisch davon die Rede, dass in der Vita ein „Bild“ gezeichnet würde. Wie Portraitmaler geschickt das Augenmerk auf bestimmte Gesichtspartien eines Menschen richten, um 15 Sowohl für Nepos als auch für Plutarch ist gezeigt worden, dass sie gelegentlich die traditionell verbürgten chronologischen Abläufe der Ereignisse umstellen, wenn sie meinen, dadurch das Wesen der Hauptperson besser darstellen oder einen dramatischeren Spannungsbogen erreichen zu können; vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 13) 278–281, mit Belegen und Literaturnachweisen. Leider hat Frickenschmidt in seiner Darstellung von vornherein und einseitig nur den dramatisch gestalteten Aufbau der Viten im Blick, den er mit der aristotelischen Theorie von den drei aufeinander bezogenen Teilen einer dramatisch angelegten Handlung (vgl. Poet 1459a 17–21; 1450b 26) in Verbindung zu bringen versucht. Damit wird aber die schematische Darstellungsform für Viten zu wenig gewürdigt und außerdem ausgeblendet, dass die Wahl der einen oder der anderen Form mit der Entscheidung des Autors zusammenhängt, d.h. mit der Intention, die er mit der vorgelegten Vita verbindet. Diodorus Siculus bringt zusätzlich ein leserpsychologisches Argument für die Wahl der dramatischen Gestaltung ein, weshalb er diese Form sogar den Historiographen empfiehlt: „Die nur halb vollständig berichteten Geschehnisse nämlich, bei denen das Ende nicht mit dem Anfang zusammenhängt, unterbrechen das Interesse der Leser“ (XVI Proömium); vgl. E. Plümacher, Die Apostelgeschichte als historische Monographie, in: J. Kremer (Hrsg.), Les Actes des Apôtres. Traditions, rédaction, théologie (BEThL 48), Leuven 1979, 457–466, 465. 16 Die Unterscheidung des Vitenpioniers F. Leo, Die griechisch-römische Biographie nach ihrer litterarischen Form, Leipzig 1901, 315–320, zwischen schematisch das Datenmaterial auflistenden und literarisch gestalteten Viten hat zumindest heuristischen Wert behalten, auch wenn seine Hypothese von der Übertragung der Formgesetze der alexandrinisch-statistischen Dichtervita auf Staatsmännerviten, für die ursprünglich die peripatetisch-literarische Vitenform zuständig war, in den Kaiserviten Suetons obsolet geworden ist. 17 Vgl. A. Dihle, Entstehung (s. Anm. 10) 7f. Das Phänomen ist aufgrund der beiden Papyri POxy 1800 und 2438 von A. Lamedica, Il P. Oxy. 1800 e le forme della biografia greca, in: SIFC 78 (1985) 55–75, ausführlich untersucht worden. 18 Sie wurde vom spätantiken Grammatiker Donatus (Mitte 4. Jh. n.Chr.) seinem Vergilkommentar vorangestellt; vgl. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 172.

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dessen Charakter darzustellen, so fokussieren auch die Vitenschreiber ihr Interesse auf bestimmte Daten, um von dem Menschen, dem die Vita gewidmet ist, ein bestimmtes „Bild“ zu zeichnen.19 Ich unterscheide drei Richtungen: eine individualethische und eine politische Zielrichtung – sowie eine ätiologische.20 2.2.1 Individualethische Zielsetzung: eine Leitfigur fürs eigene Leben finden In seiner Aemiliusvita formuliert Plutarch das Programm klassisch: „Die Anregung, mich mit dem Schreiben von Viten (VYPDKYP) zu befassen, ist mir von anderen gekommen; dass ich aber dabei blieb und mich alsbald auf dem Gebiet wohlfühlte, das geschah aus eigenem Antrieb, indem ich nun versuchte, gleichsam vor dem Spiegel der Geschichte (KBUVQTKC) mein Leben (DKQL) gewissermaßen zu strukturieren und mit den Tugenden jener Männer in Einklang zu bringen. Denn nichts anderes als ein stetiges, inniges Zusammenleben (UWODKYUKL) ist doch das, was vor sich geht, wenn wir mittels der geschichtlichen Betrachtung jeden von ihnen der Reihe nach, wenn er sozusagen als Fremdling erscheint, gastlich empfangen, bei uns aufnehmen und ihn daraufhin betrachten, ‚wie gewaltig er war, wie trefflich‘,21 und das Gewichtigste und Bedeutsamste für die Erkenntnis seines Wesens aus seinen Taten (RTCZGKL) entnehmen“ (Aem 1).

Es geht um die ars vivendi, die Schulung und Ausrichtung des eigenen Charakters an einem literarisch gezeichneten Vorbild,22 wobei der Charakter aus den Taten sowie aus Reaktionen auf bestimmte Situationen und Ereignisse abgelesen werden kann. 2.2.2 Politische Zielsetzung: eine Leitfigur für eine bestimmte Zeit präsentieren Zwei Spielarten sind zu unterscheiden: einerseits der Trend zur „political correctness“. Gemeint sind diejenigen Viten, die eine Herrschergestalt verherrlichen, die momentan agiert oder als Leitfigur für ein politisches

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Vgl. Plut., Alex 1: GKXFQRQKGKP; Nepos, Epaminondas 1: imago. D. Frickenschmidt, Evangelium als antike Biographie, in: Zeitschrift für Neues Testament 1/2 (1998) 29–39, 31f., unterscheidet nach Kulturkreisen: Die individualistische Zielsetzung ordnet er der griechischen, vor allem durch Aristoteles geprägten Tradition zu. Die römische Vitentradition stelle dagegen Taten und Verhalten im öffentlichen Leben in den Mittelpunkt, während Viten in jüdischer Tradition die Gottesbeziehung des Helden in den Mittelpunkt rückten. 21 Vgl. Hom., Il XXIV 630. 22 So die Zielrichtung, wie sie Plutarch unmittelbar im Anschluss an den zitierten Text formuliert: RTQLGXRCPQTSYUKPJXSYP (Aem 1,4). 20

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System steht, also z. B. die diversen Alexanderviten in der Diadochenzeit23 oder die Augustusvita des Nikolaus von Damaskus, die, vielleicht von Herodes dem Großen höchstpersönlich beauftragt,24 für Augustus im Osten werben soll.25 Auf der anderen Seite stehen die kritischen Varianten: Viten, in denen Opponenten gegen den Kaiser portraitiert werden, wie es etwa in diversen Viten von Stoikern der Fall ist (vgl. 3.5). 2.2.3 Ätiologische Zielsetzung: „the living voice“ der Ursprungsfigur ausfindig machen Kaum zwei Generationen lang sind die sogenannten Diadochen, die Erben Alexanders des Großen, auf der politischen Bühne in den drei Linien der Seleukiden, Ptolemäer und Antigoniden etabliert,26 da erscheinen literarische Werke, die den gleichen Titel tragen: Diadochen der Philosophen (FKCFQECKVYPHKNQUQHYP).27 Es handelt sich um Vitenketten. Dabei sind die Viten der jeweiligen Schulhäupter der einzelnen philosophischen Schulen so aneinandergereiht, dass ein Stammbaum der Schulen entsteht; anders gesagt: dass die Sukzession innerhalb der einzelnen Schulen ersichtlich wird. Man spricht deshalb auch von Sukzessionsliteratur. Durch die Aneinanderreihung der Viten der Schulhäupter entsteht unter der Hand eine geschichtliche Abfolge der jeweiligen Schule. „Wie die dynastische Historiographie das politische Geschehen an der Abfolge des Herrscherhauses aufhängte, so reihte die ‚diadochische‘ Philosophiegeschichtsschreibung das geistige Geschehen innerhalb einer Schule an der Sukzession ihrer Scholarchen, also am Lehrer-Schüler-Verhältnis auf.“28 Ziel dieser Sammlungen ist offensichtlich, einerseits die einzelnen Schulen auf ihre Ursprungsstimme zurückzuführen und andererseits aufzu-

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Z.B. von Kallisthenes (FGH 124) oder Chares von Mytilene (FGH 125); vgl. K. Meister, Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart 1990, 105–123. 24 So die Vermutung von H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 123. 25 Vgl. die Einleitung zur kommentierten Textausgabe von J. Malitz (Hrsg.), Nikolaos von Damaskus. Leben des Kaisers Augustus (TzF 80), Darmstadt 2003. 26 Mit der Schlacht von Kurupedion 281 v.Chr. endet die Herrschaft des Lysimachos. Ab diesem Zeitpunkt gibt es nur noch die drei klassischen Diadochenmonarchien. 27 Zum Phänomen der Diadochenliteratur vgl. W. von Kienle, Die Berichte über die Sukzessionen der Philosophen in der hellenistischen und spätantiken Literatur, Berlin 1961; M. Rodríguez-Ruiz, Apostelamt, kirchliches Amt und apostolische Sukzession im Neuen Testament, in: Verantwortete Exegese. Hermeneutische Zugänge – Exegetische Studien – Systematische Reflexionen – Ökumenische Perspektiven – Praktische Konkretionen (FS F.G. Untergaßmair) (Vechtaer Beiträge zur Theologie 13), Münster 2006, 295–311, bes. 296–302. 28 F. Jürß (Hrsg.), Diogenes Laertios. Leben und Lehre der Philosophen (recl 9669), Stuttgart 1998, 19.

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weisen, in welcher Gestalt jeweils „the living voice“29 des Gründers in den Zeiten nach seinem Tod gefunden werden kann, wo also die wahre Überlieferung weitergetragen wird. Legitimieren die politischen Diadochen ihren Herrschaftsanspruch über die Genealogie ihrer Dynastie, so wollen die Philosophen mit Hilfe der Diadochenliteratur die Legitimität ihrer Lehrtradition aufweisen. Vielleicht – und die Bezeichnung dieser Werke deutet das an – sind die „Philosophendiadochen“ bewusst als alternativer Orientierungspunkt im Gegenüber zu den politischen Herrschergestalten gedacht. Vom Material her bestehen die Werke der Philosophendiadochen – außer dass sie Herkunft und Tod des Philosophen erzählen – vor allem aus Anekdoten und institutionellen Informationen, also aus Nachrichten über den Schülerkreis und die Nachfolgeregelung.30 Das erste fassbare große Werk dieser Sorte stammt von Sotion. Verfasst wurden seine FKCFQECKVYPHKNQUQHYP zwischen 200 und 170 v.Chr. Vielleicht sind die Philosophendiadochen des Antisthenes von Rhodos schon gegen Ende des 3. Jh. v.Chr. anzusetzen.31 Diogenes Laertius schöpft maßgeblich aus solchen Sammlungen und nennt ausdrücklich die Autoren, deren Texte er benutzt hat.32 2.2.4 Schematischer Überblick: „getrennt und doch vermischt“ Idealtypisch lassen sich historia und vita wunderbar unterscheiden: Im einen Fall liegt der Skopus auf den Zeitereignissen, im anderen Fall auf den Einzelpersonen. Historia will politische Verhältnisse einer bestimmten Epoche durchleuchten, vita ein persönliches Leitbild vor Augen stellen. In der Theorie betreibt wahre historia pure Faktenrecherche und objektive 29 Diese Terminologie übernehme ich von C.H. Talbert, Biographies of Philosophers and Rulers as Instruments of Religious Propaganda in Mediterranean Antiquity, in: ANRW II/16.2 (1978) 1619–1651, 1622. Sein innovatives Ordnungsschema unterscheidet unter dem Gesichtspunkt der sozialen Funktion fünf Vitentypen, bleibt aber stark auf die Differenzierung unter den Philosophenviten bedacht und versucht dann, die Herrschervitentypen dazu in Analogie zu setzen. Talberts Typ A entspricht meiner individualethischen Zielsetzung (2.2.1), sein Typ D meiner ätiologischen Zielsetzung (2.2.3). 30 Vgl. Diog. L. II 47 (CXMQNQWSKC).85f.105 (FKCFQEQLCWXVQW).108f.111.112.113; V 58 (FKGFGZCVQF’CWXVQWVJPUEQNJP).65. Die Texte der Diadochenliteratur sind fast ausschließlich über die Philosophenviten des Diogenes Laertius erhalten, der aber seine Quellen gewissenhaft offenlegt; vgl. J. Mejer, Diogenes Laertius and his Hellenistic Background (Hermes.E 40),Wiesbaden 1978, 62–81. 31 Der jüngste Philosoph, den er erwähnt, ist Kleanthes (gest. 230/229 v.Chr.); vgl. D.T. Runia, Art. Antisthenes [2], in: Der neue Pauly I (1996) 794f. Die Anfänge der Sukzessionsliteratur gehen wahrscheinlich auf Aristoteles und seinen Schüler Theophrast zurück; vgl. J. Mansfeld, Sources, in: K. Algra u.a. (Hrsg.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 1999, 3–30, 23–25. 32 Vgl. Sotion (z. B. I 9; insgesamt 23-mal); Antisthenes von Rhodos (z.B. II 134; insgesamt 13-mal); Alexander (II 106); Sosikrates (VIII 8) usw.

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Ursachenforschung, eine wahre vita dagegen parteiische Propaganda eines Leitbildes mit Hilfe von Dramatik und Übertreibung. De facto aber zeigt sich: In der Ausführung sind beide Spielarten in beiden Gattungen anzutreffen. Auch in der historia gibt es die dramatische Variante, die mit Übertreibungen arbeitet und so den Leser bewegen und lenken will, eben die Variation der mimetischen Geschichtsschreibung. Umgekehrt gibt es in der Vitenliteratur durchaus auch die eher nüchtern gehaltene Faktendarstellung, etwa in der Diadochenliteratur. Und doch ist auch diese scheinbar pure Faktendarstellung parteiisch gedacht: Immerhin wird in den Philosophendiadochen ein über bestimmte Personen laufender Traditionsstrang für verbindlich erklärt und damit gleichzeitig definiert, in welchen Leitbildern jeweils die „wahre Tradition“ zu finden ist. Und auch die pragmatische Geschichtsschreibung legt Deutungen der Ereignisse vor, vor allem in den Reden, fällt Urteile und plädiert damit für eine bestimmte Ausrichtung der Politik. Und das impliziert Parteilichkeit im höchsten Maße.33 Und damit nicht genug. Die beiden Großgattungen selbst, historia und vita, in der Theorie streng getrennt – in der Praxis können sie sich gegenseitig durchdringen. Es ist symptomatisch, dass die Gattungsreflexionen, die durch die Hervorhebung der Unterschiede die Eindeutigkeit der beiden Gattungen fast zu beschwören versuchen, immer dann angestellt werden, wenn sich die Gattungsgrenzen in der Durchführung vermischen.34 Deshalb fragen wir in einem diachron bestimmten Abschnitt: Ab wann und warum kommt es zur Vermischung der beiden Gattungen? Welche Rolle spielen dabei die Viten? Und: Ab wann und warum floriert welche Variation der Vitenproduktion?

3. Produktion: Zeitgeschichte und Gattung (diachroner Querschnitt) Sofort meine These: Immer, wenn Einzelfiguren (Material für die vita) den Verlauf der Geschichte bestimmen (Material für die historia), kommt es fast zwangsläufig zu einer Vermischung der beiden Gattungen. Prüfen wir in einem zeitgeschichtlich orientierten Durchgang, in welchen geschichtli33 Vgl. die von Plinius, Ep IX 19,5, überlieferte Anekdote: Der Autor eines Geschichtswerkes soll zu einem politischen Akteur gesagt haben: „Du weißt, Verginius, welche Unparteilichkeit (fides) die Geschichtsschreibung verlangt; wenn du also in meinem Geschichtswerk etwas anderes dargestellt findest, als es deinen Wünschen entspricht, dann sei mir bitte nicht böse!“ Darauf der Betroffene: „Weißt du denn nicht, Cluvius, dass ich alles, was ich getan habe, tat, damit es euch freistehe zu schreiben, was euch beliebt?“ 34 Das Reflexionskapitel X 21 steht im Geschichtswerk des Polybius genau an der Stelle, an der er einen biographischen Exkurs aufnimmt.

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chen Situationen Elemente der Vita in die historiographische Literatur eindringen und welche Auswirkungen die bestimmende Position von Einzelfiguren auf der Bühne der Geschichte auf die Vitenliteratur hat: im Blick auf die Auswahl und Darstellung ihrer Leitbilder.

3.1 Elemente der Vita in der Historiographie Die literarische Annäherung von historia und vita lässt sich in der griechischen Literatur zum ersten Mal beim politisch-gesellschaftlichen Umbruch von der Poliszeit zur Alexanderzeit beobachten, also in der Epoche, als sich die hellenistischen Monarchien zu etablieren beginnen. Es war der Historiograph Polybius (200–120 v.Chr.), der messerscharf diesen literarischen Shift innerhalb des Œuvres von Theopomp von Chios (378–320 v.Chr.) bemerkt hat. Theopomp schreibt die Geschichte Griechenlands („Hellenika“) in bewusster chronologischer Fortsetzung zum Geschichtswerk des Thukydides. In hellenistisch-römischer Zeit war er einer der am meisten gelesenen und einflussreichsten griechischen Geschichtsschreiber. Eingereiht wird er in die pragmatische Geschichtsschreibung. Er führt sorgfältige Recherchen durch und betreibt Ursachenforschung. Das wird von späteren Kritikern entsprechend positiv gewürdigt.35 Was Polybius seinem Kollegen Theopomp zum Vorwurf macht, ist etwas anderes: der Achsenbruch in seinem Werk. Als nämlich Philipp II., der Vater Alexanders des Großen, die Bühne des Geschichtswerkes betritt, bricht Theopomp seine „Hellenika“ ab und beginnt ein neues Werk mit dem Titel „Philippika“, „[…] obwohl es doch viel würdiger und gerechter gewesen wäre, im Rahmen der griechischen Geschichte auch die Taten Philipps zu behandeln, statt im Rahmen einer Geschichte Philipps die Ereignisse in Griechenland“ (VIII 13).

Als symptomatische Vorstufen, sozusagen als Viten „im Versuchsstadium“,36 lassen sich bereits im Geschichtswerk des Herodot (484–424 v.Chr.) Vitenexkurse entdecken, jeweils mit den typischen Sachpunkten Abstammung, Jugend, Taten und Tod. Sie sind niemandem anderen gewidmet als ausgerechnet den persischen Herrschern Kyrus (559–529 v.Chr.)37 und Kambyses (529–522 v.Chr.).38 Sowohl in der Wahrnehmung von außen als auch in den Monumentalinschriften der persischen Könige erscheint die Geschichte des Perserreiches als Königsgeschichte. 35 36 37 38

Vgl. das Urteil von Dion. Hal., Ep ad Pomp 6. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 23. Hdt. I 107–130 (Abstammung/Jugend).177–188 (Taten).201–214 (letzte Schlacht und Tod). Hdt. III 1–66.

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Angesichts dieser „persischen Gefahr“ lassen sich wiederum auf griechischer Seite Enkomien auf Herrscher finden, die – als Alternative zu den stets schwierig auszuhandelnden griechischen Städtebündnissen – für das Modell einer klug agierenden Einzelpersönlichkeit werben, um die eigenen Kräfte zu bündeln und sich gegen die Gefahr von außen wehren zu können.39

Analog liegt der Fall in der römischen Geschichtsschreibung. Historia und vita werden einander angenähert ab dem zur Alexanderzeit völlig analogen Umbruch von der Republik zur Kaiserzeit. Sehr gut lässt sich das an Velleius Paterculus (20 v.Chr.–ca. 31 n.Chr.) demonstrieren. Im Jahr 30 n.Chr. legt er eine Universalgeschichte vor. Sie reicht vom Untergang Trojas bis in die unmittelbare Gegenwart des Autors. Und das alles in ganzen zwei Bänden. Der notwendige Galopp der Darstellung verlangsamt sich erst, als Velleius die römische Zeit erreicht. Und: Als Cäsar die Bühne betritt, bricht die Darstellungsform von der knapp skizzierten Ereignisgeschichte in biographisches Erzählen um.40 Ab dann werden geschichtliche Abläufe als Taten der Führungspersonen erzählt, die jeweils mit eigenen biographischen Exkursen eingeführt werden.41 Höhe- und Zielpunkt des Werkes ist die Verherrlichung des aktuellen Kaisers Tiberius, unter dessen Fittichen der aus dem Ritterstand stammende Velleius politisch reüssiert hat. Am Ende seines Werkes outet sich Velleius selbst. Er resümiert die Intention seines Geschichtswerkes, dem er den Zweck zuschreibt, den eigentlich eine Vita verfolgt: ein Vorbild für das eigene Verhalten zu beschreiben. Hören wir ihn selbst: „[…] denn ein optimaler Prinzeps (Tiberius ist gemeint) lehrt die Bürger durch seine Handlungen, das Rechte zu tun und, obwohl er an Macht (imperium) der Größte ist, ist er noch größer durch sein Beispiel (exemplum)“ (II 126,5).

3.2 Vitenboom während des Bürgerkriegs: Cornelius Nepos Die großen Einzelpersönlichkeiten, die ab der späten Republik die öffentliche Wahrnehmung bestimmen, haben, wie zu erwarten, einen Boom von Viten provoziert. M. Terentius Varro (116–27 v.Chr.) hat 32 v.Chr. in seinem fünfzehnbändigen Werk Imagines bzw. Hebdomades 700 Viten

39 Vgl. das Euagoras-Enkomium von Isokrates (436–338 v.Chr.) sowie die Kyrupädie und das Agesilaos-Enkomium des Xenophon (440/426–355 v.Chr.). 40 Symptomatisch ist II 41,1: „Hier folgt nun das Konsulat Julius Cäsars, der mir sozusagen die Hand beim Schreiben festhält und mich trotz meiner Eile bei ihm zu verweilen nötigt. Cäsar stammte aus der altadligen Familie der Julier […]“. 41 Im krassen Gegensatz dazu steht die Praxis Catos d. Ä. (234–149 v.Chr.), der in seinem Geschichtswerk Origines die politischen Akteure nie mit Namen, sondern immer nur mit Rang und Amtsbezeichnung nennt.

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vorgelegt.42 Leider ist davon nur äußerst wenig erhalten. Fast zeitgleich (35/32 v.Chr.) erschien die Sammlung De viris illustribus von Cornelius Nepos (100–25 v.Chr.). Es lohnt sich, seine Vitensammlung genauer zu durchleuchten. In 16 Bänden werden Männer der verschiedensten Kategorien portraitiert: Redner, Historiker, Grammatiker, Dichter, auch Feldherrn – aber keine Könige. Und das gerade zu einer Zeit, als Oktavian, der spätere Kaiser Augustus, zum Sprung auf die Alleinherrschaft ansetzt. Bei Nepos gibt es nur ein summarisches Kapitel „Über die Könige“ (XXI) innerhalb des vollständig erhaltenen Feldherrnbuchs. Dabei erscheint der Spartaner Agesilaos, von dem im gleichen Buch eine Vita als Feldherr zu lesen ist, als Idealkönig. Von ihm heißt es: nomine, non potestate fuit rex (2,1). Er hatte lediglich den Titel „König“, nicht aber eine entsprechende Ausstattung mit Macht (potestas). Nach neuesten Interpretationen geht es Nepos darum, die „Macht“, die eine Person durch die Gestaltung des eigenen Lebens zeigt, herauszuarbeiten, also die freie Verfügung über sich selbst im Gegensatz zu der Macht, die konstitutionell gegeben oder militärisch erstritten wird.43 Diesbezüglich darf die ebenfalls erhaltene Atticusvita aus dem Buch über römische Historiker als positives Spiegelbild für Nepos’ eigenes Leben gelesen werden. Es ist die einzige Vita in der Sammlung über eine noch lebende Persönlichkeit.44 Nepos war mit dem steinreichen Bankier Atticus, der besser bekannt ist über den Briefverkehr mit Cicero, eng befreundet. Er schildert ihn als Mann, der sich aus dem politischen Geschäft völlig heraushält, zwar zu den Optimaten tendiert, sich aber von keiner Seite binden lässt. Vor allem dann, wenn es darum geht, wen er finanziell unterstützen soll, entscheidet er nicht parteipolitisch, sondern nach humanen Grundsätzen.45 Dadurch verschafft er sich Autorität. Seine eigene Leitfigur ist die Philosophie, die er ins praktische Leben umzusetzen versucht. Also: Dem aktuell politisch praktizierten Leitbild des Kampfes um die Alleinherrschaft und die absolute Machtstellung stellt Nepos in der Vita des Atticus das Ideal der Sorge um die eigene Seelenruhe (Att 6,5) entgegen, aus der die 42

Dem Titel Imagines entsprechend ist jeder Vita das Portrait des Dargestellten beigefügt. Vgl. S. Anselm, Struktur und Transparenz. Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Feldherrnviten des Cornelius Nepos (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 11), Stuttgart 2004, 35; A.C. Dionisotti, Nepos and the Generals, in: JRS 78 (1988) 35–49, 49. Zur Hervorhebung des republikanischen Ideals vgl. folgenden Merksatz: „Daraus ist zu ersehen, dass eine Herrschaft (imperium) nur dann eine sichere Grundlage hat, wenn sie von der Zustimmung der Beherrschten getragen wird“ (Dion 5,3). 44 Das ergibt sich aus der Einführung des Nachtrags zur Atticusvita, den Nepos nach dessen Tod (32 v.Chr.) anlässlich der zweiten Auflage (29 v.Chr.) hinzugefügt hat. Dort schreibt Nepos explizit, dass die Vita Attico vivo publiziert worden sei (Att 19,1). 45 Symptomatisch ist sein Verhalten gegenüber dem Cäsarmörder Brutus, den er erst dann unterstützt, als dieser in politische Bedrängnis kommt, wogegen er sich zuvor für einen offiziellen Hilfsfonds, den seine Parteifreunde für ihn einrichten wollten, nicht gewinnen ließ (Att 8,1–6). 43

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Macht über sich selbst entspringt, die sich ihrerseits wiederum kommunikativ in einem treuen Freundschaftsnetz konkretisiert (Att 11,4f.).46 Die globale Perspektive des Nepos lautet entsprechend: interkulturelle Verständigung. Mit seinen Viten wirbt er für die Achtung der Andersartigkeit nichtrömischer Kulturen und versucht, für Römer evtl. anstößige Verhaltensweisen aus den Wertmaßstäben der jeweiligen Kultur heraus verständlich zu machen. Das ist erklärtes Programm47 und formal schon an der Anlage seines Werkes ablesbar: Jeweils einem Buch mit römischen Exempeln stellt er ein Buch mit Exempeln aus Griechenland bzw. Barbaren gegenüber. Im Feldherrnbuch kann man auch von den Puniern Hannibal und Hamilkar etwas lernen.

3.3 Plutarchs Parallelviten: nach dem Tod Domitians Dieses Modell hat Schule gemacht. Wir kennen es viel besser aus den Parallelviten Plutarchs (45–125 n.Chr.). In seinen Vitenpaaren spannt Plutarch immer einen Römer und einen Griechen zusammen, die sich hinsichtlich ihrer Leistungen und vor allem ihrer guten oder negativen Eigenschaften einigermaßen gut vergleichen lassen. Dabei steht immer der Grieche voran, also: Alexander – Cäsar, Demosthenes – Cicero, Theseus – Romulus usw. Markanterweise wählt Plutarch nur Griechen aus der Zeit vor der römischen Expansion in den Osten (ab 146 v.Chr.). Am Ende der unter den Kaisern Trajan (98–117 n.Chr.) und Hadrian (117–138 n.Chr.) sukzessive erschienenen Reihe steht griechischerseits der Freiheitskämpfer Philopoimen, den die Römer – lobend (!) – gern den „letzten Griechen“ nannten. Der apologetische Kommentar Plutarchs dazu lautet: „[…] als ob Griechenland nach ihm sonst keinen großen, seiner würdigen Männer hervorgebracht hätte“ (Philop 1). Als römisches Pendant hat Plutarch provokativerweise den Feldherrn Titus Quinctius Flamininus ausgewählt, der sich seinerseits für die Freiheit der Griechen gegenüber den Makedonen eingesetzt hat. Plutarch konzipiert und formuliert aus der Perspektive der von den Römern unterworfenen Griechen. Er will seinen eigenen Landsleuten genauso wie dem römischen Publikum die große Vergangenheit des jetzt politisch ohnmächtigen Griechenlands vor Augen halten. Die römische Provinz Achaia hat eine Vergangenheit, mit der sie sich vor den neuen Herrschern 46 Auffällig sind die implizit kritischen Äußerungen zu Augustus im Nachtrag der Atticusvita (29 v.Chr.): Der Sohn des Vergöttlichten (divi filius) verdanke seine herausragende Stellung allein dem Schicksal; denn neben ihm hätte es andere principes von gleicher Dignität gegeben (Att 19,2f.). Atticus selbst wird als entscheidender Ratgeber für Augustus und seinen Gegner Antonius herausgestellt. Beide schätzen dessen sapientia (Att 20,1–5). 47 Vgl. die Vorrede des erhaltenen Feldherrnbandes (Praef 3–8).

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der Welt nicht zu verstecken braucht, sondern Äquivalentes, wenn nicht sogar Größeres an die Seite stellen kann.48 Mit seiner bewusst gestalteten, etwas archäologisch anmutenden Vitenschau hofft Plutarch bei seinen griechischen Lesern neues Selbstbewusstsein zu erreichen – und bei den Römern eine gewisse Selbstbescheidung.

3.4 … und davor: Kaiserviten Das alles war nach 96 n.Chr., nach dem Tod Kaiser Domitians (96 n.Chr.). Davor gibt es ein Plutarch-Kapitel, das er vermutlich selbst am liebsten ausgelöscht hätte – und das merkwürdigerweise auch von der Forschung wenig beleuchtet wird. Sehr bezeichnend untertitelt G. W. Bowersock seinen dazu erhellenden Aufsatz „Vita Caesarum“ mit „Remembering and Forgetting the Past“.49 Ich referiere kurz die Daten: Plutarch hat auch Kaiserviten geschrieben – und zwar in mehrfachem Sinn „am laufenden Band“. Zunächst vom Material her: Insgesamt handelt es sich um acht Viten über Augustus und seine Nachfolger bis einschließlich Vitellius, also genau bis zum Vierkaiserjahr, in dem mit Vespasian und seinen Söhnen Titus und Domitian dann die flavische Dynastie einsetzt. Erhalten geblieben sind die Viten zu Galba und Otho,50 zu Tiberius und Nero lediglich Fragmente. Die Gesamtreihe wird bezeugt durch den Lampriaskatalog, ein antikes Werkverzeichnis des Plutarch aus dem 3./4. Jh. „Am laufenden Band“ auch von der Gestaltung her: Wie an den Resten deutlich zu sehen ist, sind die Kaiserviten formal als fortlaufende Kette konzipiert. Die Galbavita greift den Erzählfaden der Nerovita zu Beginn auf und vernetzt sich bereits mit den Viten zu Otho und Vitellius, indem sie deren frühe Karrieren erzählt. Damit entsteht – lange vor Sueton – über fortlaufende Kaiserviten eine historia continua. Von der Grundidee her sind die Ketten der Philosophenviten vergleichbar, wie sie in der hellenistischen Zeit aufkommen, in denen die Lehrautorität des aktuell amtierenden Schuloberhaupts über die lückenlose Anbindung an die Gründerfigur aufgewiesen werden soll. Diese Form taucht in den Kaiserviten des Plutarch plötzlich (wieder) neu auf – und stellt nun eine literarische HerrscherTraditionskette dar, präzise bis zum Einsatz der flavischen Dynastie, die sich programmatisch auf Augustus als Modell bezieht. 48 49

215.

Vgl. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 162. Erschienen in: W.W. Ehlers (Hrsg.), La biographie antique (EnAC 44), Genf 1997, 193–

50 Dazu vgl. jetzt: M.-C. Holzbach, Plutarch: Galba-Otho und die Apostelgeschichte – ein Gattungsvergleich (Religion und Biographie/Religion and Biography 14), Münster 2006, 64–217.

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Viele Indizien deuten darauf hin, dass Plutarchs Kaiserviten „am laufenden Band“ zur Zeit des Domitian entstanden sind, sehr wahrscheinlich noch vor 93 n.Chr., also vor dem endgültigen Umbruch seiner Herrschaft in die Tyrannei.51 Schon unter Vespasian hat Plutarch gute Beziehungen nach Rom geknüpft. Der damalige Konsul L. Mestrius Florus, ein Günstling Domitians, hat ihm das römische Bürgerrecht verschafft, weshalb sich Plutarch stolz L. Mestrius Plutarchus nennt. Ein guter Termin für die Präsentation der Kaiserviten könnte die von Domitian 88 n.Chr. inszenierte Säkularfeier gewesen sein, die Plutarch dann literarisch mit einer präzise ein Jahrhundert lang fortlaufenden Kaisergeschichte (von 31 v.Chr./ Schlacht bei Aktium bis 69 n.Chr./Vespasians Thronbesteigung) verschönert52 – und damit zugleich der neuen Dynastie ein legitimierendes Fundament geliefert hätte. Dass Kaiserviten durchaus unterschiedlich als literarische Fundierung aktueller Herrschaftsstrukturen produziert wurden, zeigt sich im Vergleich mit den Kaiserviten Suetons (70–130 n.Chr.), dessen Reihe nicht mit Augustus, sondern schon mit Cäsar beginnt. Das hat seinen guten Grund. Trajan, unter dessen Herrschaft Sueton seine Kaiserviten zu verfassen beginnt, bezieht sich als Modellfigur auf Cäsar, wie Münzen ab 107 n.Chr. bezeugen.53 Prompt beginnt Sueton seine Vitenreihe mit Cäsar und setzt sie bis ans Ende der flavischen Dynastie (Domitian) fort, sozusagen als Brücke zu den Adoptivkaisern Nerva – Trajan – Hadrian.

3.5 Gefährliche Viten in der Flavierzeit Präzise der Zeitabschnitt der Herrschaft der flavischen Kaiser (69–96 n.Chr.), unter denen Plutarch zu prosperieren hofft und literarisch ein wenig nachhilft, bevor er sich enttäuscht wieder in das griechische Landstädtchen Chaironeia bei Delphi in sein Privatgelehrtentum zurückzieht, genau dieser Zeitabschnitt, in dem auch unsere Evangelien entstanden sind, konnte ausgesprochen gefährlich sein für Viten; dann nämlich, wenn sie nicht „politisch korrekt“ ausfielen; Viten, in denen das Lebensbild von Menschen gezeichnet wurde, die den Machtanspruch der flavischen Kaiser in Frage stellten oder ihnen gar die Stirn boten.

51 So J. Malitz, Autobiographie und Biographie römischer Kaiser im 1. Jhdt. n.Chr., in: G. Weber/M. Zimmermann (Hrsg.), Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n.Chr. (Hist. Einzelschriften 164), Stuttgart 2003, 227–242, 241; G.W. Bowersock, Vita (s. Anm. 49) 198f. 52 So die Vermutung von W. W. Ehlers in der Diskussion zum Beitrag von G.W. Bowersock, Vita (s. Anm. 49) 214. 53 Vgl. G.W. Bowersock, Vita (s. Anm. 49) 197f.

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Das wissen wir von Tacitus. Er schreibt darüber in der Einleitung seiner Agricolavita (2,1), die 98 n.Chr. erschienen ist. Es geht um die stoisch geprägten Senatoren P. Clodius Thrasea Paetus und C. Helvidius Priscus. Beide sind Zentralfiguren der Opposition gegen den Prinzipat.54 Der eine tritt in Senatssitzungen Nero freimütig entgegen, der andere Vespasian. Beide werden des Hochverrats angeklagt. Der eine geht 66 n.Chr. in den Freitod, der andere wird 73 n.Chr. hingerichtet. Unter der Herrschaft Domitians widmen ihnen Arulenus Rusticus und Herennius Senecio je eine Vita. Das wird ihnen, so Tacitus, als todeswürdiges Verbrechen angelastet. Beide werden wegen Majestätsbeleidigung hingerichtet.55 Ihre Viten über die Kaiseropponenten, sozusagen Opposition in literarischer Form, werden öffentlich auf dem Forum verbrannt. Fannia, die Tochter des Thrasea und Gattin des Helvidius, gibt vor Gericht zu, Senecio um die Abfassung einer Vita über Helvidius gebeten56 und ihm entsprechendes Material zur Verfügung gestellt zu haben. Dafür wird sie selbst verbannt, kann jedoch bei der Konfiszierung ihres Eigentums die gefährlichen Bücher (de vita Helvidi libros) retten und „den Anlass ihrer Verbannung mit in die Verbannung“ nehmen (Plin., Ep VII 19,5f.).57 In der Flavierzeit ist es nicht nur gefährlich, politisch nicht korrekte Viten zu schreiben, sondern sogar ein Staatsverbrechen, sie in Auftrag zu geben oder auch nur zu besitzen.

3.6 Tacitus’ Agricolavita: eine historiographisch durchsetzte Vita So mutig war Tacitus (ca. 56–ca. 118 n.Chr.) nicht. Unter Domitian hat er politisch Karriere gemacht und es 88 n.Chr. immerhin bis zum Prätor gebracht. Mit dem Schreiben einer Vita, der allerersten von ihm publizierten Schrift, hat er – ähnlich wie Plutarch mit seinen Parallelviten – erst nach dem Tod Domitians begonnen.58 Als Persönlichkeit wählt er seinen eigenen Schwiegervater Agricola, der kurz zuvor verstorben war (93 n.Chr.). Wie 54

Zur stoisch geprägten Senatsopposition mit Angabe aller entsprechenden Stellen vgl. J. Malitz, Helvidius Priscus und Vespasian. Zur Geschichte der „stoischen“ Senatsopposition, in: Hermes 113 (1985) 231–246. 55 Rusticus 93 n.Chr.; Senecio nach 93 n.Chr. Vgl. auch Suet., Dom 10,3; Dio Cass., LXVII 13,2. 56 Thrasea seinerseits soll eine Vita über Cato d. J. (95–46 v.Chr.), den erbittertsten Gegner Cäsars, verfasst haben; vgl. J. Geiger, Munatius Rufus and Thrasea Paetus on Cato the Younger, in: At. 57 (1979) 48–72. 57 Auf diese Stelle bin ich durch den freundlichen Hinweis meines Kollegen K. Backhaus gestoßen. 58 In Agr 3,1 wird bereits Trajan genannt. Erscheinungstermin dürfte deshalb 98 n.Chr. sein; vgl. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 141f.

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Tacitus hat auch Agricola unter Domitian eine erfolgreiche Karriere durchlaufen. Unter anderem war er Statthalter in der Provinz Britannia, was nach dem Tod Domitians mancherlei Anlass zur Kritik gab.59 In seiner Vita rechtfertigt Tacitus seinen Schwiegervater – und sich selbst – gerade denen gegenüber, die sich jetzt damit brüsteten, offene Opposition betrieben zu haben (vgl. 3.5). Gemäß seinen eigenen Worten will Tacitus aufweisen, „[…] dass auch unter schlechten Herrschern (mali principes) große Männer (magni viri) leben können und dass Gehorsam und Bescheidung, wenn Fleiß und Energie hinzukommen,60 zu gleichem Ruhm aufsteigen, in dem viele auf gefahrvoller Bahn, doch ohne dem Staat zu nützen, in prahlerischem Tod (ambitiosa mors) erstrahlten“ (Agr 42,2).

Die Schrift ist vom Label, also von ihrem Anfang (clarorum virorum facta moresque)61 und der Durchführung her, eindeutig eine Vita: Abstammung und Erziehung (4), politische Laufbahn (ab 5,1) und Tod (ab 43,1) strukturieren den Text. Aber diese Vita ist von genauso eindeutigen historiographischen Merkmalen durchsetzt: Bevor Tacitus auf die Statthalterschaft des Agricola in der Provinz Britannia zu sprechen kommt, fügt er einen geographischethnographischen Exkurs über Britannien ein (10–17), ein Topos, der seit Herodot der Historiographie eigen ist. Landschaften, in denen sich historische Ereignisse abspielen, werden zuvor präzise beschrieben. Der Schilderung der Entscheidungsschlacht am Mons Graupius (35–39) gehen die im vollen Wortlaut wiedergegebenen Reden der beiden sich gegenüberstehenden Feldherrn Calgacus (30–32) und Agricola (33f.) voraus. Dabei macht die Rede des Britanniers, über den unmittelbaren Anlass hinausgehend, die Anmaßung und Selbstgerechtigkeit der römischen Weltpolitik zum Thema.62 Gemäß der Beurteilung von altphilologischer Seite aus, kommt in diesen Elementen nicht einfach der spätere Historiograph Tacitus bereits zum Vorschein. Ziel dieser Durchmischung der Gattungen scheint vielmehr zu sein, ein bestimmtes Verhalten (vita) angesichts ganz bestimmter Zeitverhältnisse in den Blick zu nehmen und zu würdigen – sowie gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit den Zeitverhältnissen, eben der Herrschaft Domitians, sowie einer Standortbestimmung der politisch staatstragenden Schichten zu wagen (historia).63 59

Vgl. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 2) 143. Den traditionellen Tugenden industria und vigor werden die neuen, auf die Zeitumstände reagierenden „Tugenden“ obsequium und modestia vorangestellt. 61 Der handschriftlich überlieferte, vielleicht von Tacitus selbst stammende Titel lautet: De vita (et moribus) Iulii Agricolae; vgl. F. Römer, Biographisches in der Geschichtsschreibung der frühen römischen Kaiserzeit, in: E.-M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 137–155, 147. 62 Ausschnitte daraus wurden eingangs zitiert. 63 Vgl. F. Römer, Geschichtsschreibung (s. Anm. 61) 148. 60

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3.7 Tacitus’ Historien und Annalen: biographisch durchsetzte Historiographie Genau umgekehrt gestaltet sich das Verhältnis der beiden Gattungen in den späteren Schriften des Tacitus, in seinen Annalen und Historien.64 Mit ihrer annalistischen Form, also der Gliederung nach Jahresberichten, tragen sie den deutlichen Stempel der senatorischen Geschichtsschreibung. Aber von ihrer inneren Struktur her bestimmt die Orientierung an den jeweiligen Kaisern Aufbau65 und Durchführung. Damit kommt ein generell biographischer Zug in die Darstellung. Das scheint sachbedingt zu sein. Als Historiker will Tacitus die Staatsform des Prinzipats durchleuchten – und das bedeutet gleichzeitig: Er muss sich mit den Personen beschäftigen, denen alle Macht in die Hände gelegt ist, mit ihren Motivationen, mit den Ursachen ihrer Verhaltensweisen, kurz: mit ihrem Charakter und dessen Entwicklung. Exemplarisch kommt das in den „Nachrufen“ auf die Kaiser zum Ausdruck, die wie Kurzviten gestaltet sind, aber im Grunde die zuvor breit und ausführlich dargestellten historischen Ereignisse unter dem Gesichtspunkt der Charakterentwicklung des jeweiligen Kaisers zusammenfassen.66 So etwa am Ende der Tiberiushexade. Tacitus schreibt: „Sein Vater war Tiberius Claudius Nero.67 Er stammte väterlicher- und mütterlicherseits aus der Gens Claudia […]. Nach seiner Rückkehr aus Rhodos lebte er 12 Jahre im kinderlos gewordenen Haus des Prinzeps und war dann fast 23 Jahre Alleinherrscher des römischen Reiches. Auch sein Charakter war in den einzelnen Zeiträumen ganz verschieden. Solange er als Privatmann oder Feldherr unter Augustus lebte, war sein Wandel und Ruf vortrefflich. Als Kaiser suchte er, solange noch Germanicus und Drusus am Leben waren, seine Laster zu verbergen und Tugendhaftigkeit zu heucheln (Buch 1–3). Ebenso waren zu Lebzeiten seiner Mutter noch gute und schlechte Eigenschaften in ihm geteilt (Buch 4). Wenn auch seine Grausamkeit fluchwürdig war, so wusste er doch seine Lüste zu verstecken, während er Sejan liebte oder fürchtete (Buch 5). Zuletzt ließ er sich aber in Verruchtheit und Lasterhaftigkeit gehen, seitdem er nach Beseitigung von Scham und Furcht nur noch seiner wahren Natur folgte (Buch 6)“ (Ann VI 51).

64 Die Historien widmen sich der Zeitgeschichte (Vierkaiserjahr sowie Vespasian und seine Söhne Titus und Domitian: 69–96 n.Chr.); erschienen 105/107 n.Chr.; die Annalen behandeln den Zeitraum davor ab Tiberius (14–68 n.Chr.), weshalb der ursprüngliche Titel laut handschriftlicher Überlieferung Ab excessu divi Augusti lautet; erschienen 116/117 n.Chr. 65 Einschlägig ist die Hexadentheorie von R. Syme, Tacitus, Bd. I, Oxford 1958, 253–270: Von ihrer inneren Struktur her seien beide Werke in Einheiten zu je sechs Büchern gegliedert, die sich an den Kaisergestalten orientieren. 66 Vgl. F. Römer, Geschichtsschreibung (s. Anm. 61) 150. 67 Pater ei Nero; vgl. die Kurzvita zu Vitellius: patrem illi Lucium Vitellium (Hist III 86,1).

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Der biographische Ansatz dient in diesem Fall der Geschichtsschreibung im Sinn von Ursachenforschung.68 Der Charakter des Kaisers und dessen Entwicklung ist ausschlaggebend für das Auf und Ab der politischen Ereignisgeschichte. Zugleich wird damit der eigentliche Schwachpunkt des Prinzipats unter die Lupe genommen.

3.8 Versuch eines Resümees Im Rückblick auf dieses zeitgeschichtliche Panorama versuche ich ein Resümee zum Verhältnis von Vitenliteratur und Historiographie und differenziere drei Ebenen: formale Kennzeichen, sachliche Kennzeichen sowie inhaltliche Tendenz. Formale Kennzeichen. Auffällig für den die Neutestamentler interessierenden Zeitraum vom 1. Jh. v.Chr. bis zum frühen 2. Jh. n.Chr. sind die Mischgattungen. Auf Seite der Viten haben wir einerseits das Modell „Vita mit historiographischen Elementen“ (Tacitus’ Agricolavita), andererseits das Modell „miteinander vernetzte, chronologisch fortlaufende Vitenreihe“ im Sinne einer historia continua (Plutarchs Kaiserviten). Ausgesprochen historiographische Werke können eine interne Vitenstruktur zeigen, stark ausgeprägt bei Tacitus (Historien/Annalen), schwächer bei Velleius Paterculus. Sachliche Kennzeichen. Vom Label, mit dem ein Autor für sein Werk die Qualifizierung historia oder vita beansprucht, lässt sich seine Vorgehensweise unterscheiden. Als Differenzkriterium gilt: Sollen geschichtliche Vorgänge durchleuchtet oder eine Leitfigur vor Augen gestellt werden? Konkretisiert: Dienen Vitenelemente in einem historischen Werk dazu, bestimmte politische Entscheidungen und geschichtliche Abläufe aus dem Charakter der handelnden Personen zu erklären (Tacitus’ Historien/Annalen) oder dienen Vitenelemente in einem historischen Werk dazu, die politisch agierenden Personen als Leitbilder zu präsentieren (Velleius Paterculus)? Umgekehrt: Dienen historiographische Elemente einem Vitenschreiber dazu, sein Leitbild passgenau mit einer bestimmten historischen Situation zu vernetzen und dessen Verhaltensweisen von daher zu erklären und zu rechtfertigen (Tacitus’ Agricolavita) oder werden Viten dafür benutzt, um historische Vorgänge zu insinuieren und aufgrund von Sukzessionslisten Geltungsansprüche zu legitimieren (Plutarchs Kaiserviten)? Inhaltliche Tendenz – oder: die politische Positionierung des Autors. Gerade deshalb, weil im Entstehungszeitraum des NT im wahrsten Sinne des Wortes „alles beherrschende“ Einzelfiguren auf der aktuellen politischen 68 Methodisch wird das bereits von Cicero (106–43 v.Chr.) ausführlich reflektiert (Orat II 62f.); vgl. A. Dihle, Entstehung (s. Anm. 10) 9–16.

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Bühne agieren, ist es unabhängig von der Wahl der Gattung im Label und unabhängig von der historiographisch oder vitentechnisch orientierten Durchführung entscheidend, wie sich der jeweilige Autor im Blick auf die aktuellen politischen Akteure positioniert: politisch korrekt oder kritisch distanziert; so wie Tacitus mit seiner kritischen Beurteilung des Tiberius in den Historien oder so wie Velleius Paterculus, der Tiberius zum Leitbild stilisiert. Was die Vitenschreiber angeht, fällt eine wesentliche Vorentscheidung bereits mit der Auswahl der Personen, die sie literarisch als Leitbilder präsentieren: Werden Kaisern Viten gewidmet (Nikolaus von Damaskus; Plutarch) oder ihren Opponenten (Stoikerviten)? Wird nach alternativen Leitbildern gesucht (Nepos’ Atticus und nichtrömische Feldherren; analog dazu: Plutarchs Parallelviten) oder werden oppositionelle Leitbilder wiederum hinterfragt (Tacitus in seiner Agricolavita). Soviel sollte aus diesem Überblick klar werden: Wer im 1. Jh. n.Chr. Viten oder historiographische Werke schreibt, betreibt ein eminent gesellschaftspolitisch relevantes Geschäft. Das ist niemals l’art pour l’art. Die Abfassung einer Vita oder eines historiographischen Werkes ist immer vernetzt mit gesellschaftspolitischen Prozessen: sei es, dass Bestehendes bestätigt oder eine Alternative propagiert wird, dass die aktuelle politische Linie unterstützt oder Opposition betrieben werden soll. Gesellschaftspolitik wird mit Hilfe von Viten bzw. historiographischen Werken auf der literarischen Ebene weitergeführt. Und: Eine Vita oder ein historiographisches Werk zu schreiben bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf den Autor. Es kann ihm – je nach Positionierung – gesellschaftliche Vorteile bringen (wie Plutarch) oder – im schlimmsten Fall – ihn den Kopf kosten (wie die Verfasser der Stoikerviten). Mindestens erhofft er sich durch die Vita eine Rechtfertigung und Propagierung der eigenen Option (wie Tacitus mit seiner Agricolavita oder Nepos mit seiner Atticusvita).

4. Anwendung: Zwei Beispiele Ich greife exemplarisch das MkEv und das lk Doppelwerk heraus und frage: Welche Vernetzungen mit typischen Architekturmomenten der vita bzw. historia lassen sich erkennen und welche Optionen werden dadurch freigesetzt?

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4.1 Das MkEv als gefährliche Kontrastvita Von seinem Aufriss her wird das MkEv mit der Vitenliteratur vernetzt werden: Name und (göttliche) Herkunft des Portraitierten werden in der ersten Zeile genannt (Mk 1,1). Hinsichtlich der Ausbildung des Helden bleibt es zwar bei Andeutungen.69 Dafür werden Worte und Taten sowie der Tod und die Umstände, die dazu führen, ausführlich geschildert. Im Vitenpanorama, das wir zu zeichnen versucht haben, stellt das MkEv eine „gefährliche Vita“ dar. Es präsentiert einen Mann, der unter der römischen Herrschaft als Opponent hingerichtet worden ist. Die offizielle Anklage stellt ihn als „Gegenkönig“ vor: UWGKQBDCUKNGWLVYP8,QWFCKYP (Mk 15,2). Die erzählte Geschichte jedoch stellt klar: das Leitbild Jesus verzichtet genau auf das, was die Herrschaftskonzeption römischer Kaiser ausmacht. Jesus entwickelt ein ausgesprochenes Gegenprogramm. Und dieses Programm wird passgenau zur römischen Terminologie auf den Punkt gebracht, wenn Jesus seine Schüler lehrt: „Ihr wisst: Diejenigen, die über die Völker Macht zu haben scheinen, herrschen auf sie herab (MCVC-MWTKGWQWUKP), und ihre Großen missbrauchen ihre Vollmacht (MCV-GZQWUKC\QWUKP) gegen sie. Nicht so ist es bei euch: Sondern wer unter euch groß werden will, soll euer Diakonos sein, und wer unter euch Erster sein will, soll aller Sklave sein“ (Mk 10,42–44).

Die Leser der mk Vita erleben mit, wie das Leitbild Jesus diese Lehre propagiert, selbst praktiziert und ständig versucht, seine Anhänger darauf einzuspuren, was wiederum vor allem am Umgang Jesu mit der ihm gegebenen „Vollmacht“ (GXZQWUKC) in vielen Einzelgeschichten kontrolliert werden kann.70 Und der Gipfel der Provokation: Ausgerechnet ein Vertreter des römischen Reiches bezeichnet den Exponenten des Gegenkonzepts zur Kaiserherrschaft nach dessen Hinrichtung als den „wahren Kaiser“, in dem er genau den Titel für Jesus reklamiert, den die lebenden Kaiser auf ihre Münzen prägen ließen: „Gottessohn“ (divi filius/SGQWWKBQL). Der Hauptmann

69 Evtl. kann die Taufe (Mk 1,9–11) als „Ausrüstung“ Jesu und die anschließende Versuchungsgeschichte in der Wüste (Mk 1,12f.) als „Testphase“ in dieser Sparte verortet werden. Allerdings zeigen Stichproben in den Viten von Cornelius Nepos, Plutarch und Diogenes Laertius, dass gerade das Element „Ausbildung“ durchaus nicht zum absolut obligatorischen Programm einer Vita gehört; vgl. Nep., Dat 1; Plut., Tim 3; Nic 1; Diog L. I 74. 70 Parallel zur imperialen Struktur im römischen Reich gibt auch Jesus seine (allumfassende) GXZQWUKC weiter (Mk 3,15; 6,7), allerdings nicht zur Herrschaftsausübung (vgl. neben Mk 10,42–44 bes. 10,13–16), sondern zur Diakonie: Die Träger der GXZQWUKCkönnen diese nur dann wirkmächtig ausüben, wenn sie selbst den von Jesus geforderten Statusverzicht einlösen (vgl. Mk 9,38–40); insgesamt dazu: M. Ebner, „Kinderevangelium“ oder markinische Sozialkritik? Mk 10,13–16 im Kontext, in: JBTh 17 (2002) 315–336.

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am Kreuz sagt bekanntlich: „Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gottessohn“ (CXNJSYLQWVQLQBCPSTYRQLWKBQLSGQWJP: Mk 15,39).71

4.2 Das lk Doppelwerk als biographisch strukturierte Historiographie Etwas komplizierter liegt der Fall beim lk Doppelwerk. M. E. liegt Geschichtsschreibung mit stark biographischer Struktur vor. Ich unterscheide drei Ebenen: Label – Inhalt – Rezeption. Erste Ebene: Vom Label dürfte das lk Doppelwerk mit der historiographischen Literatur vernetzt werden. Deutliche Signale dafür setzen das Proömium des ersten Buches sowie die Reden der Apg. In Lk 1,1–4 wird der folgende Text als eine FKJIJUKL („Erzählung“) angekündigt, die sich gegenüber den Versuchen von Vorgängerwerken durch akribische Recherche (CXMTKDYL) auszeichnet, so dass die „Ereignisse“ (RTCIOCVC) in der „rechten Reihenfolge“ (MCSGZJL) dargeboten werden können. Lukas bedient sich damit spezifischer Terminologie72 und Topoi,73 wie sie für Geschichtswerke etabliert sind. Das gleiche gilt für die Reden der Apg: Wie in historiographischen Werken üblich, treiben sie teils den Gang der Ereignisse voran bzw. reflektieren – über die geschilderten Ereignisse hinausgehend – den Verlauf der Handlung.74 Zweite Ebene: Anders stellt sich der Sachverhalt dar, wenn man den Inhalt analysiert. Insbesondere das erste Buch des Doppelwerks, also das LkEv, trägt stark die Züge einer Vita. Einerseits schlägt sich darin die Quellenlage nieder. Das MkEv ist als Vita konzipiert. Andererseits ist sich Lukas dieser Gattungsausrichtung offensichtlich durchaus bewusst. Im Proömium der Apg qualifiziert er mit der Formulierung „was Jesus getan und gelehrt hat“ (Apg 1,1) als Inhaltsangabe für den ersten Band rückschauend das Evangelium selbst als Vita. Cum grano salis entspricht das dem Titel der Philosophenviten des Diogenes Laertius: DKQKMCK IPYOCK

71

Vgl. insgesamt dazu: M. Ebner, Kreuzestheologie im Markusevangelium, in: A. Dettwiler/J. Zumstein (Hrsg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 151–168; ders., Evangelium contra Evangelium. Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, in: BN 116 (2003) 28–42. 72 FKJIJUKL ist terminus technicus für Geschichtswerke; vgl. Polyb. III 4,1; Dion. Hal., Ant Rom I 7,4; Jos., Ant I 67; Bell VII 42; vgl. auch die Definition von Theon, Progymnasmata 4 (78,15f. Spengel). Nur ganz selten kann der Terminus auch für Viten benutzt werden: Plut., Lyc 1,3. 73 Zu CXMTKDYL vgl. insbesondere die Ausführungen von Thukydides in seinem Methodenkapitel (I 22,2). 74 Zur (einseitigen) Verortung des lk Doppelwerks als Geschichtswerk vgl. E. Plümacher, Stichwort: Lukas, Historiker, in: Zeitschrift für Neues Testament 9/18 (2006) 2–8.

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(„Leben und Lehren“).75 Und: Lukas verstärkt den Vitencharakter sogar. Er lässt seine Jesusvita gattungskonform mit einer Kindheitsgeschichte beginnen. Außerdem baut er sie zu einer Doppelvita aus, indem er sie mit biographischen Elementen zur Täufergestalt durchsetzt.76 Cornelius Nepos’ und Plutarchs Doppelbiographien im Hinterkopf ist das keineswegs nur ein interessantes literarisches Spiel. Es wäre zu fragen, ob nicht auch Lukas zwei Gruppen im Blick hat. Konkret: Ob er nicht Täuferschüler, von denen er laut Apg 19,1–7 eine Gruppe in Ephesus platziert, und Jesusschüler, zu deren Gruppe er wohl selbst gehört, zu gegenseitigem Respekt und zur Anerkennung ihrer jeweiligen Traditionen motivieren möchte. Aber auch damit an Vitenanteilen noch nicht genug. Das zweite Buch des Doppelwerks erzählt Geschichte in der Konzentration auf einzelne Gestalten. Ab Apg 15,36 beherrschen die Worte und Taten des Paulus das Bild. Zumindest stenographisch werden die typischen Vitenmarker, nämlich Geburt und Ausbildung in Apg 22,3 nachgetragen sowie der bevorstehende Tod in der Miletrede (Apg 20,25.38) zumindest angedeutet.77 Nehmen wir das Figurenpaar Petrus und Johannes (Apg 3–5) sowie die Einzelgestalt des Stephanus (Apg 6f.) hinzu und haben die bekannte erzählerische Vernetzung der beiden Bücher über die Himmelfahrtserzählung im Blick (vgl. Lk 24,50–53; Apg 1,9–11), dann entsteht ein Gebilde, das in gewisse Analogie zu den Kaiserviten des Plutarch gesetzt werden kann (vgl. 3.4). Allerdings sind die Zielsetzungen unterschiedlich. Die kaiserliche Vitenreihe aus den späten 80er Jahren fragt nach dem Ursprung und der Legitimation der Herrschaft des gegenwärtigen Kaiserhauses. Der Leitbilder-historia des Lukas geht es nicht um Herrschaft, sondern um den Ursprung und die Legitimation der Lehre, die von einer bestimmten religiösen Gruppe im römischen Reich in der Gegenwart vertreten wird. Von der Form her wird damit die alte Tradition der Philosophenvitenreihe, also der Philosophendiadochen, aktiviert, die nach der Ursprungsstimme der einzelnen Schulen 75 Vgl. D. Dormeyer, Augenzeugenschaft, Geschichtsschreibung, Biographie, Autobiographie und Evangelien in der Antike, in: J. Schröter/A. Eddelbüttel (Hrsg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (TBT 127), Berlin 2004, 237–261, 245. Im Unterschied zur rabbinischen Tradition, in der die Einbindung des jeweiligen Rabbi in die Tradition betont wird, ist in der Tradition des Hellenismus die Übereinstimmung von Lehre und Leben entscheidend; vgl. dazu T. Schirren, Philosophos Bios. Die antike Philosophenbiographie als symbolische Form. Studien zur Vita Apollonii des Philostrat (BKAW N. F. II/115), Heidelberg 2005, 69–211. 76 Vgl. vor allem Lk 1,5–25.57–80; 3,1–20; 5,33; 7,18–23; 11,1–4; 16,16–18; 20,4–7; Apg 19,1–7; zur Auswertung im Sinn einer Doppelvita vgl. C.G. Müller, Mehr als ein Prophet. Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk (Herders biblische Studien 31), Freiburg i. Br. 2001. 77 Den Eintritt ins öffentliche Leben erzählt Apg 9. Zum Vorgehen wäre evtl. auf Herodot zu verweisen, der die Kyrusvita ebenfalls auf unterschiedliche Etappen seines Werkes verteilt. (vgl. 3.1).

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in ihren jeweiligen Vertretern sucht (vgl. 2.2.3). Während aber im philosophischen Sukzessionsmodell die Lehrautorität jeweils vom Lehrer auf bestimmte Schüler übertragen wird, ist es für Lukas typisch, dass es ein menschlichen Zugriffen entzogenes Kontinuitätsprinzip dahinter gibt: den göttlichen Geist. Er geht in Jesus ein (bei der Taufe), kommt auf seine Schüler herab (an Pfingsten) und prägt Stephanus (Apg 6,5) genauso wie Paulus (Apg 9,17). Mit diesem göttlichen Geist, der sich als eigentlicher Garant für die Kontinuität der Lehre erweist, ist zugleich ein Diskontinuitätsprinzip installiert: Der göttliche Geist sorgt immer auch für Aktualisierung und Richtungsänderung der Botschaft (vor allem im Blick auf die Heidenmission). Die Vitenreihe im lk Doppelwerk dient also – in philosophischer Tradition – dazu, den Ursprung und die je neue Aktualisierung der Lehrtradition zu erweisen. Der historiographische Rahmen des Werkes dagegen signalisiert die Intention, Ursachen und Motive des Entwicklungsprozesses dieser Gruppe zu beleuchten, also vor allem den Grund für den Weg aus dem Herzen des Judentums hinein in die griechische Welt darzulegen, was topographisch im Doppelwerk durch den Jerusalemer Tempel als Anfangsschauplatz und die Mietswohnung des Paulus in der Hauptstadt des Imperiums als Schlussbild zum Ausdruck gebracht wird. Beides, die Vitenkette in einer historiographischen Rahmung, ergänzt sich gegenseitig: Gerade weil die von Lukas geschilderte Gruppe ihrer vom göttlichen Geist gesteuerten „living voice“ treu bleiben will, muss sie sich der Heidenwelt öffnen. Dritte Ebene: die Rezeption im Kanon. Das erste Buch des lk Doppelwerks wird eindeutig als Vita rezipiert: Es wird zu den anderen Jesusviten gestellt und mit der von Christen eingeführten speziellen Bezeichnung für Jesusviten, „Evangelium“, benannt. Was die Apg angeht, kommt es auf den Blickpunkt an. Im Kanon ist sie vor den Briefen all derer platziert, von denen sie biographisch erzählt. Das steht in gewisser Analogie zur Klappentextfunktion von Viten, die jeweils den Werken der Autoren vorangestellt werden (vgl. 2.2). Stellt man jedoch den Aufbau des ntl Kanons in Analogie zur LXX, dann nimmt die Apg den Platz ein, der im atl Teil den Geschichtswerken zukommt.78 Die ambivalenten Gattungsmerkmale des lk Doppelwerks spiegeln sich also auch in der Rezeption durch den Kanon.

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Die ebenfalls vor den Werken all derer platziert sind, deren Leben sie ausführlich erzählen: David und Salomo als Dichter der Weisheitsliteratur; vgl. Ps (David); Spr (Salomo); Weish (Salomo); Hld (Salomo).

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Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswerken

Eine Nachbemerkung Nachdem die Verbindung von Evangelienliteratur und Vitenliteratur seit den 80er Jahren in den USA und – mit gewisser Verzögerung – auch im deutschsprachigen Raum sich als Standardthema der exegetischen Diskussion etabliert hat und fast schon Konsens zu werden schien,79 schwenkt das Pendel neuerdings in Richtung Historiographie um. Die umfangreiche Arbeit von E.-M. Becker zum Markusevangelium80 sowie die neuesten Beiträge von R. Bauckham81 sind dafür paradigmatisch. Ich habe den leisen Verdacht, dass hinter der Tendenz zur historiographischen Bestimmung der Evangelien – mehr oder weniger stark ausgeprägt – der Wunsch steht, auf historisch sichereren Boden zu kommen, zumindest was die Quellen angeht, die von den Evangelisten verarbeitet werden.82 79

Zu den Vorreitern in Deutschland gehören H. Cancik (Die Gattung Evangelium. Das Evangelium des Markus im Rahmen der antiken Historiographie, in: Ders. [Hrsg.], MarkusPhilologie. Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium [WUNT 33], Tübingen 1984, 85–113) und D. Dormeyer (Evangelium als literarische Gattung und als theologischer Begriff. Tendenzen und Aufgaben der Evangelienforschung im 20. Jahrhundert, mit einer Untersuchung des Markusevangeliums in seinem Verhältnis zur antiken Biographie [zusammen mit H. Frankemölle], in: ANRW II/25.2 [1984] 1543–1704); zur Forschungsgeschichte vgl. D. Dormeyer, Das Markusevangelium, Darmstadt 2005, 112–137.166– 185. W.M. Martin, Progymnastic Topic Lists. A Compositional Template for Luke and Other Bioi?, in: NTS 54 (2008) 18–41, der zum gleichen Urteil kommt, stützt sich kriteriologisch auf die „topic lists“ der Progymnasmata. Lediglich das lk Doppelwerk wurde hartnäckig und einseitig der Historiographie zugeordnet. Auch an dieser Stelle hat Dormeyer eine Lanze für die Vita gebrochen; vgl. ders., Augenzeugenschaft (s. Anm. 75) 245f. Für die Zuordnung der Apg zur Vitenliteratur vgl. nun M.-C. Holzbach, Plutarch (s. Anm. 50) 218–301. Leider wird die für die Gattungsbestimmung eminent wichtige Sukzessionsliteratur (vgl. 2.2.3) nicht berücksichtigt. Aufgrund der Analyse der Paulusdarstellung in der Apg plädiert ebenfalls für die Zuordnung zur Vitenliteratur B. Heininger, Das Paulusbild der Apostelgeschichte und die antike Biographie, in: M. Erler/S. Schorn (Hrsg.), Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit. Akten des Internationalen Kongresses vom 26.–29. Juli 2006 in Würzburg (Beiträge zur Altertumskunde 245), München 2007, 407–429. 80 E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006. Der Vorstoß überzeugt insgesamt nicht: (1) Methodisch kann die Gattungsbestimmung eines Gesamtwerkes nicht durch den kleinteiligen Vergleich einzelner Passagen des MkEv mit ausgewählten Passagen antiker Historiographen erreicht werden. (2) Beckers Vitendefinition ist einseitig auf die individualethische Version (vgl. 2.2.1) fixiert: „[…] die Biographie (will) CXTGVJund JSQL des Protagonisten darstellen und bewerten […]“ (411; vgl. 19f.). (3) Die Quellenverarbeitung, deren Analyse bei Becker für die Zuordnung zur Historiographie im Vordergrund steht, ist sicher kein exklusives Kennzeichen speziell dieser Gattung. (4) Becker nimmt ihren Vorstoß selbst weitgehend zurück, wenn sie resümierend Mk als „prähistoriographischen Autor“ (407) bezeichnet. 81 R. Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids (MI) 2006; ders., Historiographical Characteristics of the Gospel of John, in: NTS 53 (2007) 17–36. 82 Bei Becker entsteht zumindest der Eindruck, als bestünde die historiographische Leistung des Markus lediglich darin, die für die Geschichte relevanten Quellen (Markus-Evangelium [s.

Martin Ebner

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Immerhin sind in der Vitenliteratur die Fiktivitätsanteile weit stärker zu veranschlagen als in der Historienliteratur – zumindest in der pragmatischen Geschichtsschreibung der Theorie nach. Aber auch beste Historiographie ist Deutung von Geschichte, Konstruktion von Kausalketten, bestimmt von Auswahl und Selektion.83 Auch Augenzeugen können nur deutend wahrnehmen. Unabhängig davon, welche Einordnung der Evangelien den Vorzug finden wird, scheint mir die eigentliche Herausforderung des Vergleichs der Evangelien mit entsprechenden antiken Gattungen darin zu bestehen, sich den Fiktivitätsanteilen unserer Basisschriften zu stellen und konstruktiv danach zu fragen, wie und welche theologische Optionen mit Hilfe von literarischen Mitteln (und fiktiven Elementen) plausibilisiert werden sollen.

Anm. 80] 66f.), die mit der „Ereignisgeschichte“ in Verbindung gebracht werden, theologisch neu evaluiert zu haben (402–410.414: „Darstellung und Bewertung der Ereignisgeschichte“). Im Unterschied zu Becker geht Bauckham von strukturellen Konstituenten der Historiographie aus, versucht aber viel offensichtlicher, über den historiographischen Topos der Augenzeugenschaft die Evangelien an Urzeugen zurückzubinden, wobei das Besondere des JohEv für ihn darin besteht, dass hier Augenzeuge und Autor identisch sind. Das wird an Joh 19,35 festgemacht (Jesus [s. Anm. 81] 407–411). Dabei wird nicht berücksichtigt, dass der Topos der Autopsie gerade an dieser Stelle zur besonders wirksamen Abwehr der doketischen Christologie in einer späteren Phase der Gemeindegeschichte (vgl. 1 Joh 4,2f.) als literarisches Suggestionsmittel eingesetzt sein könnte. 83 Vgl. K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007.

Christoph Heil

Evangelium als Gattung Erzähl- und Spruchevangelium

1. Einleitung 1.1 Thema und Weg Die mir vorgegebene Themenformulierung erscheint als These, die freilich begründet werden muss und der wohl viele nicht von vornherein zustimmen möchten. Die Fragestellung nach einer Differenzierung der Gattung Evangelium in Untergattungen namens Erzähl- und Spruchevangelium hat jedoch zumindest heuristisches Potential. Indem ich konkret besonders nach der Gattung von Q frage (Abschnitte 2 bis 5), hoffe ich, im Pro und Contra doch auch einiges zur Beantwortung der Frage beisteuern zu können, wie die Gattung „Evangelium“ zu definieren und zu differenzieren ist. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht unwichtig, denn bei aller notwendigen Flexibilität in der Gattungs-Definition gibt diese doch Auskunft über die Erwartungen, die die antiken Rezipienten eines Textes hegten und hegen sollten. So hängt nicht zuletzt die theologische Bedeutung von Q – auch für heutige Rezipienten – selbstverständlich von der jeweiligen Gattungsbestimmung ab.

1.2 Die Unterscheidung des Begriffs „Evangelium“ von der Gattung „Evangelium“ Ganz am Beginn unserer Überlegungen muss die wichtige Unterscheidung von kerygmatischem Begriff und literarischer Gattung „Evangelium“ stehen. Wie wir sehen werden, ist diese Unterscheidung nicht immer klar gesehen worden – zum Nachteil der Debatte. Schon Eusebius verwechselt die beiden Ebenen, wenn er schreibt: „Wenn Paulus, als schriebe er über ein eigenes Evangelium, den Ausdruck gebrauchte ‚nach meinem Evangelium‘, dann soll er nach seiner Gewohnheit auf das Evangelium nach Lukas verwiesen haben.“1

1

Eusebius, Hist Eccl III 4,7.

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Da irrt jedoch der Kirchenhistoriker: Paulus verwendet das Wort GWXCIIGNKQP nicht als Bezeichnung für eine bestimmte literarische Gattung, sondern für die Heilsbotschaft selbst, die Verkündigung von Jesus (z.B. Gal 1,11; 1 Kor 15,1–11; Röm 1,1); der Apostel bezeichnet mit GWXCIIGNKQP das mündliche, nur äußerst spärlich narrativ strukturierte „Kerygma“ von Kreuzestod und Auferstehung Jesu. Wir fragen im Folgenden nicht nach der religions- und traditionsgeschichtlichen Herkunft des Begriffs „Evangelium“ und dessen frühchristlicher Rezeption, sondern nach der literarischen Gattung „Evangelium“, ihren Differenzierungen und literaturgeschichtlichen Analogien.

2. Argumente gegen die Bezeichnung von Q als „Evangelium“ Die große Mehrheit der an der Diskussion Beteiligten lehnt die Bezeichnung „Evangelium“ für Q ab. Die Argumente sind folgende:

2.1 Die Formgeschichte: Q ist nur ein katechetischer Appendix zum Kerygma. Q ist in der Sicht der Formgeschichte eine paränetisch-katechetische Ergänzung zum Kerygma und daher kein Evangelium.2 Rudolf Bultmann etwa hat sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, Q „Evangelium“ zu nennen; der „Typus des Evangeliums“ sei erst von Markus geschaffen worden.3 Bultmann rechnet Q unter die „Aufreihungen, Summierungen“, die den „Typus des Evangeliums“ nur vorbereitet hätten.4

2

Vgl. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums. Mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hrsg.v. G. Bornkamm, Tübingen 61971, 234–237, 244–247. Ähnlich T.W. Manson, The Sayings of Jesus: As recorded in the Gospels according to St. Matthew and St. Luke arranged with Introduction and Commentary (1937), London 1949, 15–20; P. Wernle, Die synoptische Frage, Freiburg i.Br. 1899, 228–233. Auch noch für G. Strecker (Literaturgeschichte des Neuen Testaments [UTB 1682], Göttingen 1992, 107) ist Q „ein Beispiel für Spruchaufreihungen mit paränetischer Zielsetzung“. Ähnlich heißt es ebd., dass Q „eine paränetische Abzweckung“ (162) bzw. eine „paränetische Funktion“ (165, Anm. 199) hatte. 3 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), Göttingen 10 1995, 394: „D e r T y p u s d e s E v a n g e l i u m s tritt uns erst in Mk entgegen; und man wird sagen dürfen, dass er ihn geschaffen hat. Auf keinen Fall ist eine seiner Quellen als ein Evangelium zu bezeichnen. Dass es nicht neben ihm und vielleicht vor ihm Schriftsteller gegeben hat, deren für uns verlorene Werke auch als Evangelien zu bezeichnen wären, kann man natürlich nicht beweisen; aber sehr wahrscheinlich ist es nicht. Denn weder Mt noch Lk haben ein solches Werk benutzt; beide legen den Mk-Aufriß zugrunde“ (Hervorhebungen übernommen). 4 Ebd., 393.

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Evangelium als Gattung

Als Echo dieses Arguments wird auch heute häufig eine genauere Gattungsbezeichnung überhaupt für nicht möglich gehalten und Q quasi als christliche Neuschöpfung „sui generis“ verstanden.5 Auf die Problematik dieser Auskunft, die auch als Argument gegen die Existenz von Q verwendet wurde,6 komme ich unter 6.1 zurück.

2.2 Ohne Passionsbericht kann Q kein Evangelium sein. Eng mit dem vorigen Punkt gehört dieses Argument zusammen: Q habe keinen Passionsbericht und biete auch keinen Hinweis darauf, dass dem Tod Jesu eine besondere erlösende Bedeutung zukomme.7

2.3 Ohne narrative Struktur kann Q kein Evangelium sein. Q habe keine durchgängige narrative Struktur wie das Markusevangelium und sei daher kein Evangelium.8 5

So etwa bei I. Broer, Einleitung in das Neue Testament (NEB.NT Ergänzungsband 2). Studienausgabe, Würzburg 2006, 62; F. Neirynck, Q, in: The Interpreter’s Dictionary of the Bible. Supplementary Volume, Nashville (TN) 1962, 715f., 716; H. Schürmann, Zur Kompositionsgeschichte der Redenquelle. Beobachtungen an der lukanischen Q-Vorlage, in: Der Treue Gottes trauen. Beiträge zum Werk des Lukas (FS G. Schneider), Freiburg i.Br. 1991, 325–342, 328; A. Weiser, Theologie des Neuen Testaments II. Die Theologie der Evangelien (KStTh 8), Stuttgart 1993, 25 („Ähnlich wie die Gattung ‚Evangelium‘ ist die Redenquelle ‚letzten Endes eine einmalige Größe‘“); D. Zeller, Eine weisheitliche Grundschrift in der Logienquelle?, in: The Four Gospels 1992. Volume 1 (FS F. Neirynck) (BEThL 100), Leuven 1992, 389–401, 401. 6 A.M. Farrer, On Dispensing with Q, in: D.E. Nineham (Hrsg.), Studies in the Gospels: Essays in Memory of R.H. Lightfoot, Oxford 1955, 55–88, 58. Vgl. J.S. Kloppenborg, Introduction, in: Ders. (Hrsg.), The Shape of Q. Signal Essays on the Sayings Gospel, Minneapolis (MN) 1994, 1–21, 3; C.M. Tuckett, Q and the History of Early Christianity. Studies on Q, Edinburgh 1996, 104–106. 7 So u.a. F. Neirynck, Q: From Source to Gospel, in: Ders., Evangelica III. 1992–2000. Collected Essays (BEThL 150), Leuven 2001, 419–431; ähnlich M. Frenschkowski, Q-Studien. Historische, religionsgeschichtliche und theologische Untersuchungen zur Logienquelle, Habil. masch., Mainz 2000, Kap. III.11; ders., Kyrios in Context. Q 6:46, the Emperor as „Lord“, and the Political Implications of Christology in Q, in: M. Labahn/J. Zangenberg (Hrsg.), Zwischen den Reichen. Neues Testament und Römische Herrschaft. Vorträge auf der Ersten Konferenz der European Association for Biblical Studies (TANZ 36), Tübingen 2002, 95–118, 96; M. Hengel, Der Lukasprolog und seine Augenzeugen: Die Apostel, Petrus und die Frauen, in: L.T. Stuckenbruck u.a. (Hrsg.), Memory in the Bible and Antiquity. The Fifth Durham-Tübingen Research Symposium (Durham, September 2004) (WUNT 212), Tübingen 2007, 195–242, 211f.; C.M. Tuckett, Introduction to the Gospels, in: J.D.G. Dunn/J.W. Rogerson (Hrsg.), Eerdmans Commentary on the Bible, Grand Rapids (MI) 2003, 989–999, 995f. 8 Vgl. u.a. C. Ettl, Der „Anfang der … Evangelien“. Die Kalenderinschrift von Priene und ihre Relevanz für die Geschichte des Begriffs GWXCIIGNKQP. Mit einer Anmerkung zur Frage nach der Gattung der Logienquelle, in: S.H. Brandenburger/T. Hieke (Hrsg.), Wenn drei das gleiche

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2.4 Apokryphe Texte beanspruchen zu Unrecht kanonische Gattungsbezeichnungen. Unter anderen haben Frans Neirynck,9 Martin Hengel10 und Andreas Lindemann11 argumentiert, dass apokryphe Texte, die sich „Evangelien“ nennen, sich zu Unrecht mit einem bereits etablierten Gattungsbegriff schmückten. In der Tat sind z.B. in den dreizehn Codices von Nag Hammadi sehr verschiedene Literaturgattungen vertreten, vor allem diejenigen, die auch im kanonischen Neuen Testament vorkommen.12 „Die koptischen Schriften scheinen auf diese Vorbilder anzuspielen“,13 und tatsächlich wurden alle vier Texte aus Nag Hammadi, die „Evangelien“ genannt werden, erst sekundär als „Evangelien“ tituliert: das Thomas-, Philippus- und Ägypterevangelium sowie das Evangelium der Wahrheit.14

sagen – Studien zu den ersten drei Evangelien. Mit einer Werkstattübersetzung des Q-Textes (Theologie 14), Münster 1998, 121–151, 145: „Die durchgängige narrative Grundstruktur“ gehöre „zu den essentiellen Bestandteilen der literarischen Gattung. Geht man von Mk bzw. den synoptischen Evangelien als früheste literarische Belege für die Herausbildung dieser Definition aus, so muß der Vergleich mit der Logienquelle negativ ausfallen, was v.a. auf das Fehlen einer durchgängigen und strukturbildenden Narrativität zurückzuführen ist.“ Ebenso H. Frankemölle, Evangelium – Begriff und Gattung. Ein Forschungsbericht (SBB 15), Stuttgart 21994, 148f.; P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick (UTB 2798), Tübingen 2007, 343; Tuckett, Introduction (s. Anm. 7) 995f. 9 F. Neirynck, Genre of Gospel, in: B.M. Metzger/M.D. Coogan (Hrsg.), The Oxford Companion to the Bible, New York/Oxford 1993, 258f., 259. Neirynck spricht für viele, wenn er die Gattung „Evangelium“ von den kanonischen Texten her definiert und dann den nichtkanonischen Texten die Gattungsbezeichnung „Evangelium“ abspricht. 10 M. Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ, London 2000, 48–56, bes. 54: „The strange uniformity and early attestation of the titles of the Gospels excludes the possibility that for a long time they had been circulating anonymously in the communities or even that, as in the case of some apocryphal texts from Nag Hammadi, they had received their titles as a secondary addition or that these titles had even been changed.“ 11 A. Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992–2000. Teil 2: Die Logienquelle Q, in: ThR 69 (2004) 241–272, 250: „Wenn in den Nag-Hammadi-Codices Schriften als ‚Evangelium‘ bezeichnet werden, so handelt es sich doch ganz offensichtlich um einen bereits etablierten Begriff, während die kanonischen Evangelien ja nicht deshalb so heißen, weil sie selber sich so bezeichnen.“ Eigentliche Evangelien sind für Lindemann also nur die kanonischen. Ebenso Tuckett, Introduction (s. Anm. 7) 990. 12 Die Texte aus Nag Hammadi werden zitiert nach: H.-M. Schenke u.a. (Hrsg.), Nag Hammadi Deutsch. 2 Bde. (GCS.NF 8 und 12. Koptisch-Gnostische Schriften 2 und 3), Berlin 2001/03. 13 C. Markschies, Die Gnosis (C.H. Beck Wissen; Beck’sche Reihe 2173), München 2001, 55. 14 Vgl. J.M. Robinson, The Nag Hammadi Gospels and the Fourfold Gospel, in: C. Horton (Hrsg.), The Earliest Gospels. The Origins and Transmission of the Earliest Christian Gospels – The Contribution of the Chester Beatty Gospel Codex P45 (JSNT.S 258), London 2004, 69–87. Zur außerkanonischen Evangelien-Literatur insgesamt vgl. NTApo I6, 1990.

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Evangelium als Gattung

Die Spruchsammlung15 des Thomasevangeliums verwendet das Wort „Evangelium“ nicht im Text. Erst die Subscriptio eines Schreibers oder eines Übersetzers lautet: „Das Evangelium nach Thomas“ (NHC II p. 51,27f.).16 Der Titel des Buches sowie dessen Autor wird im Incipit genannt: „Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf“ (NHC II p. 32,10– 12). Auch das Philippusevangelium (NHC II,3) wird erst in einer sekundären Subscriptio „Das Evangelium nach Philippus“ genannt (NHC II p. 86,18f.).17 Das sogenannte „Ägypterevangelium“ (NHC III,2; IV,2) heißt eigentlich im Titel, der nach antiker Praxis am Schluss des Werkes angegeben ist, „Das heilige Buch des großen, unsichtbaren Geistes“. Es ist eine mythologisch-dogmatische Abhandlung, die erst später in einer sekundären Schlusspassage als „das ägyptische Evangelium“ (NHC III p. 69,6) bezeichnet wurde.18 Erst von den modernen Herausgebern wurde die Schrift NHC I,3; XII,2 (entstanden im 2. Jh.) – eher eine valentinianische Predigt – als „Evangelium Veritatis“ bezeichnet, da sie mit den Worten „Das Evangelium der Wahrheit …“ beginnt.19 Irenäus erwähnt zwar solch ein „Evangelium der Wahrheit“ (haer. 3,11,9), es ist jedoch unklar, ob diese Schrift mit der Homilie gleichen Anfangs aus Nag Hammadi identisch ist. Die koptische Predigt will die von Jesus gebrachte, erlösende Gnosis als die frohe Botschaft darlegen.

1998/99 wurde der Pergamentkodex P22220 aus dem Berliner Ägyptischen Museum veröffentlicht. Obwohl sich der Text nicht selbst „Evangelium“ nennt, taufte ihn Schenke auf den Namen „Berliner Unbekanntes Evan15 Zum Thomasevangelium als „Sayings Collection“ vgl. J. Liebenberg, The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas (BZNW 102), Berlin 2001, 518– 526. 16 Vgl. H. Koester, Ancient Christian Gospels: Their History and Development, Philadelphia 1990, 20f. Im EvThom erscheint der Begriff GWXCIIGNKQP nicht im Haupttext. Das Incipit des EvThom spricht von QKBBNQIQKQKBBCXRQMTWHQKQW?LGXNCNJUGP8,JUQWLQBB\YP (P.Oxy. 654,1f.). 17 Vgl. P. Nagel, „Das (Buch) nach Philippus“. Zur Titelnachschrift Nag Hammadi Codex II,3: p. 86,18–19, in: ZNW 99 (2008) 99–111, bes. 107f.: Der nachgestellte Titel der Kopiervorlage habe ЯУЏеЏйСХСЯЯЭг gelautet und sei so auch in Z. 19 abgeschrieben worden. Dann habe der Schreiber in den noch freien Raum der Z. 18 ЯЗзЏГГЗХСЭЩ eingefügt. „Durch diesen […] individuellen Zusatz des Kopisten ist aus einer nicht näher bezeichneten Schrift ‚Nach Philippus‘ ein ‚Evangelium nach Philippus‘ geworden, das den Exegeten eine zusätzliche, von ‚Philippus‘ nicht vorgesehene Bürde auferlegt“ (108). 18 Vgl. Markschies, Gnosis (s. Anm. 13) 55; G. Röwekamp, Ägypterevangelium, in: S. Döpp/W. Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg i.Br. 32002, 8. 19 Vgl. P. Bruns, Evangelium veritatis, in: S. Döpp/W. Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg i.Br. 32002, 257; J. Holzhausen, Über den Titel von Nag Hammadi Codex 1,3, in: ZAC 7 (2003) 91–98; J.M. Robinson, The Incipit of the Sayings Gospel Q, in: Ders., The Sayings Gospel Q. Collected Essays (BEThL 189), eds. C. Heil/J. Verheyden, Leuven 2005, 465–492, 467.

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gelium“,20 die US-amerikanischen Herausgeber bezeichneten ihn „Gospel of the Savior“.21 Im Jahr 2006 wurde das „Judas-Evangelium“ veröffentlicht; hier wird der Evangeliums-Begriff in der titularen Subscriptio verwendet, allerdings in der außergewöhnlichen Genitiv-Verbindung „Das Evangelium des Judas“.22 Die Herausgeber vermuten, dass damit ein Evangelium über Judas und seine Rolle innerhalb der Tradition gemeint ist.23

2.5 Bewertung Die Argumente gegen die Bezeichnung von Q als „Evangelium“ setzen erstens voraus, dass nur da, wo das paulinisch-markinische Kerygma „drin“ ist, auch Evangelium „draufstehen“ darf. Hier wird unzulässig der paulinische Evangeliumsbegriff zur Voraussetzung der Gattung Evangelium gemacht. Zweitens wird das Markusevangelium als Prototyp der Gattung erklärt, wodurch nichtnarrativen und nichtkanonischen Schriften die Gattungszugehörigkeit abgesprochen wird. Dabei spielt nicht selten ein theologischer Vorbehalt gegen nichtkanonische Texte eine Rolle, wie ihn etwa Graham Stanton ausdrücklich äußerte.24

3. Argumente für die Bezeichnung von Q als „Evangelium“ In der älteren Exegese wurde Q vereinzelt schon als Evangelium verstanden,25 allerdings aufgrund der Identifizierung von Q mit dem „aramäischen Matthäus“ des Papias26 oder aufgrund von Ergänzungen wie der Passionsgeschichte. 20 H.-M. Schenke, Das sogenannte „Unbekannte Berliner Evangelium“ (UBE), in: ZAC 2 (1998) 199–213. 21 C.W. Hedrick/P.A. Mirecki, Gospel of the Savior: A New Ancient Gospel (California Classical Library), Sonoma (CA) 1999. 22 Vgl. P. Nagel, Das Evangelium des Judas, in: ZNW 98 (2007) 213–276, 220–222; U.-K. Plisch, Das Evangelium des Judas, in: ZAC 10 (2006) 5–14, 6. 23 R. Kasser u.a. (Hrsg.), The Gospel of Judas from Codex Tchacos, Washington (DC) 2006, 45, Anm. 151; R. Kasser u.a. (Hrsg.), Das Evangelium des Judas aus dem Codex Tchacos, Wiesbaden 2006, 45, Anm. 149. 24 G.N. Stanton, Jesus and Gospel, Cambridge 2004, 2–4 und passim. 25 Vgl. Frankemölle, Evangelium (s. Anm. 8) 146f.; J.S. Kloppenborg, The Formation of Q: Trajectories in Ancient Wisdom Collections (Studies in Antiquity & Christianity), Philadelphia (PA) 1987 (Nachdruck Harrisburg [PA] 2000), 9–12; Strecker, Literaturgeschichte (s. Anm. 2) 169, Anm. 218. 26 Vgl. Papias, Fragment II 16: /CVSCKQLOGPQWP`(DTCK"FKFKCNGMVY^VCNQIKCUWPGVCZCVQ JBTOJPGWUGPF8CWXVC YBLJPFWPCVQLG=MCUVQL A. Lindemann/H. Paulsen (Hrsg.), Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992, 294f.

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Evangelium als Gattung

In Reaktion auf das Responsum der Päpstlichen Bibelkommission vom 19.6.1911 über die Apostolizität, Historizität und Priorität des Matthäusevangeliums (DH 3561–3567) erklärte Joseph Sickenberger, für die Vertreter der Zweiquellentheorie „stellt das nichtssagende Sigel Q auch ‚proprie et stricte‘ ein Evangelium dar, wie auch wohl Papias unter den NQIKC, die er dem Matthäus zuwies, […] ein richtiges Evangelium verstanden hatte“.27 „Diejenigen Exegeten, welche die sog. Q-Quelle als wirkliches Evangelium angesehen und Matthäus als dessen Autor betrachtet haben, haben durch das neue Dekret keine Ablehnung erfahren.“28 Eduard Norden hatte 1913 in „Agnostos Theos“ vermutet, dass der Verfasser von Q aus „mystisch-theosophischer“ Propagandarede eine neue Literaturgattung geschaffen habe, eben die der Evangelien als christlicher Propagandaliteratur.29 Benjamin Bacon behauptete 1930, Q habe eine Passionsgeschichte enthalten und sei daher ein Evangelium.30 Adolf Jülicher bezeichnete Q als „Halbevangelium“,31 da er annahm, der Endredaktor bzw. die Endredaktoren von Q hätten das Markusevangelium gekannt, seien aber hinter diesem zurückgeblieben und hätten nur ein „halbes“ Evangelium zustande gebracht. In neuerer Zeit bezeichnen auch Siegfried Schulz und Georg Strecker Q als „Halbevangelium“, ohne jedoch eine Abhängigkeit von Markus damit zu verbinden.32 Alexander Sand sprach 1992 von Q „als

27 J. Sickenberger, Das neue Dekret der Bibelkommission über das Mt-Evangelium und die sog. Zweiquellentheorie, in: BZ 9 (1911) 391–396, 393. Vgl. J.S. Kloppenborg Verbin, Excavating Q. The History and Setting of the Sayings Gospel, Minneapolis (MN) 2000, 340. 28 Sickenberger, Dekret (s. Anm. 27) 394. 29 E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Stuttgart/Leipzig 71996, 306–308. 30 B.W. Bacon, Studies in Matthew, New York 1930 (Nachdruck London 1931). Vgl. V. Taylor, Die Formung der Evangelienüberlieferung (1933, 21935), in: F. Hahn (Hrsg.), Zur Formgeschichte des Evangeliums (WdF 81), Darmstadt 1985, 407. Dass Q Elemente einer Passionsgeschichte enthielt, setzt auch voraus: F.C. Burkitt, The Gospel History and its Transmission, Edinburgh 1906 (31911). Gegen die Existenz eines Passionsberichts in Q allerdings schon richtig A. Harnack, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament. II. Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1907, 127; V.H. Stanton, The Gospels as Historical Documents. Part II: The Synoptic Gospels, Cambridge 1909, 105. 31 A. Jülicher/E. Fascher, Einleitung in das Neue Testament, Tübingen 71931, 347. So auch W. Schmithals, Einleitung in die ersten drei Evangelien (GLB), Berlin 1985, 229. 32 S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 23–25, bes. 24; Strecker, Literaturgeschichte (s. Anm. 2) 169. Von Q als einer „Vorform der Gattung ‚Evangeliumsschrift‘“ spricht J. Roloff, Jesusforschung am Ausgang des 20. Jahrhunderts (SBAW.PH 1998/4), München 1998, 25. So auch P. Hoffmann, Mutmaßungen über Q. Zum Problem der literarischen Genese von Q, in: A. Lindemann (Hrsg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 255–288, 288.

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eine[r] Art Evangelienschrift“.33 Udo Schnelle, der in den ersten fünf Auflagen seiner „Einleitung“ Q noch als „Halbevangelium“ etikettierte,34 bezeichnet es nun in der neuesten Auflage 2007 als „ProtoEvangelium“.35 Wolfgang Schenk wagte sich schon 1998 noch weiter vor und nannte Q „das erste Buchevangelium“.36 Für die US-amerikanische Diskussion war der Vorschlag von James Robinson 1962 richtungweisend, Q unter die „Evangelien“ zu rechnen und es bezüglich der Gattung mit EvThom zu vergleichen.37 Viele Neutestamentler in den USA folgten Robinson und verstehen Q als „Gospel“.38 Welches sind die Argumente im Einzelnen?

3.1 Als eigener kerygmatischer Entwurf ist Q mehr als eine Quelle – eben ein „Evangelium“. Die entscheidende Neubewertung brachte die redaktionsgeschichtliche Exegese: Seit der 1959 veröffentlichten, bei Günther Bornkamm geschriebenen Dissertation von Heinz Eduard Tödt über den Menschensohn in der synoptischen Überlieferung39 setzte sich „die Einsicht durch, daß Q einen eigenen kerygmat. Entwurf voraussetzt, der sich charakteristisch v. dem des antiochenisch-pln. Trad.-Bereichs unterscheidet u. den Zugang z. Gesch. u. Theol. der frühen palästin. Jesusbewegung ermöglicht“.40 Kurz gesagt bekennt die Theologie von Q Jesus als den eschatologischen Propheten,

33 A. Sand, „Schule des Lebens“. Zur Theologie des Matthäusevangeliums, in: J. Hainz (Hrsg.), Theologie im Werden. Studien zu den theologischen Konzeptionen im Neuen Testament, in Zusammenarbeit mit dem Collegium Biblicum München, Paderborn 1992, 57–82, 57. 34 U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen, 52005, 233 (so schon in der ersten Aufl. 1994, 228f.). 6 35 2007, 231f. Ebenso ders., Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917), Göttingen 2007, 367. 36 W. Schenk, Die Jesus-Rezeption des Markion als theologisches Problem, in: Von Jesus zum Christus – Christologische Studien. (FS Paul Hoffmann) (BZNW 93), Berlin 1998, 507–528, 520. 37 J.M. Robinson, Basic Shifts in German Theology, in: Interp. 16 (1962) 76–97, 82: „Q was apparently a collection of only loosely connected sayings, with little narrative – the kind of Gospel, sharply distinct from the Marcan type, which gnostics preferred, if one may judge by the Gospel of Thomas from Nag Hammadi.“ 38 Vgl. J.D. Crossan, The Birth of Christianity. Discovering What Happened in the Years Immediately After the Execution of Jesus, San Francisco (CA) 1998, 31f. 110. 245f.; A.D. Jacobson, The First Gospel. An Introduction to Q (Foundations & Facets. Reference Series. New Testament), Sonoma (CA) 1992, 1–4. 30–32; B.L. Mack, The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco (CA) 1993, 1–11. 39 H.E. Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959, 21963. 40 P. Hoffmann, Logienquelle, in: LThK3 VI (1997) 1019–1021, 1019.

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Evangelium als Gattung

Weisheitslehrer und Menschensohn, der in Worten und Taten die Königsherrschaft Gottes brachte und zum Gericht wiederkehren wird. Schulz hat 1972 die kerygmatische Eigenständigkeit von Q so formuliert:41 „Kann hier noch strenggenommen vom Evangelium gesprochen werden? Diese Frage stellen heißt, sie sogleich positiv beantworten. Das Urchristentum, wie es aufgrund traditionsgeschichtlicher Forschung in Sicht kommt, war keineswegs und in allen seinen Teilen vom Passionskerygma als dem Evangelium bestimmt.“ Schulz nennt hier u.a. die vorjohanneische Gemeindetradition.42 „Q steht also mit dem Fehlen eines expliziten Passions- und Osterkerygmas und einer WBRB GT-Aussage keineswegs allein. Man sollte sich deshalb vor einer vorschnellen Bewertung oder gar Abwertung hüten, vielmehr die Pluralität der kerygmatischen Entwürfe im Urchristentum akzeptieren.“ Ähnlich schrieben Hans-Martin Schenke und Karl Martin Fischer 1979 in ihrer „Einleitung“: „Spruchsammlungen nach dem Prinzip von Q sind für einige Gruppen im Urchristentum sicher nicht nur geläufig, sondern der Sache nach das ‚Evangelium‘ gewesen.“ Q sei „ein ‚Evangelium‘ eigenen Typs“, ein „Kompendium, im Prinzip eine Art Evangelium des Glaubens an Jesus als Sprachrohr der göttlichen Weisheit“.43

3.2 Q kennt den Begriff „Evangelium“ und reflektiert dessen jüdische und griechisch-römische Konnotationen. Gegen die These, dass Q kein Kerygma enthalte, wies Robinson darauf hin, dass Q immerhin das Verb GWXCIIGNK\QOCK sowie die Begriffe MJTWUUGKP und MJTWIOC verwendet.44 In Q 11,32 wird auf das MJTWIOC Jonas verwiesen, das 41

Schulz, Q (s. Anm. 32) 486. Dass das paulinische Kerygma in einem „Evangelium“ auch fehlen kann, zeigt nicht zuletzt das Lukasevangelium. Sieht man von den aus paulinischer und markinischer Tradition übernommenen Deuteworten in Lk 22,19f. ab, besteht der Kern der christlichen Botschaft nach Lukas: Jesus wird beim Jüngsten Gericht als Richter wiederkommen, daher soll man Buße tun, sich Vergebung schenken lassen und auf das ewige Leben hoffen. Wie besonders auch die Reden in der Apostelgeschichte zeigen, gehören in lukanischer Sicht der erlösende Tod Jesu nicht zum „Wesen des Christentums“ (vgl. auch Apg 24,25). 43 H.-M. Schenke/K.M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments. II: Die Evangelien und die anderen neutestamentlichen Schriften, Berlin/Gütersloh 1979, 27, 29, 62. Ähnlich Broer, Einleitung (s. Anm. 5) 63: „Für die Träger der Logienquelle war Q die Gestalt ihrer Heilspredigt von Jesus Christus, der auch als Person und nicht nur als Übermittler einer Botschaft für die Q-Tradenten von Bedeutung war“; Hoffmann, Logienquelle (s. Anm. 40) 1020: „In Q ist das Evangelium charismat. Wanderpropheten erhalten, die in der Erwartung der Wiederkunft Jesu dessen Basileia-Botschaft weiterverkündigten (Q 10; 12,2–12).“ 44 Robinson, Incipit (s. Anm. 19) 490f.: „The trajectory beginning already within Q that moves toward the designation of it as a ‚Gospel‘ should not remain unmentioned. For this trend is 42

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durch das MJTWIOC Jesu übertroffen werde: „Siehe, mehr als Jona ist hier.“45 In Q 12,3 wird auf das Kerygma der Q-Gemeinde angespielt: „Was ihr ins Ohr geflüstert hört, verkündet (MJTWZCVG) auf den Dächern.“ In Q 7,22 schließlich nimmt Jesus in der Antwort an Johannes Jes 61,1 auf: „RVYEQK GWXCIIGNK\QPVCK – Armen wird das Evangelium verkündet.“ Damit rezipiert Q den jüdischen Evangeliums-Begriff und stellt sich gleichzeitig gegen die GWXCIIGNKC aus dem Kaiserkult.

3.3 Kreuz und Auferstehung Jesu werden in Q vorausgesetzt. Q versteht den Tod Jesu in typischer Entsprechung zum Prophetenschicksal: An drei Stellen nimmt Q das deuteronomistische Geschichtsbild (vgl. Neh 9) auf und deutet Jesus und seine Nachfolger als Gottes Boten, die von Israel abgelehnt wurden: Q 6,22f.; 11,49–51; 13,34f.46 In Q 13,35 wird ferner auf die Entrückung ElƋas (2 Kön 2) und den Rückzug der Weisheit (äthHen 42) angespielt, um den Tod Jesu zu deuten.47 In Q 14,27 wird unthe justification of the usage currently establishing itself to refer to Q less as a Sayings Source than as a Sayings Gospel. This seems to do more justice to the text itself than does the limitation of the term Gospel to narrative Gospels or to canonical Gospels, with Q then at best only a ‚half-Gospel‘, or the reference to Q only as a source for sayings incorporated into canonical Gospels, all of which familiar designations derive from other considerations than those inherent in Q in its own right. One needs to consult the Q trajectory itself: The noun GWXCIIGNKQP does not occur in Q. Yet the synonym MJTWIOC does occur at Q 11:32 to characterize the speech of Jonah, whereas according to this saying there is present something greater than Jonah […], presumably Jesus’ MJTWIOC. Q 12:3 uses the verb MJTWUUGKP to urge that what the followers of Jesus have heard from him they are to proclaim widely. That is to say, the sayings of Q are the kerygma of the Q community. The verb evangelize occurs in the clause in Q 7:22 RVYEQKGWXCIIGNK\QPVCK (derived from Isa 61:1), to refer back to the incipit of the Sermon, the Beatitude for the Poor (Q 6:20b). Thus Q 7:22, as a kind of inclusio referring back to what has been ascribed to Jesus thus far, tends to designate the Sermon as evangelizing. Since the Matthean community would seem to be the continuation of the Q community, Matthew may well indicate the logical outcome of the trend already at work in Q itself toward considering Q to be its Gospel. Vgl. auch J.M. Robinson, The Sayings Gospel Q, in: Ders., The Sayings Gospel Q (s. Anm. 19) 319–348, 328–331; ders., Die Logienquelle: Weisheit oder Prophetie? Anfragen an Migaku Sato, Q und Prophetie, ebd., 349–374, 374 („Da jedoch nicht nur narrative Evangelien die Gattungsbezeichnung ‚Evangelium‘ verdienen, wie nicht zuletzt das Thomas-Evangelium zeigt, bietet sich hier eine Möglichkeit an. Die Spruchquelle war der normative Text der Q-Gemeinde; die Jesus-Sprüche waren ihr Evangelium [Q 6,47–49; 7,22]. So sollte man Q gemäß dem Selbstverständnis der Q-Gemeinde und ihrem Text als Spruchevangelium bezeichnen“). Zur Kritik vgl. Ettl, „Anfang“ (s. Anm. 8) 143–145. 45 Q wird zitiert nach: Die Spruchquelle Q. Studienausgabe. Griechisch und Deutsch, hrsg. u. eingeleitet v. P. Hoffmann/C. Heil, Darmstadt 22007. 46 Vgl. u.a. A. Kirk, The Memory of Violence and the Death of Jesus in Q, in: A. Kirk/T. Thatcher (Hrsg.), Memory, Tradition, and Text: Uses of the Past in Early Christianity (SBL – Semeia Studies 52), Atlanta (GA) 2005, 191–206. 47 Vgl. C. Heil, Lukas und Q. Studien zur lukanischen Redaktion des Spruchevangeliums Q (BZNW 111), Berlin 2003, 70; D.A. Smith, The “Assumption” of the Righteous Dead in the

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missverständlich auf das Kreuz Jesu als Kriterium der Nachfolge hingewiesen: „Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir folgt, kann nicht mein Jünger sein.“48 Auch nach dessen Tod sieht Q die Bedeutsamkeit Jesu in der Kontinuität seines Lebens und der Kraft seiner Worte, die in denen wirksam sind, die ihm nachfolgen. Man muss also eine „Ostererfahrung“ der Q-Gruppe voraussetzen.49

3.4 Q tendiert zu einer biographischen Erzählung. Nicht ignorieren darf man den „narrativen Anspruch“ von Q, der sich etwa in Q 4,1–13; 7,1–10 und 7,18–35 bemerkbar macht.50 Schnelle schreibt etwa: „Die biographischen und narrativen Elemente sowie der Gesamtaufriss von Q zeigen, dass die Logienquelle sich in Richtung ‚Evangelium‘ entwickelte und ihre Integration in das Lukas- und Matthäusevangelium folgerichtig war.“51 Harry T. Fleddermann erkennt in Q eine Erzählung über die Identität Jesu und die Bedeutung der Nachfolge Jesu; daher sieht er in Q das älteste Exemplar der Gattung „Evangelium“.52

Wisdom of Solomon and the Sayings Gospel Q, in: Studies in Religion 29 (2000) 287–299; ders., Revisiting the Empty Tomb: The Post-Mortem Vindication of Jesus in Mark and Q, in: NT 45 (2003) 123–137; ders., The Post-Mortem Vindication of Jesus in the Sayings Gospel Q (Library of New Testament Studies 338), London 2006; D. Zeller, Entrückung zur Ankunft als Menschensohn (Lk 13,34f.; 11,29f.), in: À cause de l’Évangile. Études sur les Synoptiques et les Actes (FS J. Dupont) (LeDiv 123), Paris 1985, 513–530. 48 Vgl. Heil, Lukas und Q (s. Anm. 47) 101–103. 49 Vgl. Crossan, Birth (s. Anm. 38) 501–503; Heil, Lukas und Q (s. Anm. 47) 276f.; P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (NTA.NF 8), Münster 31982, 139–142; J.S. Kloppenborg, „Easter Faith“ and the Sayings Gospel Q, in: Semeia 49 (1990) 71–99; ders., Excavating Q (s. Anm. 27) 363–379. 50 Vgl. Ettl, „Anfang“ (s. Anm. 8) 146; Strecker, Literaturgeschichte (s. Anm. 2) 169. In apologetischer Absicht überbetont werden die narrativen Tendenzen in Q von S.J. Hultgren, Narrative Elements in the Double Tradition. A Study of Their Place within the Framework of the Gospel Narrative (BZNW 113), Berlin 2002. Die Q-Hypothese wird abgelehnt (u.a. 329.335), und die „Double Tradition“ und das Markusevangelium zu zwei verwandten Äußerungen der „common gospel tradition“ erklärt (u.a. 325). 51 Schnelle, Einleitung, 62007 (s. Anm. 34) 231. 52 H.T. Fleddermann, Q: A Reconstruction and Commentary (Biblical Tools and Studies 1), Leuven 2005, 100–110.196.

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3.5 Die apokryph gewordenen Evangelien bezeugen die Weite des frühchristlichen Evangeliumsbegriffs. Zumindest bis zur Mitte des zweiten Jh.s gab es keine Monopol-Ansprüche auf die Gattung „Evangelium“,53 wie gerade die apokryph gewordenen Evangelien zeigen,54 die als der Gattung „Evangelium“ zugehörig rezipiert wurden.55 Die Tatsache, dass apokryph gewordene Evangelien erst sekundär als „Evangelium“ betitelt wurden, teilen sie mit den kanonisch gewordenen Evangelien, die ihre Titel sekundär zu Anfang des zweiten Jh.s erhielten.56 Die theologische Ablehnung der von der Großkirche als apokryph bezeichneten Evangelien sollte die moderne Exegese nicht dazu führen, diesen Texten die Gattungsbezeichnung Evangelium zu verwehren.

53 Vgl. H. Köster, Synoptische Überlieferung bei den Apostolischen Vätern (TU 65), Berlin 1957, 6–12 („Der Gebrauch des Wortes GWXCIIGNKQP in nachapostolischer Zeit“); ders., Ancient Christian Gospels (s. Anm. 16) 29. Vor einer vorschnellen Einengung des Gattungsbegriffs „Evangelium“ ist zu warnen: Bis zur Mitte des zweiten Jh.s war der Begriff „Evangelium“ formal wie inhaltlich noch fließend. In Did 5,12; 8,2; 15,3f.; 2 Clem 8,5 und im Martyrium des Polykarp 4,1 heißt es von Lehren, dass sie „im Evangelium“ zu finden oder nicht zu finden sind. Hier ist noch unklar, ob ein literarischer Gattungsbegriff vorliegt. So jedoch J.A. Kelhoffer, ‚How Soon a Book‘ Revisited: (7$**(.,10 as a Reference to ‚Gospel‘ Materials in the First Half of the Second Century, in: ZNW 95 (2004) 1–34, 33: „At some point between the composition of Matthew and the Didache, the term GWXCIIGNKQP came to be associated with Matthew’s writing. […] The harmonized ‚Gospel‘ citations in 2 Clement do not support dating 2 Clement after Marcion. […] The Didachist assumes (and thus did not invent) GWXCIIGNKQP as an appropriate term for citing and referring to written ‚Gospel‘ materials that reflect Matthean redaction (Did. 8.2; 11.3–4; 15.3–4).“ H. Koester meint dagegen, die Bezeichnung „Evangelium“ als literarische Gattung gehe erst auf Markion zurück, der in den vierziger Jahren des zweiten Jh.s gegen mündliche Überlieferungen protestiert, denen Kirchen apostolische Autorität zusprachen. Vgl. ders., From the KerygmaGospel to Written Gospels, in: NTS 35 (1989) 361–381. Ohne Zweifel verwendet Justin Mitte des 2. Jahrh. als erster den Plural GWXCIIGNKC zur Bezeichnung der Evangeliumsbücher (vgl. bes. Apol 1,66,3). 54 Die Bezeichnung stammt von D. Lührmann; vgl. ders. in Zusammenarbeit mit E. Schlarb (Hrsg.), Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache (MThSt 59), Marburg 2000; ders., Die apokryph gewordenen Evangelien. Studien zu neuen Texten und zu neuen Fragen (NT.S 112), Leiden/Boston 2004. Vgl. ferner P. Dückers, Evangelium. B. Apokryphe Evangelien, in: LThK3 III (1995) 1063–1065. 55 Hier sieht man, „daß die Selbstbezeichnung antiker christlicher Texte sich nicht nach modernen Gattungsdefinitionen richtet“. So U.-K. Plisch, Zu einigen Einleitungsfragen des Unbekannten Berliner Evangeliums (UBE), in: ZAC 9 (2005) 64–84, 68f. Anm. 12. 56 Vgl. u.a. D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung (EdF 263), Darmstadt 1989, 17; ders., Das Markusevangelium, Darmstadt 2005, 147; Koester, Ancient Christian Gospels (s. Anm. 16) 26f.; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1–7 (EKK 1/1), Düsseldorf 52002, 104f.; S. Petersen, Die Evangelienüberschriften und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, in: ZNW 97 (2006) 250–274, 267–274; W. Schneemelcher, Einleitung, in: NTApo 1, 61990, 65–75, 67f.; C.M. Tuckett, Forty other gospels, in: M. Bockmuehl/D.A. Hagner (Hrsg.), The Written Gospel, Cambridge 2005, 238–253, 240–243.

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Evangelium als Gattung

3.6 Bewertung Da Q einen eigenen kerygmatischen Entwurf darstellt, sich selbst als Evangelium verstand und so auch von seinen Rezipienten verstanden wurde, sollte man Q als ein Exemplar einer Untergattung der Großgattung Evangelium begreifen. Angesichts der redaktionsgeschichtlichen Profilierung von Q als einem bedeutenden Dokument judenchristlicher Theologie scheint der Name „Quelle“ nicht mehr angebracht. Gleichmaßen würde eine Reduzierung des Markusevangeliums auf den Status einer „Quelle“ des Matthäus und Lukas auf Protest stoßen. Das Kürzel „Q“ hat sich zwar als Konvention eingebürgert und muss nicht ausgetauscht werden,57 die Bezeichnung „Quelle“ sollte jedoch vermieden werden.

4. Zwischenergebnis: Die rezeptionsorientierte Differenzierung von Erzähl- und Spruchevangelium Blicken wir noch einmal zurück auf das, was ganz zu Anfang unter Punkt 1 gesagt wurde: Die Beantwortung der Gattungsfrage ist wichtig, denn bei aller notwendigen Flexibilität bei der Gattungs-Definition gibt diese doch Auskunft über die Erwartungen, die die antiken Rezipienten von Q an den Text hegten und hegen sollten. Gattungen nehmen die Erwartungen des Lesers auf und leiten sie.58 Davon hängt auch die theologische Bedeutung von Q für heutige Rezipienten ab. Die literaturwissenschaftliche Diskussion, die die Rezipienten stärker in den Blick nimmt,59 wird zunehmend auch in die Frage nach der Evangeliengattung aufgenommen.60 In Bezug auf die Apostelgeschichte hat Loveday Alexander mehrmals betont, dass „Gattung“ in der antiken Literatur eine Frage der Wahrneh57

Gegen E.K. Broadhead, On the (mis)definition of Q, in: JSNT 68 (1997) 3–12. D. Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte. Eine Einführung (Die Altertumswissenschaft), Darmstadt 1993, 67–243; W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg i.Br. 4 1995, 146–159; T. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament, Freiburg i.Br. 1998, 155–173; T.A. van DƋk, Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung, Tübingen 1980, 128–159 („Superstrukturen“). 59 Vgl. u.a. C.A. Newsom, Spying out the Land: A Report from Genology, in: Seeking Out the Wisdom of the Ancients (FS M.V. Fox), Winona Lake (IN) 2005, 437–450.W. Raible, Was sind Gattungen? Eine Antwort aus semiotischer und textlinguistischer Sicht, in: Poetica 12 (1980) 320–349. 60 Vgl. u.a. Ettl, „Anfang“ (s. Anm. 8) 146, der den Weg „vom literarischen Gesamtbefund zur Bestimmung der Gattung“ empfiehlt. Nur so sei es möglich, „die Bandbreite der neutestamentlichen und außerneutestamentlichen ‚Evangelien‘-Literatur angemessen einzufangen“. Ebenso Tuckett, Introduction (s. Anm. 7) 990. 58

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mung und der Verortung eines Textes ist, nicht notwendigerweise eine Frage von statischen, inhärenten Merkmalen. Was dem einen in der Antike daher „Geschichte“ ist, ist dem anderen „phantastische Fiktion“.61 Wahrnehmungen von Texten waren geprägt durch soziale, kulturelle, geographische und historische Kontexte des Autors und seiner Leser, auch wenn die Wahrnehmungen sich nicht immer entsprachen. Gattungsbestimmungen müssen daher induktiv und deskriptiv von der Rezeption her erfolgen. Allein von daher ist es schon fragwürdig, dass nur die kanonischen Evangelien „Evangelien“ seien, dass gar das Markusevangelium das einzige Modell für ein „Evangelium“ darstellen soll. Detlev Dormeyer hat daher in seinem Artikel „Formen/Gattungen“ in der neuen RGG Spruch- und Erzählevangelien unterschieden.62 Auch der gewiss US-amerikanischen Extravaganzen unverdächtige Oxforder Neutestamentler Christopher Tuckett sprach sich in diesem Sinn in der Festschrift für Graham Stanton 2005 für einen rezeptionsorientierten Evangeliums-Begriff aus: Alle Texte, die sich Evangelium nennen oder als solche verstanden wurden, sollten einer breiten Gattungskategorie „Evangelium“ zugeordnet werden. Die Gattung „Evangelium“ könne dann definiert werden als „ein Text, der eine Art Bericht über das Leben und/oder die Lehre des historischen Jesus zu geben beansprucht“.63 Da sich in der Gattungs-Diskussion allerdings das Markusevangelium als narratives Muster eines „Evangeliums“ etabliert hat,64 sollte der Begriff in der Anwendung auf Q differenziert werden: Q ist ein „Spruchevangelium“.65 In den USA ist der Begriff mittlerweile gut akzeptiert; selbst der ganz dem Mainstream verpflichtete Bart Ehrman unterscheidet in seiner Einleitung in das Neue Testament von 1997 „narrative gospels“, „sayings gos61

Vgl. L.C.A. Alexander, Fact, Fiction and the Genre of Acts, in: Dies., Acts in its Ancient Literary Context: A Classicist Looks at the Acts of the Apostles (JSNT.S 289), London 2005, 133– 163. 62 D. Dormeyer, Formen/Gattungen. III. Neues Testament, in: RGG4 III (2000) 190–196, 195. 63 Tuckett, Gospels (s. Anm. 56) 241. 64 So schon C.H. Weiße, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet. Zwei Bände, Leipzig 1838, I 47f. Kloppenborg (Formation of Q [s. Anm. 25] 262) räumt daher ein: „Of course, Q is not a ‚Gospel.‘ It is still primarily a speech or sayings collection. Yet there is also movement in the direction of biography.“ 65 Vgl. C. Heil, „Spruchevangelien“ als besondere Gattung der Jesusüberlieferung: Die Logienquelle Q und das Thomasevangelium, in: BiHe 171 (2007) 21–23; Kloppenborg Verbin, Excavating Q (s. Anm. 27) 398–408. J. Schröter (Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas [WMANT 76], Neukirchen-Vluyn 1997, 461 Anm. 3) lehnt dagegen die Bezeichnung „Spruchevangelium“ für Q ab, ohne aber einen eigenen positiven Vorschlag zu machen, wie man Q bezeichnen sollte.

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pels“ und „infancy gospels“.66 Ebenso differenziert auch Tuckett in dem genannten Festschrift-Beitrag von 2005, wobei er zu den „narrative gospels“ neben den kanonischen Evangelien auch Papyrus Egerton 2, P.Oxy. 840 und das Petrusevangelium zählt. Zu den „sayings gospels“ rechnet er das Thomasevangelium und Q.67 Detlev Dormeyer hat 1993 als erster deutschsprachiger Autor diesen Vorschlag, Q als „Spruchevangelium“ zu bezeichnen, positiv aufgenommen.68 Ihm folgte 1995 Peter Kristen.69 Im gleichen Jahr hat sich Theißen im Nachwort zu Bultmanns „Geschichte der synoptischen Tradition“ für die Bezeichnung von Q als „Spruchevangelium“ ausgesprochen:70 „Allgemein anerkannt ist heute, daß die Jesusüberlieferung in zwei ‚Evangelienformen‘ gesammelt wurde: in Logienquelle und Evangelium oder in Spruch- und Erzählevangelium.“ Auch Christoph Markschies hat 2001 diese Differenzierung akzeptiert, wenn er über das Thomas- und Philippusevangelium schreibt: „Beide Schriften orientieren sich formal an einer bestimmten Form der neutestamentlichen Überlieferung, dem sogenannten ‚Spruchevangelium‘, einer Sammlung von Sprüchen Jesu. Eine solche Sammlung lag den Verfassern des kanonischen Matthäus- und Lukasevangeliums vor und kann aus diesen Texten einigermaßen zuverlässig rekonstruiert werden (die sogenannte Quelle ‚Q‘).“71 In diesem Sinne können wir festhalten: Bei der Rezeption des kerygmatischen Begriffs „Evangelium“ als Name für eine literarische Gattung kam es zu verschiedenen Ausformungen. Die Gattung „Evangelium“ ist u.a. in die 66 B.D. Ehrman, The New Testament. A Historical Introduction to the Early Christian Writings, Oxford 1997, 54f. 67 Tuckett, Gospels (s. Anm. 56) 243–246. Anders noch ders., Introduction (s. Anm. 7) 995f. (Q als „sayings collection“). 68 Dormeyer, Das Neue Testament (s. Anm. 58) 199, 219. Schon zuvor hatte der allerdings in Harvard lehrende H. Köster in deutschsprachigen Veröffentlichungen Q als Spruchevangelium bezeichnet; vgl. ders., Ein Jesus und vier ursprüngliche Evangeliengattungen (1968), in: H. Köster/J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 147–190, 173; ders., Überlieferung und Geschichte der frühchristlichen Evangelienliteratur, in: ANRW II.25.2, Berlin 1984, 1463–1542, 1515. 69 P. Kristen, Familie, Kreuz und Leben. Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium (MThSt 42), Marburg 1995, 35–39. „Evangelium“ sei zu definieren als „selbständiges, durch die Darstellung der Bedeutsamkeit Jesu sinnstiftendes und wirklichkeitsrelevantes Dokument. Sinnvoll erscheint es mir weiterhin, zwischen Spruchevangelien und narrativen Evangelien zu unterscheiden. Q kann also mit Recht ein Spruchevangelium genannt werden“ (39). 70 G. Theißen, Die Erforschung der synoptischen Tradition seit R. Bultmann. Ein Überblick über die formgeschichtliche Arbeit im 20. Jahrhundert, in: R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), Göttingen 101995, 409–452, 444, vgl. auch 442 („Logienquelle als Spruchevangelium“). Theißen (ebd., 444) verweist dabei auf Dormeyer, Das Neue Testament (s. Anm. 58) 199–204. 71 Markschies, Gnosis (s. Anm. 13) 55.

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Untergattungen „Spruch- und Erzählevangelium“ zu differenzieren. Q ist das früheste Exemplar eines Spruchevangeliums, das Markusevangelium das früheste Exemplar eines Erzählevangeliums. Dass die Untergattungen „Erzähl- und Spruchevangelium“ moderne, nicht antike Bezeichnungen sind, ist kein Gegenargument. Auch der antike „Roman“ wurde in der Antike nicht „Roman“ oder „novel“ genannt und ist doch eine zutreffende Gattungsbezeichnung für eine Sorte von Texten, die etwa seit der Zeitenwende verfasst wurden.72 Mit der modernen Bezeichnung „Spruchevangelium“ ist zum Ausdruck gebracht, dass Q kein „Evangelium“ wie das narrative Markusevangelium ist; die nähere Bestimmung als Spruch-Evangelium macht deutlich, dass Q als eigene Untergattung der Textsorte „Evangelium“ gelesen wurde. Die frühe Kirche kennt nicht nur Erzähl- und Spruchevangelien, sondern auch Dialog- und Kindheitsevangelien.73 Diese Differenzierungen sind sinnvoll und sollten beibehalten werden. Auch bei anderen Großgattungen sind Untergattungen bekannt: In der Antike unterschied man z. B. mehrere Untergattungen der Gattung Brief.74

5. Die Untergattung „Spruchevangelium“ Wir versuchen nun, vor allem mit Blick auf Q, die Untergattung „Spruchevangelium“ literaturgeschichtlich näher einzuordnen.

5.1 Testament Ausgehend von den Schlussworten in Q – Q 22,28.30 – sah Ernst Bammel eine Ähnlichkeit zur Form der Testamente, wie sie etwa in den Testamenten der zwölf Patriarchen vorkomme.75 Aber auch wenn der Rahmen von Q verloren ist (wo am Anfang Titel, Name, Adressat und Situation des Ster72

Vgl. D.E. Aune, Novel, in: Ders., The Westminster Dictionary of New Testament and Early Christian Literature and Rhetoric, Louisville (KY) 2003, 320–323, 320. 73 Zu den Dialogevangelien vgl. H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 2002, 189–191; zu den Kindheitsevangelien vgl.ebd., 88f. Am Rande sei bemerkt, dass H. Schlier den Römerbrief in übertragener Weise einen „Evangeliumsbrief“ nannte; ders., Der Römerbrief (HThK 6), Freiburg i.Br. 31987, 8. Positiv aufgenommen bei M. Theobald, Römerbrief. Kapitel 1–11 (SKK.NT 6/1), Stuttgart 21998, 23. 74 Vgl. Berger, Hellenistische Gattungen, 1132–1138. 1326–1363; H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB 2022), Paderborn 1998, 157–165. 75 E. Bammel, Das Ende von Q, in: Verborum Veritas (FS G. Stählin), Wuppertal 1970, 39– 50, 49.

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benden, am Schluss Tod, Bestattung und Trauer geschildert worden wären), stellt Q kein Testament Jesu dar, der im Angesicht seines bevorstehenden Todes zunächst auf die Vergangenheit zurückblickt, dann Mahnungen erteilt und schließlich Weissagungen für die Zukunft ausspricht.76

5.2 Testimonium Robert Hodgson vertrat 1985 die These, dass Q eine frühchristliche Testimonien-Sammlung rezipiere und selbst zu dieser Gattung gehöre.77 Die Struktur von Q weist jedoch weit über ein Testimonium hinaus.

5.3 Prophetenbuch bzw. NQIQKRTQHJVYP Migaku Sato hat 1988 die These aufgestellt, Q entspreche der Gattung des alttestamentlichen Prophetenbuchs.78 Charakteristisch sei hier, dass sich das Prophetenbuch als „Worte des Propheten“ bezeichnet, die Berufung des Propheten erzählt und mit der Botenformel Offenbarungsworte Gottes einleitet. Nun enthält Q zwar prophetische Rufe und Drohungen sowie apokalyptische Unterweisung. Die Analogie zum alttestamentlichen Prophetenbuch ist jedoch nicht überzeugend.79 Sato muss z. B. die Taufe Jesu in Q 3,21f. als Berufungsgeschichte interpretieren und die Gleichnisse in Q 14, 15 und 19 Q absprechen. Eine Analogie zur Botenformel in Q kann Sato nicht aufzeigen. Richard Horsley hat die These Satos daher weitergeführt: Q sei eine Reihe von prophetischen Reden ähnlich wie die Didache.80 76 Zur Gattung „Testament“ vgl. M. Küchler, Frühjüdische Weisheitstraditionen. Zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Bereich des frühjüdischen Jahweglaubens (OBO 26), Freiburg (Schweiz) 1979, 425–430; E. v. Nordheim, Die Lehre der Alten. I: Das Testament als Literaturgattung im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit (ALGHJ 13), Leiden 1980. 77 So R. Hodgson, On the Gattung of Q: A Dialogue with James M. Robinson, in: Bib. 66 (1985) 73–95. 78 M. Sato, Q und Prophetie. Studien zur Gattungs- und Traditionsgeschichte der Quelle Q (WUNT 2/29), Tübingen 1988. Zur Kritik vgl. K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament (UTB 2532), Tübingen 2005, 422f. 79 O.H. Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996, 24, Anm. 36: „Die anfänglichen Bemühungen von Sato, Q, 69–77 zur Makrogattung von Prophetenbüchern können vor dem alttestamentlichen Problemstand bei weitem nicht bestehen und sind im übrigen jetzt mit Recht auch bezüglich der Gattung von Q kritisiert worden, s. Robinson, EvTh 1993.“ 80 R.A. Horsley with J.A. Draper, Whoever Hears You Hears Me. Prophets, Performance, and Tradition in Q, Harrisburg (PA) 1999, 85. 90–93. Vgl. jetzt ders., Die Jesusbewegungen und die Erneuerung Israels, in: R.A. Horsley (Hrsg.), Die ersten Christen (Sozialgeschichte des Chris-

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5.4 Narrativ-biographisch erweiterte gnomologische Instruktionsrede bzw. NQIQKUQHYP Q bietet ausführlich weisheitliche Lehre Jesu (Mahnworte, Sentenzen, Gleichnisse), und so bezeichnete schon Vincent Taylor Q als eine „Spruchsammlung“: „Die Zeiten verlangten ein Kompendium der Worte des Herrn, von ähnlicher Form wie die der Weisheitssprüche der Proverbien.“81 1964 hat Robinson in einer Festschrift für Rudolf Bultmann Q als zur Gattung NQIQKUQHYP gehörig beschrieben.82 Max Küchler profilierte die frühjüdische Gattung „Sprüche der Weisen“ in seiner 1979 veröffentlich-

tentums 1), Gütersloh 2007, 37–62, 47: „Markusevangelium und Q unterscheiden sich in der übergreifenden literarischen Gattung, das Evangelium ist eine vielschichtige Erzählung mit einer Abfolge von Erzähleinheiten, Q eine Sammlung von Reden und Aussprüchen über verschiedene Themen.“ 81 Taylor, Formung der Evangelienüberlieferung (s. Anm. 30) 364–414, 408. Vgl.ebd.: „Die einfachste und einleuchtendste Sicht ist die, dass Q schlicht und einfach als eine Spruchquelle entstand. Der fragmentarische Charakter des Erzählelements in den meisten Rekonstruktionen ihres Inhalts legt dies nahe, und dieser Schluss ist daher sehr wahrscheinlich richtig. Q war eine Neuerung, hervorgerufen durch die Erfordernisse katechetischer Unterweisung.“ Schon Weiße (Geschichte I [s. Anm. 64] 83) sprach von der aramäischen „Spruchsammlung des Matthäus“. Um sich nicht weiter festzulegen, benutzt u.a. R. Bultmann die Bezeichnung „Spruchquelle“ (ders., Geschichte [s. Anm. 3] 2 und passim). H. Schürmann verwendete den Begriff „Redenquelle“, wobei „Redenquelle“ die Q zugrunde liegenden „Redekompositionen“ betont. Vgl. H. Schürmann, Beobachtungen zum Menschensohn-Titel in der Redenquelle. Sein Vorkommen in Abschluß- und Einleitungswendungen, in: Ders., Gottes Reich – Jesu Geschick. Jesu ureigener Tod im Licht seiner Basileia-Verkündigung, Freiburg i.Br. 1983, 153–182. 82 J.M. Robinson, LOGOI SOPHON – Zur Gattung der Spruchquelle Q, in: H. Köster/J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 66–106; ders., .1*1,51)90: On the Gattung of Q, in: Ders., The Sayings Gospel Q (s. Anm. 19) 37–74. Vgl. dazu Kloppenborg, Introduction (s. Anm. 6) 10f. Rückblickend schreibt Robinson, sein Aufsatz LOGOI SOPHON (1964) „konzentriert sich auf eine spezielle Gattung, die der Spruchsammlung, der man Q zugeordnet hat und zu der, wie sich zeigt, das Thomasevangelium gehört. Dieser Aufsatz versucht, die Entwicklungslinie dieser Literaturgattung von der jüdischen Weisheitsliteratur bis zur Gnosis aufzuspüren. […] Das Ergebnis ist, daß die ersten Sammlungen der Sprüche Jesu, die einem frühen Stadium dieser Entwicklungslinie zugehören, zu den Vorstellungen des Urchristentums gut paßten; spätere Sammlungen aber, ja sogar schon eine relativ so frühe Sammlung wie Q, erhielten, sobald sie zu einem späteren Zeitpunkt der Entwicklungslinie gelesen wurden, gnostische Obertöne, die für die Großkirche nicht mehr akzeptabel waren. Das könnte sehr gut die eigentliche Ursache dafür sein, daß Q ‚verloren‘ ging und daß das beste Exemplar dieser Gattung, das erhalten blieb, nicht im Kanon der rechtgläubigen Kirche, sondern in der gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi zu finden ist.“ J.M. Robinson, Einleitung: Demontage und neuer Aufbau der Kategorien neutestamentlicher Wissenschaft, in: H. Köster/J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 1–19, 17. Vgl. die positive Aufnahme bei Dormeyer, Das Neue Testament (s. Anm. 58) 216: „Robinson ist es zweifellos gelungen, an die Stelle der literarischen Mangelgattung ‚Halbevangelium‘ die damals übliche Gattung ‚Spruchsammlung‘ zu setzen.“

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ten Dissertation weiter. Klaus Berger rechnete 1984 das Thomasevangelium und „möglicherweise“ auch Q zur Gattung „Gnomologion“.83 J.S. Kloppenborg bezeichnete 1987 die grundlegende Gattung von Q als gnomologische Instruktionsrede, die ihre alttestamentlich-jüdischen Analogien etwa in Spr 1–9, Sir, in Qumran (4Q185; 4Q525) und in den Sentenzen des Pseudo-Phokylides84 hat. Hier begegnen vor allem Imperative in der zweiten Person Plural und Maximen. Der Sprecher wird – explizit oder implizit – als Medium der Weisheit verstanden. In weiteren Redaktionsschritten sei Q dann so mit Apophthegmen angereichert worden, dass es sich der Biographie annäherte.85 Analogien sieht Kloppenborg etwa im Mischna-Traktat Abot, den Philosophenviten des Diogenes Laertius oder Lukians Vita des Demonax.86

5.5 Biographie Nach Francis Gerald Downing hätte ein antikes griechisches Publikum Q am ehesten für den DKQL eines kynischen Lehrers gehalten, etwa wie Lukians Vita des Demonax.87 Hier werden jedoch die narrativ-biographischen Elemente in Q überbewertet.

5.6 Bewertung Der Durchgang durch die verschiedenen Vorschläge gibt Marco Frenschkowski recht, wenn er Q als ein „gattungsgeschichtliches Patchwork“ beschreibt.88 Grundlegend ist jedoch die Einsicht, dass Q eine Spruchsamm-

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Berger, Hellenistische Gattungen (s. Anm. 74) 1078. Zur Kleinform der IPYOJ vgl. auch M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments. Eine Einführung (UTB 2197), Paderborn 2001, 153–163. 84 Vgl. W.T. Wilson, The Sentences of Pseudo-Phocylides (Commentaries on Early Jewish Literature), Berlin 2005. 85 Kloppenborg, Formation of Q (s. Anm. 25). 86 Kloppenborg Verbin, Excavating Q (s. Anm. 27) 160f. Wie Robinson selbst einräumte, hat erst Kloppenborg in seiner Dissertation die These von Q als NQIQKUQHYP ausführlich begründet. J.M. Robinson, Foreword, in: Kloppenborg, Formation of Q (s. Anm. 25) xi–xiv. 87 F.G. Downing, Quite Like Q: A Genre for „Q“: The „Lives“ of Cynic Philosophers, in: Bib. 69 (1988) 226–238; ders., A Genre for Q and a Socio-Cultural Context for Q. Comparing Sets of Similarities with Sets of Differences (1994), in: Ders., Doing Things with Words in the First Christian Century (JSNT.S 200), Sheffield 2000, 95–117. Zur Kritik vgl. Kloppenborg Verbin, Excavating Q (s. Anm. 27) 161–163. 88 M. Frenschkowski, Q-Studien (s. Anm. 7) Kap. III.3; ders., Welche biographischen Kenntnisse von Jesus setzt die Logienquelle voraus? Beobachtungen zur Gattung von Q im Kon-

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lung darstellt,89 die allerdings erweitert und profiliert wurde. So sieht etwa Jens Schröter mit Dormeyer90 in Q eine Mischgattung „Spruchbiographie“, in der es zur „Überschneidung der Gattungen ‚Spruchsammlung‘ und ‚Biographie‘“ kam – ohne freilich wie Downing an Kyniker-Biographien zu denken.91 Wie Markus stelle Q historiographisch-biographisch Erinnerungen an Jesu Worte zusammen im Unterschied zur ahistorischen Sammlung des EvThom.92 Bei Schröter ist allerdings die Absicht deutlich, Q als Quelle kanonischer Evangelien möglichst weit vom Thomasevangelium zu distanzieren und zum Teil einer kohärenten neutestamentlichen Theologie zu machen. Das Spruchevangelium Q ist besser als Spruch- bzw. Redensammlung zu verstehen, die prophetisch-apokalyptische Heils- und Gerichtspredigt mit weisheitlicher Instruktion verbindet.93 Die Frage nach der Gewichtung von Prophetie und Weisheit innerhalb der Sammlung ist kaum auf eine Seite hin zu entscheiden; es handelt sich um prophetisch-subversive Dorfweisheit und gleichzeitig weisheitliche Prophetie mit apokalyptischen Tendenzen. Insgesamt ähnelt die Form des Spruchevangeliums am ehesten der Didache, dem äthiopischen Henochbuch und dem Mischna-Traktat Abot, ferner auch den Philosophenviten des Diogenes Laertius oder Lukians Vita des Demonax. Was die Verbindung von weisheitlichen und apokalyptischen Elementen angeht, verdient m. E. vor allem der Vergleich von Q mit der Didache und dem äthiopischen Henochbuch weitere Beachtung. Indem der Q-Redaktor diese Gattung wählt, weckt er bei seinen Lesern die Erwartung auf Worte und Mahnungen eines weisen Propheten. Die biographisch-narrativen Elemente in Q gehören eigentlich nicht zu einem Spruchevangelium, sondern zeigen, dass Q gattungsgeschichtlich auf dem text antiker Spruchsammlungen, in: From Quest to Q (FS J.M. Robinson) (BEThL 146), Leuven 2000, 3–42. 89 Vgl. Tuckett, Q and the History of Early Christianity (s. Anm. 6) 106; D. Zeller, Logienquelle, in: NBL 2 (1995) 657–659, 658: „Da ausgeführte Wundergeschichten, biographische Erzählungen u.ä. fehlen, geben Spruchsammlungen des Judentums (Traktat Abot), des Christentums (Thom Ev) und der Antike (Gnomologien, Chrien; zuletzt einseitig Kloppenborg) die nächsten Gattungsanalogien ab.“ 90 Dormeyer, Das Neue Testament (s. Anm. 58) 214–220 („Q als ideale SpruchBiographie“). Zur Kritik vgl. Ettl, „Anfang“ (s. Anm. 8) 141f. 91 Schröter, Erinnerung (s. Anm. 65) 460f. Ausführlicher ders., Entscheidung für die Worte Jesu. Die Logienquelle in der Geschichte des frühen Christentums, in: BiKi 54 (1999) 70–74, 71– 73 (Q als „Spruchbiographie“). 92 Schröter, Erinnerung (s. Anm. 65) 459–486. 93 Vgl. Hoffmann, Logienquelle (s. Anm. 40) 1020: „Trotz der Analogien zu antiken Weisheits-Schr. läßt sich Q nicht einseitig deren Gattung zuordnen. In Q steht die weisheitl. Mahnung im Dienst prophetisch-apokal. Heils- u. Gerichtspredigt.“ Ebenso G. Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 40), Heidelberg 2007, 67–71; Fleddermann, Q (s. Anm. 52) 101.

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Weg zu einem Erzählevangelium war, was u.a. die Rezeption im Matthäusund Lukasevangelium erklären kann.

6. Die Untergattung „Erzählevangelium“ Wie bei der Untergattung „Spruchevangelium“ Q unser Beispiel war, gehen wir bei der näheren literaturgeschichtlichen Einordnung der Untergattung „Erzählevangelium“ von einem konkreten Text aus, dem Markusevangelium. Markus bettet erstmals das „Evangelium“ in eine narrative Schilderung der Jesusgeschichte vom Auftreten des Täufers bis zur Auffindung des leeren Grabes ein. Dementsprechend meint die Wendung CXTEJVQW GWXCIIGNKQW in Mk 1,1 „Anfang der Heilsbotschaft“ von Jesus Christus.94 Markus nimmt also den Begriff aus der urchristlichen Mission auf, weitet ihn aber auf die Verkündigung durch Jesus aus (Mk 1,14). Was Jesus getan und gelehrt hat, ist für Markus genauso „Evangelium“ wie das, was Gott in Kreuz und Auferstehung an ihm getan hat.95 Jesus Christus ist hier nicht mehr nur Objekt, sondern auch Subjekt des Evangeliums.

6.1 Analogielose Kleinliteratur Für das Urteil der Formgeschichte zur Gattung der Erzählevangelien, das auf Franz Overbeck zurückgeht,96 kann stellvertretend Karl Ludwig Schmidt zitiert werden. In seinem berühmten Aufsatz „Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte“ von 1923 bezeichnet Schmidt die Evangelien als „Kleinliteratur“ wie manche kirchliche Heiligenleben und mittelalterliche jüdische Legenden der Chasid.97 Charakteristisch für all diese „populäre“ Literatur seien die sekundären Übergänge zwischen den kleineren Einheiten. Diese Übergänge spielen nach Schmidt fast nie eine bedeutende Rolle für die größere Darstellung und psychologisieren die Beziehung des einen zum nächsten erzählten Ereignis. 94 H. Conzelmann/A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (UTB 52), Tübingen 2004, 37. 95 Vgl. G. Theißen, Das Neue Testament (C.H. Beck Wissen; Beck’sche Reihe 2192), München 22004, 68. 96 Vgl. Dormeyer, Das Neue Testament (s. Anm. 58) 6. 97 K.L. Schmidt, Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte, in: F. Hahn (Hrsg.), Zur Formgeschichte des Evangeliums (WdF 81), Darmstadt 1985, 126–228. Nach Schmidt stammten die Erzählevangelien nicht aus höheren literarischen Zirkeln, die die antiken Biographien (DKQK/vitae) und Memoiren (CXRQOPJOQPGWOCVC) produzierten; sie seien vielmehr „Kleinliteratur“ wie die Dr. Faust-Sammlungen. 14

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Auf die Frage, welche Analogien sich für die Erklärung der Form des Evangeliums bieten, antwortet gleichermaßen Rudolf Bultmann: „In der griechischen Literaturgeschichte gibt es solche nicht.“98 Typisch für den Ansatz der Formgeschichte stellt er abschließend fest: „Von dem Evangelium als einer literarischen Gattung zu sprechen, ist […] kaum möglich; das Evangelium ist eine Größe der Dogmen- und Kultusgeschichte.“99 Mit der These, die Erzählevangelien seien aus der Predigt der frühen Christen entstanden und eher praktischer Natur, wird jedoch die literarische Leistung der Evangelienautoren völlig unterschätzt. In gewisser Weise als Fernwirkung der formgeschichtlichen Schule verzichten aber auch heute noch viele auf eine literarische Einordnung der Untergattung „Erzählevangelium“, indem man sie einfach als sui generis erklärt.100 Diese Zurückhaltung gegenüber einer genaueren literaturgeschichtlichen Verortung mag teilweise berechtigt sein. Robinson hat dazu jedoch schon 1970 mit Blick auf das Markusevangelium erklärt: „Angesichts der Vielfalt kerygmatischer Tendenzen im Urchristentum und ihrer religionsgeschichtlichen Parallelen ist die Ansicht, die eigenständige Gattung Evangelium sei eine Schöpfung des Christentums sui generis, kaum haltbar.“101 Das Evangelium will kommuniziert werden, und so muss es eine gemeinsame kulturelle Schnittmenge finden zwischen Sender und Empfänger.102 Diese Schnittmenge sollte man auch hinsichtlich der literarischen Gattung so genau wie möglich differenzieren.

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Bultmann, Geschichte (s. Anm. 3) 397. Ebd., 400. 100 Vgl. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch (s. Anm. 94) 38: „Direkte außerchristliche Analogien zur neutestamentlichen Literaturgattung ‚Evangelium‘ gibt es nicht, wie der Vergleich mit verwandten literarischen Gattungen, insbesondere der Biographie und der historischen Monographie, zeigt.“ Th. Söding bezeichnet das Markusevangelium als „literarisches Novum“ (Der Evangelist in seiner Zeit. Voraussetzungen, Hintergründe und Schwerpunkte markinischer Theologie, in: Ders. (Hrsg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium [SBS 163], Stuttgart 1995, 11–62, 50). Weitere Vertreter dieser These bei R. v. Bendemann, Zwischen '1:$ und 56$7415. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium (BZNW 101), Berlin 2001, 356 Anm. 7. 101 J.M. Robinson, Zur Gattung des Markus-Evangeliums (1970), in: Ders., Messiasgeheimnis und Geschichtsverständnis. Zur Gattungsgeschichte des Markusevangeliums (ThB 81), München 1989, 126–148, 129. 102 Vgl. L.C.A. Alexander, What is a Gospel?, in: S.C. Barton (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Gospels, Cambridge 2006, 13–33, 14: „If the gospel is to communicate, it must find some cultural common ground with those outside the charmed circle of the already convinced“; M. Ebner/B. Heininger, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn 22007, 204: „Die christliche Botschaft war für die ersten Verkündiger nur transportabel, indem sie sich derjenigen Vorstellungen und sprachlichen Muster bedienten, die den Menschen ihrer Zeit verständlich und alltäglich bekannt waren.“ 99

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6.2 Aretalogie Es wurde vorgeschlagen, die Erzählevangelien als Aretalogien zu verstehen, also als Erzählungen über einen gefeierten Helden bzw. SGKQLCXPJT und dessen wunderbare Taten.103 In diesem Sinn schreiben Conzelmann/Lindemann in der jüngsten Auflage 2004 ihres Arbeitsbuchs: „Der Evangeliumsgattung am nächsten kommen wohl die volkstümlichen griechischen Erzählungen von den Taten berühmter Männer, die RTCZGKL.“104 In der neueren Forschung wird allerdings überhaupt bezweifelt, ob man von einer Gattung „Aretalogie“ sprechen kann.105 Einige Texte, der dieser Gattung meist zugesprochen werden, wie etwa die Vita Apollonii des Philostratos, sind z. B. besser als romanhafte Biographien zu bezeichnen und den antiken DKQK zuzuordnen.106

6.3 Historiographie Als Analogie zum Markusevangelium kommt nur die tragisch-pathetische Spielart der antiken Historiographie107 als Analogie in Frage. Eve-Marie Becker kommt allerdings in ihrer 2006 veröffentlichten Studie „Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie“ zu dem ernüchternden Schluss, das Markusevangelium stelle „einen eigenen Typus von PräHistoriographie“ dar.108 Adela Yarbro Collins versteht das Markusevangelium dennoch als historische Monographie, die sich auf die Taten Jesu

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H.C. Kee, Aretalogy and Gospel, in: JBL 92 (1973) 402–422; J.Z. Smith, Good News is No News: Aretalogy and Gospel (1975), in: Ders., Map Is Not Territory. Studies in the History of Religions (SJLA 23), Leiden 1978, 190–207; M. Smith, Prolegomena to a Discussion of Aretalogies, Divine Men, the Gospels, and Jesus (1971), in: Ders., Studies in the Cult of Yahweh (Religions in the Graeco-Roman World 130). II: Studies in the New Testament, Early Christianity, and Magic, ed. S.J.D. Cohen, Leiden 1996, 3–27. 174–199. 104 Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch (s. Anm. 94) 38. 105 Vgl. K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW II.25.2, Berlin 1984, 1031–1432. 1831–1885, 1132–1138. 1326–1363, 1218–1231; A.Y. Collins, Aretalogie, in: RGG4 I (1998) 719f. 106 Vgl. N. Holzberg, Der antike Roman. Eine Einführung, Darmstadt 32006, 29f. 107 Vgl. Heil, Lukas und Q (s. Anm. 47) 231. 108 E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006, 410. Vgl. auch dies., Historiographieforschung und Evangelienforschung. Zur Einführung in die Thematik, in: Dies., (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 1–17, 13: „Das MarkusEvangelium weist […] insbesondere durch den chronologischen Aufriß und den Verzicht auf genealogische Hinweise und panegyrische Elemente eine narrative Konzeption und literarische Gestaltung auf, die eher eine Verortung im Bereich antiker Historiographie plausibel erscheinen läßt.“

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konzentriert.109 Es sei allerdings ein eschatologisches Gegenstück zu einer älteren biblischen Gattung, den Gründungserzählungen. „Der Autor nahm das Modell der bibl. Geschichtsschreibung auf und transformierte es, indem er erstens eine eschatologische und apokalyptische Perspektive darin eintrug und es zweitens an hell. historiographische und biogr. Traditionen anpaßte.“110 Die Anpassung an historiographische Traditionen ist jedoch im Markusevangelium nur schwach ausgeprägt. Von den neutestamentlichen Erzählevangelien zeigt sich noch am ehesten das Lukasevangelium der Historiographie verwandt. Nur hier „finden sich betont auch Hinweise auf die allgemeine Weltgeschichte, in die die Jesusgeschichte eingebettet ist (Lk 1,5; 2,1f. und vor allem 3,1f.); der historiographische Anspruch des Lukas wird vor allem auch durch die Abfassung der Apostelgeschichte weiter hervorgehoben.“111 Aber selbst das dritte Evangelium genügt kaum den Kriterien, die antike Autoren an ein Geschichtswerk stellten. Polybios fordert z.B. Mitte des zweiten Jh.s v.Chr., dass ein Geschichtswerk (JBBKBBUVQTKC) „unparteiisch nach Verdienst Lob und Tadel auszuteilen hat, einen absolut wahrheitsgetreuen, auf Tatsachen gegründeten und die Erwägungen, die die Ereignisse begleiteten, die Motive, die das Handeln veranlassten, klarstellenden Bericht“ (10,21).112 Lukian schreibt ca. 167 n.Chr. in seinem Buch „Wie man Geschichte schreiben soll“ in den Paragraphen 9 und 10 folgendes: „Die Geschichte (KBBUVQTKC) hat nämlich nur eine einzige Aufgabe und ein Ziel, nämlich zu nützen (VQETJUKOQP), und das erreicht sie nur mit Hilfe der Wahrheit. Wenn das Angenehme (VQVGTRPQP) zu dem Nützlichen noch hinzukommt, umso besser – so wie beim Athleten die Schönheit zur Stärke. […] so lange sie aber einzig ihr eigentliches Ziel verfolgt – nämlich die Wahrheit aufzudecken (VJPVJLCXNJSGKCLFJNYUKP) – wird sie sich wenig um die Schönheit kümmern. Auch das wäre noch zu betonen, daß in einem Geschichtswerk völlig Fiktives (VQMQOKFJ^OWSYFGL) und besonders geschmacklose Lobeserhebungen (VQVYPGXRCKPYPOCNKUVCRTQUCPVGL) keinen Gefallen finden bei den Zuhörern, es sei denn, du spekuliertest auf ein 109

A.Y. Collins, Markusevangelium, in: RGG4 V (2002) 842–846, 845. Vgl. auch J.M. Robinson, Messiasgeheimnis und Geschichtsverständnis. Zur Gattungsgeschichte des Markusevangeliums (ThB 81), München 1989. Robinson charakterisiert hier das Geschichtsverständnis des Markus als existentiell und die Gemeinde betreffend; gleichzeitig kritisiert er den Vergleich des zweiten Evangeliums mit der modernen Geschichtsschreibung als anachronistisch. 110 Collins, Markusevangelium (s. Anm.109) 845. 111 Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch (s. Anm. 94) 38. Vgl. M. Hengel/A.M. Schwemer, Geschichte des frühen Christentums. Band I: Jesus und das Judentum, Tübingen 2007, 230 (das Lukasevangelium als „historische Biographie“). 112  MQKPQLY?PGXRCKPQWMCK[QIQW \JVGKVQPCXNJSJMCKVQPOGV8CXRQFGKZGYLMCKVYP GBMB CUVQKL RCTGRQOGPYP UWNNQIKUOYP. Zitiert nach H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Stuttgart 2002, 5.

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Publikum mit niedrigen Instinkten (VQPUWTHGVQP) und auf den großen Haufen (VQPRQNWPFJOQP)“.113 Dass Polybios und Lukian bei den neutestamentlichen Erzählevangelien mehr als historiographische Elemente entdeckt hätten, sie gar zur Gattung der Historiographie gezählt hätten, darf man bezweifeln. Auch Vertreter der tragisch-pathetischen Geschichtsschreibung hätten Markus wohl nicht als Kollegen akzeptiert.

6.4 Fachwissenschaftliches Handbuch In ihrer Dissertation zum Prolog des Lukasevangeliums hat Loveday Alexander eine Gattungsverwandtschaft nicht nur des Prologs, sondern des ganzen Lukasevangeliums zu fachwissenschaftlicher Prosa festgestellt.114 Besonders medizinische, rhetorische und philosophische Handbücher, die oft auf Vorlesungsnotizen basierten und eine relativ provisorische, „flüssige“ Form aufweisen, seien nahe verwandt mit der ähnlichen Gebrauchsliteratur der Erzählevangelien.115 Der Hinweis auf den Fachprosa-Stil ist zu beachten, auch wenn die Handbuch-These nicht allein die Gattung Evangelium definieren kann.

6.5 Biographie Der schon erwähnte Polybios definiert eine Biographie als eine Beschreibung einer Person von ihrer Jugenderziehung an mit einer sich auf das Wesentliche beschränkenden Verherrlichung ihrer Taten, so dass der beschriebenen Person ein Denkmal gesetzt wird (10,21). Sowohl die idealisierende wie auch die didaktische Funktion wird ebenfalls schön deutlich im berühmten Anfang der Alexander-Biographie Plutarchs: „Ich schreibe nicht Geschichte (KBBUVQTKC), sondern zeichne Lebensbilder (DKQK), und hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter (JSQL) als Schlachten mit Tausenden von Toten und die größten Heeresaufgebote und Belagerungen von Städten. Wie nun die Maler die Ähnlichkeiten dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der 113 Lukian. Wie man Geschichte schreiben soll. Griechisch und deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von H. Homeyer, München 1965, 106f. 114 L.C.A. Alexander, The Preface to Luke’s Gospel: Literary Convention and Social Context in Luke 1:1–4 and Acts 1:1 (SNTS MS 78), Cambridge 1993. Vgl. C. Heil, Arius Didymus and Luke-Acts, in: NT 42 (2000) 358–393, 389f. 115 Alexander, What is a gospel? (s. Anm. 102) 23f.

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Charakter (JSQL) zum Ausdruck kommt, und sich um die übrigen Körperteile sehr wenig kümmern, so muß man es mir gestatten, mich mehr auf die Merkmale des Seelischen (VCVJL[WEJLUJOGKC) einzulassen und nach ihnen das Lebensbild (DKQL) eines jeden zu entwerfen, die großen Dinge und die Kämpfe aber anderen zu überlassen“ (Alex. 1).116 Vor allem anhand der Biographien Suetons und Plutarchs definiert sich eine antike Biographie nach Holger Sonnabend durch vier charakteristische Elemente:117 1. ein klares Schema in der Gestaltung der Lebensbeschreibung: eine im Wesentlichen chronologische Darstellung des Lebenslaufes von der Geburt bis zum Tod; 2. die Gruppierung aller Geschehnisse um die porträtierte Hauptperson; 3. die Erfassung des Lebens nach den Rubriken Herkunft und Familie, Kindheit und Jugend, Leistungen, bemerkenswerte Aussprüche, Vorzeichen des Todes, Tod; 4. eine übergeordnete Zielsetzung, nach antiken Maßstäben meist eine moralisch-didaktische Ausrichtung. Allerdings, und das ist wichtig für unsere Frage nach der Gattung der Erzählevangelien, hat es vor Sueton und Plutarch Biographien gegeben, die in ihrer Gestaltung von diesen beiden Autoren erheblich unterschieden sind.118 Dass die Erzählevangelien ihre nächste Analogie in den antiken Biographien haben, wurde in neuerer Zeit vor allem von Charles Talbert 1977 begründet.119 Diese These findet heute zunehmend Beachtung.120 Ehrman 116 Plutarch. Fünf Doppelbiographien. 1. Teil. Griechisch und deutsch (Sammlung Tusculum), übersetzt von K. Ziegler/W. Wuhrmann, Zürich 1994, 9. Vgl. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 112) 6f. 117 Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 112) 18. 118 Vgl.ebd. 119 C.H. Talbert, What is a Gospel? The Genre of the Canonical Gospels, Philadelphia (PA) 1977. Reprint in der Reihe „Reprints of Scholarly Excellence“ No. 9, Macon (GA) 1985; ders., Once again: Gospel Genre, in: Semeia 43 (1988) 53–73. 120 D.E. Aune, Greco-Roman Biography, in: D.E. Aune (Hrsg.), Graeco-Roman Literature and the New Testament: Selected Forms and Genres (SBL. Sources for Biblical Study 21), Atlanta (GA) 1988, 107–126, 122: „The Gospels […] represent an adaptation of Greco-Roman biographical conventions used to convey a life of unique religious significance for Christians“; K. Berger, Formen und Gattungen (s. Anm. 78) 403–420; R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography. Second Edition (The Biblical Resource Series), Grand Rapids (MI) 2004; D. Dormeyer/H. Frankemölle, Evangelium als literarische Gattung und als theologischer Begriff. Tendenzen und Aufgaben der Evangelienforschung im 20. Jahrhundert, mit einer Untersuchung des Markusevangeliums in seinem Verhältnis zur antiken Biographie, in: ANRW II.25.2, Berlin 1984, 1543–1704, 1581–1634; D. Dormeyer, Das Neue Testament (s. Anm. 58) 199–228 (die Evangelien als „kerygmatische Idealbiographie“); ders., Der gegenwärtige Stand der Forschung zum Markus-Evangelium und die Frage nach der historischen und gegenwärtigen Kontext-Plausibilität, in: C. Breytenbach u.a. (Hrsg.), The New Testament Interpreted (FS B.C. Lategan) (NT.S 124), Leiden/Boston 2006, 309–323, 318 („Das Mk-Ev ist eine Anti-Biographie

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schreibt in seiner schon zitierten Einleitung in das NT, die Evangelien seien der antiken Biographie analog, und zumindest der antike Leser würde die Evangelien als Biographie eines religiösen Führers rezipiert haben.121 David Aune hat 1981 die These vertreten, in der antiken Literatur bilde die anonyme Vita Aesopi die engste Analogie zur Gattung „Evangelium“.122 Auch nach Lawrence Wills123 ist die engste Parallele zum Markus- und Johannesevangelium in der griechisch-römischen Literatur die aretalogische, volkstümliche Biographie, wie sie in der anonymen Vita Aesopi vorliegt. Reinhard von Bendemann, der das Lukasevangelium mit der Vita Aesopi verglich, betont die analogen Techniken volkstümlich-biographischen Erzählens.124 Wird durch den Vergleich mit der Vita Aesopi der enkomiastisch und unterhaltende Charakter der Erzählevangelien hervorgehoben, ist aber auch der didaktische und der historische Aspekt antiker Biographien relevant. Wie antike Biographien unterrichten die Erzählevangelien über die Lehre der Hauptperson und die ihr entsprechende Jüngerschaft. Der historische Aspekt zeigt sich in den DKQK dadurch, dass ihr Protagonist im Zentrum einer entscheidenden Epoche steht. Diese Epoche kann unter Umständen weit zurückliegen, wie etwa die Parallelbiographien Plutarchs über Theseus und Romulus sowie Lykurg und Numa Pompilius zeigen. Kritisch anzumerken bleibt, dass die Biographien, die den Erzählevangelien am meisten ähneln, alle später als diese entstanden sind: Plutarch schrieb Anfang des zweiten Jh.s. In der gleichen Zeit entstand wohl die Vita Homers, die sich als Werk Herodots ausgibt. Lukians Vita des Kynikers der philosophischen Herrscherbiographien“); D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen 1997; ders., Evangelium als antike Biographie, in: Zeitschrift für Neues Testament Nr. 2 (1998) 29–39; Hengel/Schwemer, Geschichte I (s. Anm. 111) 220 („kerygmatische Biographie“), 245; Reiser, Sprache (s. Anm. 83) 102 (Die Evangelien seien „biographische Erzählungen“); U. Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese (UTB 1253), Göttingen 62005, 122–124; Theißen, Das Neue Testament (s. Anm. 95) 12 („Das Evangelium ist eine Variante des ‚Bios‘ [der antiken ‚Biographie‘], wenn auch ein Bios sehr eigenwilliger Art“); ders., Entstehung (s. Anm. 93) 84–92; D. Zeller, Konsolidierung in der zweiten und dritten Generation, in: D. Zeller (Hrsg.), Christentum I. Von den Anfängen bis zur Konstantinischen Wende (RM 28), Stuttgart 2002, 124–222, 125 („eine Art Biographie“). 121 Ehrman, The New Testament (s. Anm. 66) 54f. So schon H. Cancik, Die Gattung Evangelium. Markus im Rahmen der antiken Historiographie, in: Ders. (Hrsg.), Markus-Philologie. Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium (WUNT 33), Tübingen 1984, 85–113, 98: „Die Nicht-Juden, für die Markus schrieb, werden es als Leben Jesu verstanden haben.“ 122 D.E. Aune, The Problem of the Genre of the Gospels: A Critique of C.H. Talbert’s What is a Gospel?, in: R.T. France/D. Wenham (Hrsg.), Gospel Perspectives 2: Studies of History and Tradition in the Four Gospels, Sheffield 1981, 9–60, 44f. 123 L.M. Wills, The Quest of the Historical Gospel: Mark, John and the Origins of the Gospel Genre, London 1997. 124 V. Bendemann, Zwischen '1:$ und 56$7415 (s. Anm. 100) 359–381.

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Demonax stammt aus der zweiten Hälfte des zweiten Jh.s.125 Die Vita Aesopi kann frühestens ins zweite Jh. datiert werden,126 die DKQKMCKIPYOCK des Diogenes Laertius und die Vita Apollonii des Philostratos Anfang des dritten Jh.s.127 Bei der Vita Aesopi und der Vita Apollonii liegt zudem der Verdacht sehr nahe, dass sie von den christlichen Erzählevangelien beeinflusst wurden und die Gattungsanalogien von daher rühren.128 Außerdem bieten die Erzählevangelien keine Charakter-Darstellung. Stattdessen verbinden die Evangelien mit ihrem Protagonisten einen hohen theologischen Anspruch.129 Diese Beobachtung führte zum Vorschlag von Klaus Baltzer, dem u.a. Dieter Lührmann, Detlev Dormeyer und Helmut Koester folgten, in den alttestamentlichen Prophetenbiographien (Jer, DtJes) die nächsten Analogien zu den Erzählevangelien zu sehen.130 Die Prophetenbiographien beginnen mit der Berufung, bieten keine fortlaufende Lebensbeschreibung und auch keine Charakterentwicklung, stellen jedoch das Leiden des Propheten dar.

125 Zum Vergleich der Erzählevangelien mit Lukians DKQL des Demonax vgl. D. Balch, Evangelium (literarische Formen), in: Der Neue Pauly IV (1998) 326f., 326; H. Cancik, Bios und Logos. Formgeschichtliche Untersuchungen zu Lukians ‚Demonax‘, in: H. Cancik (Hrsg.), Markus-Philologie. Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium (WUNT 33), Tübingen 1984, 115–130. 126 Vgl. v. Bendemann, Zwischen '1:$ und 56$7415 (s. Anm. 100) 360; Holzberg, Roman (s. Anm. 106) 27. 127 Vgl. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 102) 191–196. 128 Vgl. Alexander, What is a Gospel? (s. Anm. 102) 30 (zur Vita Apollonii). Zur möglichen Beeinflussung spätantiker Texte durch christliche Literatur vgl. H.-J. Klauck, Religionsgeschichte wider den Strich – ein Perspektivenwechsel?, in: Paradigmen auf dem Prüfstand. Exegese wider den Strich (FS K. Müller) (NTA.NF 47), Münster 2004, 117–140. 129 Vgl. Alexander, What is a Gospel? (s. Anm. 102) 26f.; Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch (s. Anm. 94) 38: „Der Unterschied zu den Biographien etwa des Sueton [† 150] wird vor allem am Markus-Evangelium deutlich: Die Person des Verfassers ist nicht direkt erkennbar; das Wirken des ‚Helden‘, also Jesu von Nazareth, beginnt erst mit seinem öffentlichen Auftreten (Mk 1,9); es gibt keine fortlaufende Beschreibung des Lebens Jesu und insbesondere auch keine Darstellung seines Charakters. Vielmehr ist Mk eine – freilich erzählerisch höchst sinnvoll strukturierte – Sammlung von einzelnen in sich geschlossenen Erzählungen (‚Episoden‘). Der im Zentrum der gesamten Erzählung stehende Gesichtspunkt ist das Wirken Jesu als des Gottessohnes (Mk 1,1.11; 15,39) in seinem Handeln, Lehren, Leiden und Sterben.“ 130 K. Baltzer, Die Biographie der Propheten, Neukirchen-Vluyn 1975, bes. 184–191 („Die Evangelien als Biographien“); D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 42–44 (mit Modifikationen); Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung, 168–173 (s. Anm. 56); ders., Markusevangelium (s. Anm. 56) 119–122, 176; Koester, Ancient Christian Gospels (s. Anm. 16) 27–29.

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6.6 Roman Die Gattung des Erzählevangeliums wird von einigen in Analogie zum Alexanderroman gesehen. Dieser Text mit dem Titel %KQLMCKRTCZGKL 8$NGZCPFTQWVQW/CMGFQPQL („Leben und Taten Alexanders des Makedonen“) wurde fälschlich unter dem Namen des hellenistischen Historikers Kallisthenes (zweite Hälfte des 4. Jh.s v.Chr.) überliefert; in der uns vorliegenden Form ist der Text erst Mitte des dritten Jh.s n.Chr. zusammengestellt worden. Es ist der bekannteste biographische Roman der Antike.131 Marius Reiser schrieb dazu 1984: „In mehr als nur einer Hinsicht bildet der Alexanderroman die vielleicht engste Analogie zu den Evangelien. Nicht nur die Traditions- und Redaktionsgeschichte, auch Kompositionsund Erzähltechnik, Sprache und Stil bieten viel Vergleichbares. Und da auch der Inhalt, die Art der Quellenverarbeitung und überhaupt die Art der Darstellung große Ähnlichkeiten aufweisen, dürfte der Alexanderroman die nächste Parallele zur Gattung der Evangelien darstellen.“132 Wie der Alexanderroman seien die Evangelien romanhafte Biographien, „die nicht durch ein historiographisches Interesse bestimmt sind“.133 Reiser schränkt jedoch ein: „Allerdings spielen legenden- und märchenhafte Züge in den Evangelien bei weitem nicht die Rolle wie im Alexanderroman, und die Wundergeschichten der Evangelien haben im Alexanderroman keine Parallele. Nie erscheint Alexander dort als Wundertäter.“134 Auch Richard Pervo sah 1987 die Gattung des Erzählevangeliums mit „biographischer Roman“ angemessen charakterisiert.135 Reiser verglich 1999 noch einmal die Evangelien mit antiken Romanen, ist nun aber weit vorsichtiger.136 Das ist berechtigt, denn der Alexanderroman, wie er uns vorliegt, stammt aus dem dritten nachchristlichen Jh. Außerdem ist er eher eine Spielart der Biographie, nicht eigentlich ein Roman,

131 Vgl. R. Stoneman, The Metamorphoses of the Alexander Romance, in: G. Schmeling (Hrsg.), The Novel in the Ancient World. Revised Edition (Mn.S 159), Boston/Leiden 2003, 601– 612. 132 M. Reiser, Der Alexanderroman und das Markusevangelium, in: H. Cancik (Hrsg.), Markus-Philologie. Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium (WUNT 33), Tübingen 1984, 131–163, 131. Zu auffallenden Parallelen zwischen Evangelien und Alexanderroman in Sprache und Stil vgl.ebd., 135–143. Über die den Evangelien und dem Alexanderroman gemeinsame episodische Erzähltechnik vgl.ebd., 143–152. 133 Ebd., 159 134 Ebd. 135 R.I. Pervo, Profit with Delight: The Literary Genre of the Acts of the Apostles, Philadelphia (PA) 1987, 185 n. 5: „‚Biographical novel’ may be an appropriate characterization of the Gospel type.‘“ 136 M. Reiser, Die Stellung der Evangelien in der antiken Literaturgeschichte, in: ZNW 90 (1999) 1–27, 15–17.

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wie Reiser richtig sieht. Auch Niklas Holzberg klassifiziert den Text z.B. als „romanhafte Biographie“, aber nicht als Roman.137 Insgesamt ist gegen die Definition der Erzählevangelien als Romane einzuwenden, dass Erzählevangelien beanspruchen, historische Ereignisse zu erzählen, wenn auch weitgehend in romanhafter Form. Antike Romane dagegen präsentieren sich als fiktive Texte, auch wenn sie auf historische Ereignisse und entsprechendes Lokalkolorit anspielen.138

6.7 Bewertung Die neutestamentlichen Evangelien erfüllen jeweils die Merkmale der genannten Gattungen nicht in reiner Form.139 Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn man die Verwischung der Gattungsgrenzen am Ende des Hellenismus und zu Beginn der Kaiserzeit bedenkt: „Als Antwort auf ein wachsendes und immer differenzierteres Lesebedürfnis breiter Schichten entwickelte sich im Hellenismus eine Reihe von Formen, die eine kaum scharf abzugrenzende Randstellung zur Historiographie bzw. zur wissenschaftlichen Fachprosa einnehmen und großenteils der Unterhaltung dienen.“140 Zwischen seriöser Geschichtsschreibung und fiktionaler Unterhaltung existierten im ersten Jh. fließende Übergänge. Die zitierten Unterscheidungen von Historiographie und Biographie bei Polybios und Plutarch wurden in der Praxis nicht durchgehalten. Von daher kann man die Gattung „Erzählevangelium“ am ehesten als Analogie zur Biographie verstehen, die auch volkstümlich-romanhafte und historiographische Elemente zeigt. Indem die Evangelisten diese Gattung wählen, wecken sie bei ihren Lesern die Erwartung, einen idealen Lebensbegleiter und ein moralisches Vorbild präsentiert zu bekommen. Diese Art von Biographie hat ihre Wurzeln nicht nur in der griechischrömischen Literatur, sondern auch in der Bibel: Die hebräische Bibel enthält Prophetenbiographien (Jer, DtJes) und bindet biographische Geschichtszyklen – z.B. über Josef (Gen 37–50), Simson (Ri 13–16) und ElƋa (1 Kön 17 – 2 Kön 1) – in ein großes religiöses, ethisches und nationales 137

Holzberg, Roman (s. Anm. 106) 28f. Vgl. Holzberg, Roman (s. Anm. 106) 34; Reiser, Sprache (s. Anm. 83) 101: „Aus paganer Sicht konnte man die Evangelien […] entweder in die Gattung der Romane einordnen oder in die Tradition der Memoirenliteratur. Da sich die Evangelien durch ihren grundsätzlich nichtfiktionalen Charakter deutlich von den Romanen abheben, kam eigentlich nur letzteres in Frage.“ 139 Zur inklusiven literarischen Form der Erzählevangelien vgl. Aune, Greco-Roman Biography (s. Anm. 120) 123f. 140 B. Effe (Hrsg.), Hellenismus (Die griechische Literatur in Text und Darstellung 4), Stuttgart 1985, 292. 138

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Werk ein.141 Dies ist zu sagen gegenüber einer problematischen These Theißens: Mit den Erzählevangelien „gibt sich das Urchristentum eine eigene Grunderzählung und scheidet aus der Erzählgemeinschaft des Judentums aus“142. Während Q und die Paulusbriefe noch literarische Analogien im Judentum hätten, gehörten die Erzählevangelien zum antiken DKQL und hätten außer Philos Vita des Mose keine eigentlichen Analogien im frühjüdischen Schrifttum.143 Auch wenn es keine rabbinischen Biographien gibt, ignoriert Theißen das intensive biographische Interesse der hebräischen Bibel und des Judentums; von daher ist die These falsch. Marius Reiser, Loveday Alexander und andere haben darauf hingewiesen, wie sehr die Erzählevangelien literarisch auch und vor allem in der jüdischen Tradition stehen.144

7. Die Gattung „Evangelium“ Angesichts der Differenzierung in verschiedene Untergattungen muss noch einmal grundsätzlicher die Frage gestellt werden, was ein Evangelium ist. Im Folgenden möchte ich einige möglichst weit gefasste, aber doch deutliche Kriterien formulieren: 7.1 Evangelien haben die Worte und/oder Taten Jesu von Nazaret zum Inhalt.145 Die Sprüche und Episoden können im irdischen Leben Jesu oder in den Erscheinungen des Auferstandenen verortet sein. 7.2 Evangelien zeichnen sich formal durch lose verbundenen Episodenstil aus. Justin nennt daher die Evangelien ganz richtig CXRQOPJOQPGWOCVC (Apol. I 66,3; 67,3), verschriftlichte anekdotische Erinnerungen. Einen

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Vgl. Alexander, What is a Gospel? (s. Anm. 102) 27. G. Theißen, Evangelienschreibung und Gemeindeleitung. Pragmatische Motive bei der Abfassung des Markusevangeliums, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann) (BZNW 97), Berlin 1999, 389–414, 391. Vgl. ders., Entstehung (s. Anm. 93) 86f. 143 Theißen, Das Neue Testament (s. Anm. 95) 12: „Auffällig ist: Nirgendwo im Judentum ist eine Literaturgattung so sehr auf eine Person ausgerichtet wie in den Evangelien. […] Dagegen waren in der nichtjüdischen Welt Lebensbeschreibungen verbreitet. Schon die Form der Evangelien zeigt somit, dass das Urchristentum an der Schwelle zwischen Judentum und Heidentum stand.“ 144 Alexander, What is a Gospel? (s. Anm. 102) 27–29; J.C. Paget, The Four among Jews, in: M. Bockmuehl/D.A. Hagner (eds.), The Written Gospel, Cambridge 2005, 205–221, 206; Reiser, Sprache (s. Anm. 83) 102: „Literaturgeschichtlich ordnen sich die Evangelien mit ihrer Erzählweise […] nicht in die pagane, sondern in die jüdische Tradition ein.“ 145 Schon Papias (Fragment II 15) hat das, was Markus aufgeschrieben hat, so gekennzeichnet: VCWBRQVQWMWTKQWJ NGESGPVCJ RTCESGPVC („das, was vom Herrn sei es gesagt, sei es getan worden war“); vgl. Lindemann/Paulsen, Apostolische Väter (s. Anm. 26) 294f. 142

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großen Anteil der evangelischen Episoden nehmen Apophthegmen,146 ungerahmte Jesusworte und Gleichnisse ein, was wiederum einen hohen Anteil direkter Rede bzw. Dialog bedingt. 7.3 Evangelien vertreten eine theologische Absicht. Diese kerygmatische Intention kann in der Darstellung des erlösenden Leidens Jesu als Sohn Gottes liegen, aber auch in der Verkündigung und Vergegenwärtigung der Königsherrschaft Gottes durch den eschatologischen Propheten, Weisheitslehrer und Menschensohn Jesus. Das Übernatürliche wird nicht auf Distanz gehalten wie in den meisten griechischen Biographien und Geschichtswerken;147 die Evangelien gestalten im Gegenteil die Überlieferung von Jesus unmittelbar aus der Perspektive des Glaubens an ihn und wollen „so eben nicht nur Erzählung, sondern zugleich und vor allem Verkündigung sein“.148 7.4 Evangelien entstammen konkreten kirchlichen Situationen und wollen auf diese einwirken. Ihr „Sitz im Leben“ liegt in den ortsfesten christlichen Gemeinden seit dem Ende des ersten Jh.s, die sich ihres Ursprungs in Jesus Christus und ihrer aktuellen Identität durch schriftliche Urkunden versichern wollen. Dies geschieht durch die Verschriftlichung von mündlichen Überlieferungen, was nicht nur sozusagen „konservatives Sammeln“ bedeutet, sondern „aktive, kirchenpolitische“ Redaktion. Mit Theißen kann man fünf dieser pragmatischen Aspekte der Gattung Evangelium unterscheiden:149 – Konsensbildung aufgrund schon vorhandener Jesusüberlieferungen; – Steuerung der Außenbeziehungen bzw. des Verhaltens zur Umwelt; – Selbstdefinition der christlichen Gemeinde in Beziehung zu ihrer Herkunftsreligion; – Konfliktregulierung im Innern der Gemeinde; – Autoritätsstruktur an der Spitze der Gemeinde. Diese konkrete geschichtliche Verankerung unterscheidet Evangelien u.a. von den antiken Romanen, deren primäres pragmatisches Ziel die Unterhaltung ist. Wir können also mit folgender Definition schließen: Texte der Gattung „Evangelium“ haben Worte und Taten Jesu von Nazaret zum Inhalt und zeichnen sich formal durch lose verbundenen Episoden- und Anekdotenstil mit einem hohen Anteil direkter Rede aus. Ferner werden Texte der Gattung „Evangelium“ durch eine theologische und eine konkrete kirchliche Absicht charakterisiert.

146 Vgl. Bultmann, Geschichte (s. Anm. 3) 8–72; Ebner/Heininger, Exegese (s. Anm. 102) 202–204. 147 Alexander, What is a Gospel? (s. Anm. 102) 29. 148 Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch (s. Anm. 94) 39. 149 Theißen, Evangelienschreibung (s. Anm. 142) 390–392.

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7.5 Evangelien müssen sich nicht notwendig selbst als „Evangelium“ bezeichnen; umgekehrt gibt es Texte, die sich zwar „Evangelium“ nennen, die Gattungskriterien jedoch nicht erfüllen. Das Evangelium Veritatis aus Nag Hammadi z.B. wäre also nach unseren Kriterien kein Evangelium.

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'KJIJUKL nach Lukas Zwischen historiographischem Anspruch und biographischem Erzählen

Was macht einen „wirklichen Historiker“ aus? Nach Joachim Fest sind in erster Linie „Überblick, Assoziationsvermögen, der Sinn für Zusammenhänge, Urteilskraft sowie schließlich auch die schriftstellerische Qualität“1 zu nennen, Eigenschaften bzw. Qualitäten, die auch den Autor kennzeichnen, der in den Jahren zwischen 70 und 90 n.Chr. einem Theophilus zweiNQIQKgewidmet hat, die im Folgenden als lukanisches Doppelwerk bezeichnet und verstanden werden.2 Die doppelte Widmung (Lk 1,3; Apg 1,1) und der Rückverweis3 der Apostelgeschichte auf einen RTYVQP NQIQP(Apg 1,1) legen neben vielen anderen sprachlichen und literarischen Beobachtungen eine Zusammengehörigkeit der beiden Bücher nahe. Dem Autor – nennen wir ihn um der einfacheren Verständigung willen „Lukas“ – wird häufig ein historiographischer4 Anspruch zugesprochen.5 Damit sind 1 J. Fest, Noch einmal: Abschied von der Geschichte. Gedanken zur Entfremdung von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, in: F.A.Z. Nr. 213 vom 13. September 2006, 39–40, hier 39. Die erneute Veröffentlichung seiner Anmerkungen zur Historiographie erfolgte im Kontext des Gedenkens seines Todes am 11. September 2006. 2 Der hier vorgelegte Beitrag soll einen Einblick in die vom Verfasser in Mödling vorgetragenen Kurzreferate sowie in die Diskussionen des Arbeitskreises „Das lukanische Doppelwerk und die hellenistische Geschichtsschreibung“ gewähren. Den zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern danke ich für vielfältige Beiträge und Anregungen im Rahmen der Tagung der Arbeitsgemeinschaft katholischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler. 3 Rückverweise auf vorausgegangene Werke sind in historiographischer und biographischer Literatur häufiger zu beobachten; vgl. u.a. Polyb., Hist II 1 (mit kurzer Inhaltsangabe des ersten Buchs); Diod. S., passim; Jos., Ap 1,1 (mit Verweis auf Ant 2,1–7); 1,47 (mit Verweis auf Bell); vgl. auch Ant 8,1; 13,1; 14,1 oder 15,1 (mit Rückblicken auf die jeweils vorausgehenden Bücher). Zu „‚linking‘ passages toward the beginning of each new book“ im Werk des Diod. S. vgl. auch D.P. Moessner, „Managing“ the Audience. Diodorus Siculus and Luke the Evangelist on Designing Authorial Intent, in: R. Bieringer/G. Van Belle/J. Verheyden, Luke and His Readers (FS für A. Denaux) (BEThL 182), Leuven 2005, 61–80, bes. 74–75. 4 Zum Spektrum „historiographischer“ Texte vgl. u.a. J. Cancik, Die Funktion der jüdischen Bibel für die Geschichtsschreibung der Christen in der Antike, in: J. Ebach (Hrsg.), Bibel und Literatur, München 1995, 19–29, 19: „Unter dem Namen ‚Historiographie‘ wird eine Vielzahl unterschiedlicher Arten von Texten zusammengefaßt: administrative Texte, Inventare zur Verwaltung der Beute oder Verluste, wissenschaftliche Texte (Chronographie, Genealogie, Sammlung von Omina, Geographie, Ethnographie), erzählende ‚Literatur‘, also die ‚höhere Historiographie‘, oft ‚eigentliche Geschichtsschreibung‘ genannt, d.h. Erzählungen von wirklichen Begebenheiten,

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'KJIJUKL nach Lukas

auf der Seite von Leserinnen und Lesern Erwartungen verbunden, die sich mit Paul Ricœur so formulieren lassen: „Der Leser eines historischen Textes erwartet, daß der Autor ihm eine ‚wahre Erzählung‘ vorlegt und keine Fiktion. So stellt sich die Frage, ob, wie und bis zu welchem Punkt dieser stillschweigende Pakt bei der Lektüre von der Geschichtsschreibung eingehalten werden kann.“6 Damit ist die Frage nach der Repräsentation von Vergangenheit aufgeworfen. Auch Lukas unternimmt Interpretationen der RTCIOCVC, die er überliefert, und vermittelt in seinem Werk keinen direkten, sondern einen primär theologisch vorstrukturierten Zugang zur Vergangenheit.7 Sein Weg ist das Erzählen.8 Eine Vergleichbarkeit zu historiographidie durchsetzt sind mit erfundenen Reden und mit Schilderungen, die Staunen oder Furcht erregen sollen [...]. Hinzu kommen theoretische Textpartien in Geschichtswerken oder selbständige Abhandlungen, die Ziel und Methoden der Historiographie untersuchen oder einzelne Autoren interpretieren und kritisieren“; M. Völkel, Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive (UTB 2692), Köln 2006, 67: „[...] eine Fülle von vergangenheitsbezogenen Textformen: Inschriften, Königslisten, Omen, Prophezeiungen bis hin zu Chroniken, historischen Epen und Novellen, ja Biographien“. Für die römischer Geschichtsschreibung zugrunde liegenden Dokumente vgl. auch die von F. Pina Polo aufgestellte Liste (ders., Die nützliche Erinnerung: Geschichtsschreibung, mos maiorum und die römische Identität, in: Hist. 53 [2004] 147–172, hier 161): „Die Archive aristokratischer Familien; die laudationes funebres; offizielle und private Ehreninschriften; fasti consulares; vielleicht carmina convivalia […]; das Archiv der Senatsentscheidungen; sowie Reden in contiones, geschmückt mit historischen exempla. Außerdem […] Statuen und öffentliche Denkmäler“. 5 Vgl. u.a. D. Timpe, Römische Geschichte und Heilsgeschichte (Hans-Lietzmann-Vorlesungen; Heft 5), Berlin 2001, 41f: Der Autor des lk Doppelwerks „konzipiert aus eigener Erkenntnis und eigenem Entschluß eine FKJIJUKLVYPRTCIOCVYP, eine von ihm selbst in eigener Verantwortung geformte und geordnete, mit Überzeugungsabsicht vorgetragene, werbende Darstellung eines ereignishaften Sachverhalts. Literarische Form (1), Individualität des Autors (2) und Öffentlichkeit seines Wirkens als Schriftsteller (3) sind damit diejenigen Aspekte, die das lukanische Werk gegenüber allen bisherigen christlichen Schriften kennzeichnen, aber auch die Beziehung zur Historiographie herstellen.“ 6 P. Ricœur, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit (Centre Marc Bloch; Heft 1), Münster 2002, 7. Vgl. auch ders., Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit, München 1991, 253: „[...] haben wir mit dem Begriff der Repräsentanz oder Vertretung gearbeitet, wodurch angedeutet werden sollte, daß die Konstruktionen der Geschichte die Absicht haben, Rekonstruktionen zu sein, die den Forderungen eines Gegenüber Genüge tun“; vgl. auch a.a.O. 223.243. 7 Vgl. J. Schröter, Überlegungen zum Verhältnis von Historiographie und Hermeneutik in der neutestamentlichen Wissenschaft, in: P. Pokorný/J. Roskovec (Hrsg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 191–203, 195f; vgl. auch J. Marincola, Authority and Tradition in Ancient Historiography, Cambridge 1997, 6f: „Now historical narrative, as it first appears in Herodotus and continues to Ammianus (and beyond), is a largely third-person account that employs some element of creative imitation or representation (mimesis) to portray the actions, thoughts, intentions, and words of characters who are presumed, with more or less certainty, to have really existed and acted so [...]. Historiography differs from epic, however, in that it also contains commentary on the narrative by the historian himself: here the narrator employs an ‚artificial authority‘ by which he interprets the events in his work for the readers, and explicitly directs the reader to think in a certain manner.“

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schen Werken der Antike besteht u.a. darin, dass „die historische Erzählung auf der Basis des historischen Materials die Vergangenheit in der Gegenwart vertritt“9. Mit Silvia Hagene kann dabei auf folgende Faktoren aufmerksam gemacht werden: „Die Besonderheit des ‚historischen‘ gegenüber dem ‚allgemeinen‘ Erzählen resultiert aus drei Faktoren, der Erinnerung, der Kontinuität als die den inneren Zusammenhang garantierenden Zeitverlaufsvorstellung und schließlich der Identität als Selbstvergewisserung der historisch Erzählenden.“10 Zusammenhangsbewusstsein und die Vermittlung von Kontinuitätsbewusstsein – vor allem im Blick auf die Glaubensgeschichte Israels – spielen insbesondere für das lukanische Doppelwerk eine zentrale Rolle.

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Vgl. aus der Fülle der Arbeiten zum lk Doppelwerk als Erzähltext K. Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, Bd. I: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse, Stuttgart 1997, Bd. II: Der Weg Jesu, Stuttgart 2006; C.G. Müller, Mehr als ein Prophet. Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk (HBS 31), Freiburg i. Br. 2001; A. Cornils, Vom Geist erzählen. Analysen zur Apostelgeschichte (TANZ 44), Tübingen/Basel 2006; U.E. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie (NTOA/StUNT 58), Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 2006. 9 J. Schröter, Lukas als Historiograph. Das lukanische Doppelwerk und die Entdeckung der christlichen Heilsgeschichte, in: E.-M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 237–262, 250. Das kommt nach J. Rüsen in einer „Dialektik von Konstruiertheit und Konstruktion“ zum Ausdruck; so in ders., Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: J. Schröter/A. Eddelbüttel (Hrsg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (TBT 127), Berlin 2004, 19–32, hier 28. Vgl. auch E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven (ThLZ Forum; Heft 8), Leipzig 2003, 41; K. Backhaus, Lukas der Maler: Die Apostelgeschichte als intentionale Geschichte der christlichen Erstepoche, in: Ders./G. Häfner (Hrsg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), NeukirchenVluyn 2007, 30–66, 59: „Dem konstruktiven Moment lukanischer Literatur werden wir gerecht, indem wir sie als kreative Rekonstruktion lesen, d.h. als eine Großerzählung, die (für modernes Maß) relativ weite fiktionale Spielräume zulässt, aber gerade mittels solcher imaginativen Vergegenwärtigung geschichtlichen Referenzanspruch erhebt.“ 10 S. Hagene, Zeiten der Wiederherstellung. Studien zur lukanischen Geschichtstheologie als Soteriologie (NTA NF 42), Münster 2003, 61 (in Anlehnung an die Arbeiten von J. Rüsen); vgl. auch a.a.O. 67. J. Assmann spricht von „sinnstiftende(r) Kohärenzfunktion“; ders., Die Erzählbarkeit der Welt. Bedingungen für die Entstehung von Geschichte im Alten Orient (Report Nr. 7/95 der Forschungsgruppe „Historische Sinnbildung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Struktur, Logik und Funktion des Geschichtsbewußtseins im interkulturellen Vergleich“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld), Bielefeld 1995, hier 1f.

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1. Das historiographische Ansprüche nahe legende Proömium in Lk 1,1–4 Dem lukanischen Erzähltext vorgeschaltet ist ein ausführliches Vorwort11, in dem Absichten und Arbeitsweisen des Autors erkennbar werden (sollen).12 „Während […] das Proömium der Apostelgeschichte deutlich auf das Lukasevangelium zurückverweist, ist dasjenige des Lukasevangeliums in erster Linie auf dieses selbst bezogen und blickt nur ansatzweise auf dessen Fortsetzung voraus.“13 Darin findet ein für unsere Fragestellung zentraler Begriff Verwendung; denn „[...] wer gleich im kausalen Vordersatz das Wort RTCIOCVC= Ereignisse liest, den gängigen Begriff für Geschichte, und dann im weiteren Verlauf des Proömiums auf zahlreiche Motive stößt, die in den Proömien griechischer und lateinischer Historiker eine ehrwürdige Tradition haben, der tut Lukas gewiß kein Unrecht, wenn er ihn als Historiker nimmt und davon ausgeht, daß er sich selbst als Historiker oder vielleicht besser: auch als Historiker verstanden hat.“14 Zu den Besonderheiten der kunstvoll gestalteten Satzperiode Lk 1,1–4 gehören vor allem die verwendeten Adverbien, die einen Eindruck von der Arbeitsweise und von den Ansprüchen des Autors vermitteln. Hier ist in erster Linie das in Lk 1,3 11 Ein rascher Übergang vom Vorwort zum Erzähltext, wie er in der Abfolge von Lk 1,1–4 zu Lk 1,5 zu beobachten ist, begegnet auch bei anderen Autoren; vgl. u.a. Polyb., Hist II 1. 12 Zur breiten Diskussion um lk Vorworte vgl. u.a. die Arbeiten von L. Alexander, bes.: The Preface of Luke’s Gospel, Literary Convention and Social Context in Luke 1.1–4 and Acts 1.1 (MSSNTS 78), Cambridge 1993; dies., The preface to Acts and the historians, in: B. Witherington III (Hrsg.), History, Literature, and Society in the Book of Acts, Cambridge 1996, 73–103; dies., The Acts of the Apostles as an Apologetic Text, in: M. Edwards u.a. (Hrsg.), Apologetics in the Roman Empire. Pagans, Jews, and Christians, Oxford 1999, 15–44; dies., Formal Elements and Genre. Which Greco-Roman Prologues Most Closely Parallel the Lukan Prologues?, in D.P. Moessner (Hrsg.), Jesus and the Heritage of Israel. Luke’s Narrative Claim upon Israel’s Legacy, Harrisburg, PA 1999, 9–26, sowie D.D. Schmidt, Rhetorical Influences and Genre. Luke’s Preface and the Rhetoric of Hellenistic Historiography, in: D.P. Moessner (Hrsg.), Jesus (a.a.O.) 27–60; D. Dormeyer, Des Josephus zwei suasoriae (Übungsreden) Über das Volk der Juden. Die beiden Vorworte (Proömien) Contra Apionem 1:1–5; 2:1–7 und die beiden Vorworte Lukas 1,1–4; Acta 1,1–14, in: MJSt 10 (2000) 241–261; M. Hengel, Der Lukasprolog und seine Augenzeugen: Die Apostel, Petrus und die Frauen, in: S.C. Barton/L.T. Stuckenbruck/B.G. Wold (Hrsg.), Memory in the Bible and Antiquity. The Fifth Durham-Tübingen Research Symposium (Durham, September 2004) (WUNT 212), Tübingen 2007, 195–242. Es gilt, auch bei der Beschäftigung mit lk Vorworten hinsichtlich des Gebrauchs von Proömien einen in jüngerer Zeit häufiger vorgetragenen Hinweis zu beachten; vgl. u.a. D.E. Aune, Luke 1.1–4: Historical or Scientific Prooimion?, in: A. Christophersen u.a. (Hrsg.), Paul, Luke and the Graeco-Roman World (FS für A.J.M. Wedderburn) (JSNT.S 217), Sheffield 2002, 138–148, 148: „[...] it begins to appear increasingly plausible that the distinction between historical and scientific prooimia is in reality a false dichotomy“; L. Alexander, Elements (s.o.). Zu denken ist u.a. an die Vorworte medizinischer Arbeiten (z.B. Corpus Hippocraticum, Über die Lebensweise I,1ff; Über die Medizin I,1) oder an diverse Arbeiten Plutarchs (vgl. z.B. Mor 146B–C). 13 J. Schröter, Lukas (s. Anm. 9) 245. 14 K. Rosen, Der Historiker und die Evangelien, in: JTGG 1997, 17–34, 17.

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verwendeteMCSGZJLzu nennen (vgl. im NT auch Lk 8,1; Apg 3,24; 11,4; 18,23). „An allen Stellen belegt es den Entschluß zu einer geordneten, im engeren Sinn chronologischen Darstellung der Abfolge von Ereignissen.“15 Der Autor hat sich – so Walter Radl in seinem ausgesprochen hilfreichen Kommentar – „eine gründliche Darstellung vorgenommen. So ist er von vorn (CPYSGP) allem (RCUKP) genau (CXMTKDYL) nachgegangen (RCTJMQNQWSJMQVK), um es in geordneter Folge (MCSGZJL) niederzuschreiben. Sein Werk unterscheidet sich damit inhaltlich (CPYSGP,RCUKP) und formal (CXMTKDYL, MCSGZJL) von den V 1 genannten Schriften.“16 Er scheut sich nicht, sich mit Vorgängern zu vergleichen, sich von diesen zu unterscheiden und einen eigenen Anspruch deutlich werden zu lassen.17 Über den verarbeiteten Quellenschriften und aufgenommenen Traditionen18 dürfen deshalb das persönliche Werk und die schriftstellerische Leistung des einzelnen neutestamentlichen Verfassers nicht vergessen werden, was vor allem die redaktionsgeschichtliche Methode deutlich ins Bewusstsein gebracht hat. Nach dem Bericht des Lukas stehen am Anfang der Überlieferung über Jesus Christus nicht anonyme Gemeinden, sondern „Augenzeugen und Diener des Wortes“ (Lk 1,2) und an ihrem Abschluss Werke, die – wie das vorgelegte – als durchaus eigenständige, schriftstellerische Leistung bezeichnet werden können. „Wenn sich Lukas im Vorwort [...] der Konvention griechischer Schriftsteller angleicht, dann denkt er dabei offenbar an Leser, die mit diesen literarischen Gepflogenheiten vertraut sind und sie zu schätzen wissen. Und wie die profane Sprache des Vorworts vermuten läßt, rechnet er nicht nur mit christlichen Adressaten. Sein Proömium ist so offen formuliert, daß es auch Nichtchristen oder der christlichen Gemeinde Nahestehende interessieren kann. Neben der Selbstvergewisserung innnerhalb des gemeindlichen Leserkreises haben die lukanischen Schriften zweifellos auch eine werbende Funktion.“19 Bei der Lektüre des Proömiums und des ab Lk 1,5 folgenden Erzähltextes wird Lesern schnell erkennbar, dass das Werk auch historiographischen Ansprüchen genügen will.

15

S. Hagene, Zeiten (s. Anm. 10) 32. W. Radl, Das Evangelium nach Lukas. Kommentar. Erster Teil: 1,1 – 9,50, Freiburg i. Br. 2003, 31. 17 Zum Vorgängerbezug vgl. u.a. Livius, Ab urbe condita, Vorrede; XXI 1 u.a. Zur Abgrenzung von Vorgängern vgl. auch Diod. S. I 1,3; Dion. Hal., Ant Rom I 8,3; Jos., Vit 40.360. Die von C. Ferone (Der Prolog des Lukasevangeliums [1,1–4] und die griechische Geschichtsschreibung, in: Gym. 109 [2002] 323–329) in Lk 1,1–4 konstatierte Polemik gegenüber den „vielen“ ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Vgl. auch R. Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids, MI 2006, 123. 18 Dabei sind nicht nur Markusevangelium, Logientradition und lk Sondergut zu nennen, sondern auch mündliche Traditionen zu bedenken. 19 W. Radl, Lk I (s. Anm. 16) 26. 16

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Gleichzeitig knüpft der Autor an biblische Erzähltradition an. Das wird bereits an der Vorstellung erkennbar, dass die erzähltenRTCIOCVCals „Erfüllung“ (Lk 1,1) zu deuten sind. „Lukas möchte Lesern den Eindruck einer kontinuierlichen Folge der Geschehnisse vermitteln. Was sich hier im Ansatz zeigt, wird später im Gesamtwerk deutlich: die Kontinuität der Heilsgeschichte.“20 Der Autor hält die vorgestellte Komposition für die angemessene, mit ihr will er „heilige Geschichte“ schreiben, was schon rein sprachlich die ausgeprägte Septuaginta-Mimesis belegt.21 Bei solchen Anknüpfungen fallen markante Unterschiede zur griechischen und römischen Geschichtsschreibung ins Auge.22 „Eine vergleichbare Konzentration auf unter Menschen geschehene Ereignisse ist in der israelitischen Geschichtsschreibung nicht anzutreffen. Zwar wird auch hier – etwa im deuteronomistischen Geschichtswerk – durchaus davon berichtet, wie Menschen in der Geschichte handeln. Dass der Gott Israels Herr des Geschehens bleibt, steht dabei gleichwohl nie in Frage.“23 Geschichtsschreibung erfolgt in Israel 20

W. Radl, Lk I (s. Anm. 16) 33. Vgl. u.a. A. Wifstrand, Luke and the Septuagint (1940), in: Ders., Epochs and Styles. Selected Writings on the New Testament, Greek Language and Greek Culture in the Post-Classical Era, hrsg. von L. Rydbeck/S.E. Porter, translated from the Swedish Originals by D. Searby (WUNT 179), Tübingen 2005, 28–45; E. Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9), Göttingen 1972, 38–72; C.A. Evans, Luke and the Rewritten Bible: Aspects of Lucan Historiography, in: J.H. Charlesworth/C.A. Evans, The Pseudepigrapha and Early Biblical Interpretation (JSPE.S 14), Sheffield 1993, 170–201; L. Alexander, Septuaginta, Fachprosa, Imitatio: Albert Wifstrand and the Language of Luke-Acts, in: C. Breytenbach/J. Schröter (Hrsg.), unter Mitwirkung von D.S. Du Toit, Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung (FS für E. Plümacher) (Ancient Judaism & Early Christianity 57), Leiden/Boston 2004, 1–26. 22 Vgl. u.a. A.D. Baum, Zu Funktion und Authentizitätsanspruch der oratio recta. Hebräische und griechische Geschichtsschreibung im Vergleich, in: ZAW 115 (2003) 586–607, 586: „Anders als in den Werken der griechisch-römischen Historiker finden sich in den Büchern der altorientalischen (einschließlich der alttestamentlichen) Geschichtsschreiber [...] keinerlei Reflexionen über den literarischen Zweck und den historischen Anspruch der zahlreichen Reden und Dialoge“; a.a.O. 589: „Die Geschichtswerke der Griechen enthielten normalerweise keine dramatischen Dialoge. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zur alttestamentlichen Geschichtsschreibung“. Eine Ausnahme bildet Herodot; von daher meint Baum (ebd.): „Das Stilmittel des Dialogs dürfte Herodot demnach aus der altorientalischen Erzähltechnik bzw. Geschichtsschreibung übernommen haben“. 23 J. Schröter, Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums: Reflexionen zur christlichen Geschichtsschreibung aus neutestamentlicher Perspektive, in: Ders./A. Eddelbüttel (Hrsg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (TBT 127), Berlin 2004, 201–219, 204. Zu Geschichtsüberblicken in atl Texten vgl. vor allem Ri 2,11–23; Ps 78; Dan 2; 7f; 9,24–27; 10–12, Geschichtssummarien bieten u.a. Dtn 26,5–10a; Jos 24,2–13; Neh 9,6–37; Jdt 5,5–21; Ps 105; Ps 106; Ps 136; Ez 20. Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem die Arbeit von J. Jeska, Die Geschichte Israels in der Sicht des Lukas. Apg 7,2b–53 und 13,17–25 im Kontext antik-jüdischer Summarien der Geschichte Israels (FRLANT 195), Göttingen 2001. Im Bereich frühjüdischer Literatur sind Jub 1; 23; Hen 85–90; 4 Esra 3,4–36; 6,38–59; 14,28–35; syr Bar 56–74 und die Fragmente jüdisch-hellenistischer Histori21

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auch nicht „als Kriegsgeschichte oder als rein politisch verfaßte Geschichte, sondern ist eingebunden in eine religiöse Dimension: Geschichte wird zum Begegnungsraum mit Gott, Geschichtsschreibung ist zugleich Geschichtstheologie.“24

2. Historiographische Mitgift Nimmt man nicht allein das Proömium Lk 1,1–4 in den Blick, sondern unterstellt, dass auch der Gesamttext des lk Doppelwerks historiographische Ansprüche erhebt, so scheint es mir – in der hier gebotenen Kürze – zunächst angeraten, einige Grundanliegen antiker Historiographie und einzelne Elemente ihrer literarischen Arbeitsweise zu benennen, die für die Auslegung des lk Textes erhellend wirken können. Verschafft man sich einen Überblick über die historiographischen Arbeiten der Antike, die heute noch greifbar sind und von denen angenommen werden kann, dass sie auch auf spätere Werke Einfluss hatten, so sind vor allem Herodot,25 Thukydides, Xenophon und Polybios zu nennen. „Geschichtsschreibung als Institution, die [...] Kontinuitätsbewußtsein stiftet, indem sie kontinuierlich darstellt, was nicht schon dargestellt ist, bildet sich in Griechenland an der Schwelle vom 5. zum 4. Jh. v.Chr. Die griechische Historiographie beginnt in der Zeit von Hekataios von Milet bis Xenophon, das heißt: von der zweiten Hälfte des 6. Jh. v.Chr. bis zur ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts.“26 Einige Grundanliegen antiker Historiographen werden in der Folgezeit weitertradiert und dürften auch die historiographischen Ansprüche eines Lukas gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. beeinflusst haben. Im Rahmen dieses Beitrags können nur einige (wenige) Beispiele benannt werden. Herodot wollte verhindern, dass Taten, insbesondere die in ihrer Bedeutung außergewöhnlichen Taten von Griechen und Nichtgriechen, aus dem Gedächtnis geraten. Von daher ist der Aspekt der „Erinnerung“ für seine ker zu nennen; zu Demetrius, Eupolemus oder Artapanus vgl. auch G.E. Sterling, Historiography and Self-Definition. Josephos, Luke-Acts and Apologetic Historiography (NT.S 64), Leiden 1992. Auf Josephus (bes. Bell 5,379–412; Ant 3,86–87) kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. 24 S. Hagene, Zeiten (s. Anm. 10) 55. 25 Vgl. zu Herodot u.a. R. Bichler/R. Rollinger, Herodot, Hildesheim 2000; G.E. Sterling, Historiography (s. Anm. 23) 34–53; O. Kaiser, Von den Grenzen des Menschen. Theologische Aspekte in Herodots Historiai I, in: U. Becker/J. van Oorschot (Hrsg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?! Geschichtsschreibung oder Geschichtsüberlieferung im antiken Israel (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte; Bd. 17), Leipzig 2005, 9–36. 26 B. Meißner, Anfänge und frühe Entwicklungen der griechischen Historiographie, in: E.M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 83–109, 83f.

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Arbeit von zentraler Bedeutung. Schon die ersten Zeilen seines Werkes bringen das zum Ausdruck: „Dies ist die Darlegung der Forschungen von Herodot aus Halikarnass, die den Zweck verfolgt, dass weder das von Menschen Vollbrachte mit der Zeit in Vergessenheit gerate, noch das, was an Großem und Wunderbarem von Griechen und Barbaren gezeigt wurde, ohne Nachruhm bleibe, und den weiteren Zweck, anzugeben, aus welchem Grund sie gegeneinander Krieg führten“ (I 1).

Bei Herodot findet sich eine Fülle von ‚Erzählgut‘ (er verbindet Ethnographie, Geographie und Geschichtsschreibung). „Zu dieser Fülle gelangte er durch sein Auswahlkriterium, nicht nur das faktisch Wahre berichten zu wollen, sondern überhaupt zu erzählen, was man erzählt“27. Thukydides spricht ausdrücklich von der CXMTKDGKC, die uns als Adverb CXMTKDYLauch in Lk 1,3 begegnet,28 von der Sorgfalt in der Beurteilung jedes einzelnen Falles. Dieser „Anspruch bezieht sich auf die kritische Prüfung der umlaufenden konkurrierenden Versionen“.29 In seinem Methodenkapitel „überträgt Thukydides (1,22,1–2) die CXMTKDGKC aus der Gerichtspraxis auf die Geschichtsschreibung, für die es seiner Meinung nach geboten ist, mit der gleichen Präzision vorzugehen.“30 Von den Dichtern (RQKJVCK)grenzt sich Thukydides ausdrücklich ab, d.h. von „Verfassern von Liedern, in denen es auf sprachlich-musikalischen Schmuck ankomme; zum anderen von den sogenannten Logographen, Verfassern von Prosaerzählungen, bei deren Darbietungen es eher auf den Gewinn der Zuneigung der Hörer ankomme als auf die Wahrheit.“31 In der LukasForschung spielt Thukydides vor allem wegen der von ihm entworfenen Reden eine zentrale Rolle. Ausdrücklich thematisiert er den Unterschied 27 M. Völkel, Geschichtsschreibung (s. Anm. 4) 43; vgl. auch O. Kaiser, Grenzen (s. Anm. 25) 11: „Geschichte ist erinnerte Vergangenheit, sie aber lebte für Herodot noch wesentlich im NQIQLNGIQOGPQL, in der mündlichen Erzählung. Wo er auf unterschiedliche NQIQK gestoßen war, gab er sie in der Regel wieder, teils ohne eigene Stellungnahme, teils mit knapper, teils mit begründender Zustimmung oder Ablehnung“ (mit Verweis auf II 20–25 u.a. Beispiele). 28 Vgl. u.a. E. Plümacher, Stichwort: Lukas, Historiker, in: ZNT 9 (2006) Heft 18, 2–8, 2: „Die beträchtliche Übereinstimmung, die in Topik und Vokabular zwischen lukanischem Prooemium und Thukydides’ Methodenkapitel besteht, ist deutlich genug, um das literarische Selbstverständnis des Lukas zu enthüllen: Ganz offensichtlich wollte auch er Historiker sein.“ 29 B. Meißner, Anfänge (s. Anm. 26) 98. Nach Meißner (ebd.) „ist es dieser Anspruch des Thukydides auf geprüfte Wahrheit in der Darstellung derGTIC, der Taten, in dem man eine methodische Innovation sehen kann, die über Herodot hinausgeht“; vgl. auch a.a.O. 100: DieCXMTKDGKC „kulminiert in Urteilen, das heißt Entscheidungen: Unter konkurrierenden Versionen werden die richtigen ermittelt, unter konkurrierenden Erklärungen die passenden ausgewählt, scheinbare von wahren Motiven getrennt.“ Vgl. auch A.D. Baum, Lukas als Historiker der letzten Jesusreise, Wuppertal/Zürich 1993, 128–135. 30 S. Hagene, Zeiten (s. Anm. 10) 31. 31 B. Meißner, Anfänge (s. Anm. 26) 97; ebd.: „Nur, soweit GXRKHCPGUVCVCUJOGKC, klar beobachtbare Indizien, vorliegen, läßt sich Altes behandeln“ (mit Verweis auf I 21,2; 20,1).

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zwischen Reden (Q=UCOGPNQIY^GKRQP) und Taten (VCFXGTICVYP RTCESGPVYP). „Nur die letzteren unterliegen der Erforschung mittels derCXMTKDGKC, die Reden werden dagegen von ihm selbst verfasst, um damit der jeweiligen geschichtlichen Situation Ausdruck zu verleihen.“32 Er selbst gibt zu verstehen (vgl. I 22,1), dass es schwierig sei, den exakten Wortlaut einer Rede im Gedächtnis zu behalten, und hält für sein Werk fest: „Wie aber meiner Meinung nach jeder Einzelne über den jeweils vorliegenden Fall am ehesten sprechen musste, so sind die Reden wiedergegeben unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten (JBBZWORCUC IPYOJVYPCXNJSYLNGESGPVYP).“

Xenophon beginnt seine Hellenika mit einem uns vertrautenOGVCFGVCWVC. Hellenika I 1,1 lautet: /GVCFGVCWVCQWXRQNNCKLJBOGTCKLW=UVGTQPJNSGPGXZ 8$SJPYP:WOQECTJLGEYPPCWLQXNKICL. War noch für Thukydides Kontinuität „der Zusammenhang [...] einer Ereignisfolge, derjenigen des Peloponnesischen Krieges“,33 so spannt Xenophon „in das Kontinuum einer permanent zu schreibenden Geschichte sein eigenes Werk ein“.34 Den dargestellten Ereignissen folgen andere; für ihn ergibt sich daraus immer neu die Aufgabe, Geschichte zu schreiben. Bei der Klassifizierung antiker historiographischer Werke unterscheidet man häufig eine pragmatische Richtung, zu der Polybios zu rechnen ist, von der sog. mimetischen Historiographie. Letzterer zufolge (Duris von Samos, Phylarch u.a.)35 „kann der Sinn der Geschichte gerade durch verlebendigende Nachahmung (OKOJUKL) des Geschehens verdeutlicht werden.“36 Arbeiten der mimetischen Richtung dürften einflussreich gewesen sein. „Wie die ironische Auseinandersetzung Lukians mit denjenigen Historikern zeigt, die sich nicht unparteiisch an dem tatsächlich Geschehenen orientieren, waren die mimetischen, zum Sensationalistischen neigenden Geschichtsdarstellungen wohl die Regel, die von Thukydides und Polybios vertretene ‚pragmatische‘ Richtung dagegen die Ausnahme.“37

32

J. Schröter, Konstruktion (s. Anm. 23) 206. B. Meißner, Anfänge (s. Anm. 26) 84. 34 B. Meißner, Anfänge (s. Anm. 26) 85. 35 Vgl. auch E. Plümacher, Stichwort (s. Anm. 28) 5: „Deren Ziel war die packende Gestaltung anschaulicher, lebenswahrer Bilder, die den Leser fesseln sollten wie eine Theaterszene“ (mit Hinweisen auf weitere Vertreter). 36 J. Schröter, Konstruktion (s. Anm. 23) 206f. 37 J. Schröter, Konstruktion (s. Anm. 23) 207. Lukians Untersuchung „Wie man Geschichte schreiben soll“ wird im vorliegenden Beitrag nur am Rand gestreift, da sie erst im 2. Jh. n.Chr. verfasst und veröffentlicht wurde; vgl. allerdings den Beitrag von C.K. Rothschild, Luke-Acts and the Rhetoric of History. An Investigation of Early Christian Historiography (WUNT II/175), Tübingen 2004, 81–86. 33

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Für römische Geschichtsschreiber stellte sich die Frage, „wieviel von dem bereitstehenden formal wie inhaltlich griechischen Muster übernommen werden konnte oder sollte und wieviel dementsprechend selbst zu entwickeln war.“38 Etwa eine Generation nach Cato (234–149 v.Chr.), der in seinen Origines zuweilen noch auf die Nennung von Namen verzichten konnte, bietet Polybios „in seiner Rom-orientierten Universalgeschichte regelmäßig Charakterskizzen der führenden Männer [...]. Später erkannte Cicero die Bedeutung des Individuums für den Ablauf des Geschehens und verlangte dessen Berücksichtigung durch den Historiker (De Oratore II 63)“:39 „consilia primum, deinde acta, postea eventus“. Der Geschichtskonzeption des Polybios kann eine ausgeprägte „Bildungsabsicht“40 zugeschrieben werden.41 „Die Historiai sind für Griechen geschrieben, um ihnen das römische politische System zu erklären und für Römer, um ihnen die stoische Tugend der Mäßigung gegenüber den lokalen griechischen Partnern nahezulegen.“42 Polybios ist dabei von der Überzeugung geprägt, „die durch den Historiker mitgeteilten Erfahrungen anderer könnten mit weniger Nachteilen als eigene Erfahrungen es erleichtern, in eigenen Situationen das jeweils Bessere zu bestimmen.“43 In diesem Zusammenhang kommt nicht nur geltenden Normen und etablierten Konventionen Bedeutung zu, sondern auch einzelnen Beispielen (RCTCFGKIOCVC,exempla).44 „Das RCTCFGKIOCsoll als Muster ähnlichen Handelns in ähnlichen Situationen 38 A. Mehl, Geschichtsschreibung in und über Rom, in: E.-M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 111–136, 116. 39 F. Römer, Biographisches in der Geschichtsschreibung der frühen römischen Kaiserzeit, in: E.-M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 137–155, 138. 40 B. Meißner, 24$*/$6,-+,5614,$: Polybios über den Zweck pragmatischer Geschichtsschreibung, in: Saec. 37–38 (1986/87) 313–351, 317; ebd.: „Polybios bezeichnet als Ziel der Lektüre historischer Werke den Erwerb von Wissen über Handlungen der Vergangenheit.“ 41 Polybios setzt sich sehr kritisch mit Phylarch auseinander (Hist II 56–63) und grenzt sich von dessen Arbeiten ab. 42 M. Völkel, Geschichtsschreibung (s. Anm. 4) 54f. Werke römischer Geschichtsschreibung erschienen bis in die Zeit eines Cato in griechischer Sprache; vgl. dazu F. Pina Polo, Erinnerung (s. Anm. 4) 153: „Fabius Pictor wollte Rom der Welt vorstellen und schrieb auf Griechisch, um seine Botschaft einem breiten, gebildeten Publikum zu vermitteln, das auch einen kleinen Teil der römischen Elite einschloß.“ Zu den frühen römischen Historikern vgl. vor allem die von H. Beck/U. Walter hrsg., übersetzten und kommentierten Bände „Die Frühen Römischen Historiker“, Bd. I: Von Fabius Pictor bis Cn. Gellius (TzF 76), Darmstadt 2001, und Bd. II: Von Coelius Antipater bis Pomponius Atticus (TzF 77), Darmstadt 2004. 43 B. Meißner, Polybios (s. Anm. 40) 326; vgl. auch a.a.O. 324: „Daß Historie erklären solle, rechtfertigt der Nutzen, den Ursachenwissen verschafft, die Steigerung praktischer Erfolgsgewißheit.“ Meißner betont (ebd.), dass Polybios den Nutzen praktischer Belehrung gegenüber einer bloßen Unterhaltungsfunktion ausdrücklich heraushebe. 44 Vgl. B. Meißner, Polybios (s. Anm. 40) 338.

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dienen.“45 Darauf wird im Kontext des exemplarischen Erzählens bei Lukas zurückzukommen sein.

3. Der Begriff FKJIJUKL Lukas dürfte nicht einer bestimmten Richtung der antiken Historiographie zuzuordnen sein; vielmehr zeigen Topik und Vokabular Anleihen in recht unterschiedliche Richtungen. Auffällig ist in Lk 1,1–4 der verwendete Begriff FKJIJUKL, der wohl nicht nur für die Werke derer herangezogen wird, die in vergleichbarer Weise vor Lukas tätig waren. „Die Bezeichnung FKJIJUKL für ein Geschichtswerk ist durchaus üblich.“46 Hier ist vor allem auf die Verwendung des Begriffs bei Diodorus Siculus (XI 20,1: JBFKJIJUKLGXRKVCLRTCZGKL), Polybios (Hist I 13,9: VQWVQPICTVQPVTQRQP UWPGEQWLIKPQOGPJLVJLFKJIJUGYL) oder Dionysios von Halikarnassos (Ant Rom I 7,4: RGTKVKPYPRQKQWOCKRTCIOCVYPVJPFKJIJUKP; I 8,2–3) zu verweisen (vgl. auch Lukian, Quomodo historia conscribenda sit 55: MCKGWXCIYIQLGUVYJBGXRKVJPFKJIJUKPOGVCDCUKL).47 Im Bereich biblischer und frühjüdischer Literatur sind 2 Makk 2,32; 6,17; Sir 6,35; 27,11.13; 39,2 und Josephus (Bell 7,42: RQKJUYOCKVJPFKJIJUKP)zu nennen. Im weiten Feld biographischer Literatur ist vor anderen auf Plutarch zu verweisen, der diesen Begriff für seine erzählenden Arbeiten mehrfach einsetzt.48 45 B. Meißner, Polybios (s. Anm. 40) 338. Vgl. auch die Angaben Meißners (ebd.) zu RCTCFGKIOCbei Platon, Aristoteles und Thukydides. In diesem Zusammenhang ist auch die berühmt gewordene Stelle in Ciceros De orat II 36 zu nennen: „Historia vero, testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis […]“; vgl. außerdem Livius, Ab urbe condita, Vorrede 10: „Das ist vor allem beim Studium der Geschichte das Heilsame und Fruchtbare, dass man belehrende Beispiele jeder Art auf einem in die Augen fallenden Monument dargestellt findet“. 46 S. Hagene, Zeiten (s. Anm. 10) 30; vgl. auch H. Cancik, The History of Culture, Religion, and Institutions in Ancient Historiography: Philological Observations Concerning Luke’s History, in: JBL 116 (1997) 673–696, 674 Anm. 5: „'KJIJUKL(narrative) according to Hermogenes (Progymnasmata, chap. 2) also describes the historical work of Herodotus: individual narratives are FKJIJOCVC.“ Bereits Aristoteles konstatiert in seiner Rhetorik (Rhet 1417b): „An vielen Stellen muss man eine Erzählung einflechten und bisweilen nicht gleich am Anfang. In der Staats(Volks)rede findet sich die Erzählung am seltensten, weil niemand über Zukünftiges eine Erzählung vorbringt, sondern – sofern etwa eine Erzählung vorkommt – wird es eine von bereits geschehenen Dingen sein, damit die, die sich daran erinnern, sich besser über das, was später erfolgen soll, beraten können.“ 47 Zur Verwendung entsprechender Begriffe in der antiken Rhetorik (Quintilian [bes. Inst Orat II 4,2]; Theon [bes. Progymnasmata V, 4: 5VQKEGKCFGVJLFKJIJUGYL]) bzw. im RhetorikUnterricht; vgl. auch T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin 2006, 147–151. 48 Vgl. Plutarch, Biographien des Crassus 35 (2): Q=RGTJBOCLGXPVJ^FKJIJUGKRCTGNJNWSG; Lykurg 1: RGTKVQWCXPFTQLCXRQFQWPCKVJPFKJIJUKP; Nikias 1; Kimon 2,3; 3,3: C?LQWXECNGRQPGXM

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Wenn der Autor des Lukasevangeliums von seinem Werk als FKJIJUKL(„Erzählung“; „Bericht“)49 spricht, bleibt freilich zu bedenken, dass „die mehrfache synonyme Verwendung des VerbumsFKJIGQOCK, einerseits neben MJTWUUY(Lk 8,39), andererseits als Parallele zu CXRCIIGNNY (8,36; 9,36; dagegen Mk 5,16; 9,9: FKJIGQOCK) darauf schließen lässt, „daß auch mitFKJIJUKL‚Glaubensverkündigung in der Form des Erzählens‘ gemeint ist.“50

4. Biographisches Erzählen In den vergangenen Jahrzehnten wurde in exegetischen Arbeiten zum Neuen Testament verstärkt51 diskutiert, inwiefern sich die neutestamentlichen Evangelien der biographischen Literatur der Antike zuordnen oder gar als Biographien kennzeichnen lassen.52 Auch wenn sich eine bloße Gattungszuweisung bzw. -kennzeichnung „Biographie“ als wenig hilfreich53 erwieVJLFKJIJUGYLCWXVJLUWPCICIGKP; Agis 2. Zu beachten ist auch die Verwendung des entsprechenden Verbums FKJIGKUSCKbei Plutarch oder Dionysios von Halikarnassos (z.B. Ant Rom I 8,2–3). 49 Vgl. zur Verwendung dieses Begriffs auch die grundsätzliche Anmerkung von D.D. Schmidt, Influences (s. Anm. 12) 59: „Luke’s preface suggests obvious influences from the rhetorical conventions of Hellenistic historiography. That makes Luke a writer of ‚historical‘ narrative, but not necessarily a ‚historian‘. Luke-Acts appropriately belongs within the rather wide spectrum of ‚Hellenistic historiography‘.“ 50 W. Radl, Lk I (s. Anm. 16) 28. 51 Vgl. bereits C.W. Votaw, The Gospels and Contemporary Biographies, in: AJT 19 (1915) 45–73.217–249. 52 Ich verweise u.a. auf die Arbeiten von D.L. Barr – J.L. Wentling, The Conventions of Classical Biography and the Genre of Luke Acts: A Preliminary Study, in: Ch.H. Talbert (Hrsg.), Luke-Acts. New Perspectives, New York 1984, 63–88; R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography (MSSNTS 70), (Cambridge 1992) Grand Rapids (MI) 2 2004; D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen/Basel 1997; R. Riesner, Das lukanische Doppelwerk und die antike Biographie, in: D. Dormeyer/H. Mölle/T. Ruster (Hrsg.), Lebenswege und Religion. Biographie in Bibel, Dogmatik und Religionspädagogik (Religion und Biographie 1), Münster 2000, 131–144; D. Dormeyer, Plutarchs Cäsar und die erste Evangeliumsbiographie des Markus, in: R. von Haehling (Hrsg.), Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung, Darmstadt 2000, 28–52; ders., Augenzeugenschaft, Geschichtsschreibung, Biographie, Autobiographie und Evangelien in der Antike, in: J. Schröter/A. Edelbüttel (Hrsg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (TBT 127), Berlin/New York 2004, 237–261; C.G. Müller, Prophet (s. Anm. 8) passim; D. Wördemann, Das Charakterbild im bíos nach Plutarch und das Christusbild im Evangelium nach Markus (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums. Neue Folge I/19), Paderborn 2002; A. Pilgaard, The Classical Biography as Model for the Gospels, in: D. Brakke u.a. (Hrsg.), Beyond Reception. Mutual Influences between Antique Religion, Judaism, and Early Christianity (Early Christianity in the Context of Antiquity; Bd. 1), Frankfurt a. M. 2006, 209–226. 53 Vgl. u.a. M. Reiser, Die Stellung der Evangelien in der antiken Literaturgeschichte, in: ZNW 90 (1999) 1–27.

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sen hat, ist wohl kaum zu bestreiten, dass sich in literarischer Hinsicht eine Fülle von Vergleichbarkeiten der Evangelien mit biographischen Texten der alttestamentlichen und frühjüdischen Literatur, aber auch mit anderen griechischen und lateinischen Texten beobachten lassen, die für die Analyse und Auslegung neutestamentlicher Evangelien nicht unberücksichtigt bleiben sollten. Eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen wird Detlev Dormeyers oszillierend wirkendes Urteil „Lukas ist nicht nur ein Historiker; er ist wie Plutarch ein Biograph [...]. Lukas kennzeichnet deutlich sein erstes Buch als Biographie. Er vermeidet allerdings die Gattungsbezeichnung ‚Bios‘“54 nicht übernehmen wollen; allerdings wird darin auf einen für die hier geführte Diskussion entscheidenden Faktor aufmerksam gemacht: zum weiten Spektrum antiker historiographischer Literatur ist auch die Literatur zu zählen, die mit dem Begriff DKQL bzw. DKQK überschrieben werden kann.55 Zwar wurde schon in der Antike auf „Unterschiede in Zielsetzung und Präsentationsweise“56 beider Textbereiche hingewiesen;57 dennoch lassen sich vielfältige „Überschneidungen“ nicht von der Hand weisen,58 vor allem im Bereich der Charakterzeichnung bzw. Charakterpräsentation. Das wurde bereits oben bei den von Polybios vorgelegten Arbeiten erkennbar;59 es wird 54

D. Dormeyer, Augenzeugenschaft (s. Anm. 52) 245. Vgl. auch M. Zimmermann, Enkomion und Historiographie: Entwicklungslinien der kaiserzeitlichen Geschichtsschreibung vom 1. bis zum frühen 3. Jh. n.Chr., in: Ders. (Hrsg.), Geschichtsschreibung und politischer Wandel im 3. Jh. n.Chr. Kolloquium zu Ehren von Karl-Ernst Petzold (Juni 1998) anlässlich seines 80. Geburtstags (Hist. Einzelschriften 127), Suttgart 1999, 17–56, bes. 44. Das wird auch im Blick auf die historiographische Literatur unserer Tage erkennbar; vgl. den Literaturbericht „Die schwierige Königsdisziplin. Das biografische Genre hat immer noch Konjunktur“ von V. Ullrich in: Die Zeit Nr. 15 vom 4. April 2007, 51: „Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass Biographien den Markt der historischen Literatur mittlerweile klar dominieren […]. Zum einen zeigt sich darin der Überdruss an einer Geschichtsschreibung, die über der scharfen Analyse von Strukturen und Prozessen die Menschen als Subjekte ihrer Geschichte ganz aus dem Blick verlor. Zum anderen hat das Verlangen nach biographischer Literatur wohl auch etwas mit gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen vor und nach der Jahrhundertwende zu tun.“ 56 F. Römer, Biographisches (s. Anm. 39) 137. Zu verweisen ist u.a. auf Polyb., Hist X 21,8; Corn. N., Vit XVI (Pelopidas 1) oder Luc., Quomodo historia conscribenda sit. 57 H. Sonnabend (Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Stuttgart/Weimar 2002, 4) ist der Meinung, „dass es in der Antike eine strikte Trennung zwischen Biographie und Historiographie gegeben hat“; hier scheint mir eine angemessenere Differenzierung angeraten. Sonnabend selbst kommt (a.a.O. 21–31) auf biographische Passagen in den Werken des Herodot und des Thukydides zu sprechen. 58 Vgl. auch R. Bauckham, Historiographical Characteristics of the Gospel of John, in: NTS 53 (2007) 17–36, 18: „Nevertheless, partly because the bios itself was a very flexible and developing genre, the line between biography and historiography was porous and moveable.“ 59 H. Sonnabend (Geschichte [s. Anm. 57] 5) grenzt nach meiner Einschätzung zu stark ab, wenn er behauptet: „Polybios unterscheidet […] deutlich Biographie und Historiographie als zwei literarische Gattungen mit jeweils eigenen Gesetzen.“ Wenige Seiten später (a.a.O. 9) konstatiert er jedoch selbst, dass „die antike Biographie wohl zu keinem Zeitpunkt eine literarische Gattung mit festen formalen und stilistischen Gesetzen gewesen ist“, und weist im weiteren Verlauf seiner 55

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vielleicht noch stärker in den Biographien eines Plutarch60, aber auch bei Sueton und Tacitus wahrnehmbar. Die Biographien des Plutarch61 von Chaironeia62 (etwa 50–120 n.Chr.) führen zeitlich in die unmittelbare Nähe der Entstehungszeit zahlreicher neutestamentlicher Texte. Von daher soll auf Plutarch an dieser Stelle etwas ausführlicher eingegangen werden, um seine Texte bei der Frage nach der Zuordnung von Biographien zur historiographischen Literatur als Vergleichsmaterial heranzuziehen. Plutarch steht für eine personenbezogene Historiographie. In seinen späteren Lebensjahren verfasste er mindestens 48 Biographien.63 Als Einzelbiographien sind die über Aratos, Artoxerxes, Galba und Otho erhalten; als Besonderheit antiker Literatur ausgesprochen interessant sind die 22 Paare Darstellung (a.a.O. 146) darauf hin, „dass die Biographie noch in der mittleren Kaiserzeit nicht zu einer einheitlichen literarischen Form gefunden hatte.“ 60 Vgl. dazu ausführlicher C.G. Müller, Prophet (s. Anm. 8) 31–42. 61 Vgl. auch die Arbeiten von D.A. Russell, On Reading Plutarch’s Lives, in: GaR (2. Ser.) 13 (1966) 139–154; C.B.R. Pelling, Plutarch’s Adaption of Source-Material, in: JHS 100 (1980) 127–140; Plutarch: Roman Heroes and Greek Culture, in: M. Griffin/J. Barnes (Hrsg.), Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, Oxford 1989, 199–232; Truth and Fiction in Plutarch’s Lives, in: D.A. Russell (Hrsg.), Antonine Literature, Oxford 1990, 19–52; Childhood and Personality in Greek Biography, in: Ders. (Hrsg.), Characterization and Individuality in Greek Literature, Oxford 1990, 213–244; Plutarch and Thucydides, in: P. Stadter (Hrsg.), Plutarch and the Historical Tradition, London 1992, 10–40; The Moralism of Plutarch’s Lives, in: D. Innes/H. Hine/C. Pelling (Hrsg.), Ethics and Rhetoric (FS für D. Russell), Oxford 1995, 205–220; A. Georgiadu, Idealistic and Realistic Portraiture in the Lives of Plutarch, in: ANRW II 33.6 (1992) 4616–4623; T. Duff, Plutarch’s Lives. Exploring Virtue and Vice, Oxford 1999; H.M. Martin, Plutarch, in: S.E. Porter (Hrsg.), Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period 330 B. C. – A. D. 400, Leiden 1997, 715–736; B. Ahlrichs, „Prüfstein der Gemüter“. Untersuchungen zu den ethischen Vorstellungen in den Parallelbiographien Plutarchs am Beispiel des Coriolan, Hildesheim 2005 u.a. 62 Die Stadt Chaironeia liegt in Böotien; in der Kimon-Biographie (1,2) nennt sie Plutarch seine „Vaterstadt“ (zur Stadtgeschichte vgl. Kimon 1–2; Sulla 16), für die er sich auch politisch engagierte. Plutarch hat Chaironeia, von Ausbildungsjahren in Athen – vor allem bei Ammonios (vgl. dazu H.M. Martin, Plutarch [s. Anm. 61] 717) – und ausgedehnten Reisen durch die Aegaeis sowie nach Kleinasien, Alexandrien in Ägypten und Italien abgesehen, so gut wie nie verlassen; in der Demosthenes-Biographie (2,2) stellt er selbstironisch (für mich freilich leicht nachvollziehbar) fest: „Ich jedoch, der ich eine kleine Stadt bewohne und, damit sie nicht noch kleiner wird, gern in ihr verweile [...]“. 63 Zur biographischen Technik Plutarchs vgl. u.a. F. Leo, Die griechisch-römische Biographie nach ihrer literarischen Form (Leipzig 1901), unveränderter Nachdruck: Hildesheim 1965; A. Dihle, Studien zur griechischen Biographie (AAWG. PH; dritte Folge, Nr. 37), Göttingen 21970; ders., Das Evangelium und die griechische Biographie, in: P. Stuhlmacher (Hrsg.), Das Evangelium und die Evangelien. Vorträge vom Tübinger Symposium 1982 (WUNT 28), Tübingen 1983, 383–413; ders., Die Entstehung der historischen Biographie (SHAW.PH Jahrgang 1986, Bericht 3), Heidelberg 1987; ders., Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Justinian, München 1989; A. Momigliano, The Development of Greek Biography. Expanded Edition, Cambridge, MA 1993; B. Scardigli, Die Römerbiographien Plutarchs, München 1979; Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Essays on Plutarch’s Lives, Oxford 1995, 1–46.

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von Doppelbiographien64, die er dem Sosius Senecio65 gewidmet66 hat. Auch wenn diese 22 Paare derDKQKRCTCNNJNQKheute als Sammlung vorliegen, sollte beachtet werden, dass Plutarch eine Doppelbiographie als jeweils ein DKDNKQPversteht.67 In seiner Arbeitsweise und Zielsetzung grenzt er sich in den Biographien von der Geschichtsschreibung im engeren Sinn (KBUVQTKC) ab.68 Das gibt Plutarch in der Biographie des Alexandros (1,2) deutlich zu verstehen, wenn er schreibt: „Denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder [...] (QWVGICTKBUVQTKCLITCHQOGPCXNNCDKQWL)”. Ihm geht es in den Biographien, für die er sehr häufig den Terminus DKQL69 verwendet, darum, Wissenswertes über eine Person – die Fülle des historischen Materials veranlasst ihn zur Auswahl und zur Zusammenfassung70 – zu entdecken71 und für die Erinnerung72 festzuhalten, dabei allerdings nicht in erster Linie um aufsehenerregende Taten, sondern mehr um die kleine Begebenheit (RTCIOCDTCEW), ein Wort (TBJOC) oder einen Scherz (RCKFKC), die 64

Plutarch verwendet den Terminus DKQKRCTCNNJNQK; vgl. die Biographien des Demosthenes 3; Kimon 2; Theseus 1; Pelopidas 2; Dion 2; Vergleichung Gracchen 41 (1). 65 Q. Sosius Senecio war ein enger Vertrauter Kaiser Trajans, mehrfacher Konsul und ein zu seiner Zeit berühmter General. Im Jahr 107 war er zum zweiten Mal Konsul; wohl schon zuvor hatte er sich in der römischen Kolonie Patrae angesiedelt und lebte später beständig dort. Zur Widmung an Q. Sosius Senecio vgl. auch S.C.R. Swain, Hellenic Culture and the Roman Heroes in Plutarch, in: JHS 110 (1990) 126–145, 129. 66 Die Widmung wird von Plutarch in den Biographien des Theseus (1,1: Y5QUUKG 5GPGMKYP), des Demosthenes (1,1:Y5QUUKG5GPGMKYP; 31,7:Y5QUUKG) und des Dion (1,1: Y5QUUKG 5GPGMKYP) angesprochen. Auch an anderen Stellen ist Sosius Senecio der direkt Angeredete; vgl. das „Du“ in der Biographie des Agis (2). Freilich ist dieses „Du“ zugleich offen für weitere Leser; vgl. z.B. die Leseranrede in Solon 19; Alexandros 1. Auch wenn Sosius Senecio klarer als der von Lukas in seinen Vorworten angesprochene Theophilus als historische Gestalt konturiert werden kann, lässt sich doch auch für Plutarch festhalten, dass er über diese Figur das Idealziel der Lektüre seines Werkes entwirft. Q. Sosius Senecio ist über die Biographien hinaus Empfänger weiterer Schriften Plutarchs, z.B. der Arbeiten „de profectibus in virtute“ und „quaestiones convivales“. Vergleichbare Widmungen sind auch im Werk des Josephus (vor allem Ap 1,1; 2,1f.) oder bei Philo (Omn Prob Lib [mit Verweis auf einen vorausgehenden Band]) zu beobachten. 67 Vgl. Plut., Alex 1,1; Demosth 3,1; Pericl 2,5; Demetr 1,7; Dion 1; Pelop 2. 68 Zur Abgrenzung von der Geschichtsschreibung vgl. auch G. Schneeweiß, Gegenstand und Absicht in den Biographien Plutarchs, in: M. Suerbaum/F. Maier (Hrsg.), Festschrift für F. Egermann, München 1985, 147–162; B. Scardigli, Introduction (s. Anm. 63) 10. 69 Vgl. z.B. Plut., Alex 1; Fab Max 28; Pericl 2; Demosth 31; Kim 1; 2; 5 und viele weitere Stellen. 70 Vgl. Plut., Alex 1,1; vgl. auch Pomp 8,6; Nik 1,5; Aem 1; Galb 2,3 und die Erwähnungen seiner Helden in den Moralia. Zur Auswahl des historischen Materials vgl. auch J. Geiger, Plutarch’s Parallel Lives: The Choice of Heroes, in: Hermes 109 (1981) 85–104, 93; G. Schneeweiß, Gegenstand (s. Anm. 68) 147f. Plutarch sah sich allerdings nicht gehindert, auch zusätzliches (vgl. Artaxerx 8,1) oder weithin unbekanntes historisches Material in seine Darstellungen einzubeziehen (vgl. Nik 1,5). 71 Vgl. Plut., Aem 1. 72 Vgl. Plut., Kim 2,3; vgl. auch Cic 50; Eumen 20 (1); Romul 30 (1).

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in seinen Augen oft ein deutlicheres Abbild eines Charakters liefern.73 Plutarch scheint demnach an der einen oder anderen Stelle seiner DKQKbesorgt zu sein, dass seine Arbeiten zu stark an Idealen historiographischer Arbeit gemessen würden.74 Eine solche Sorge ist freilich nur dann begründet, wenn es ein hohes Maß an Übereinstimmungen in den unterschiedenen literarischen Feldern gibt. Außerdem gilt auch für die explizit historiographische Literatur: „[…] the historical writings, from the time of Thucydides onward, contain numerous biographical elements and sections“.75 Plutarchs biographische Arbeiten sind durchaus auch im Bereich der Historiographie anzusiedeln (vgl. die Biographie des Aemilius Paulus, Proömium).76 Ein markanter Unterschied, der beim Bemühen um Abgrenzung (jedenfalls für Plutarch) ins Spiel kam, kann in dem jeweils zugrunde gelegten Material erkannt werden. In den Biographien – so Plutarch – habe er bewusst auch abgelegeneres Material verwendet, wie er in der Biographie des Nikias (1,5) bekennt.77 Biographische Literatur der Antike sollte man aus den benannten Gründen nicht allzu scharf von historiographischer Literatur abgrenzen.78 Darauf weist auch Samuel Byrskog hin, wenn er konstatiert: „Ancient bioi could be more or less encomiastic. Their genre did not exist as a clearly defined literary entity and was never sharply distinguished from other genres such as historiography.“79 Wenn Plutarch vom Charakter seiner Protagonisten oder von Charakterzeichnung spricht, verwendet er vor allem die TerminiJSQL80 und VTQRQL.81 Grundsätzlich will er historisches Material82 übermitteln, das für die Er73

Vgl. Plut., Alex 1,2; vgl. auch Cato minor 24; 37,5; Phoc 5,4. Vgl. S. Byrskog, Performing the Past: Gospel Genre and Identity Formation in the Context of Ancient History Writing, in: S.-W. (A.) Son (Hrsg.), History and Exegesis (FS für E. Earle Ellis), New York/London 2006, 28–44, 39f. 75 S. Byrskog, Performing (s. Anm. 74) 40. 76 Vgl. auch P. Desideri, The Meaning of Greek Historiography of the Roman Imperial Age, in: E.N. Ostenfeld, with the assistance of K. Blomqvist and L. Nevett, Greek Romans and Roman Greeks. Studies in Cultural Interaction, Aarhus 2002, 216–224, 218. 77 Vgl. auch C.B.R. Pelling, Plutarch and Thucydides (s. Anm. 61) 10. 78 Das ergibt sich vor allem bei der Lektüre der entsprechenden Primärliteratur; vgl. u.a. Dionysios von Halikarnassos, der von seinen Arbeiten (Ant Rom I 8,3) sagt:CXRQFGKMPWOKVQP CXTECKQPDKQPVJLRQNGYL. 79 S. Byrskog, Performing (s. Anm. 74) 38; vgl. a.a.O. 39: „History is not alien to the biographical tendency, but integral to it.“ Hinsichtlich des lk Proömiums hält Byrskog (a.a.O. 42) fest: „[…] the Lukan prologue suggests that the Gospel authors regarded their narratives as biography and history in conjunction.“ 80 Vgl. z.B. Plut., Alex 1; 5; Marcus Cato 3; 7; 16; Pericl 4; 36; 38; Mor 2F; 4A; 38B und viele andere Stellen. Plutarch verwendet auch das Verb JXSQRQKGY; vgl. Pericl 2; Them 2; Dion 9. 81 Vgl. z.B. Plutarch, Marcus Cato 3; 16; Pericl 39; Demosth 3; 4; 11; 12; Mor 33F. 82 Zu den Quellen Plutarchs vgl. u.a. J. Geiger, Choice (s. Anm. 70); B. Scardigli, Introduction (s. Anm. 63) 2–27. Zur Verwendung von Inschriften vgl. C.B.R. Pelling, Truth (s. Anm. 61) 25. 74

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kenntnis von JSQL undVTQRQL eines Menschen von Bedeutung scheint. Auf dieses für ihn zentrale Anliegen kommt Plutarch in den Biographien relativ häufig zu sprechen, z.B. in Nikias (1,5): „[...] Da es nun aber nicht möglich ist, die von Thukydides und Philistos dargestellten Ereignisse einfach zu übergehen, da sie ja vorzugsweise den Charakter und die von vielen schweren Schicksalsschlägen überdeckte Wesensart des Mannes in sich enthalten, so habe ich sie nur kurz, und soweit es eben notwendig war, berührt, um nicht ganz oberflächlich und träge zu erscheinen, mich aber bemüht, die Dinge, die den meisten unbekannt, aber bei anderen Autoren da und dort aufgezeichnet oder auf alten Weihegeschenken oder Urkunden über Volksbeschlüsse zu Tage gekommen sind, zusammenzutragen, nicht um unnützen geschichtlichen Ballast anzuhäufen, sondern um Material, das für die Erkenntnis des Charakters und der Sinnesart (RTQLMCVCPQJUKPJSQWLMCKVTQRQW) eines Menschen von Wert ist, zu übermitteln.“

Plutarch vergleicht seine Arbeit mit der von Malern (Y=URGTQWPQKBB \Y^ITCHQK),83 die die Ähnlichkeiten (QBOQKQVJVGL) dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der Charakter eines Menschen zum Ausdruck komme.84 In einer vergleichbaren Weise will sich Plutarch auf die Merkmale (UJOGKC) der Seele85 einlassen und daraus das Lebensbild eines jeden entwerfen (MCKFKCVQWVYPGKXFQRQKGKPVQPGBMCUVQWDKQP).86 Er will ein Bild zeichnen, in demJSQL undVTQRQL eines Menschen ansichtig werden;87 dieses Bild ist in seinen Augen wertvoller als eines, das nur Körper und Gesicht eines Menschen zeigt,88 wenngleich Standbilder und Porträts in Plutarchs Augen bei guter Ausführung durchaus in der Lage sind, etwas vom Charakter eines Menschen zu offenbaren. Dennoch sagen für ihn Taten mehr aus als Statuen.89 Der Aufbau einer plutarchschen Biographie lässt sich etwa so beschreiben: Umfassende Kapitel über Kindheit und Jugend90 des Dargestellten, die 83

Vgl. auch Plutarch, Kimon 2,4; Mor 243C. In diesem Zusammenhang vgl. G. Schneeweiß, Gegenstand (s. Anm. 68) 152. Die Rede vom Malen eines Lebensbildes ist auch bei anderen antiken Autoren biographischer Literatur anzutreffen; vgl. z.B. Corn. Nep., Vit XV, Epaminondas 1,3: „Cum autem exprimere imaginem consuetudinis atque vitae velimus Epaminondae [...]“. 84 Vgl. Plut., Alex 1,3. Vgl. in diesem Kontext auch die Texte bei C.G. Müller, Prophet (s. Anm. 8) 314f. 85 Vgl. auch Plut., Cato minor 24: JXSYPUJOGKC. 86 Vgl. Plut., Alex 1,3; Cato minor 24,1. 87 Vgl. Plut., Kim 2,3; Mar 2. Zu entsprechenden Schulübungen zur Darstellung von JSJvgl. Quint., Inst Orat VI 2,17: „non parum significanter etiam illa in scholis JSJdixerimus, quibus plerumque rusticos, superstitiosos, avaros, timidos secundum condicionem positionum effingimus; nam si JSJ mores sunt, dum hos imitatur, ex his ducimus orationem.“ 88 Vgl. Plut., Kim 2,3. 89 Vgl. Plut., Demetr 30. 90 Vgl. zur Bedeutung solcher Kindheitserzählungen in biographischer Literatur u.a. C.G. Müller, Prophet (s. Anm. 8) 43–46 und die Beispiele im Exkurs E.V. „Kindheitsgeschichten bei

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von Herkunft, Veranlagung und Erziehung erzählen, bilden in der Regel91 den Anfang.92 Auf die Darstellung der Herkunft oder Erzählungen aus der Kindheit und Jugend folgt in Plutarchs Biographien ein lockerer Hauptoder Mittelteil, der sich auf Worte und Taten konzentriert, die im militärischen, politischen oder privaten Bereich anzusiedeln sind. Dabei kommt Plutarch häufig auch auf den Lebensstil und die Umgangsformen des Dargestellten zu sprechen. Den Schlussteil, der meist recht ausführlich ausfällt, bildet die Beschreibung der letzten Lebenszeit und der Todesart. In allen Teilen erweist sich Plutarch bei der Lektüre als ein ausgesprochen begabter Erzähler, der den Hauptteil seiner Biographien auch FKJIJUKL nennt.93 Darin ist für ihn ein ausgeprägter Episodenstil94 kennzeichnend, wobei „immer wieder besonders packende Szenen“95 begegnen. Bei der Charakterzeichnung übernimmt Plutarch die Begrifflichkeit des Aristoteles sowie dessen Prinzip, Charaktere (JSJ) an Taten (RTCZGKL) zu erläutern. Auf diese Grundlage seiner Arbeitsweise und Erzähltechnik kommt Plutarch in den Biographien zuweilen selbst zu sprechen.96 Er geht davon Plutarch“ (a.a.O. 318–320); vgl. auch C.B.R. Pelling, Childhood (s. Anm. 61). In diesem Zusammenhang ist auch auf die relativ breite Tradition von Kindheitsgeschichten in biblischer und frühjüdischer Tradition zu verweisen (vgl. u.a. C.G. Müller, a.a.O. 44–45), insbesondere auf Philos „Leben des Mose“ oder auf Pseudo-Philos „Antiquitates Biblicae“ (mit den entsprechenden biblischen Primärtexten); vgl. dazu auch B. Heininger, Familienkonflikte: Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2,41–52), in: C.G. Müller (Hrsg.), „Licht zur Erleuchtung der Heiden und Herrlichkeit für dein Volk Israel“. Studien zum lukanischen Doppelwerk (BBB 151) (FS für J. Zmijewski), Hamburg 2005, 49–72, 69–70. 91 Diese Kapitel sind allerdings nicht in allen Biographien des Plutarch gegeben; vgl. dazu C.B.R. Pelling, Childhood (s. Anm. 61); ders., Truth (s. Anm. 61) 36. 92 Ein Abschnitt aus der Biographie des Themistokles (2) kann einen entsprechenden Eindruck vermitteln: „Übereinstimmend wird erzählt, dass schon in dem Knaben ein leidenschaftliches Feuer gebrannt habe. Die Natur hatte ihn mit einem scharfen Verstand begabt, innere Neigung trieb ihn dazu, als Staatsmann Großes zu wirken. Wenn er Muße hatte und es nichts zu lernen gab, überließ er sich nicht wie die meisten Kinder dem unbeschwerten Spiel, sondern sann irgendeiner Rede nach, die er ganz für sich ausarbeitete; dabei stellte er sich vor, er müsse einen seiner Kameraden vor Gericht anklagen oder verteidigen. Solche Eigenwilligkeit nötigte seinem Lehrer mehr als einmal die Bemerkung ab: ‚Aus dir wird nichts Geringes, Bub, sondern etwas Großes – im Guten oder im Bösen‘. Wenn es im Unterricht darum ging, den Charakter zu formen oder sich die liebenswürdige Anmut des gebildeten Menschen anzueignen, machte er nur zögernd und widerwillig mit. Für Fächer hingegen, welche den Verstand schärften oder auf das praktische Leben vorbereiteten, legte er ein Interesse an den Tag, das weit über seine Jahre ging, als ob er einer inneren Stimme gehorchte.“ 93 Vgl. Plut., Crass 35 (2); Lyk 1; Nik 1; Kim 2,3; 3,3; Agis 2. 94 Vgl. dazu u.a. F.E. Brenk, Plutarch’s Life ‚Markos Antonios‘: A Literary and Cultural Study, in: ANRW II 33.6 (1992) 4347–4469.4895–4915, hier 4413. 95 A. Dihle, Literatur (s. Anm. 63) 211. 96 Das ist z.B. in Alex (1), Aem (1), Pomp (8,6) oder Kim (2,3) der Fall. In der Biographie des Demosthenes stellt Plutarch fest (11,7): „[…] VQPFXCNNQPCWXVQWVTQRQPMCKVQ JSQLCXRQVYPRTCZGYPMCKVJLRQNKVGKCLSGYTGKUSCKFKMCKQPGXUVKP.“ Vgl. auch F. Leo, Biographie (s. Anm. 63) 184f: „Die RTCZGKL werden geschildert, damit aus ihnen das JSQL hervortrete.“;

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aus, in den Taten (RTCZGKL97) und politischen Maßnahmen die HWUGKLund FKCSGUGKLder von ihm Beschriebenen erkennen zu können bzw. erkennbar werden zu lassen.98 Vor allem in den Taten werden nach seiner Überzeugung VTQRQLund JSQL ansichtig.99 Doch neben den Taten kommt bei der Charakterzeichnung vor allem auch den Äußerungen100 eines Menschen besondere Bedeutung zu. So schreibt er in Marcus Cato 7,3: „[...] ich will nur weniges von seinen Aussprüchen erzählen, da ich meine, dass in den Reden eines Menschen viel mehr als in seinem Gesicht (VY^NQIY^RQNW OCNNQPJXVY^RTQUYRY^) – wie einige glauben – sein Charakter (VQJSQL)zum Ausdruck kommt“.101

Von daher treffen Leser seiner Biographien auf eine Fülle von Apophthegmen, Reden und Sentenzen unterschiedlichster Art, die nicht nur Plutarchs Erzählstil prägen, sondern einen grundlegenden Bestandteil seiner Charakterzeichnung ausmachen. Viele der hier für die Arbeiten Plutarchs benannten Elemente biographischen Erzählens lassen sich auch in lukanischen Texten aufzeigen.102 Das gilt nicht allein für das Evangelium, sondern auch für die Apostelgeschichte, worauf in jüngster Zeit verstärkt aufmerksam gemacht wird.103

5. Deutende Unterbrechungen Ein besonderes Forschungsinteresse haben schon seit langer Zeit die Perikopen des lk Erzählwerks auf sich gezogen, die Reden oder Hymnen entK. Prieth, Einige Anmerkungen zu den parallelen Biographien Plutarchs mit besonderer Berücksichtigung der UWIMTKUGKL(Prog.), Wels 1908, 17; F. Focke, Synkrisis, in: Hermes 58 (1923) 327– 368, 359; A. Dihle, Studien (s. Anm. 63) 62.73; D.A. Russell, Reading (s. Anm. 61) 144. 97 Der Terminus findet bei Plutarch (zuweilen auch im Singular) ausgesprochen häufig Verwendung; vgl. z.B. Alex 1; Pericl 2; Alc 4; 15; 40; Demosth 3; 11; Kim 1; 2. 98 Vgl. Plut., Demosth 3,1; Aem 1. 99 Vgl. Plut., Demosth 11,7; vgl. auch ders., Nik 1,5; Pomp 8,6; Cato minor 37,5; Arat 48,3. 100 Vgl. z.B. Plut., Demosth/Cic, Vergleichung 50 (1): „So kommt auch in den Reden beider ihr Charakter deutlich zum Ausdruck“; Mor 33F u.a. 101 Vgl. auch ders., Mor 139A; 142. Vgl. dazu auch H. Erbse, Die Bedeutung der Synkrisis in den Parallelbiographien Plutarchs, in: Hermes 84 (1956) 398–424, 411; B. Bucher-Isler, Norm und Individualität in den Biographien Plutarchs. Untersuchungen zu seiner Charakterdarstellung (Diss. Zürich), Bern/Stuttgart 1972, 83: „Plutarch ist der Auffassung, daß gerade mündliche Äußerungen am ehesten den Charakter verraten“. 102 Vgl. ausführlich in C.G. Müller, Prophet (s. Anm. 8), bes. 64–68. 103 Vgl. u.a. M.-C. Holzbach, Plutarch: Galba-Otho und die Apostelgeschichte – ein Gattungsvergleich (Religion und Biographie 14), Berlin 2006; B. Heininger, Das Paulusbild der Apostelgeschichte und die antike Biographie, in: M. Erler/S. Schorn (Hrsg.), Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit. Akten des internationalen Kongresses vom 26.–29. Juli 2006 in Würzburg (Beiträge zur Altertumskunde 245), München 2007, 407–429.

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halten. Im Rahmen der hier behandelten Fragestellungen zum Verhältnis des lk Doppelwerks zu den Arbeiten antiker Historiographie war der Fokus dabei primär auf die Reden der Apostelgeschichte ausgerichtet. Aus nahe liegenden Gründen wurde immer wieder Bezug genommen auf die von Thukydides entworfenen Reden (vgl. z.B. I 68–71; 73–78; II 87; 89),104 deren Einsatz Thukydides im berühmten Methodenkapitel des Buches I (22) selbst reflektiert. Für die direkte Redewiedergabe lassen sich in der antiken Geschichtsschreibung mindestens drei literarische Funktionen ausmachen: „Sie diente dazu, eine Erzählung abwechslungsreich zu gestalten (1), steigerte die Unmittelbarkeit der Personendarstellung (2) und konnte als Mittel der Betonung eingesetzt werden (3).“105 Alle diese Punkte, die zentrale Anliegen antiker historiographischer Arbeiten – vor allem im Bereich der biographischen Literatur – berühren, lassen sich auch im lukanischen Doppelwerk beobachten. Auch die von Lukas gestalteten Reden106 seiner Protagonisten dienen primär der Interpretation der berichteten Ereignisse.107 „Es entspricht dem Verfahren des Lukas, gerade die Reden zu einer über die konkrete Situation hinausgehenden Geschichtsdeutung zu verwenden. Hier steht er in der durch Thukydides begründeten Praxis antiker Historiographie. Lukas setzt diese dazu ein, die Redner, die er auftreten lässt, sowie die Konsequenzen ihres Wirkens zu charakterisieren.“108 Von daher sind die Reden der Apostelgeschichte in einem hohen Maß leserorientiert zu verstehen109 und lassen in besonderer Weise die theologischen Konzeptionen110 des Lukas erkennen. 104 Als ausgesprochen aufschlussreich kann sich auch die Lektüre der von Polybios (z.B. Hist III 54 [Hannibal]) oder Livius präsentierten Reden erweisen. Zu den von Dionysios von Halikarnassos gestalteten Reden und ihrer Bedeutung vgl. u.a. E. Plümacher, Die Missionsreden der Apostelgeschichte und Dionys von Halikarnass, in: NTS 39 (1993) 161–177, bes. 171. 105 A.D. Baum, Funktion (s. Anm. 22) 594. 106 Vgl. u.a. E. Plümacher, Stichwort (s. Anm. 28) 2: „Als Historiker zeigt sich Lukas am augenfälligsten in den zahlreichen Reden, die er den in der Apostelgeschichte Handelnden in den Mund gelegt hat“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch H. Steichele, Vergleich der Apostelgeschichte mit der antiken Geschichtsschreibung. Eine Studie zur Erzählkunst der Apostelgeschichte (Diss.), München 1971, 25f, und den Verweis von J. Schröter (Konstruktion [s. Anm. 23] 205) auf Aristoteles: „Der Geschichtsschreiber bleibt bei dem, was tatsächlich geschehen ist (VCIGPQOGPC), wogegen der Dichter darstellt, was gewesen sein könnte […] die Dichtung ist Aristoteles zufolge philosophischer und ernsthafter (HKNQUQHYVGTQPMCKURQWFCKQVGTQP) als die Geschichtsschreibung“. 107 Vgl. u.a. M. Dibelius, Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung, in: Ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte, hrsg. von H. Greeven (FRLANT 60), Göttingen 3 1957, 120–162, 121: „Einsicht in die übergeschichtliche Bedeutung des betreffenden geschichtlichen Augenblicks“ solle vermittelt werden; J. Schröter, Lukas (s. Anm. 9) 241. 108 J. Schröter, Konstruktion (s. Anm. 23) 217. Vgl. auch M. Dibelius, Reden (s. Anm. 107) 142: „[…] mit diesen Reden dem Augenblick erhöhte Bedeutung verleihen und die Kräfte sichtbar machen […], die hinter den Ereignissen wirksam sind“. 109 Vgl. auch E. Plümacher, Stichwort (s. Anm. 28) 3f.

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In einem vergleichbaren Verfahren111 setzt der Erzähler in Lk 1–2 hymnische Texte ein, die den Erzählzusammenhang unterbrechen und primär theologische Interpretationen des erzählten Geschehens bieten. Ihre Positionierung in den Eingangskapiteln vermittelt eine entscheidende Perspektivierung für das Gesamtwerk. Norbert Lohfink hat deshalb in einem viel beachteten Aufsatz112 zu den Cantica bei Lukas darauf aufmerksam gemacht, dass die Einfügung hymnischer Stücke in den lukanischen Erzähltext auf dem Hintergrund biblischer Erzählkunst nicht als Ausnahmeerscheinung zu verstehen ist. In diesem Kontext ist z.B. auf die Makkabäerbücher hinzuweisen; hier dient in mehreren Fällen „die Einfügung poetischer Stücke“113 der Deutung des geschichtlichen Geschehens. Deutende Anmerkungen unternehmen schließlich auch die bei Lukas – im Vergleich zur antiken Biographieliteratur114 – eher selten eingesetzten Erzählerkommentare. Auch wenn im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte solche Kommentare des Erzählers zurückhaltend eingesetzt werden, sollte man ihr Gewicht für das Gesamtkonzept nicht unterschätzen; an Stellen wie Lk 2,40 (MCKECTKLSGQWJPGXRXCWXVQ) oder Lk 23,54 (MCKUCDDCVQPGXRGHYUMGP), Apg 2,23 (VQWVQPVJ^YBTKUOGPJ^DQWNJ^ MCK RTQIPYUGKVQWSGQWGMFQVQP) oder Apg 10,38 (YBLGETKUGPCWXVQPQBSGQL RPGWOCVKCXIKY^MCKFWPCOGK) werden vom Erzähler Weichen gestellt oder Zusammenhänge aufgezeigt, die für die Rezeption und Deutung des Erzählten von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind.115

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Vgl. u.a. U. Wilckens, Die Missionsreden der Apostelgeschichte. Form- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen (WMANT 5), Neukirchen-Vluyn 31974, 186: „die Reden sind geradezu programmatische Kernstücke lukanischer Theologie“. 111 Vgl. auch D.D. Schmidt, Influences (s. Anm. 12) 53f. 112 N. Lohfink, Die Lieder der Kindheitsgeschichte bei Lukas, in: C. Mayer/K. Müller/G. Schmalenberg (Hrsg.), Nach den Anfängen fragen (FS für G. Dautzenberg), Gießen 1994, 383– 404. 113 H. Lichtenberger, Geschichtsschreibung und Geschichtserzählung im 1. und 2. Makkabäerbuch, in: E.-M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 197–212, 202. 114 Vgl. z.B. die häufig eingesetzten Erzählerkommentare eines Plutarch; vgl. dazu u.a. C.G. Müller, Prophet (s. Anm. 8) 316–318; vgl. auch M. Reiser, Stellung (s. Anm. 53) 10. Für Thukydides vgl. u.a. D. Gribble, Narrator Interventions in Thucydides, in: JHS 118 (1998) 41–67. 115 Manche Erzählerkommentare lassen auch Wertungen erkennen; vgl. z.B. Lk 9,33 („[…] nicht wissend, was er sagt“) oder Lk 18,14 („[…] dieser stieg gerechtfertigt hinab in sein Haus im Vergleich zu jenem“).

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6. Exemplarisches Erzählen Mit exemplum „ist die vielleicht wichtigste kognitive Grundfigur römischen historischen Denkens angesprochen“.116 Im literarischen Werk eines Polybios lassen sich hierfür vielfältige Beispiele ausmachen, auf die bereits aufmerksam gemacht wurde. „Die Tendenz zu exemplarischer Darstellung muß in der römischen Geschichtsschreibung schon sehr früh angelegt gewesen sein.“117 Anschauliche Verwirklichungen bieten Tacitus (Ann III 65,1) oder Livius (Ab urbe condita, Vorrede 9–10 u.a.),118 vor allem aber Polybios, der nach eigener Aussage (Hist X 21[24]) neben dezidiert historiographischen Arbeiten auch biographische Studien vorlegte. „Gattungsunterschiede“ markiert er (ebd.) in folgender Weise: „Da ich aber außerhalb dieses Geschichtswerkes bereits eine Biographie von ihm (Philopoimen) in drei Büchern geschrieben und darin seine Jugenderziehung und seine bedeutendsten Taten behandelt habe, ist es sinngemäß, hinsichtlich seines Lebens und Strebens in der Jugend jetzt auf alle Einzelheiten zu verzichten, dagegen bei den Taten auf der Höhe seines Lebens, die dort nur kurz zusammenfassend besprochen worden sind, manche Einzelheiten hinzuzufügen, darin dem Gesetz der Gattung beider Werke folgend. Denn wie jenes Werk, das dem Mann ein Denkmal zu setzen bestimmt war, eine sich auf das Wesentliche beschränkende Verherrlichung seiner Taten verlangte, so forderte das Geschichtswerk, das unparteiisch nach Verdienst Lob und Tadel auszuteilen hat, einen absolut wahrheitsgetreuen, auf Tatsachen gegründeten und die Erwägungen, die die Ereignisse begleiteten, die Motive, die das Handeln veranlassten, klarstellenden Bericht.“

Was allerdings die eine wie die andere Textsorte durchzieht, ist das paradigmatische Interesse des Polybios, denn – so stellt er selbst im selben Zusammenhang (X 21) fest – „lebendigen Menschen kann man nacheifern und sie sich zum Vorbild nehmen, tote Gegenstände nicht“. „Phänomenologisch gesprochen sind historische exempla – anders als erfundene Beispiele oder 116

U. Walter, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom (Studien zur Alten Geschichte 1), Frankfurt a. M. 2004, 51. Vgl. auch K. Backhaus, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistisch-reichsrömischen Geschichtsschreibung, in: Ders./G. Häfner (Hrsg.), Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 1–29, 4: „Hellenistisch-frühreichsrömische Geschichtsschreibung ist im Hauptstrom ein Mischtypus, der die Rekonstruktion extratextualer Sachverhalte mit ordnenden Konstruktionselementen aus Rhetorik, mimetischer Kunst (Epos, Drama, Roman) und paideutischem Traktat zur narratologischen Kohärenz verbindet.“ 117 A. Mehl, Geschichtsschreibung (s. Anm. 38) 126. 118 Für E. Plümacher, Stichwort (s. Anm. 28) 6, bietet Livius „die eindrücklichsten Beispiele, vor allem dort, wo seine Einzelerzählungen dem Leser die exempla maiorum in ihrer die Gegenwart verpflichtenden Kraft vor Augen stellen (z.B. II 10; 12; 13,6–11) und die geschilderten Ereignisse so als salutaria exempla […] humano generi (V 27,13) wirken lassen.“

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Fabeln – wirklichkeitsgesättigte narrative Explikationen gesamtgesellschaftlich verbindlicher moralischer Normen und Wertvorstellungen, oder einfacher gesagt: in der Zeit verwirklichte und in einer bestimmten Form tradierte Modelle idealen Verhaltens.“119 Das ist ein Grund dafür, dass historische exempla bei den Römern einen wichtigen Platz im rhetorisch geprägten Bildungssystem fanden. „Der Nutzen der Geschichte besteht danach in Unterhaltung und Erhebung, moralischer Erziehung und Erfahrungsvermittlung; die historia als magistra vitae stellt Exempla vor Augen, die als Modellfälle der Lebensorientierung, als Argumentationshilfe der öffentlichen Rede oder als Verständigungsbasis der gebildeten Kommunikation dienen.“120 Hier ergibt sich ein zentraler Berührungspunkt mit dezidiert biographischen Arbeiten, wie sie beispielsweise von Plutarch vorgelegt wurden.121 Ein wichtiges Ziel, das Plutarch mit seinen Biographien verfolgt und dem er auch persönlich nachzueifern bestrebt ist, besteht darin, den Betrachtern seiner Charakterbilder die Möglichkeit zu verschaffen, vor dem Spiegel der Geschichte ihr eigenes Leben zu gestalten.122 Tugendhafte Taten wirken sich nach Plutarch nämlich auf die Betrachter anspornend aus, sie sind Vorbilder123 und bewegen zur OKOJUKL124 der entsprechenden CXTGVJ.Von daher werden seine Helden häufig moralischen Beurteilungen unterzogen.125 Auch abschreckende Beispiele verfehlen seiner Meinung nach ihre Wirkung nicht.126 Plutarchs moralphilosophische Wertungen und Bewertun-

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U. Walter, Memoria (s. Anm. 116) 51. D. Timpe, Geschichte (s. Anm. 5) 20; vgl. ders., Römische Geschichte und Weltgeschichte, in: Ders., Antike Geschichtsschreibung. Studien zur Historiographie, hrsg. von U. Walter, Darmstadt 2007, 109–131, bes. 130; vgl. auch K.-J. Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum. Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis der Nobilität, in: H.-J. Gehrke/A. Möller (Hrsg.), Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein (ScriptOralia 90), Tübingen 1996, 301–338, 308: „[…] in allen Institutionen und öffentlichen Räumen bezog man sich permanent auf Geschichte [...]. Aus der Geschichte entnahm man Präzedenzfälle, Beispiele und Beweise, Illustrationen und Erläuterungen, Ermahnungen und Vorbilder.“ 121 Auch einem Cornelius Nepos scheint es nach F. Römer (Biographisches [s. Anm. 39] 143) „nicht so sehr um eine Gesamtdeutung des historischen Geschehens – wie einem Sallust oder Tacitus – gegangen zu sein, sondern um exemplarische Individualfälle im Rahmen des Universalgeschehens, die sich für moralisch-didaktische Zielsetzungen nutzbar machen ließen“. 122 Vgl. Plut., Aem 1,1. 123 Vgl. Plut., Aem 1,5; Arat 1. Zur Bedeutung von Vor- bzw. Leitbildern nach Plutarch vgl. ders., Mor 544E und seine Schrift „Quomodo quis suos in virtute sentiat profectus“ 14–15 (Mor 84B–85B). 124 Vgl. Plut., Pericl 1,4; 2,2; 2,4; begründend führt Plutarch an (2,3): „[...] VYPFXCXRX CXTGVJL(CXICSYP) VCLRTCZGKLCXICRYOGP“; vgl. zur Nachahmung auch ders., Demetr 1,6. 125 Vgl. die von C.B.R. Pelling (Plutarch [s. Anm. 61]) oder B. Ahlrichs (Prüfstein [s. Anm. 61]) kommentierten Beispiele. 126 Vgl. z.B. Plut., Demetr 1. 120

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gen127 verfolgen demnach eine erzieherische Absicht.128 In diesem Zusammenhang kommen den kommentierenden Anmerkungen, die Plutarch in die Erzählung einstreut, besondere Bedeutung zu. Ein ausgeprägtes pragmatisches Interesse ist auch im lk Doppelwerk auszumachen; man kann mit Recht von „exemplarischem Erzählen“ als Element der Erzählstrategie des Lukas sprechen. Dabei kommt, was die Erzählweise angeht, häufiger ein dramatischer Episodenstil129 zum Einsatz, auf den wiederholt aufmerksam gemacht wurde. Das Besondere aus leserorientierter Perspektive besteht nach meiner Einschätzung darin, dass Lukas mit erzählten exempla „Sichtweisen“ und „Verhaltensweisen“130 anbietet, die auf Identitätsbildung ausgerichtet sind, indem sie beispielsweise einer Verstetigung von Verhaltensweisen dienen oder „zur Bewältigung von Gegenwartsproblemen helfen“131; „die lebensvoll und darum überzeugend dargestellte exemplarische Schilderung von seinerzeit günstig verlaufenem Geschehen soll den Leser zu der Hoffnung führen, daß das, was er so eindrücklich für die Vergangenheit geschildert sah, auch in seiner Gegenwart Wirklichkeit werden könne.“132 Wir haben es dabei mit einer Bereitstellung von Identifikationsmustern in recht unterschiedlichen Bereichen gelebten Glaubens zu tun, auf die hier nur beispielhaft verwiesen werden kann:

127 Vgl. A. Dihle, Literatur (s. Anm. 63) 212: „Der Biograph lehrte, die Gestalten der griechisch-römischen Geschichte nach den Normen einer humanitären Moral zu bewerten, der Verfasser der Moralia zeigte, wie eine reiche Bildung und Belesenheit ohne Pedanterie in den Dienst sittlicher Erziehung und Lebenshilfe gestellt werden konnte.“ 128 Vgl. M.A. Stiefenhofer, Die Echtheitsfrage der biographischen Synkriseis Plutarchs (Diss. Gießen), Tübingen 1915, 6–8; F. Focke, Synkrisis (s. Anm. 96) 362f; H. Almquist, Plutarch und das Neue Testament. Ein Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti (ASNU 15), Uppsala 1946, 22; G. Schneeweiß, Gegenstand (s. Anm. 68) 153; C. Pelling, Adaption (s. Anm. 61) 135; S.C.R. Swain, Culture (s. Anm. 65) 145; C. Pelling, Moralism (s. Anm. 61). 129 Vgl. u.a. E. Plümacher, Lukas (s. Anm. 21) 80–136; ders., Stichwort (s. Anm. 28) 5: „Es ist der Stil einer bestimmten Richtung der hellenistischen Historiographie, den Lukas hier benutzt: der Stil der mimetischen (früher als tragisch-pathetisch bezeichneten) Geschichtsschreibung. Deren Ziel war die packende Gestaltung anschaulicher, lebenswahrer Bilder, die den Leser fesseln sollten“. Vgl. auch die Beispiele in der Arbeit von S.-Ch. Lin, Wundertaten und Mission. Dramatische Episoden in Apg 13–14 (EHS.T 623), Frankfurt a. M. 1998. 130 Vgl. auch G. E. Sterling, Historiography (s. Anm. 23) 386; im Blick auf das lk Doppelwerk als Literatur apologetischer Geschichtsschreibung konstatiert Sterling: „Luke-Acts makes its case indirectly by offering examples and precedents to Christians so that they can make their own apologia.“ 131 E. Plümacher, Stichwort (s. Anm. 28) 7. 132 E. Plümacher, Stichwort (s. Anm. 28) 6.

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a) im Bereich der Verkündigung: wie Zeugen des Evangeliums freimütig auftreten,133 womit sie zu rechnen haben, in welcher Weise lokale Bedingungen und Begrenzungen zu bedenken sind, wie sich beispielhafte Aufgeschlossenheit zeigt, wie Widerstände in der Verkündigung des Wortes Gottes zu überwinden sind …; b) im Blick auf das Haben bzw. Besitzen: wie vorbildlich mit Eigentum verfahren werden kann, was Freigebigkeit bedeutet, wie Besitztümer anderen dienlich werden können, welche Bedeutung der Versorgung Bedürftiger zukommt, wie Gastfreundschaft gelebt werden kann …; c) selbst für den letzten Akt menschlichen Handelns bzw. Geschehenlassens: wie noch bis in die letzte Stunde Heil erfahrbar wird, wie vertrauensvoll und mit letzter Hingabe gestorben werden kann (Stephanus – in deutlicher Parallele zum Sterben Jesu selbst). Die Liste weiterer Themen- und Lebensbereiche ließe sich leicht erweitern, wobei nicht zu vergessen ist, dass auch abschreckende Beispiele, die Lukas nicht auslässt, ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn man z.B. an Judas (Lk 22,3–6.47–49), Hananias und Saphira (Apg 5,1–11) oder Simon Magus (Apg 8,4–25) denkt.

In den vielfältigen Beispielen exemplarischen Erzählens werden Erschließungssituationen miteinander verknüpft, Wachstumsprozesse persönlicher und gemeinschaftlicher Art angedeutet und Ermutigungen durch lebensvolle Beispiele vor Augen geführt, wobei durchaus auch unterhaltende Elemente auszumachen sind. Vor allem aber werden „Beheimatungen“ des Wortes Gottes in zahlreichen Varianten so vor Augen gestellt, dass sie nicht nur als praktische Belehrung Orientierungswissen vermitteln, sondern als Einladung zur Identitätsbildung verstanden werden können.

7. Universale Perspektive Das lukanische Erzählwerk ist in besonderer Weise von einem weltweiten Horizont geprägt.134 Die erzählten Geschehnisse spielen sich nämlich für den Autor des lukanischen Erzählwerks „nicht in einer Ecke“135 ab, was 133 Nach der Einschätzung vieler Ausleger haben auch die Predigten selbst exemplarischen Charakter; vgl. für die Pfingstpredigt u.a. J. Zmijewski, Die Apostelgeschichte (RNT), Regensburg 1994, 150. 134 Vgl. zu dieser Fragestellung den ausführlichen Beitrag des Autors in der Festschrift für Roman Rumianek (2007): C.G. Müller, „Nicht in einer Ecke“ (Apg 26,26). Anmerkungen zum universalen Horizont des lukanischen Erzählwerks, in: Z. Godlewski/A. Najda (Hrsg.), Przemawiaj do nich moimi sáowami, Warschau 2007, 413–443. Dieser Aspekt ist vor allem für eine Zeit zu bedenken, in der man (so jedenfalls H. Sonnabend, Die Grenzen der Welt. Geographische Vorstellungen der Antike, Darmstadt 2007, 68) mit der Möglichkeit rechnen muss, „dass man die Geographie dazu instrumentalisiert hat, politische oder ideologische Botschaften zu verbreiten.“ 135 Mit dieser Wendung überschrieb auch Abraham Malherbe einen gewichtigen Beitrag zur apologetischen Ausrichtung des lukanischen Erzählwerks; vgl. A.J. Malherbe, „Not in a Corner“: Early Christian Apologetic in Acts 26:26, in: Ders., Paul and the Popular Philosophers, Minneapo-

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durch die Stimme des Paulus in Apg 26,26 deutlich zu verstehen gegeben wird. Paulus steht in Apg 26 vor König Agrippa (II.);136 Festus, der römische Prokurator, Vertreter der alles beherrschenden Großmacht „Rom“,137 wirft Paulus vor: „Du bist verrückt, Paulus; das viele Studieren versetzt dich in Wahnsinn“ (Apg 26,24: [...] VCRQNNCUG ITCOOCVCGKXLOCPKCP RGTKVTGRGK). Paulus verteidigt138 sich: „Ich bin nicht verrückt, bester Festus, sondern tue Worte der Wahrheit und der Besonnenheit kund. Denn der König weiß von diesen (Dingen), zu dem ich auch freimütig sprechend rede; denn dass ihm (etwas) verborgen ist von diesen (Dingen), glaube ich nicht; denn dies ist nicht in einer Ecke geschehen.“ Was ist geschehen? Zusammengefasst klingt das in der Verteidigungsrede des Paulus so: „dass ein Leidender (sein werde) der Gesalbte, dass er als erster aus (der) Auferstehung (der) Toten Licht verkünden werde dem Volk und den Heiden (VY^VGNCY^MCKVQKLGSPGUKP)“ (Apg 26,23). Das alles sei „nicht in einer Ecke geschehen“ (Apg 26,26). Rein geographisch betrachtet handelt es sich bei dem hier in den Blick genommenen Ort des Leidens und der Auferstehung des Messias eher um eine „Ecke“ der damals bekannten bzw. bewohnten Welt. Jerusalem ist allerdings als Bestandteil des römischen Imperiums nicht in einer Randlage – ein geschickter Zug des Paulus in seiner Verteidilis 1990, 147–163. Zu seinem Verständnis von „nicht in einer Ecke“ vgl. a.a.O. bes. 155–157. Nach Malherbe wird Paulus als Philosoph präsentiert, der sich der Öffentlichkeit stellt. Polemik gegenüber einem solchen Anspruch findet sich schon im 2. Jh. in den Ausführungen des Platonikers Celsus (Kelsos), mit dem sich Origenes (vgl. Cels II, 202f) (um 245 n.Chr.) auseinandersetzt. 136 Zum Verständnis und zur Auslegung der Perikope „Paulus vor Agrippa“ vgl. u.a. A.J. Malherbe, Corner (s. Anm. 135) 154–158; L. Alexander, Apologetic Text (s. Anm. 12) 36–38; E. Heusler, Kapitalprozesse im lukanischen Doppelwerk. Die Verfahren gegen Jesus und Paulus in exegetischer und rechtshistorischer Analyse (NTA.NF 38), Münster 2000, 126–132. 137 Die Apostelgeschichte zeigt insgesamt eine eher „prorömische Tendenz“. Vgl. u.a. W. Nippel, Der Apostel Paulus – ein Jude als römischer Bürger, in: K.-J. Hölkeskamp u.a. (Hrsg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, 357–374, 358: „Die Apostelgeschichte zeigt – ohne daß sich die Adressaten dieser politischen Aussage eindeutig benennen ließen – gewiß insofern eine prorömische Tendenz, als sie die Repräsentanten der römischen Macht grundsätzlich als ‚neutrale‘ Magistrate darstellt, die sich in religiöse Streitigkeiten nicht einmischen, sofern daraus keine gravierenden Störungen der öffentlichen Ordnung erwachsen [...]. Lukas verschweigt allerdings auch nicht – wie am Verhalten der Statthalter von Judäa gegenüber Paulus deutlich wird –, daß die Vertreter der römischen Macht ihre Ermessensspielräume nach politischen Opportunitätserwägungen nutzen und unter Umständen auch zu einer mißbräuchlichen Anwendung ihrer Amtsgewalt bereit sind.“ 138 Vgl. zur Rede des Paulus E. Heusler, Kapitalprozesse (s. Anm. 136) 129: „Mehr und mehr wandelt sich nämlich während der Rede des Paulus seine Rolle von der des Beschuldigten zu der des ‚Zeugen‘, und am Ende seiner Worte mutet der Wortwechsel zwischen Festus, Paulus und Agrippa mehr als Disput zwischen Gelehrten denn als Beweisaufnahme vor Gericht an.“ L. Alexander (Apologetic Text [s. Anm. 12] 38) kommentiert den Textabschnitt Apg 26,24–29 so: „This is an appeal addressed specifically and very directly to a leading, highly placed patron of Diaspora Judaism, and its object is not to exonerate Paul but to bring the hearer – any hearer – to share his religious world-view.“

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gungsrede gegenüber dem römischen Beamten. Zugleich wird ein Erzähler erkennbar, der die erzählten Geschehnisse gezielt in einen universalen und durchaus weltgeschichtlichen139 Horizont einzeichnet, wodurch Lesern seines Werkes ein entsprechender Rezeptionshorizont eröffnet wird. Am Ende des Lukasevangeliums (24,46–48) wird die universale Perspektive des lukanischen Erzählwerks ganz ausdrücklich,140 wenn der Auftrag zur weltweiten Zeugenschaft durch den Auferstandenen selbst ergeht (Lk 24,48: „[seid] ihr Zeugen für dieses“); Zeugen sollen sie werden für den leidenden Christus, der auferstand aus Toten am dritten Tag, in dessen Namen Umkehr verkündet werden soll. Der Erzähler nimmt bzw. rückt mittels einer „embedded focalization“141 in proleptischer Perspektive „alle Völker“ in den Blick: GKXLRCPVCVCGSPJ.142 Die „angefügte Formulierung CXTZCOGPQKCXRQX,GTQWUCNJO(Lk 24,47)“ ist ein „deutliches Indiz für ein Israel inkludierendes Verständnis“.143 Dieser Vers144 wird in Apg 1,8 wieder aufgenommen und entfaltet.145 Gleichzeitig erfährt die Aussendung der 70 (bzw. 72), die in Lk 10,1–12146 erzählt wurde, ihre Fortsetzung.147

139 Zu den Synchronismen vgl. u.a. C.G. Müller, Ecke (s. Anm. 134) 418–420. Beispiele für Synchronismen in historiographischer Literatur der Antike sind bei Thuc. II 2; Polyb., Hist I 3; Dion. Hal., Ant Rom IX 61,1; Jos., Ant 14,4 u.a. zu finden. Vgl. auch den Beitrag von D.P. Moessner, ‚Listening Posts‘ Along the Way: ‚Synchronisms‘ as Metaleptic Prompts to the ‚Continuity of the Narrative‘ in Polybius’ Histories and in Luke’s Gospel-Acts. A Tribute to David E. Aune, in: J. Fotopoulos (Hrsg.), The New Testament and Early Christian Literature in GrecoRoman Context (FS für D.E. Aune) (NT.S 122), Leiden/Boston 2006, 129–150. 140 Vgl. allerdings bereits die Worte des Simeon in Lk 2,30–32, denen eine proleptische Funktion zugeschrieben werden kann; vgl. u.a. C.G. Müller, Ecke (s. Anm. 134) 420–421. 141 Vgl. u.a. I.J.F. de Jong, A Narratological Commentary on the Odyssey, Cambridge 2001, XIII. 142 Vgl. G. Wasserberg, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt. Eine narrativ-theologische Studie zur Theologie des Lukas (BZNW 92), Berlin 1998, 200f: „Lukas verfährt in seinem Gebrauch vonNCQLund GSPJ konsequent. Mit Ausnahme von Act 15,14; 18,10, wo NCQLals Heilsbegriff bewußt auch die nichtjüdischen Christen mit einschließen soll [...], bezeichnetNCQLbei Lukas stets das jüdische Volk. Nichtjuden sind unter die GSPJzu zählen.“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von M. Neubrand, Israel, die Völker und die Kirche. Eine exegetische Studie zu Apg 15 (SBB 55), Stuttgart 2006. 143 G. Wasserberg, Mitte (s. Anm. 142) 201. Vgl. auch a.a.O. 202: „Daraus folgt, daß aus narrativ-kontextueller Sicht der Terminus GKXLRCPVCVCGSPJin Lk 24,47 nur inklusiv verstanden werden kann. Er bezeichnet Israel und die Völker.“ 144 Vgl. in diesem Zusammenhang I.J.F. de Jong, Commentary (s. Anm. 141) XVI: „A distinction can be made between internal prolepses (referring to events which fall within the time limits of the main story) and external prolepses (which refer to events which fall outside those time limits).“ Vom Lk-Ev her gesehen ist die Ansage des Auferstandenen zu den external prolepses zu rechnen, vom lk Doppelwerk her ergibt sich eine andere Kategorisierung. 145 Vgl. dazu auch K.M. Schmidt, Abkehr von der Rückkehr: Aufbau und Theologie der Apostelgeschichte im Kontext des lukanischen Diasporaverständnisses, in: NTS 53 (2007) 406–424. 146 Vgl. dazu vor allem T.J. Lane, Luke and the Gentile Mission. Gospel anticipates Acts (EHS.T 571), Frankfurt a. M. 1996, 85–123.

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Eine schrittweise Erweiterung des Horizonts hin zu einer universalen Weite, die dann auch erzählerisch eingelöst wird, ist in Apg 1,8 zu erkennen. „Schon lange hat man erkannt, daß der Aufbau der Apostelgeschichte unter anderem den geographischen Fortschritt der christlichen Botschaft von Jerusalem über Judäa und Samaria bis nach Syrien, Kleinasien, Griechenland und Rom verdeutlichen soll. In dieser Hinsicht beschreibt das Werk die Ausbreitung des christlichen Zeugnisses vom Zentrum des Judentums bis zum Zentrum des Römischen Reiches, von der Mission unter den Juden Palästinas bis zur Mission unter den Juden und Heiden der Diaspora.“148 Dabei kommt Apg 1,8 in narratologischer Hinsicht eine proleptische Funktion zu.149 Der Vers – gewissermaßen aus göttlicher Vogelperspektive formuliert150 – beschreibt in Etappen den Weg der Evangeliumsverkündigung von Jerusalem aus „bis an das Ende der Erde“.151 Es handelt sich „um eine bewußte Anspielung des Lukas auf einen Vers bei Jesaja“,152 genauer gesagt Jes 49,6: „Ich mache dich zum Licht der Völker, dass mein Heil bis an die Grenzen der Erde reiche“ (in der LXX: G=YLGXUECVQWVJLIJL).153 Damit nimmt Lukas „eine Neuinterpretation des alttestamentlichen Diasporakonzepts vor. An die Stelle der heilvollen Rückkehr trat die Zerstreu147

Vgl. auch J.M. Scott, Luke’s Geographical Horizon, in: D.W.J. Gill/C. Gempf (Hrsg.), The Book of Acts in Its First Century Setting. Vol. 2: The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting, Grand Rapids, MI/Carlisle 1994, 483–544, 525. 148 E.E. Ellis, „Das Ende der Erde“ (Apg 1,8), in: C. Bussmann/W. Radl (Hrsg.), Der Treue Gottes trauen. Beiträge zum Werk des Lukas (FS G. Schneider), Freiburg i. Br. 1991, 277–287, 277; vgl. auch K. Schmidt, Abkehr (s. Anm. 145). H. Steichele (Vergleich [s. Anm. 106] 44) spricht vom „Generalthema der siegreichen Ausbreitung des Wortes Gottes von Jerusalem bis Rom“. 149 Vgl. auch D. Marguerat, Voyages et voyageurs dans le livre des Actes et la culture grécoromaine, in: RHPhR 78 (1998) 33–59, 36. 150 Vgl. L. Alexander, ‚In Journeyings Often‘: Voyaging in the Acts of the Apostles and in Greek Romance, in: C.M. Tuckett (Hrsg.), Luke’s Literary Achievement (JSNT.S 116), Sheffield 1995, 17–39, 22: „These words already imply a divine bird’s-eye view of the world, and Luke’s continued use of the Greek term oikumene reinforces the sense of a mission with a strong territorial imperative.“ 151 Vgl. auch die Ausführungen zu dieser Wendung bei U. Maiburg, „Und bis an die Grenzen der Erde [...]“. Die Ausbreitung des Christentums in den Länderlisten und deren Verwendung in Antike und Christentum, in: JAC 26 (1983) 38–53, 42f. 152 E.E. Ellis, Ende (s. Anm. 148) 278. 153 Vgl. auch Jes 52,10: „Jahwe hat seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker enthüllt, und alle Enden der Erde schauen das Heil unseres Gottes.“ Zur Auslegung vgl. auch H. Omerzu, Das Schweigen des Lukas. Überlegungen zum offenen Ende der Apostelgeschichte, in: F.W. Horn (Hrsg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin 2001, 127–156, 133: „Für die Deutung von Act 1,8 ist es am wahrscheinlichsten, daß Lukas auf eine geläufige Septuagintawendung (vgl. bes. Jes 8,9; 48,20; 49,6; 62,11) zurückgegriffen hat, die er erneut in Act 13,47 – hier offensichtlich als Zitat aus Jes 49,6 LXX – verwendet hat. An dieser Stelle geht es nicht darum, ein bestimmtes Ziel anzugeben, sondern die Ausbreitung des Evangeliums zu beschreiben.“ Vgl. auch die von J.M. Scott (Horizon [s. Anm. 147] 526 Anm. 165) genannten LXX-Stellen.

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ung.“154 Die Evangeliumsverkündigung der Zeugen nimmt in der Apostelgeschichte sowohl zu Land als auch zur See155 in der FWPCOKL des Geistes ihren Lauf. Wenn Lukas dieses Geschehen in den weltweiten Horizont des römischen Imperiums einschreibt, so kann man darin ein Alternativkonzept zum weltweiten Anspruch der römischen Herrschaft entdecken. Manche Ausleger erkennen sogar eine versteckte Rom-Kritik156 oder sprechen von einem romkritischen Potential. Auf jeden Fall wird man von einem konkurrierenden Machtanspruch157 ausgehen dürfen, wenn der Christus Gottes in Lk 2,11 auch UYVJT(vgl. auch Apg 13,23) und MWTKQLgenannt wird, bei dessen Geburt himmlische Stimmen vonGKXTJPJauf Erden singen (Lk 2,14; vgl. auch Apg 10,36:GWXCIIGNK\QOGPQLGKXTJPJPFKCX,JUQW &TKUVQW QWBVQLGXUVKP RCPVYPMWTKQL). In historiographischer Hinsicht ergibt sich dabei eine interessante Parallele: „Anders als in der griechischen Welt hatte in Rom die bis zur Zeit des Augustus geschriebene Geschichte immer einen nationalen und ethnozentrischen, also keinen universellen Charakter. Wenn die römische Geschichte Weltgeschichte wurde, war dies eine Folge der Tatsache, daß sich Rom in einem Reich von weltumspannenden Dimensionen entwickelte, doch von Interesse blieb einzig und allein Rom.“158 Lukas erzählt von den vielen Verortungen des Wortes Gottes in einer von den Römern scheinbar dominierten QKXMQWOGPJund von erwählten Werkzeugen, die den Namen Gottes „vor Völker und Könige und die Söhne Israels tragen“ (Apg 9,15).

8. Schlussbemerkungen Das lukanische Doppelwerk kann im Vergleich mit historiographischer und biographischer Literatur der Antike „als Gründungsgeschichte des Christen154

K.M. Schmidt, Abkehr (s. Anm. 145) 417. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von M. Reiser, Von Caesarea nach Malta. Literarischer Charakter und historische Glaubwürdigkeit von Act 27, in: F.W. Horn (Hrsg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin 2001, 49–74. 156 Vgl. bes. C. Burfeind, Paulus muß nach Rom. Zur politischen Dimension der Apostelgeschichte, in: NTS 46 (2000) 75–91. 157 Vgl. u.a. H. Omerzu, Das Imperium schlägt zurück. Die Apologetik der Apostelgeschichte auf dem Prüfstand, in: ZNT 9 (2006) 26–36. 158 F. Pina Polo, Erinnerung (s. Anm. 4) 151. Zur Integration römischer Geschichte in griechische Universalgeschichte vgl. auch D. Timpe, Weltgeschichte (s. Anm. 120) 128: „Die Einordnung der römischen Geschichte und der römischen Herrschaft in weltgeschichtliche Zusammenhänge seit dem 1. Jahrhundert v.Chr. ging also von griechischen Autoren aus, wurde aber bald von römischen übernommen, und beider Ziele konvergierten – mehr durch ähnliche Bildungsinteressen stimuliert als politisch motiviert.“ 155

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tums in zwei Teilen bezeichnet werden“159 Historisches Erzählen steht hier im Dienst religiöser sozialer Selbstaffirmation; man kann auch von identitätsstiftendem Erzählen sprechen und dadurch eine entsprechende Orientierungsfunktion betonen. Das exemplarisch vermittelte Orientierungswissen160 hat im Sinne einer pragmatischen Geschichtsschreibung nachwachsende Generationen im Blick. Daneben ist eine Außenperspektive zu bedenken, die mit der Kennzeichnung161 „apologetische Geschichtsschreibung“162 versehen werden kann.163 Vielleicht lassen sich die Hauptanliegen so zusammenfassen: „It was essential therefore to define Christianity in terms of Rome (politically innocent), Judaism (a continuation), and itself (traditio apostolica).“164 Die Glaubwürdigkeit des Erzählten wird durch die Nutzung etablierter literarischer Formen aus dem Bereich historiographischer und biographischer Literatur massiv unterstützt.165 Für das Lukasevangelium wird man im Vergleich mit der Apostelgeschichte eine stärkere biographische Tendenz konstatieren können, die sich durch die Fokussierung auf die Hauptfigur nahelegt, während für die Apostelgeschichte die historiographische Ten159

J. Schröter, Lukas (s. Anm. 9) 241. K. Backhaus (Lukas [s. Anm. 9] 31) nennt den Autor des Doppelwerks, vor allem aber der Apg, „Pionier des sozialen Funktionsgedächtnisses im Urchristentum“. 160 Vgl. zu diesem Begriff und seiner Bedeutung im Kontext pragmatischer Geschichtsschreibung u.a. K.-J. Hölkeskamp, Exempla (s. Anm. 120) 314. 161 Zur Problematik einer „Etikettierung“ (vor allem für die Apg) vgl. u.a. S. Shauf, Theology as History, History as Theology. Paul in Ephesus in Acts 19 (BZNW 133), Berlin 2005, 60f: „The number of ways that Acts has been classified in this regard borders on bewildering. While the general category of ‚history‘ is usually agreed upon, the variety of more specific designations is great. Acts has been considered a general history, Greco-Roman political history, apologetic history, institutional history, a continuation of biblical history, pathetic history, tragic-pathetic history, rhetorical history, as succession narrative (a particular type of biography), and a historical monograph (which is sometimes combined with other classifications).“ 162 Vgl. u.a. G.E. Sterling, Historiography (s. Anm. 23) 374: „Luke-Acts is thus a complex work which combines Christian, Jewish, and Hellenistic elements into a form of Hellenistic history. Is there any specific tradition which adequately accounts for the presence and interplay of these elements? I believe that there is: apologetic historiography. Narratives within this genre relate the story of a particular people by deliberately hellenizing their native traditions“. 163 Vgl. auch K. Backhaus, Lukas (s. Anm. 9) 31: „Im Modus apologetischer Geschichtsschreibung zeichnet Lukas in der Apostelgeschichte das Gedächtnisbild des Urchristentums [...]. Er entwirft die intentionale Geschichte der werdenden Kirche. Es ist diese Intentionalität, die seine Geschichtsschreibung als konstruktives Ordnungshandeln verstehen lässt.“ 164 G.E. Sterling, Historiography (s. Anm. 23) 386. 165 Vgl. auch D. Timpe, Geschichte (s. Anm. 5) 56: „Als Schriftsteller schreibt Lukas zwar in Kenntnis der Formen und Regeln, die die rhetorische Literaturtheorie aufgestellt hatte, und bedient sich in diesem Zusammenhang auch historiographischer Sach- und Stilelemente wie der Überlieferungskritik, der Redekomposition, der dramatisierenden Handlungsführung und Episodentechnik; aber im Rahmen der paganen Literatur wäre er nichtsdestoweniger eher als Verfasser ‚hellenistischer Wundererzählungen‘ zu klassifizieren.“

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denz ausgeprägter sein dürfte166, wenngleich auch hier biographische Elemente – man denke nur an das von Paulus gezeichnete Bild167 – zu beobachten sind. Der Autor zeigt keine Scheu, Idealisierungen im Dienst einer ausgeprägteren Beispielhaftigkeit vorzunehmen, wenn man etwa die Darstellung des Lebens der Jerusalemer Muttergemeinde der Anfangszeit in den Blick nimmt oder der Miletrede des Paulus (Apg 20,17–38) lauscht, der neben der Vermittlung der eigenen Vorbildhaftigkeit für eine Pastoral in nachapostolischer Zeit Orientierungswissen für Menschen mit Leitungsverantwortung tradiert. Aber auch abschreckende Beispiele sollen Wirkung zeigen; darüber hinaus werden Konfliktgeschichten (vgl. Apg 5,1–11; 6,1– 7; 15) – auch angesichts oft beobachteter Harmonisierungstendenzen – durchaus nicht verheimlicht. Zwei Aspekte seien abschließend gesondert hervorgehoben. Der Autor des lukanischen Doppelwerks zeigt sich einerseits an einem Kontinuitätsbewusstsein oder zumindest an einem Kontinuitätsbezug zur Glaubensgeschichte Israels in besonderer Weise interessiert. Die Art und Weise, wie die Septuaginta Verwendung findet und wie gerade prophetische Texte des Alten Testaments leserorientierend genutzt werden (vgl. aus der Vielzahl möglicher Beispiele nur Lk 2,30–32 oder Apg 2,16.17–21), gibt davon beredtes Zeugnis. Auch wenn die Redner der Apostelgeschichte neben den Kindern Israels zunehmend „Söhne Abrahams und Gottesfürchtige“ (Apg 13,25; vgl. auch Apg 10,35) im Blick haben und der Schluss der Apostelgeschichte in Kapitel 28 eine deutliche Ausrichtung auf die Verkündigung unter den Völkern erkennen lässt, gehört zum Orientierungswissen der Angesprochenen das Wissen um die Herkunft des Christus Gottes und all derer, die ihn als MWTKQL anrufen. Damit verbunden ist ein zweiter, vom Erzähler besonders betonter Aspekt, der vor allem in dem kleinen Wort FGKgebündelt erscheint.168 Zunächst sei daran erinnert, dass die Rede von einem „göttlichen Muss“ durchaus auch in historiographischen Arbeiten der Antike auszumachen ist, wenn man beispielsweise an Herodot denkt (Hist II 161,3; VIII 53,1; IX 109,2).169 Für Lukas ist sie primär Ausdruck eines Heilsplans und Heilswillens Gottes.170 „Jesus mußte leiden und auferstehen 166

Vgl. auch S. Byrskog, Performing (s. Anm. 74) 42. Vgl. jetzt vor allem B. Heininger, Paulusbild (s. Anm. 103). 168 Vgl. im lk Erzählwerk vor allem Lk 9,22; 17,25; 22,37; 24,7.26.44 sowie Lk 4,43; 11,42; 13,14.16.33; 15,32; 18,1; 19,5; 22,7; Apg 9,15f; 13,46–48; 14,22; 17,3; 19,21; 23,11. 169 Vgl. auch M. Reiser, Das christliche Geschichtsbild. Seine Herkunft und seine moderne Rezeption, in: F.W. Horn/M. Wolter (Hrsg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS für O. Böcher), Neukirchen-Vluyn 2005, 46–70, 60f; O. Kaiser, Grenzen (s. Anm. 25) 30: Herodot „läßt das göttliche Muß und seine Erfüllung durch das Handeln des Menschen unaufgelöst nebeneinander stehen.“ 170 Vgl. u.a. Ch.H. Cosgrove, The Divine '(, in Luke-Acts. Investigations into the Lukan Understanding of God’s Providence, in: NT 26 (1984) 168–190; G.E. Sterling, Historiography (s. 167

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(Apg 17,3; vgl. Lk 9,22; 24,7.26) und muß bis zur Apokatastasis im Himmel verweilen (Apg 3,21); ebenso muß Jesus im Hause des Zachäus einkehren (Lk 19,5), mußte sich das Geschick des Judas schriftgemäß erfüllen, muß ein anderer an seiner statt das Amt eines Auferstehungszeugen übernehmen (Apg 1,16.21) und muß Paulus […] nach Rom reisen.“171 Gerade an solchen Stellen wird Lesern deutlich signalisiert, dass es im Gesamtwerk vor allem und zuerst darum geht, die „Großtaten Gottes“ (vgl. Apg 2,11: VCOGICNGKCVQWSGQW)172 in schriftlicher Form zu verkünden. Lukas zieht dafür alle ihm verfügbaren Register, die Gottesfreunde locken, faszinieren, ermutigen und bestärken können.

Anm. 23) 358; J.T. Squires, The plan of God in Luke-Acts, Cambridge 1993, 15–52; C.K. Rothschild, Luke-Acts (s. Anm. 37) 185–212; K. Backhaus, Lukas (s. Anm. 9) 53; H.J. Sellner, Das Heil Gottes. Studien zur Soteriologie des lukanischen Doppelwerks (BZNW 152), Berlin/New York 2007, 413–427. 171 E. Plümacher, Rom in der Apostelgeschichte, in: Ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hrsg. von J. Schröter/R. Brucker (WUNT 170), Tübingen 2004, 135–169, 137. 172 Zum geschichtsmächtigen Handeln Gottes bei Lukas vgl. u.a. Apg 13,17–19. Vgl. zu dieser Thematik auch D. Marguerat, The First Christian Historian. Writing the ‚Acts of the Apostles‘ (MSSNTS 121), Cambridge 2002, 25: „Luke recounts a confessional history [...] Judaeo-Christian historia has no other ambition than to point to God behind the event.“

Stefan Schreiber

Die Vita des Königs Jesus Über die Gattung des Johannesevangeliums

„Biography was the natural form of telling the story of a Caesar.“ Dieses Diktum von Arnaldo Momigliano, bezogen auf die Attraktivität der Gattung Vita in der römischen Kaiserzeit, bringt die Beobachtung auf den Punkt, dass ein monarchisches politisches System durch seine Fixierung auf eine Person an der Spitze der Gesellschaft das politische Klima für die Entstehung biographischer Schriften schafft.1 Bezugsgrößen für diese Beobachtung sind sowohl die von erblichen Monarchien (Antigoniden, Seleukiden, Ptolemäer) geprägte Epoche des Hellenismus als auch das römische Prinzipat: Wenn eine Person die Geschicke eines historischen Zeitfensters bestimmt, kann diese in ihrer Individualität in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses treten. Betrifft dies speziell politisch orientierte Viten (die nicht nur Lob, sondern auch Kritik2 an der politische Führung transportieren können), so wirken sich die politischen Rahmenbedingungen im weiteren kulturellen Kontext des Hellenismus, der durch ein verstärktes Interesse am Einzelnen, am Individuum geprägt ist, auch auf Viten von Dichtern, Künstlern, Wissenschaftlern und Philosophen aus. In der Philosophie war es grundlegend die Gestalt des Sokrates, an der sich überragende moralische Autorität an einem vorbildlichen Einzelleben zeigen ließ.3 1

A. Momigliano, The Development of Greek Biography, Cambridge 1971, 99. Den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung von Monarchien und der Entstehung der Literaturgattung Biographie in der Antike macht besonders H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Darmstadt 2003, 19–21.24.62f.82f. 84–87.113f.140f.222 plausibel; vgl. F. Römer, Biographisches in der Geschichtsschreibung der frühen römischen Kaiserzeit, in: E.-M. Becker (Hrsg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin/New York 2005, 137–155; für die lateinische Vita A. Dihle, Antike Grundlagen, in: W. Berschin (Hrsg.), Biographie zwischen Renaissance und Barock, Heidelberg 1993, 1–22, 12–19; zur speziellen Situation von Plutarchs Caesarenviten (unter Domitian) G.W. Bowersock, Vita Caesarum. Remembering and Forgetting the Past, in: W.W. Ehlers (Hrsg.), La biographie antique (Fondation Hardt. Entretiens XLIV), Genf 1998, 193–210. 2 A. Momigliano, Development (s. Anm. 1) 99 verweist auf die Viten, die über die Senatoren Paetus Thrasea und Helvidius Priscus verfasst wurden und die Domitian als Angriff auf seine Alleinherrschaft las, was die Autoren Arulenus Rusticus und Herennius Senecio das Leben kostete (Quelle: Tac., Agr 2,1). 3 A. Dihle, Zur antiken Biographie, in: W.W. Ehlers (Hrsg.), La biographie antique (s. Anm. 1), 119–140, arbeitet die philosophische, besonders peripatetische Tradition, die in den

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Die Vita des Königs Jesu

An das JohEv dürfte Momigliano bei seinem Ausspruch kaum gedacht haben. Und doch profiliert diese Schrift (nach etwa einhundert Jahren römischer Kaiserzeit) königliche Züge der Gestalt Jesu, so angedeutet in der Außenwahrnehmung einer jüdischen Volksmenge bei der Brotgabe (Joh 6,15) oder narrativ ausgefaltet und teilweise in ironischer Brechung bei der Passionserzählung, wo eine Konfrontation Jesu mit den Vertretern der römischen Besatzungsmacht in Palästina stattfindet. Damit stellt sich eine doppelte Frage: Inwiefern ist das JohEv als Vita Jesu gestaltet, und was ist die Intention dieser Entscheidung für die Vitengattung?

1. Gattungsmerkmale einer Vita im Johannesevangelium Antike rhetorische Theorien über einzelne Textgattungen beschäftigen sich, soweit wir sehen, nicht mit dem DKQL bzw. der vita (so die Quellensprache; der Begriff „Biographie“ ist erst in der Spätantike bezeugt). Daher liegen uns auch keine Erörterungen über Stil- und Formgesetze oder idealisierte Muster einer Biographie vor. Dennoch lassen sich eine ganze Reihe griechischer und römischer Schriften zusammenstellen, deren Gegenstand der Lebenslauf eines einzelnen Menschen bildet; dabei scheint zwischen der Lebensleistung des Porträtierten und seinem Charakter ein innerer Zusammenhang vorausgesetzt.4 Die mit der Methode des formgeschichtlichen Vergleichs zu gewinnenden Gattungsmerkmale, die einen antiken Text als vita ausweisen, sind von antiken Autoren teilweise selbst angeführt worden, so dass sich die in der Forschungsliteratur verwendeten Begriffe an quellensprachlichen Kategorien orientieren können. Es handelt sich um Herkunft/Familie, Kindheit/Ausbildung, Taten und Worte (Leistungen, Aussprüche) sowie Tod (und teilweise Nachgeschichte).5 Aus der griechischsprachigen jüdischen Literatur um die Zeitenwende ist die zweibändige Mose-Vita des Philo von Alexandrien einschlägig, ferner die Autobiographie des Flavius Josephus. Biographische Erzählzüge prägen die Bücher Rut, Ester, Jona, Judit und Tobit und sind auch im Ijob-Buch sichtbar; in größere GeschichtszusamMeistern Exempla für die eigene Lebensführung findet, als Entstehungsfaktor antiker Viten heraus; vgl. ders., Grundlagen (s. Anm. 1) 3–9. 4 Vgl. die Definition bei H. Görgemanns, Art. Biographie I. Griechisch, in: DNP 2 (1997) 682–685, 682. Oder, schon klassisch, A. Momigliano, Development (s. Anm. 1) 11: „An account of the life of a man from birth to death“. 5 Quellensprachliche Beispiele: Corn. Nep., Epaminondas 1,4: genus – eruditus – mores – ingenii facultates – res gestae; Philo, Vit Mos II 1: IGPGUKL – VTQHJ – RCKFGKC – CXTEJ – RGRTCIOGPC; Tac., Agr 1,1; 4,1f.; 6,1; 43,1: facta moresque – pater – mater – pueritia adolescentiaque – magistratus – finis vitae. Dazu in diesem Band M. Ebner, Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswerken 38f.; H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 18; A. Dihle, Grundlagen (s. Anm. 1) 8f.

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menhänge eingeordnet finden sie sich auch in den Erzählungen über Josef (Gen 37– 50) und David (1 Sam 16–1 Kön 2). Der in diesen Schriften dominierende „biblische“ Erzählstil,6 kurz charakterisiert als Folge episodischer Szenen mit Dialogen in direkter Rede, erinnert stark an die Gestaltung der Jesus-Viten.

In das Gattungsprofil einer vita lässt sich auch das JohEv einordnen. Dort steht eindeutig ein einzelner Mensch – Jesus von Nazaret – im Mittelpunkt der Erzählung, und sein „Lebenslauf“ wird, zumindest was die Rahmendaten betrifft, weitgehend chronologisch dargestellt, beginnend mit seiner Herkunft (Joh 1,1–18) und endend mit seinem Tod und der sich unmittelbar anschließenden „Nachgeschichte“ (Joh 18–21).7 Richard Burridge kann diese Konzentration auf eine Person sogar empirisch nachweisen: Eine Wortstatistik lässt auf den ersten Blick erkennen, wenn die Mehrzahl der Verben eine bestimmte Person als Subjekt hat – was auf Jesus im JohEv zutrifft.8 Auch Dirk Frickenschmidt ordnet das JohEv als Vita ein, indem er im Vergleich mit anderen antiken Viten einen dreigliedrigen Aufbau und detaillierte Parallelen in Einzelmotiven erarbeitet.9

Während Jesu Herkunft auffallend kurz behandelt wird (1,1–18), liegt das Gewicht der Lebensschilderung auf den wenigen Jahren seines öffentlichen Auftretens, das mit seinem Tod endet. Seine Wirksamkeit wird durch Gespräche, Taten und (zum Teil lange) Reden entfaltet. Genügen diese doch recht allgemeinen Gemeinsamkeiten für eine klare Gattungszuweisung? Legt nicht der Vergleich des JohEv mit z.B. Lukians Demonax-Vita oder Suetons Kaiserviten gerade große Unterschiede in der Präsentation der Hauptpersonen offen? Entscheidend für die Möglichkeit einer Gattungszuweisung ist die Beobachtung, dass für Viten über das gemeinsame Grundgerüst hinaus eine 6

Dazu M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments. Eine Einführung (UTB 2197), Paderborn 2001, 102. 7 Es sind nur wenige Szenen, in denen Jesus nicht selbst gegenwärtig ist: zwei JohannesEpisoden (1,19–28; 3,23–30/36); Episoden um Juden bzw. Hohepriester und Pharisäer (7,45–52; 9,13–34; 10,19–21; 11,45–53.55–57; 12,9–11). Doch auch dabei steht seine Person im Mittelpunkt. 8 Vgl. R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, Grand Rapids 22004, 110–112.216f.321; weitere formale und inhaltliche Merkmale, die Burridge aus antiken Viten erhebt (105–184), sind demgegenüber variabler und weniger eindeutig, so dass sich das JohEv gut einfügen lässt (213–232). 9 Vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen 1997, 415–459; zum Aufbau s. unten 3. – Zur Einordnung der Evangelien als Viten vgl. K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 346–357; D.E. Aune, The New Testament in Its Literary Environment, Cambridge 1988, 27–67; die Einordnung ist in der englischsprachigen Forschung verbreitet, vgl. R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 253–288. Zurückhaltend bleibt I. Broer, Einleitung in das Neue Testament, Bd. 1 (NEB.Erg 2/I), Würzburg 1998, 29–38. – Zur Diskussion um die Gattung Vita und die Evangelien vgl. B. McGing/J. Mossman (Hrsg.), The Limits of Ancient Biography, Swansea 2006.

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hohe Variabilität in der Darstellungsweise kennzeichnend ist. Das betrifft zunächst die Form. Besonders der Mittelteil, der Taten und Worte behandelt, kann grundsätzlich entweder chronologisch-erzählend oder thematisch-registrierend aufgebaut sein; im ersten Fall folgt die Erzählung im Wesentlichen einem Plot, der Spannungsbögen, Höhepunkte und Kontraste entwirft, im zweiten Fall liegt eine rubrizistisch nach Sachkategorien wie Kriege, Gesetzgebung, Bautätigkeit, Eigenschaften geordnete Materialsammlung vor.10 Holger Sonnabend hat diese Formvariabilität besonders an den beiden Klassikern des Genres, Plutarch und Sueton, gezeigt.11 Plutarch verfolgt dabei in seinen Parallelbiographien eine zielorientierte Erzählstrategie, die den Charakter der Porträtierten gegenüber isolierten Taten und Leistungen profiliert. An den historischen Gesamtzusammenhängen zeigt er dabei kein Interesse. Dagegen lässt Sueton bei seinen Kaiserviten die Tendenz erkennen, die Geschichte der römischen Kaiserzeit zu personalisieren. In seiner Darstellung verbindet sich ein chronologischer Auftakt (Herkunft, Familie, Geburt bis zum Regierungsantritt) bzw. Schluss (Tod) mit einer kategorisierten Darstellung der Regierungstätigkeit. Sueton reflektiert den Übergang zwischen zeitlicher und thematischer Anordnung und belegt die beiden unterschiedlichen Vorgehensweisen mit den Begriffen per tempora und per species (Aug 9,1). Auch Philos Mose-Vita vereint beide Vorgehensweisen, verteilt sie aber auf zwei Bücher: Das erste bietet die Chronologie des Lebens des Mose, verstanden als Ausübung seiner herrscherlichen Funktion, das zweite erörtert thematisch seine Begabungen als Gesetzgeber, Priester und Prophet.

Die Variabilität des Vitengenres betrifft weiter die Intention. Sieht man von Dichterviten ab, die lediglich eine Kurzinformation über den Dichter, die der Ausgabe seines Werkes vorangestellt ist, vermitteln wollen, intendieren alle Viten die literarische Zeichnung eines Leitbildes, das Orientierung geben will. Doch sind dabei verschiedene Sprechsituationen betroffen, wie die von Martin Ebner vorgeschlagenen Klassifizierungen zeigen:12 Er unterscheidet individualethische Zielsetzung (Orientierung des eigenen Lebens an einem großen JSQL/Charakter), politische Zielsetzung (Unterstützung oder Kritik des aktuellen politischen Systems) und ätiologische Zielsetzung 10 Dazu H. Görgemanns, Art. Biographie I. (s. Anm. 4) 683; M. Ebner, Viten (s. Anm. 5) 39f. (jeweils mit Hinweisen auf die Entwicklung in der Forschung); F. Römer, Biographisches (s. Anm. 1) 143 (exemplifiziert an den Feldherrenviten des Nepos); ferner R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 184. 11 H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 146.165–168.173.180f. Vgl. A. Dihle, Grundlagen (s. Anm. 1) 6–9.17f.; D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 278–281. Die Flexibilität des Genres betont auch R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 59–67. 12 M. Ebner, Viten (s. Anm. 28) 40–43. Eine an sozialen Funktionen orientierte Typologie bietet C.H. Talbert, Biographies of Philosophers and Rulers as Instrument of Religious Propaganda in Mediterranean Antiquity, in: ANRW II 16/2 (1978) 1619–1651, 1622, der jedoch in erster Linie von den Philosophenviten ausgeht.

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(sog. „Diadochen“: Vitenketten von Philosophen, die eine Schul-Sukzession und eine Verankerung der Schule in der Ursprungsgestalt belegen). In charakteristischer Brechung finden sich diese drei Zielsetzungen auch im JohEv. Es stellt dem einzelnen Mitglied der Gruppe Jesus als Vorbild und Vermittler authentischer Offenbarung vor Augen. Es insinuiert der Gruppe13 innerhalb ihres gesellschaftlichen Kontextes, dass sie – im Unterschied zu ihrer unmittelbaren Umwelt – dem richtigen „System“ folgt (vgl. 5.). Und es fundiert die Existenz der Gruppe in der Ursprungsgestalt Jesus, wobei die Frage der Nachfolge in der Leitung der Gruppe zumindest angedeutet erscheint – in den Gestalten des geliebten Jüngers und Petrus.14 Eine exklusive Zuordnung zu einer der genannten Intentionen ist kaum möglich, was wohl damit zusammenhängt, dass die joh Gruppe den umfassenden Lebenskontext für ihre Mitglieder darstellt. Auch den genrespezifischen Spielraum in der formalen Gestaltung nutzt das JohEv. Der Handlungsbogen zeigt sich grundsätzlich chronologisch orientiert. Nach der sehr eigenwilligen Herkunftsangabe Joh 1,1–18 beginnt die Darstellung mit Johannes als Zeugen für Jesus, den ersten Nachfolgern Jesu und dem ersten Zeichen (1,19–2,11). Dabei folgt der Plot einem strengen Tagesschema, das die Einzelepisoden eng aneinander reiht: „am nächsten Tag“ (1,29.35.43), „am dritten Tag“ (2,1). Nach dieser ersten erzählten Woche wird die Chronologie großflächiger, wobei die jüdischen Feste zeitliche Markierungen innerhalb des Erzählflusses setzen: Drei Passafeste (2,13.23; 6,4; 13,1 mit 19,14) geben einen groben Zeitrahmen von zwei bis drei Jahren für Jesu Auftreten vor; dazwischen deuten weitere Feste eine chronologische Struktur an: ein unbestimmtes Fest 5,1; ein Laubhüttenfest 7,2; ein Tempelweihfest 10,22.15 Die gesamte zweite Hälfte des Buches ist 13

Ich spreche nicht von einer joh Schule, weil die Existenz eines regelrechten Schulbetriebs innerhalb der joh Gruppe nicht belegbar ist. Vgl. den Beitrag von C. Cebulj in Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg 2001, 254–342.349f. Eine neue Charakterisierung der joh Gruppe mittels eines soziologischen „Kult“-Modells entwickelt K.S. Fuglseth, Johannine Sectarianism in Perspective (NT.S 119), Leiden 2005. – R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 294–299 folgert aus der Gattung, dass die vier Jesus-Viten nicht für einzelne Gemeinden, sondern für ein größeres Publikum (christlich und – zumindest bei Lukas – auch nichtchristlich) verfasst sind, ohne dass dadurch bestimmte Charakteristika der Lesergruppen (z.B. der eher jüdische Hintergrund des MtEv) ausgeschlossen wären. M.E. muss hier vorsichtiger geurteilt werden: Viten gehören in soziopolitische Kontexte, doch über Größe und Eigenart des Publikums sagt die Gattung allein wenig aus; ein exklusiver Gemeindebezug bleibt durchaus möglich. 14 Besonders Joh 21,15–23. 15 Weitere Angaben nehmen relativ darauf Bezug: „danach“ 3,22; 6,1; 7,1; „am nächsten Tag“ 6,22; 12,12; „nach zwei Tagen“ 4,43; „in der Mitte des Festes“ 7,14; „am letzten Tag des Festes“ 7,37. – Konzentrationen der erzählten Zeit auf wichtige Ereignisse sind in Viten durchaus üblich; vgl. R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 217f.; D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 429f.

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um das dritte Passafest herum angesiedelt: Einer langsamen Annäherung („nahe“ 11,55; sechs Tage davor 12,1; vor dem Passafest 13,1; Rüsttag 19,14) entspricht eine zunehmende Entfernung (erster Tag der Woche morgens 20,1, abends 20,19; nach acht Tagen 20,26; „danach“ 21,1). Deutet sich so ein relatives chronologisches Gerüst an, fehlen absolute Zeitangaben völlig und sind nur indirekt aus dem Auftreten einiger Handlungsträger wie Pilatus ungefähr zu erschließen. Der geographische Handlungsraum ist begrenzt. Jesus bewegt sich zwischen Galiläa und Judäa/Jerusalem hin und her, unterbrochen von einem kurzen Ausflug nach Samaria (4,4–42), bis sich das Szenario ab 12,12 ganz auf Jerusalem konzentriert. Erst mit 21,1 geschieht eine Verlegung der Handlung an den See von Tiberias.

Innerhalb der chronologisch nur oberflächlich verbundenen Dialoge und Reden Jesu zeigt sich häufig eine thematische Struktur, z.B. in den Motivfeldern vom Lebenswasser (Joh 4), vom Lebensbrot (Joh 6) und vom Hirten (Joh 10) oder in den Abschiedsreden mit der Zusage des Parakleten (Joh 14–16).

2. Gattungsunschärfen Antike Autoren sind sich der Gattungsunterschiede zwischen vita und historia durchaus bewusst. So begründen z.B. Nepos (Pelopidas 1,1) und Plutarch (Alex 1) zu Beginn einer Vita ihre Entscheidung für gerade diese Gattung.16 Dennoch können Gattungsunschärfen zwischen vita und historia auftreten, und diese resultieren aus der Einschätzung des geschichtsprägenden Einflusses von Einzelpersonen. Kurz gesagt: Finden sich historiographische Elemente in einer Vita, wird deutlich, dass eine Einzelperson entweder ihre Bedeutung in einer konkreten geschichtlichen Situation entfaltet oder den Geschichtsverlauf (tatsächlich oder zumindest in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen) bestimmt.17 Ein Beispiel bietet die Agricola-Vita des Tacitus, bei der die politische Stellung des Agricola als Statthalter der römischen Provinz Britannia die Verbindung zu geschichtlichen Abläufen geradezu herausfordert. Ehe Tacitus die Übernahme des Amtes durch Agricola darstellt, berichtet er daher in einem Exkurs ausführlich über Geographie und Bevölkerung Britanniens, der Landschaft, in dem sich das folgende Geschehen zuträgt (Tac., Agr 10–17). Bevor es dort zur entscheidenden Schlacht kommt, präsentiert Tacitus die jeweiligen kulturellen Hintergründe und politischen Motivationen der Kriegsparteien, indem er den Heerführern 16 17

Dazu M. Ebner, Viten (s. Anm. 5) 36f. Vgl. Polyb. X 21. Diese These mit ausführlicher Begründung bietet M. Ebner, Viten (s. Anm. 5) 44–56.

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Calgacus und Agricola je eine längere Rede in den Mund legt (Agr 30–34). Beides ist historiographische Praxis.18 Jüngst hat Richard Bauckham zu zeigen versucht, dass das JohEv innerhalb der Vitengattung eine große Nähe zur Historiographie besitzt – und zwar weit mehr, als dies für die Synoptiker zutrifft.19 Die von ihm angeführten Merkmale erweisen sich jedoch als wenig trennscharf. So fällt im JohEv auf, dass Angaben über Topographie und Chronologie fast durchgängig die Szenen und Ereignisse einordnen.20 Doch die Grenze zwischen vita und historia ist hier schwer fassbar, zumal wenn Viten nach einem chronologischen Schema aufgebaut sind. Überdies besitzen diese Zeit- und Ortsangaben keineswegs nur die Funktion, geschichtliche Genauigkeit zu simulieren, sondern dienen als Gliederungssignale oder theologische Voreinstellungen, wie z.B. die Angabe eines bestimmten Festes nicht nur eine zeitliche Einordnung bietet, sondern auch mit dem Inhalt der anschließenden Szene korrespondiert (so das Passafest Joh 6,4, das Brotwunder 6,5–15 und die Lebensbrot-Rede 6,22–59).21 Das Motiv der Augenzeugenschaft22 steht in Joh 19,35 und 21,24 im Hintergrund, ist aber nicht direkt thematisiert; 20,29 relativiert sogar in gewisser Weise die Bedeutung des eigenen Sehens. Auch in Viten ist Augenzeugenschaft dann vorausgesetzt, wenn der Biograph den Porträtierten noch persönlich kannte (z.B. Corn. Nep., Att; Tac., Agr; Luc., Demon). Die Redeanteile Jesu in der joh Vita, Dialoge und längere Diskurse, führt Bauckham auf die historiographische Praxis zurück, Reden als Repräsenta18 Dazu F. Römer, Biographisches (s. Anm. 1) 147f.; H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 143f.; A. Dihle, Grundlagen (s. Anm. 1) 15f. 19 Vgl. R. Bauckham, Historiographical Characteristics of the Gospel of John, in: NTS 53 (2007) 17–36. Vgl. C.S. Keener, The Gospel of John. Bd. 1–2, Peabody 2003, I 11–34, der die Gattungen zu wenig differenziert und von „historical biography“ spricht (25.29–34); offensichtlich leitet ihn die Intention, die historische Verlässlichkeit des JohEv zu erweisen (vgl. auch I 34–52). An histoire poétique (P. Ricœur) denkt J. Zumstein, Der irdische Jesus im Johannesevangelium, in: Ders., Kreative Erinnerung (AThANT), Zürich 22004, 65–81, 79f. 20 Vgl. R. Bauckham, Characteristics (s. Anm. 19) 19–25. 21 Auch die Stoffauswahl und das Vorkommen von narrative asides (Erzählerkommentaren) (R. Bauckham, Characteristics [s. Anm. 1] 27–29) sind nicht genrespezifisch. S.M. Sheeley, Narrative Asides in Luke-Acts (JSNT.S 72), Sheffield 1992, 40–96, hat gezeigt, dass narrative asides in antiken Romanen, Historien und Viten begegnen, wobei die Funktionen je nach Gattung variieren können. 22 Vgl. R. Bauckham, Characteristics (s. Anm. 19) 29f.; vgl. ders., Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids 2006, 384–411: Der geliebte Jünger sei der Autor des JohEv; er berufe sich auf seine Augenzeugenschaft und interpretiere selbst das dargestellte Geschehen, womit Topoi antiker Historiographie aufgegriffen seien. Spezifisch sind die Topoi nicht. Auch die Hervorhebung des „Sehens“ gegenüber dem „Hören“ (ebd. 406) ist nur für einige Historien wichtig (Thuk. I 73,2; Polyb. XII 7,1; Hdt. I 8; Luc., Hist Conscr 29), für andere angesichts der Quellenlage kaum möglich. Im JohEv muss differenziert werden zwischen „empirischem“ Sehen und Sehen als Verstehen der Bedeutung von Ereignissen (z.B. Joh 1,14).

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tion von Worten geschichtlicher Personen in bestimmten Situationen zu verfassen.23 Diese Repräsentation der vorösterlichen Lehre Jesu sei „more realistic than the typical Synoptic presentation of his teaching“ (32) und daher in ihrer Form „quite historically credible“ (33).24 Nun sind aber größere Redeanteile auch in Viten nicht gattungsfremd. Einige Beispiele: Nepos führt die letzte Rede des Atticus (Att 21,5f.) und Ratschläge des Alkibiades an (Alkibiades 8,2f.5f., in indirekter/direkter Rede). Plutarch gibt Reden des Remus (Romulus 7,5f.) und des Numa wieder (Numa 5,2–6,3, mit Gegenrede des Vaters und von Verwandten, angesichts der Lebensentscheidung, König Roms zu werden); von Cato d. J. erzählt er Abschiedsgespräche vor dessen Selbstmord (Cato minor 66–69), knapp auch von Brutus (Brutus 52,1–4). Philo vermittelt gerade im ersten Buch der Mose-Vita zahlreiche Reden und Dialoge, deren Sprecher in erster Linie Mose, aber auch das Volk und weitere Protagonisten sind.25 Zahlreiche Reden enthält die Vita Apollonii des Philostrat (3. Jh.). Entferntere Parallelen bieten der hohe Anteil an Apophthegmata in Lukians Demonax-Vita und das doxographische Element in den Philosophen-Viten des Diogenes Laertios.26

Eine gattungsspezifische Zuordnung von Reden könnte von der differenzierenden Frage ausgehen, ob Reden eher Licht auf den Charakter einer Person (vita) oder die Hintergründe und Triebkräfte eines Geschichtsablaufs (historia) werfen. Trennschärfe lässt sich allerdings auch damit nicht erreichen. Zur Gattung der Vita passt es, wenn im JohEv Jesus in seinen Reden als Leitbild für seine Anhänger/innen erscheint. Er deutet sich selbst als den, der den ihn sendenden Gott und damit sich selbst im Wort (vgl. Joh 1,1) offenbart. Er deutet sein Sterben und die Zukunft seiner „Familie“, indem er ihr den Parakleten als Beistand ankündigt (14,16f.26; 15,26; 16,7–15). Wichtig ist abschließend, dass die (moderne) Kategorie des „Historischen“ kein Gattungsmerkmal der historia darstellt; sowohl historia als auch vita enthalten fiktionale und faktische Anteile in unterschiedlichen 23

R. Bauckham, Characteristics (s. Anm. 19) 33f.36. Noch deutlicher verbindet R. Bauckham, Jesus (s. Anm. 22) 409, die historiographische Konvention mit historischer Plausibilität; vgl. ebd. 388 „eyewitness reporting“. 25 Mose: Vit Mos I 54–56.201f.222–226.244f.307f.322–327.331f.; II 171; Prophetien des Mose: II 251f.259.272f.280f.; das Volk: I 193–195.328–330; andere: I 11.46.58.84; II 139f.; Dialoge führt Mose mit Gott (I 72–77) und dem Volk (171–175); Reden und Dialoge entwickeln sich in I 274–299 passim zwischen König Balak und dem (nicht namentlich genannten) Seher. 26 R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 162 gibt einen Anteil der Apophthegmata von 60% in Luc., Demon an. Zu Diogenes Laertios vgl. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 192. Diogenes stellt z.B. ausführlich die Lehren Platos dar (III 67–109, freilich nicht in direkter Rede); eine gewisse Analogie bildet das wörtliche Zitat von drei langen Briefen, die die Lehre Epikurs enthalten (X 35–116.122–135). Briefe zitiert auch Corn. Nep., Themistokles 9,2–4; Pausanias 2,3f. – Ein Kuriosum bildet die Euripides-Vita des Satyros (um 200 v.Chr.), die als Dialog verfasst ist (erhalten ist nur das Fragment POxy 1176); dazu H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 75f. Zum weiteren Hintergrund in der antiken Literatur vgl. G.L. Parsenios, Departure and Consolation. The Johannine Farewell Discourses in Light of Greco-Roman Literature (NT.S 117), Leiden 2005. 24

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Graden, die nicht durch die Gattung bestimmt sind. Holger Sonnabend hat darauf hingewiesen, dass antike Historiker ihre eigene Reflexion in ganz unterschiedlicher Intensität mit dem überlieferten Geschichtsstoff verbinden. Bei Thukydides z.B. ist die Reflexion so dominant, dass der geschichtliche Gegenstand dahinter nur noch bedingt zugänglich ist, während Velleius Paterculus seine Quellen weitgehend direkt und ohne eingehende Bearbeitung übernahm.27 Für die heutige historische Frage ist also durch eine Gattungszuweisung als historia nichts zu gewinnen. Etliche Autoren, gerade im deutschsprachigen Raum, sprechen von der Gattung „Evangelium“.28 Dies scheitert daran, dass „Evangelium“ im 1. Jh. keine Gattungsbezeichnung darstellt, sondern (im Plural) zum Idiom der Werbesprache römischer Kaiser ab Augustus geworden ist, mit dem besondere Ereignisse der kaiserlichen Karriere als politische „Frohbotschaften“ markiert werden.29 Schwierig bleibt die Einordnung des JohEv als Drama, genauer als Lesedrama, wie es z.B. von Seneca überliefert ist.30 Unspezifisch ist die Gliederung nach räumlichen und zeitlichen Kriterien, die auch in Historien und Viten begegnet. Dialoge und damit die Perspektive einzelner Spielfiguren dominieren die Handlung des Dramas. Dabei werden mögliche epische Passagen zumeist entweder vom Chor oder Chorführer oder von einer spielinternen Figur (häufig ein Bote) vorgetragen. Das JohEv ist 27 H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 126. Was nicht bedeutet, dass nicht auch Velleius von einer eigenen Geschichtsauffassung und Methode geleitet ist; vgl. F. Römer, Biographisches (s. Anm. 1) 144f., der ebd. 155 auch auf Unterschiede in der Intensität des historischen Urteils zwischen Tacitus (der seinem Urteil Raum gibt) und Sueton (der eher Material auswählt und disponiert) hinweist. – Von der Gattung Vita her lässt sich nicht auf den Anteil an Historizität schließen, wie dies A.T. Lincoln, Truth on Trial. The Lawsuit Motif in the Fourth Gospel, Peabody 2000, 370–378.389–397, versucht (a „middle way“); er sieht die joh Vita als Prozess um den Anspruch Jesu gestaltet (was der Gattung nicht entspricht). Zur antiken und modernen Wahrnehmung der Konstruktivität von Historiographie vgl. K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007. 28 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium. Bd. 1 (HThK IV/1), Freiburg 61986, 2f.; J. Gnilka, Johannesevangelium (NEB 4), Würzburg 31989, 5; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 62007, 517.532; ders., Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 22000, 12.16; K. Wengst, Das Johannesevangelium, Bd. 1–2 (ThKNT 4/1.2), Stuttgart 2 2004, I 31f.; J. Zumstein, Erinnerung und Oster-Relecture im Johannesevangelium, in: Ders., Kreative Erinnerung (AThANT), Zürich 22004, 47–63, 48f. M. Hengel, Die johanneische Frage (WUNT 67), Tübingen 1993, 265, bezeichnet das JohEv als „ein Werk sui generis“, das aus der mündlichen Lehre erwachsen ist und auf dem Vorbild der Synoptiker aufbaut, diese aber verändert (ebd. 204–209.253). 29 Vgl. zur Begriffsgeschichte jetzt M. Ebner, Evangelium, in: Ders./S. Schreiber (Hrsg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 110–121. 30 Dazu besonders L. Schenke, Das Johannesevangelium. Einführung – Text – dramatische Gestalt (Urban-TB 446), Stuttgart 1992, bes. 211–223. Schon F.R.M. Hitchcock, Is the Fourth Gospel a Drama? (1927), in: M.W.G. Stibbe (Hrsg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth-Century Perspectives (NTTS 17), Leiden 1993, 15–24; dann z.B. S. Smalley, John. Evangelist and Interpreter, Exeter 1978, 192–203; M.W.G. Stibbe, John as Storyteller. Narrative Criticism and the Fourth Gospel (MSSNTS 73), Cambridge 1992, bes. 30–49.

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dagegen aus der Perspektive eines (auktorialen) Erzählers verfasst, der auch Reden und Dialoge in seine Darstellung einbaut. Der Prolog in Joh 1,1–18 erinnert in seiner poetischen Form (Hymnus) und seiner vorausdeutenden Funktion an das Drama. So beginnt Aischylos sein Perser-Drama mit einem Lied des Chorführers, das in die Situation einführt und bereits die Dramatik der Handlung andeutet (Aischyl., Pers 1– 64).31 Doch auch Viten stellen gerne vorweggenommene Deutungen an den Anfang, so viele Viten des Nepos (ausführlich Alkibiades 1,1–4; Thrasybulos 1,1–5; vgl. auch Plut., Sertorius 1,1–6; Pelopidas 2,5). Poetische Formen begegnen auch in den Philosophen-Viten des Diogenes Laertios, der selbst verfasste und fremde Epigramme zitiert (z.B. über Sokrates: II 19.46).

3. Eigentümlichkeiten der johanneischen Jesus-Vita 3.1 Prolog und Herkunft Am Anfang einer antiken Vita muss die Herkunft des Porträtierten stehen, da sie bereits Entscheidendes über dessen spätere Entwicklung verrät. Der Logos-Hymnus in Joh 1,1–18 stellt dabei eine ungewöhnliche Variante dar. Um ihn verstehen zu können, ist religionsgeschichtliches Wissen über den frühjüdischen Weisheitsmythos vorausgesetzt. Demnach existierte die personifizierte Weisheit bereits vor der Schöpfung (als erstes Geschöpf) in unmittelbarer Nähe Gottes, wirkte bei der Schöpfung mit, kennt daher Gott und die Schöpfung und kann so der Welt Gott offenbaren. In manchen Traditionen findet sie einen Wohnort bei den Menschen in Israel, in anderen erfährt sie Ablehnung.32 Teilweise wird die Weisheit mit dem ebenfalls personifizierten Logos identifiziert.33 In diese Rolle tritt nun in Joh 1,1–18 die als „Logos“ codierte Hauptperson ein, indem von ihr uranfängliche Gott-Unmittelbarkeit (1,1f.),34 Schöpfungsmittlerschaft (1,3f.) und daraus folgende Offenbarungsfunktion für die Welt mit ambivalenter Reaktion darauf (Annahme oder Ablehnung 1,5.9–13) erzählt werden. Die Menschwerdung dieses Logos (1,14) umschreibt die Geburt eines konkreten Menschen, der mit dem Logos identifiziert wird und dessen Name (wie in Viten anfangs üblich) in 1,17 mit „Je31

L. Schenke, Johannesevangelium (s. Anm. 30) 216 weist auf Plautus und Terenz hin. Belege sind Spr 1,20–28; 8; 9,1–18; Ijob 28; Sir 1,1–10; 24; Weish 7–9; äthHen 42,1–3; vgl. die Aufstellung bei K. Wengst, Joh I (s. Anm. 28) 37–39. Zu ergänzen sind entsprechende Vorstellungen, die Philo mit der Gestalt des „Logos“ verbindet, z.B. Conf 146f.; Fug 94f.109; Som I 75.85f.229f.; Post 122; Leg All III 96.175; Cher 125.127. 33 Parallelisiert in Weish 9,1f. und bei Philo, Leg All I 65; laut Sir 24,3 geht die Weisheit aus dem „Mund des Höchsten“ hervor. 34 Der Beginn mit GXP CXTEJ^ in 1,1 ist als intertextuelle Bezugnahme auf Gen 1,1 LXX zu verstehen, nicht als Leserlenkung, die den Beginn der Vita anzeigt (wie z.B. bei Philo, Vit Mos I 5 „anfangen will ich“). Anders D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 241f.417f. 32

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sus Christus“ angegeben ist. Die göttliche Herkunft des Porträtierten bedingt hier seinen besonderen „Charakter“. Dahinter tritt seine irdische Herkunft, von der der Verfasser durchaus weiß (1,45; 6,42; 7,27.41), zurück. Das „Einssein“ mit dem Vater als „einziger Sohn“ (1,14.18; 10,30) verbürgt die Authentizität von Jesu späteren Worten und Taten als Offenbarung Gottes. Die Offenbarungsgemeinschaft mit Gott – quellensprachlich: „Herrlichkeit, Gnade, Wahrheit“ (1,14.16f.) – wird damit bereits zu Beginn als Beurteilungskriterium für das zu schildernde Leben deutlich. Und mit Annahme und Ablehnung wird das Lebensschicksal im Voraus angedeutet. Eine göttliche Herkunft des Porträtierten ist ein seltenes Thema in Viten, begegnet aber auch in Suetons Caesar-Vita, indem Sueton Caesar selbst bei seiner Leichenrede auf eine verstorbene Tante hervorheben lässt, dass deren – und damit natürlich auch Caesars – Vorfahren väterlicherseits von den unsterblichen Göttern abstammen (Suet., Iul 6,1). – Das Buch Ijob, das zumindest biographische Züge enthält, beginnt nach der Einführung Ijobs formal analog mit einer „Metageschichte“ im Himmel (Ijob 1,6–12).

3.2 Leitbild-Funktion Plutarch reflektiert die pragmatische Relevanz einer Lebensschilderung zu Beginn der Aemilius-Vita und rechtfertigt damit zugleich seine Tätigkeit als Vitenschreiber. Die Betrachtung literarischer Lebensbilder vermittelt persönliche Orientierung, wenn man sein eigenes Leben „mit den Tugenden jener Männer in Einklang zu bringen“ sucht; ein „stetiges, inniges Zusammenleben“ mit dem Porträtierten fördert die Bildung des eigenen Charakters/JSQL (Plut., Aemilius 1,1–3). Das Lesen der Vita bedeutet eine virtuelle Kommunikation mit dem Leitbild. Entsprechend heben auch andere Biographen die Vorbildfunktion des Porträtierten hervor (Philo, Vit Mos II 59; Tac., Agr 46; Luc., Demon 1). Die joh Jesus-Vita stellt bereits im Prolog den Logos als Leitbild heraus. Seine Aufnahme führt zu einer intensiven Lebensgemeinschaft mit ihm, die die Aufnehmenden, metaphorisch gesprochen, zu „Kindern Gottes“ macht (Joh 1,12f.). Wenn der Text ab 1,14 in die 1. Pers. Plural wechselt, ist die Integration der Lesenden in die Lebensgemeinschaft mit Jesus insinuiert. Das Thema der Nachfolge Jesu vertieft anschließend diese pragmatische Intention. Die Erzählung über Jesu erste Schüler in Joh 1,35–51 enthält textpragmatische Elemente, die die Leser/innen mittelbar zur Nachfolge motivieren: „was sucht ihr?“ (1,38), „kommt und seht!“ (1,39), „folge mir nach!“ (1,43), „komm und sieh!“ (1,46). Die Nathanael-Szene verbindet Anerkennen und Nachfolge inhaltlich mit der Messias-Frage (1,45–51). Das

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Nikodemus-Gespräch vertieft die Gründe für den Existenzwandel, den der Eintritt in die Nachfolge bedeutet,35 durch die Heil und Leben schaffende Offenbarung Gottes in seinem Sohn (3,1–21, bes. 3,16). Der erste Epilog in 20,30f. fasst abschließend die Konzentration der Vita auf Jesus, der sich in Zeichen offenbarte, zusammen und legt in zwei Finalsätzen (K=PC) die Intention offen, zur persönlichen Beziehung mit Jesus („damit ihr glaubt“) als Offenbarer Gottes und aus dieser Beziehung zum (modern gesprochen: gelungenen) Leben zu führen. Die Charakterisierung Jesu geschieht wie in vielen Viten vor allem indirekt über seine Worte und Taten. Die Darstellung bietet ein Interpretationspotential für das Verständnis der Person Jesu an, so in der Charakterisierung seiner Wunder als „Zeichen“ (z.B. 2,11; 4,54; 6,2.14.30; 12,37; 20,30f.) und der metaphorischen Sprache der „Ich bin“-Worte (z.B. 6,35; 8,12).36 Gerade die Abschiedsreden Joh 14–17 greifen über die erzählte Situation hinaus in die Gegenwart der Leser/innen. Aber nicht nur der Inhalt, sondern auch der literarische Charakter profiliert die joh Vita gegenüber anderen antiken Viten (einschließlich der Synoptiker): Sie wirken theologisch assoziativ, ihr Thema umkreisend und wiederholend, was auf die pragmatische Intention einer persönlichen, innerlich aneignenden Rezeption schließen lässt.

3.3 Synkrisis Ebenfalls im Prolog beginnt eine Erzähllinie, die Jesus und Johannes (den Täufer) vergleicht. Johannes wird in der Funktion des Zeugen eingeführt (1,6–8.15), die auch bei seinen weiteren Auftritten seine Rolle bestimmt.37 Das Formschema der Synkrisis, des Vergleichs mit einem geeigneten Gegenüber, gehört zu den grundlegenden Darstellungsmitteln antiker Viten. Die Parallelbiographien Plutarchs erheben die Synkrisis zum Ordnungsprinzip ganzer Viten, indem sie jeweils eine bedeutende griechische und römische Persönlichkeit in Analogie zueinander porträtieren. Als Vergleichskriterium ist dabei „eine vergleichbare hervorstechende Leistung, Eigenschaft, Qualität“ der parallelisierten Männer vorausgesetzt.38 In ande35 Dafür wird das starke Bild der „Neugeburt“ verwendet (3,3.5.7), das, unterstützt vom folgenden Kontext 3,22, an die Taufe und die damit verbundene rituelle Konzentration der Erfahrung eines Existenzwandels erinnert. 36 Vgl. R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 222f. 37 Joh 1,19–36; 3,22–36; 4,1f.; 5,33f.36; 10,41. 38 Vgl. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 149. Dazu auch H. Erbse, Die Bedeutung der Synkrisis in den Parallelbiographien Plutarchs, in: Hermes 84 (1956) 398–424. Als Hintergrund F. Römer, Kontrastfiguren in den Annalen des Tacitus, in: AAH 39 (1999) 297–312. Zum Phänomen

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ren Viten begegnen synkritische Einspielungen, z.B. wenn Plutarch den aufstrebenden Pompeius neben den bereits politisch etablierten Sulla stellt und bemerkt, dass Pompeius’ Macht im Wachsen, die des Sulla aber im Abnehmen begriffen sei.39 Vergleichskriterium zwischen Jesus und Johannes ist ihre Offenbarer-Funktion: Während Johannes Jesus als Messias offenbart, also Zeugnis für Jesus ablegt,40 vermag Jesus aufgrund seiner Herkunft Gott selbst unmittelbar zu offenbaren – wie sein gesamtes Auftreten zeigen wird. Während Jesus wachsen muss, muss Johannes abnehmen (Joh 3,30). Häufig wird Jesus auch mit Mose,41 je einmal mit Jakob (4,12–14) und Abraham (8,30–59) synkritisch in Beziehung gesetzt. Die Suche nach dem Vergleichskriterium erkennt Abraham, Jakob und vor allem Mose als wesentliche Traditionsträger der jüdischen Kultur. Der Vergleich mit ihnen profiliert Jesus als authentischen Offenbarer Gottes, der die Tradition Israels anwendet und modifiziert. Anders gelagert ist die narrative Synkrisis in 18,12–27, die zwei Verhaltensweisen scharf kontrastiert: Während Petrus gegenüber den Bediensteten des Hohenpriesters seine Beziehung zu Jesus leugnet, spricht Jesus vor dem (ehemaligen) Hohenpriester Hannas ein freimütiges Bekenntnis zu seiner Sendung aus.

3.4 Handlungsbogen Mit Joh 2,1 beginnt, unmittelbar aus den Nachfolgeerzählungen hervorgehend,42 die Darstellung der Taten und Worte Jesu. Die rückblickende Kennzeichnung des Weinwunders von Kana als „Anfang der Zeichen“ (2,11) korrespondiert dabei mit dem gebräuchlichen Viten-Motiv, dass auf einen der Synkrisis C.G. Müller, Mehr als ein Prophet. Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk (HBS 31), Freiburg 2001, 49–58; ders., Der Zeuge und das Licht. Joh 1,1–4,3 und das Darstellungsprinzip der „synkrisis“, in: Bib. 84 (2003) 479–509. 39 Plut., Pomp 14,3. Vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 433 Anm. 40. 40 Das „Zeugnis des Johannes“ (Joh 1,19) steht unter der Thema-Frage, wer der Messias ist (1,20). Dieses Zeugnis verdankt sich göttlicher Offenbarung (1,31–33) und ist am Anfang der Vita wichtig, da Jesus noch nicht aus seinen Taten oder Worten erkannt werden kann (1,26). Mit dem „Lamm Gottes“ (1,29.36; wohl eine Allusion an Jes 53,7; dazu D. Rusam, Das „Lamm Gottes“ [Joh 1,29.36] und die Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: BZ 49 [2005] 60–80) sind Bedeutung und Geschick Jesu angedeutet. Zur Synkrisis Jesus/Johannes vgl. auch D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 419f.423–427. – In 4,1 werden konkret die Tauftätigkeit und das Gewinnen von Schülern zum Vergleichskriterium. 41 Joh 1,17; 3,14; 5,45–47; 6,32–35; 7,19–24; 8,5.7; 9,28f. 42 Die Zeitangabe „am dritten Tag“ verbindet mit dem Vorhergehenden und markiert zugleich eine Distanz, einen Neueinsatz. Letzteres wird durch den Ortswechsel nach Kana unterstrichen.

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vielversprechenden Anfang weitere bedeutende Taten folgen.43 Die Erzählstrategie wirkt zunächst eher statisch: Nachdem im Prolog Herkunft und Bedeutung Jesu bereits deutlich in Position gebracht sind, kann der Handlungsverlauf keine schrittweise Enthüllung dieser Bedeutung mehr bieten.44 Jede Einzelepisode kreist mutatis mutandis wieder um das zentrale Problem, das die ganze Vita durchzieht: die Diskussion um Anerkenntnis oder Ablehnung des Offenbareranspruchs Jesu. Und doch unterlegen zwei Erzähllinien die Darstellung mit einer dramatischen Handlungsstruktur. Von Beginn des Auftretens Jesu an deuten sich Konflikte mit der geistigen und politischen Führung der Juden (bzw. „den Juden“ allgemein) an, die sich verschärfen und zuspitzen45 und im Todesbeschluss des Jerusalemer Synedriums gipfeln (11,47–53.57). Parallel dazu richtet die Erzählung ebenfalls von Anfang an und mit zunehmender Deutlichkeit den Blick auf Jesu Tod.46 Darin geschieht eine groß angelegte Verarbeitung der Hinrichtung Jesu am Kreuz und der darin enthaltenen negativen soziopolitischen Semantik. In der Mitte der Vita ist der Eintritt Jesu in das Sterben erreicht: „Vor dem Passafest aber erkannte Jesus, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt hinübergehe zum Vater“ (13,1). Zuvor hat der Porträtierte selbst sein öffentliches Wirken abgeschlossen durch eine Vorausdeutung seines Sterbens (12,23–33) und eine letzte Gegenüberstellung von Glaube und Unglaube, Annahme und Ablehnung gegenüber seiner Sendung (12,34–36.44–50). Der darin inkludierte Erzählerkommentar dazu (12,37–43) zieht eine Art Zwischenfazit, indem er Jesu Wirken als öffentliche „Zeichen“ zusammenfasst und die Ablehnung als Erfüllung prophetischer Voraussagen (Jes 53,1 und 6,10) erklärt. Damit ergibt sich eine Zweiteilung der Vita: Auf eine Phase des Wirkens Jesu vor der (jüdischen) Öffentlichkeit (1,34–12,50) folgt eine Phase der Konzentration auf die eigene Anhängergruppe (13,1–20,29); die Ereignisse von Gefangennahme, Verhör und Tod Jesu blenden dabei die jüdische bzw. römische Öffentlichkeit in Jerusalem zusätzlich ein (18,1– 19,42). Die Analyse der erzählten Zeit unterstützt diese Zweiteilung: Während der erste Teil etwa zwei bis drei Jahre umfasst, lässt sich der

43 Z.B. Xenoph., Ag I 10; Plut., Timoleon 13,1. Vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 431. Auch Philo, Vit Mos I 79 spricht vom „ersten Wunder“ des Mose (dem sogleich zwei weitere folgen: 79–82); einleitend hatte er diese Wunder als UJOGKC bezeichnet (I 77). 44 D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 435 betont, dass im JohEv kein erzählerischer Spannungsbogen wie im MkEv existiert, der Jesu Identität erst allmählich klärt. 45 Joh 2,13–21; 3,9–12.36; 4,1.44; dann 5,16.18.41–47; 6,41f.52; 7,1–52; 8,37–59; 9,16.22.24–41; 10,31–39. 46 Joh 1,29.36; 2,19–22; 3,14–16; 5,18; 7,1; 12,24–33.

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zweite in Tagen zählen und signalisiert so eine Bedeutungsverdichtung des Geschehens.47 In seinem Sterben und Tod ereignet sich der letzte große Konflikt Jesu mit der jüdischen und jetzt auch der römischen Führung, auf den die Vita zielgerichtet und in proleptischen Vorgriffen zulief. Hier wird das Lebensprogramm, für das Jesus steht, besonders deutlich. Mit der Symbolaktion der Fußwaschung gibt er seinen Schülern ein „Beispiel“ (WBBRQFGKIOC 13,15 im Rahmen von 13,1–17) zur Orientierung des Umgangs miteinander, das er im anschließenden Gespräch in das „neue Gebot“ der gegenseitigen Liebe fasst (13,34f.). Das Thema wird in den darauf folgenden Abschiedsreden – die Szene ist die eines Symposions nach dem Abendessen (FGKRPQP 13,2.4) – vertieft (15,9–17) und am Ende explizit für die, „die durch ihr Wort an mich (Jesus) glauben werden“, also für alle Lesenden, geöffnet – damit alle eins seien wie auch der Vater und der Sohn eins sind (17,20f.). In seinem Sterben „für seine Freunde“ (15,13)48 ist Jesu Leben an sein Ziel gelangt, so dass Jesu ultima verba lauten können: „Es ist vollendet“ (19,30). Nach den Maßstäben Gottes war dieses Leben ein voller Erfolg!49 Indem sich Jesu Tod vor den Augen der Öffentlichkeit vollzieht, wird die Vollendung seines Lebensprogramms für alle sichtbar. Die joh Vita Jesu endet nicht mit dem Tod Jesu. Mit den Erzählungen vom leeren Grab (20,1–10) und von den Erscheinungen Jesu vor Maria von Magdala, den versammelten Schülern und Thomas (20,11–29) werden die Überwindung des Todes durch die einzigartige Beziehung Jesu zu Gott, die göttliche Bestätigung seiner Sendung und seine bleibende Bedeutung für die Leser/innen narrativ entfaltet. Diese Erzählungen stellen ein Proprium der Jesus-Überlieferung innerhalb der antiken Vitenform dar. Die nächste Parallele findet sich meines Wissens am Ende von Plutarchs RomulusVita. Zunächst gibt das geheimnisvolle Verschwinden des Romulus Anlass zu der Annahme, er sei zu den Göttern entrückt worden (Plut., Romulus 27,3–8; vgl. Numa 2,1–3). Dann erscheint der Entrückte selbst einem gewissen Proculus, als herrscherliche Gestalt in prächtiger Waffenrüstung, enthüllt ihm seine göttliche Sendung zur 47

Eine andere Struktur erkennt D. Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 9) 430–443.447: Joh 2,1–12 bilde den Übergang zum Mittelteil, der seinen Höhepunkt bereits im Speisungswunder 6,5–15 finde (worin ein für alle vier Evangelien prägendes Schema liege, vgl. 302f.); ab 11,47 vollziehe sich der Schlussteil. 48 Vgl. J. Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS K. Berger), Tübingen 2000, 263–287; K. Scholtissek, „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), in: J. Frey/U. Schnelle (Hrsg.), Kontexte des Johannesevangeliums (WUNT 175), Tübingen 2004, 413–439. 49 Tacitus bewertet Leben und Tod des Agricola als „glücklich zu preisen“ (Tac., Agr 45,3). Zum Tod als „Siegel“ eines tugendhaften Lebens vgl. A. Dihle, Biographie (s. Anm. 3) 126.134f.; ders., Grundlagen (s. Anm. 1) 4f.

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Gründung Roms und seine Rückkehr in den Himmel nach vollbrachter Tat, übergibt ihm die Zusage an die Römer, mittels der Tugenden UYHTQUWPJ und CXPFTGKC zur höchsten Macht zu gelangen, und verspricht dazu seinen nunmehr göttlichen (FCKOYP) Beistand (Romulus 28,1–3). Vom heroisierten Theseus weiß Plutarch zu erzählen, er sei einigen Athenern bei der Schlacht von Marathon als Geist erschienen (Plut., Thes 35,5). Philo deutet eine Entrückung des Mose als Vollendung seiner göttlichen Sendung an (Vit Mos II 291). Im Zusammenhang römischer Kaiser-Ideologie bedeuten die Entrückungen des Caesar und des Augustus (Suet., Iul 88; Aug 100) die göttliche Legitimation des Herrschers; auch der Steinsarg des Numa wurde leer aufgefunden (Plut., Numa 22,5).

3.5 Zwei Epiloge und ein Nachtrag Die joh Vita Jesu endet in 20,30f. mit dem zusammenfassenden Verweis auf weitere „Zeichen“ Jesu, die nicht in der Vita dokumentiert sind. Zeichen waren auch schon der Gegenstand des Zwischenfazits in 12,37, so dass sich vom „Anfang der Zeichen“ in 2,11 über beide Teile der Vita bis zum Epilog ein großer Bogen spannt. Zugleich wird der Zweck der Vita angegeben: die Lebens-Beziehung der Leser/innen zu Jesus als Leitbild (Messias und Sohn Gottes). Als formale Analogie eines Vitenabschlusses sei die Zusammenfassung bei Philo, Vit Mos II 292 zitiert: „So war das Leben, so war auch das Ende des Herrschers, Gesetzgebers, Oberpriesters und Propheten Mose, wie es in der heiligen Schrift geschildert wird.“ Die in der Vita als wesentlich herausgearbeiteten Funktionen und Eigenschaften des Mose sind damit abschließend resümiert. Den Auswahlcharakter des Erzählten hält das Schlusswort in Lukians Demonax-Vita fest: „Dies wenige aus vielem, was ich noch hätte beibringen können, wird doch immer hinlänglich sein, den Lesern einen richtigen Begriff von diesem denkwürdigen Mann zu geben“ (Luc., Demon 67). Das Erzählte genügt, um die Bedeutung des Demonax erfassen zu können.

Dem im ersten Epilog erreichten Abschluss des Lebens Jesu folgt jedoch in Joh 21,1–23 eine weitere Erscheinung des erweckten Jesus und ein Gespräch zwischen Jesus und Petrus. Jesus konstituiert am See von Tiberias die Nachfolgegemeinschaft nach den Ereignissen um seinen Tod neu50 und regelt die Leitung des Schülerkreises,51 nicht ohne dabei dem geliebten 50 Indizien sind die Schülerliste 21,2, das mit 153 Fischen prall gefüllte Netz, das dennoch nicht reißt 21,11, und das gemeinsame Essen von Fisch und Brot 21,12f. Zur enigmatischen Zahl 153 vgl. K. Wengst, Joh II (s. Anm. 28) 315f. Der Kontext leitet das Verstehen der Zahl: Größe, Menge und Einheit – wohl ein Bild für die junge Christengemeinschaft in petrinischer Tradition. 51 21,15–19 nimmt wesentliche Motive der joh Gemeindetheologie auf: die Liebe als Verbindung zu Jesus; der gute Hirte, der sein Leben für die Schafe gibt (10,11 im Kontext von Kap. 10). Auch bei Petrus wird die Nachfolge in den Tod führen (21,18f.).

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Jünger als Repräsentationsgestalt der joh Tradition eine besondere Rolle einzuräumen (21,20–23). Diesen geliebten Jünger profiliert nun der zweite Epilog, der das Buch endgültig beschließt, als verlässlichen Zeugen und Tradenten des Stoffes der Jesus-Vita (21,24). Ganz am Ende gibt damit der Verfasser seine „Quelle“ an und betont deren Zuverlässigkeit. Das „Ich“ dieses Verfassers scheint dann im letzten Satz kurz auf, bleibt freilich gegenüber dem eigentlichen Tradenten im Hintergrund und verbirgt sich hinter dem floskelhaften Hinweis auf die nicht zu erfassende Gesamtmenge der Taten Jesu (21,25). Vielleicht bedeutet die unbestimmte Erwähnung endlos vieler „Bücher“, die zu schreiben wären, um Vollständigkeit zu erreichen, eine hintergründige Relativierung der Schriften anderer JesusGruppen.52 Eine Vita erfasst das Wesentliche eines Lebens, auch wenn noch mehr Material zur Verfügung stünde,53 und so bleibt für die joh Gemeinde die vorliegende Vita, authentisch begründet im Zeugnis des geliebten Jüngers, Orientierung ihres Lebens. Mit Joh 21 liegt also ein Nachtrag zur eigentlichen Jesus-Vita vor. Innerhalb der antiken Viten-Literatur stellt dies eher eine Ausnahme dar, findet aber doch Parallelen. Cornelius Nepos fügt seiner Atticus-Vita kurz nach dem Tod des Porträtierten und anlässlich einer zweiten Auflage einen Nachtrag an.54 Der Neueinsatz in 19,1 blickt auf die Vita vor Atticus’ Tod zurück, gibt die Absicht der nunmehr möglichen Vervollständigung und den Zweck der Vita an: Atticus soll als Beispiel (exemplum) für die eigene Lenkung des persönlichen Schicksals durch Bildung des Charakters dienen (vgl. 11,6). Der Nachtrag enthält aber nicht nur Erkrankung, Ankündigung des Freitods, Tod und Begräbnis des Atticus (21), sondern thematisiert auch sein Verhältnis zum aufstrebenden Octavian, der zuvor lediglich beiläufig erwähnt wurde (12,1), dessen politische Karriere jedoch zur Zeit des Nachtrags einen steilen Aufstieg nahm. Bezeichnend ist, dass das Verhältnis eher distanziert gezeichnet ist: Atticus’ freundschaftliches Verhalten gegenüber Octavian ging nicht über das für ihn typische Maß hinaus (19,2); das Interesse an dieser Freundschaft ging einseitig von Octavian aus (20,1f.), Atticus trat dabei v.a. für öffentliche Belange ein (20,3); Atticus wurde von Octavian und dessen politischem Gegner Antonius in gleicher Weise geschätzt und schlug sich

52 Ob dabei an Paulusbriefe, die Logienquelle, das MkEv oder an MtEv und LkEv zu denken wäre, sei hier offen gelassen. Zur strittigen Frage nach dem Verhältnis zwischen JohEv und Synoptikern vgl. S. Schreiber, Kannte Johannes die Synoptiker? Zur aktuellen Diskussion, in: VF 51 (2006) 7–24. 53 Damit dient die Aussage eher der Abgrenzung denn der Eröffnung eines Erfahrungsraums für das weiterhin geschehende Wirken Jesu. Letzteres vertritt K. Wengst, Joh II (s. Anm. 28) 328. 54 Corn. Nep., Att 19–21. Datum ist das Jahr 29 v.Chr.; die Vita wurde erstmals im Jahr 35 und damit noch zu Lebzeiten des Atticus, der 32 starb, veröffentlicht, was eine Ausnahme darstellt. Vgl. die Hinweise bei H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 108.112; M. Ebner, Viten (s. Anm. 5) 47f.

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auf keine Seite (20,4f.). Mehr noch, es wird verborgene Kritik am Anspruch Octavians hörbar: Glück, nicht besondere persönliche Dignität, ist die Ursache seines Erfolgs (19,2f.); das Streben Octavians nach Weltherrschaft und absoluter Macht wird mit dem seines Erzfeindes Antonius gleichgesetzt (20,5) – und indirekt mit dem Streben des Atticus konfrontiert, der „seine eigene Persönlichkeit geformt hat (se ipse finxit)“ (11,6); eine andere Form von Macht – die über sich selbst – ist das Ziel des Atticus!

So schafft Nepos in diesem Nachtrag einen stärkeren Bezug der Vita zur aktuellen politischen Situation, für die das an Atticus entwickelte Leitbild Bedeutung gewinnt: eine zum römischen Politiker-Ideal der Zeit alternative Lebensgestaltung, orientiert an der griechischen Kultur und Philosophie.55 Damit rechtfertigt Nepos nicht nur den Lebensstil seines Freundes Atticus, sondern verteidigt implizit auch seine eigene Lebensweise. Die Darstellung des Nachtrags forciert die Gültigkeit des Atticus-Ideals für die Gegenwart des Nepos und damit die politische Relevanz der Vita. In seiner Epaminondas-Vita kennzeichnet Nepos den Schlussgedanken als Nachtrag (10,4: adiunxero): Das tugendhafte Leben des Epaminondas führt letztlich dazu, dass Theben während dessen Lebenszeit nicht unter alienum imperium, sondern ausnahmsweise caput Griechenlands war; und er fügt hinzu: Ex quo intellegi potest unum hominem pluris quam civitatem fuisse. Vorsichtig formuliert steht der Einzelne mit besonderen Tugenden der Bürgerschaft gegenüber. Man fühlt sich an Atticus erinnert,56 besonders, wenn man die in der Vita beschriebenen Tugenden betrachtet: musisch-geistige Vorzüge (2,2; 3,1–3) – in Verbindung mit der Bemerkung, diese würden zur Zeit des Biographen kaum mehr geschätzt (2,3); Unbestechlichkeit (4,1– 6); Überzeugungskraft durch politische Rhetorik (5,1–6,4); Souveränität gegenüber der öffentlichen Meinung (auch angesichts drohenden Todes; 7,3–8,5); Verweigerung der Beteiligung am Bürgerkrieg (10,3).

Diogenes Laertios beschließt die Vita des Sokrates (Diog. L. II 18–47) mit einem Nachtrag (43–47), wobei er den Übergang knapp andeutet: „So war er (Sokrates) also von den Menschen weggenommen“ (43). Als zentrales Thema des Nachtrags erscheint der Gegensatz zwischen der Verkennung und der wahren Größe des Sokrates, womit die Rehabilitation des von den Athenern zum Tode verurteilten Sokrates herausgestellt wird. So erzählt Diogenes von der bald eintretenden Reue der Athener, die sich in der Bestrafung der Gegner und der Errichtung einer Bronzestatue ausdrückt; dabei ist

55 Dazu S. Anselm, Struktur und Transparenz. Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Feldherrnviten des Cornelius Nepos (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 11), Wiesbaden 2004, 175–182; H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 113. 56 S. Anselm, Struktur (s. Anm. 55) 175.182, arbeitet Atticus als idealen Leser der Feldherrnviten heraus.

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Sokrates mit anderen verkannten Geistesgrößen vergleichbar (43f.).57 Ein selbst verfasstes Epigramm58 auf Sokrates kontrastiert die göttliche Weisheit des Sokrates mit der ungerechtfertigten Ablehnung seitens der Athener (46). Und was die Ablehnung seiner Lehre betrifft, steht Sokrates in der Gesellschaft prominenter Vorgänger wie Pythagoras, Homer und Hesiod (46) – was wieder seiner Rechtfertigung dient. Die Liste der Schüler des Sokrates kann so berühmte Namen wie Plato, Xenophon und Antisthenes nennen (47).59

In welcher Beziehung die hier hervorgehobene Rechtfertigung des Sokrates bzw. allgemeiner das Thema der unangemessenen Ablehnung eines großen Philosophen zur Gegenwart des Diogenes Laertios steht, bleibt uns verborgen, da über dessen Person und Leben kaum Informationen erhalten sind.60 Auf diesem Hintergrund scheint es möglich, die beiden Epiloge in Joh 20,30f. und 21,24f. nicht als literarkritische Naht, sondern als literarisches Darstellungsmittel zu lesen, mit dem sich eine bewusste Textstrategie verbindet: Der Nachtrag in Joh 21 trennt die „Nachgeschichte“ von der eigentlichen Vita, um sie zugleich sachlich mit ihr in Beziehung zu setzen. Die soziopolitische Situierung der Vita kommt im Nachtrag fokussiert zur Sprache.61 Daraus ergeben sich Impulse für die Verfasserfrage (4.) und die Konstruktion der textexternen Situation (5.). Die internationale Forschung beurteilt Joh 21 nach wie vor kontrovers. Der Großteil der Forschung versteht 21,24f. so, dass sich hier der Verfasser des Nachtrags zu erkennen gibt, der zugleich den Hauptteil als Werk des geliebten Jüngers kenntlich macht.62 Daraus ergibt sich die Zuweisung von Joh 21 an eine spätere Redaktion. Auf der anderen Seite wächst die Zahl der Stimmen, die Joh 21 als ursprünglichen Bestandteil der Schrift verstehen – freilich teilweise verbunden mit dem texttheoreti-

57 Etwas unsystematisch, aber für die kompilierende Arbeitsweise des Diogenes typisch, schließt sich eine Diskussion über das Geburts- und Todesdatum des Sokrates und ein Hinweis auf dessen naturwissenschaftliches Interesse an (44f.). 58 Dies entspricht der Gewohnheit des Diogenes, vgl. zu Aristoteles (V 8) oder Epikur (X 16). 59 Den Abschluss bilden wie üblich andere prominente Träger des gleichen Namens. 60 Dazu H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 191. 61 Nepos intendierte die Rechtfertigung der eigenen Lebensweise gegenüber dem politischen Trend. Für ihn lässt sich auch ein Gruppenbezug verifizieren: Zusammen mit seinen Freunden Varro und Cicero steht er für eine „Richtung im spätrepublikanischen Rom, der an einer Annäherung des griechischen und des römischen Kulturkreises gelegen“ war (H. Sonnabend, Geschichte [s. Anm. 1] 110). Der Bezug zur außertextlichen Wirklichkeit sei betont gegen H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 776–796, der Joh 21 als intra- oder intertextuelles „Spiel“ zwischen Text und Prätexten versteht. Aber auch U. Busse, Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual (BEThL 162), Leuven 2002, 268–271.301f., betont die literarische Funktion des geliebten Jüngers. 62 So für viele K. Wengst, Joh I (s. Anm. 28) 30f.; II 325, und U. Schnelle, Joh (s. Anm. 28) 314f.320f.; ders., Einleitung (s. Anm. 28) 523f. Für eine kaum im Einzelnen identifizierbare Schlussredaktion, die durch Joh 21,24f. bezeugt ist, M. Hengel, Frage (s. Anm. 28) 224f.273.

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schen Postulat, dass die literarische Textwelt ganz in sich zu verstehen sei und nicht transparent für eine dahinter erkennbare Gesprächssituation werde.63

4. Joh 21 und die Verfasserfrage Lässt Joh 21,24f. also zwei unterschiedliche Verfasser erkennen? Und steht überhaupt die Verfasserfrage im Zentrum der Verse? Ein äußerer Hinweis auf die Einheitlichkeit von Joh 1–21 ergibt sich aus dem Fehlen jedes textkritischen Belegs für eine Version des JohEv ohne Kap. 21. Eine Abfassung des Nachtrags durch den Biographen in großer zeitlicher Nähe zum Hauptteil wird damit wahrscheinlich.64 Dies bestätigt der Anschluss mit OGVC VCWVC in 21,1, der keinen Hinweis auf einen größeren Zeitabstand zwischen Nachtrag und Hauptteil enthält. Sprachlich bezieht sich die Aussage in 21,24 auf das ganze Buch. Denn die Demonstrativpronomina in 21,24 (RGTKVQWVYP bzw. VCWVC) verweisen nach üblichem griechischen Sprachgebrauch auf etwas gerade Genanntes, können also kaum über Kap. 21 hinweg nur Joh 1–20 meinen.65 Der unmittelbar vorangehende Text 21,1–23 muss zumindest mitgemeint sein. Dann ist es auch unwahrscheinlich, dass ein Anonymus in 21,24f. den geliebten Jünger als Verfasser des übrigen Textes ausweisen will. Die Struktur des Satzes 21,24 hebt nämlich die Zeugnisfunktion des geliebten Jüngers hervor: „Dieser ist der Schüler, der über dieses zeugt und der dies schrieb, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ Das Zeugnis umgreift das „Schreiben“ in Form einer inclusio, die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses ist der Zielpunkt. Der Fokus liegt nicht auf der Verfasserschaft der Vita, sondern auf der Verlässlichkeit des darin enthaltenen Zeugnisses. Bereits 63 Vgl. H. Thyen, Joh (s. Anm. 61) 4f.772–777.788.793f.; U. Busse, Johannesevangelium (s. Anm. 61) 260–268. Geschichtliche Einblicke sieht dagegen C.S. Keener, John I (s. Anm. 19) 113; II 1217–1224. 64 Der Einwand, dass bis zu den ersten greifbaren Textzeugen ein Zeitraum von über einhundert Jahren bleibe, wird relativiert durch andere Texteinheiten, deren sekundäre Zufügung in der Textüberlieferung Spuren hinterlassen hat, z.B. 1 Kor 14,34f.; Mk 16,9–20; Joh 7,53–8,11. Vielleicht hat ja Tertullian die Textgestalt von Joh 21 als Nachtrag wahrgenommen, wenn er nach einem Durchgang durch das Werk Joh 20,30f. als clausula Evangelii und definitiva sententia bezeichnet (Prax 25,4), denn zugleich zeigt er Kenntnis von Passagen aus Joh 21 (Belege bei M. Hengel, Frage [s. Anm. 28] 218 Anm. 36). Ins Gespräch brachte die Tertullian-Stelle M. Lattke, Joh 20,30f. als Buchschluss, in: ZNW 78 (1987) 288–292. Wenig beweiskräftig ist m.E. ein koptisches Papyrusblatt mit Joh 20,19–31, wohl eine private (!) Abschrift aus dem 4. Jh., das den Rest der Seite nach 20,31 nicht füllt; unklar bleibt, ob nur diese Passage oder das ganze JohEv kopiert wurde; Edition bei G. Schenke, Das Erscheinen Jesu vor den Jüngern und der ungläubige Thomas, in: Coptica – Gnostica – Manichaica (FS W.-P. Funk) (BCNH.E 7), Québec/Leuven 2006, 893–904. 65 Zur Verwendung der griechischen Demonstrativpronomina vgl. BDR § 290.

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19,35 betont die Authentizität des Zeugnisses vom Kreuzestod Jesu, verbürgt durch den Augenzeugen (nach 19,26 wohl der geliebte Jünger). Dem entspricht auch die 1. Pers. Plural des Verbs QKFCOGP in 21,24: Das Bewusstsein, die Überzeugung der Gemeinde („wir“) bestätigt das Zeugnis.66 Dass das Zeugnis der Gemeinde anvertraut ist, zeigt auch 15,26f.: Der Paraklet, den Jesus seinen Schülern zusagt, wird ebenso zum Jesus-Zeugen wie die Schüler, die von Anfang an dabei waren. Das „Wir“, in das sich der Biograph in 21,24 einreiht, ist vom geliebten Jünger als (Ur-)Zeugen unterschieden. Der Verfasser der Vita legt also in 21,24 seine Quelle offen. Die Angabe von Quellen zählt zu den Gepflogenheiten der Darstellung in antiken Viten.67 Philo erwähnt ganz am Ende seiner Mose-Vita eine schriftliche Quelle – die „heilige Schrift“ selbst ist die Basis seines Werkes (Vit Mos II 292, zitiert unter 3.5), auf der er freilich eine eigene Vita aufbaut. In Joh 21,24 dient die Quellenangabe der personalen Autorisierung der Schrift als Zeugnis des geliebten Jüngers: Der geliebte Jünger ist der eigentliche, „wahre“ Verfasser der Vita, sein Zeugnis bildet die Basis, auch wenn er selbst nicht bei der Abfassung die Feder geführt hat.68 Die literarische Quellenfrage verbindet sich mit der theologischen Zeugnisthematik. Der Hinweis auf das „Schreiben“ des geliebten Jüngers kann dann so interpretiert werden, dass für den Verfasser der geliebte Jünger die Vita im tieferen Sinne geschrieben hat und er selbst ganz hinter dessen Autorität zurücktritt.69

5. Die textexterne Situation – Konstruktionen 5.1 Die Exklusivität des Königs Jesus Antike Viten, so konnten wir feststellen, setzen sich mehr oder weniger direkt mit den soziopolitischen Verhältnissen ihrer Zeit auseinander. Bereits 66

Vgl. schon R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK II), Göttingen 111978, 555f., der das „Bewusstsein der Gemeinde“, freilich von einem redaktionellen Verfasserkreis, angesprochen sieht. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 22000, 331: „im ‚Wir‘-Stil der Kirche“. Anders R. Bauckham, Jesus (s. Anm. 22) 369–383: das „Wir“ sei ein „‚we‘ of authoritative testimony“ (371) und stehe für „Ich“. 67 Beispiele sind die Quellen-Diskussionen bei Corn. Nep., Alkibiades 11,1; Konon 5,4; Plut., Alex 31,2f.; 38,4; 46,1f.; Numa 21,4; 22,2.4. 68 Als grammatikalische Eröffnung eines semantischen Spielraums des Verbs ITCHGKP sei an dessen kausative Bedeutung („schreiben lassen“) erinnert (z.B. Joh 19,19: Pilatus ließ den Titulus schreiben); vgl. die antike Praxis, Briefe zu diktieren (z.B. Röm 15,15 mit 16,22). Für ein wörtliches Verständnis tritt u.a. R. Bauckham, Jesus (s. Anm. 22) 358–363 ein. 69 Sprachlich hebt sich Joh 21 nicht vom Rest der Schrift ab, vgl. E. Ruckstuhl/P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium (NTOA 17), Freiburg (Schweiz) 1991, bes. 251–253. Zu einigen inhaltlichen Verbindungen vgl. den folgenden Abschnitt (5.).

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die Tatsache, dass über Jesus eine Vita verfasst wurde, ist bemerkenswert, belegt sie doch die Fokussierung auf die Gestalt Jesu als Leitbild einer bestimmten Gruppe. Mit der Vita findet eine Konzentration auf eine aus den Volksgruppen Israels herausgehobene Einzelperson als Offenbarer des Gottes Israels statt.70 Der Exklusivanspruch, der dabei immer wieder erhoben wird (z.B. 3,36; 6,53; 8,24; 12,48; 14,6; 15,4–6), findet besonders starken Ausdruck in der Königsprädikation für Jesus. Die messianische Königsstellung Jesu wird, ausgehend vom Bekenntnis in Joh 1,49 zu Jesus als „Sohn Gottes“ und „König Israels“, im Plot der Vita entfaltet.71 Nach dem Speisungswunder entzieht sich Jesus dem Wunsch der Volksmenge, ihn zum König zu machen (6,15). Die unverhältnismäßig große Menge (eine Litra entspricht etwas mehr als einem Viertelliter) sehr teuren (300 Denare) Nardenöls, das bei der Salbung Jesu in 12,1–8 allein für seine Füße aufgewendet wird, zeigt königliche Dimensionen. Der als Einholung eines Herrschers gestaltete Einzug Jesu in Jerusalem (12,12–19) proklamiert ihn als „König Israels“. Den Höhepunkt bildet die Passion. Beim Verhör vor Pilatus bestätigt Jesus sein Königsein (18,36f.). Die Verspottung Jesu durch die Soldaten (19,2–5) verbindet die grausame Handlung mit hintergründiger Ironie: Der wahre König wird in einer Persiflage unwissentlich als König verehrt. Die Szene um den Kreuzestitel (19,19–22) oszilliert zwischen der Verurteilung Jesu als revolutionärem Königsprätendenten und seinem wirklichen Königsein; dass Pilatus den Titulus gegen den erklärten Willen der jüdischen Führung nicht entfernt, bestätigt ironischerweise den Königsanspruch. Jesu Begräbnis schließlich wird unter Verwendung einer „königlichen“ Menge wertvoller Duftstoffe vollzogen (19,38–42).

Als König Israels gebührt Jesus innerhalb des Judentums umfassende Anerkennung, womit ein Exklusivanspruch reklamiert wird. Paradoxerweise 70

Dieser Vorgang ist sonst nur für Mose belegt, vgl. Philo, Vit Mos I–II. Die biographischen Passagen über Josef (Gen 37–50) oder David (1 Sam 16–1 Kön 2) z.B. sind in größere Erzählzusammenhänge eingebunden, d. h. im AT dominiert die Geschichtsschreibung, die JHWHs Wirken in Israels Geschichte dokumentiert. Die Autorisierung apokalyptischer Schriften durch fiktive Gestalten (der Vergangenheit) wie Henoch, Esra, Mose kann nur bedingt als Analogie gelten. Der christologische Fokus der Jesus-Viten gewinnt zusätzlich Profil angesichts des Fehlens von Rabbinen-Viten; dazu P.S. Alexander, Rabbinic Biography and the Biography of Jesus. A Survey of the Evidence, in: C.M. Tuckett (Hrsg.), Synoptic Studies. The Ampleforth Conferences of 1982 and 1983 (JSNT.S 7), Sheffield 1984, 19–50; R.A. Burridge, Gospels (s. Anm. 8) 303f.337–339. Eine Jesus-Vita bedeutet aber nicht, dass Jesus an die Stelle der Tora tritt (die im Zentrum der rabbinischen Überlieferung steht und von jedem einzelnen Rabbi repräsentiert wird), sondern Jesus ist das Modell, nach dem die Tora zu verstehen ist (was Konsequenzen für Joh 1,17 hat). 71 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der königlichen Gesalbtenerwartung vgl. S. Schreiber, Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und urchristlichen Schriften (BZNW 105), Berlin/New York 2000. Auch die HirtenMetaphorik in Joh 10,1–18 besitzt Anklänge an Israels Königstheorie; vgl. ebd. 182.474; dazu Philo, Vit Mos I 61f. Zur Entfaltung des Königseins Jesu im JohEv H. Kvalbein, The Kingdom of God and the Kingship of Christ in the Fourth Gospel, in: Neotestamentica et Philonica (FS P. Borgen), Leiden 2003, 215–232, 227–231.

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offenbart er sich besonders dort als König, wo seine Machtlosigkeit am sichtbarsten hervortritt: am Kreuz. Die Gemeinde, die die Hintergründigkeit der Darstellung versteht, erkennt in Jesus die singuläre Leitfigur ihres Lebens. Sie erkennt aber auch die Besonderheit des Königseins Jesu, das durch das Kreuz nicht falsifiziert, sondern charakterisiert wird. Damit leistet die Vita eine Rechtfertigung des durch den schändlichen Kreuzestod gesellschaftlich desavouierten Jesus, der eigentlich als verbrecherischer Sklave oder Terrorist niederen Standes gelten müsste. Der Exklusivanspruch der (jüdischen) Jesus-Anhänger muss ein Diskussionspunkt mit anderen jüdischen Gruppen der lokalen Umgebung gewesen sein. Ein innerjüdischer Differenzierungsprozess wird erkennbar, der bereits Jahrzehnte vor der Abfassung der Vita begonnen haben wird. Angestoßen durch den geschichtlichen Umbruch innerhalb des Judentums nach dem jüdisch-römischen Krieg mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels im Jahr 70, tritt diese innerjüdische Diskussion in eine neue Phase ein. Der in Joh 9,22.34f.; 12,42 und 16,2 thematisierte Ausschluss aus der (lokalen!) Synagoge steht für einen institutionellen Trennungsprozess, der für die joh Gemeinde einschneidende rechtliche und soziale Folgen zeitigte.72 Genau die dabei zur Diskussion stehende besondere Bedeutung Jesu als Offenbarer Gottes ist das Thema der Vita. Daher gehe ich davon aus, dass die Folgen der Trennung der joh Gemeinde von der lokalen Synagoge die Situation der Gemeinde zur Zeit der Abfassung der Vita aktuell bestimmten.73 Der Sinn exklusiver Zugehörigkeit zu Jesus bedarf verstärkter Begründung und Verifikation. Wie Viten über vergangene Größen für die eigene Situation transparent werden können, hat Sabine Anselm für die Feldherrnviten des Nepos untersucht, bei denen nichtrömische Feldherrn dem römischen Publikum als moralische Exempla vorgestellt werden.74

Die Vita Jesu bearbeitet die entstandene existentielle Verunsicherung. Sie dokumentiert eine Festlegung auf die Überzeugung, dass Jesus der entscheidende, einzigartige offenbarungstheologische Zugang zu Gott ist. Und sie begründet ein Zugehörigkeitsgefühl der Anhänger/innen, dessen stärkster Ausdruck die Metaphorik der familia dei ist. Bereits in Joh 1,12 sind die Anhänger/innen als „Kinder Gottes“ angesprochen (vgl. 11,52), die Szene 72 Zu den Hintergründen vgl. K. Wengst, Joh I (s. Anm. 28) 21–26; S. Schreiber, Begleiter durch das Neue Testament, Düsseldorf 2006, 117–119. 73 Ein Großteil der Forschung sieht diese Trennung bereits als ein Stück Gemeindegeschichte; vgl. nur U. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 28) 513f.; M. Hengel, Frage (s. Anm. 28) 298–306; U. Busse, Johannesevangelium (s. Anm. 28) 5.10 (vgl. ebd. 49–55 zu klassischen Stufenthesen zur Entstehung der Schrift). 74 S. Anselm, Struktur (s. Anm. 55) bes. 65f.161–174.183–185.

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mit Maria und dem geliebten Jünger beim Kreuz in 19,26f. lässt sich als symbolische Konstituierung der joh familia dei lesen, und gegenüber Maria von Magdala referiert der Erweckte in 20,17 auf die Schüler als „Brüder“, die in der Beziehung zu Gott als Vater mit ihm selbst verbunden sind.75 Interessant ist im Vergleich die Vita, die Tacitus gegen Ende des 1. Jh. über seinen Schwiegervater Agricola, also ein Familienmitglied, schreibt. Die hellen Farben, mit denen er Agricola darstellt, strahlen auf die Familie zurück und bedeuten zugleich eine Verteidigung der memoria des Verstorbenen, auf dessen politische Karriere unter Domitian nach dem Tod des Kaisers ein durchaus kritisches Licht fallen konnte. Mittels einer Vita betreibt Tacitus Propaganda für die eigene Familie.76

5.2 Der König als politische Alternative Im Tötungsbeschluss des Synedriums wird – freilich aus der Gegnerperspektive – deutlich, dass Jesus eine politische Alternative darstellt (11,47– 53). Weil er Anhänger um sich sammelt (11,48: „alle werden an ihn glauben“, 12,19: „siehe der Kosmos läuft weg ihm nach“), kann er politisch gefährlich werden und Rom einen Anlass für einen Militärschlag bieten. Brisant erscheint diese Sorge angesichts militanter jüdischer Befreiungsbewegungen in Judäa und Galiläa in der Zeit nach dem Tod Herodes’ des Großen 4 v.Chr. und im Vorfeld des jüdisch-römischen Krieges 66–70/73.77 Doch wieder ist damit nur die Oberfläche berührt; hinter der pragmatischen Strategie des amtierenden Hohenpriesters Kaiaphas (11,50: „es ist besser, dass ein Mensch sterbe für das Volk“) erkennt der Verfasser der Vita einen tieferen Sinn, der Jesu Sterben von Gottes Heilsmacht her deutet. Die Vita macht deutlich, dass es sich bei Jesus um einen alternativen König handelt. Bereits die Wahl eines kleinen Esels als Reittier beim Einzug in Jerusalem (Joh 12,12–19) bezeichnet die nicht an Macht und Gewalt orientierte Art des Königseins Jesu.78 Ebenso distanziert die Korrektur des 75 Zu dieser Metaphorik J.G. van der Watt, Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John (BIS 47), Leiden 2000. 76 Dazu H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 133f.143. Das geht noch über die pietas gegenüber einem Familienmitglied, der traditionell in der Leichenrede (laudatio funebris) entsprochen wird, als Abfassungszweck hinaus. 77 Dazu S. Schreiber, Gesalbter (s. Anm. 71) 275–317. 78 Interessant ist im Vergleich, wie Plutarch den Einzug Numas in Rom als Gegenmodell zu römischen Triumphzügen schildert: Zu Fuß und ohne Waffen, aber begleitet von der Freude des Volkes, zieht der neue König ein (Plut., Numa 7,1). H.-D. Betz, Plutarch’s Life of Numa. Some Observations on Graeco-Roman „Messianism“, in: M. Bockmuehl/J. Carlton Paget (Hrsg.), Redemption and Resistance. The Messianic Hopes of Jews and Christians in Antiquity, London 2007, 44–61, zeigt, wie Plutarch (in platonischer Tradition) Numa als Philosophen und damit idealen König stilisiert.

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Königsanspruchs Jesu beim Pilatus-Verhör (18,33–37) Jesus von allen Formen gewaltbereiter Machtpolitik und kontrastiert damit seine umfassende Bedeutung als Offenbarer der „Wahrheit“. Impliziert erscheint eine Kritik am imperialen Machtanspruch Roms. In 19,11 spricht Jesus diese Kritik gegenüber dem lokalen Vertreter Roms in Palästina direkt aus: Die Überzeugung vom Ursprung der politischen Macht in Gott relativiert die faktische Macht des Pilatus – zumindest auf der Ebene der persönlichen Zustimmung. Als sich beim Verhör Jesu durch Pilatus die Waagschale zu ihren Ungunsten neigt, greifen „die Juden“ zum stärksten politischen Mittel: Sie spielen Jesus als Königsprätendenten gegen den römischen Kaiser aus (19,12–16) – und bringen damit die Alternative auf den Punkt. Dabei müssen sich die Hohenpriester selbst zur absoluten Anerkennung des Kaisers bekennen (19,12.15). Für den Biographen geben sie damit ihre jüdische Identität auf. In der innerjüdischen Gesprächssituation der Vita impliziert dies, pragmatisch betrachtet, den Vorwurf an die jüdischen Gesprächspartner nach 70 n.Chr., Jesus als einzige Alternative zum totalen Machtanspruch des römischen Kaisers, zur Fremdherrschaft, abgelehnt zu haben. Es ist der Vorwurf der inneren Anpassung, der die Viten-Leser ihrem Selbstverständnis gemäß durch ihr Festhalten an der Exklusivität des Königs Jesus entgehen. Die Vita lässt die politische Tragweite von Jesu Königsein auffallend offen. Symbolische Handlungen, Gegnerperspektive, ironische Brechung und theologische Spezifizierung nehmen dem Königsanspruch bei oberflächlicher Lektüre seine politische Anstößigkeit. Dabei handelt es sich neben der sachlichen Überzeugung von der Eigenart des Königseins Jesu auch um eine politische Schutzfunktion. Eine Vita über eine politische Gegenfigur zur aktuellen (flavischen) Kaiserherrschaft konnte tödliche Folgen für den Biographen und seine Anhänger haben, wie der Fall der Vitenschreiber Arulenus Rusticus und Herennius Senecio belegt, die oppositionelle Senatoren unter Nero bzw. Vespasian porträtierten – und dafür unter Domitian hingerichtet wurden.79 Eine hintergründige Lektüre der Jesus-Vita freilich entdeckt schnell die politische Brisanz der Hauptfigur!

5.3 Was der geliebte Jünger Petrus zu sagen hat ... Der Nachtrag signalisiert einen Blickwechsel. Nach dem Verlust der Heimat im Synagogenverband sucht der Biograph aktuell eine Ortsbestimmung der joh Gemeinde innerhalb christlicher Gemeindegruppen. Über diese 79

Vgl. Anm. 2. Zur Notwendigkeit und Praxis bewusster Verschleierung politischer Kritik in der römischen Kaiserzeit vgl. S. Schreiber, Caesar oder Gott (Mk 12,17)? Zur Theoriebildung im Umgang mit politischen Texten des Neuen Testaments, in: BZ 48 (2004) 65–85.

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außertextliche Situation ist der Nachtrag der Vita mit dem Hauptteil kausal verbunden. Der Text Joh 21 enthält Indizien für einen konkreten Situationsbezug. Sowohl beim Tod des Petrus (21,18f.) als auch beim Tod des geliebten Jüngers (21,22f.) handelt es sich um konkrete Ereignisse. Bei Petrus wird dieselbe Todesart wie bei Jesus, also die Hinrichtung am Kreuz, vorausgesetzt.80 Das „Bleiben“ des geliebten Jüngers (21,22f.) deutet demgegenüber auf einen natürlichen Tod, und die Zurechtweisung Jesu an Petrus stellt klar, dass dieser keinen Mangel bedeutet.81 Bei den beiden erzählten Figuren handelt es sich um fiktive Gestalten, hinter denen jedoch reale Gestalten umrisshaft erkennbar werden, was auch deswegen wahrscheinlich ist, weil sich die Erinnerung an die Todesarten logischer in die Erzählsituation (Zeit der Vita) als in die erzählte Zeit fügt. Die Synkrisis zwischen den beiden Gestalten, die den Blick von der Hauptperson der Vita weg auf die Nachfolger lenkt, verweist auf gruppenspezifische Funktionen dieser Erzählfiguren – sie werden zu Identitätsfiguren für bestimmte christliche Gruppen. Beim geliebten Jünger wird dies zusätzlich dadurch deutlich, dass auf ihn nie mit einem Eigennamen, sondern stets mit dem typisierenden Epitheton „geliebter Jünger“ referiert wird. In der Fischfangerzählung 21,1–14 ist Petrus (neben Jesus) die Hauptfigur: Er ergreift die Initiative zum Fischfang, springt Jesus entgegen in den See, zieht das Netz mit den 153 großen Fischen, das nicht zerreißt, an Land. Symbolisch betrachtet, übernimmt Petrus die Rolle dessen, der neue Anhänger für Jesus gewinnt, zum gemeinsamen Mahl mit dem Herrn bringt und für die Einheit der Gemeinschaft steht. Aber dem geliebten Jünger gebührt doch das erste Erkennen Jesu (21,7), auf dessen Mitteilung hin Petrus reagiert.82 Auch nach dem Kriterium der Nachfolge sind beide vergleichbar: Während an Petrus in 21,19.22 die Aufforderung ergeht: CXMQNQWSGKOQK, wird der geliebte Jünger bereits als Nachfolgender bezeichnet (21,20: CXMQNQWSQWPVC). Interessant sind die narrativen Rückverweise auf Schlüsselsituationen im Hauptteil. Bei Petrus verweist die dreimalige „Liebesfrage“, die Jesus ihm in 21,15–17 stellt, auf die dreifache Verleugnung aus 18,15–18.25–27.83 80 Vgl. 21,18 „deine Hände ausstrecken“; 21,19 UJOCKPYPRQKY^ SCPCVY^ wörtlich auch in Bezug auf Jesu Tod in 12,33; 18,32; die Ankündigung an Petrus „du wirst mit später folgen“ in 13,36. Dazu K. Wengst, Joh II (s. Anm. 28) 321f. 81 Vgl. K. Wengst, Joh II (s. Anm. 28) 323f. Anders H. Thyen, Joh (s. Anm. 61) 790, der auf dasselbe Martyrium des geliebten Jüngers schließt. 82 Eine vergleichbare Rollenverteilung zeigte schon der Lauf zum Grab in 20,1–10: Der geliebte Jünger läuft schneller, sieht bereits das Wesentliche, lässt Petrus aber den Vortritt ins Grab und ist dann doch der, von dem gesagt wird: „er sah und glaubte“ (20,8). 83 Ein intratextuelles Verweissignal darauf ist schon das Kohlenfeuer (CXPSTCMKC) am Ufer in 21,9, das an das Kohlenfeuer im Hof des Hohenpriesters aus 18,18 erinnert.

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Petrus erhält dabei den Hirtenauftrag, d. h. die Leitung der Gemeinde, was ihn auf dem Hintergrund der „Hirtenrede“ (10,1–18) in die Nachfolge der Aufgabe Jesu einsetzt. Das bedeutet die Rehabilitation des Verleugners, zugleich aber wirkt das Versagen Petri insofern nach, als Jesus ihn drei Mal an die Liebe als Wesen der Nachfolge erinnern muss; zum Vertrauensbeweis tritt der Anspruch an Petrus. Beim geliebten Jünger, der das Wesensmerkmal der (ihm geschenkten!) Liebe bereits im Beinamen trägt, wird in 21,20 ausdrücklich auf die Szene beim Abendmahl (13,23–27) rückgeblendet, und zwar einerseits auf die besondere Nähe des geliebten Jüngers zu Jesus (Liegen an der Brust), andererseits auf die Frage nach dem Verräter, die Petrus nicht selbst stellen wollte und die er an den geliebten Jünger übergab (13,24). Der Vergleich wertet Petrus keineswegs ab, er stellt vielmehr seine besondere Funktion für die ersten Christen heraus. Er demonstriert aber auch die charakteristische Eigenart des geliebten Jüngers, die in besonderer Nähe zu Jesus und direktem Verstehen Jesu besteht.84 Die Überlieferung dieses Verstehens macht den besonderen Wert der Tradition der joh Gemeinde aus. Das in 21,22f. betonte „Bleiben“ des geliebten Jüngers, das der Erzähler ausdrücklich vom „Nicht-Sterben“ differenziert, codiert die bleibende Bedeutung der Gemeinde-Tradition und konkret der vorliegenden Vita.85 Der Nachtrag zeichnet so kein anderes Petrus-Bild als der Hauptteil,86 sondern konkretisiert das Bild auf die Funktion für die Entstehung der ersten christlichen Gemeinschaften hin. Der Nachtrag intendiert also eine Einordnung der joh Gruppe in eine petrinisch geprägte Gemeinschaft des Urchristentums. Dazu ist die unbedingte Anerkennung der Urgemeinde als Basis der Gemeinschafts- und Traditionsentwicklung unumgänglich.87 Zugleich bleibt der joh Gruppe ihre eigene Bestimmung und ihr Wert für die gesamte Christenheit bewusst: Sie besitzt mit ihrer Tradition und ihrem Traditionsgaranten eine besondere Sprache und eine besondere Einsicht in die Bedeutung Jesu, die sie den 84 Allgemeiner R. Bauckham, Jesus (s. Anm. 22) 395: „Peter and the Beloved Disciple represent two different kinds of discipleship: active service and perceptive witness“ (vgl. 367f.). 85 Das „Bleiben“ bezieht auch K. Wengst, Joh II (s. Anm. 28) 325 auf das Evangelium. 86 So aber grundlegend R.E. Brown, The Community of the Beloved Disciple. The Life, Loves and Hates of an Individual Church in New Testament Times, New York 1979, 161f.; vgl. K. Wengst, Joh II (s. Anm. 28) 316.319, der nun in Petrus die Einheit der Kirche garantiert sieht und daher auf einen Nachtrag von anderer Hand schließt; U. Schnelle, Joh (s. Anm. 28) 315. Die Spannung zwischen Petrus und geliebtem Jünger wird aber, neben 20,1–10, z.B. auch schon in 13,23f. deutlich. 87 Das erklärt auch die im JohEv singuläre Nennung der „Söhne des Zebedäus“ in 21,2, die den Kreis über die in Joh 1–20 agierenden Schüler hinaus ausweitet um zwei für die Urgemeinde wichtige Gestalten; vgl. Gal 2,9 (Jakobus ist hier freilich der Herrenbruder); Apg 1,13; 3,1–4,31; 8,14–25; 12,1f.; Mk 1,19f.; Mt 4,21f.; Lk 5,10; Mk 9,2 parr; Mk 10,35 par Mt 20,20.

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anderen Jesus-Nachfolgern mitzuteilen hat. Mit eigenem Selbstbewusstsein88 kann sie die Gemeinschaft mit anderen christlichen Gruppen suchen.89

6. Die Relevanz der Gattungsfrage Das Koordinatensystem, in dem zeitgenössische Rezipienten das JohEv wahrnahmen, ist die antike Literatur mit ihren vielfältigen Gattungsmöglichkeiten. Eine christliche Binnenperspektive würde damit zu kurz greifen. Mit der Einordnung als Vita fallen Vorentscheidungen für die Lektüre. So steht bei aller möglichen Fiktionalität der Darstellung eine geschichtliche Person im Mittelpunkt des Interesses, und diese besitzt besondere Bedeutung als Leitfigur für die eigene, gruppenspezifische Lebenswirklichkeit. Die Einsicht in die Vitengattung fordert geradezu die Rückfrage nach der konkreten Kommunikationssituation. Erst in der geschichtlichen Konkretion gewinnt die Theologie des JohEv wirklich Profil und lebensweltliche – persönliche, soziale und politische – Relevanz.

88 Pragmatisch bietet sich der Vergleich mit Plutarchs Parallelviten an, in denen Plutarch durch den Blick auf große Gestalten der griechischen Vergangenheit eine Aufwertung seiner griechischen Landsleute und eine Stärkung des griechischen Selbstbewusstseins gegenüber der römischen Kultur intendiert. Vgl. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 1) 162f. 89 Hier würden sich weitere Fragen anschließen, besonders nach dem konkreten Ort dieses Prozesses. Die Nähe zur petrinischen Tradition deutet vielleicht weniger nach Kleinasien (pln Gemeinden) denn in die Nähe Palästinas, z.B. Syrien (Petrus-Tradition des MtEv) oder Ägypten.

Ingo Broer

Autobiographie und Historiographie bei Paulus1 Denn was das Gedächtnis bewahrt, ist strenggenommen nie, was sich einmal ereignet hat. Die Vergangenheit ist stets ein imaginäres Museum. Man zeichnet im Nachhinein nicht etwa auf, was man erlebt hat, sondern was die Zeit, die wachsende perspektivische Verschiebung sowie der eigene Formwille im Chaos halbverschütteter Erlebnisse daraus gemacht haben. Im ganzen hält man weniger fest, wie es eigentlich gewesen, sondern wie man wurde, wer man ist. (Joachim Fest, Ich nicht, 366)

Das mir aufgetragene Thema stellt Autobiographie und Historiographie nebeneinander, ohne beide in ein konkretes Verhältnis zu bringen. Man kann infolgedessen sowohl nach dem historiographischen Charakter der Autobiographie als auch nach dem autobiographischen Charakter von Historiographie fragen und diese Fragestellung auf die Briefe des Völkerapostels anwenden. Jedenfalls sollen offensichtlich die autobiographischen Züge und die historiographischen in eine Beziehung gesetzt werden. Aber warum und zu welchem Ende? Stellen wir diese Frage, um nicht vorschnell Wege abzuschneiden und Ergebnisse zu präjudizieren, noch ein wenig zurück und vergewissern wir uns zunächst wenigstens schemenhaft, was wir über Autobiographie und Historiographie wissen, um diese Kenntnisse dann auf Paulus und unser Thema anzuwenden. Dabei sollten wir den Kreis keineswegs auf das beschränken, was die Antike bereits über Autobiographien oder ähnliche Werke wusste, wie es uns auch nicht angemessen zu sein scheint, sich bei Fragen der Rhetorik auf die antike Rhetorik zu beschränken. Vielmehr ist es sinnvoll, alles heranzuziehen, was die Texte besser zu verstehen lehrt. Deswegen sind also auch die modernen Erkenntnisse zur Autobiographie einzubeziehen. Kontakt zur Literaturwissenschaft tut der Exegese immer gut! Es kann infolgedessen nur darum gehen zu schauen, ob und ggf. welchen Nutzen wir auch aus den modernen Einsichten über die Autobiographie für 1 Angesichts der Verwandtschaft der literarischen Gattungen Autobiographie und Biographie miteinander ist es nicht besonders erstaunlich, dass es im folgenden Beitrag einige Überschneidungen mit anderen Beiträgen dieses Bandes, v.a. in den als Quellen verwendeten Zitaten, gibt.

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Autobiographie und Historiographie bei Paulus

unser Verständnis des Paulus ziehen können – wobei die Gefahr des Anachronismus natürlich im Blick bleiben muss.2

1. Autobiographie und Historiographie 1.1 Der Begriff der Autobiographie und seine Geschichte Autobiographie ist ein moderner Begriff, obwohl es in der Antike ein paralleles Wort gibt:RGTKCWVQNQIKC – sowohl das Substantiv als auch das bereits früher belegte Verb „bezeichnen nicht allein das Sprechen über sich selbst, sondern enthalten in der Regel die Nuance des Selbstlobs.“3 Aber es fehlt in der Antike nicht nur der Begriff, sondern diese kennt auch nicht den verbreiteten Zug zu autobiographischer Literatur wie die Moderne. Heimisch ist diese Bezeichnung im Gegensatz zu dem der Biographie, den schon die Spätantike kannte,4 eigentlich erst im frühen 20. Jahrhundert geworden. Früher war von Konfessionen, eigenen Lebensbeschreibungen o.ä. die Rede. Im Jahre 1776 scheint der Begriff Autobiographie zum ersten Mal verwendet worden zu sein, und zwar für die Jugendgeschichte des aus Siegen stammenden Universalgelehrten Jung-Stillings,5 was man sich als Siegener zu bemerken natürlich nicht verkneifen kann. Zwar hat sich der Begriff als Buchtitel nicht durchgesetzt, ist aber in der Literaturwissenschaft zum festen Ordnungsbegriff geworden, und sowohl die Beschäftigung mit der Biographie als auch die mit der Autobiographie scheint in der wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahrzehnte eine gewisse Renaissance zu erleben.

2 Vgl. dazu auch M. Reichel, Ist Xenophons Anabasis eine Autobiographie?, in: Ders. (Hrsg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Köln u.a. 2005, 45–73, 55; B. Zimmermann, Augustinus Confessiones – eine Autobiographie?, in: Reichel, Autobiographien 237–249, 238. – Im übrigen kann sich der Blick über die Exegese hinaus bei diesem Thema nicht auf die Literaturwissenschaft beschränken, sondern es sind auch Aspekte der Geschichtswissenschaft, der Psychologie und Soziologie mit in Rechnung zu stellen. 3 Vgl. M. Reichel, Anabasis (s. Anm. 2) 45 Anm. 3; G. Lyons, Pauline Autobiography. Toward a New Understanding (SBL.Diss.Ser. 73), Atlanta (GA) 1985, 55. 4 Der Ausdruck DKQITCHKC im Sinne von Schreiben über (ein) Leben begegnet zum ersten Male bei dem Neuplatoniker Damaskios im 6. Jahrhundert n.Chr. in dessen Biographie Isidors. Zur (immer noch umstrittenen) Frage der Bestimmung des Begriffs vgl. W.W. Ehlers, La biographie antique. Entretiens préparés et présidés par W.W. Ehlers (Fondation Hardt. Entretiens Tome XLIV), Genf 1998, Einleitung. Plutarch kennt den Ausdruck RGTKCWVQNQIKC, vgl. De recta ratione audiendi 41 C u.ö. Im Hellenismus hat sich der Begriff WBRQOPJOC für autobiographische Hinterlassenschaften von Staatsmännern eingebürgert, vgl. u.a. Thukydides II 44,2. 5 G. Niggl, Zur Theorie der Autobiographie, in: M. Reichel, Autobiographien (s. Anm. 2) 1–13, 1, und G. Misch, Geschichte der Autobiographie I,1 Frankfurt 31949; I,2 Frankfurt 41974.

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Die Tatsache, dass der Begriff in der Antike noch nicht vorhanden war, bedeutet nicht notwendig, dass es die bezeichnete Sache nicht gegeben hat. Welche Werke der Antike als älteste Autobiographien zu bezeichnen sind, ist in der Altphilologie umstritten. Häufig lässt man die autobiographische Literatur mit den Confessiones des Augustinus beginnen, die zweifellos das bedeutendste autobiographische Werk der Antike darstellen. Als älteste autobiographische Werke der griechischen Antike kommen aber möglicherweise in Frage: die Reisenotizen des Skylax von Karyanda (519/512, gest. nach 480 v.Chr., FGrHist 709),6 Xenophons Anabasis, Platons 7. Brief, die Antidosis des Isokrates und die Commentarii Caesars7 sowie die Vita des Josephus.8 Jedenfalls werden diese, den Confessiones des Augustinus vorangehenden Werke z.T. als autobiographisch angesehen. Darüber hinaus wären hier auch Texte aus dem Alten Orient zu berücksichtigen, je nachdem, wie man den Begriff der Autobiographie fasst.9 Der Begriff Autobiographie ist trotz seiner Entstehung in der Moderne unscharf, es werden auch weiterhin für diese Gattung die Begriffe Memoiren,10 Erinnerungen, Bekenntnisse und Ego-Dokumente11 gebraucht, um nur diese zu nennen. Bekannt sind etwa die Definitionen „Beschreibung des Lebens eines einzelnen durch diesen selbst“12 oder noch einfacher „any statement about onself“,13 oder ambitionierter: „Retrospektiver Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person von ihrer eigenen Existenz gibt, wenn sie die Betonung auf ihr individuelles Leben, und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“14 Spätestens bei dieser Definition wird 6

Vgl. dazu A. Momigliano, The Development of Greek Biography, Cambridge/Mass. 1971, 22, sowie H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie, Darmstadt 2002, 59f. 7 Vgl. dazu F. Bérard, Les commentaires de César. Autobiographie, mémoires ou histoire?, in: M.F. Baslez/Ph. Hoffmann/L. Pernot, L’invention de l’autobiographie. D’Hesiode à Saint Augustin, Paris 1993. 8 Zu älteren, im übertragenen Sinn als autobiographisch zu bezeichnenden Werken vgl. G. Misch, Geschichte I,1 (s. Anm. 5) 17.23f.; W. Rössler, Ansätze von Autobiographie in früher griechischer Dichtung, in: M. Reichel, Autobiographien (s. Anm. 2) 29–43, 29 Anm. 3; G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 35. 9 Vgl. DNP Art. Autobiographie I. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden G. Niggl, Theorie (s. Anm. 5) 3f. 11 Darunter sind einerseits Dokumente zu verstehen, in denen sich ein Mensch, insbes. Prominente, freiwillig über sich selbst äußert, andererseits durch besondere Umstände oder Zwang veranlasste Äußerungen über sich selbst, vgl. H.W. Blanke, Art. Autobiographie, in: H. Jordan (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2002, 37– 41, 38. 12 G. Misch, Geschichte 1 (s. Anm. 5) 7. 13 Vgl. E.-M. Becker, Autobiographisches bei Paulus, in: Dies./P. Pilhofer (Hrsg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 67–87, 72. 14 Definition von Lejeune nach der Übs. von M. Holdenried, Autobiographie (UB 17624), Stuttgart 2000, 20 Anm. 2; M. Gnirs, Die ägyptische Autobiographie, in: A. Loprieno (Hrsg.), Ancient Egyptian Literature. History and Forms (Probleme der Ägyptiologie X), Leiden 1996,191–241, 195 Anm. 13, nennt als wesentliche Strukturmerkmale der Gattung: „Identität von

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deutlich, dass davon kein Licht auf die entsprechenden Paulus-Passagen fällt. Dies gilt erst recht, wenn man neueren Arbeiten folgt, die stärker auf strukturelle und stilistische Spezifika autobiographischen Schreibens abheben.15 Aber deswegen hier aufzugeben und bereits jetzt die AutobiographieForschung zu verlassen, scheint verfrüht,16 zumal Detlev Dormeyer mehrfach die Ansicht zum Ausdruck gebracht hat, dass Tendenzen der antiken Biographie sich bis in die Moderne durchziehen.17

1.2 Die Autobiographie in der Moderne Lassen wir aber die Definitionen und lassen wir auch die christliche Sonderform der Autobiographie18 außen vor und wenden wir uns dem zu, was der Autobiographie an Eigenschaften u. a. von der Literaturwissenschaft attestiert wird. Dabei macht es Sinn, nicht die allerneueste Entwicklung mit einzubeziehen, da diese gerade durch eine Auflösung der klassischen Formen der Autobiographie aufgrund der zunehmend empfundenen Brüchigkeit des Ichs und durch eine Nähe zum Roman und damit durch eine Aufgabe des Referenzcharakters gekennzeichnet ist.19 Ebenso sei auf eine Nachzeichnung der Geschichte der Gattung verzichtet, denn es ist natürlich auch bei der Autobiographie so, dass sich deren Gattung und ihre Merkmale nicht unverändert durch die Geschichte durchgetragen haben. Von Bedeutung zu sein scheint mir die Unterscheidung zwischen Tagebuch und AutoAutor, Erzähler und Erzählfigur, Identitätsnachweis (Signatur), Stellungnahme zum eigenen Leben bzw. zu bestimmten Episoden des eigenen Lebens aus retrospektiver Sicht, Authentizitätsanspruch des Gesagten und dessen potentielle Verifizierbarkeit von Seiten des Lesers“. Vgl. aus historischer Perspektive auch V. Depkat, Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt, in: Th. Rathmann/N. Wegmann (Hrsg.), „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion (Beiheft zur Zeitschrift Deutsche Philologie 12), Berlin 2004, 102– 117, 105f. – Zum Begriff der Biographie vgl. den Überblick bei H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 17–19. 15 Vgl. im französischsprachigen Raum nur Gusdorf und Lejeune, im deutschsprachigen Raum die Arbeiten Aichingers und Niggls. G. Gusdorf, Mémoire et personne, Paris 1951; Ph. Lejeune, Le pacte autobiographique, Paris 1975; I. Aichinger, Künstlerische Selbstdarstellung. Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und die Autobiographie der Folgezeit, Bern 1977; G. Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1977; G. Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie, Darmstadt 21998. 16 Vgl. freilich G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 23f. 17 D. Dormeyer, Augenzeugenschaft, Geschichtsschreibung, Biographie, Autobiographie und Evangelien in der Antike, in: J. Schröter/A. Eddelbüttel (Hrsg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive (Theologische Bibliothek Töpelmann 127), Berlin 2004, 237–261, 244. 18 Vgl. dazu Art. Autobiographie, christliche, in: TRE 4, 773. 19 M. Holdenried, Autobiographie (s. Anm. 14) 44f.; G. Niggl, Theorie (s. Anm. 5) 7f.; G. Niggl, Autobiographie (s. Anm. 15) 593f.

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biographie, Ersteres ist an den Augenblick gebunden, geht mit der Zeit mit und ist keineswegs auf die eigene Person beschränkt. Liegt es in veröffentlichter Form vor, so muss der Leser die Zusammenschau leisten, die bei der Autobiographie der Schreiber selbst vornimmt, der in systematischer und vereinheitlichender Weise zurückschaut und weniger an den einzelnen Stadien als an der Entwicklung, an der Ausbildung der eigenen Persönlichkeit, an seiner Identität, interessiert ist.20 Des gleichen ist die Autobiographie zu unterscheiden vom literarischen Selbstporträt, das sich viel stärker auf den gegenwärtigen Zustand der Persönlichkeit konzentriert als auf ihre Entwicklung und diese gewissermaßen als der Zeit entnommen darstellt. Im Gegensatz zur Memoirenliteratur z.B. in der Politik, wo die einzelnen Akteure der politischen Szene aus der Perspektive des Schreibers behandelt werden, steht bei der Autobiographie der Schreiber selbst im Mittelpunkt, und es geht bis zum 18. Jahrhundert um Geschichten des ökonomischen und gesellschaftlichen Erfolges, sozusagen um exemplarische Lebensgeschichte.21 Erst danach wird die Lebensgeschichte zum Medium der Selbstverständigung und unterliegt auch einer zunehmenden Fiktionalisierung.22 Da, von pseudepigraphischen und fiktiven Ausnahmen abgesehen, noch niemand seinen Tod beschrieben hat, sind Autobiographien zum Ende offen, also nicht abgeschlossen, obwohl die Perspektive des Rückblicks natürlich eine gewisse Geschlossenheit und Rundung verlangt. Bei Memoiren und Autobiographien ist die Gefahr der Apologie deutlich gegeben, bei der Memoirenliteratur vielleicht noch mehr als bei der Autobiographie. Damit zusammen hängt die Erkenntnis, dass zur Autobiographie die Stilisierung des autobiographischen Ichs selbstverständlich gehört. Man spricht auch von verklärender Stilisierung.23 Damit nähern wir uns der 20 Einen anderen Unterschied zwischen Tagebuch und (Auto-)Biographie beschreibt Cicero in Fam V 12,5: „Eine annalistische Aufreihung von Tatsachen, gleichsam eine kalendarische Tabelle, vermag uns doch nur mäßig zu interessieren; eines hervorragenden Mannes oft wechselnde, gefahrvolle Erlebnisse dagegen wecken Bewunderung, Spannung, Freude, Unbehagen, Furcht und Hoffnung, und finden sie dann gar ihren Abschluß mit einem denkwürdigen Ausgang, dann empfindet der Leser ein ungetrübtes Entzücken“ (Übs. H. Kasten). 21 M. Holdenried, Autobiographie (s. Anm. 14) 13; zur Unterscheidung von Memoiren und Autobiographien vgl. auch G. Misch, Geschichte I 1 (s. Anm. 5) 17. 22 M. Holdenried, Autobiographie (s. Anm. 14) 20. 23 M. Holdenried, Autobiographie (s. Anm. 14) 48.58. Deswegen und aufgrund der Tatsache, dass zahlreiche Angaben in Autobiographien nicht kontrollierbar sind, sind die Autobiographien den „Historikern suspekt“ (vgl. V. Depkat, Materialien [s. Anm. 14] 106; vgl. auch ebd. 109f. die Kritik am Gebrauch der Autobiographien in der Geschichtswissenschaft als Steinbruch sowie das Verständnis der Darstellung des autobiographischen Autors „als von ihm selbst imaginierten kollektiven Identitäten und Erfahrungen“, aber auch den Hinweis 111f., „dass es sich bei Autobiographien nicht um völlig beliebige, von der biographischen Empirie losgelöste Imaginationen handelt; Autobiographien sind empiriegesättigte Sinnkonstruktionen und gerade deshalb nicht arbiträr, weil die temporalen Strukturen der Erzählung immer auch in der vorgängig ausgeprägten Lebenswelt ankern.“)

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viel erörterten und für unsere Sicht zentralen Frage nach der Wahrheit der Autobiographie. Zwar wird man hier eigens reflektieren müssen, ob in dieser Hinsicht der antike Selbstbericht und die moderne Autobiographie wirklich vergleichbar sind, aber die Einschätzung der modernen Autobiographie in dieser Hinsicht scheint mir doch interessant und auch für die Antike erhellend zu sein. Autobiographie ist danach nicht einfach Wiedergabe der Vergangenheit, sondern deren Formung, deren Rekonstruktion nach einem Muster (pattern). Die Autobiographie konstruiert aus dem Leben eine kohärente Geschichte, der Autor zeichnet eine Verbindungslinie zwischen seiner Vergangenheit und der Gegenwart, bei der die Gefahr besteht, dass sie zu konsequent und stetig verläuft und dass den Brüchen, Gefährdungen und Inkonsequenzen eine geringere Bedeutung zugesprochen wird, als ihnen eigentlich zukommt. Zwar war keineswegs nur Rousseau als Autobiograph der Ansicht, er könne die Geschichten so vorstellen, wie sie sich zugetragen haben, aber in der Autobiographie-Forschung gilt es als ausgemacht, dass die Darstellung der Vergangenheit durch den Autobiographen sehr stark von dessen Charakter und Perspektive beeinflusst wird und dass in Bezug auf die Wahrheit gilt: „jede Autobiographie hat in dieser Hinsicht ihre Probleme.“ Oder noch schärfer: „Die Verfälschung der Wahrheit durch den Akt der erinnernden Besinnung ist ein so grundlegendes Wesensmerkmal der Autobiographie, dass man sie als deren notwendige Bedingung bezeichnen muss.“24 Nicht umsonst nennt Goethe seine Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“, und er ist der Ansicht, dass der Mensch in Gegenwart und Erinnerung „die Außenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele25“ – und das gilt sicher noch viel mehr für das Bild, das er von sich selbst zeichnet. Allein schon durch die Auswahl dessen, was der Autobiograph in seiner Erinnerung gespeichert hat und was er von dem Erinnerten zur Wiedergabe auswählt, wird das Bild der gezeichneten Entwicklung und Wirklichkeit einseitig, obwohl der Autobiograph zu Recht reflektiert und sagt: „dass keiner so gut wie ich dazu geeignet ist, meine Gedankengänge und meine Handlungen darzustellen“.26 Man hat von der Erinnerung als innerem Zensor gesprochen und diesen als heimtückisch bezeichnet, weil er automatisch handelt. Selbst bei bestem Willen und erklärter Absicht des Autobiographen zur historischen Wahrheit werden autobiographische Bemerkungen in der Neuzeit skeptisch beurteilt, weil sozusagen die Objektivität des Gedächtnisspeichers aufgrund von neurophysiologischen, psychologischen und ande24

R. Pascal, Die Autobiographie, Stuttgart 1965, 17.90; vgl. auch M. Holdenried, Autobiographie (s. Anm. 14) 48. 25 R. Pascal, Autobiographie (s. vorige Anm.) 21. 26 So die Ansicht von Lord Gibbon in seinen Memoiren, zitiert von G. Misch, Geschichte I,1 (s. Anm. 5) 4, die sich Misch auf S. 9 zu eigen macht; vgl. allerdings auch ebd. passim, z.B. 14.

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ren Erkenntnissen zunehmend bezweifelt wird. Die Erinnerung wird wesentlich stärker als früher als produktive Kraft eingeschätzt. „Mit der wachsenden Einsicht in die Vielschichtigkeit des psychischen Apparates wurde auch die Gedächtnisarbeit kritischer in Augenschein genommen. Psychoanalytische und konstruktivistische Modelle haben zu einer weitgehenden Abkoppelung der Erinnerung vom Wahrheitspostulat geführt.“27 Deswegen spricht man statt von historischer Wahrheit jetzt häufiger von narrativer Wahrheit oder von der Subjektivität als der dieser Gattung eigentümlichen Wahrheit.28 Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass der Erklärungsgehalt der neueren Modelle für das Gedächtnis auch kritisch hinterfragt werden kann.29 Schließlich bringt die retrospektive Sicht die Gefahr mit sich, die Zufälligkeiten und Brüche in der Entwicklung zu minimieren und die Stetigkeit und Logik in der Entwicklung in einer Weise zu betonen, die so nicht gegeben war. Autobiographie ist nicht Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern deren Interpretation, die zweifellos auch konstruktive Züge in sich begreift. Aus rückschauender Perspektive zeichnet sie die Bedeutung von Begebenheiten, die mit deren Bedeutung in der eigentlichen Situation keineswegs identisch sein muss, weil der Autor sich im Rückblick selbst neu versteht. Die Wahrheit einer Autobiographie insgesamt kann auch nicht mit Hilfe einer historischen Untersuchung falsifiziert werden, weil die Wahrheit der Autobiographie auf einer anderen Ebene liegt als der der Historie.30 Dass die Autobiographie sozusagen eine Wirklichkeit eigener Art beschreibt, die nicht mit dem identisch ist, was wir unter historischer Wahrheit verstehen, hängt also mit vielen Ursachen zusammen und kann keineswegs nur auf die Verwendung literarischer Darstellungsmittel in der Autobiographie zurückgeführt werden.31

1.3 Die Autobiographie in der Antike Bevor wir die Erkenntnisse der Literaturwissenschft auf die antike Autobiographie anzuwenden versuchen, müssen zunächst deren Eigenschaften etwas näher in den Blick genommen werden.

27 M. Holdenried, Autobiographie (s. Anm. 14) 59; vgl. auch K. Peitzecker, Die Autobiographie aus psychoanalytischer Sicht, in: M. Reichel (Hrsg.), Biographien (s. Anm. 2) 15–27. 28 Vgl. G. Niggl, Theorie (s. Anm. 5) 7. 29 M. Holdenried, Autobiographie (s. Anm. 14) 60. 30 G. Niggl, Theorie (s. Anm. 5) 7; G. Misch, Geschichte I,1 (s. Anm. 5) 14f. 31 Vgl. Art. Autobiographie in: RDLW3 1, 169–173, 169. Der gesamte Vorgang könnte auch schön an der neuen Autobiographie von G. Grass demonstriert werden, vgl. dazu den Beitrag von M. Gassmann, „Da liegt der Gammelhund begraben“, in der F.A.Z. vom 8.09. 2006, Nr. 209 S. 33.

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Die Gattungsmerkmale antiker Autobiographien zu beschreiben, ist allerdings schwierig, da die Antike, wie gesagt, keine Gattung Autobiographie kannte und sich die Autobiographien und v.a. die autobiographischen Bemerkungen der Schriftsteller in vielfältigen literarischen Genera finden. Hier wären Reden, Briefe, die antike Memoirenliteratur (Hypomnemata) und die Selbstvorstellungen einiger Dichter zu nennen.32 Man hat das Fehlen von Gattungsmerkmalen beklagt,33 aber über eine inhaltliche Beschreibung der Merkmale ist die Gattungsdefinition der antiken Autobiographie bislang noch nicht hinausgekommen, was auch mit der geringen Menge des erhaltenen Materials zusammen hängen dürfte.34 Dabei ist es wenig überraschend, dass sich bei der Beschreibung der antiken Autobiographie starke Übereinstimmungen zur antiken Bios- oder Vita-Literatur finden. H. Sonnabend hat die wesentlichen Elemente der antiken Biographie wie folgt zusammen gefasst: „[…] ein klares Schema in der Gestaltung der Lebensbeschreibung: eine im wesentlichen chronologische Darstellung des Lebenslaufes von der Geburt bis zum Tod; weiter die Gruppierung aller Geschehnisse um die porträtierte Hauptperson; ferner die Erfassung des Lebens nach den Rubriken Herkunft und Familie, Kindheit und Jugend, Leistungen, bemerkenswerte Aussprüche, Vorzeichen des Todes, Tod; schließlich eine übergeordnete Zielsetzung, nach antiken Maßstäben meist eine moralisch-didaktische Ausrichtung.“35

Dass diese Beschreibung zutrifft, hat Sonnabend am Euagoras-Enkomion des Isokrates demonstriert.36 Sieht man vom Tod und seinen Vorzeichen ab und fügt die für die Autobiographie charakteristische Autorschaft des Porträtierten hinzu, so hat man damit eine recht gute Zusammenfassung des Stoffes antiker Autobiographien, wobei das Moment der eigenen Autorschaft impliziert, dass der Autor sozusagen Herr über sein Leben bleibt und in seinem Werk nur die Begebnisse usw. beschreibt, die er auch darin haben will. In letzterem besteht eine Differenz zur Biographie. Dass die Beschreibung Sonnabends auch auf die Autobiographie passt, kann man u.a. daran erkennen kann, dass M. Fuhrmann, der in der Einleitung zur Antidosis des

32 Vgl. DNP 2, 349f. Art. Autobiographie II und die Zusammenstellung bei G. Misch, Geschichte I,1 (s. Anm. 5) 6. 33 G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 18f. 33. 34 Vgl. KlP I 902 Art. Biographie. 35 H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 18. Vgl. dazu auch den Beitrag von Ch. Heil in diesem Band; zur Abgrenzung zum Enkomion, das die Leistung des „Porträtierten“ in den Mittelpunkt stellt, und zum literarischen Porträt vgl. KlP I 902 Art. Biographie, zur Nicht-Abgrenzung zwischen Biographie und Autobiographie Th. Baier, Autobiographie in der späten römischen Republik, in: Reichel, Autobiographien (s. Anm. 2) 123–142, 126 Anm. 11 (Lit.) 36 Geschichte (s. Anm. 6) 37f.

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Isokrates „einen ersten Beitrag zur Theorie der Autobiographie“ findet, diese wie folgt zusammenfasst: Isokrates „hat das eigene Ich, seine Art, sein Leben und sein Denken, zu einem ästhetischen Gegenstand gemacht. Das ‚Leben‘ muss als ein Ganzes, als eine überschaubare, in sich geschlossene Einheit präsentiert werden; dieses Ganze und seine Teile bedürfen der inneren Stimmigkeit und der einleuchtenden Verknüpfung.“37

1.4 Autobiographien in der Antike und der Moderne 1.4.1 Keine Autobiographie ohne Rechtfertigung Blickt man nun etwas genauer hin und fragt nach Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den Autobiographien der Antike und der Moderne, so fällt ein Unterschied sofort in die Augen. Dieser besteht darin, dass die Autobiographie in der Moderne, jedenfalls seit dem Ende des 19. Jh.s, eine anerkannte Literaturgattung ist, zu der zu greifen es keiner Rechtfertigung bedarf. Dies ist in der Antike ganz anders. Die Autobiographie ist nicht nur keine eigene Literaturgattung, sondern über sich selbst zu sprechen galt der Antike als verpönt. Schon bei Aristoteles heißt es in der Nikomachischen Ethik: „Der Hochgesinnte spricht nicht über sich“, der Autor fährt freilich noch fort „und nicht über andere“.38 Deutlicher äußert sich Plutarch, der in seiner kleinen Abhandlung über das Eigenlob ausführt: „Fremdes Lob, sagt Xenophon, ist für unsere Ohren die lieblichste Musik; aber gewiß kann für andere nichts lästiger und unangenehmer sein, als Selbstlob zu hören. Leute, die sich selbst loben, halten wir erstlich für unverschämt, weil sie sich selbst dann schämen müssten, wenn sie sich von anderen loben hörten, zweitens betrachten wir sie auch als Ungerechte, weil sie sich selbst geben, was sie nur von anderen erhalten sollten. Drittens müssen wir uns entweder, wenn wir dazu schweigen, für neidisch und missgünstig ansehen lassen oder, wenn wir dies befürchten, wider unseren Willen mit einstimmen und uns dazu verstehen, sie ins Gesicht zu loben, eine Sache, die eher einer niederträchtigen Schmeiche37 M. Fuhrmann, Rechtfertigung durch Identität – Über eine Wurzel des Autobiographischen, in: Identität, hrsg. v. O. Marquard und Kh. Stierle (Poetik und Hermeneutik), München 1979, 685–689, 687. – Zur Frage der Verwandtschaft zwischen Biographie und Autobiographie vgl. einerseits F. Leo, Die griechisch-römische Biographie nach ihrer literarischen Form, 1901 (Ndr. Hildesheim 1965), andererseits A. Momigliano, Development (s. Anm. 6) 14f. G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) fasst sehr oft Biographie und Autobiographie zusammen. 38 1125a5f.; vgl. auch Aristoteles, Rhetorik III 17,16 1418B: „Im Hinblick auf die Darstellung des Charakters ist es erforderlich – zumal einiges, wenn man es von sich selbst sagt, entweder verhasst macht oder langweilende Weitschweifigkeit bzw. Widerspruch provoziert […] –, einen anderen als Sprecher einzuführen […]“.

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Autobiographie und Historiographie bei Paulus lei als einer Ehrenbezeugung ähnlich sieht.“ (Über erlaubtes Eigenlob 1 = Mor 539D39).

An gleicher Stelle sagt Plutarch: „Bei Wettspielen werden die Namen der bekränzten Sieger von anderen ausgerufen, damit sie der so unangenehmen Mühe, von sich selbst zu sprechen, überhoben bleiben.“ Wenn Plutarch auch, und das ist in diesem Zusammenhang auffällig, gleich zu Beginn dieser kleinen Abhandlung auf Beispiele hinweist, die diese Maßgabe verletzen – er nennt Euripides und Pindar –, so zeigt diese Stelle doch, dass eine Autobiographie bzw. autobiographische Züge in einer Abhandlung nach Ansicht Plutarchs auch zu seiner Zeit noch als unangemessen gelten und der Rechtfertigung bedürfen. Dass Plutarch mit dieser Ansicht nicht allein, sondern in einer langen Tradition steht, zeigt Isokrates in seiner berühmten Antidosis-Rede, die G. Misch in seinem Standardwerk zur Autobiographie nicht nur als „erste […] literarische Autobiographie“ bezeichnet, sondern der er auch den Charakter eines „voll ausgeführten und zweifellos echten autobiographischen Werke(s)“40 attestiert hat. Der Zeitgenosse Platons führt hier gleich zu Beginn aus: „Weil ich also bemerkt hatte […], dass mehr Leute als von mir angenommen in bezug auf mich ein falsche Ansicht vertraten, überlegte ich, wie ich ihnen und der Nachwelt zeigen könnte, welchen Charakter ich habe, welches Leben ich führe, mit welcher Erziehung ich mich beschäftige, und wie ich es nicht hinnehmen müsste, ohne ein gerechtes Urteil in diesen Fragen zu bleiben oder ein Opfer der Leute zu werden, die es gewohnt sind, Verleumdungen zu verbreiten, wie es jetzt geschehen ist. [7] Bei meinen Überlegungen fand ich also heraus, dass ich mein Ziel wahrscheinlich nur erreiche(n) würde, wenn ich eine Rede schriebe, gleichsam als ein Bild meiner Gesinnung und meiner Lebensführung insgesamt. Ich hoffte nämlich, dass dadurch alles, was meine Person angeht, am besten geklärt werden könnte und dass mit dieser Rede ein weit schöneres Denkmal von mir zurückbliebe als dies etwa mit Bronzestatuen der Fall wäre. [8] Ich musste aber erkennen, dass ich, wenn ich zu meinem eigenen Lob spräche, nicht in der Lage wäre, alles zu behandeln, was ich gerne erwähnt hätte, noch darüber reden könnte, ohne Missgunst und Neid zu erregen.“41

Hier ist der Vorbehalt, unter dem jegliche Selbstdarstellung in der Antike steht, mit Händen zu greifen, und selbst Cicero, der sich selbst zu loben, vorsichtig ausgedrückt,42 keinerlei Scheu empfindet, lässt die Anstößigkeit 39

Plutarch, Allerlei Weltweisheit, nach der Übs. Kaltwasser neu hrsg. (Klassiker des Altertums I 13), München und Leipzig 1911, 180. 40 Geschichte I, 1 (s. Anm. 5) 158 41 Antidosis oder über den Vermögenstausch, in: Isokrates, Sämtliche Werke II, übers. v. Ch. Ley-Hutton (BGL 44), Stuttgart 1997, 118; vgl. auch 140–153. 42 Vgl. Atticus-Briefe I 19,10: „tertium poema exspectato, ne quod genus a me ipso laudis meae praetermittatur. Hic tu cave dicas: ‚VKLRCVGTCKXPGUGK‘; si est enim apud homines quidquam,

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autobiographischen Schreibens auf mehrfache Weise noch erkennen. So, wenn er in Fam V 12,8 feststellt,43 er sei vielleicht zu tun gezwungen, was manche für unschicklich hielten, nämlich über sich selbst zu schreiben, und darauf hinweist, dass er mehrfach vergeblich Versuche unternommen hat, andere zu einer Biographie über ihn anzustiften.44 (Briefe an Atticus 1.16,21f.; 2.1) Ohne berechtigten Anlass autobiographisch über sich selbst zu schreiben, ist offensichtlich nicht nur verpönt, sondern ist auch viel weniger wirksam als eine biographische Darstellung durch einen anderen Autor. Mag die Anstößigkeit autobiographischer Äußerungen auch im Laufe der Zeit abgenommen haben, so zeigen doch die Hinweise bei Plutarch und Cicero, dass diese im 1. und 2. Jahrhundert durchaus noch vorhanden und wirksam war. 1.4.2 Die verschiedenen Ziele von Autobiographie und Geschichtswerk in der Antike Ein zweiter Unterschied besteht darin, dass man unbeschadet der Differenz zwischen antiker und moderner Historiographie in der Antike Biographie und Autobiographie von der Geschichtsschreibung unterscheidet.45 Zwar gilt das zunächst einmal nur von der Biographie, dürfte aber auf die Autobiographie zu übertragen sein. Die Unterscheidung zwischen Biographie und Geschichtsschreibung kommt an vielen Stellen der Biographien zum Tragen. Sehr bekannt ist v.a. der Anfang der Alexander-Biographie des quod potius laudetur, nos vituperemur, qui non potius alia laudemus; quamquam non GXIMYOKCUVKMC sunt haec sed KBUVQTKMC, quae scribimus.“ „Als drittes darfst Du ein Epos erwarten, denn ich möchte keine Literaturgattung ungenutzt lassen, mein Lob zu singen. Nun sag’ Du bloß nicht: ‚Wer wird den Vater loben‘; gibt es auf Erden etwas, was eher Lob verdient, so mag man mich tadeln, dass ich nicht lieber fremdes Verdienst rühme. Im übrigen schreibe ich ja gar keine Lobreden, sondern Geschichte.“ (Atticus-Briefe, lat. – deutsch v. H. Kasten, München 31980). – Vgl. dazu G. Misch, Geschichte I, 2 (s. Anm. 5) 357f. 43 An dieser Stelle werden die antiken Vorbehalte gegen autobiographisches Schreiben wenigstens teilweise deutlich: „[…] sehe ich mich vielleicht genötigt, etwas zu tun, was manche unter Umständen tadeln: ich würde selbst über mich schreiben, immerhin nach dem Vorbild vieler berühmter Männer. Aber diese Literaturgattung krankt, wie Dir nicht verborgen ist, an folgenden Gebrechen: es bleibt nicht aus, dass man von sich selbst zurückhaltender spricht, wenn es etwas zu loben gilt, und manches übergeht, was man eigentlich tadeln müsste. Dazu kommt noch, dass die Vertrauenswürdigkeit, das Gewicht darunter leidet“ (Übs. H. Kasten). Vgl. zu dieser Stelle auch noch den Beitrag von D. Dormeyer in diesem Band. 44 Was möglicherweise Fiktion ist, vgl. G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 45f. – Allerdings wäre dieses Verhalten Ciceros nicht ohne Analogie, vgl. nur Sulla (Plutarch, Lucullus 1) und dazu R.G. Lewis, Imperial Autobiography, Augustus to Hadrian, in: ANRW II 34.1, 629–706, 665.630 und Anm. 2. 45 Vgl. dazu G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 29f.; H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 4f., sowie die Beiträge von Dormeyer und Ebner in diesem Band.

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Autobiographie und Historiographie bei Paulus

Plutarch, wo der Verfasser ausführt, dass er nicht alle Begebenheiten aus dem Leben des Alexander erzählen, sondern diese nur kurz zusammenfassen will, und dies wie folgt begründet: „Denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder, und hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregensten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten […] Wie nun die Maler die Ähnlichkeiten dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der Charakter zum Ausdruck kommt, und sich um die übrigen Körperteile sehr wenig kümmern, so muss man es mir gestatten, mich mehr auf die Merkmale des Seelischen einzulassen und nach ihnen das Lebensbild eines jeden zu entwerfen, die großen Dinge und die Kämpfe aber anderen zu überlassen“ (Alex 1 nach der Übs. von K. Ziegler).46

Nicht ganz so deutlich kommt derselbe Sachverhalt in Galba 2 zum Ausdruck, weswegen diese Stelle auch weniger bekannt ist: „Alle diese (im Vorangehenden geschilderten) Ereignisse im einzelnen genau zu erzählen, ist Aufgabe der Tatsachengeschichte; was aber Bemerkenswertes an Taten und Leiden dabei den Kaisern zugestoßen ist, darf auch ich nicht übergehen.“47 Dass es sich hier nicht um eine Besonderheit der Biographien Plutarchs handelt, die ja einen eigenen Typ von Biographie darstellen, ließe sich anhand zahlreicher Parallelen zeigen. Ich muss es bei einem Beleg aus der Universalgeschichte des Polybios (2. Jh. v.Chr.) bewenden lassen. Dort kommt dieser auf Philopoimen zu sprechen, über den Polybios vorher schon eine Biographie geschrieben hatte. „Denn wie jenes Werk, das dem Mann ein Denkmal zu setzen bestimmt war, eine sich auf das Wesentliche beschränkende Verherrlichung seiner Taten verlangte, so fordert das Geschichtswerk, das unparteiisch nach Verdienst Lob und Tadel auszuteilen hat, einen absolut wahrheitsgetreuen, auf Tatsachen gegründeten und die Erwägungen, die die Ereignisse begleiteten, die Motive, die das Handeln veranlassten, klarstellenden Bericht.“48 46 H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 7 bezeichnet diesen Beleg als „Schlüsselstelle für das literarische Selbstverständnis Plutarchs, aber auch für das Selbstverständnis jedenfalls eines großen Teils der antiken Biographie allgemein.“ 47 Vgl. dazu auch noch Plutarch, Nikias 1; Kimon 2 (an dieser Stelle kommt die wertende Darstellung von Seiten des Autors deutlich zum Ausdruck) und Aemilius 1: „das Gewichtigste und Bedeutsamste für die Erkenntnis seines Wesens aus seinen Taten entnehmen“. Den Hinweis auf diese Stellen verdanke ich W. Deuse. 48 X 21 nach der Übersetzung von Niggl, Theorie (s. Anm. 5) 5 (Y=URGTICTGXMGKPQL QBVQRQL, WBRCTEYPGXIMYOKCUVKMQL, CXRJ^VGKVQPMGHCNCKYFJMCKOGVXCWXZJUGYL VYP RTCZGYPCXRQNQIKUOQP, QW=VYLQBVJLKBUVQTKCL,MQKPQLY PGXRCKPQWMCK[QIQW,\JVGKVQPCXNJSJMCKVQPOGVXCXRQFGKZGYL MCK VYPGBMCUVQKLRCTGRQOGPYPUWNNQIKUOYP). Vgl. auch ebd. 5f., zu Philopoimen auch die Beiträge von Ebner und Heil in diesem Band.

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Biographie und Historiographie werden in der Antike als zwei verschiedene literarische Gattungen mit unterschiedlichen Zielen angesehen. Die Biographie hat die Rühmung des Porträtierten zum Ziel, die Historiographie ist dagegen eine streng an den Tatsachen orientierte Darstellung, die solche Ziele gerade nicht verfolgen darf – zumindest soll sie das nach der Vorstellung der Antike sein.49 Wie wir darüber heute urteilen, steht auf einem anderen Blatt. 1.4.3 Autobiographie und Ideal Ein dritter Unterschied besteht darin, dass es den antiken Biographen und Autobiographen in der Regel nicht nur um das Rühmen ihrer selbst oder einer Person, sondern auch um eine Sache, ein Ideal, geht, das in dem Porträtierten zur Darstellung kommt. Das ist vor allem bei den PhilosophenViten der Fall und soll den Leser am Beispiel des Porträtierten zur Nachahmung anstiften.50 Dass dies nicht nur, wie man zunächst vermuten könnte, für die Biographie, sondern auch für die Autobiographie gilt, kann man der Antidosis des Isokrates entnehmen. Isokrates bezeichnet zwar diese Rede als Denkmal für sich selbst, will aber mit dieser Rede die Nachwelt auch über seinen Charakter und sein Leben informieren. Dass dies aber nicht ausschließlich um seinetwillen, sondern auch um der Sache willen, die Isokrates vertritt, geschieht, zeigt sich darin, dass er nicht nur von seinem Charakter und seinem Leben, sondern auch von der Erziehung spricht, mit der er sich beschäftigt. Er kann das von ihm angestrebte Denkmal offensichtlich nur erreichen, wenn seine Hörer und Leser sich mit dem Erziehungsideal, das er vertritt, identifizieren bzw. dieses wenigstens gutheißen, womit deutlich wird, dass es dem Isokrates um mehr als um ein bloßes Denkmal seiner selbst geht.51 1.4.4 Historiographie und Faktentreue in der Antike Es gibt noch weitere Unterschiede. Wir haben vorhin festgestellt, dass die Antike den Biographien und Autobiographien ein anderes Verhältnis zur Geschichte unterstellt als den historischen Werken etwa eines Thukydides 49

Vgl. dazu G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 29ff. Chr. Heil hat in seinem Beitrag in diesem Band darauf hingewiesen, dass es sich dabei um ein Ideal handelt, das keineswegs immer eingehalten worden ist. 50 Vgl. die schöne Formulierung zu den Philosophen-Biographen der Antike bei T. Hägg, Socrates and St. Antony. A short cut through Ancient Biography, in: R. Skarsten u.a. (Hrsg.), Understanding and History in Arts and Sciences (Acta Humaniora Universitatis Bergensis 1), Oslo 1991, 81–87, 86: „They aim at showing a philosophical-religious ideal in incarnated form (and, consequently, willingly leave authenticity for idealization, if that serves the purpose).“ 51 S. den Text oben unter I 4.1

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oder Herodot. Davon zu unterscheiden ist aber die Frage, wie wir heute über das Verhältnis der antiken Historiographie zu den Fakten urteilen, wobei „Geschichte“ natürlich nach mehr als nur den Fakten fragt.52 Nun macht es an dieser Stelle keinen Sinn, sich intensiver mit der Zuverlässigkeit antiker Historiographie allgemein auseinanderzusetzen, obwohl dies ein wichtiger Aspekt unserer Tagung ist. Es muss genügen, hier darauf hinzuweisen, dass dem historischen Bewusstsein der damaligen Zeit, das sich (z.B. in den Proömien) vehement für die Überlieferung nur zuverlässiger Angaben ausspricht,53 eine unterschiedliche oder gar widersprüchliche Darstellung beim selben Autor nicht widerspricht. M. Hirschberger hat jüngst für die Schriften des Josephus gezeigt, dass die Einzelheiten in seinen Werken z.T. unterschiedlich dargestellt werden und dass sich zwischen dem Jüdischen Krieg und der Vita die Selbststilisierung in unterschiedliche Richtungen entwickelt hat. Die Sicht des Josephus auf den Jüdischen Krieg unterscheidet sich zwischen dem Bellum Iudaicum und den Antiquitates erheblich, wenn die Rebellen, denen im Bellum die Hauptschuld am Krieg zugewiesen wird, in den Antiquitates ganz zurücktreten zugunsten eines den Juden aufgrund von Übergriffen der römischen Prokuratoren aufgezwungenen Krieges. „Schuld und Frevel der Rebellen, die als Leitthema des 2QNGOQL und Grundlage der darin vertretenen Geschichtstheologie gelten können, fallen in der Zusammenfassung seines Inhalts in der 8$TECKQNQIKC gänzlich weg.“54 Nun könnte man dagegen einwenden, Josephus sei ohnehin kein Historiker der Antike im klassischen Sinne, da er sich bereits im Proömium in Widerspruch zu Unvoreingenommenheit und Neutralität als den methodischen Prinzipien der klassischen griechischen Geschichtsschreibung setze.55 Aber Josephus steht in dieser Hinsicht nicht allein. Betonung der Zuverlässigkeit der eigenen Angaben und Phantastereien im selben Werk können in antiken Werken nun einmal nebeneinander stehen und widersprechen offensichtlich nicht dem historischen Bewusstsein der

52 Auf die Konstruktivismusdebatte, die durch P. Lampe und J. Schröter auch Einzug in die neutestamentliche Exegese gefunden hat, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Vgl. dazu K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThS 86), Neukirchen 2007. 53 Vgl. nur Cicero, De oratore II 15,62. 54 M. Hirschberger, Historiograph im Zwiespalt – Iosephos’ Darstellung seiner selbst im 8,QWFCK"MQL2QNGOQL, in: Reichel, Autobiographien (s. Anm. 2) 143–183, 176; vgl. beispielhaft auch S. Mason, Life Josephus (Flavius Josephus. Translation and Commentary Vol. 9), Leiden u.a. 2001, 164 Anm. 1697: „It is curious that Josephus defers to the earlier work so confidently when, in all of the stories that appear in both places, there are numerous major and minor contradictions. This suggests that Josephus was not embarrassed by such changes, in spite of his rhetorical claim to ‚precision‘ […], that he saw such alterations as within the parameters of truthful writing.“ 55 Vgl. dazu M. Hirschberger, Historiograph (s. vorige Anm.) 149f.

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damaligen Zeit.56 Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Antike hier anders urteilt als wir, ohne dass wir das bis ins Einzelne genau verstehen oder nachvollziehen können.57 Wenn Aristoteles sagt: Der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich dadurch, „dass der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte“,58 so ist das für uns an den historiographischen Werken der Antike ebenso wenig nachvollziehbar wie die Tatsache, dass trotz dieses Anspruches der Wahrheitsgehalt bestimmter Erzählungen durch fingierte Dokumente abgesichert wird.59 Der Evangelist Lk mit dem deutlichen Widerspruch zwischen Anspruch (im Vorwort) und Ausführung (in seinem Werk) befindet sich offensichtlich in bester Gesellschaft. Quellenkritik und Quellenfingierung vertragen sich mit dem Bewusstsein der Antike offensichtlich, wenn es so etwas wie ein epochales Bewusstsein gibt. Sind so die historischen Werke der Antike kritisch zu hinterfragen, so wird man bei der Auswertung von Einzel-Aussagen in Autobiographien und Biographien in historischer Hinsicht noch vorsichtiger sein müssen, weil, wie zu zeigen versucht wurde, die Biographien und Autobiographien unter einer anderen Prämisse als der der Historie abgefasst wurden und ihr Verhältnis zu den Tatsachen, soweit feststellbar, sehr locker ist. Hier geht es um das Rühmen einer Person und um die Veranschaulichung von Idealen und Charakteren, nicht um die Darstellung von Geschichte.60 Diese ganz 56 Vgl. dazu nur die Kyrupädie des Xenophon, die man zu allen möglichen literarischen Gattungen zählen kann (vgl. H. Sonnabend, Geschichte [s. Anm. 6] 55), weswegen man sie auch unter die Vorformen der Biographie gerechnet und als „Gattungsexperiment“ bezeichnet hat (DNP I 682 Art. Biographie), die aber auch eindeutig die Kriterien für eine Biographie erfüllt, und die neben einem stilgemäßen Quellen- und Wahrhaftigkeitsbeweis (I 1,6) zahlreiche Phantastereien und Fiktives enthält. Dass Xenophon bei der Darstellung des Kyros nicht immer „ad historiae fidem“ schreibt, hat zumindest Cicero schon erkannt (vgl. Cicero, Ad Quintum fratrem I 1,23). Vgl. zum Problem auch Thukydides I 97; Porphyrius fr.12 und 15 einerseits und Eusebius, Dem Ev III 5,95ff.; Livius VIII 40,4; VII 9,5 andererseits. 57 Einen kleinen Einblick gewährt vielleicht die von Demandt angeführte Problematik der Abstammungsfälschung. Weil man von der Erblichkeit des Schicksals ausging, konnte man sich eine geringe Herkunft eines bedeutenden Mannes mit großen Taten nur schwer vorstellen und befreite ihn von diesem Makel, und umgekehrt. A. Demandt, Historische Selbstentlastung in der Antike, in: B. Loewenstein (Hrsg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992, 115–142, 122f.125f. Dass es an diesem Denken bereits in der Antike Kritik gab, stellt dieses Denkschema noch nicht grundsätzlich in Frage. Das zugrunde liegende Denken kommt auch in dem Zitat Demandts (127) zum Ausdruck: „Die Neigung der Völker, ihre Gesetze älter zu machen als sie sind, kritisierte Josephus (c.Ap. II 15), und er erklärte zugleich Moses für den ältesten Gesetzgeber.“ Vgl. auch ebd. 141 zur Ermordung Äsops. 58 Aristoteles, Poetik 9. Vgl. auch Cicero, De legibus I 1,5. 59 Vgl. dazu nur JShrZ II 41; W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 2. durchgesehene Auflage mit einem Nachtrag hrsg. v. G. Strecker (BHT 10), Tübingen 1964, 143. 60 Ein Beleg dafür mag genügen, vgl. Cicero, Fam V 12,3: „Darum bitte ich dich rundheraus ein übers andere Mal, meine Taten noch krasser herauszustreichen, als es vielleicht deinem Gefühl

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erhebliche Einschränkung gilt aber nur gegenüber dem, was ich als Einzelfaktum bezeichnen würde, denn selbstverständlich ist es von größtem Interesse, was in diesen Schriften an Idealen und Charakteren vorgestellt wird. Diese geistes- und sozialgeschichtlichen Daten61 kommen mehr implizit als explizit zur Darstellung und bleiben aussagekräftig.62 Dass dies so ist, dass also die das Leben usw. des autobiographischen Autors betreffenden Angaben äußerst kritisch betrachtet werden müssen, hängt mit einer weiteren Eigenschaft der Autobiographie zusammen, die hier abschließend betrachtet werden muss. Autobiographien der Antike sind durchgehend apologetisch. Es muss also nicht nur das autobiographische Schreiben überhaupt gerechtfertigt werden, wie wir gesehen haben, sondern die Autobiographien der Antike dienen durchweg der eigenen Selbstrechtfertigung. Wir haben diese Tendenz schon in dem zitierten Stück aus der Antidosis-Rede des Isokrates gesehen, sie findet sich auch im weiteren Verlauf des Proömiums noch einmal. „Hört euch nun meine Verteidigung an, die in Form einer fingierten Prozessrede geschrieben ist, dazu bestimmt, über mich die Wahrheit kundzutun und alle, die mich nicht kennen, über meine Person zu informieren, jene aber, die mir gegenüber missgünstig sind, noch mehr unter diesem Übel leiden zu lassen“ (1363). entspricht, die Gesetze der Geschichtsschreibung dabei einmal außer acht zu lassen […] und unserer Liebe ein klein wenig mehr, als die Wahrheit gestattet, zukommen zu lassen“ ([…] ut et ornes ea vementius etiam quam fortasse sentis, et in eo leges historiae neglegas […]). 61 Allerdings bestehen gegen die unmittelbare Rekonstruktion der Lebenswelt aus den in Autobiographien enthaltenen oder vorausgesetzten Daten von anderer Seite, nämlich von der Wissenssoziologie her, Bedenken. Vgl. V. Depkat, Materialien (s. Anm. 14) 106f. („Eben weil der Autor einer Autobiographie über sich selbst und seine Zeit wie auch über sich selbst in seiner Zeit reflektiert, lässt er in der denkenden Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Realität sowohl eine Vorstellung von seinem ‚Ich‘, seinen Wertideen, Normen und Erfahrungen, als auch eine Vorstellung von gesellschaftlicher und historischer Wirklichkeit in der gleichen schreibenden Bewegung überhaupt erst entstehen“ 107. Vgl. auch 113f., aber auch oben Anm. 23). Jedoch wird man den Autobiographien trotz dieser Brechung durch die subjektive Wahrnehmung des Autors eine ganze Reihe von Erkenntnissen über die soziale Welt in der damaligen Zeit entnehmen können, allerdings ist diese Brechung natürlich einzukalkulieren, und die Daten dürfen nicht 1:1 übertragen werden. 62 Vgl. etwa die Parallelen bei den christlichen Märtyrern: „[…] in dieser Hinsicht ist der Märtyrer interessant, er sagt nicht so sehr etwas über das Verhältnis von Christen und römischem Staat, von Christenverfolgung und christlichem Widerstand, auch nicht über das historische Phänomen ‚Märtyrer‘ aus, als vielmehr über die ihn gestaltende und rezipierende Gruppe.“ So B. Aland, Märtyrer als christliche Identifikationsfiguren, in: B. Aland/J. Hahn/C. Ronning (Hrsg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike (Studien zu Antike und Christentum 16), Tübingen 2003, 51–70, 52. 63 Nach der Übersetzung von Ley-Hutton (JFJF’CXPCIKIPYUMGVGVJP CXRQNQIKCPVJP RTQURQKQWOGPJPOGPRGTKMTKUGYLIGITCHSCK,DQWNQOGPJPFGRGTKGXOQWFJNYUCKVJPCXNJSGKCP, MCKVQWLOGPCXIPQQWPVCLGKXFGPCKRQKJUCK,VQWLFGHSQPQWPVCLGVKOCNNQPWBRQVJLPQUQWVCWVJL NWRGKUSCK). – M. Erler macht m.E. zu Recht darauf aufmerksam, dass man hier auch schärfer, nämlich final übersetzen könnte. Erler fasst den Abschnitt so zusammen: „er wolle eine Verteidi-

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Es handelt sich dabei keineswegs um eine captatio benevolentiae, die nur am Beginn autobiographischen Schreibens im 4. und 3. Jahrhundert zu finden wäre, etwa um diese neuartige Art des Schreibens zu rechtfertigen, und die dann im Laufe der Zeit verloren gegangen wäre, sondern es geht dabei um eine durchgängige und allgemeine Eigenschaft autobiographischen Schreibens in der griechischen und römischen Antike. Statt mit Hilfe weiterer antiker Belegstellen die Durchgängigkeit dieses Motivs zu zeigen, lasse ich es aus Zeitgründen bei einem Autoritätsbeweis mit Hilfe zweier Zitate bewenden: „Autobiographische Schriften dienen häufig – in der antiken Literatur so gut wie immer – der Selbstrechtfertigung.“64 „Betrachtet man die in Frage kommenden autobiographischen Werke der römischen Republik, so stellt man eine signifikante Gemeinsamkeit fest: Es handelt sich um Schriften mit einer deutlich apologetischen Tendenz. Den Verfassern geht es nicht primär darum, ihr eigenes Leben bzw. einzelne Lebensabschnitte als besonders glänzend und erfolgreich darzustellen, sondern sie reagieren auf Kritik, der sie ausgesetzt worden sind.“65

Diese apologetische Zielsetzung schließt natürlich weitere Zielsetzungen nicht aus,66 ist aber für die Beurteilung des Charakters der Autobiographien als historischer Quellen von grundlegender Bedeutung. Denn Apologetik bedeutet hier, wie A. Demandt es genannt hat, „historische Selbstentlastung“,67 d.h. positive Aspekte werden gesteigert oder gar erst eingefügt, negative werden gemildert oder getilgt.68 Diese Selbstentlastung an pietistischen Autobiographien aufzuweisen, wäre interessant, aber für unser Thema wenig beweiskräftig. Wir müssen uns auf Beispiele aus der Antike konzentrieren. Ich beginne zur Illustration mit einem Beispiel, das der neutestamentlichen Exegese besonders nahe steht, mit Josephus: Bei der Darstellung seines Überlaufens zu den Römern nach der Einnahme von Jotapata ist die apologetische Absicht mit Händen zu greifen. Josephus muss mehrfach göttliche Aufträge bemühen, um sein Überleben zu rechtfertigen, und dass ausgerechnet er, dessen Versuch, zu den Römern überzulaufen, seine Mitkämpfer in der Höhle zuvor mit Waffengewalt vereitelt haben, mit gung fingieren (RTQURQKQWOGPQL), damit er die Gelegenheit habe, über sich selbst sprechen zu können“. Vgl. M. Erler, Philosophische Autobiographie am Beispiel des 7. Briefes Platons, in: Reichel, Autobiographien (s. Anm. 2) 75–92, 85. 64 M. Reichel, Anabasis (s. Anm. 2) 63. 65 H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 89; vgl. allerdings auch Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 53. 66 Vgl. z.B. H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 96 zu Sulla. 67 A. Demandt, Selbstentlastung (s. Anm. 55) 118. 68 Vgl. die Klassisfizierung der ebenfalls nur bruchstückhaft erhaltenen Autobiographie Sullas bei R.G. Lewis, Autobiography (s. Anm. 43) 665: „it abounded in lies, distortion and selfpraise“, und 665 Anm. 119: „Mendacity in attested citations and suspected derivations is far too widely pervasive to be documented here.“

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Hilfe des Losverfahrens überlebt, ist historisch nur schwer nachzuvollziehen. Josephus wird hier massiv eingegriffen haben, um seine Rolle in diesem Kampf nicht zu ungünstig aussehen zu lassen.69 Das war umso leichter möglich, als er alleine diesen Kampf überlebt hat (vgl. Vita 357; BJ III 9,5 § 432f., anders BJ III 8,7 § 391). Ob wir freilich davon ausgehen können, dass die antiken Schriftsteller in der Regel überhaupt Überlegungen zur Falsifizierbarkeit ihrer Aussagen anstellten, scheint mir eher fraglich. Das zweite Beispiel für die apologetische Absicht antiker Autobiographien bezieht sich auf Augustus und seine Autobiographie „De vita sua“, die nur in Fragmenten erhalten ist. Sueton, der dieses Werk gekannt haben dürfte,70 schreibt in seiner Augustus-Biographie: „Den Prätor Quintus Gallius, der bei einer offiziellen Begrüßung eine zusammengefaltete Schreibtafel unter seinem Gewand verdeckt hielt, verdächtigte er, ein Schwert zu verbergen, wagte aber aus Angst, es könnte doch etwas anderes gefunden werden, nicht, ihn sogleich zur Rede zu stellen, sondern ließ ihn wenig später durch seine Centurionen und Soldaten vom Richterstuhl zerren, wie einen Sklaven foltern und, als er nichts gestand, endlich töten. Vorher hatte er ihm noch mit eigener Hand die Augen ausgestochen. Augustus selbst stellt allerdings diese Angelegenheit folgendermaßen dar: er habe ihm auf sein Ansuchen hin eine Unterredung gewährt, sei dabei tätlich angegriffen worden und habe ihn daraufhin in Haft setzen lassen; Gallius sei dann unter der Bedingung, die Hauptstadt nicht mehr zu betreten, freigelassen worden und wohl später in einem Schiffbruch oder durch Räuber umgekommen“71 (Sueton, Augustus 27, in der Übs. von A. Lambert).72

Diese Stelle spricht für sich. Diese verfälschende Tendenz autobiographischen Schreibens festzustellen, heißt überhaupt nicht, auch nicht aus dem Denken der Moderne heraus, dem autobiographischen Autor die Unwahrheit oder gar eine Absicht der Täuschung zu unterstellen, wie sich aus den zu Beginn vorgetragenen Darlegungen ergibt. Zwar wird es solche bewusste Täuschung sicher auch gegeben haben, aber wir wissen um den jedenfalls auch konstruktiven Cha69

Vgl. BJ III 34 § 323f. Vgl. dazu außer H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 115f., auch R.G. Lewis, Autobiography (s. Anm. 43) 670. Dort auch 669f. ein Überblick über die schwierige Überlieferungsgeschichte dieses Werkes. 71 R.G. Lewis, Autobiography (s. Anm. 43) 681 stellt das Verfahren des Augustus wie folgt dar: „It emerges then that in apologia Augustus commanded several techniques and no little skill. Outright denial of facts seems to have been less common than transfer of responsibility to opponents, with a wide variety of polemic ranging from simple omission of contrary evidence favouring the target to virulent slander.“ 72 Vgl. dazu und zu anderen Beispielen H. Sonnabend, Geschichte (s. Anm. 6) 115f. Zur autobiographischen Darstellungsweise des Augustus in „De vita sua“ vgl. R. G. Lewis, Autobiography (s. Anm. 43) 685f. 70

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rakter des Gedächtnisses, wir wissen auch um die Selbstentlastungsfunktion des eigenen Ichs usw., so dass von einer allgemein verbreiteten Täuschungsabsicht sicher nicht die Rede sein kann.

2. Die autobiographischen Bemerkungen des Apostels Paulus Paulus hat uns keine Autobiographie hinterlassen, an autobiographischen Mitteilungen hingegen ist bei ihm kein Mangel.73 Es stellt sich insofern die Frage, ob wir aus unseren Überlegungen zur Autobiographie in Antike und Moderne einen Nutzen für die Interpretation der paulinischen Texte ziehen können. Lassen sich die Überlegungen zur Autobiographie auf die z.T. sehr kurzen autobiographischen Elemente bei Paulus übertragen?74 Können überhaupt entsprechende Kenntnisse zur Art des autobiographischen Schreibens bei dem möglicherweise in Jerusalem herangewachsenen und geschulten Juden vorausgesetzt werden, und wenn ja, wie soll er sie erworben haben?75 Die Antwort auf diese umstrittene Frage scheint sich mir in unserem Kontext angesichts der paulinischen Beherrschung der Briefkonventionen zu erübrigen. Die zumindest versuchsweise Berechtigung, die autobiographischen Konventionen auf die entsprechenden Paulustexte anzuwenden, scheint mir schon deswegen erlaubt zu sein, weil die autobiographischen Elemente in den Paulusbriefen eine ganze Reihe von Merkmalen mit den Autobiographien teilen. Es handelt sich um einen Rückblick auf das eigene Leben, wenn auch nicht unbedingt und immer auf Abstammung und Kindheit, und auch nicht notwendig schon vom Ende des Lebens her, aber das war, um nur ein Beispiel zu nennen, bei Augustus auch nicht der Fall, der seine Autobiographie wahrscheinlich im Jahre 24 v. Chr. verfasst hat.76 Darüber hinaus berichtet Paulus zumindest in Gal 1 und 2 sowie in Phil 3 in chronologischer Reihenfolge über sein Leben und bezieht die Geschehnisse auf seine Person bzw. stellt sie aus seiner Perspektive dar. Am Vorliegen einer moralisch-didaktischen Ausrichtung kann ebenfalls kein Zweifel bestehen. Insofern sind die inhaltlichen Merkmale, die oben

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Vgl. die Liste bei G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 71; E.-M. Becker, Autobiographisches 81f. 74 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch A. Momigliano, Development (s. Anm. 6) 18; G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 60; aber auch B.R. Gaventa, Galatians 1 and 2, in: NovTest XXVIII (1986) 309–326, 324. 75 Vgl. dazu nur G. Lyons, Autobiography (s. Anm. 3) 4–7. 76 Dasselbe gilt für Septimius Severus, während Hadrian seine Apologia pro vita sua wohl erst gegen Ende seines Lebens geschrieben hat. Zur Bedeutung der Abfassungszeit einer Autobiographie vgl. G. Niggl, Theorie (s. Anm. 5) 6.

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als charakteristisch für die Autobiographie angesehen wurden, eindeutig vorhanden.

2.1 Die selbstreflexiven Äußerungen des Paulus und die „Gattung“ Biographie Welche Lehren sind dann generell aus unserer Betrachtung der antiken Autobiographien für die Paulus-Auslegung zu ziehen? Ich denke, wir werden in Zukunft noch vorsichtiger mit historischen Rückschlüssen aus den autobiographischen Abschnitten der Paulusbriefe sein, als wir es bislang schon sind. Angesichts der modernen Erkenntnisse über autobiographische Aussagen, vor allem angesichts der Erkenntnisse über die Prägung unseres Gedächtnisses, können autobiographische Aussagen nicht einfach mehr für bare Münze genommen werden, so sehr auch der Satz häufig wahr ist, dass niemand den geschilderten Ereignissen näher steht als der Autobiograph. Diese Einsicht müsste m.E. auf ihre Konsequenzen für die in der Exegese beliebte Verankerung der paulinischen Rechtfertigungsaussagen bereits im Damaskuserlebnis geprüft werden, was hier nicht geleistet werden kann.77 Darüber hinaus werden wir angesichts der die antiken Biographien in ihrer Gesamtheit durchziehenden apologetischen Tendenzen die eindeutig vorhandenen selbstrechtfertigenden Teile in einigen autobiographischen Passagen der Paulusbriefe gerade unter dem Gesichtspunkt der Apologetik noch genauer in den Blick nehmen müssen. Handelt es sich hierbei nur oder zumindest auch um ein topisch angewendetes Gattungsmoment, das dem Paulus sozusagen aufgrund des Gattungszwangs unterläuft und ihn gleichzeitig entlastet, oder ist wirklich eine zugrunde liegende Kontroverse Anlass dafür, diese mit Hilfe eines Rückblicks auf die eigene Existenz zur Entscheidung zu bringen und die Gemeinde damit auf die eigene Seite zu ziehen? Das auch sonst schon problematisierte mirror reading erscheint auch unter der autobiographischen Perspektive fraglich.

77 Als Beispiele mögen die folgenden Belege genügen: Die Reflexion des Paulus auf Gesetz und Gerechtigkeit „gründet nicht erst in den Konflikten seiner Spätzeit, vielmehr muss sie, auch wenn die sprachliche Ausgestaltung seiner Sicht erst später greifbar ist, sein Denken und Wirken seit seiner Berufung bzw. seit den frühen Missionserfahrungen bestimmt haben.“ So J. Frey, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hrsg.), Paulus (UTB 2767), Tübingen 2006, 5–43, 24. vgl. auch 32 und 207; M. Hengel, Die Stellung des Paulus zum Gesetz in den unbekannten Jahren zwischen Damaskus und Antiochien, in: Ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III (WUNT 141), Tübingen 2002, 213–239; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, Göttingen 21997, 226f. Vgl. zum Problem die Literaturübersicht bei R. Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil (WUNT 179), Tübingen 2004, 32–34.

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2.2 Gal 1 und 2 und die „Gattung“ Autobiographie Aber die Wahrheit ist konkret. Insofern ist es sinnvoll, wenigstens eine konkrete Passage in den Blick zu nehmen. Dafür bieten sich aus auf der Hand liegenden Gründen Gal 1 und 2 einerseits und 2 Kor 11–12 an. Gal 1 und 2 scheint geradezu ein Paradebeispiel für die vorgestellte These zu sein, dass Autobiographisches immer einen apologetischen Sitz im Leben hat, denn Paulus verteidigt sich hier nach weit verbreiteter Ansicht gegen spezifische Angriffe auf seine Person und sein Evangelium, die judaistische Gegner des Paulus in den galatischen Gemeinden vorgetragen haben. Wenn das der Fall wäre, was sogleich zu prüfen sein wird, so wäre allerdings schon von diesem Zusammenhang her zu fragen, ob es erlaubt ist, daraus den theologischen Schluss zu ziehen, dass Paulus wirklich nur gezwungen und aufgrund von gegnerischen Angriffen auf sich selbst zu sprechen kommt, weil dies seinen Vorstellungen vom Selbstruhm widerspricht. Es wäre hier zumindest als weiterer Grund zu erwägen, dass man sich in der Antike mit Hinweisen auf die eigene Person zurückhielt und solche nur sozusagen gezwungenermaßen, wenn man angegriffen wurde, von sich gab. Die Gründe für die Seltenheit autobiographischer Hinweise bei Paulus könnten also weniger theologischer als literarisch-konventioneller Art sein. Dieser Text ist aber vor allem aus dem Grunde für unsere Fragestellung heranzuziehen, weil es eine Dissertation dazu gibt, die an diese Abschnitte unter besonderer Berücksichtigung der antiken Autobiographien herangeht und sich zugleich die Form eines Generalangriffs auf die die herkömmliche Exegese des Galaterbriefes leitenden Maximen gibt. G. Lyons hat darin die These aufgestellt, die autobiographischen Bemerkungen des Paulus in Gal 1 beruhten weder auf einem polemischen Kontext, noch richteten sie sich gegen Gegner des Apostels oder gar gegen konkrete Vorwürfe von deren Seite. Im Gegenteil, Paulus habe den Galaterbrief (und 1 Thess) „with no ‚opponents‘ in mind“ geschrieben und die autobiographischen Passagen seien im Kontext der autobiographischen Praxis der Antike ohne jegliche dieser Annahmen voll verständlich. Denn diese hätten dieselbe Funktion wie in Philosophen-Viten, sie stünden in engem Zusammenhang mit der Aufgabe und der vertretenen Sache, sie dienten der Überzeugungskraft der vorgetragenen Argumente und hätten allenfalls sekundär informative Funktionen (225f.). Die Passage Gal 1,13–2,21 habe dementsprechend nichts mit Vorwürfen der „gegnerischen“ Seite zu tun, sondern solle das Wesen und den Ursprung des paulinischen Evangeliums in Gal 1,11f. bestätigen und zugleich zeigen, „that he considers himself in some sense a representative or even embodiment of that gospel“ (171). Dieses Ergebnis wird nun freilich im Wesentlichen nicht durch Reflexionen auf das Wesen autobiographischen Schreibens erreicht, sondern durch

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geradezu herkömmliche Analysen. So etwa: Der Konsens in der Exegese hinsichtlich der von den „Gegnern“ vorgetragenen Vorwürfe gegen Paulus sei in sich widersprüchlich und beruhe auf der sehr problematischen Praxis des mirror reading. Letzteres lese sowohl in die von Paulus abgelehnten Ansichten als auch in die antithetischen Konstruktionen gegnerische Ansichten hinein, obwohl Paulus an vielen Stellen von sich aus zu solchen Stilfiguren greife und diese daher eindeutig auf sein und nicht auf gegnerisches Repertoire zurückgingen. Schließlich weist die Zuweisung des Galaterbriefes an das genus deliberativum nach Lyons in dieselbe Richtung. Wenn also der Ertrag unseres zugegebenermaßen flüchtigen Durchgangs durch die antiken Auto-/Biographien u.a. gerade darin bestand, dass Autobiographien und autobiographische Elemente in der Antike immer einen apologetischen Kontext voraussetzen, so wird gerade dies von dieser Dissertation radikal in Frage gestellt. Zwar gab es auch nach Lyons „troublemakers“ in Galatien, aber aus den autobiographischen Bemerkungen des Paulus in Gal 1 und 2 lassen sich keine Rückschlüsse auf deren Ansichten oder gar auf deren „Angriffe“ auf Paulus erheben. Die autobiographischen Ausführungen des Paulus an dieser Stelle sind auch nicht apologetisch und nehmen nicht Bezug auf konkrete Vorwürfe gegen Paulus. Ihr Sinn liegt vielmehr auf einer völlig anderen Ebene, wie oben dargelegt. Nun stimmt diese Darstellung der paulinischen Argumentation von Lyons auffällig mit dem bei ihm aus den Philosophen-Viten erhobenen Befund überein, dass es in diesen vor allem um die Wahrheit der Philosophie der jeweiligen Schule gehe (28f.) – der polemische und apologetische Kontext auf Seiten des (auto-?)biographischen Autors spielt also schon zu Beginn der Arbeit von Lyons noch vor aller Paulus-Exegese jedenfalls bei den Philosophen-Viten keine Rolle, während das bei den Politiker-Viten wenigstens etwas anders ist. Diese dienen auch nach Lyons der Selbstpropaganda, der Selbstverteidigung und der sozialen Unsterblichkeit. Hier rächt sich, dass Lyons trotz zahlreicher methodischer Überlegungen die Frage nach dem unterschiedlichen Sitz im Leben und nach der unterschiedlichen literarischen Konvention von Biographie und Autobiographie vollkommen vernachlässigt, wie er auch völlig unvermittelt Biographie und Autobiographie zusammen nimmt.78 Für die Biographie gilt aber gerade nicht, was für die Autobiographie gilt, dass ihre Verwendung verpönt ist, der Rechtfertigung bedarf und immer einen polemischen Hintergrund hat. – Obgleich Lyons zu seinem Ergebnis m.E. nur durch eine Verkürzung der Merkmale der Autobiographie um die Apologetik kommt, ermöglicht ihm sein inten78

Während bis S. 29 nur von der Autobiographie die Rede ist, werden ab S. 29 Autobiographie und Biographie ohne weitere Reflexion in der Regel zusammen genannt. – Den Unterschied zwischen Autobiographie und Biographie reflektiert z.B. G. Niggl, Theorie (s. Anm. 5) 5f.

Ingo Broer

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siver Rückgriff auf Autobiographie und Biographie doch einen neuen, fruchtbaren Blick auf den Galaterbrief, der auch Konsequenzen für dessen Verständnis hat, wenn die Kapitel 1 und 2 doch apologetischer sind als Lyons zugeben will. Das zeigt ein kleiner Aufsatz von B.R. Gaventa, die Lyons von einer anderen Seite kritisiert, indem sie darauf hinweist, dass die von Lyons vorgenommene Unterscheidung bei den Autobiographien, also zwischen Philosophen- und Politiker-Viten, eher schwach sei. Auch sie bezweifelt die von Lyons festgestellte Entwicklung weg von der apologetischen Tendenz.79 Sie hat deswegen die Heranziehung der antiken Autobiographien zur Erhellung der Paulusbriefe überhaupt abgelehnt und stattdessen auf die Briefe Senecas und Plinius’ d. J. mit ihren moralischen Mahnungen als erhellende Parallelen verwiesen. Beide antike Autoren verweisen häufig auf sich selbst und sie tun dies nicht einfach, weil sie angegriffen werden, sondern weil sie anderen ein Beispiel geben wollen.80 Aber selbst in dem von Frau Gaventa angeführten Beispiel Ciceros ist deutlich noch Apologie vorhanden.81 Deswegen lehnt sie auch apologetische Tendenzen in Gal 1 und 2 nicht einfach ab, wie Lyons das tut, will allerdings Gal 1 und 2 auch nicht allein auf die Verteidigung des Paulus gegen gegnerische Angriffe beschränken. Der autobiographische Rückblick des Paulus zeigt den Apostel vielmehr auch als Beispiel für die einzigartige Macht des Evangeliums, menschliche Werte und Grundeinstellungen umzuwerfen und den Glauben an Jesus Christus an deren Stelle treten zu lassen. Dieses Ergebnis, das den apologetischen Charakter von Gal 1 und 2 anerkennt, aber darin auch noch andere Aussagen findet, scheint mir angemessener zu sein als die radikalen Aussagen von Lyons, zumal es den theologischen Aussagen von Lyons sehr nahe steht.

3. Die Gattung Autobiographie und die Exegese des Neuen Testaments Offensichtlich geht es bei der Beurteilung und Einordnung der Autobiographien und bei der Anwendung dieser Erkenntnisse auf die paulinischen Briefe nicht anders zu als auf anderen Feldern unserer Wissenschaft. Dass die paulinischen Hinweise auf seine Existenz nicht völlig losgelöst von dem in Gal 1,9 erfolgenden Hinweis auf die Gegner sind und insofern auch apologetische Tendenz beinhalten, scheint mir immer noch wahrscheinlich 79 80 81

B. R. Gaventa, Gal 1 (s. Anm. 72) 324. Vgl. ebd. Vgl. Plinius, Briefe I 8,4–5.

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und braucht hier nach Hinweis auf diese Ansicht bei Frau Gaventa nicht mehr nachgewiesen zu werden. Jedenfalls bieten, so viel ist hoffentlich deutlich geworden, die literaturwissenschaftlichen Aspekte der Autobiographien und autobiographischen Elemente der Antike und der Moderne auch dem Neutestamentler interessante Einsichten in seine Texte und neue Perspektiven auf diese. Zu einer größeren Intersubjektivität der Exegese werden diese Einsichten aber kaum führen.

Gerd Häfner

Biographische Elemente der Paulusrezeption 1. Klärungen 1.1 Biographie und „biographische Elemente“ Der vorliegende Beitrag widmet sich dem Thema „Biographie“ unter einer begrenzten Fragestellung. Er geht biographischen Spuren nach, fragt nach der Präsenz biographischer Merkmale in Texten, die keine Biographien sind. Diese Suche kann zunächst vom landläufigen Sinn von „biographisch“ ausgehen und somit bei allem ansetzen, was sich auf das Leben, Handeln und Geschick einer Person bezieht, näherhin: Herkunft, markante Stationen der Lebensgeschichte, Wirken (Funktionen, „Anekdoten“, Gegnerschaft, Unternehmungen, Pläne), Beziehungen, Tod. In einer Biographie werden diese Punkte in eine zusammenhängende Darstellung gebracht. Dagegen zielt die Suche nach „biographischen Elementen“ von vornherein auf eine „Biographie im Fragment“. Erhoben werden soll, welche biographischen Angaben in der Paulusrezeption eine Rolle spielen und welche Funktion diesen Bezügen auf die Vita des Paulus in diesem Rahmen zukommt. In jenen Elementen zeigt sich, was einer späteren Zeit von einer herausragenden Figur wichtig blieb, was sie als das Entscheidende an dieser Figur gesehen hat.

1.2 Biographie und Paulusrezeption Aus der Verbindung mit dem Biographie-Thema ergibt sich eine Abgrenzung des Begriffs der Paulusrezeption: Wesentlich ist, ob in nachpaulinischer Literatur ein Bezug auf die Person des Paulus vorliegt. Dieser Bezug kann auf zwei verschiedene Weisen verwirklicht sein. Es können zum einen Aussagen über Paulus getroffen werden, in denen auf das Leben oder Wirken des Apostels zurückgeblickt wird. Zum andern ist auf paulinische Pseudepigrapha zu achten. Sie können vordergründig Autobiographisches bieten, das aber bei Anerkennung des pseudepigraphischen Charakters den biographischen Elementen der Paulusrezeption zuzuschlagen ist. Nach üblicher Auffassung sind also Kol, Eph, 2 Thess und die Pastoralbriefe zu berücksichtigen.1 1 Spätere Pseudepigrapha werden nicht behandelt (Apokalypse des Paulus, Koptischgnostische Apokalypse des Paulus, Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca).

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Schwieriger abzugrenzen ist die erste Gruppe. Die Apg bietet sich für die Suche nach „biographischen Elementen“ nicht an.2 In der übrigen ntl Literatur (Evangelien, Hebr, Katholische Briefe, Offb) wird Paulus nur einmal ausdrücklich genannt: an der biographisch unergiebigen Stelle 2 Petr 3,15f. Dagegen finden wir einige Hinweise auf seine Person bei den Apostolischen Vätern (1 Clem, Polykarp, Ignatius) sowie, wenn auch aus dem späten 2. Jh., in den Paulus-Akten. Von ihnen ist, wie sich zeigen wird, besonders der Teil von Interesse, der unter dem Namen „Thekla-Akten“ bekannt ist. Wenn selbst eine so späte Quelle herangezogen wird, ist auch deutlich, dass der Begriff „biographisch“ nicht in einem historisch qualifizierten Sinn verwendet wird. Es geht um das Bild des Apostels Paulus, das im Rückblick auf sein Wirken entstanden ist.

2. „Autobiographisches“ in den Deuteropaulinen In Kol, Eph und 2 Thess fehlen Bezüge auf die Biographie des angeblichen Absenders zwar nicht, sie sind aber nicht sehr ausgeprägt. (1) Am stärksten betont ist das Wirken bzw. die Würde als Apostel, wenn auch nur selten unter diesem Titel. Es überrascht nicht, dass das Interesse an der Person des Paulus sich auf das zentriert, was Paulus bewirkt hat. Ein solcher Akzent legt sich schon durch die Nachahmung der Briefform nahe, da ja auch Paulus selbst in seinen Gemeindebriefen die Bedeutung seines Apostolates in den Vordergrund stellen konnte und im Präskript meistens wachgerufen hat. Das Präskript ist entsprechend der Ort, an dem in den Deuteropaulinen Paulus ausdrücklich als Apostel bezeichnet wird (Kol 1,1; Eph 1,1).3 Häufiger allerdings finden sich Umschreibungen seiner apostolischen Tätigkeit. Paulus erscheint als Verkünder (Kol 1,28: MCVCIIGNNGKP), dessen Zeugnis Glauben fand (2 Thess 1,10), dessen Evangelium den Ruf Gottes vermittelt hat (2 Thess 2,14), der Diener des Evangeliums (Kol 1,23; Eph 3,7) und der Kirche ist (Kol 1,25), der durch Wort und Brief als Lehrer in der Gemeinde wirkt (2 Thess 2,15), jeden Menschen lehrt und ermahnt (Kol 1,28) und das Wort des Herrn ausbreiten soll (2 Thess 3,1). Es kann auch die Mühe des apostolischen Dienstes herausgehoben werden (Kol 1,29). 2

S. zum lukanischen Doppelwerk den Beitrag von C.G. Müller in diesem Band. Dass in 2 Thess 1,1 der Apostel-Titel fehlt, hängt sicher mit der Orientierung am 1 Thess zusammen, dem einzigen authentischen Paulusbrief, der auf einen titularen Zusatz verzichtet (vgl. W. Trilling, Der zweite Brief an die Thessalonicher [EKK XIV], Zürich/Neukirchen-Vluyn 1980, 36). Die übrigen Belege für CXRQUVQNQL sind nicht speziell auf Paulus bezogen, sondern auf die Apostel als Gründungsgestalten der Kirche, neben den Propheten (Eph 2,20; 3,5) bzw. als eine Funktion in der Kirche neben den Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern (Eph 4,11). 3

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Einzelne Aspekte des Apostolats können im Anschluss an das pln Selbstzeugnis betont werden: die Berufung (Eph 3,2f.), die auf die Evangeliumsverkündigung unter den Heiden zielt (Eph 3,8) und vor allem unter dem Stichwort der Gnade erscheint (3,2.7.8). Wer in Eph 3,8 die Anspielung auf 1 Kor 15,9f. wahrnimmt (GXNCEKUVQVGTQLRCPVYPCBIKYP/ GXNCEKUVQLVYP CXRQUVQNYP),4 kann auch einen biographischen Hinweis auf die frühere Verfolgertätigkeit erkennen; diese bleibt aber unbetont. (2) Neben dem Rückbezug auf das apostolische Wirken ist das Leiden zu nennen, das sich mit der Gefangenschaft des Paulus verbindet. Fünfmal wird im Kol und Eph Paulus als Gefangener vorgestellt (Kol 4,3.18; Eph 3,1; 4,1; 6,20), einmal ist von den Leiden des Paulus die Rede (Kol 1,24: VCRCSJOCVC). Sie werden den SNK[GKL Christi zugeordnet, und durch SNK[GKL kann auch die Situation des Paulus gekennzeichnet werden (Eph 3,13).5 Beide bislang benannten biographischen Aspekte können auch unmittelbar miteinander verbunden werden, wenn Paulus gerade in seiner Gefangenschaft als Verkünder gezeichnet wird (Kol 4,3f.; Eph 6,19f.). (3) Der 2 Thess bietet insofern biographische Besonderheiten, als er durch seine Nachahmung des 1 Thess einige Details aus diesem Brief übernimmt. So wird an den Aufenthalt des Paulus bei den Adressaten erinnert (2,5; 3,10; vgl. 1 Thess 3,4) und an seine Arbeit, mit der er sich seinen Unterhalt verdient hat (2 Thess 3,8; vgl. 1 Thess 2,9).6 Dass daran die besondere Vorbildhaftigkeit des Paulus geknüpft (2 Thess 3,9f.), Paulus gerade in dieser Frage als VWRQL vorgestellt wird, dürfte vor allem in aktuellen Anliegen des Briefes begründet sein (s. V.11: CXMQWQOGPICT), auch wenn „die Situation überzogen dargestellt“7 ist. (4) Vielleicht am aufschlussreichsten für die Zurückhaltung im Blick auf biographische Elemente ist eine Passage, die man als Verweigerung entsprechender Angaben lesen kann. In Kol 4,7f. (nachgeahmt in Eph 6,21f.) wird den Adressaten mitgeteilt, dass Tychikus und Onesimus alles Wissenswerte über die Lage des Paulus ausrichten werden. Sicher leitet den Verfasser dabei ein positives Anliegen: die indirekte Verbindung zwischen Absender und Adressat berücksichtigt die reale Situation der Trennung zwischen Paulus und den Briefempfängern nach dem Tod des Apostels, der zugleich vergegenwärtigt wird. Paulus, der „nicht mehr zu der ihm unbe4 Vgl. z.B. P. Pokorný, Die Brief des Paulus an die Epheser (ThHK 10/II), Leipzig 1992, 144; H. Hübner, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser (HNT 12), Tübingen 1997, 188. 5 Dass Paulus nach 2 Thess 3,2 erlöst werden möchte von bösen Menschen (TBWUSYOGP), ist nicht einer konkret ausgemalten Bedrängnis zuzuordnen. 6 Zum Verhältnis des 2 Thess zum 1 Thess vgl. W. Marxsen, Der zweite Thessalonicherbrief (ZBK.NT 11,2), Zürich 1982, 15–41. 7 W. Trilling, 2 Thess (s. Anm. 3) 152. Deutlicher erkennt M.J.J. Menken, 2 Thessalonians (New Testament Readings), London 1994, 138–141, eine aktuelle Problematik.

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kannten Gemeinde kommen kann, ist jetzt durch seine Boten bei ihnen“.8 Deshalb wird in Kol 4,10–17 recht ausführlich von Mitarbeitern aus dem Umfeld des Paulus gehandelt. Biographisches Profil im Blick auf Paulus entsteht dadurch aber nur in geringem Maß. Paulus ist, so der Eindruck, in der Gefangenschaft nicht ganz verlassen (4,10f.). Für den Verfasser ist anderes wichtiger, als ein biographisch auswertbares Bild von Paulus zu konstruieren. Dass dies mit der pseudepigraphischen Schriftstellerei nicht notwendig verbunden ist, wird der 2 Tim zeigen.

3. Bezüge auf die Paulus-Biographie bei den Apostolischen Vätern In drei Schriften der Apostolischen Väter wird auf Paulus zurückgeblickt. Dabei lassen sich zwei Schwerpunkte erkennen, die in Kontinuität zu den bislang erkannten Linien stehen. Zum einen wird auf das apostolische Wirken des Paulus abgehoben (1 Clem 5,5–7; PolPhil 3,2; 9,1; IgnRöm 4,3: Paulus als Apostel) und dabei auch das Mittel des Briefes erwähnt (1Clem 47,1; PolPhil 3,2). Dass Paulus in dieser Funktion nicht kopiert werden kann, betont Polykarp. Weder er noch ein anderer seinesgleichen könne „der Weisheit des seligen und berühmten Paulus nahe kommen“ (3,2). Zum andern rückt das Leidensgeschick besonders in den Blick. Anders als in den Deuteropaulinen ist nicht die Gefangenschaft akzentuiert, sondern das Martyrium. Die spätere Paulusrezeption betrachtet vor allem das Ende des Apostels (1 Clem 5,7; PolPhil 9,2; IgnEph 12,2), auch wenn die Erinnerung an das mit dem apostolischen Wirken verbundene Leiden nicht ganz fehlt (1 Clem 5,6). Dass diese Erinnerung gerade im 1 Clem begegnet, dürfte kein Zufall sein, denn dieses Schreiben ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass es Beispiele aus der Heilsgeschichte zu bestimmten Themen anführt.9 Paulus ist nicht nur für den Extremfall des Martyriums ein Vorbild, sondern grundsätzlich das größte Beispiel für das Ausharren (WBRQOQPJLOGIKUVQL WBRQITCOOQL: 1 Clem 5,7). Hier wird also ein bestimmter Charakterzug des Paulus, seine Fähigkeit zur WBRQOQPJ, ausdrücklich als nachzuahmendes Ideal hingestellt. Dass Paulus ein unerreichbares Vorbild abgegeben hätte, wie Polykarp hinsichtlich der Paulus gegebenen Weisheit akzentuiert, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

8 I. Maisch, Der Brief an die Gemeinde in Kolossä (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 12), Stuttgart 2003, 266. 9 Beispiele für Eifersucht und Neid (4,1–6,4), für die Gelegenheit zur OGVCPQKC (7,5–8,1), für Gehorsam (9,2–10,7), für Gastfreundschaft (11,1–12,8), für Demut (16,1–18,17).

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Schließlich begegnet im Philipperbrief des Polykarp ein Zug, der auch den 2 Thess prägt: der Rekurs auf Besonderheiten der Adressatengemeinde in ihrem Verhältnis zu Paulus. Während dies im 2 Thess durch literarische Imitation des 1 Thess geschieht, benennt Polykarp das Verhältnis direkt: Er erinnert die Philipper an das Wirken des Paulus in ihrer Gemeinde (3,2; 11,3) wie auch an das Lob, das gerade dieser Gemeinde gilt.10 Paulus wird an diesen Stellen nicht eigentlich Thema der Ausführungen. Er ist aber offenbar so präsent, dass unvermittelt auf ihn und seine Bedeutung für die Adressaten zurückgegriffen werden kann, und sei es nur im Sinn der allgemein bleibenden Ermunterung, sich an jenes besondere Verhältnis zu Paulus zu erinnern (11,2)11 bzw. sich durch seine Briefe zum rechten Glauben auferbauen zu lassen (3,2).

4. Pastoralbriefe und Paulus-Biographie Die Pastoralbriefe (=Past) unterscheiden sich in zweifacher Hinsicht von den bislang betrachteten Schriften. Sie bieten zum einen wesentlich mehr biographisch auswertbares Material. Zum andern kann man die drei Briefe, die ein Briefkorpus darstellen, in der Reihenfolge 1 Tim – Tit – 2 Tim als „Erzählung“ lesen, die eine bestimmte Phase im Leben des Paulus abdeckt.12 Im Blick auf biographische Elemente eröffnen die Past damit zwei zeitliche Dimensionen: Handlungen und Ereignisse aus der Zeit der (fiktiven) Abfassung der Briefe (4.1) sowie aus der Phase, die den Briefen vorausliegt, in diesen demnach als Rückblick gestaltet (4.2).

4.1 Die Past als Erzählung über den letzten Lebensabschnitt des Paulus 4.1.1 Der Rahmen: von Ephesus nach Rom Die Erzählung der Past konzentriert sich auf die letzte Lebensspanne des Apostels, seinen Weggang von Ephesus nach Westen zum Ort des Martyriums. Dies kann man als biographische Inszenierung im Blick auf die Situa10 Die Schwierigkeiten im Verständnis von PolPhil 11,3 müssen für unsere Zwecke nicht erörtert werden; vgl. dazu J.B. Bauer, Die Polykarpbriefe (KAV 5), Göttingen 1995, 66f.; K. Berding, Polycarp and Paul. An analysis of their literary & theological relationship in light of Polycarp's use of biblical & extra-biblical literature (SVigChr 62), Leiden 2002, 111–113. 11 Der sachliche Zusammenhang ist durch den Fall des Presbyters Valens gegeben. Offenbar soll die Erinnerung an Paulus sowohl die Kritik an der bei Valens erkennbaren Habgier als auch die Aufforderung zur Milde im Umgang mit dem Sünder bestärken. 12 Zur Begründung vgl. G. Häfner, Das Corpus Pastorale als literarisches Konstrukt, in: ThQ 187 (2007) 258–273.

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tion der Adressaten der Past verstehen. Sie leben in der nachpaulinischen Zeit, schauen zurück auf den endgültigen Abschied vom Apostel. In den Past wird ihnen dieser Abschied schrittweise vor Augen geführt: 1 Tim: Paulus hat die Gemeinde verlassen; er will zwar zurückkehren, schließt aber Schwierigkeiten bei der Verwirklichung dieses Plans nicht aus und gibt deshalb briefliche Weisung (3,14f.). Tit: Paulus hat die Gemeinde verlassen und plant keine Rückkehr mehr, sondern beordert seinen Schüler zu sich und stellt die Ankunft eines anderen Mitarbeiters in Aussicht, der aber nicht mit Paulus zusammen bei den fraglichen Gemeinden war (3,12). 2 Tim: Orte des Wirkens des Paulus erscheinen nur noch im Rückblick auf die Zeit vor Abfassung des 1 Tim (1,18; 3,11). Der Erinnerung an die Aufgabe des Paulus als Verkünder, Apostel und Lehrer (1,11) folgt gleich der Hinweis auf sein Leiden (1,12), das als Gefangenschaft erkennbar ist (s. 1,8) und zum Tod führt (4,6f.) – damit auch in die nachpaulinische Situation, in der die realen Adressaten der drei Briefe stehen. 4.1.2 Das Wirken des Paulus als unermüdlicher Apostel a) Für die Past ist Paulus der Apostel schlechthin. Sie ahmen das paulinische Briefpräskript nach, in dem sich Paulus als CXRQUVQNQL&TKUVQWX,JUQW präsentiert,13 sie heben ab auf seine Aufgabe als „Verkünder, Apostel und Lehrer“ (1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11). In dieser Hinsicht ist aufschlussreich, dass die Autorität des Apostels nicht, wie bei Paulus selbst, an die Gründung von Gemeinden gebunden ist. Die Weisungen zeigen keinen Bezug auf konkrete Gemeindeverhältnisse an einem bestimmten Ort. Es geht, neben der Zurückweisung von Falschlehrern,14 um Gemeindestrukturen15 und zu erfüllende Rollenmuster.16 Der Paulus der Past präsentiert sich als Lehrer der Kirche. Bestätigt wird dies durch die lokale Streuung der Briefe (Ephesus, Kreta, Rom) wie auch durch Äußerungen zur Sache: Titus wird angewiesen, „in jeder Stadt“ Presbyter einzusetzen (Tit 1,5). Auf derselben Linie liegt es, wenn Timotheus Weisung im Blick auf das Haus Gottes empfängt (1 Tim 3,15). Der Verfasser bringt im Rahmen der Weisungen zur Gemeindeordnung (3,1–13) grundsätzliche ekklesiologische Aussagen ein; dies deutet auf einen Horizont, der über die Ortsgemeinde hinausgeht.17 Paulus gestaltet die 13 Die Eröffnung in 2 Tim 1,1 stimmt überein mit dem Beginn von 2 Kor 1,1; Eph 1,1; Kol 1,1; ganz ähnlich 1 Kor 1,1. 1 Tim 1,1 klingt durch die Ergänzung MCV8GXRKVCIJPSGQWetwas unpaulinischer, im Tit ist auch der Knecht-Titel belegt. 14 Vgl. 1 Tim 1,3f.18; 4,1–6.11; 6,20f.; 2 Tim 2,14–3,9.14–17; 4,1–5; Tit 3,9–11. 15 Vgl. 1 Tim 3,1–13; 5,1–22; Tit 1,5–9. 16 Vgl. 1 Tim 2,8–15; 5,3–16; 6,1f.; Tit 2,1–10. 17 Und das heißt: GXMMNJUKCin 3,15 ist tatsächlich mit „Kirche“ zu übersetzen, und nicht mit „Gemeinde“ (vgl. auch J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus [EKK XV], Zürich/NeukirchenVluyn 1988, 198 Anm. 440; L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe, 3 Bde., [HThK XI/2,1–3], Freiburg

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Zukunft der Kirche – dies ist das Bild, das die Past von der Autorität des Paulus vermitteln. b) Das Wirken des Apostels wird außerdem durch den Einsatz gestaltet, den Paulus bei der Erfüllung seiner Aufgabe nach dem Zeugnis der Briefe an den Tag legt. Ein entsprechendes Bild entsteht zunächst indirekt im Ablauf der Briefe. Nicht nur dass Paulus Briefe schreibt, um die Gemeinde zu ordnen, trägt zu einem solchen Bild bei, sondern auch die bereits betrachtete topographische Streuung der Orte, an denen sich Paulus aufhält: Paulus ist viel unterwegs im Auftrag des Herrn. Dabei denkt er darüber nach, wie die Gemeinden durch geeignete Mitarbeiter unterstützt werden können (Tit 3,12; 2 Tim 4,12). Auch die Ausrüstung der Mitarbeiter ist ihm ein Anliegen (Tit 3,13f.). Er selbst hat bis zuletzt seinen apostolischen Auftrag im Blick, wenn er Schriftrollen und Pergamente anfordert (2 Tim 4,13).18 Er ist Apostel mit aller Konsequenz und bis zuletzt. 4.1.3 Beziehungen: Mitarbeiter und Gegner a) Paulus erscheint umgeben von einem Kreis von Mitarbeitern. In Tit 3,12f. werden Artemas, Tychikus, Zenas und Apollos genannt, im 2 Tim ist die Liste noch länger: Demas, Kreszens, Lukas, Markus, erneut Tychikus, Karpos, Priska, Aquila, Onesiphoros und sein Haus, Erastos, Trophimus, schließlich auch diejenigen, die Grüße ausrichten lassen: Euboulos, Pudens, Linus und Klaudia. Dieser Kreis erweist sich allerdings nicht als durchweg zuverlässig. Am deutlichsten wird dies im Schlussabschnitt 2 Tim 4,9–22, wo Paulus diejenigen namentlich nennt, die ihn verlassen haben (s. auch 1,15). Ausdrücklich negativ gekennzeichnet wird Demas, der Paulus aus Liebe zu „diesem Äon“ verlassen hat und nach Thessalonich ging. Außerdem wird der Weggang des Kreszens nach Galatien und des Titus nach Dalmatien erwähnt (4,10). b) Im Verhältnis zu den Briefadressaten, die dem Apostel besonders nahe stehen, ist der Beziehungsaspekt einerseits deutlich von der angezielten Sache her inszeniert. Wenn Timotheus und Titus jeweils als IPJUKQPVGMPQP angesprochen werden (1 Tim 1,2; Tit 1,4), drückt sich darin nicht inniges persönliches Verhältnis aus. Die beiden Schüler werden vielmehr als Garanten des paulinischen Evangeliums vorgestellt. Zeugungsmetaphorik wird (wie auch in den echten Briefen zu Timotheus und Titus) nicht aktiviert. 1994–96, Bd. 1, 155; I.H. Marshall, A Critical and Exegetical Commentary on the Pastoral Epistles [ICC], Edinburgh 1999, 509). 18 Vgl. z.B. P. Trummer, „Mantel und Schriften“ (2 Tim 4,13). Zur Interpretation einer persönlichen Notiz in den Pastoralbriefen, in: BZ 18 (1974) 193–207; L. Oberlinner, Past II (s. Anm. 17) 173; A. Weiser, Der zweite Brief an Timotheus (EKK XVI/1), Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 2003, 320.

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Die Fehlanzeige wirft ein bezeichnendes Licht auf die Funktion des Biographischen in den Past: In erster Linie geht es nicht um die Herausarbeitung von Details aus einem individuellen Leben; interessant ist das Typische, das auch für die spätere Zeit relevant ist. Deshalb tritt auch an die Stelle der Nachahmung des Apostels19 die Nachfolge, und auch sie erscheint nicht unmittelbar personal ausgerichtet. Timotheus ist nicht Paulus nachgefolgt, sondern dessen Lehre (2 Tim 3,10). In 1 Tim 4,6 heißt es ohne ausdrückliche Bindung an Paulus ebenfalls, Timotheus sei der guten Lehre nachgefolgt. Wegen dieser Parallele und wegen der Erststellung in der Aufzählung von 2 Tim 3,1020 liegt auch dort der Akzent der Nachfolge vor allem auf der Lehre.21 Trotz der bislang betonten sachlichen Ausrichtung persönlicher Beziehungen kann im Fall des Timotheus das Verhältnis zwischen Apostel und Schüler auch durch ein stärker affektives Moment charakterisiert werden. Im Präskript des 2 Tim wird Timotheus als geliebtes Kind angesprochen (2 Tim 1,2). Auch im Briefkorpus kann die Anrede mit „mein Kind“ aufgenommen werden (2,1; s. auch 1 Tim 1,18: „Kind Timotheus“; 6,20: namentliche Anrede im Vokativ). Indirekt kommt die Vertrautheit zwischen beiden dadurch zum Ausdruck, dass Paulus um den biographischen und persönlichen Hintergrund des Timotheus weiß (2 Tim 1,5; 3,14f.; 1 Tim 5,23) wie auch umgekehrt Timotheus über das Geschick des Paulus unterrichtet ist (2 Tim 1,15.18). Der Apostel weiß, dass er sich auf diesen Mitarbeiter verlassen kann (2 Tim 4,9.11b.13.21). In der Gestalt des Timotheus wird also auch eine emotionale Bindung an Paulus inszeniert.22 Die Beziehung zwischen Paulus und Timotheus gibt einen Rahmen ab, innerhalb dessen die Zustimmung zu den transportierten Inhalten leichter fällt. Man kann sich einfügen in eine Tradition der Glaubensweitergabe, die von solch stimmi19

Vgl. 1 Thess 1,6; 1 Kor 4,16; 11,1; s. auch 2 Thess 3,9. Zur Bedeutung der Voranstellung vgl. auch L. Oberlinner, Past II (s. Anm. 17) 138; R.F. Collins, 1 & 2 Timothy. Titus. A Commentary (New Testament Library), Louisville 2002, 255. Dass Details aus dem Verhältnis Paulus–Timotheus ihre Funktion vor allem in der Vorbildhaftigkeit für spätere Zeit haben, wird auch durch die Spannung zwischen 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6 deutlich. Die von der Gemeindeleitung vorgenommene Einsetzung soll in den Rahmen paulinischer Tradition gestellt werden, die kirchliche Praxis wird durch 2 Tim 1,6 begründet und legitimiert (vgl. auch A. Weiser, 2 Tim [s. Anm. 18] 109). 21 Dazu passt, dass das Kompositum RCTCMQNQWSGKP verwendet wird, denn dieses Verb richtet sich in der popularphilosophischen Verwendung in erster Linie auf das Sich-Aneignen von Inhalten (hier also vor allem der Lehre des Paulus); vgl. G. Kittel, Art. CXMQNQWSGYMVN., in: ThWNT I 210–216, 216, mit Verweis auf Epiktet, Diss I 6,12ff; 7,33. 22 So wird Timotheus zum Mitleiden aufgefordert (2 Tim 1,8; 2,3: UWIMCMQRCSJUQP). Im Vergleich mit den unumstritten echten Paulusbriefen ist diese mit der Vorsilbe UWP- ausgedrückte Verbindung besonders auffällig. Denn in den authentischen Briefen geht es um das Mit-Leiden mit Christus, nicht mit dem Apostel (Röm 8,17; 2 Kor 1,5; vgl. A. Weiser, 2 Tim [s. Anm. 18] 113 mit Anm. 40), wie überhaupt die „Mit-Aussagen“ vorwiegend christologisch ausgerichtet sind. 20

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gen Beziehungen geprägt ist wie der zwischen Paulus und Timotheus. Gerade weil auf der Beziehungsebene nicht allein dieses harmonische Bild gemalt ist, sondern vielfach Misslingen und Versagen, ist ein positives Beispiel umso wichtiger. c) Der Blick auf das Verhältnis zwischen Paulus und Titus kann das möglicherweise bestätigen. Es ist zunächst sehr viel nüchterner, distanzierter gestaltet. Weder wird Titus als „Kind“ angeredet noch finden sich irgendwelche persönliche Notizen. Vielleicht spiegelt diese unterschiedliche Behandlung der beiden Apostelschüler, die sich ja auch in der Zahl der an sie gerichteten Briefe äußert, die Vorgaben der Paulusüberlieferung und der -briefe, soweit sie bekannt waren. Es könnte aber auch ein Zusammenhang mit der Notiz über den Weggang des Titus in 2 Tim 4,10 bestehen: „Demas hat mich verlassen, da er die jetzige Welt geliebt hat, und ging nach Thessalonich, Kreszenz nach Galatien, Titus nach Dalmatien.“ Meist wird die Notiz so ausgelegt, dass Titus sich im Missionsauftrag des Paulus getrennt habe vom Apostel.23 Hätte aber der Verfasser der Past Titus im Auftrag des Paulus nach Dalmatien reisen lassen wollen, dann wäre unbedingt zu erwarten, dass er eine entsprechende Notiz in 4,12 einfügt: „Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt, Titus nach Dalmatien.“ Titus wird aber in einen Zusammenhang gebracht, nach dem Paulus von Mitarbeitern verlassen wurde. Die Aufzählung in 2 Tim 4,10 ist, im Kontext von 4,10–12, als implizite Kritik an diesen Mitarbeitern zu lesen. Ihr Verhalten führt dazu, dass nur noch Lukas bei Paulus ist (4,11). Dass über die Beweggründe des Weggangs von Kreszens und Titus nichts gesagt wird, kann kaum bedeuten, dass „eine Parallelisierung vom Text her ausgeschlossen“ ist,24 sondern nur, dass die negative Wertung weniger deutlich mit diesen Namen verbunden ist als dem des Demas. Titus ist in die mit Demas anhebende Reihe eingefügt, durch die die (unfreiwillige) Verlassenheit des Paulus entsteht – syntaktisch dadurch deutlich gemacht, dass die Notiz das Prädikat der Aussage über Demas voraussetzt: GXRQTGWSJist zu ergänzen.25 Am nächsten liegt deshalb die Schlussfolgerung: Titus hat Paulus nicht in dessen Auftrag verlassen.26 23 Vgl. z.B. N. Brox, Die Pastoralbriefe (RNT), Regensburg 51989, 269; ders., Zu den persönlichen Notizen der Pastoralbriefe, in: BZ 13 (1969) 76–94, 85; G.D. Fee, 1 and 2 Timothy, Titus (NIBC 13), Peabody 1984, 294; I.H. Marshall, Past (s. Anm. 17) 816; W.D. Mounce, Pastoral Epistles (WBC 46), Nashville 2000, 590; L.T. Johnson, The First and Second Letter to Timothy (AncB 35A), New York 2001, 439; Ph.H. Towner, The Letters to Timothy and Titus (NIC), Grand Rapids 2006, 624. 24 So L. Oberlinner, Past II (s. Anm. 17) 169. 25 Dass nichts nahelege, Kreszenz und Titus hätten Paulus ebenfalls verlassen (so I.H. Marshall, Past [s. Anm. 17] 816), kann man deshalb nicht sagen. 26 Vgl. auch R.F. Collins, Past (s. Anm. 20) 280, wenn auch mit einer gewissen Einschränkung („not entirely sure“).

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Kann man sich aber eine Kritik an Titus im Rahmen der Past überhaupt vorstellen? Warum sollte ein Brief an diesen Mitarbeiter als IPJUKQP VGMPQP(Tit 1,4) fingiert werden, wenn der Adressat sich dann als unzuverlässig erweist? Antwort: Die Verbindung, die durch Titus gewährleistet werden soll, hängt nicht an der Person, sondern an dem an sie gerichteten Brief. Auch wenn ein Versagen des fiktiven Briefempfängers festzustellen wäre, so wäre doch über die von Paulus herkommende Weisung die angezielte Verbindung hergestellt. Was Paulus, gemäß der Brieffiktion, seinem Schüler mitgeteilt hat, hält man in Händen. Bindeglied zu Paulus ist Titus nur als Briefadressat. Als Person kann Titus wie auch Demas und Kreszenz in der „Erzählung“ der Pastoralbriefe mahnende Funktion übernehmen: Selbst einer aus dem engsten Mitarbeiterkreis steht in der Gefahr Paulus zu verlassen; dies sollen diejenigen wahrnehmen, denen in der Gegenwart der Past die Aufgabe zukommt, die Paulus seinen beiden Schülern in den Briefen deutlich gemacht hat. d) Paulus hat den Past zufolge nicht nur mit unzuverlässigen Mitarbeitern zu tun, sondern auch mit Gegnern: Hymenaios und Alexander (1 Tim 1,20; s. auch 2 Tim 2,17f.; 4,14f.) sowie Philetos (2 Tim 2,17f.). Das Thema der Falschlehrer wird in den Past insofern biographisch zugespitzt, als Paulus selbst in diese Auseinandersetzung involviert ist. Er warnt nicht nur vor dem Auftreten der GBVGTQFKFCUMCNQWPVGL, er hat selbst mit ihnen zu tun und sich ihnen gegenüber zur Wehr und durchgesetzt. Auch in 2 Tim 4,14f. ist nicht daran zu denken, dass Paulus dem Alexander in irgendeiner Form unterlegen wäre. Er ist das Vorbild für den beharrlichen und erfolgreichen Kampf gegen diejenigen, deren Lehre aus Sicht des Verfassers der Briefe (im Namen des Paulus) zurückzuweisen ist. Wenn Timotheus und Titus zum energischen Einsatz gegen die Falschlehre und -lehrer aufgefordert werden,27 so wird durch jene biographischen Elemente Paulus selbst als Beispiel solchen Verhaltens präsentiert. 4.1.4 Das Ende: im Angesicht des Todes a) Aus 2 Tim 4,6–8 wird deutlich, dass die im Brief bereits mehrfach benannte Gefangenschaft für Paulus das Ende seines irdischen Lebens bedeutet.28 Denn es schließt sich eine runde Bilanz an, die das Leben des Paulus als abgeschlossenes in den Blick nimmt: „Ich habe den guten Kampf ge27

S. die Angaben in Anm. 14. Die metaphorische Sprache (URGPFQOCK, CXPCNWUKL) wird auch von Vertretern der Authentizität der Past auf die Todesgewissheit des Paulus bezogen (vgl. z.B. C. Spicq, Les Épîtres pastorales (EtB), Paris 41969, 803f.; W.D. Mounce, Past [s. Anm. 23] 578; L.T. Johnson, 1/2 Tim [s. Anm. 23] 431; Ph.H. Towner, Past [s. Anm. 23] 610). Anders M. Prior, Paul the Letter-Writer and the Second Letter to Timothy (JSNT.S 23), Sheffield 1989, 92–98, der den Kontext nicht durch den Gedanken des nahen Todes bestimmt sieht. 28

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kämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt.“ (V.7) Dem Blick zurück korrespondiert dann der Blick in die eschatologische Zukunft und auch hier wird – trotz der Ausrichtung auf „jenen Tag“ – die zeitliche Nähe betont: Der Kranz der Gerechtigkeit liegt für Paulus bereit (CXRQMGKVCK). Dieses Leben hat sich nicht mehr zu bewähren, es ist bereits vollendet. Die Zuversicht des Paulus speist sich zum einen aus seinem vorbildlichen Leben (4,6),29 zum andern aber auch aus dem Vertrauen auf den Herrn, wie etwas später erkennbar wird. Der MWTKQList dem Paulus beigestanden und er ist es, der den Apostel in die himmlische DCUKNGKC retten wird (4,17f.). Die eschatologische Ausrichtung der Rettung zeigt an, dass die Todesgewissheit keineswegs relativiert ist. Vor dem gewaltsamen Tod wird Paulus nicht bewahrt, doch er wird insofern „von ihm weg“ (CXRQ) erlöst (TBWUGVCK), als er in das himmlische Reich gerettet wird (UYUGK). Die Doxologie (2 Tim 4,18) unterstreicht das Vertrauen auf den aus dem Tod rettenden Gott. Zwar wird Paulus in seinem Zugehen auf den Tod als Vorbild präsentiert, doch sind die konkreten Umstände seines Todes in die Vorbildhaftigkeit nicht direkt einbezogen. Die Past rufen nicht zum Martyrium in der Nachfolge des Paulus auf. Wo der Blick ausdrücklich über Paulus hinausgeht, ist nicht vom gewaltsamen Tod die Rede. Der „Kranz der Gerechtigkeit“ liegt auch für alle bereit, die die Epiphanie des gerechten Richters lieb gewonnen haben (4,8). Es werden keine besonderen Anforderungen im Sinne einer Martyriumsbereitschaft gestellt. Vielmehr sind hier diejenigen bezeichnet, die „in Übereinstimmung mit der Glaubenslehre des Paulus und in Gehorsam gegenüber den Weisungen der Kirche [...] leben“.30 Entsprechend ist auch in 4,7 die Lebensbilanz des Paulus in Kategorien formuliert, die für das Leben der Glaubenden grundsätzlich zutreffen. Vorbild ist Paulus also im Festhalten am rechten Glauben – bis zum Ende des Lebens. b) Der 2 Tim beleuchtet nicht nur die Todesgewissheit und die begründete und vorbildliche eschatologische Zuversicht des Paulus. Erkennbar wird auch dessen Einstellung zu seinem Auftrag31 und sein Verhalten gegenüber Menschen in seiner Umgebung angesichts des Todes. Im Verhältnis zu den Mitarbeitern, die ihn verlassen haben, erweist sich die vorbildliche Großmut 29 Entsprechend ist der „Kranz der Gerechtigkeit“ nicht nur Gegenstand eines FKFQPCK, sondern eines CXRQFKFQPCK. Und dieses Verb kann auch den Charakter des Vergeltens tragen (vgl. W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hrsg. v. K. u. B. Aland, Berlin 61988, s.v. 3.). 30 L. Oberlinner, Past II (s. Anm. 17) 164. Die Frage, wie GXRKHCPGKC in 4,8 genau zu verstehen ist, muss für unsere Zwecke nicht geklärt werden. 31 S. dazu oben bei Anm. 18. Dass Paulus bei den Weisungen an Timotheus seinen apostolischen Auftrag im Blick behält, zeigt besonders deutlich die Aufforderung, Markus mitzunehmen. Dieser ist Paulus „nützlich zum Dienst“ (4,11).

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des Paulus. Obwohl es um Leben und Tod ging, kann er das Versagen derer vergeben, die ihm hätten beistehen müssen (4,16). Einem anderen, Alexander dem Schmied, soll dagegen nach seinem Tun vergolten werden (4,14). Der Unterschied scheint in der bleibenden Gefährlichkeit dieser Figur zu liegen. Vor ihm soll sich Timotheus hüten, „denn er hat unseren Worten sehr widerstanden“ (4,15). Er ist also nicht nur persönlicher Feind des Paulus, sondern auch von dessen Lehre. Hier ist nicht Milde am Platz, sondern scharfe Abgrenzung. So entsteht auch in der Situation kurz vor dem Tod des Paulus das Bild von drei Gruppen, mit denen Paulus in Beziehung steht. Es gibt zum Ersten die treuen Mitarbeiter, auf die sich Paulus verlassen kann, und zweitens solche, die eigentlich zum Umfeld des Apostels gehören, sich aber von ihm abwenden. An ihnen wird die Großmut des Paulus demonstriert. Schließlich begegnet in Alexander ein Vertreter der Gegner; dies zeigt, dass Paulus auch angesichts des Todes die Gefahr der Falschlehrer nicht aus den Augen verliert – und dabei die kompromisslose Zurückweisung durchhält. Die Bekämpfung der Gegner erscheint insofern „biographisiert“, als Paulus zum Vorbild wird, an dessen Verhalten die in dieser Frage nötige Konsequenz abgelesen werden kann.

4.2 Biographische Rückblenden 4.2.1 Der gerettete Sünder (1 Tim 1,12–17) Wohl in keinem anderen Zusammenhang in den Past wird das Biographische so unmittelbar zum Thema wie bei dem Rückblick auf die Wende, die dem Leben des Paulus die entscheidende Richtung gegeben hat. Man kann die biographisch relevanten Aussagen von 1 Tim 1,12–17 in drei Punkten bündeln. 1. Das wichtigste Leitthema des Rückblicks ist die Präsentation des Paulus als bekehrter Sünder. Er wird nicht nur als Verfolger, sondern auch als Lästerer, Frevler und Ungläubiger dargestellt (V.13); ausdrücklich bezeichnet er sich als ersten der Sünder, der durch Christus gerettet wurde (V.15), sowie als Urbild derer, denen durch Christus das göttliche Erbarmen zuteil wird (V.16). Paulus wird so zum Modell für die Anhänger der Falschlehre: Indem er als DNCUHJOQL und WBDTKUVJL bezeichnet wird, erscheint seine Vergangenheit im selben Licht wie die Gegenwart der Falschlehrer (s. 1 Tim 1,20; 2 Tim 3,2).32 Sie können sich, wie das Geschick des Paulus zeigt, von diesem Weg abwenden. 32

Vgl. L. Oberlinner, Past I (s. Anm. 17) 37. Zugleich ist Paulus durch die beiden Stichworte als SGQOCEQL gekennzeichnet, wie M. Wolter gezeigt hat (Paulus, der bekehrte Gottesfeind. Zum Verständnis von 1. Tim 1:13, in: NT 31 [1989] 48–66).

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2. Zwar wird der Aposteldienst des Paulus in unserem Abschnitt nicht übergangen. Er ist sogar der Ausgangspunkt, denn dass dem Paulus das Evangelium anvertraut wurde (V.11), lieferte das Stichwort für den Rückblick; in V.12 wird dies insofern aufgegriffen, als vom Dienst die Rede ist, in den Paulus eingesetzt wurde. Danach aber tritt der Aspekt der Berufung ins Apostelamt zurück. In erster Linie interessiert das Typische am Damaskusgeschehen: der Wechsel von der Existenz als Sünder hin zum (rechten) Glauben. 3. Paulus steht als Urbild des geretteten Sünders mit seiner Existenz für seine Botschaft: die Rettung des Sünders gehört in den Past zum Kern des Evangeliums (s. 1 Tim 2,4; Tit 3,3.5; auch 2,11). Paulus erscheint so als „integraler Bestandteil des ihm anvertrauten Evangeliums“,33 Geschichte und Gestalt des Paulus werden kerygmatisiert. 4.2.2 Dienst für Gott von den Vorfahren her (2 Tim 1,3) Wer die Leitthemen von 1 Tim 1,12–17 noch im Ohr hat, den wird das Proömium des 2 Tim überraschen. Hier nämlich sagt Paulus, er diene Gott „von den Vorfahren her“. Es scheint gar keinen Bruch zu geben zwischen der Herkunft und dem gegenwärtigen Dienst des Apostels. Die Spannung deutet an, dass die Art des Bezugs auf die Vergangenheit abhängig ist vom jeweiligen Kontext. Im 2 Tim ist der Zusammenhang mit den Falschlehrern und deren Rückgewinnung nicht gegeben. Das Zentrum bildet das Verhältnis zu Timotheus. Am Ende der langen Satzperiode, die mit dem Verweis auf den Dienst „von den Vorfahren her“ beginnt, steht die Erinnerung an den Glauben des Timotheus, der auf dem Fundament der Weitergabe in der Generationenkette ruht (1,5). Ähnlich stellt sich auch Paulus in der kurzen Notiz in dieses Traditionsdenken. Deshalb wird seine Gegenwart als Glaubender charakterisiert durch die ungebrochene Verbindung zur Gottesverehrung der Vorfahren. Wenn Timotheus den Gemeindeleitern darin als Vorbild dienen kann, dass er in einer Tradition der Glaubensweitergabe in den Familien steht, dann kann Paulus offensichtlich nicht dahinter zurückbleiben.34 Nun erhebt sich aber gerade wegen der Parallelisierung zu Timotheus die Frage, wie dieses von den Vorfahren her bestehende NCVTGWGKP genauer zu verstehen ist. In 1,5 wird Timotheus in eine christliche Glaubenstradition gestellt.35 Soll dasselbe hier auch für Paulus behauptet werden? Dies wird 33

J. Roloff, 1 Tim (s. Anm. 17) 99. Vgl. auch N. Brox, Past (s. Anm. 23) 225. 35 Dies ist umstritten, aber m.E. die beste Interpretation. Der Verfasser hebt ab auf den „ungeheuchelten Glauben“, der zuerst in Großmutter und Mutter war. Die Generationenkette weist deutlich auf das Ideal kontinuierlicher Glaubensweitergabe (vgl. L. Oberlinner, Past II [s. Anm. 34

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meist aus grundsätzlichen Erwägungen ausgeschlossen: Man kann sich kaum vorstellen, dass ein so bekanntes Datum wie die jüdische Herkunft und Verwurzelung des Paulus übergangen werden kann.36 Vielmehr sei eine allgemeinere Aussageebene angezielt und „auf die Festigkeit und Bewährtheit religiöser Tradition und religiösen Erbes“37 abgehoben. Dies würde Paulus mit seinen (jüdischen) Vorfahren verbinden. Sobald man aber Paulus in den Zusammenhang jüdischer Tradition stellt, ist der Gedanke schwierig, dass auf seiner Seite die abstraktere Ebene einer bestimmten Frömmigkeitshaltung im Blick sein soll, das treue Dienen vor Gott, das, überliefert und altbewährt, Paulus von seiner Herkunft her bekannt sei.38 Übergangen wäre der in Christus gesetzte Neuanfang, der in der Biographie des Paulus ja nicht weniger verankert ist als seine jüdische Herkunft. So erkennt auch Alfons Weiser: „Eine Unausgeglichenheit liegt [...] in jedem Fall vor.“39 Dann ist aber auch zu prüfen, ob Paulus hier nicht doch in die christliche Tradition eingeordnet werden soll. Für eine solche Ausrichtung könnte die Bestimmung angeführt werden, jener von den Vorfahren her ausgeübte Dienst sei „in reinem Gewissen“ erfolgt.40 Andernorts kennzeichnen die Past mit dieser Bestimmung den rechten Glauben (1 Tim 1,5.19; 3,9), während sie den Falschlehrern ein unreines (Tit 1,15) bzw. ein „gebrandmarktes“ Gewissen (1 Tim 4,2) zuschreiben. Dies legt den Gedanken nahe, dass in 2 Tim 1,3 „der Verfasser die vorchristliche Zeit des Paulus einfach ausblendet“.41 Wie am Ende der Satzperiode Timotheus in eine christliche Familientradition eingeordnet wird, so muss auch Paulus in seiner Funktion als paradigmatisch Glaubender den Traditionsgedanken verkörpern. Immerhin wird die Verbindung zu den Vorfahren nur kurz gestreift, es kommen keinerlei Details über die Herkunft des Paulus zur Sprache – allein in der kurzen Bemerkung CXRQRTQIQPYP blitzt die Verbindung zur Vergangenheit auf. Es scheint, als ob der Autor den Fragen, die sich aus einer 17] 22f.; auch R.F. Collins, Past [s. Anm. 20] 192f., der dem Gedanken der Tradierung durch die Generationen aber kaum gerecht wird, wenn er Paulus als denjenigen vorgestellt sieht, der Lois und Eunike bekehrt hat). Dies ist nicht als spekulative Auslegung abzuweisen (so I.H. Marshall, Past [s. Anm. 17] 695). 36 Vgl. z.B. A. Weiser, 2 Tim (s. Anm. 18) 89: Als „Christen kann sich der Verfasser der Past die Vorfahren des ,Paulus‘ doch wohl nicht vorgestellt haben.“ 37 N. Brox, Past (s. Anm. 23) 225; vgl. ders., Notizen (s. Anm. 23) 80–82; vgl. auch A. Weiser, 2 Tim (s. Anm. 18) 89 („gläubige Frömmigkeitshaltung“); L.T. Johnson, 1/2 Tim (s. Anm. 23) 337.341. 38 Vgl. N. Brox, Past (s. Anm. 23) 225. 39 A. Weiser, 2 Tim (s. Anm. 18) 89. Keine Probleme erkennt dagegen I.H. Marshall, Past (s. Anm. 17) 691: der apostolische Dienst werde mit der idealen Vergangenheit Israels verglichen. Von einem Vergleich ist im Text aber nichts gesagt. 40 Vgl. L. Oberlinner, Past II (s. Anm. 17) 16. 41 L. Oberlinner, Past II 16.

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solchen Kennzeichnung angesichts der Paulus-Biographie ergeben könnten, ausweicht, indem er gleich weitergeht zum Verhältnis des Paulus zu Timotheus. Paulus soll nur als Paradigma eines in der Tradition verwurzelten Glaubens benannt werden.42 Dann liegt allerdings nahe, dass es um Einbindung in die christliche Tradition geht.43 4.2.3 Einsetzung zum Verkünder, Apostel, Lehrer a) Dass der Aspekt der Berufung zum Apostel beim Bezug auf die Lebenswende eher am Rande erscheint, begründet kein Desinteresse an diesem Punkt der paulinischen Biographie. Im Fokus steht aber nicht der Vorgang der Berufung, sondern das Ergebnis: Paulus ist eingesetzt (GXVGSJP) als Verkünder, Apostel und Lehrer (1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11).44 Deutlich werden soll die Rückführung des apostolischen Dienstes auf Christus bzw. Gott. Im Blick auf die Vorgeschichte des paulinischen Apostolats geben sich die Past biographisch spröde. b) Auffälligerweise beschränkt sich die titulare Kennzeichnung des Paulus nicht auf den Apostel-Titel; dieser ist aufs Ganze gesehen gar nicht allzu häufig belegt, wenn er auch der meistgebrauchte Titel für Paulus ist. Neben der Verwendung in den Präskripten erscheint diese Bezeichnung nur noch an den beiden genannten Stellen, die von der „Einsetzung“ des Paulus sprechen – und ist dann mit zwei anderen Titeln verbunden: Verkünder (MJTWZ) und Lehrer (FKFCUMCNQL).45 Dass Paulus als MJTWZ bezeichnet wird, erklärt sich aus der Bedeutung des Wortfelds verkündigen in der urchristlichen Tradition.46 Die Past gewinnen aus diesem Wortfeld zwar keine Leitbegriffe, greifen aber doch markant darauf zurück, nicht nur in der Kennzeichnung des Paulus als Ver42

Vgl. L. Oberlinner, Past II 17: „Die Rückführung der untadeligen Gottesverehrung des Paulus bis zu seinen Vorfahren ist ein Postulat des Traditionsgedankens.“ 43 Das dargestellte Dilemma ist nicht dadurch zu lösen, dass man ein theologisches Gedankengebäude darauf baut und die Kontinuität von Judentum und Christentum ausgedrückt sieht, wie im Blick auf 2 Tim 1,5 behauptet wird (vgl. z.B. B. Kowalski, Zur Funktion und Bedeutung der alttestamentlichen Zitate und Anspielungen in den Pastoralbriefen, in: SNTU 19 [1994] 45–68, 61f.; auch I.H. Marshall, Past [s. Anm. 17] 691). Für ein solches Interesse lässt sich sonst in den Past keine Spur finden (vgl. N. Brox, Notizen [s. Anm. 23] 81). 44 Das Verb erscheint nicht nur im Passiv wie in 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11, sondern auch im Medium mit aktivischer Bedeutung in 1 Tim 1,12. Außerdem begegnet als Parallelformulierung, dass Paulus das Evangelium (1 Tim 1,11) oder das Kerygma (Tit 1,3) anvertraut ist (GXRKUVGWSJP). 45 Dass mit diesen Bezeichnungen grundsätzlich der Auftrag des Paulus präsentiert werden soll, wird bestärkt durch die kontextuelle Einbindung: zuvor ist jeweils ein kerygmatisches Stück zitiert, das den Willen Gottes zur Rettung ausführt (1 Tim 2,5f.; 2 Tim 1,9f.). Zum Zusammenhang mit diesen Stücken vgl. auch L. Oberlinner, Past II (s. Anm. 17) 44. 46 Ableitungen aus der Stoa (Philosophen als Herolde der Götter), dem Vereinswesen oder den Mysterienkulten scheinen demgegenüber weniger plausibel (vgl. J. Roloff, 1 Tim [s. Anm. 17] 124; A. Weiser, 2 Tim [s. Anm. 18] 121).

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künder. Außerdem wird die auszurichtende Botschaft als MJTWIOC präsentiert (Tit 1,3; 2 Tim 4,17) und vom MJTWUUGKP gesprochen (1 Tim 3,16; 2 Tim 4,2) – allerdings nicht spezifisch für Paulus. Anders als beim ApostelTitel ist die für Paulus geltende Exklusivität aufgebrochen. Noch deutlicher verbindet sich diese Dimension mit dem dritten Titel, dem FKFCUMCNQL. Das Wortfeld der Lehre führt nicht nur zur Aufgabe, die den Briefadressaten zukommt,47 sondern auch zur wesentlichen Funktion der Gemeindeleitung. Verwiesen sei nur auf zwei markante Zusammenhänge, die auf die Tätigkeit des Lehrens zielen. Nach 2 Tim 2,2 soll Timotheus das bei Paulus Gehörte an Menschen weitergeben, die fähig sind zu lehren. In 1 Tim 5,17 werden unter den Presbytern diejenigen herausgehoben, die sich abmühen GXPNQIY^MCKFKFCUMCNKC^. Zwar bleibt die einmalige Rolle des Paulus unangetastet, denn der Titel „Lehrer“ wird weder auf die Apostelschüler noch auf Gemeindeleiter übertragen. Über das Stichwort FKFCUMCNQL kann aber die Lehre, vom Verfasser der Past als wesentliche Funktion der Gemeindeleitung propagiert, an Paulus rückgebunden werden.48 Gerade dies ist symptomatisch für das Interesse der Past an der Gestalt des Paulus. Einerseits soll Paulus als Garant der „gesunden Lehre“ erkennbar werden; andererseits geht es darum, die „gesunde Lehre“ in der Gegenwart zu sichern. Deshalb wird den Gemeindeleitern, die gegen die Falschlehrer wirken sollen, vor Augen gestellt, dass sie sich in der Nachfolge des Lehrers Paulus verstehen können und sollen, und zwar so, wie ihn die Past präsentieren. c) Im Interesse dieser Kontinuität steht auch der Rückbezug auf die Einsetzung des Timotheus in 2 Tim 1,6. Paulus hat durch die Bestellung seines Schülers selbst den Grund gelegt für die kirchliche Praxis der Handauflegung (1 Tim 4,14) und damit für Lehrkontinuität gesorgt (s. auch 2 Tim 2,2). Die Beziehung zwischen Paulus und Timotheus gibt auch den Rahmen ab für einen zweiten Rückblick auf das Wirken des Paulus in der Zeit vor der Abfassung der Briefe: Verfolgungen (2 Tim 3,11). Schon die Einbettung in die Nachfolge-Notiz zeigt freilich, dass das Interesse primär nicht in der Erhellung der Vergangenheit des Paulus liegt. Paulus bietet vielmehr ein Handlungsmodell, dem man folgen kann bzw. folgen muss. Zu ihm gehören Lehre, Lebensführung, Vorsatz, Glaube, Langmut, Liebe, Ausharren (2 Tim 3,10) – und eben auch Verfolgungen und Leiden. Dass dies nicht nur herausgehobene Funktionsträger betrifft, klärt der folgende Satz, der allen, die fromm leben wollen (GWXUGDYL\JP), das Verfolgtwerden ankündigt 47

Vgl. 1 Tim 4,11; 6,2 (FKFCUMGKP), 4,6.13.16; Tit 2,1.7 (FKFCUMCNKC), 2 Tim 4,2 (FKFCEJ). Paulus ist „sowohl der Garant und Bürge für eine ,wahrhaftige‘ und ,gesunde‘ Lehre und für ,richtige‘ Glaubensaussagen [...] als auch der autoritative Bezugspunkt, dessen Stellung in der Vermittlung der Heilsoffenbarung nicht übersprungen werden kann“ (E. Schlarb, Die gesunde Lehre. Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe [MThSt 28], Marburg 1990, 287). 48

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(3,12). In diesem Zusammenhang erhält auch die Rettungsaussage paradigmatische Bedeutung. Dass der Herr Paulus aus allen Bedrängnissen errettet hat, ist in erster Linie nicht biographisch interessant, sondern als Zusage an diejenigen zu lesen, denen Verfolgungen angekündigt werden.49

4.3 Zwischenbilanz: Die Bedeutung des Biographischen in den Past 4.3.1 Paulus – der paradigmatisch Glaubende Wenn Paulus als der „paradigmatisch Glaubende“ bezeichnet wird, dann ist das Beispielhafte in der Biographie des Apostels zum einen tatsächlich weit zu verstehen, bezogen auf Glaubende allgemein. Zugleich kann aber auch ein engerer Sinn mitschwingen, der in der Intention der Past begründet ist und sich auf das Interesse an Gemeindeleitung und Abwehr der Falschlehre richtet. Näherhin lässt sich die paradigmatische Bedeutung des Paulus in vier Punkten zusammenfassen. 1. Paulus ist eingebettet in eine Glaubensweitergabe „von den Vorfahren her“ (2 Tim 1,3). Was dem Verfasser in seiner Zeit als Ideal vor Augen steht, wird auf Paulus übertragen: die Einordnung in eine Familientradition des Glaubens. Trotz der Schwierigkeiten, die sich durch die bekannte Paulus-Vita ergeben, wird der Apostel in dieses Schema gepresst und der Bruch in seiner Biographie übergangen. 2. Dagegen wird Paulus am Beginn des 1 Tim als Exempel des geretteten Sünders präsentiert, wie auch ausdrücklich gesagt wird (1 Tim 1,16). Zwar gibt sich diese Aussage grundsätzlich: Paulus ist WBRQVWRYUKL der Glaubenden überhaupt. Dennoch weist die kontextuelle Einbindung besonders auf die Falschlehrer. Was Christus aus Gnade an Paulus gewirkt hat, das steht auch ihnen als Möglichkeit offen. Deshalb wird in 1 Tim 1,12–17 die Beauftragung des Paulus, seine Sonderrolle, nur gestreift und der Akzent ganz auf den Bruch zwischen sündiger Existenz und dem Erweis des göttlichen Erbarmens gesetzt. 3. Paulus ist auch ein Vorbild im Einsatz gegen die in den Past bekämpfte Lehre, wie sich bei fortlaufender Lektüre der Briefe ergibt. Das Handeln des Paulus zielt auf die Überwindung der Falschlehre (1,20: K=PCRCKFGWSYUKPOJDNCUHJOGKP). Was der Briefschreiber von Timotheus und den Gemeindeleitern erwartet, hat er in seinem eigenen Wirken selbst getan. Dass man nicht den Eindruck gewinnt, die erzieherische Maßnahme des Paulus sei erfolgreich gewesen (2 Tim 2,17; 4,14f.), unterstreicht die 49

Dass das TBWGUSCK nicht unbedingt bedeuten muss, vor dem Tod gerettet zu werden, sondern eschatologische Konnotation haben kann, wird an späterer Stelle im Brief mit Blick auf die Person des Paulus deutlich (2 Tim 4,17f., s. dazu oben 4.1.4).

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Gefährlichkeit der Falschlehre und signalisiert zugleich, dass der von Paulus begonnene Kampf noch nicht beendet ist. 4. Auf alle Glaubenden öffnet sich die paradigmatische Bedeutung des Paulus beim Rückblick auf sein Leben. Wenn er den Kranz der Gerechtigkeit für sich bereit liegen sieht, so betont er zugleich, dass dies nicht exklusiv für ihn gelte (2 Tim 4,8). Seine Heilszuversicht können sich alle zu Eigen machen, die den (rechten) Glauben bewahrt haben. Paulus wird als Vorbild einer im rechten Glauben begründeten Heilsgewissheit präsentiert, um so das Festhalten an diesem Glauben zu motivieren. 4.3.2 Paulus – die Gründergestalt Dass Paulus die vorgestellte paradigmatische Bedeutung gewinnen kann, liegt an der besonderen Rolle, die ihm für die Gemeinden der Past zukommt. Er ist nicht nur ein vorbildlich Glaubender aus der Vergangenheit, sondern das Fundament der Tradition, auf die sich die Past berufen. Die in dieser Hinsicht relevanten biographischen Angaben lassen sich in drei Punkten bündeln. 1. Paulus ist der Apostel schlechthin, ihm wurde das Evangelium anvertraut (1 Tim 1,11). Gerade grundlegende Bekenntnistexte (1 Tim 2,4–6; 2 Tim 1,9f.) münden in die Aussage, Paulus sei „dazu“ (GKXLQ=) eingesetzt als Verkünder, Apostel und Lehrer. Paulus genießt eine einmalige Autorität, die nicht übertragbar ist. Neben ihm gibt es keine weiteren Apostel. Auch wenn die Past in einem lokal begrenzten Konflikt wirken sollen, so kennt die Präsentation des Paulus doch keine lokalen Grenzen. Seine Autorität ist nicht an Gemeinden gebunden, die er gegründet hat, sondern gilt grundsätzlich für die Kirche. 2. Nicht nur dass ihm eine universale Aufgabe übertragen wurde, kennzeichnet das Bild des „Gründers Paulus“. Die Past stellen Paulus auch in seinem unermüdlichen apostolischen Einsatz vor: Paulus entspricht in seinem Wirken seiner Aufgabe.50 So wird gezeigt, wie durch das Engagement des Apostels der Grundstein für die Kirche der Gegenwart gelegt wurde. 3. Am wichtigsten dürfte für den Verfasser der Past der dritte Punkt sein. Paulus wird insofern als Gründergestalt präsentiert, als er, der von Gott Beauftragte, den Auftrag an seine Schüler weitergibt und diese wiederum die für Lehre und Leitung Verantwortlichen einsetzen (vgl. 1 Tim 3,1–15; Tit 1,5–9; 2 Tim 2,2). Es entsteht also in der Sicht der Past eine Kette von Lehrern, die auf Paulus zurückgeht (2 Tim 3,10; 2,2; 2 Tim 1,6; 1 Tim 4,14). Die von den Past vertretene Interpretation paulinischer Tradition wird 50 In dieser Übereinstimmung hat Paulus auch vorbildhafte Funktion. Seine Aufgabe als Apostel, der er gerecht wird, kommt aber nur ihm zu; sie kann nicht nachgeahmt werden.

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also durch die biographischen Elemente als die zutreffende postuliert. Paulus hat, so die Fiktion, vorgesorgt, dass sein Evangelium unversehrt bewahrt bleiben kann. 4.3.3 Ergebnis: These zur Bedeutung des Biographischen in den Past Warum finden sich biographische Elemente in den Past in sehr viel stärkerem Maß als in den Deuteropaulinen? Am besten erklärt sich der Befund, wenn man ihn in Zusammenhang mit einem wesentlichen Anliegen der Past sieht. Ihnen geht es um die Stärkung des gemeindeleitenden Amtes, das in der Gestalt des einen Episkopos an der Spitze verwirklicht werden soll.51 Und dieses Amt soll natürlich mit Leuten besetzt sein, die auf der Seite der von den Past vertretenen „gesunden Lehre“ stehen. Die Fiktion der Briefe ordnet solche Amtsträger in eine auf Paulus zurückreichende Traditionskette ein. Insofern diese Kette auch über den fiktiven Adressaten hinaus weiterläuft,52 ist die von den Past favorisierte Ämterordnung mit dem Gedanken der Sukzession verbunden. In diesem Rahmen haben die erhobenen biographischen Elemente ihre Funktion, wie die folgenden Überlegungen zeigen sollen. Der personal bestimmte Zusammenhang ist ein Konstrukt. Ausgangspunkt des Bildes in den Past ist nicht das Bestehen einer solchen Kette; diese soll vielmehr durch die Briefe etabliert werden. Der Verfasser konnte nicht an solchen Amtsträgern ansetzen, die sich auf ihren Platz in einer ununterbrochenen, auf Paulus zurückgehenden Traditionsvermittlung berufen konnten. Ein System von Ämtersukzession, an dessen Funktionieren man ansetzen könnte, ist nicht erkennbar. Die Strategie setzt umgekehrt an: Ausgangspunkt ist die Überzeugung, die angemessene Interpretation paulinischer Tradition zu vertreten (weshalb Paulus als Briefschreiber auftritt).53 Und diese sachliche Überzeugung wird personal inszeniert. Wer auf der vom Verfasser der Past repräsentierten Seite steht, kann sich einfügen in eine Linie, die bis auf Paulus zurückgeht. Zur Profilierung dieser personalen Kette werden auch biographische Elemente stärker ausgearbeitet. Dadurch bleibt es nicht bei der abstrakten Behauptung, auf der richtigen Seite 51

Vgl. J. Roloff, 1 Tim (s. Anm. 17) 175f.; L. Oberlinner, Past III (s. Anm. 17) 91f. Vgl. 1 Tim 4,14. Auch 5,22 ist im Sinne der Transparenz des Timotheus für die Gegenwart der Past zu deuten. In 2 Tim 2,2 ist diese auf der literarischen Ebene futurische Dimension ebenfalls präsent: Die Weitergabe soll ja nicht mit den von Timotheus Beauftragten abbrechen. 53 Diesen Anspruch bestimmt A. Merz aufgrund der intertextuellen Anlage der Past als „fiktive Selbstreferenz“ dahingehend, dass die Past im Fall konkurrierender Aussagen im Corpus Paulinum die Interpretationshoheit reklamieren (Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe [NTOA/StUNT 52], Göttingen/Fribourg 2004; dies., Amore Pauli: Das Corpus Pastorale und das Ringen um die Interpretationshoheit bezüglich des paulinischen Erbes, in: ThQ 187 [2007] 274–294). 52

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zu stehen. Der Episkopos, der die „gesunde Lehre“ der Past vertritt, kann sich vielmehr in eine konkrete Geschichte einbringen, die geprägt ist durch das Vorbild des Paulus, sein Wirken und Engagement, seine Beziehungen, seine Vorsorge für die Zeit nach ihm selbst.

5. Elemente der Paulus-Biographie in den Thekla-Akten Die Thekla-Akten, als Teil der Paulus-Akten überliefert, waren ursprünglich wohl eine selbständige Schrift.54 Für unsere Suche nach biographischen Elementen der Paulusrezeption bietet sich diese Schrift vor allem aus zwei Gründen an. (1) Es gibt zahlreiche Bezüge zu den Past, gerade im Blick auf biographische Elemente, so dass man mit bewusstem Aufgreifen dieser Züge in den Thekla-Akten rechnen kann. (2) Da dies nicht in pseudepigraphischem Rahmen geschieht, ergibt sich in der literarischen Gestaltung eine Variation zu den Past.

5.1 Die Verbindungen zur Paulus-„Erzählung“ der Past a) Die Thekla-Akten setzen ein mit der Reise des Paulus von Antiochia nach Ikonium. Da diese Reise als Flucht bezeichnet wird, passt sie nicht nur zu den Angaben in Apg 13,50f., sondern auch zu denen in 2 Tim 3,11. Über den Aufenthalt in Antiochia erfahren wir in den Thekla-Akten nichts,55 dagegen spielt die folgende Geschichte (bis Kap. 22) in Ikonium und kann als erzählerische Entfaltung der Notiz in 2 Tim 3,11 verstanden werden, während sich zu Apg 14,1–6 keine näheren inhaltlichen Verbindungen nachweisen lassen. Obwohl Thekla im Mittelpunkt steht, so ist doch auch Paulus von „Verfolgungen und Leiden“ betroffen. Er wird vom Statthalter verhört, ins Gefängnis geworfen und gegeißelt (Kapp. 15–21). Die Station Lystra wird in den Thekla-Akten nicht erreicht, der Ort wird allerdings zu Beginn genannt: Onesiphoros sitzt an der Straße nach Lystra, als er die Ankunft des Paulus erwartet (ActThecl 3). Damit lässt sich das in den Thekla-Akten entwickelte Szenario in die Biographie des Paulus nach den Past einordnen. Es wird entfaltet, was in den Briefen nur kurz im Rückblick anklingt. Sind diese auf die letzte Le54 Darauf deutet die in sich geschlossene Handlung, die Thekla als Hauptperson präsentiert, wie auch die Überlieferungssituation des Textes, vgl. M. Ebner/M. Lau, Überlieferung, Gliederung, Komposition, in: M. Ebner (Hrsg.), Aus Liebe zu Paulus? Die Akte Thekla neu aufgerollt (SBS 206), Stuttgart 2005, 1. 55 ActThecl 26 spielt zwar in in Antiochia, aber zu einer späteren Zeit.

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bensspanne des Apostels konzentriert, so springen die Akten in eine frühere Phase des paulinischen Wirkens und situieren dort die Thekla-Geschichte, die aber nur einen sehr kleinen Abschnitt aus der Paulus-Biographie abdeckt, maximal zwei Wochen. Dass die Past tatsächlich der Bezugspunkt dieser Geschichte sind, bestätigt der Blick auf das Personeninventar oder, in biographischen Kategorien ausgedrückt, auf die Beziehungen, in denen Paulus steht. b) Beginnen wir mit dem bereits genannten Onesiphoros. Er ist ntl nur in 2 Tim 1,16–18; 4,19 belegt. Dort erscheint er als einer der Zuverlässigsten aus dem Umfeld des Paulus. Auch diese Figur wird genutzt, um die Erzählung der Thekla-Akten in der Zeit zu verorten, die den Past vorausliegt. Denn in den Akten kennt dieser später so zuverlässige Anhänger Paulus noch nicht, nur über Titus hat er etwas vom Aussehen des Apostels erfahren und, wie man vermuten kann, auch die Lehre des Apostels, denn Onesiphoros wird als bereits Glaubender dargestellt, der nur Paulus noch nicht persönlich begegnet ist.56 Die Erzählung blendet also von den Past aus gesehen zurück in die Gründungsphase der Beziehung zwischen Paulus und Onesiphoros, die in den Past selbst ganz gefestigt ist. Eine Entwicklung dieses Verhältnisses wird aber nicht beschrieben. Die beiden scheinen von Anfang an in einer engen Beziehung zu stehen. Onesiphoros begrüßt Paulus als „Diener des hochgelobten Gottes“, Paulus lächelt, als er Onesiphoros sieht und wünscht ihm und seinem Haus Gnade (ECTKL). Die Nennung des Hauses ergibt wiederum eine Verbindung zu den Past, wo Onesiphoros an beiden Stellen mit seinem QKMQL verbunden ist (2 Tim 1,16; 4,19). Der Eindruck der Mobilität dieses Mannes, den wir aus den Past gewinnen – er unterstützt Paulus in Ephesus und in Rom –, passt zum Bild in den Akten. Ihnen zufolge hat Onesiphoros das Weltliche verlassen (MCVGNKRGPVC VQWMQUOQW) und ist Paulus mit seinem ganzen Haus (RCPQKMK) nachgefolgt, erzählerisch umgesetzt durch den Aufenthalt der ganzen Familie in einer Grabkammer zwischen Ikonium und Daphne (23).57 Nicht nur auf der Seite der Anhänger bestehen Verbindungen zu den Past, sondern auch auf derjenigen der Gegner. Hier sind die Berührungspunkte sogar besonders eng. Paulus erscheint gleich zu Beginn in Beglei56 Auch dies kann man in Anknüpfung an die Past verstehen: Das paulinische Evangelium wird durch den Schüler weitervermittelt; vgl. M. Ebner, Sein und Schein auf dem Königsweg. Figurenaufstellung und „Einspurung“ des Lesers (ActThecl 1–4), in: Ders. (Hrsg.), Liebe (s. Anm. 54), 52–63, 56. 57 Anscheinend hat der Verfasser der Akten die Nennung des Hauses im Zusammenhang mit Onesiphoros in den Past als Hinweis darauf verstanden, dass die ganze Familie zur Unterstützung des Paulus beigetragen hat. Das von ihm gezeichnete Bild kann allerdings auch mit seiner Absicht zusammenhängen, Familien in die Enthaltsamkeitspredigt des Paulus aufzunehmen. Vgl. dazu auch M. Ebner, Paulinische Seligpreisungen à la Thekla. Narrative Relecture der Makarismenreihe in ActThecl 5f, in: Ders. (Hg.), Liebe (s. Anm. 54) 64–79, 73f.

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tung von Demas und Hermogenes. Beide Namen sind uns aus den Past bekannt (2 Tim 4,9f.; 1,15).58 Wiederum inszenieren die Thekla-Akten einen Vorgang, auf den in den Past zurückgeschaut wird: die Abwendung von Paulus-Begleitern. Deren Negativ-Bild wird noch verstärkt, denn Demas und Hermogenes stehen von vornherein nicht auf der Seite des Paulus, sondern sind voller Heuchelei (WBRQMTKUGYLIGOQPVGL), werden von ihm wegen seiner Ausrichtung auf die Güte Christi aber angenommen. Als Thamyris, der wegen der Begeisterung seiner Verlobten Thekla für Paulus’ Enthaltsamkeitspredigt gegen den Apostel aufgebracht ist, die beiden anspricht, leugnen sie, Paulus zu kennen, distanzieren sich von seiner Predigt und geben schließlich Ratschläge zu seiner Beseitigung (11–14). Dass sie während des Prozesses dem Thamyris zuflüstern, er solle Paulus einfach als Christ verklagen (16), illustriert ihre Distanz zu dem Glauben, den sie vorgeheuchelt hatten. Ergebnis: In biographischer Hinsicht geben sich die Thekla-Akten als Rückblende in eine vor Abfassung der Past liegende Phase. Sie stellen Bezüge zur Paulus-Erzählung der Past her, greifen zurück auf Ereignisse und Beziehungen, die auch nach den Past als kennzeichnend erscheinen für Leben und Wirken des Paulus. Anknüpfung bedeutet aber nicht Identität der biographischen Elemente: Es gibt auch in Verbindung mit den Personenangaben inhaltliche Differenzen, die für die Frage nach der Funktion der biographischen Verbindungen zu den Past von Bedeutung sind. 5.2 Die Funktion der Verbindungen zur Paulus-Biographie der Past Dass die Thekla-Akten an biographisch relevanten Aussagen der Past anknüpfen, ist mehr als ein literarisches Spiel. Es geht auch nicht darum, eine Lücke in der Biographie des Paulus phantasiereich aufzufüllen. Dazu ist der gebotene Ausschnitt aus der Paulus-Vita viel zu begrenzt. Das Interesse liegt wie in den Past nicht unmittelbar auf der Ebene des Biographischen; dieses ist vielmehr Vehikel, um gegen das Paulusbild der Past zu Felde zu ziehen. Man greift zurück auf das Personeninventar der Briefe und den Charakter der Beziehung, die diese Personen mit Paulus verbindet – und bringt in dieses Gefüge neue, den Past entgegengesetzte Inhalte ein. Dabei gehen die Akten insofern nicht ungeschickt vor, als sie auch bei diesen Gegensätzen nach Anknüpfungen suchen. 58 Dass Demas nach den Akten schon in jener frühen Zeit die Seiten gewechselt hat, harmoniert nicht ganz mit den Past. Es ist allerdings gut denkbar, dass der Verfasser der Akten die Past nicht als schriftliche Quelle vor sich hat, sondern aufgrund der Kenntnis der Briefe schreibt und deshalb in Details abweicht, hier also Demas mit Philetos verwechselt hat. Dass der Widersacher der Thekla in Antiochia Alexander heißt, kann ebenfalls eine Reminiszenz an die Past sein (1 Tim 1,20; 2 Tim 4,14f.).

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a) Zunächst ist festzuhalten: Die Thekla-Akten vertreten ein Modell christlichen Lebens, das den Vorstellungen der Past grundsätzlich widerspricht: Paulus predigt „Enthaltsamkeit und Auferstehung“ (5: NQIQLSGQW/ RGTKGXIMTCVGKCLMCKCXPCUVCUGYL). Die beiden Elemente der Inhaltsangabe sind nicht additiv zu verstehen, als würde Paulus über zwei Themen sprechen; im Blick ist wohl der innere Zusammenhang zwischen den beiden Stichworten: die den enthaltsam Lebenden verheißene Auferstehung. Jedenfalls setzt die Makarismenreihe mit fünf Seligpreisungen ein, die gerade den GXIMTCVGKL die Verheißungen zusprechen.59 Und wenn aus der Sicht Theklas der Inhalt der pln Predigt zusammengefasst wird, dann ist die Reinheit der entscheidende Inhalt (7: VQPRGTKCBIPGKCLNQIQP). Paulus selbst setzt den Akzent nicht anders, als er vor dem Statthalter seine Lehre darlegen muss: Er ist gesandt, um Menschen zu befreien „von Verderben und Unreinheit, von aller Lust und dem Tod“ (16).60 Auch narrativ wird gerade dieser Aspekt eingelöst. Der Vorwurf an Paulus lautet, die Frauen verdorben zu haben, so dass sie sich für die Männer nicht mehr interessieren (15; s. auch 9). Im Antiochia-Zyklus spiegelt sich diese Predigt des Paulus insofern, als Thekla sich gegen die Zudringlichkeit des Alexander wehrt und auch nach der Festnahme bittet, bis zum Tierkampf rein bleiben zu dürfen (27: CBIPJOGKPJ^) – und dies heißt: vor Vergewaltigung geschützt zu bleiben.61 Das GXIMTCVGKC-Programm der Thekla-Akten ist allerdings auch für Verheiratete nicht verschlossen. In Onesiphoros ist auch ein Familienvater samt seinem Haus im Personeninventar der Paulus-Anhänger vertreten. In der Grabkammer-Szene ist sein Auszug aus der bisherigen Lebenswelt inszeniert und kommentiert (23). Die Makarismenreihe bietet auch für Leute seines Standes einen Ansatzpunkt für ein Leben, das der Enthaltsamkeitspredigt folgt: „Selig die Frauen haben, als hätten sie keine“ (5). Dass dieses Programm dem der Past widerspricht, muss nicht eingehend entfaltet werden. Es genügen einige Hinweise. Das Heiratsverbot wird als Falschlehre der Gegner kritisiert (1 Tim 4,3f.). Die Klage des Verfassers der Past, die Gegner würden „verbieten zu heiraten“, könnte als Kurzfassung der Anklage des Thamyris gelten, der sich vor dem Statthalter darüber beschwert, Paulus lasse die Jungfrauen nicht heiraten (16). Frauen, denen die Lehrtätigkeit untersagt wird (1 Tim 2,12), können zum Heil gelangen, wenn sie ihre Rolle in Haus und Familie erfüllen (1 Tim 2,15; s. auch Tit 59 M. Ebner, Seligpreisungen (s. Anm. 57) 68f., zeigt, dass unter dem Gesichtspunkt der Enthaltsamkeit auch die von Wortlaut und Herkunft eigentlich anders ausgerichteten Elemente der Seligpreisungen des ersten Abschnitts in den Sog der GXIMTCVGKC geraten. 60 Zwar findet sich im Anschluss auch ein christologischer Bezug, der auf anderes geöffnet ist als auf Enthaltsamkeit. Dennoch bleibt als „Überschrift“ die Enthaltsamkeitsaussage stehen. 61 Vgl. A. Jensen, Gottes selbstbewußte Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum?, Freiburg 1992, 185–195.

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2,3–5). Jüngere Frauen sollen nicht in den Witwenstand aufgenommen werden, sondern heiraten (1 Tim 5,14: ICOGKP,VGMPQIQPGKP,QKXMQFGURQVGKP). b) Welche Funktion haben angesichts dieser Differenzen die „biographischen Beziehungen“ zwischen Thekla-Akten und Past? Eine Antwort erschließt sich, wenn man einen weiteren Anschluss an die Daten der Past beachtet. In den Thekla-Akten wird Demas und Hermogenes das Zitat der gegnerischen Position in 2 Tim 2,18 („die Auferstehung ist schon geschehen“) in den Mund gelegt – und erweitert: „... in den Kindern, die wir haben“ (14: GXH8QKLGEQOGPVGMPQKL). Augenfälliger kann der gesuchte Anschluss an die Past kaum sein. Der Paulus der Akten vertritt zwar nicht genau dieselbe Position wie die Gegner des Paulus in den Past,62 doch steht, wie gesehen, seine Enthaltsamkeitspredigt in deutlichem Gegensatz zum Bild christlichen Lebens, das den Past vorschwebt. Der Tumult um Thekla entzündet sich gerade daran, dass sie im Anschluss an die Predigt des Paulus die gesellschaftlich von ihr erwartete Rolle verweigert und unverheiratet bleiben will. Dieser Gegensatz zwischen beiden Paulus-Bildern wird dadurch etwas entschärft, dass eine Identität der Gegnerschaft insinuiert wird. Paulus hat es auch nach den Akten mit Leuten zu tun, die die Gegenwärtigkeit der Auferstehung behaupten. Durch den Zusatz („... in den Kindern, die wir haben“) wird diese auch nach den Past falsche eschatologische Position als Gegensatz zur Enthaltsamkeitsbotschaft präsentiert. „Diese trickreiche Koppelung von Theologie und Lebensmodellen ermöglicht es den Theklaakten, ausgehend von den unterschiedlichen Theologumena ein bestimmtes Licht auf die Lebensmodelle zu werfen“, die Forderung nach Askese „wird zur orthodoxen Lehre“63 – ganz im Gegensatz zu den Past. In der Paulusrezeption findet offenbar ein Kampf um das rechte Paulusverständnis statt. Die Bedeutung biographischer Elemente in den TheklaAkten scheint darin zu liegen, dass sie trotz der inhaltlichen Gegensätze zwischen den verschiedenen Paulus-Interpretationen Übereinstimmungen einbringen, die die eigene Position stärken sollen. Dies gilt zum einen auf der Ebene der geschilderten Ereignisse. Wenn die Thekla-Akten gegen das Paulus-Bild der Past antreten, können sie sich doch insofern in deren Darstellung einklinken, als sie sich auf Ereignisse beziehen, die auch in jenen Briefen wachgerufen werden (Verfolgungen und Leiden in Antiochia und Ikonium). Zum andern gilt dies auch auf der Ebene der Beziehungen, in denen Paulus steht. Über Personen (und auch über die Bearbeitung von deren Lehre) lässt sich eine identische Gegnerschaft darstellen, obwohl inhaltlich starke Diver62 Dies ist einer der Gründe, warum die These MacDonalds nicht überzeugt, die Past würden sich unmittelbar mit den Trägern der Überlieferung der Paulus-Akten auseinandersetzen, vgl. G. Häfner, Die Gegner in den Pastoralbriefen und die Paulusakten, in: ZNW 92 (2001) 64–77. 63 M. Lau, Enthaltsamkeit und Auferstehung. Narrative Auseinandersetzungen in der Paulusschule, in: M. Ebner (Hrsg.), Liebe (s. Anm. 54) 80–90, 89.

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genzen bestehen. Der Anspruch, die rechte Paulus-Auslegung zu bieten, wird dadurch untermauert, dass man nicht eine völlig andere Geschichte des Apostels erzählt, sondern gewisse Vorgaben der bestehenden Geschichte übernimmt.64 Es entsteht der Eindruck: Hier wird eine Paulus-Geschichte erzählt, die, da nicht völlig inkompatibel mit der bisherigen, zumindest in einen Wettstreit um das rechte Verständnis treten kann.65 5.3 Das Aussehen des Paulus Die Thekla-Akten beschreiben als einzige frühchristliche Schrift das Äußere des Paulus. Er ist „klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit (ECTKVQLRNJTJ); denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Angesicht“ (3).66 Erzählerisch ist diese Szene ansprechend gestaltet, denn der Leser sitzt gewissermaßen mit Onesiphoros am „königlichen Weg“ und „darf die ,Wiedererkennung‘ des Paulus gemäß der Beschreibung des Titus hautnah miterleben“.67 Dies unterscheidet die Darstellung von antiken Biographien, in denen der Biograph aus der Distanz das Aussehen schildert.68 „Distanz“ bedeutet aber nicht wertfreie Distanziertheit. Ob die beschriebenen Merkmale positiv oder negativ zu sehen sind, kann im Zusammenhang der Schilderung durchscheinen. So wird Augustus bei Sueton nicht durchweg als ansehnlich geschildert,69 doch sind die einschränkenden Bemerkungen gerahmt durch Aussagen, die auch die körperliche Erscheinung in ein helleres Licht rücken.70 Sueton möchte Augustus also keineswegs als hässlichen Zwerg 64 Vgl. auch M. Ebner, Schein (s. Anm. 56) 58: „Die Verlässlichkeit des Inhalts dieser Lehre (durchaus different zur Pastoralbrieftradition) wird über die Verlässlichkeit der Personalidentifikation (in vollem Einklang mit der Pastoralbrieftradition) abgesichert.“ 65 Die Annahme, die Thekla-Akten arbeiteten dabei mit dem „hellenistischen Prioritätstopos“ (vgl. M. Ebner, Schein [s. Anm. 56] 57), könnte zwar gut erklären, dass eine Geschichte erzählt wird, die in den Past als Rückblick erscheint. Jedoch ist fraglich, ob damit ein wirksames Mittel gegen die Strategie der Past eingesetzt wird, die in 2 Tim ein testamentarisches Mahnschreiben integrieren. Die Gattung des Testaments deutet an, dass in ihm das für die Zukunft Relevante entfaltet wird, und um die Zukunft (aus der Sicht des Paulus) geht es in dem Streit. 66 Übersetzung: W. Schneemelcher, Paulusakten, in: Ders. (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen. Bd. II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 1989, 193–243, 216. 67 M. Ebner, Schein (s. Anm. 56) 58. 68 Vgl. z.B. Plutarch, Alexander 4,1–6; Cato 1,4f.; Perikles 3,4–7; Fabius Maximus 1,4; Alkibiades 1,4–8; Demosthenes 4,5; Cicero 3,7. 69 Die Zähne, heißt es, seien weit auseinander gestanden, klein und schlecht gewesen, die Körpergröße nicht beeindruckend (Sueton, Augustus 79,2). 70 Die Augen seien hell und glänzend gewesen (claros ac nitidos), die Schwäche der geringen Größe verdeckt worden durch das Ebenmaß (commoditate et aequitate membrorum), so dass sie nur bei direktem Vergleich mit einem Größeren erkennbar gewesen sei.

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erscheinen lassen. Insofern er aber die einzelnen Merkmale eindeutig wertet, besteht in diesem Fall eine Unklarheit nicht, die bei der Lektüre der TheklaAkten bleibt: Sind die erwähnten körperlichen Charakteristika positiv oder negativ zu verstehen? Antike Werke zur Physiognomie scheinen jene Merkmale überwiegend negativ zu werten,71 doch hat Abraham Malherbe vor dem Hintergrund von Herakles-Traditionen eine positive Sicht verteidigt und Paulus in ActThecl 3 als christlichen Herakles gedeutet72 und zuvor hatte Robert Grant unter Bezugnahme auf ein Archilochos-Zitat eine Beschreibung des Paulus in militärischen Kategorien erkannt.73 Martin Ebner betont mit Recht die nicht überwindbare Ambivalenz in der Deutung der Körpermerkmale, weshalb der Kontext, in den die Beschreibung eingefügt ist, entscheiden müsse.74 Er greift dazu auf die in Kap. 2 erscheinende Unterscheidung zwischen UCTZ und RPGWOC zurück: Bislang hatte Onesiphoros Paulus nicht UCTMK gesehen, sondern allein RPGWOCVK. Die beiden Begriffe werden nicht verwendet bei der Beschreibung des Paulus, doch bietet diese insofern einen Anhaltspunkt, als nach der Nennung der körperlichen Merkmale die Aussageebene gewechselt wird: Paulus ist voller Gnade (ECTKVQLRNJTJ) und hat bisweilen das Aussehen eines Engels (CXIIGNQWRTQUYRQPGKEGP). Damit ist eine Kategorie eingebracht, die die gewöhnliche Beschreibung äußerer Merkmale übersteigt und als bewusster Gegensatz zum körperlichen Erscheinungsbild gedacht sein dürfte. Es ist also nicht nach physiognomischem Muster daran gedacht, dass körperliche Merkmale auf den Charakter schließen lassen. Das Erscheinen als Mensch (klein, kahlköpfig, krummbeinig, gute Haltung, 71 So das Urteil von J. Bollók, The Description of Paul in the Acta Pauli, in: J.N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Paul and Thecla (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 2), Kampen 1996, 1–15, 8f. Nach seiner Aufstellung kann allein die Kahlköpfigkeit (als Zeichen für Intelligenz) positiv gesehen werden, doch bietet auch sie Anlass zu kritischer Auswertung (sensuality). Dass GWXGMVKMQLallerdings von Ps.-Aristoteles, Physiognomonica 806b, her negativ zu deuten ist, kann man bezweifeln. Denn dort wird das Adjektiv auf die Beschaffenheit des Fleisches bezogen. 72 Vgl. A. Malherbe, A Physical Description of Paul, in: Ders., Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989, 165–170, 168f.: zusammengewachsene Augenbrauen als Zeichen der Schönheit; Hakennase als Hinweis auf königlichen oder großmütigen (magnanimous) Charakter; im Blick auf die Körpergröße war zwar „tallness“ bevorzugt, doch hatte auch geringerer Wuchs seine Vorteile (man galt als schnell) und entscheidend war, in keine der beiden Richtungen zu exzessiv auszuschlagen. In Beschreibungen des Herakles bzw. des Agathion-Herakles (überliefert bei Clemens von Alexandrien, der sich auf Hieronymus von Rhodos bezieht) tauchen vier der Merkmale aus den Thekla-Akten auf und werden positiv gewertet: kleine Gestalt, Hakennase, zusammengewachsene Augenbrauen, gebogene Beine. Als Problem bleibt allerdings die Kahlköpfigkeit, die sich entweder historischer Erinnerung oder dem Bezug auf das Nasiräatsgelübde Apg 18,18; 21,34 verdanke. 73 Vgl. R.M. Grant, The Description of Paul in the Acts of Paul and Thecla, in: VigChr 36 (1982) 1–4, 2. 74 Vgl. zum Folgenden M. Ebner, Schein (s. Anm. 56) 59–62.

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zusammengewachsene Augenbrauen, etwas lange Nase) und das Erscheinen als Engel (voller Gnade) stehen sich vielmehr gegenüber – mit der Folge, dass die körperliche Erscheinung negativ gekennzeichnet ist. Der begründende Anschluss der Mensch-Engel-Differenzierung bestätigt diese Sicht, die sich also nicht allein auf die UCTZ-RPGWOC-Antithese in Kap. 2 stützt. Aus jenem Anschluss ergibt sich, dass diese Differenzierung in der vorherigen Beschreibung einen Anhaltspunkt haben muss. Und der kann nur liegen in der Erfassung körperlicher Merkmale einerseits und andererseits der Bemerkung, Paulus sei ECTKVQLRNJTJ gewesen. Auf die zweite Größe richtet sich auch die Reaktion des Onesiphoros. Er, der bislang Paulus nicht UCTMK gesehen hatte, nimmt zwar die körperlichen Merkmale des Paulus wahr; diese werden ja aus der Perspektive des Onesiphoros beschrieben (GKFGP). Er reagiert aber allein auf die nicht-körperliche Qualität des ECTKVQLRNJTJ, wenn er sagt: „Sei gegrüßt, Diener des hochgelobten Gottes“. Und auch in seiner Antwort an Demas und Hermogenes bleibt dieser Blickwinkel bestimmend. Onesiphoros sieht an ihnen keine Frucht der Gerechtigkeit. Er hat also einen Sensus für das nicht äußerlich Wahrnehmbare. Damit rückt die zuvor gegebene Beschreibung des Paulus insofern in den Hintergrund, als sie zur Erfassung seines Wesens gar nichts beiträgt. Sind die körperlichen Merkmale aber in diesem Sinn als irrelevant gekennzeichnet, dürfte ihre nach weltlichem Maßstab negative Konnotation durchaus eine Rolle spielen: Paulus ist nach äußeren Kriterien betrachtet nicht schön. Anziehend ist er auf einer anderen Ebene. Dies erfordert im Prinzip auch die folgende Erzählung. Zwar verhindert schon die Tatsache, dass Thekla allein auf das Wort des Paulus reagiert (7), das Missverständnis, Thekla hätte sich in erotischem Sinn in Paulus verliebt. Doch weil sie sich in ihrer Verehrung für Paulus zu recht extremen Handlungen hinreißen lässt,75 ist es durchaus angebracht, weitere Vorkehrungen zu treffen, um die Botschaft von der Enthaltsamkeit nicht zu diskreditieren. Eine solche Sicherung ist die Beschreibung des Paulus zu Beginn der Akten: Eine junge Frau, die mit einem jungen Mann verlobt ist, wird nicht durch einen kleinen, krummbeinigen, kahlköpfigen, langnasigen Alten angezogen. Attraktiv an Paulus ist also in der Tat nur sein Wort, nicht seine Gestalt.76 75 Sie setzt viel ein, um nachts zu Paulus ins Gefängnis zu kommen (18), sie küsst die Fesseln (18), wälzt sich auf der Stelle im Gefängnis, an der Paulus gesessen und gelehrt hatte (20), während des Verhörs starrt sie nur Paulus an (20), wie ein Lamm nach dem Hirten hält sie nach Paulus Ausschau (21), sie gelobt Nachfolge (25), im Haus des Onesiphoros fällt sie am Lehrort des Paulus nieder und betet (42). Von ihr wird gesagt, sie habe große Sehnsucht nach Paulus und deshalb überall nach ihm suchen lassen (40). 76 Dass das Porträt des Paulus in ActThecl 3 an Selbstaussagen des Paulus im 2 Kor ansetzt und diese vor dem Hintergrund physiognomischer Wertungen ausführt (so J. Bollók, Description

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6. Fazit Der Ertrag zur Bedeutung des Biographischen in der Paulusrezeption lässt sich in vier Punkten zusammenfassen. 1. Paulus bleibt präsent als Gründungsfigur, als Apostel aus der Ursprungszeit der Kirche. So kann er Vorbildfunktion übernehmen, wenn ihn 1 Clem als Beispiel für WBRQOQPJ präsentiert. Sein apostolisches Wirken kann Ausgangspunkt für Mahnungen sein (PolPhil); durch Briefimitation können biographische Details aus dem Wirken des Apostels auch in der Paulusrezeption eine Rolle spielen (2 Thess). 2. In zweifacher Hinsicht hat die Gefangenschaft Bedeutung. Zum einen entfalten die unter dem Namen des Paulus geschriebenen Briefe als Botschaft eines Gefangenen besondere Wirkung: Man vernimmt das Wort des Apostels, der seinen Einsatz für das Evangelium mit aller Konsequenz durchhält (Kol, Eph). 2 Tim geht als testamentarisches Mahnschreiben noch einen Schritt weiter: als letztes Wort des Apostels hat der Brief besonderes Gewicht. Zum andern eignet sich die Gefangenschaft des Paulus auch dazu, die reale Situation der endgültigen Trennung von Paulus nach dessen Tod literarisch darzustellen: Der Apostel ist nicht nur räumlich getrennt, sondern durch die Gefangenschaft auch grundsätzlich verhindert, zu den Adressaten zu kommen. 3. In den Pastoralbriefen wird die literarische Inszenierung des Abschieds von Paulus durch den Blick auf die letzte Lebensphase in besonderem Maß biographisch akzentuiert. Während Kol und Eph ein solches Moment nur in dem Hinweis auf den Bericht anderer über die Lage des Paulus bieten, lassen sich die Past als Erzählung aus seiner letzten Lebensphase lesen. Sie geben Einblick in den Weg des Paulus von Ephesus nach Rom und demonstrieren an seiner Person, was dem Verfasser der Briefe für die Gegenwart bedeutsam erscheint: Einordnung in die Glaubenstradition, Abkehr vom falschen Weg, Einsatz gegen Falschlehrer, im rechten Glauben begründete Heilszuversicht. 4. Die Biographie gerät in den Sog des Kampfes um das Paulus-Erbe. Dass die Past biographische Elemente in den Vordergrund stellen, hängt mit dem Streit zusammen, der im Hintergrund ihrer Abfassung steht. Der Episkopos, Garant der „gesunden Lehre“, kann sich durch die Herausarbeitung des biographischen Moments in den Past in eine konkrete Geschichte einordnen und sich an Paulus orientieren. Die Thekla-Akten setzen gerade an Elementen der Paulus-Biographie in den Past an, um ihre gegenläufige Sicht zu platzieren. Diese erscheint so zumindest nicht als [s. Anm. 71] 10f.), ist m.E. wenig wahrscheinlich. Für eine solche (auch nach Bollók) hypothetische Rekonstruktion (vgl. ebd. 12) sind die physiognomischen Kategorien nicht eindeutig genug.

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völlig neue Geschichte des pln Wirkens. Die Besonderheit, dass in den Thekla-Akten das Aussehen des Paulus geschildert wird, erklärt sich allerdings nicht aus der Auseinandersetzung mit dem Paulusbild der Past, sondern aus dem Anliegen, die Attraktivität des Enthaltsamkeitspredigers auf sein Wort zu beschränken.

Autoren und Herausgeber BROER, INGO (* 1943), von 1972 bis 2008 Professor für Neues Testament an der Universität Siegen. – Forschungsschwerpunkte: Die Probleme des Antijudaismus und der Toleranz im Neuen Testament; Einleitungsprobleme; Matthäusevangelium; Galaterbrief. DORMEYER, DETLEV (* 1942), Professor für Biblische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Münster (1977–1997) und für Neues Testament an der Universität Dortmund (1997–2008), seit 2008 emeritiert. – Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte des Neuen Testaments, Markusevangelium, lukanisches Doppelwerk, neue Methoden der Exegese und Bibelarbeit. EBNER, MARTIN (* 1956), seit 1998 Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Universität Münster. – Forschungsschwerpunkte: Historische Jesusforschung, neutestamentliche Gemeinden in ihrem griechisch-römischen Umfeld, Markusevangelium, Methodenreflexion. HÄFNER, GERD (* 1960), seit 2002 Professor für Biblische Einleitungswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. – Forschungsschwerpunkte: Pastoralbriefe, Matthäusevangelium, Grundlagen der Jesusforschung. HEIL, CHRISTOPH (* 1965), seit 2004 Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Graz. – Forschungsschwerpunkte: Spruchevangelium Q, historischer Jesus, Galaterbrief. MÜLLER, CHRISTOPH GREGOR (* 1963), 2004–2006 Professor für Neues Testament in Paderborn, seit 2006 Professor für Neutestamentliche Exegese und Neutestamentliche Einleitungswissenschaft in Fulda, Rektor der Theologischen Fakultät Fulda. – Forschungsschwerpunkte: Lukanisches Erzählwerk, 1. Petrusbrief, 1. Korintherbrief. SCHMELLER, THOMAS (* 1956), 1993–2004 Professor für Biblische Theologie an der Technischen Universität Dresden, seit 2004 Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. – Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Zeitgeschichte des Neuen Testaments, Paulus, 2. Korintherbrief. SCHREIBER, STEFAN (* 1967), seit 2003 Professor für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Universität Münster. – Forschungsschwerpunkte: Religions- und Sozialgeschichte des Neuen Testaments, Frühes Judentum, kulturelle und politische Umwelt des Neuen Testaments, Paulus, lukanisches Doppelwerk, Johannesevangelium.