>Christushymnen< oder >epideiktische Passagen<?: Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt 9783666538599, 3525538596, 9783525538593

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>Christushymnen< oder >epideiktische Passagen<?: Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt
 9783666538599, 3525538596, 9783525538593

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VÔR

IN M E M O R I A M

HENNING PAULSEN (1944-1994)

RALPH BRUCKER

,Christushymnen' oder ,epideiktische Passagen' Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 176. Heft der ganzen Reihe

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnähme

Brucker, Ralph: .Christushymnen' oder ,epideiktische Passagen' ?: Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt / Ralph Brucker. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1997 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; H. 176) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-525-53859-6 NE: GT

© 1997 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.

Vorwort

Die hier vorgelegte Arbeit wurde im Oktober 1995 abgeschlossen und im Sommersemester 1996 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie stilistisch überarbeitet und v. a. um Literatur ergänzt, die mir erst nachträglich zugänglich geworden ist. Die schöne Pflicht des Dankes ist im vorliegenden Fall nicht ungetrübt: Mein verehrter Doktorvater, Prof. Dr. Henning Paulsen, der mich zur Promotion über die neutestamentlichen ,Christushymnen' ermutigt und die ersten fertigen Abschnitte der Arbeit mit großem Interesse aufgenommen hat, hat ihren Abschluß nicht mehr erlebt. Ihm verdanke ich entscheidende Anregungen im Studium und darüber hinaus; seinem Andenken soll dieses Buch als Zeichen meiner Dankbarkeit gewidmet sein. Herrn Prof. Dr. Gerhard Sellin, der die weitere Betreuung der Arbeit ohne konzeptionelle Änderungen übernommen und das Erstgutachten angefertigt hat, danke ich herzlich; ebenso Herrn Prof. Dr. Tim Schramm für die Erstellung des Zweitgutachtens. Dank schulde ich auch dem Kreis der Doktorandinnen und Doktoranden von Prof. Paulsen, der neutestamentlichen Sozietät unseres Fachbereichs und dem Arbeitskreis norddeutscher Neutestamentlerinnen und Neutestamentler, wo ich jeweils die Thesen meiner Arbeit vorstellen durfte und Anstöße für die Weiterarbeit bzw. für die Druckfassung erhalten habe. Namentlich genannt seien hier nur Frau Silke Petersen, Herr Dr. Stefan Alkier und Herr Dr. Gerd Buschmann für ihre Hinweise nach Lektüre der fertigen Dissertation. An dieser Stelle möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Theodor Ahrens für seine Unterstützung am Beginn des Projekts, Herrn Privatdozent Dr. habil. Eckhard Reichert für Hinweise zum lateinischen carmen und Herrn Prof. Dr. Hermann Spieckermann für seinen ,Segen' über die alttestamentlichen Abschnitte meiner Arbeit danken. Für zuverlässige Beschaffung von Literatur danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Nordelbischen Kirchenbibliothek hier in Hamburg, insbesondere Herrn Harald Böck, der so manches schwer erreichbare Buch von auswärts besorgte. Auf der technischen Seite habe ich Herrn Pastor Hans Gottfried Michaelis zu danken, der bei Computer-Problemen stets mit Rat und Tat zur Stelle war.

VI

Vorwort

Beim Korrekturlesen ist mir unser Griechisch-Dozent, Herr Axel Horstmann, eine unschätzbare Hilfe gewesen, dem ich auch Hinweise zur Trennung griechischer Wörter verdanke. Ganz besonderer Dank gebührt den Herausgebern der „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments", Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schräge, der auch nach gründlicher Lektüre der Dissertation einige wertvolle Hinweise beigesteuert hat, und Herrn Prof. Dr. Rudolf Smend, für ihre Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Daß aus meiner Druckvorlage nun ein .richtiges Buch' geworden ist, ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht zu danken, von denen mich Herr Dr. Arndt Ruprecht als Verleger und Frau Renate Hartog als Herstellerin direkt betreut haben. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für großzügige Förderung über mehrere Jahre während des Studiums und der Promotion. Ich danke meinen Eltern, die mir die Ausbildung ermöglicht und mich auf ihre Weise unterstützt haben. Ich danke meinen Schwiegereltern, die mich auf meinem Weg ermutigt und einige Abschnitte der werdenden Arbeit mit mir durchgesprochen haben. Und nicht zuletzt danke ich meiner Frau, die mir als Ernährerin unserer Familie das Promovieren überhaupt erst ermöglicht und besonders in der Abschlußphase manche andere Verpflichtungen abgenommen hat, und unseren drei Kindern, die mich oft genug aus .hymnischen Höhen' wieder auf den Boden des Alltagslebens zurückgeholt haben.

Hamburg, im Dezember 1996

Ralph Brucker

Inhalt

Einleitung I.

1

Poesie, Prosa und,Parallelismus'

23

1. Das Verhältnis von Poesie und Prosa

23

2. Die Rolle des .Parallelismus'

25

Exkurs: Zur Geschichte der Wahrnehmung des,Parallelismus' in der hebräischen Bibel

31

II. Das Lob von Göttern und Menschen in der griechisch-römischen Literatur

36

1. Poetisches Lob a) Griechische Götterhymnen b) Enkomien und Epinikien Exkurs:,Hymnen' im Alten Testament c) Lateinische Hymnendichtung

36 36 57 72 83

2. Prosaisches Lob

110

a) Das γένος επιδεικτικόν in der rhetorischen Theorie Exkurs: Zum Eigenlob

110 137

b) Beispiele epideiktischer Rhetorik

145

III. Das Phänomen des Stilwechsels in antiken Texten 1. Zur antiken Stiltheorie a) Die rhetorischen Redegattungen und ihre Mischung b) Die rhetorischen Stilarten und ihre Mischung 2. Beispiele für Stilwechsel in antiken Prosatexten a) Cicero b) Philon von Alexandria c) Kleomedes d) Epiktet e) Apuleius von Madaura

174 174 174 179 210 211 218 227 234 237

VIII

Inhalt

IV. Zum literarischen Charakter der Gattung .Brief

253

1. Zur antiken Brieftheorie

253

2. Epideiktisches in antiken Briefen

266

V. Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes 1. Der Aufbau des Philipperbriefes a) Literarische Einheitlichkeit b) Rhetorische Gattung und Gliederung 2. Elemente epideiktischer Rhetorik im Philipperbrief

. . 280 280 280 290 301

a) Das Proömium als lobende Eröffnung (Phil 1,3—11) 301 b) Die .Erzählung' als Beispiel .apostolischer Sachlichkeit' (Phil 1,12-26) . 302 c) Der erste Entfaltungsschritt (Phil 2,1-11) 304 d) Der zweite Entfaltungsschritt (Phil 2,12-18) 320 e) Ein lobender .Exkurs'(Phil 2,19-30) 321 f) Der dritte Entfaltungsschritt (Phil 3.1-21) 325 g) Der Schlußteil (Phil 4,1-20) 336 Ergebnisse und Ausblick

347

Abkürzungsverzeichnis

355

Literaturverzeichnis

357

I. Quellen und Hilfsmittel 1. Quellen 2. Sprachliche Hilfsmittel

357 357 366

II. Übrige Literatur Nachtrag

367 386

Register I. Namen (einschl. anonyme u. pseudepigraphische Schriften) II. Begriffe

387 . . . 387 394

Einleitung

Die vorliegende Untersuchung soll einen Beitrag zur methodischen Klärung einer neutestamentlichen Textgruppe liefern, die heute (nach einem weitgehenden Forschungskonsens in den 60er Jahren) zunehmender Skepsis begegnet: die aus den vorliegenden Texten hypothetisch erschlossenen .Christushymnen'. Wenn in neueren Arbeiten zu diesem Bereich eine große methodische Unsicherheit zu verzeichnen ist, so hängt dies m. E. in erster Linie damit zusammen, daß der literaturgeschichtliche Hintergrund der Gattung JHymnus' - also antike Hymnen mit ihren kultischen und literarischen Verwendungsmöglichkeiten - von Anfang an fast völlig vernachlässigt worden ist. Insbesondere der Umstand, daß hymnische (und ähnliche lobpreisende) Abschnitte innerhalb vieler literarischer Gattungen anzutreffen sind, ist bisher nicht hinreichend gewürdigt worden. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den bisherigen Verlauf und heutigen Stand der diesbezüglichen Forschung1: Als Wegbereiter für die Erforschung der betreffenden neutestamentlichen Stellen verdienen besonders JOHANNES WEISS und EDUARD NORDEN Erwähnung. JOHANNES WEISS stellte 1 8 9 7 eine Reihe von Paulusbriefstellen zusammen, die durch ihre rhetorisch-rhythmische Sprache, besonders die Verwendung von Parallelismus und Antithese, auffallen; seine als „Beiträge zur paulinischen Rhetorik" betitelte Materialsammlung2 enthält schon Passagen wie Phil 2 , 5 - 1 1 ; Rom 8 , 3 1 - 3 9 ; 1 1 , 3 3 - 3 6 oder IKor 1 3 - daneben aber auch eine Reihe weiterer Stellen, die eine besonders „feine" Gestaltung aufweisen3. Der Altphilologe EDUARD NORDEN erhellte 1 9 1 3 die „liturgische Sprache" neutestamentlicher Passagen durch das Herausarbeiten von Stilformen antiker religiöser Rede, wobei er eine Vielzahl von griechischen und lateinischen Texten

1 Weitere Forschungsüberblicke mit jeweils anderen Akzenten geben DOCHGRÄBER, Gott e s h y m n u s 1 1 - 1 8 ; WENGST, F o r m e l n u n d L i e d e r 1 1 - 2 6 ; RESE, F o r m e l n u n d L i e d e r

77-85,

und zuletzt KENNEL, Frühchristliche Hymnen 2 2 - 4 6 (vgl. ebd. 1 - 4 ) . 2 Siehe die genauen bibliographischen Angaben im Literaturverzeichnis. 3 So z.B. 1 Kor 12,4-11; 2Kor 4,7ff; ll,16ff; ausführlicher IKor 1,10-4,21 (a.a.O. 200-210; darin wird vor allem „die Digression 2,6-16" hervorgehoben); in der abschließenden Kutzanalyse des Römerbriefes (a.a.O. 210-247) stellt WEISS bei vielen Passagen die kunstvolle rhetorische Gestaltung heraus.

2

Einleitung

zum Vergleich heranzog.4 Beide Autoren gliederten die von ihnen untersuchten Texte bereits in Sinnzeilen, verbanden damit jedoch nicht die Behauptung eines poetischen' Charakters. Selbstverständlich zogen die cantica in der Kindheitsgeschichte des Lukasevangeliums (Lk 1,46-55: Magnificat; 1,68-79: Benedictos; 2,14: Gloria und 2,29-32: Nunc dimittis), die dort ja deutlich vom Kontext abgehoben sind und zudem nachweislich seit dem 5. Jahrhundert ein liturgisches .Eigenleben' geführt haben, schon früh die Aufmerksamkeit der historisch-kritischen Forschung auf sich; besonders die Fragen nach der sprachlichen und quellenmäßigen Herkunft der Stücke und der ursprünglichen Sängerin des Magnificat (Maria oder Elisabeth?) wurden lebhaft diskutiert.5 Aber die Rekonstruktion von ,Christusliedern' oder .Christushymnen' aus neutestamentlichen Texten begann erst in den 20er Jahren mit dem Aufkommen der .Formgeschichte'. Nachdem JOSEF KROLL 1921/22 in einer kleinen Studie die „christliche Hymnodik bis zu Klemens von Alexandreia" dargestellt hatte und darin auch auf einige neutestamentliche Stellen eingegangen war6, 4 Agnostos Theos. Der Untertitel des Buches, das sich in seinem ersten Teil mit der Areopagrede in Apg 17 befaßt, lautet: „Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede". Uns interessiert hier v.a. der zweite Teil: „Untersuchungen zur Stilgeschichte der Gebets- und Prädikationsformeln" (a.a.O. 143—308). Die von NORDEN in diesem Zusammenhang behandelten neutestamentlichen Stellen sind Rom 11,33-36 (ebd. 240-250); Kol 1,9-20 (ebd. 250-254, in Zeilen gegliedert ab v. 12); lTim 3,16 (ebd. 254-263, unter Hinweis auf Eph 5,14) und Mt 11,25 - 3 0 (ebd. 277-308); dazwischen als weiterer christlicher Text das Apostolische Glaubensbekenntnis (ebd. 263 -276). Als Anregung für weitere Forschung soll die Stellensammlung ebd. 380-387 dienen (,.Anhang VIH: Formelhafter Partizipial- und Relativstil in den Schriften des Neuen Testaments"). 5 Ältere Literatur läßt sich in großer Anzahl den Kommentaren zum LkEv und der neueren Spezialliteratur zu den .Hymnen' aus Lk 1 - 2 entnehmen (vgl. unten Anm. 46). Stellvertretend für die von Text- und Literarkritik bestimmte Epoche seien genannt: HARNACK, Das Magnificat der Elisabeth (1900); SFITTA, Das Magnificat, ein Psalm der Maria und nicht der Elisabeth (1902). - Unter formgeschichtlichem Aspekt hat GUNKEL 1921 „Die Lieder in der Kindheitsgeschichte Jesu bei Lukas" untersucht und als ,eschatologische Hymnen' jüdischer Herkunft bestimmt (ihm folgten BULTMANN, Synoptische Tradition 322f, u.v.a.). - Für ad hoc geschaffene literarische Produkte im Kontext einer Geburtslegende Johannes' des Täufers und ihrer christlichen (überbietenden) Ergänzung hat dagegen ERDMANN, Die Vorgeschichte des Lukas- und Matthäusevangeliums (1932), votiert. - Besonders erwähnenswerte Beiträge aus der Blütezeit der neutestamentlichen .Hymnenforschung' sind VIELHAUER, Das Benedictus des Zacharias (1952), und WINTER, Magnificat and Benedictus - Maccabean Psalms (1954). 6 In rein aufzählender Weise werden genannt: aus dem LkEv „das Magnificat (1,46), das Benedictus des Zacharias (1,68), das Gloria der Engel (2,14) und das Nunc dimittis des Simeon (2,29)"; Apg 4,24 (vgl. 16,25); „Lobpreis und Dank" in den Gebetsstellen der Paulusbriefe sowie „die Bekenntnisformel Col. l,9ff" (Hymnodik 13f). Zitiert und in Zeilen gegliedert werden lTim 3,16 („eine Art Symbolum"); 2Tim 2 , l l f f („Hymnodische Diktion") und Eph 5,14 (mit „kultischen Rufen aus den Mysterien" verglichen) (ebd. 15 f). Schließlich werden noch „die zahlreichen Hymnen und Doxologien in der Johannesapokalypse" erwähnt und an vier besonders

Einleitung

3

legte ERNST LOHMEYER 1928 „eine Untersuchung zu Phil 2,5-11" vor7, aufgrund derer er als „der eigentliche Inaugurator unseres Forschungszweiges"8 bezeichnet worden ist: Phil 2,6-11 ist nach LOHMEYER „eine fremde, von Paulus erst übernommene Schöpfung", „eine Art überlieferten urchristlichen Chorais", „ein judenchristlicher Psalm", ja - ein „Hymnus"9; die Wendung θανάτου δέ σταυρού (v. 8) wird „aus formalen und sachlichen Gründen" als paulinischer interpretierender „Zusatz" bestimmt10. Neben LOHMEYER sind b e s o n d e r s d i e Forscher RUDOLF BULTMANN11 u n d MARTIN DIBELIUS12 s o w i e aus der n ä c h s t e n G e n e r a t i o n GÜNTHER BORNKAMM13 u n d ERNST KÄSEMANN14 zu

nennen, die grundlegende Analysen zu verschiedenen Texten vorgelegt haben.

eindrucksvollen Beispielen demonstriert (ebd. 16f). - 1926 hat KROLL „Die Hymnendichtung des frühen Christentums" noch einmal in einem Aufsatz zusammenfassend dargestellt; erwähnenswert ist in unserem Zusammenhang auch seine Mitarbeit an der 2. Auflage der von EDGAR HENNECKE herausgegebenen Sammlung ,Neutestamentliche Apokryphen' (1924). 7 Kyrios Jesus (SHAW 1927/28); das Zitat fuhrt den Untertitel der Studie an. Hier stellt LOHMEYER auch „den kurzen Hymnus l.Tim. 3,16" in seiner eigenen Gliederung („2 Strophen zu drei Zeilen") vor (a.a.O. 63). Das Prinzip der Dreizeiligkeit beherrscht auch LOHMEYERS Gliederung von Phil 2,6-11 (siehe ebd. 5f) und, wie sein 1928/1930 erschienener Kommentar zu Phil, Kol und Phlm (KEKIX) zeigt, sogar die Gliederung der meisten Abschnitte dieser Briefe (vgl. schon den 1926 als HNT IV/4 erschienenen Kommentar zur Offb [21953 = HNT 16]). Diese LoHMEYERsche Spezialität ist weitgehend zurückgewiesen worden. - Innerhalb des Philipperbriefes werden im Kommentar auch 3,20f und 4,12f als „Hymnus" charakterisiert, allerdings unter Annahme paulinischer Verfasserschaft (dasselbe gilt für Kol l,13[!]-20). 8 DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 15. 9 LOHMEYER, Kyrios Jesus 8f. Zur Gattungsbestimmung vgl. auch ebd. 7: es liege „hier nicht ein Stück gewöhnlicher brieflicher Rede, auch nicht eine rhetorisch gesteigerte Prosa, sondern ein sorgsam komponiertes und bis in alle Einzelheiten hinein abgewogenes strophisches Gebilde, ein carmen Christi in strengem Sinne" vor. Weitere Gattungsbezeichnungen LOHMEYERS für Phil 2,6-11 sind „ein jubelndes Gebet" und „eine εύχαρισήα im strengen Sinne" (ebd. 11). 10 Kyrios Jesus 44-46. 11 Wichtige Aufsätze: Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannesevangelium (1923); Bekenntnis- und Liedfragmente im ersten Petrusbrief (1947); zum JohEv vgl. auch den 1941 erschienenen Kommentar (ΚΕΚΠ). 12 Vgl. außer seinen Kommentaren im HNT (11. 12. 13) zu 1.2Thess, Phil (21925, 31937), Kol, Eph, Phlm (21927; 31953 bearb. v. H. GREEVEN) u. Past (21931; 31955 u. 41966 bearb. v. H. CONZELMANN) v. a. den noch immer instruktiven Forschungsbericht in der ThR von 1931 „Zur Formgeschichte des Neuen Testaments (außerhalb der Evangelien)". Aus heutiger Sicht fällt die vorsichtige Zurückhaltung auf, mit der DIBELIUS (im Vergleich zu LOHMEYER, BULTMANN und vielen späteren) neutestamentliche Textpassagen als .Hymnen' bestimmt. 13 Wichtig sind vor allem: Das Bekenntnis im Hebräerbrief (1942); Der Lobpreis Gottes Rom 11,33-36 (1951); Zum Verständnis des Christushymnus Phil 2,6-11 (1959). Vgl. außerdem den Artikel .Formen und Gattungen Π. Im N T , RGG 3 Π (1958), 999-1005 (bes. 1003). 14 Eine urchristliche Taufliturgie (1949, zu Kol 1,12-20); Kritische Analyse von Phil 2,5-11 (1950); Aufbau und Anliegen des johanneischen Prologs (1957).

4

Einleitung

Als bei classici der neutestamentlichen Hymnenforschung kristallisierten sich außer Phil 2,[5]6-ll bald die Abschnitte Kol l,[12]15-20; lTim 3,16 und Joh 1,1-18 heraus. In zahlreichen weiteren Studien wurden jedoch auch noch Hymnen' im 1. Petrusbrief (bes. 2,21-25 u. 3,18-22) 15 , im Hebräerbrief (bes. 1,3f)16 und im Epheserbrief (bes. 1,3-14; 2,14-18; 5,14)17 entdeckt (in den Pastoralbriefen auch 2Tim 2,11-13) 18 . Das Augenmerk richtete sich außerdem auf einschlägige Stellen der Johannesoffenbarung, die z.T. ausdrücklich als „Lied" (φδή) bezeichnet werden (vgl. 5,9f; 15,3f)19, sowie außerhalb des Kanons, aber in neutestamentlicher Zeit, auf die Briefe des Ignatius von Antiochia (bes. Eph 7,2 u. 19,2 f)20. Durch die Rekonstruktion von .Christushymnen' und anderen formelhaften Stücken, als deren ,Sitz im Leben' der Gottesdienst bestimmt wurde, schienen die neutestamentlichen Texte plötzlich durchsichtig für die dahinterliegende sozialgeschichtliche Situation: den Gottesdienst der frühen Christenheit. Höhepunkt solcher optimistischen Rekonstruktionsversuche ist wohl die These, der ganze 1. Petrusbrief (bis auf die briefliche Rahmung 1,1 f und 5,12-14) sei die Liturgie eines römischen Taufgottesdienstes inklusive Liedern und Predigt!21 Mitte der 60er Jahre konnte das bis dahin in zahlreichen Einzelstudien zusammengetragene Material monographisch aufgearbeitet werden. Klassisch zu nennen sind hier die formgeschichtlich orientierten Arbeiten von GOTTFRIED SCHILLE, REINHARD DEICHGRÄBER und KLAUS WENGST. In diesen zusammenfassenden Darstellungen klingt bereits eine gewisse Vorsicht an, allzuviele Texte als ,Hymnus' zu klassifizieren und allzugenaue Angaben über den ,Sitz im Leben' zu machen.22 In ihnen wird jedoch ebenfalls der Mangel an eindeutigen Kriterien für die Gattungsbestimmung JHymnus' oder ,Lied' sichtbar: 15 Grundlegend: BULTMANN, Bekenntnis- und Liedfragmente (s.o. Anm. 11). 16 Zuerst: BORNKAMM, Das Bekenntnis im Hebräerbrief (s.o. Anm. 13). 17 Nach LOHMEYER, Das Prooemium des Epheserbriefes (1926), hat sich hier besonders GOTTFRIED SCHILLE hervorgetan, dessen 1953 vorgelegte Dissertation über „Liturgisches Gut im Epheserbrief' für die Buchausgabe 1965 zu einer Untersuchung über „Frühchristliche Hymnen" erweitert wurde (vgl. unten Anm. 23). Den ersten Versuch, Eph 1 , 3 - 1 4 als eine Art „verhüllten Hymnus" zu verstehen, machte bereits 1904 THEODOR INNITZER (Der .Hymnus' im Epheserbrief). 18 Dazu vgl. bereits KROLL, Hymnodik 15 Anm. 2 (s.o. Anm. 6); DIBELIUS, HNTZ. St. 19 Dazu siehe unten Anm. 48. 20 Vgl. bereits KROLL, Hymnodik 1 9 - 2 1 (Zitierung von Eph 7,2); LOHMEYER, Kyrios Jesus 64 (Zitierung von Eph 19,2f); weitere Literatur bei DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 155-160. 2 1 S o HERBERT PREISKER in s e i n e r B e a r b e i t u n g d e s K o m m e n t a r s v o n HANS WINDISCH, D i e

katholischen Briefe (HNT 15), 3 1951,156-162. 22 Vgl. SCHILLE, Frühchristliche Hymnen 11; DBCHGRÄBER, Gotteshymnus 2 1 - 2 3 u.ö.; WENGST, Formeln und Lieder 12. - Noch zurückhaltender äußert sich in dieser Hinsicht GERHARD DELLING in seinem 1969 erschienenen Wörterbuchartikel ϋμνος κτλ., ThWNT V E , 492

5

Einleitung

GOTTFRIED SCHILLE geht es in seinem Buch über „Frühchristliche Hymnen" (1965) 23 weniger um eine formale Klärung der Frage, was ein Hymnus ist, als vielmehr darum, die zahlreichen als „Zitate" ermittelten Texte - v. a. aus Kolosser- und Epheserbrief - den von ihm postulierten „Gattungen" („Erlöserlieder", „Initiationslied", „taufliturgische Formeln", „Epiphaniehymnen") zuzuordnen. Als Kriterien für den Zitatcharakter eines Abschnitts nennt SCHILLE „Partizipialstil" und „Relativstil", „regelmäßigen Zeilenwechsel, der oft in den Parallelismus membrorum übergeht, eine gewisse Zeilenführung und -länge, die jedoch Unregelmäßigkeiten am Anfang ( . . . ) oder am Schluß ( . . . ) nicht ausschließt, und die konstruktive Gesamtform".24 Bei einer so verschwommenen .Definition' (die auch durch zusätzliche Kriterien wie Füllworte, Synonyme und formelhafte Wendungen nicht präziser wird)25 kann man seinem Gesamturteil nur zustimmen: „Die Unsicherheit auf diesem Gebiet ist kaum zu übertreffen."26 Wenn dem Autor dies letzten Endes doch gelungen ist - die genannte Unsicherheit noch zu verstärken - , so liegt das an seinem etwas zu großzügigen Umgang mit der Gattungsbestimmung .Hymnus'.27 REINHARD DEICHGRÄBER, dessen 1967 erschienene Studie über „Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit"28 noch heute zu den

bis 506 (bes. 503 - 5 0 5 ) ; vgl. auch die Skepsis am Ende der Sammelrezension von MARTIN RESE, Formeln und Lieder im NT (1970), 94 f. 23 Hierbei handelt es sich um die erheblich überarbeitete Fassung seiner Dissertation von 1953 über „Liturgisches Gut im Epheserbrief (vgl. oben Anm. 17). 24 Frühchristliche Hymnen 1 5 - 2 1 . 25 Entsprechende Kriterienkataloge für .formelhaftes Gut im N T finden sich auch bei DIBEu u s , Zur Foimgeschichte (s.o. Anm. 12) 210f; STAUFFER, Theologie des NT, 4 1948, 316; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 12. Auf diesen (u.a.) basiert die 1984 vorgenommene, wohl vollständigste Zusammenstellung von "Basic criteria for identification of homologies and hymns" bei GLOER, Homologies and Hymns 1 2 4 - 1 2 9 . von neutestamentlichen Texten gewonnen -

Kataloge dieser Art -

ausschließlich anhand

haben v.a. den Nachteil, daß sie nicht genügend

zwischen verschiedenen Arten von .formelhaftem Gut' differenzieren, also den Unterschied von .Homologien' und .Hymnen' nicht klar genug benennen. Hinzu kommt, daß besonders so verbreitete Stilmittel wie Parallelismus, Chiasmus, Rhythmus und Antithesen sehr unsichere Kriterien für Zitatcharakter sind (vgl. die relativierende Besprechung dieser Punkte bei GLOER). Obwohl gerade GLOER sich dieser Schwierigkeiten bewußt ist und die Möglichkeit einräumt, daß ein neutestamentlicher Autor eine „vorformulierte" Passage ebenfalls selbst geschrieben haben könnte (a.a.O. 130), präsentiert er abschließend eine überraschend lange Liste mutmaßlicher "early Christian hymns", die sogar Rom 1 1 , 3 3 - 3 6 (fast allgemein für paulinisch gehalten!) und Stücke aus der Offb (s.u. Anm. 48) enthält ( a . a . O . 131). Damit ist wohl der große Ermessensspielraum bei der Anwendung der genannten Kriterien hinreichend demonstriert! 26 Frühchristliche Hymnen 21. 27 Vgl. zur Kritik an SCHILLES Arbeitsweise: DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 1 7 f (u.ö.); VIELHAUER, Urchristliche Literatur 48; KENNEL, Frühchristliche Hymnen 26f. 28 Erweiterte und überarbeitete Fassung seiner 1965 fertiggestellten Dissertation Lobpreis der frühen Christenheit".

„Der

6

Einleitung

gründlichsten auf diesem Gebiet zählt, definiert Hymnen als „Loblieder"29 und speziell Christushymnen als „solche Stücke, die inhaltlich von Christus und seinem Werk (...) sprechen und sich durch Sprache, Stil und Aufbau deutlich als poetisch zu erkennen geben"30 (106). Auf diese Aussage folgt allerdings keine Definition dessen, was der Autor unter „deutlich poetisch" versteht, sondern lediglich eine etwas verschwommene relative Gleichsetzung mit der Kategorie ,Lieder' und eine dafür um so anschaulicher ausgemalte Spekulation über die Art des Vortrags dieser Stücke.31 Kriterien für .poetischen' Charakter eines Textabschnittes schimmern indes an einigen Stellen des Buches durch: Dies ist vor allem der Parallelismus - hier im Anschluß an die alttestamentliche Wissenschaft stets als parallelismus membrorum oder einfach „p.m." bezeichnet32 - , daneben auch das Relativpronomen (δς)33 und Partizipien bzw. „Partizipialstil"34. Besonders die letzteren beiden dieser impliziten Kriterien' machen deutlich, daß die Unterscheidung von JPoesie' und ,Prosa' letzten Endes auf ein Gefühlsurteil hinausläuft - Relativsätze und Partizipien lassen sich doch wohl kaum als spezifisch .poetische' Phänomene verbuchen! Ist für DEICHGRÄBER auch „in der Regel (...) mit der Bezeichnung Hymnus die Vorstellung [verbunden], daß es sich um ein poetisches Stück handelt", so muß er zugestehen: „Es gibt jedoch durchaus hymnische Texte, die prosaischen Charakter tragen, so daß es berechtigt ist, von Prosahymnen zu sprechen."35 Als Merkmale für die Unterscheidung von anderen formelhaften Pro-

29 Gotteshymnus 21 f Anm. 3. Ausdrücklich grenzt DEICHGRÄBER sich hier ab von einer Verwendung des Begriffs im weiteren Sinne (für „alle liturgische Dichtung" oder gar „andere Werke einer feierlich erhabenen Dichtung"): „Ich gebrauche das Wort im engen Sinne" ( = „zur Bezeichnung von Lobliedern"). 30 Gotteshymnus 106. 31 „ . . . so daß wir sie mit einem gewissen Recht als Lieder bezeichnen können, denn wahrscheinlich sind sie in der Tat im Gottesdienst gesungen worden, vielleicht von einem einzelnen Charismatiker, was man aus lK[or] 14,26 schließen könnte, vielleicht auch von der Gemeinde, was vor allem für die spätere Zeit wahrscheinlich sein dürfte (Eph 5,19), oder im Wechselgesang (Plinius, ep. X 96,7)." (ebd.). 32 Vgl. Gotteshymnus 169 (zu I P e t r 1,20): „Hier liegt deutlich poetische Struktur vor: ein ganz ebenmäßiger, antithetischer p.m.". Vgl. ebd. 83 (zu Apg 26,18), 122 (zu Phil 2,6-11), 162 (zu Eph 1,20.22), 171 (zu I P e t r 3,18). 33 Vgl. Gotteshymnus 140 (zu I P e t r 2,21 ff): „Die poetische Struktur des Textes war schon lange erkannt", was in Anm. 4 mit einem Hinweis auf „das mehrfach wiederholte hymnische ο ς " begründet wird. Vgl. ebd. 136 Anm. 5 (zu lTim 3,16): „das hymnisch-liturgische ος". - Andererseits steht ebd. 175 Anm. 1 die Warnung: „Nicht hinter jedem ος steckt ein Hymnus." 34 Vgl. Gotteshymnus 169f (zu I P e t r 1,20): „Typisch ist der Partizipialstil [Anm. 5 verweist auf die Analogien Rom 1,3f u. I P e t r 3,18], freilich gilt es zu beachten, daß die Partizipien artikellos sind." - Vgl. ebd 171 (zu 1 Petr 3,18). 35 Gotteshymnus 23. — Zum Begriff .Prosahymnus' vgl. bereits KROLL, Hymnodik 8 f.

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sastücken (z.B. die „Verkündigungsformel" IKor 15.3-5) 36 gibt DEICHGRÄBER die „Plerophorie des Ausdrucks" und den „rühmenden Grundton" an.37 Andererseits ist aber gerade der „prosaische Charakter" mancher Stellen für DEICHGRÄBER ein schlagendes Argument gegen die Klassifizierung eines Textabschnitts als Hymnus.38 Sowohl bei SCHIULJE als auch bei DEICHGRÄBER sind die Kriterien für die Gattungsbestimmung .Hymnus' nicht aus der Beschäftigung mit antiken griechischen Hymnen gewonnen - dort hat der Begriff ja seinen Ursprung - , sondern lediglich aus den untersuchten neutestamentlichen Stücken selbst.39 Dieses methodisch .abkürzende' Vorgehen, das im Grunde bereits voraussetzt, was eigentlich erst zu beweisen wäre, ist jedoch charakteristisch für einen weiten Teil der Forschung: Der Verweis auf die Untersuchungen E D U A R D N O R DENS ersetzte bei den meisten neutestamentlichen .Hymnenforschern' die eigene Lektüre antiker Hymnen.40 So konnte das bloße Vorhandensein von Relativsätzen oder Partizipien in einem Textabschnitt unter Hinweis auf NORDENS Begriffe „Relativstil der Prädikation" oder „Partizipialstil der Prädikation" zu einem Kriterium für die formgeschichtliche Bestimmung als .Hymnus' avancieren, ohne daß die von N O R D E N angeführten Paralleltexte bzw. -stellen genauer auf ihre spezifische Verwendung von relativischen oder partizipialen Prädikationen befragt wurden. 36 Zu diesem Text siehe Gotteshymnus 107-112. Interessanterweise wird hier der ,paratie¡ismus membrorum' nicht als Indiz für Poesie gewertet - er sei in diesem Fall „eher didaktisch als poetisch" (111). 37 Gotteshymnus 23. Vgl. ebd. 65-76 zu Eph 1,3-14 - nach Deichgräber ein Beispiel für solch einen „Lobpreis in reiner Prosa" (66; Sperrung im Original), der eine „gewisse Feierlichkeit und Erhabenheit des Stils" (66) sowie „die Plerophorie des Ausdrucks, die Schwerfälligkeit und Kompliziertheit des Satzbaus, das Übermaß an adverbialen Bestimmungen" als „Kennzeichen erbaulicher Redeweise" („typisch für das freie Gebet") aufweise (72). Durch den ProsaCharakter sowie den ,,lehrhafte[n] Ton" einzelner Aussagen gebe sich die Passage „als ein literarisches Produkt zu erkennen" (66), das vom Verfasser des Epheserbriefes „ad hoc geschaffen" sei (67). 38 Vgl. Gotteshymnus 166 (zu Eph 2,14-18), 167f (zu Kol 2,9-15), 169 (zu IPetr 1,18.19.21), 174f (zu Hebr 5,5-10). 39 Die recht intensive Heranziehung religionsgeschichtlicher Vergleichstexte (aus Apokryphen, Hermetik, Gnosis und Qumran bei SCHILLE und aus AT und Qumran bei DHCHGRÄBER) könnte darüber auf den ersten Blick hinwegtäuschen - sie geschieht jedoch nicht unter formgeschichtlichem Aspekt, also um Fragen der ,hymnischen' Struktur zu erhellen, sondern ausschließlich unter motivgeschichtlichen Gesichtspunkten. 40 Eine Ausnahme ist W. PÖHLMANN, All-Prädikationen (1973), der zu Kol 1,15-20 (wenn auch unter einem durch die motivgeschichtliche Frage begrenzten Gesichtspunkt) eine größere Zahl von antiken Hymnen herangezogen und dazu auch neuere Forschungsliteratur (aus der Zeit nach NORDEN!) berücksichtigt hat. - Daneben hat natürlich DELLING, ϋμνος, im Rahmen seines ThWNT-Artikels (1969; s. o. Anm. 22), den außerchristlichen Bereich durchgemustert (kann ihn freilich aus Platzgriinden nur stichwortartig darstellen); es ist m. E. kein Zufall, wenn gerade ersieh in bezug auf .urchristliche Hymnen' skeptisch äußert (a.a.O. 503-505).

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Auch in der 1972 erschienenen Studie von KLAUS W E N G S T über „Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums"41 ist die Rechtfertigung des methodischen Vorgehens alles andere als präzise: Er vermeidet zwar aufgrund methodischer Bedenken die Bezeichnung JHymnus', spricht aber „bei Formelgut, das durch seine Rhythmisierung und Stilisierung und auf Grund der Möglichkeit, daß es sich strophisch gliedern läßt, in diesen Bereich weist, (...) von ,Liedern'".42 Die bloße „Möglichkeit" bleibt das einzige Kriterium für die Zuweisung eines Textes in die Kategorie poesie'; die Frage, ob nicht vielleicht auch Prosatexte sich „strophisch gliedern lassen" könnten, wird nicht einmal gestellt.43 Seine Untergattungen („Weglied", „Schöpfungsmittler-Inthronisations-Lied", „Versöhnungslied" und „Inkarnationslied") basieren wie bei SCHILLE auf inhaltlichen Motiven, verbunden mit religionsgeschichtlichen Mutmaßungen. Im weiteren Verlauf der Forschung44 entstanden einerseits auf der Basis des erreichten, durch DEICHGRÄBER, W E N G S T U. a. festgeschriebenen Forschungs41 Als Dissertation lag die Arbeit 1967 vor; für den Druck wurde die inzwischen erschienene Literatur berücksichtigt und eine Analyse des Johannesprologs eingefügt. - Ähnlich wie SCHILLE versucht auch WENGST eine Untergruppierung der Gattung .Lieder', indem er die Gattungsbezeichnungen „Weglied" (Phil 2,6-11; lTim 3,16 und IPetr 1,20 + 3,18.22), „Schöpfungsmittler-Inthronisationslied" (Hebr 1,3; Kol 1,15-20), „Veisöhnungslied" (Eph 2,14-16; Kol 2,13-15) und „Inkarnationslied" (IgnEph 19,2f; Joh 1,1 ff) einführt. 42 Formeln und Lieder 12. - Unklar bleibt allerdings, warum Magnificat und Benedictos für WENGST zwar .Hymnen' darstellen (vgl. ebd.), aber keine .Lieder1 - auch diese Stücke lassen sich doch (wie ein Blick in die einschlägigen Kommentare lehrt) „strophisch gliedern"! 43 VIELHAUER, Urchristliche Literatur 40-49, schließt sich in der Terminologie (,.Lieder") und Textauswahl im wesentlichen der Arbeit seines Schülers WENGST an, betont aber stärker den hypothetischen Charakter aller vorgelegten Analysen. Sein Resümee lautet: .Auch nach Wengsts und Deichgräbers Untersuchungen ist auf dem Gebiet der urchristlichen Lieder noch viel zu tun" (ebd. 48). Vor allem im Blick auf die Heranziehung von „ .heidnischem' Material" stellt er fest: „Erforderlich ist eine umfassende Sichtung und Sammlung des Materials und eine eingehende Formanalyse, bei der die Ergebnisse und Gesichtspunkte von Ed. Nordens Agnostos Theos sehr viel stärker als bisher zu berücksichtigen wären; beide Arbeitsgänge müssen ineinandergreifen und sich ergänzen." (ebd. 48f). 44 Im selben Zeitraum sind noch weitere Studien zu den neutestamentlichen .Hymnen' entstanden, deren Schwerpunkte jedoch nicht bei der formgeschichtlichen Fragestellung liegen. Sie seien - soweit mir bekannt geworden - hier anmerkungsweise aufgeführt: Einen von der exegetischen Diskussion gänzlich unabhängigen Ansatz vertritt J. SCHATTENMANN, Studien zum neutestamentlichen Prosahymnus (1965); unter dem Motto „Zahl und Rhythmus sind geistige Prinzipien" werden hier z.T. sehr willkürlich Textpassagen aus verschiedenen Bereichen (NT, Philon, Gnosis) als „Prosahymnen" tituliert, in denen mit Hilfe eigenwilliger Textkritik exakte silbennumerische Zahlenverhältnisse .entdeckt' werden. - Die wohl 1966 in Leeds eingereichte Magisterarbeit von C. E. EASON - Traces of Liturgical Worship in the Epistles with special reference to hymns, prayeis and creeds - behandelt je drei Texte als Vertreter der im Titel genannten Gattungen ("Hymns": Phil 2,6-11; lTim 3,16; Eph 5,14); der Autor beschränkt sich

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konsenses weitere Studien zu den einzelnen neutestamentlichen .Hymnen' wegen der Fülle der inzwischen zu berücksichtigenden Publikationen nun auch in Form von Monographien45. Die von SCHILLE, DEICHGRÄBER und WENGST ausgeklammerten cantica aus Lk 1—2 (v. a. Magnificat und Benedictas) wurden, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung, ebenfalls monographisch behandelt.46 Andererseits ist aber auch eine zunehmende Skepsis gegenüber den Rekonstruktionsversuchen frühchristlicher .Hymnen' aus neutestamentlichen Schriften zu beobachten. Die Gründe hierfür sind vielfältig: So wurde die Willkür, mit der mitunter in die Texte eingegriffen wurde, um die mutmaßliche ,Urfassung des Hymnus' wiederherzustellen, mehr und mehr als abschrek-

jedoch im allgemeinen auf das Referieren verschiedener Forschungsmeinungen und verzichtet auf jegliche Methodenreflexion. - Kultgeschichtlich interessiert ist L. L. THOMPSON, The Form and Function of Hymns in the New Testament (Diss. Chicago 1968); der Verf. geht von den hymnischen Stücken der Offb aus, die er als Reflex frühchristlicher Liturgik versteht und in Bezug zum zeitgenössischen jüdischen Gottesdienst setzt; von hier aus geht er noch etwas ausführlicher auf Kol 1,15-20 ein. - Religionsgeschichtlich orientiert ist J. T. SANDERS, The New Testament Christological Hymns (1971), der die Auswahl seiner Textbasis (Johannesprolog; Phil 2,6-11; Kol 1,15-20; Eph 2,14-16; Hebr 1,3; lTim 3,16; IPetr 3,18-22) nur sehr knapp begründet (a.a.O. 1 - 4 ) und diese „christologischen Hymnen" dann mit den Oden Salomos und Nag-Hammadi-Texten in Beziehung setzt. 45 Die meisten Monographien kann Kol 1,15-20 verbuchen: N. KEHL, Christushymnus (1967); ZEILINGER, D e r

Erstgeborene

d e r S c h ö p f u n g (1974); ALETTI, Colossiens

1,15-20

(1981); WEAVER, Colossians 1:15-20 a n d its F u n c t i o n in t h e L e t t e r (1982); vgl. a u c h die for-

schungsgeschichtlichen Arbeiten von GABATHULER, Jesus Christus: Haupt der Kirche - Haupt der Welt (1965); HÖCKEL, Christus der Erstgeborene (1965); AHRENS, Ökumenische Diskussion (1969); sowie „ z u m liturgischen G u t im Kol u n d E p h " (d. i. Kol 1 , 1 5 - 2 0 u. E p h 2 , 1 4 - 1 8 u n d ih-

re „Deutung und Bearbeitung" im Kontext beider Briefe) BUROER, Schöpfung und Erlösung (1975). - Vgl. zu Phil 2 , [ 5 ] 6 - l l : R . P . MARTIN, C a r m e n Christi (1967, 2 1983); BARTSCH, K o n k r e t e W a h r h e i t (1974); H o F i u s , Christushymnus (1976,

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1991); NAGATA, Philippians

2:5-11

(1981); WONG, From Humiliation to Exaltation (1986; mir nicht zugänglich). - Zu lTim 3,16: STENGER, Christushymnus (1977); METZGER, Christushymnus (1979). -

Z u J o h 1 , 1 - 1 8 : THEO-

BALD, Im Anfang war das Wort (1983); HOFRICHTER, Im Anfang war der .Johannesprolog" (1986). - Vgl. a u ß e r d e m ZUTPHEN, Studies o n t h e H y m n in R o m a n s 1 1 , 3 3 - 3 6 (1972), WISCH-

MEYER, Der höchste Weg (1981, zu lKor 13), und LOH, A Study of an Early Christian Hymn in Π Tim. 2:11-13 (1968). - Außerneutestamentliche Texte des 2./3. Jh.s (vgl. dazu auch die 1972 von J. J. THIERRY zusammengestellte Anthologie "Christ in Early Christian Greek Poetry") wurden untersucht von BRIOSO SANCHEZ, Aspectos y problemas del himno cristiano primitivo (1972) und WOLBERGS, Griechische religiöse Gedichte der ersten nachchristlichen Jahrhunderte (1971); zum letzteren vgl. A KEHL, Beiträge zum Verständnis einiger gnostischer und frühchristlicher Psalmen und Hymnen (1972). 46 Zu allen vier Texten: FARRIS, The Hymns of Luke's Infancy Narratives (1985); nur zu Magnificat und Benedictas : KAUT, Befreier und befreites Volk (1990); (MITTMANN-JRICHERT, Magnifikat und Benediktus (Diss. Tübingen 1994; Buchausgabe 1996). - Siehe zu den genannten Arbeiten die Bemerkungen von KENNEL, Frühchristliche Hymnen 34-36.

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kend empfunden.47 Ernüchternd wirkte auf längere Sicht auch der Nachweis, daß die „Lieder" in der Johannesoffenbarung literarische Bildungen des Verfassers sind - und demnach weniger Aufschluß über den frühchristlichen Gottesdienst als über die literarische Komposition der Offb geben.48 Und schließlich wurde eine neue Perspektive eröffnet durch die Einsicht, daß Hebr l,3[f] nicht als ehemals selbständiger Hymnus vom Kontext isoliert werden kann, sondern das ganze Stück Hebr 1,1-4 eine kunstvoll gestaltete Einheit darstellt: eine feierliche Eröffnung nach den Gepflogenheiten antiker Rhetorik (exordium).49 So fehlt es heute nicht an Stimmen, die der „Undefinierten Restkategorie"50 .Hymnus' ganz den Abschied geben wollen.51 KLAUS BERGER hat 1984 im Rah47 Dies gilt bes. für Kol 1,15-20; vgl. dazu die neuesten Kommentare von SCHWEIZER ( E K K XI,

1976), GNILKA ( H T h K X/L, 1980), LINDEMANN ( Z B K . N T 1 0 ,

1983), POKORNY

(ThHK X/L, 1987) und WOLTER (ÖTK 12, 1993; hier ist auch der Begriff .Hymnus' mit seinen poetischen Implikationen aufgegeben und im Anschluß an BERGER [s.u.] durch .Enkomion' ersetzt), die gegenüber den meisten Streichungen übereinstimmend zurückhaltend sind. 48 Vgl. schon DELLING, Zum gottesdienstlichen Stil der Johannesapokalypse (1959); diese Sicht auch bei DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 4 4 - 5 9 (bes. 58f). Ausführlich hat sich JÖRNS, Das hymnische Evangelium (1971), mit den „hymnischen Stücken in der Johannesoffenbarung" befaßt; er arbeitet - aufbauend auf den Ergebnissen von DELLING und DEICHGRÄBER - bes. die Funktion der betreffenden Passagen im Gesamtkontext der Offb heraus. Den hier eingeschlagenen Kurs behält auch HARRIS, The literary function of hymns in the Apocalypse of John (1988), bei; ihn interessieren die Hymnen der Offb unter nanatologischen ("embedded narratives") und rhetorischen ("instances of epídeictic rhetoric") Aspekten sowie in ihrer Rollenkonstruktion für den Impliziten Leser als potentiellem Märtyrer. 49 Grundlegende Analyse: GRÄSSER, Hebr 1 , 1 - 4 (EKK Vorarbeiten 1971). Die hier noch vorsichtig formulierten Erkenntnisse führt der Verfasser in seinem großen Kommentar (EKK XVn/1, 1990) konsequent durch; sie bestimmen auch die Auslegung in den neuesten Kommentaren von HEGERMANN (ThHK XVI, 1988), ATTRIDGE (Hermeneia [17], 1989) und H.-F. WEISS (KEK X m , 1991). Vgl. auch den unten Anm. 51 genannten Aufsatz von FRANKOWSKJ. - Die gleiche Entwicklung läßt sich auch in bezug auf Eph 1 , 3 - 1 4 feststellen: Der Abschnitt wird heute von den meisten Exegeten als eine vom Verfasser des Eph gestaltete .Briefeingangseulogie' angesehen (so schon DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 65 - 7 6 [s.o. Anm. 37]; vgl. zusammenfassend und mit weiterer Literatur SCHNACKENBURG, EKK X [1982], 42ff; LINCOLN, WBC 42 [1990], 8 ff). 50 So SCHENK, Christus - das Geheimnis der Welt 144 (1983), zu Kol 1,15-20, und ders., Philipperbriefe (1984), 194; Philipperbrief (ANRW, 1987) 3300, zu Phil 2 , 6 - 1 1 . Vgl. jetzt auch deis., Art. Poesie Π. (NT), T R E 26 (1996), 748-752. 51 Grundsätzliche Skepsis haben, von Einzeltexten ausgehend, gleichzeitig (1983) auch RIESENFELD, Unpoetische Hymnen im Neuen Testament? Zu Phil 2,1-11, und FRANKOWSKI, Early Christian Hymns Recorded in the New Testament (ausgehend von Hebr 1,3) geäußert. A. G. So ETTING beantwortet seine 1991 im Bulletin des „Internationalen Arbeitskreises für Hymnologie" gestellte Frage: „Hat Paulus in seinen Briefen aus existierenden Hymnen zitiert?" (Titel) ebenfalls negativ; vgl. ders., Das Singen von Psalmen in den Kirchen der eisten Jahrhunderte (diese beiden Aufsätze verdanke ich der freundlichen Vermittlung von Gunter Kennel).

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men seines neuen Konzepts von .Formgeschichte', das grundsätzlich an antiken Gattungen orientiert ist, eine immense Zahl antiker Texte als Vergleichsmaterial herangezogen - darunter auch Hymnen; für die neutestamentlichen Texte Phil 2,6-11; Kol 1,15-20; lTim 3,16; Joh 1,1-18 und Hebr l,3f, die „bislang fälschlich" als .Christushymnen' etikettiert worden seien, schlägt BERGER die Gattungsbezeichnung JEnkomion' vor.52 Dieser aus der antiken Rhetorik entnommene Begriff bezeichne „die lobende Darstellung eines Menschen", und BERGER findet in den genannten Textpassagen speziell ein hellenistisch-jüdisches Enkomion-Schema mit der Abfolge ,Wesen/Herkunft Taten - Ruhm' (als Vergleichsbasis dient bes. Sir 44-50). Aber abgesehen davon, daß sich dieses Schema zumindest in Kol 1,15-20 und lTim 3,16 nur unter exegetischen Verrenkungen finden läßt53, ist die Gattungsbestimmung .Enkomion' auch nur bedingt hilfreich: In den antiken Rhetorik-Theorien schließt sie als Oberbegriff für die Gattung der Lobrede die nähere Klassifizierung eines Textes als (Prosa-)Hymnus keineswegs aus.54 Damit ist aber die Frage nach der Gattung der fraglichen Texte wieder völlig offen - es ist nicht einmal sicher, ob sie alle derselben Gattung angehören. Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in den letzten zusammenfassenden Beiträgen zum Thema wider: MARTIN HENGEL hat 1 9 8 7 einen Aufsatz über „Das Christuslied im frühesten Gottesdienst" veröffentlicht, der in erster Linie am ,Sitz im Leben' der .hymnischen' Texte des frühen Christentums interessiert ist. HENGEL nähert sich dem ,,schwierige[n] Thema"55 mit großer Vorsicht, indem er zunächst von den Zeugnissen über das gottesdienstliche Lied bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts ausgeht; aufgrund der Nachrichten kommt er zu dem Schluß, daß die Lieder der frühesten gottesdienstlichen Versammlungen formal von den LXX-Psalmen abhängig gewesen seien, so daß man „eher von urchristlichen JPsalmen' als von .Hymnen' sprechen"56 sollte. Erst dann wendet sich HENGEL den in Frage kommenden neutestamentlichen Texten (IKor 8,6; Rom 1 1 , 3 3 - 3 6 ; Eph 5,14; als .Christuspsalmen' Phil 2 , 6 - 1 1 ; lTim 3,16; Hebr 1,3; Kol 1 , 1 5 - 1 8 [sie!]; IPetr 2 , 2 1 - 2 5 ; IPetr 3,18 [„eventuell als Fragment"] und Joh 1 , 1 - 1 8 ) 5 7 zu, bei deren Durchsicht auf Schritt und Tritt eine vorsichtige Zurückhaltung deutlich wird.58 52 Hellenistische Gattungen im NT (ANRW) 1173-1195; Foimgeschichte 344-346 (vgl. 239-247). 53 Vgl. Gattungen 1189f: Bei Kol 1,15-20 (eindeutig zweiteilig aufgebaut) sei aufgrund der Veiselbständigung von Präexistenz und Erhöhung die mittlere Phase des Schemas „ganz ausgefallen"; bei lTim 3,16 liege „der paradoxe Spezialfall eines passivischen Enkomions vor". 54 Das zeigt bereits der Blick in ein gängiges Lexikon der Antike: vgl. ZIEGLER, KP Π (1967), 1270 (s. v. Hymnos). 55 Christuslied 357 Anm. 1. 56 Christuslied 393. 57 Diese Textauswahl - noch ergänzt durch die Ignatiusstellen Eph 7,2; 19; 18,2 - folgt weitgehend der Arbeit von DEICHGRÄBER (vgl. a.a.O. 399 Anm. 143). Die von DEICHGRÄBER

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Die 1988 unter dem Titel "Hymnology in the New Testament" vorgelegte Dissertation von G L O R I A VAN DONGE 59 benennt zunächst stichwortartig eine Reihe von "problems encountered in research"® und versucht dann auf relativ breitem Raum, den musikalisch-technischen Hintergrund61 sowie die spezifisch „hymnologische" Terminologie der neutestamentlichen Autoren62 zu beleuchten. Die Besprechung der neutestamentlichen Texte, "which have been described as hymns" (die lukanischen cantica, ITim 3,16; Ëph 5,14; Phil 2,6-11; Kol 1,15-20; 2Tim 2,llb-13a; Johannesprolog und die hymnischen Stellen der Offb)63, besteht aus weitgehend unkritischen und auf englischsprachige Beiträge beschränkten64 Forschungsreferaten, wobei die Autorin als Eigenbeitrag lediglich zu den einzelnen Texten die "intention to praise" explizit herausstellt. Von hier aus beschäftigt sich die "summary" mit der Frage nach einer Definition des .Hymnus' - seiner Unterscheidung von .Bekenntnis' ("creed") und ,Gebet', seiner Gestaltung als Poesie oder rhythmische Prosa,

abweichende Abgrenzung Kol 1,15-18 dürfte auf die entsprechende, eigenwillige Druckwiedergabe in der 26. Aufl. des NT Graece (edd. NESTLE/ALAND) zurückgehen; in der inzwischen (1993) erschienenen 27. Auflage geht der in Sinnzeilen gegliederte Abschnitt - gemäß dem fast einhelligen Forschungskonsens - bis v. 20. 58 Vgl. bereits die einleitenden Hinweise auf das Fehlen der Wahrnehmung von .Hymnen' in der älteren Exegese („Das sollte zu denken geben."), auf die umstrittene Anzahl solcher Texte, auf die „spekulative Phantasie" mancher Exegeten und auf „methodische Schwierigkeiten" (Christuslied 394). Zu IKor 8,6 fragt HENGEL: „Stammt [die Formel] aus einem in Korinth gesungenen Lied, aus einem Taufbekenntnis oder ist sie von Paulus zur Sache in .hymnischer Prosa' frei formuliert?" (ebd. 395). Ähnlich zu Rom 11,33-36: „Doch wer will entscheiden, ob nicht Paulus selbst die vorzüglich in den Kontext passenden hymnischen Verse ad hoc gedichtet hat, so daß sie nur ein literarisches Leben besaßen und nie im Gottesdienst gesungen wurden?" (ebd. 396). Vgl. noch zu Phil 2,6-11: „Daß, wie gerne aus stilistischen Gründen behauptet wird, Paulus den Psälm nicht verfaßt haben könne, läßt sich nicht beweisen." (ebd. 402). 59 Die schwer zugängliche Arbeit (keine Ortsangabe!) wurde mir freundlicherweise von Gunter Kenne! als Kopie zur Verfügung gestellt. - Da als Betreuer ("Lecturer") der Arbeit Michael Lattke genannt ist, muß diese in Queensland, Australien, angefertigt worden sein, wo Lattke seit 1981 (seit 1986 als Associate Professor) lehrt. 60 Hymnology 1 - 5 . 61 Hymnology 6-34. 62 Hymnology 35-45. Besprochen werden hier die Begriffe ψαλμός, ϋμνος, ώδή, αίνέω, όμολογέω, δοξάζω, εύλογέω, εύχαριστέω, μεγαλύνω sowie προσκυνέω und τιμή. 63 Hymnology 46-86, Zitat: 46. Ein weiteres Kriterium für die Textauswahl wird nicht genannt, obwohl es doch noch eine Reihe weiterer Textstellen gäbe, "which have been described as hymns". 64 Der einzige im Literaturverzeichnis angegebene deutschsprachige Titel ist SCHILLE, Frühchristliche Hymnen; dieses Buch wird jedoch nur dreimal - offenbar aus zweiter Hand - in englischer Übersetzung zitiert. - .Englischsprachige Beiträge' sind natürlich auch die Artikel der englischen Übersetzung des ThWNT (TDNT) und ins Englische übersetzte Kommentare u n d A u f s ä t z e v o n A u t o r e n wie BULTMANN, DIBELIUS o d e r KÄSEMANN.

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Kriterien zu seiner Abgrenzung gegenüber dem Kontext65 - , wobei die methodische Unsicherheit schon dadurch augenfällig wird, daß fast alle Sätze dieses letzten Teils der Arbeit in Frageform formuliert sind.66 Eine Gesamtdarstellung der „Liturgie im Neuen Testament" haben 1991 PIERRE GRELOT U. a. im Rahmen einer zehnbändigen Einleitung in das Neue Testament vorgelegt.67 Entsprechend dem überblickshaften Charakter des Werkes ist eine kritische Auseinandersetzung mit Gattungskriterien nicht intendiert68; besprochen werden als «Réflexion théologique sur la liturgie» der Hebräerbrief und die Johannesoffenbarung69, dann als «Apports liturgiques des épîtres» die paulinischen Briefe (darin als «Hymnes des premières générations chrétiennes» einerseits die «Passages poétiques chez Paul» lThess l,9f; Rom 16,25 - 2 7 ; 2Kor 4,7-10; 6,3-10; andererseits die «Hymnes proprement dites» Phil 2,5-11; Kol 1,15-20; Eph 1,3-14; lTim 3,16; 2Tim 2,11-13) und der 1. Petrusbrief (darin u. a. 2,22- 24 als «Hymne au Christ, Serviteur souffrant» und 3 , 1 8 - 2 2 als «Typologie du baptême»)70 und schließlich als «Psaumes, hymnes et cantiques chrétiens» die cantica des Lukasevangeliums und der Prolog des Johannesevangeliums.71 Ebenfalls 1991 erschien ein Werk von MICHAEL LATTKE, das hinter dem bescheidenen Titel „Hymnus" ein um so ehrgeizigeres Unternehmen verbirgt: Der Autor möchte die gesamte antike Hymnologie - vom 2. Jahrtausend

65 Hier (Hymnology 8 7 - 9 8 , bes. 93ff) werden weitgehend die schon bekannten Kataloge (s.o. Anm. 25) referiert: Spannung zum Kontext, einleitende und/oder abschließende Formeln, Beginn mit einem Relativsatz [sic: "The clearest sign indicating the presence of liturgy in an epistolary composition is that the opening is marked by a relative clause"!], Parallelismus (membroium), Klimax, Chiasmus, Rhythmus und klangliche Entsprechungen, ungewöhnliche Konstruktionen und seltene Wörter; die Autorin fügt als zusätzliches Kriterium die lobende Intention hinzu. 66 Immerhin gibt die Verfasserin der schönen Hoffnung Ausdruck: "Perhaps with the answers to some of these questions], one may find a definition to describe a hymn in the New Testament." (a.a.O. 98). - Der Ertrag dieser Arbeit erschien offenbar auch dem Betreuer - MICHAEL LATTKE - unbefriedigend, denn sonst hätte er sie wohl in seiner 1991 veröffentlichten Studie ,Hymnus' im entsprechenden Zusammenhang (vgl. unten Anm. 74) angeführt. 67 La Liturgie dans le Nouveau Testament ( = Introduction à la Bible - Édition nouvelle, tome ΙΠ [Le Nouveau Testament], vol. 9). 68 Zumindest M. CARREZ, der den Beitrag über die paulinischen Briefe verfaßt hat, ist sich jedoch der Unsicherheit und des subjektiven Faktors bei der Rekonstruktion frühchristlicher Hymnen aus neutestamentlichen Texten bewußt, wenn er in der Einleitung des betreffenden Abschnitts schreibt: «Constituent-ils pour autant une hymne proprement dite? C'est une question qui dépend en partie de ce que l'en entend par hymne. Pièce indépendante? rhythmée? poétique? avec une strophique bien marquée? D'un usage antérieur à sa citation par l'auteur de la lettre qui peut soit la citer, soit l'avoir composée?» (Liturgie 209). 69 Liturgie 1 5 9 - 1 8 7 (P. GRELOT/E. COTHENET). 70 Liturgie 1 9 1 - 2 3 8 (M. CARREZ/E. COTHENET). 71 Liturgie 2 3 9 - 2 9 3 (P. GRELOT/G. ROCHÁIS).

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v. Chr. bis zum Ausgang der Antike, vom Mittelmeerraum bis nach China unter Berücksichtigung der relevanten Forschungsliteratur erfassen. Dieser immense Anspruch - ursprünglich sogar im Rahmen eines Lexikonartikels geplant72 - ist jedoch selbst nach jahrelanger Arbeit und auf 500 Seiten nicht einzulösen, und so ist das Buch letztendlich nicht mehr - aber auch nicht weniger - als eine fast vollständige73, knapp kommentierte Materialsammlung zum Thema. In diesem Rahmen werden auch einige neutestamentliche Textpassagen und kontroverse Forschungspositionen zu diesen aufgeführt, ohne daß LATTKES eigene Studie zu einer Klärung der umstrittenen Fragen beitragen kann.74 Dabei wirkt sich besonders das Fehlen einer klaren Gattungsbestimmung aus75, aber auch systematische Beobachtungen zur Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten antiker Hymnen hätten hier weiterhelfen können. Als bezeichnend für die unsichere Situation neutestamentlicher Hymnenforschung erscheint mir der Umstand, daß für die 1991 in Zürich abgehaltene Tagung unter dem Titel „Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich", deren Vorträge 1994 in Buchform veröffentlicht wurden, kein neutestamentlicher Beitrag vorliegt.76 Zwar entzieht es sich meiner Kenntnis, ob von vornherein keine entsprechende Einladung ausgesprochen wurde oder ob kein Referent gefunden wurde - aber beides würde die bereits festgestellte Forschungslage gleichermaßen illustrieren. Der 1994 erschienene RAC-Artikel .Hymnus' von KLAUS THRAEDE77 verweist für den Bereich des Frühchristlich-Liturgischen („alles, was christlich

72 Nach LATTKE, Hymnus V n - V m (= „Vorwort"), sollte die Arbeit ein Beitrag für das RAC werden. 73 Daß dem Verfasser bei einem so gewaltigen Forschungsfeld hier und da noch ein Text entgangen ist, ist wohl unvermeidlich und sollte den Respekt vor der geleisteten Arbeit nicht mindern. - Durch die vorliegende Arbeit wird LATTKES Zusammenstellung v. a. um folgende Texte ergänzt, deren Autoren bei ihm ganz fehlen: Die Hymnen in den Dramen S e n e c a s (s. u. S. 103ff); der .Gebetshymnus' an die Philosophie bei Cicero, Tusc. V 5 (s. u. Kap. m . 2a); die .hymnischen' Stellen in der pseudo-aristotelischen Schrift Περί κ ό σ μ ο υ (s. u. S. 234 Anm. 21). Bei einigen anderen Autoren (Ζ. Β. Ovid, s. u. S. 98ff) werden LATTKES Angaben der .hymnischen' Stellen vervollständigt. 74 Vgl. LATTKE, Hymnus 227-235 (ebd. 237-242 zu Apostolischen Vätern und frühen Apologeten; 243 - 2 6 7 zu weiteren außerkanonischen christlichen Schriften). Ähnliches gilt für die Abschnitte über das Alte Testament („TeNaK und LXX"), ebd. 97-103, und über die außerkanonischen jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, ebd. 105-121. 75 LATTKE, Hymnus 3, begnügt sich mit einer sehr allgemeinen, nur inhaltlich bestimmten Definition („Preislied auf einen Gott, Helden oder erhabenen Gegenstand [...]"), die weder durch strukturelle noch durch motivische Merkmale weiter spezifiziert wird. 76 Die Themen der Beiträge sind: Griechische Hymnoi (WALTER BURKERT), Sumerische und akkadische Hymnen (DIETZ O. EDZARD), Verkünden und Verklären - Grundformen hymnischer Rede im alten Ägypten (JAN ASSMANN), Hymnen der Hethiter (GERNOT WILHELM), Indoiranische Hymnen (EVA TICHY), Alttestamentliche .Hymnen' (HERMANN SPIECKERMANN); dazu kommt ein Nachwort des Herausgebers FRITZ STOLZ: Vergleichende Hymnenforschung.

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Hymnodik heißen kann") auf das in einem späteren Band zu erwartende Stichwort ,Lied', da der „Hauptgegenstand des vorliegenden Artikels]" der rein literarische Hymnus sei.78 Unter der Überschrift „Methodisches u[nd] Sachliches zur altchristl[ichen] Hymnodik"79 geht THRAEDE jedoch knapp auf die uns interessierende Zeit ein: Sein Urteil zum (nach VIELHAUER „vorliterarischen") Frühstadium der christlichen Hymnodik ist kurz und nüchtern: der Streit, ob es sich im NT um H[ymnen], .Lieder*, um ,gesungenes Bekenntnis' usw. handelt, fruchtet schwerlich"80. An die exemplarische Nennung der schon von JOSEF KROLL als „eine Art Symbol" und später als „Lied" bezeichneten Stellen lTim 3,16 und 2Tim 2,11 schließt sich eine Auseinandersetzung mit KROLLS Darstellung der christlichen Hymnodik an; insbesondere seine romantisierende Zusammenschau von „Hymnus und Ekstase" erfährt Kritik.81 Generell fordert THRAEDE eine formgeschichtliche Definition des Begriffs .Hymnus', die dessen unbestreitbare Nähe zum Gebet berücksichtigt, beide Gattungen aber doch deutlich differenziert und nach Möglichkeit den literarischen vom liturgischen Hymnus unterscheidet; sein eigener Beitrag will eine solche Definition vorbereiten, indem er die „Schwierigkeiten der Differenzierung" anhand einer breiten Textbasis darstellt und versucht, „eine Abgrenzung des (literarischen) H[ymnus] vom Lied plausibel zu machen".82 Der jüngste mir bekannte Beitrag zum Thema ist die 1995 veröffentlichte Arbeit von GUNTER KENNEL: „Frühchristliche Hymnen? Gattungskritische Studien zur Frage nach den Liedern der frühen Christenheit".83 KENNEL stellt zutreffend heraus, daß es in der neutestamentlichen Hymnenforschung bislang an einer einheitlichen und eindeutigen Gattungsbestimmung („das, was nach Form und Inhalt ein frühchristlicher Hymnus ist") fehlt und daß die Frage, „ob die immer wieder diskutierten Texte einer Gattung zugehören oder mehreren Textsorten zuzuordnen sind", nach wie vor offen ist.84 Ausgehend von einer „gattungstheoretischen Grundlegung" 85 erarbeitet KENNEL eine sprachwissenschaftlich orientierte Analysemethode für griechische Texte, die

77 Für diesen Artikel - innerhalb der RAC-Lieferung 126 bereits im Mai 1993 zugänglich - war ursprünglich M. LATTKE verpflichtet; vgl. oben Anm. 72. 78 Vgl. THRAEDE, Hymnus 922 u. 941. 79 Hymnus 935-941; für unsere Fragestellung ist bes. 9 3 6 - 9 3 9 („Frühkirche und Umwelt") von Interesse. 80 Hymnus 936 (unter Hinweis auf RIESENFELD, Unpoetische Hymnen; W. PÖHLMANN, AllPrädikationen; HENGEL, Christuslied; DIBELIUS, ThR 1931,219-225). 81 Hymnus 936-939. 82 Vgl. bes. Hymnus 927f, 935f u. (Zitate:) 941; zu antiken Definitionsversuchen: 922-924. 83 Überarbeitete und neu gesetzte Fassung der gleichnamigen Dissertation von 1993. 84 Frühchristliche Hymnen 45 f; vgl. 1 - 4 . 85 Vgl. Frühchristliche Hymnen 4 7 - 6 5 ; diese ist vor allem dem Sprachwissenschaftler WOLFGANG RAÍBLE v e r p f l i c h t e t .

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hier zu mehr Klarheit führen soll.86 Diese Methode wird exemplarisch an drei einschlägigen neutestamentlichen Texten angewandt: Lk l,46b-55; Phil 2,6-11 und Offb 19,1-δ. 87 Abschließend werden die drei Texte nach den Parametern der Analyse88 miteinander verglichen, wobei sich jeweils auf einer relativ abstrakten Ebene Übereinstimmungen ergeben, ansonsten aber die individuelle Gestaltung jedes einzelnen Textes deutlich wird.89 Die uns besonders interessierende Frage: „Gehören die drei untersuchten Texte zu einer Gattung frühchristlicher Hymnus'?"90 wird im Rückgriff auf die anfangs erstellte „gattungstheoretische Grundlegung" verneint; allenfalls für Lk l,46b-55 und Offb 19,1-8, die eine größere Zahl von Übereinstimmungen aufweisen, erwägt KENNEL eine gemeinsame Gattung .literarischer Hymnus' (,Sitz im Leben' „nicht in einem ursprünglichen institutionellen Rahmen, sondern in einem literarischen Umfeld").91 In bezug auf Phil 2,6-11 möchte der Verfasser die Bezeichnung Jiymnus' lieber vermeiden: „Am ehesten könnte der Abschnitt noch als durchgeformter christologischer Bekenntnistext bezeichnet werden, ohne daß zunächst damit der Anspruch auf eine Gattungsbestimmung erhoben werden könnte."92 Wenngleich KENNEL um einen differenzierteren Umgang mit den Begriffen .Hymnus' und .hymnisch' bemüht ist, so gilt das gleiche leider nicht für die ebenfalls umstrittenen Zuweisungen .Poesie' und .poetisch'. Hier bleibt er bewußt „vorwissenschaftlich" und begnügt sich mit dem Hinweis auf „Wortwiederholung[en], Parallelismus, Chiasmus, Dreiergruppen".93 Sind diese Stilmit-

86 Vgl. Frühchristliche Hymnen 6 6 - 7 9 (Darstellung der sprachwissenschaftlichen Analysem e t h o d e d e s A l t t e s t a m e n t l e r e WOLFGANG RICHTER) U. 8 0 - 1 3 8

(Modifikation der

genannten

Methode im Blick auf griechische Texte). 87 Vgl. Frühchristliche Hymnen 139-264; siehe zur Auswahl der Texte ebd. 137f. 88 Strukturale Form (Wortarten, Wortfügungen, Satzarten, Satzfügungen; individueller/geprägter Sprachgebrauch, Wortwiederholungen, parallele Strukturen, chiastische Anordnung, Dreiergruppen), ornamentale Form (Lautstruktur, rhythmische Struktur), Objektbereich (Themen, Personen/Rollen), Kommunikationssituation, Wirklichkeitsbezug, übergeordnete Ordnungsstrukturen. 89 Frühchristliche Hymnen 265 - 2 8 1 . 90 Frühchristliche Hymnen 273. 91 Frühchristliche Hymnen 273-276. 92 Frühchristliche Hymnen 276. - D a ß zu einer weiteren Klärung der offenen Gattungsfragen auch die übrigen in der Forschung als .Hymnen' bezeichneten neutestamentlichen und frühchristlichen Texte einer Analyse nach dem vorgegebenen Muster unterzogen werden müßten (vgl. ebd. 277-281), versteht sich wohl von selbst. Interessant ist jedoch der abschließende Hinweis auf die zu vermutenden vielfältigen Einsatzmöglichkeiten .hymnischer' Texte (als .Universaltexte' in doppeltem Sinn; ebd. 279 ff). 93 Frühchristliche Hymnen 54, Anm. 29, und ebd. 120. In der Textanalyse selbst werden unter der Überschrift „Poetische Sprachmerkmale" die drei Punkte „Wortwiederholungen", „Parallele Strukturen" (hierunter wird auch der Chiasmus subsumiert) und „Dreiergruppen" aufgeführt; siehe ebd. 1 5 9 - 1 6 2 , 2 0 2 - 2 0 4 u. 243 - 2 4 5 .

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tel oder -merkmale demnach in der Prosa nicht anzutreffen?94 Mir scheint, daß der Verfasser an diesem Punkt noch den entsprechenden Kriterienkatalogen der neutestamentlichen .Hymnenforscher1 verhaftet bleibt, die oben wegen ihres unpräzisen Charakters in Frage gestellt worden sind.95 Damit wird aber zugleich die Grenze seines Ansatzes deutlich: Wie die meisten der oben vorgestellten und kritisierten Autoren geht auch KENNEL ausschließlich von neutestamentlichen Texten aus und nimmt sie nicht - oder nicht genügend - im Rahmen der antiken Literaturgeschichte (und speziell der Hymnenproduktion) wahr.96 Die Rekapitulation der Forschungsgeschichte hat m. E. deutlich gemacht, daß die Frage nach neutestamentlichen Hymnen einer dringenden Klärung im Zusammenhang antiker Hymnen und verwandter Gattungen bedarf. Vor allem an den Beiträgen von BERGER, LATTKE und THRAEDE, die bereits in diese Richtung weisen, läßt sich die Notwendigkeit eindeutiger Gattungsdifferenzierungen (.Hymnus', ,Gebet', ,Prosahymnus', ,Enkomion') ablesen. Aber auch die Erkenntnisse zum exordium des Hebräerbriefes oder den hymnischen Abschnitten der Johannesoffenbarung sind hier zu berücksichtigen, weil sie die Möglichkeit ins Bewußtsein rufen, daß .Hymnen' oder hymnenähnliche Passagen innerhalb einer anderen Textgattung eine literarische Funktion haben können, ohne vorher selbständig existiert zu haben. Gibt es dafür antike Analogien außerhalb des Neuen Testaments? In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach dem ,Sitz im Leben' an antike Hymnen zu stellen: Verweist die Gattungsbestimmung .Hymnus' wirklich zwangsläufig auf eine Verwendung im Kult? So soll in der vorliegenden Arbeit versucht werden, die Erforschung hymnischer' Stellen im Neuen Testament durch die ausgiebige Berücksichtigung 94 Anders gefragt: Ist demnach Phil 3,2f, wo sich genau die vier genannten Kriterien auf engem Raum antreffen, .poetisch'? 95 Siehe oben S. 5 m. Anm. 25, S. 6f u. 8. - Einen sehr großzügigen Poesiebegriff vertritt auch G. P. LUTTIKHUIZEN, The Poetic Character of Revelation 4 and 5 (der einzige neutestamentliche Beitrag in der 1993 erschienenen Sammlung "Early Christian Poetry"). 96 Der Gerechtigkeit halber muß gesagt werden, daß KENNEL sich bei der Darstellung seiner Methode zur „Analyse der ornamentalen Form" eines Textes (Lautstruktur und rhythmische Gestalt; siehe Frühchristliche Hymnen 132-136) differenziert mit der historischen Entwicklung von Aussprache und Rhythmus befaßt und dabei Kenntnisse griechischer Metrik erkennen läßt; er wertet diese jedoch nicht für seine Definition von .Poesie' aus, sondern rückt stattdessen die von ihm untersuchten Texte „den Merkmalen semitischer Dichtung nahe" (ebd. 134). - Seine Bestandsaufnahme zur antiken Begrifflichkeit (ebd. 7 - 1 2 ) dient lediglich dazu, antike Definitionsversuche des Begriffs .Hymnus' als unzureichend herauszustellen; hierbei stützt sich der Verf. fast ausschließlich auf Sekundärliteratur und unterläßt es, antike Hymnen miteinander zu vergleichen. KENNELS abschließende Liste von Texten, die einer erneuten Analyse zu unterziehen wären, zeigt jedoch, daß ihm die Notwendigkeit der Einbeziehung nichtchristlicher .hymnischer' Texte durchaus bewußt ist (vgl. ebd. 277 m. Anm. 19).

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der antiken Literaturtheorie und -praxis ein Stück voranzubringen.97 Um der Gefahr von anachronistischen Projektionen zu entgehen (und zugleich die ungeheure Masse der einzubeziehenden antiken Texte etwas zu reduzieren), will ich die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. als zeitliche Obergrenze betrachten: Zu diesem Zeitpunkt ist die Entstehung der frühchristlichen Schriften (Neues Testament und Apostolische Väter) abgeschlossen, so daß der zeitgenössische Rahmen vollständig abgesteckt ist. Spätere Entwicklungen wie der Wandel in der Metrik98 oder die zunehmende Systematisierung der (Unter-) Gattungen in der rhetorischen Theorie bleiben dagegen bewußt ausgeklammert. Einzusetzen ist bei der Unterscheidung zwischen .Poesie' und JProsa', die in der gegenwärtigen Exegese weitgehend gefühlsmäßig (und unter dem Einfluß eines neuzeitlichen Poesieverständnisses)99 gehandhabt wird: Objektive und eindeutige Kriterien, ob ein antiker griechischer Text als ,poetisch' oder prosaisch' anzusehen ist, können nur die Äußerungen antiker Theoretiker liefern; sie sollen auch darüber befragt werden, welche Rolle in diesem Zusammenhang dem .Parallelismus' (oder parallelismus membrorum) zukommt. Erst nach dieser notwendigen Vorklärung, die in Kap. I dieser Arbeit erfolgen soll, kann eine Differenzierung der in die Diskussion geworfenen Begriffe ,Hymnus' und ,Enkomion' versucht werden, die ihren Ursprung im poetischen Raum haben (Kap. II. 1). Hier sollen synchrone und diachrone Vorgehensweise ergänzend ineinandergreifen, indem einerseits (mit Hilfe antiker theoretischer Äußerungen) die gattungstypischen Merkmale (Struktur, Motivik) herausgearbeitet werden und andererseits anhand ausgewählter Beispiele die Möglichkeiten der individuellen Ausgestaltung und der literarischen Verwendung aufgezeigt werden (differenzierte Frage nach dem ,Sitz im Leben'); die Vorstellung wichtiger Einzeltexte soll zugleich einen Überblick über die Entwicklung der beiden Gattungen geben. Wegen der engen Zusammengehörigkeit des griechisch-römischen Kulturraums in hellenistischer Zeit sind selbstverständlich außer griechischen auch lateinische Texte in die Untersuchung miteinzubeziehen. Exkursweise muß außerdem auf die Frage nach . H y m n e n ' im Alten Testament eingegangen werden, weil dieser Hintergrund für die neutestamentlichen Autoren ebenso wichtig ist; eine umfassende Berücksichtigung des alttestamentlich-jüdischen Bereichs wäre jedoch Stoff für eine ei97 Damit werden die bes. von RIESENFELD, Unpoetische Hymnen (s.o. Anm. 51) 157-162, nachdrücklich gestellten, bislang ,,Unbeachtete[n] Fragen" (Überschrift) aufgegriffen und so hoffentlich auch die oben Anm. 43 zitierte Forderung von VIELHAUER eingelöst. 98 In spätantiker Zeit vollzog sich ein Wechsel von der quantitierenden zur akzentuierenden Metrik; vgl. dazu SNELL, Metrik 5. 99 Das gilt besonders für den „Inauguratoi" ERNST LOHMEYER, der zum Kreis um STEFAN GEORGE gehörte (schon von H. WINDISCH in seiner Rez. zu .Kyrios Jesus', ThLZ 54 [1929], 2 4 6 - 2 4 8 , spez. 247, hervorgehoben; vgl. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 15, sowie G.HAUFE, T R E 21 [1991], 4 4 4 - 4 4 7 , spez. 445).

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gene Untersuchung und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Im Bereich der Prosa (Kap. II. 2), wo unter JBnkomion' allgemein die Lobrede verstanden wird, ist zunächst die rhetorische Theorie in ihrer ganzen Breite zu berücksichtigen.100 Gemäß der Aufteilung in die drei Redegattungen - die beratende, die gerichtliche und die epideiktische Rede101 - haben wir es hier mit der dritten Gattung, dem γένος έπιδεικτικόν, zu tun (zu dem außer Lob auch das Gegenteil, der Tadel, gehört). Um ein historisch differenziertes Bild zu bekommen, sollen die einzelnen Rhetorik-Lehrbücher nacheinander in bezug auf ihre Definition und Vorschriften dieses Genos befragt werden. Im Anschluß an die Darstellung der Theorie (und zugleich zu deren Überprüfung) sollen auch hier Entwicklung und Variationsbreite der Gattung anhand von Beispielen aus der Praxis demonstriert werden.102

100 KENNEL, Frühchristliche Hymnen 40f, kritisiert zu Recht, daß BERGER, Gattungen, sich eklektisch „an bestimmten antiken Autoren" orientiert und stillschweigend „von einem Konsens der antiken Autoren" ausgeht. - Überdies müssen BERGERS Mitteilungen über die Quellenlage zum Prosahymnus (Gattungen 1150; übernommen von SCHENK, T R E 26 [1996], 750) korrigiert werden: Nicht die „Rhetorik an Alexander" (4. Jh. v.Chr.) spricht vom Prosahymnus, sondern die fragmentarisch erhaltene Rhetorik des Alexander Numeniu (2. Jh. n. Chr.). 101 Diese drei Grundkategorien legt auch BERGER seinem formgeschichtlichen Entwurf zugrunde (vgl. Gattungen; Formgeschichte). 102 Eine etwas ausführlichere Darstellung der epideiktischen Rhetorik dürfte in der neutestamentlichen Forschung (und darüber hinaus) auch unabhängig von der ,Hymnenfrage' willkommen sein: Nachdem BETZ, Galaterbrief, überhaupt die antike Rhetorik wieder in das allgemeine Interesse gerückt und speziell den Gal als .apologetischen' Brief (und damit als Vertreter der gerichtlichen Redegattung') gedeutet hat, und nachdem andere Paulusbriefe (aber auch der Gal) von anderen als Vertreter der .beratenden' Gattung bestimmt worden sind (siehe z.B. zum IKor - mit viel Vergleichsmaterial zur Theorie und Praxis der antiken Beratungsrede MITCHELL, Paul and the Rhetoric of Reconciliation), ist die epideiktische Redegattung bislang noch nicht entsprechend gewürdigt worden (vgl. aber, orientiert an den frühchristlichen .epideiktischen' Gattungen, die mit viel Sekundärliteratur versehene Materialsammlung bei BERGER, Gattungen 1149-1281). - In der klassischen Philologie ist die letzte zusammenfassende Darstellung der epideiktischen Rhetorik m. W. im Jahre 1902 erfolgt (BURGESS, Epideictic Literature). Inzwischen ist die Forschung natürlich weitergegangen (vor allem ist zu berücksichtigen: BUCHHEIT, Genos Epideiktikon, der die Entstehung der Lobredentheorie im 4. Jh. v.Chr. herausarbeitet); zudem ist die antike Theorie des γένος έπιδεικτικόν bei BURGESS vor allem an einem sehr späten Vertreter derselben orientiert (.Menandros', Ende 3. Jh. n. Chr.) und daher nur bedingt für das Verständnis früherer Texte brauchbar. - Nur als Hilfsmittel zum Auffinden der Stellen sollte LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik, verwendet werden, weil seine systematisierende Darstellung einem historischen Verständnis geradezu entgegenarbeitet. Eher historisch orientiert, wenn auch in vielen Einzelheiten ungenau, ist MARTIN, Rhetorik. Die zuverlässigste Darstellung der antiken Beredsamkeit ist m. E. immer noch VOLKMANN, Rhetorik - nur leider schon über 100 Jahre alt und daher nicht auf dem neuesten Stand.

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Sind damit Hymnus' und .Enkomion' als eigenständige Gattungen jeweils in Poesie und Prosa vorgestellt, können wir uns im nächsten Schritt (Kap. III) ihrem Vorkommen in anderen literarischen Zusammenhängen widmen.103 Rein phänomenologisch bildet ja solch ein ,StilwechseP - der Ubergang von einem nüchtern-argumentativen in einen überschwenglich preisenden Tonfall - die eigentliche Analogie zu den sog. .Hymnen' im Neuen Testament. Aber da Begriffe wie .erhabener Stil' oder .erhöhter Ton' zur Beschreibung .hymnischer' Passagen im Neuen Testament meist ebenso gefühlsmäßig gebraucht werden wie der Begriff .Poesie', müssen wir auch hierüber wieder die antiken Theoretiker konsultieren: Sie sollen uns darüber aufklären, was nach ihrem Verständnis überhaupt .Stil' ausmacht und welche Wechsel von .Stilarten' (parallel zum Wechsel des rhetorischen Genos innerhalb eines Textes) in ihrem jeweiligen System vorgesehen bzw. erlaubt sind. Diese Erkenntnisse sollen dann mit praktischen Beispielen aus den unterschiedlichsten literarischen Prosagattungen verglichen und erhärtet werden. Wenn wir dabei eine Reihe von Texten wiederantreffen, die schon bei E D U A R D N O R D E N als Beispiele für kleine .Hymnen' oder .Enkomien' angeführt werden, so ist daran eigentlich nur eines verwunderlich: daß das Vorkommen solcher .epideiktischen Passagen' in größeren literarischen Zusammenhängen bisher so gut wie gar nicht methodisch reflektiert worden ist.104 Dieses Defizit soll hier ausgeglichen werden.

103 Dieser Schritt wird in bezug auf den .Hymnus' als literarische Form innerhalb von poetischen Werken bereits in Kap. Π. 1 vollzogen, um die Darstellung nicht zu sehr auseinanderzuziehen. Das Vorkommen von .Hymnen' in anderen poetischen Kontexten ist übrigens in der klassisch-philologischen Hymnenforschung schon immer gesehen worden (vgl. nur die im Literaturverzeichnis aufgeführten Lexikon-Artikel [s. v. Hymnos/Hymnus] von WÜNSCH, ZIEGLER, KNEBEL, THRAEDE), und einige der berühmtesten .Hymnen' sind eigentlich Bestandteil eines größeren Dichtungswerkes (etwa der Zeushymnus am Beginn von Aratos' ,Phainomena' oder der Venushymnus am Anfang von Lukrez' De rerum natura). Obwohl Hymnen bzw. hymnische Passagen in griechischer wie lateinischer Dichtung zu allen Zeiten anzutreffen sind, widmet sich die Spezialliteratur auf diesem Gebiet fast ausschließlich den klassischen griechischen Dichtern (Epos, Lehrgedicht, Drama). Zu nennen sind hier vor allem MEYER, Hymnische Stileiemente in der frühgriechischen Dichtung (1933), und DORSCH, Götterhymnen in den Chorliedern der griechischen Tragiker (1982); vgl. auch die älteren Arbeiten von ADAMI, De poetis scaenicis Graecis hymnorum sacrorum imitatoribus (1901), AUSFELD, De Graecorum precationibus quaestiones (1903), STENZEL, De ratione, quae inter carminum epicorum prooemia et hymnicam Graecorum poesin intercedere videatur{1908), und KNOKE, De hymnis tragicorum Graecorum (1924). 104 Der Wechsel vom „nüchternen Normalstil" zum hohen bzw. niedrigen „Gefühlsstil" ist 1953 von GUNNAR RUDBERG, G e d a n k e u n d G e f ü h l , thematisiert w o r d e n . RUDBERG b e z e i c h n e t

seine auf 36 Seiten zusammengestellten Beobachtungen zum „Stilwechsel" in antiken Texten im Untertitel als „Prolegomena zu einer hellenischen Stilbetrachtung" und am Schluß als „Prolegomena zu einer größeren, nicht überall fertigen Untersuchung, für welche der Stoff schon auf gewissen Gebieten gesammelt ist - aus Epos, Lyrik, Drama, Piaton, hellenistischen Texten usw." (a.a.O. 34). Dieses gewaltige Unternehmen ist jedoch m.W. nicht mehr vollendet worden und hat auch keine Nachfolger gefunden. Entsprechend ihrem Charakter als „Entwurf (eigent-

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Da sich der größte Teil der mutmaßlichen neutestamentlichen .Hymnen' innerhalb von Briefen findet, ist schließlich noch - in Auseinandersetzung mit einer aktuellen Forschungsdebatte - gesondert zu klären, ob antike Briefe überhaupt grundsätzlich mit anderen antiken Prosatexten (insbesondere Reden) vergleichbar sind und ob sich auch in antiken Briefen außerhalb des neuen Testaments epideiktische Elemente finden lassen (Kap. IV). Auch in diesem Untersuchungsschritt sollen wieder antike Theorie und Praxis nacheinander berücksichtigt werden. Wenn wir uns nach diesem Gang durch Theorie und Praxis der antiken Literaturgeschichte erneut den in Frage stehenden neutestamentlichen Textpassagen zuwenden, erscheint es aufgrund der zu erwartenden Einsichten insbesondere zum ,Stilwechsel' in antiken Texten - wenig sinnvoll, sie gleich wieder isoliert unter der hermeneutischen Vorgabe .Hymnus' zu betrachten. Vielmehr ist zunächst vorsichtiger von ,epideiktischen Passagen' zu sprechen, die im Rahmen antiker literarischer Konventionen verstanden und daher erst einmal in ihrem jeweiligen Kontext untersucht werden müssen. Das aber bedeutet, daß der Ausgangspunkt in der synchronen Analyse eines vollständigen neutestamentlichen Textes liegen muß, von der aus dann nach etwaigen vom Verfasser aufgenommenen Traditionen zurückgefragt werden kann. Für diese .Probe aufs Exempel', die in Kap. V erfolgen soll, bietet sich aus verschiedenen Gründen der Philipperbrief des Paulus an: Er enthält zwei mutmaßliche .vorpaulinische Hymnen', darunter den locus classicus für diesen Forschungszweig, Phil 2,6-II 105 ; er ist ein beratend-argumentativer Text, enthält aber noch weitere .epideiktische Passagen', insbesondere einen Exkurs über Reisepläne, der zum .Loblied' auf die Mitarbeiter Timotheus und Ep-

lich ein Vortrag)" (ebd.) geht die kleine Studie kaum auf die Sekundärliteratur zu den besprochenen Texten und überhaupt nicht auf die Äußerungen antiker Theoretiker zu Stil und Stilwechsel ein. - Hinzuweisen ist daneben noch auf zwei maschinenschriftliche Dissertationen (nicht in Buchform publiziert), die sich mit einzelnen (lateinischen) Autoren befassen: WOLFGANG EICKE, Stilunterschiede in den Metamorphosen des Apuleius von Madaura (1956; geht jedoch nicht auf das für uns besonders interessante Buch XI ein), und HELGA MUTSCHLER, Studien über Stildifferenzen in den .Metamorphosen' Ovids (1960). - Da RUDBERG, EICKE und MUTSCHLER ausschließlich Stilfragen behandeln, kommt das Phänomen .epideiktische Passagen in anderen literarischen Zusammenhängen' bei ihnen nicht in den Blick; m.W. gibt es dazu bis heute keine umfassende eigene Untersuchung. Allerdings ist (im Zuge der Wiederentdeckung antiker Rhetorik) in neueren Aufsätzen zu einzelnen neutestamentlichen Textabschnitten eine allmähliche Wahrnehmung des Phänomens zu verzeichnen: siehe SNYMAN, Style and the Rhetorical Situation of Romans 8 . 3 1 - 3 9 (1988); HESTER, The Presence of Epideictic in Galatians 1 - 2 (1991); SMIT, The Genre of 1 Corinthians 13 (1991); ders., Argument and Genre of 1 Cor 1 2 - 1 4 (1993); SIGOUNTOS, The Genre of 1 Corinthians 13 (1994). 105 Der andere .Hymnus' ist Phil 3,20-21. - LOHMEYER bezeichnet in seinem Kommentar neben Phil 3,20f auch noch 4,12f als „Hymnus", geht allerdings für beide Abschnitte (im Unterschied zu Phil 2,6-11) von der paulinischen Verfasserschaft aus.

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aphroditus wird (Phil 2,19—30)106; und schließlich sind es die ,Stilwechsel' des Briefes, die viele Exegeten zu literarkritischen Teilungshypothesen veranlassen - hier besonders Phil 3,1-2 der Wechsel zur Beschimpfung gegnerischer Missionare (Tadel als Gegensatz zum Lob gehört zum selben rhetorischen genus, ist also ebenfalls .epideiktisch'). Am Schluß der Arbeit soll eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse stehen und der Blick, vom Philipperbrief ausgehend, auf weitere ,epideiktische Passagen' in neutestamentlichen Texten gelenkt werden.

106 Zu dieser rhetorischen Bestimmung von Phil 2,19-30 als Exkurs im γένος έπιδεικιικόν vgl. WATSON, Rhetorical Analysis 71 f; seine 1988 vorgelegte rhetorische Analyse des ganzen Phil muß freilich modifiziert werden (siehe dazu Kap. V. 1 b).

I. Poesie, Prosa und,Parallelismus'

1. Das Verhältnis von Poesie und Prosa Die Frage nach der Unterscheidung von Poesie und Prosa wird in der griechischen und lateinischen antiken Literatur einhellig beantwortet: Poesie ist metrisch, Prosa nicht.1 Dabei ist .Metrum' definiert als die regelmäßige Abfolge kurzer und langer Silben (.quantitierend').2 Eine unregelmäßige Abfolge von kurzen und langen Silben heißt .Rhythmus', wobei dieser wiederum mehr oder weniger .kunstvoll', d. h. planmäßig sein kann. Die .kleinste Einheit' beim Metrum wie beim Rhythmus ist der .Fuß"3.

1 Vgl. bes. Aristoteles, Rhet. m 8,1-3, und daneben z.B. Gorgias, Helena 9 (FVS Π, 290); Isokrates, Euagoras 8-11; Piaton, Gorgias 502c; Demetrios, De eloc. 118; Cicero, De orat. ΠΙ 184; Orator 172. 187f. 198. 221f; Dionysios v. Halik., Comp. 25,11-15; Quint. Inst. IX 4,45 ff. - Anders wiederum Aristoteles in seiner ,Poetik' (Kap. 1): Hier wendet er sich gegen die gängige Auffassung, die das Dichten mit dem Metrum verbindet (1447bl3ff) und definiert stattdessen Poesie als „Nachahmung" (μίμησις) (1447a 16). Diese Bestimmung von Poesie, nach der etwa der somatische Dialog ein-, das naturwissenschaftliche Lehrgedicht aber ausgeschlossen wäre, hat sich nicht durchgesetzt (vgl. FUHRMANN, Dichtungstheorie 6 f). 2 Also nicht, wie etwa im Deutschen, die Abfolge von betonten und unbetonten Silben. Obwohl die Silbenquantität nicht mit der Akzentsetzung korrespondiert, müssen wir nach dem Zeugnis Ciceros (De orat. HI 195-198) davon ausgehen, daß „das laienhafte breite Publikum" die Metren und Rhythmen sehr wohl beim Hören wahrgenommen (und bei Regelverletzungen lautstark protestiert) hat. 3 Die wichtigsten ,Füße' sind bei Aristoteles, Rhet. HI 8,4f nach ihrem Zeitwert-Verhältnis (zwei Kürzen uu entsprechen zeitlich einer Länge —) in drei Gruppen aufgeteilt: (1.) die drei .heroischen' Maße Daktylus (—uu), Spondeus ( — ) und Anapäst (uu—) (Verhältnis 1:1), die für Prosa nicht geeignet seien; (2.) der Jambus (u—), der am ehesten der gesprochenen Alltagssprache entspreche (vgl. auch Poetik 4, 1449a24ff), und seine Umkehrung, der Trochäus ( - u ) , dem es an Würde fehle (Verhältnis 1:2 bzw. 2:1); (3.) der Päon in den Formen uuu— und — uuu (Verhältnis 3 : 2 bzw. 2:3), der von Aristoteles für die gehobenere Prosa favorisiert wird, und zwar jeweils mit der Länge ,nach außen', d. h. am Satzanfang oder -ende. Zur dritten Gruppe würde auch der von Demosthenes und Cicero bevorzugte, aber von Aristoteles nicht erwähnte Kretikus (—U—) gehören (vgl. SCHMID, Prosarhythmus 127f). - Vgl. zu den .Füßen' auch Cicero, Orator 188-196. 215-219; Dionysios v. Halik., Comp. 17-18; Quint. Inst. IX 4,45-47. 79-111; bei diesen Autoren wird im Gegensatz zu Aristoteles kein ,Fuß' von vornherein für die Prosa verworfen.

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Poesie, Prosa und ,Parallelismus'

Da nun in jeder Abfolge von (griechischen oder lateinischen) Wörtern kurze und lange Silben aufeinander folgen, besteht also der Unterschied von Poesie und Prosa in der bewußten Gestaltung dieser Abfolge: In der Poesie ist ein bestimmtes Schema zu befolgen, in der Prosa dagegen zu vermeiden4. Freilich soll auch in der Prosa nicht kunstlose Regellosigkeit vorherrschen: Neben der Regel der Poesie-Vermeidung gilt die Regel, daß bestimmte gefällige und dem Sprechen angemessene Rhythmen gesucht werden sollen.5 Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Satzschlüssen (Klauseln)6, in zweiter Linie auch den Satzanfängen7. Ist soweit noch alles relativ einfach, wird es in der Frage, ob eine konkrete Silbe kurz oder lang sei, doch noch etwas komplizierter3: Von Natur aus lang sind die Vokale η, ω und die Doppelvokale; von Natur aus kurz die Vokale ε und o; bei α, ι und υ hängt die Länge vom jeweiligen Wort ab. Die Länge des Vokals bestimmt die Länge der Silbe. Folgt jedoch auf einen von Natur aus kurzen Vokal mehr als ein Konsonant oder einer der drei Doppelkonsonanten (ζ, ξ, ψ), gilt die Silbe als .positionslang'9; ebenso kann eine .eigentlich' kurze Silbe am Vers- bzw. Satzende als lang gelten10. Manche Versmaße erlauben statt zwei kurzen eine lange Silbe (z.B. der daktylische Hexameter) oder 4 Als Grund hierfür wird meistens genannt, daß bei einer Rede in metrischer Form die Hörer vom Inhalt abgelenkt würden (z.B. Aristoteles Rhet. ΠΙ 8,1) - .Longinos' sieht sie gar mit dem Fuß den Takt schlagen (De Sublim. 41,2; vgl. Cicero, Orator 198; Quint. Inst. IX 4, 55). 5 Dieses dialektische Verhältnis hat bereits Aristoteles klassisch formuliert: Einerseits soll die Rede nicht arhythmisch sein (Rhet ΠΙ 8,7: ευρυθμον δει είναι την λέξιν και μή αρρυθμον), andererseits darf sie nicht metrisch sein - dann wäre es ein Gedicht (ΙΠ 8,3: ρυθμόν δει εχειν τον λόγον, μέτρον δέ μή· ποίημα γαρ εσται). - Vgl. auch Cicero, De orat. ΠΙ 175: Wenn sich die Worte einer Rede zu Versen verbinden, gelte dies als Fehler (vitium), aber auf der anderen Seite offenbare sich der rednerische Laie dadurch, daß er „regellos hervorsprudelt, soviel er kann" und seine Pausen durch das Ausgehen der Luft bestimmt werden. Der professionelle Redner dagegen „kleidet den Gedanken so in Worte, daß er ihn gewissermaßen in einem sowohl freien wie gebundenen Rhythmus erfaßt." (Ähnlich Orator 195f; 198.) 6 Vgl. Cicero, De orat. m 191 f; Quint. Inst. IX 4,61; ausführlich Lausberg, Handbuch §§ 985-1052. - Daß die Rhythmisierung der Prosarede sich keineswegs auf die Klauseln beschränkt,betont bereits Cicero, Orator 199. Siehe dazu auch SCHMID, Prosarhythmus (passim). 7 Vgl. Cicero, De orat. m 191; Quint. Inst. IX 4,62f. 8 Zum folgenden vgl. die gut verständlichen Darstellungen von BORNEMANN/RISCH, Grammatik § 7, und SNELL, Metrik 65 -68. Wie kompliziert die Dinge tatsächlich sind, zeigt die Darlegung der metrischen Grundlagen bei SICKING, Verslehre 43-65 (zur Silbenlänge 61 ff); vgl. die forschungsgeschichtliche Einleitung („von 1900 bis heute" [= 1989]) ebd. 9-30. 9 Eine Ausnahme bildet die Konsonantenverbindung muta cum liquida (liquidae im weiteren Sinne: außer λ, ρ auch μ, ν; vgl. BORNEMANN/RISCH, Grammatik § 2): sie bewirkt zwar meistens, aber nicht immer Positionslänge (abhängig von Konsonantenart, -Stellung und Versgattung; siehe SNELL, Metrik 66). 10 Siehe Quint. Inst. IX 4,93f, der die Regel zwar nennt, sich aber sofort distanziert, da es beim Hören „viel ausmacht, ob die Schlußsilbe wirklich lang ist oder nur als lang gilt" (93). Vgl. auch ebd. 104f.

Die Rolle des,Parallelismus'

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gar an bestimmten Positionen Silben beliebiger Quantität.11 Schließlich kann bei Wörtern mit ungünstiger Silbenfolge (z.B. drei kurze Silben hintereinander) eine Silbe aus,Verszwang' gedehnt werden.12 Nun können angesichts der Sonderregeln und Ausnahmen selbst dem geübten Redner oder Prosaautor Verse oder Versteile versehentlich unterlaufen - auf solche Stellen wurde nach EDUARD NORDEN „schon im Altertum eine förmliche Razzia veranstaltet"13. Freilich ergibt sich bei willkürlicher Zeilenabgrenzung, die den Sinnzusammenhang mißachtet, auch ein gewisser Spielraum für die Analyse, so daß manchmal auch dort,Verse' gefunden werden, wo gar keine sind.14 Auf der anderen Seite ist in der gehobenen Prosa eine Annäherung an die Poesie bis zu einem gewissen Grad erwünscht - dies betrifft vor allem die Wortwahl (Erhabenheit), die Gestaltung der Satzglieder (Rhythmus) und den Bau der Sätze (Symmetrie). Man ist sich aber der Grenze stets bewußt: Die Rede soll der Poesie ähnlich, aber nicht gleich sein, sie soll rhythmisch, darf aber nicht metrisch sein.15

2. Die Rolle des,Parallelismus' Dem Aufbau der Poesie in Versen entspricht der Satzbau in der Prosa: Das Ideal ist hier die .Periode' (ή περίοδος), die (im Gegensatz zur einfachen parataktischen Aneinanderreihung) einen Gedanken in einer Art Kreisbewegung zum Ausdruck bringt und ihrerseits in der Grundform aus zwei Gliedern (κώλα, lat. membra) besteht.1 Wird κώλον in technischer Bedeutung als ,Sinn11 Vgl. zu den Grundregeln (und Ausnahmen) der wichtigsten Sprechverse SNELL, Metrik 1 1 - 2 3 (ausführlicher SICKING, Verslehre 69-132). 12 So kann ζ. Β. αθανάτων — uu - statt uuu — gelesen werden; siehe SNELL, Metrik 68. 1 3 NORDEN, K u n s t p r o s a 5 3 A n m . 3.

14 Vgl Cicero, Orator 189f. Auch nach Quintilian, Inst. IX 4,52, „gibt es nichts in Prosa Geschriebenes, das sich nicht in bestimmte kleinere Verseinheiten oder auch Glieder bringen ließe", und er polemisiert gegen „lästige Philologen" (molestos grammaticos), die die Gedichte bestimmter Lyriker in verschiedene Versmaße zwingen (4,53). Trotzdem findet auch er im folgenden (4,74-78) bei Cicero und anderen Rednern und sogar bei Piaton (Anfang des .Timaios') Versteile. 15 Siehe z.B. Cicero, Orator 196-198; Dionysios v. Halik., Comp. 26; Quint. Inst. X 1, 27-29. - Vgl. auch oben Anm. 5. 1 Vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 9 , 1 - 3 . Der Ausdruck περίοδος (.Umlauf) ist wohl mit SCHMID, Prosarhythmus 117ff, vom Bild der Doppel-Rennbahn herzuleiten, deren einzelner .Schenkel' ebenfalls κώλον heißt. - Das Kreisförmige wird auch deutlich in den von Cicero, Orator 204, aufgeführten lateinischen Äquivalenten (ambitus, circuitus, comprehensio, continuatio, circum-

scriptio).

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zeile' aufgefaßt, kann eine Periode aber auch aus nur einem Kolon2 oder aus mehr als zwei Kola zusammengesetzt sein - Cicero nennt als Durchschnitt (ausdrücklich nicht als Norm!) einen Umfang von etwa vier membra, deren jeweilige Länge etwa einem Hexametervers entspreche3. Von mehreren antiken Theoretikern wird die Länge einer Periode auch mit dem Atem des Redners in Verbindung gebracht.4 Innerhalb der Periode ist besonders das letzte Kolon oft länger als die vorausgehenden (.Gesetz der wachsenden Glieder*).5 Kleinere Einheiten innerhalb eines κώλον oder aber sehr kurze κώλα heißen κόμματα.6 Im Zusammenhang von Kola und Kommata ist nun auch das anzutreffen, was wir heute als ,Parallelismus' bezeichnen7 - die formale Entsprechung von Sätzen oder Satzteilen. Dieses Stilmittel ist in der griechischen und römischen Prosa weit verbreitet8 und wird bereits in der Rhetorik des Aristoteles theoretisch reflektiert9. Hinter dem modernen Sammelbegriff ,Parallelismus' verbergen sich in den antiken Rhetorik-Handbüchern mindestens drei (zumeist direkt hintereinander behandelte) rhetorische Phänomene: das Antitheton', das,Isokolon' und die ,Paromoiosis'. Das Antitheton (auch: Antithese) 10 erzielt seine Wirkung durch die Gegenüberstellung von Gegensätzen. Daher ist es von Natur aus zweigliedrig.

2 Die μονόκωλος περίοδος kennt bereits Aristoteles, Rhet. ΠΙ 9,5; siehe dazu die Erklärung von SCHMID, Prosarhythmus 123 (anders PRIMMER, Cicero numerosus 46). 3 Orator 221 f; siehe dazu die Erläuterungen von SCHMID, Prosarhythmus 59f. - Quint. Inst. IX 4,125 folgt im großen und ganzen Cicero; dagegen hält Demetrios, De eloc. 16, die Länge von vier κ ώ λ α für das absolute Maximum einer ausgewogenen Periode. 4 Vgl. Aristoteles, Rhet. III 9,5; Demetrios, De eloc. 303; Rhet. ad Her. IV 18; Dionysios v. Halik., Comp. 23,5. 5 Dies wird ausdrücklich empfohlen bei Demetrios, De eloc. 18; Cicero, De orat. ΠΙ 186; Quint. Inst. IX 4,23. - Die Entdeckung und Benennung dieses Stilgesetzes ist BEHAGHEL, Beziehungen zwischen Umfang und Reihenfolge von Satzgliedern, zu verdanken. 6 Lateinische Entsprechungen für κόμμα sind z.B. incisum (Cicero, Orator 211; Quint. Inst. EX 4,22.122) und articulus (Rhet. ad Her. IV 19,26; Cicero, De orat. ΠΙ186). 7 ,Parallelismus' ist kein antiker Terminus, sondern erst in der Neuzeit gebräuchlich; vgl. LAUSBERG, Elemente § 337; REHKOPF, ,Parallelismus' 47. 56. Letzterer weist den Ausdruck παραλληλισμός als rhetorischen Begriff zueist bei dem Homerkommentator Eustathius (12. Jh. n. Chr.) nach (vgl. a. a. O. 53 f). 8 Das ist besonders deshalb zu betonen, weil das Vorkommen von parallel gebauten Sätzen in der neutestamentlichen Exegese immer wieder als Kriterium für (semitische) Poesie angeführt wird. Vgl z.B. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 169, zu lPetr 1,20: „Hier liegt deutlich poetische Struktur vor: ein ganz ebenmäßiger, antithetischer p. m."; ähnlich a.a.O. 122 zu Phil 2 , 6 - 1 1 (vgl. auch oben in der Einleitung S. 5 m. Anm. 25, S. 6 u. S. 16). - Zum .(semitischen) Parallelismus membrorum' siehe unten S. 31 ff. 9 Aristoteles, Rhet. ΠΙ 9 , 7 - 9 . - Vgl. zum folgenden Rhet. ad Alex. 2 6 - 2 8 ; Rhet. ad Her. IV 15,21-28,38; Demetrios, De eloc. 2 2 - 2 9 ; Cicero, Orator 164-167; Quint. Inst. IX 3,74-86.

Die Rolle des ,Parallelismus'

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Die Gegensätze können begrifflicher oder inhaltlicher Art sein, am wirkungsvollsten beides zugleich. Beispiel: έγώ μεν τούτον νοσοΰντα έθεράπευοα, ούτος δ' έμοί μεγίστων κακών αίτιος γέγονεν.11 Die korrelativen Partikeln μεν - δέ können wie hier die Antithese verdeutlichen, sind aber keineswegs unentbehrlich12: Die Gegensätze können auch asyndetisch nebeneinandergestellt werden oder nur im zweiten Glied ein korrelierendes γάρ oder δέ enthalten. Ein schon in der Antike berühmtes Beispiel für das letztere ist die folgende Antithesenreihe aus der ,Kranzrede' des Demosthenes (§ 265): έδίδασκες γράμματ', έγώ δ' έφοίτων. έτέλεις, έγώ δ' έτελούμεν. έγραμμάτευες, έγώ δ' ήκκλησίαζον. έτριταγωνίστεις, έγώ δ' έθεώρουν. έξέπιπτες, έγώ δ' έσυριττον. ύπέρ των έχθρων πεπολίτευσαι πάντα, έγώ δ' ύπέρ της πατρίδος.13 Eine Sonderform antithetischer Redeweise stellt schließlich die Konstruktion mit ούκ - αλλά dar.14

10 Der Ausdruck άντίθετον findet sich Rhet. ad Alex. 26; Quint. Inst. IX 3,81. - Aristoteles spricht von αντικείμενη λέξις (Rhet. ΠΙ 9,7; vgl. Demetrios, De eloc. 22: έξ αντικειμένων κώλων περίοδοι) und άντίθεσις (III 9,9 u.ö.; vgl. Demetrios, De eloc. 250). 11 „Ich habe diesen gepflegt, als er krank war, er aber wurde mir zur Ursache größter Übel." Der Satz ist Rhet. ad AJex. 26,3 angeführt als Beispiel für ein Antitheton, in dem nicht die Begriffe, aber die Handlungen einander entgegengesetzt sind. 12 Gegen NORDEN, Agnostos Theos 256, und KROLL, Hymnodik 21, Anm. 1, die das μεν δέ bei der ,rein hellenischen' Antithese für konstitutiv erklären. 13 Die Reihe steht im Kontext eines wertenden Vergleichs (.Synkrisis') zwischen Demosthenes und seinem Gegenspieler Aischines: „Halte nun dein und mein bisheriges Leben gegeneinander (έξέτασον), Aischines, in aller Ruhe, ohne Bitterkeit (...): Schule hast du gehalten, ich bin zur Schule gegangen; bei Weihen hast du gedient, ich habe Weihen empfangen; als Schrei- ¡ ber hast du gearbeitet, ich habe an den Volksversammlungen teilgenommen. Nebenrollen hast du gespielt, ich bin Zuschauer gewesen; oft bist du durchgefallen, ich half dich auspfeifen. Im Dienst der Feinde hat sich deine ganze politische Tätigkeit abgespielt; die meine im Dienst des Vaterlandes." (Übersetzung W. ZÜRCHER). - Demetrios, De eloc. 250, führt die Stelle als Beispiel für eine gekünstelte Konstruktion an, die eher den Eindruck von Spielerei als den von echter Entrüstung vermittle. - Vgl. im NT 2Kor ll,22f - zwar nicht antithetisch, aber als Synkrisisreihe ganz ähnlich; zum deutlich längeren Schlußglied in beiden Fällen s. o. Anm. 5. 14 Diese Form ist bei Paulus sehr häufig; vgl. SCHNEIDER, Antithese 47-52, der die Figur im Anschluß an LAUSBERG, Elemente § 384 (vgl. Handbuch § 784-792) als correctio bezeich-

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Das Isokolon (auch Parisosis oder Parison genannt)15 ist die Nebeneinanderstellung zweier oder mehrerer Kola, die den gleichen Aufbau und ungefähr die gleiche Länge haben. Beispiel: η δια χρημάτων άπορίαν ή δια πολέμου μέγεθος.16 Die Paromoiosis ist eine Steigerung des Isokolon, bei der die Parallelität des Aufbaus durch die Verwendung ähnlich klingender Wörter verstärkt wird: εί δεΐ σε λόγου μίμημα, φέρε πόθου τέχνημα.17 Der Gleichklang am Ende der Kola oder Kommata (also ,Reim') heißt ,Homoioteleuton', die Ähnlichkeit aufgrund gleicher Kasusform ,Homoioptoton', das Spielen mit den Bedeutungsverschiebungen zwischen ähnlich klingenden Wörtern .Paronomasie'.18 Eine weitere Möglichkeit, den Effekt eines Isokolon zu steigern, stellt die Wiederholung dar: etwa die Wiederkehr desselben Konsonanten oder derselben Silbe innerhalb einer Wortgruppe (.Homoioprophoron', in der Neuzeit .Alliteration' genannt)19 oder die Gleichheit der Anfangsoder Endwörter der Kola (.Anapher' bzw. .Epipher', trifft beides zusammen: .Symploke')20. Die umgekehrte oder .kreuzweise' Entsprechung der parallelen

net und streng vom .antithetischen Parallelismus' unterscheidet. Zu den theologischen Implikationen dieser Redeform siehe ebd. 68-89. 15 Der Begriff ΐσόκωλον (Demetrios, De eloc. 25; Quint. Inst. IX 3,80) wird im allgemeinen synonym mit den Begriffen παρίσωσις (Aristoteles, Rhet. ΠΙ 9,9; Rhet. ad Alex. 27) und πάρισον (Aristoteles ebd.) verwendet (Rhet. ad Her. IV 20,27: conpar, Cicero, Orator 38. 164f. 202. 219f: concinnitas). Gelegentlich wird aber auch hier noch differenziert - z.B. Quint. Inst. IX 3,76f: πάρισον = Verwendung zweier ähnlich klingender Wörter in einem Satz. 16 „ . . . entweder wegen Mangels an Vermögen oder wegen (der) Größe (des) Krieges". Das Beispiel - es stammt aus Rhet. ad Alex. 27 - zeigt, daß ein Isokolon kein eigenständiger Satz sein muß und daß die Silbenzahl der Glieder nur ungefähr übereinzustimmen braucht (hier 10 + 9 Silben). 17 Vgl. zu Definition und (kaum übersetzbarem) Beispielsatz Rhet. ad Alex. 28. Die παρομοίωσις wird auch bei Aristoteles, Rhet. ΠΙ 9,9, sowie (ohne den Oberbegriff) bei Demetrios, De eloc. 26-29, und Quint. Inst. IX 3,75-80 behandelt. 18 Siehe zu όμοιόπτωτον (similiter cadens), όμοιοτέλευτον (similiter desinens) und παρονομασία (adnominatio) Rhet. ad Her. IV 20,28-22,32. Die griechischen Termini stehen z.B. bei Quint. Inst. IX 3,77-80. 19 Vgl. VOLKMANN, Rhetorik 515f (dort auch Beispiele von Homer bis Cicero). Dieses Mittel ist indes sparsam zu verwenden - vgl. die abschreckenden Beispiele für die „exzessive Wiederkehr desselben Buchstabens" in der Rhet. ad Her. IV 12,18. 20 Vgl. Rhet. ad Her. IV 13,19-14,20 (repetitio, conversio, conplexio); zur Anapher (άναφορά/έπαναφορά) auch Demetrios, De eloc. 141. 268 (hier wird die Gleichheit der Endwörter mit unter den Begriff όμοιοτέλευτον gefaßt). Vgl. auch B - D - R § 491 (mit Beispielen aus dem NT).

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Kola schließlich (Schema: a b . . . b' a') - in der Neuzeit als .Chiasmus' bezeichnet21 - ist eine syntaktische Auflockerung, die zugleich dem kreisförmigen Charakter der Periode in besonderer Weise Rechnung trägt. Antitheton, Isokolon und Paromoiosis sind also in der antiken Rhetorik voneinander unterschiedene Phänomene, schließen sich jedoch auch nicht aus22 - gerade das Antitheton gewinnt an Wirkung, wenn die inhaltlichen Gegensätze durch formale Gleichheit dargestellt werden. So vergleicht Isokrates in seiner Lobrede auf Helena diese mit ihrem Halbbruder Herakles, indem er die vom gemeinsamen Vater Zeus verliehenen Gaben gegenüberstellt: του μέν έπίπονον και φιλοκίνδυνον τον βίον κατέστησε, της δέ περιβλεπτον και περιμάχητον την φύσιν έποίησεν.23 Ist das antithetische Isokolon einer der beiden Extremfälle des Isokolon, so sei hier noch der andere erwähnt: Das zweite κώλον kann die Aussage des ersten mit anderen (jeweils synonymen) Worten wiederholen und so bekräftigen. Dazu ein lateinisches Beispiel, zugleich mit Homoioptoton und Homoioteleuton: Rempublicam radicitus evertisti, civitatemfiinditus deiecisti2* Regelmäßig findet sich in den rhetorischen Handbüchern im Zusammenhang mit diesen Figuren des Redeschmucks eine Mahnung zum Maßhalten, da ihre übertriebene Verwendung die Glaubwürdigkeit und Seriosität des Redners beeinträchtigen würde.25 Allenfalls in der Gattung der Gelegenheitsrede (γένος έπιδεικτικόν) wird ein höheres Maß an ausgefeilten Formulierungen und abgezirkelten Sätzen toleriert. 26 Als Musterbeispiel für einen übertriebe-

21 V g l . LAUSBERG, E l e m e n t e § 3 9 2 .

22 Vgl. Aristoteles, Rhet. LH 9,9: „Es kann ( . . . ) derselbe Satz sowohl eine Antithese als auch Parison und Homoioteleuton darstellen." 23 Isokrates, Helena 17 („Das Leben des einen machte er mühevoll und gefahrenreich; die Natur der anderen gestaltete er vielbewundert und vielumkämpft."). Dieses Beispiel (2 x 19 Silben) wird (leicht abweichend) zitiert und besprochen bei Demetrios, De eloc. 23. 24 „Das Gemeinwesen hast du an der Wurzel zerstört, den Staat hast du von seinem Fundament gestürzt." Der Beispielsatz stammt aus Rhet. ad Her. IV 28,38, wo solch ein .synonymes Isokolon' als interpretaüo bezeichnet wird. Bei anderen Rhetorikern wird dieser Fall unter die Figur der disiunctio (συνωνυμία) subsumiert, die jedoch gewisse Bedeutungsunterschiede der .Synonyme' einräumt (vgl. Quint. Inst. IX 3,45; Rhet. ad Her. IV 27,37). Die Grenze ist natürlich fließend. 25 Rhet. ad Her. IV 22,32-23,32; Cicero, Orator 84; Part. or. 72; Demetrios, De eloc. 27; Quint. Inst. 1 X 3 , 1 0 0 - 1 0 2 26 Rhet. ad Her. IV 23,32; Cicero, Orator 37f; Dionysios v. Halik., Comp. 23,22f; Quint. Inst. Vili 3,11 f. - Vgl. dazu unten Kap. II. 2 (zum γένος έπιδεικτικόν) und ausführlicher Kap. ΠΙ. 1 b (zur antiken Stiltheorie).

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Poesie, Prosa und ,Parallelismus'

nen Einsatz der genannten Figuren, später gar als ihr Erfinder, gilt allgemein der sophistische Redner Gorgias von Leontinoi, nach dem sie daher auch als .gorgianische Figuren' zusammengefaßt werden.27 In hellenistischer Zeit entspricht dem ,gorgianischen' Stil mit seinen kurzen, stark rhythmisierten κώλα und κόμματα die .asianische' Rhetorik.28 Eine Anordnung von Prosatexten in Sinnzeilen (κατά κώλα και κόμματα)29 kannte schon das antike Buchwesen. Sie macht die Parallelität und die Antithetik der einzelnen Kola augenfällig und erleichtert so das Lesen, impliziert aber keineswes .poetischen' Charakter.30 So weit zum .Parallelismus' im Bereich der griechisch-römischen Literatur. Nun wird aber in theologischen Nachschlagewerken und alttestamentlichen Kommentaren der .Parallelismus membrorum' als bestimmendes Kriterium für hebräische Poesie genannt, zumeist verbunden mit dem Namen ROBERT 31 LOWTH als dessen .Entdecker*. Ein Blick in die Forschungsgeschichte wird zeigen, daß beide Aussagen zu relativieren sind.31"

27 Kritik am Stil des Gorgias findet sich z.B. Cicero, Orator 175f (vgl. 165); .Longinos', D e Sublim. 3,2; Quint. Inst. IX 3,74. - Als Erfinder der oben genannten Figuren wird Gorgias z.B. bei Diod. Sic. ΧΠ 53,4 dargestellt (vgl. dazu NORDEN, Kunstprosa 15ff; zum Stil des Gorgias ebd. 6 3 - 7 9 sowie ausführlicher ZUCKER, Stil des Gorgias). 28 Zum Gegensatz zwischen der attizistischen und der asianischen Rhetorik siehe grundlegend WILAMOWITZ-MOELLENDORTF, Asianismus und Atticismus; vgl. auch NORDEN, Kunstprosa 251-300. Den heutigen Forschungsstand repräsentiert T. GELZER, Klassizismus, Attizismus und Asianismus. 29 Diese Praxis wird meist als ,Kolometrie' bezeichnet. Für das N T hat NORDEN, Agnostos Theos 360ff, den Vorschlag einer kolometrischen Ausgabe gemacht (handschriftlich anzutreffen z.B. in den Codices D 05 [Ew. u. Apg.; 5.Jh.] und D 06 [Paulinen; 6. Jh.]). - Freilich ist hier die Warnung von DEBRUNNER, Kolometrie 232 (im Zusammenhang einer Kritik an LOHMEYER, Prooemium) zu beherzigen, daß nur der grammatisch-syntaktische Bau der Perioden als Anhalt für die Zeilengliederung dienen kann; was darüber hinausgeht, ist „zum größten Teil Willkür". 30 Hieronymus, der in der Vulgata auch die Propheten per cola et commata wiedergibt, will das ausdrücklich nicht als Indiz für Poesie verstanden wissen; er kann dabei auf eine auch bei Editionen von Demosthenes und Cicero verbreitete Praxis verweisen (Vorrede zum Propheten Jesaja: PL 28, 771, bzw. Vulgata, ed. WEBER, Π, 1096). 31 Vgl. ζ. B. KRAUS, Psalmen I, 30: „die elementarste poetische Aussageform" des AT; H. SCHMOLDT, R B L 386 (s. v. .Parallelismus membrorum'): „für die alttestamentliche Poesie kennzeichnende Erscheinung". Mit Hinweis auf LOWTH: C. KÜHL, R G G 3 Π (1958), 996 (s. v. .Formen und Gattungen 1.2'); E. KUTSCH, R G G 3 IV (1960), 459 (s. v. .Lowth'); SEGERT, Semitic Poetic Structures in the N T (ANRW) 1438f. Vgl. jetzt auch SEYBOLD, Art. Poesie I. (AT), T R E 26 (1996), 745. 31a Das Folgende ist v. a. der grundlegenden Studie von JAMES L KUGEL (The Idea of Biblical Poetry. Parallelism and its History, 1981) verpflichtet, hinter dessen Erkenntnisse die Forschung m. E. nicht mehr zurückgehen kann. Einen Eindruck von der durch das Buch ausgelösten kontroversen Diskussion vermitteln die Besprechungen von F. LANDY (JSOT 28 [1984], 6 1 - 8 7 ) ,

Exkurs:,Parallelismus' in der hebräischen Bibel

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Exkurs: Zur Geschichte der Wahrnehmung des .Parallelismus' in der hebräischen Bibel Die für den griechisch-römischen Kulturraum geltende Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa als übergeordneten literarischen Kategorien ist der hebräischen Bibel fremd.32 Erst im hellenistisch geprägten Judentum - bei Philon und Josephus - wird die Kategorie .Poesie' für die Psalmen sowie für Passagen wie Ex 15 und Dtn 32 verwendet, was gemäß dem gerade dargestellten antiken Verständnis die Annahme eines Metrums nach sich zieht. Diese Einstufung wurde mitsamt ihren metrischen Implikationen in der Alten Kirche (vor allem über Orígenes und Eusebios von Caesarea)34 übernommen und schließlich durch Hieronymus, der den Kanon .biblischer Poesie' noch um Hiob und die .salomonischen' Schriften erweiterte, allgemein durchgesetzt.35

W.G.E.WATSON (ebd. 89-98; vgl. dessen gleichzeitig erschienenes Lehrbuch "Classical Hebrew Poetry") und P. D. MILLER (ebd. 99-106, zustimmend) sowie KUGEL'S eigene Ergänzung e n ( e b d . 1 0 7 - 1 1 7 ) . Explizit auf KUGEL a u f b a u e n d ist ADELEBERUN, T h e D y n a m i c s of Bibli-

cal Parallelism (1985, linguistisch orientiert). - Für die rhetorischen Implikationen wichtig ist daneben (und von KUGEL unabhängig) der kritische „Versuch einer Sprachregelung" von FRIEDRICH REHKOPF ( D e r .Parallelismus' im N T , 1980).

32 KUGEL, Idea 69, weist darauf hin, daß es im biblischen Hebräisch kein Wort für ,Poesie' gibt - trotz einer Vielzahl von Gattungsbezeichnungen. Besonders auffällig ist das Fehlen einer Unterscheidung nach den Kategorien .Poesie' und .Prosa' an solchen Stellen, wo Gattungen explizit aufgezählt werden (z.B. Spr 1,1.6; Sir 47,17). 33 Philon äußert sich im Zusammenhang mit den Therapeuten (Vit. cont. 3.10.29f.80) über deren Gesänge und über die Lieder der „Dichter vergangener Zeiten", beide in vielfältigen Versmaßen. Allerdings ist eine Bezugnahme auf biblische Texte hier nicht ganz eindeutig. Josephus wird deutlicher: Er spricht vom Hexameter als Versmaß für die Lieder des Mose in Ex 15 und Dtn 32 (Ant. Π 346; IV 303) und findet in den Psalmen Davids teils Trimeter, teils Pentameter (Ant. VII 305). - Solche Angaben sind aus dem apologetischen Interesse der beiden hellenistisch-jüdischen Autoren zu erklären; siehe KUGEL, Idea 141 f. 34 Zu Orígenes, Eusebios und Ambrosius von Mailand siehe KUGEL, Idea 146-149. 35 KUGEL, Idea 152, weist auf das "Preface to Eusebius" (PL 27, 36) hin, wo Hieronymus in bezug auf die Psalmen, auf die Hymnen aus Dtn und Jesaja, auf die Bücher Salomos (Spr; Hld; Pred; Weish) und auf Hiob sagt, daß sie „im [hebräischen] Original in Hexameter- und Pentameterversen dahinfließen". Im Vulgata-Vorwort zum Buch Hiob (PL 28, 1081 f, bzw. Vulgata, ed. WEBER, I, 73 lf) wird Hieronymus noch etwas genauer, aber auch verlegener: Die Rahmenerzählung sei im Original in Prosa, ab 3,3 bis 42,6 lägen hauptsächlich „Hexameter aus Daktylen und Spondeen" vor, daneben aber auch „wegen des besonderen Charakters der Sprache" Verse aus „anderen Füßen" sowie Stellen, an denen die „Rhythmen von den metrischen Gesetzen entbunden" (numeris lege metri solutis - eigentlich fester Begriff für Prosa, hier aber wohl Anspielung auf die paradoxe Charakterisierung der pindarischen Dithyramben bei Horaz, carm. IV 2, l l f ) seien. Als Autoritäten für seine Auffassung nennt er Philon, Josephus, Orígenes und Eusebios. - Eine ausführlichere Diskussion zu Hieronymus mit weiteren Zitaten (darunter auch das oben Anm. 30 bereits besprochene zum Prosacharakter der Propheten) findet sich bei KUGEL, I d e a 1 4 9 - 1 5 6 .

Poesie, Prosa und ,Parallelismus'

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Damit waren als ,poetisch' genau die Schriften eingestuft, von denen in griechischer oder lateinischer Sprache aufgrund ihres inhaltlichen Charakters poetische Gestaltung zu erwarten gewesen wäre. Von den Propheten dagegen (erst recht von den Geschichtsbüchern) wurde poetische Sprache nicht erwartet und folglich (abgesehen von den liedhaften Stücken bei Jesaja und Jeremía) auch nicht gefunden. So findet sich in derselben Zeit, unabhängig von der Frage nach Poesie und Prosa, die Wahrnehmung von Parallelismen als Mittel rhetorischen Redeschmucks in der ganzen Bibel. Besonderen Einfluß hatte hier Augustin mit seiner christlichen Rhetorik De doctrina Christiana.36 Für Jahrhunderte beherrschte also ein "twofold approach to parallelism"37 - metrische Spekulation bei den angeblich poetischen Texten, rhetorische Tropen und Figuren in Poesie und Prosa - die christliche38 Exegese der hebräischen Bibel. Das ändert sich erst im 1 8 . Jahrhundert: JOHANN CHRISTIAN SCHOETTGEN erkennt in einer 1733 erschienenen Studie'10 das Phänomen parallel gebauter Sätze, das er exergasia nennt (in seiner Begriffsbestimmung wird isocolon als Synonym genannt)41, als Hauptmerkmal gehobenen (rhetorisch-poetischen) Stils, für den er jedes Metrum leugnet. Damit liegen Psalmen, Weisheitssprüche und Propheten auf einer Ebene. In zehn „Grundregeln" differenziert er verschiedene Varianten der exergasia und illustriert sie an Beispielen, die einem breiten Spektrum biblischer Texte entnommen sind. Während SCHOETTGEN die metrische Gestaltung hebräischer Texte bestreitet, lehnt R O B E R T LOWTH in seinen 1 7 5 3 publizierten Vorlesungen De sacra 36 Zur rhetorisch geprägten Wahrnehmung des biblischen ,Parallelismus' siehe KUGEL, Idea 156-159 und (speziell zu Augustin) 159-164. - Die Äußerungen mittelalterlicher christlicher Autoren zu biblischer Poesie und Rhetorik sind im wesentlichen Wiederholungen von Hieronymus und Augustin (vgl. a.a.O. 164-170). 37 KUGEL, I d e a 163.

38 In der rabbinischen Exegese führte in der Antike vor allem das Prinzip, daß jedem Wort der Bibel seine eigene Bedeutung zukommt, dazu, daß das Phänomen ,Parallelismus' überhaupt nicht wahrgenommen wurde (dazu siehe KUGEL, Idea 96-109; zu weiteren Faktoren, aus denen in jüdischer Exegese "the 'Forgetting' of Parallelism" bis ins Mittelalter resultierte, ebd. 109-134). Auch die Vorstellung einer .biblischen Poesie' fehlt in rabbinischen Texten völlig (vgl. ebd. 129). - Zur Wahrnehmung des Parallelismus bei den mittelalterlichen jüdischen Gelehrten siehe a.a.O. 171-203. 39 Über die bewegte Forschungsgeschichte vom 16. bis zum 18. Jh. informiert KUGEL, Idea 204 - 2 6 6 .

40 De exergasia Sacra, ein 15seitiger Essay am Ende seiner Horae Hebraicae et Talmudicae (Dresden/Leipzig 1733, S. 1249-1263). Ausführliche Zitierung (in englischer Übersetzung) und kritische Würdigung bei KUGEL, Idea 266-273. Er bezeichnet SCHOETTGENS Studie als "the high point in the tropes-and-figures approach to biblical parallelism" (267). 41 Der Ausdruck exergasia (εξεργασία), der bei den antiken Rhetorikem nur in der allgemeinen Bedeutung .Ausführung, Ausarbeitung' auftaucht, läßt sich im 17. und 18. Jh. als rhetorischer Terminus im Sinne von .Isokolon' nachweisen (siehe BAKER, Parallelism 437 f). - Bei SCHOETTGEN selbst geht die Entdeckung des Phänomens exergasia bereits auf seine Dissertano de Schilo Dominatore (Frankfurt 1718) zurück (siehe BAKER, a. a. O. 433).

Exkurs: .Parallelismus' in der hebräischen Bibel

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Poesi Hebraeorum42 die rhetorischen Kategorien als unangemessen ab43. Er mißt aber dem Phänomen, das er .Parallelismus' nennt44 und in drei species (synonymen, antithetischen und synthetischen Parallelismus) unterteilt45, ebenfalls große Bedeutung zu, weil sich mit dessen Hilfe eine klare Abgrenzung der ,Verse' ergibt und L O W T H dadurch hofft, dem Metrum der „Heiligen Poesie" auf die Spur zu kommen.46 Durch die Verknüpfung von Parallelismus und Poesie werden für ihn (gegen die altkirchliche Tradition) auch die prophetischen Bücher zur Poesie. Wenn auch der letzte Punkt, die Einordnung der Propheten in die Riege der .Heiligen Dichter* sehr umstritten blieb, hat sich doch L O W T H S Sicht des

42 LOWTH'S berühmte Schrift basiert auf seiner Vorlesungstätigkeit als Professor für Poesie in Oxford (1741-1751), wie der Untertitel Praelectiones Academicae Oxonii habitae andeutet. Die lateinische Ausgabe wurde mehrfach nachgedruckt, 1787 erschien eine englische Übersetzung; die genauen Daten sind bei REHKOPF, .Parallelismus' 48f, angegeben. 43 Trotzdem benutzt LOWTH zur Beschreibung der „Heiligen Poesie" nicht nur selbst die rhetorischen Kategorien, sondern folgt z.T. bis in den Wortlaut der Definition von Cicero zur concinnitas sententiarum (= Isokolon, s.o. Anm. 15) in der epideiktischen Rede: elaboratur, ut verba verbis quasi demensa et paria respondeant (Orator 38) - vgl. damit die in der nächsten Anm. zitierte Definition bei LOWTH (auf diese und weitere Übereinstimmungen weist REHKOPF, .Parallelismus' 51 f, hin). Daß LOWTH sich von dem "tropes-and-figures approach" freigemacht habe (wenn auch nicht von der Suche nach dem biblischen Metrum) ist also ein Zugeständnis, das KUGEL, Idea 275, zu Unrecht macht - eher könnte man sagen, LOWTH habe die beiden Zugänge miteinander verschmolzen. 44 Oft zitiert wird LOWTH'S Definition in der Praelectio XIX: „Poetica sententiarum Compositio maximam partem constat in aequalitate, ac similitudine quadam, sive parallelismo, membrorum cuiusque periodi, ita ut in duobus plerumque membris res rebus, verbis verba, quasi demensa et paria respondeant." („Die poetische Komposition der Gedanken beruht zum größten Teil auf Gleichheit sowie einer gewissen Ähnlichkeit der betreffenden Periodenglieder, wie auf einem Parallelismus, so daß in meistens zwei Gliedern Sachen Sachen, Wörter Wörtern gleichsam zugemessen und gleichartig entsprechen." Text und Übersetzung nach REHKOPF, .Parallelismus' 48.) Zu beachten ist das Komma zwischen parallelismo und membrorum: Den Ausdruck parallelismus membrorum als feststehenden Begriff findet man noch nicht bei LOWTH, sondern erst ab etwa 1830 (vgl. REHKOPF, a.a.O. 50). - Eine englische Definition gibt LOWTH in seinem 1778 erschienen Werk Isaiah. A New Translation: "The correspondence of one verse, or line, with another, I call parallelism." (zit. nach REHKOPF, a.a.O. 50). 45 So in der oben zitierten Praelectio XIX; vgl. die Inhaltsangabe (p. 376): „Explicatur Sententiarum Parallelismus: cuius Tres statuuntur Species; Parallela Synonyma, Antitheta, Synthetica" (zit. nach REHKOPF, a.a.O. 49, Anm. 16). - Auch diese Einteilung zeigt LOWTH'S Abhängigkeit von den Kategorien der Rhetorik, denn was klingt hier anderes an als das Isokolon mit seinen beiden oben (s. S. 29 mit Anm. 23 u. 24) besprochenen Extremfällen? Das nicht-extreme Mittelfeld ist jedoch breit, und so wird der .synthetische Parallelismus' von vielen Kritikern zu Recht als verschwommene Restkategorie empfunden. 46 Vgl. KUGEL, Idea 277. 47 Diese Anschauung steht im Kontext der Diskussion über das .Erhabene' in der englischen und französischen Literaturtheorie des 17. und 18.Jh.s (.Longinos'-Rezeption); siehe KUGEL, Idea 240f.

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Poesie. Prosa und ,Parallelismus'

,Parallelismus' als Indiz für Poesie durchgesetzt: Immer wieder werden in Prosatexten aufgrund des ,Parallelismus membrorum' angebliche .poetische Fragmente' entdeckt 48 , und bis heute wird weiterhin nach dem System der hebräischen .Metrik' gesucht.49 Diese Suche könnte durchaus vergeblich sein - bisher zumindest hat jede Epoche ihre eigenen Kriterien für Poesie in die hebräischen Texte hineinprojiziert. 50

Was läßt sich nun über das Wesen des,Parallelismus' in der hebräischen Bibel sagen? 51 Seine Grundform ist die Abfolge zweier Aussagen A und Β mit einer kleineren Pause (Zäsur) hinter A und einer größeren Pause hinter B, also / // oder Α / Β //. Dabei können A und Β vielfältig aufeinander bezogen sein52: Β kann reine Wiederholung von Α (ζ. Β. Ps 146,2), aber auch teilweise Wiederholung mit Weiterführung (z.B. Ps 22,5) sein; A und Β können durch "fixed pairs" verklammert sein (ζ. B. Ps 42,9: Tag/Nacht); das Nacheinander von A und Β kann eine Handlungsabfolge ausdrücken (ζ. B. Ps 48,6); Β kann eine von A eingeleitete wörtliche Rede darstellen (z.B. Ps 31,23); A kann eine Aussage, Β eine daran anschließende Frage sein (z.B. Ps 77,14); und schließlich kann die Pause zwischen A und Β eine bloße Zäsur ohne semantische Parallelität bedeuten (z.B. Ps 31,25). Da Β meistens eine emphatische Wiederaufnahme oder Fortführung von A ist, kann man die Grundform des hebräischen Parallelismus mit JAMES L. KUGEL als "A is so, and what's more, Β " paraphrasieren. 53 Diese Redeform ist nun keineswegs auf die Psalmen oder andere klassische ,poetische' Texte beschränkt, ja kann in diesen sogar gelegentlich fast ganz zurücktreten, wie etwa Ps 106 oder 122 zeigen.54 Vielmehr erweist sich der Paral-

48 Beispiele dafür werden bei KUGEL, Idea 7 6 - 8 4 (vgl. auch 286) besprochen. 49 Zu den metrischen Theorien vor LOWTH siehe KUGEL, Idea 204 - 2 6 6 ; Abriß der Forschungsgeschichte von LOWTH bis heute ebd. 2 9 2 - 3 0 2 (292 Anm. 17 Hinweis auf ausführlichere Forschungsberichte). 50 Vgl. den in der vorigen Anm. genannten Forschungsbericht. KUGEL kommt a.a.O. 301 zu dem Resümee: "Over the years, meter, rhyme, and other trappings of poetry have all been 'discovered' in the Bible, ever defined according to traditions current in the writer's own tongue." Aus diesem ernüchternden Ergebnis folgt konsequent die These: "no meter has been found because none exists." (ebd.). 51 Vgl. zum folgenden KUGEL, Idea 1 - 5 8 . 52 Zu den folgenden Variationsmöglichkeiten vgl. KUGEL, Idea 4 - 7 , wo sich auch weitere Beispiele finden. Ich habe mich hier auf je ein Beispiel beschränkt. 53 Idea 57 f. Die Beobachtung, daß der Satz Β die Aussage von A immer irgendwie ergänzt, ("All parallelism is really 'synthetic'") führt ebd. auch zu einer Kritik an LOWTH'S Kategorisierung in synonymen, antithetischen und synthetischen Parallelismus (siehe auch oben Anm. 45). 54 Dazu siehe KUGEL, Idea 6 5 - 6 8 . Erhellend ist der Vergleich von Ps 122 mit Ps 132,1-10, da beide Psalmen zur Gattung der Wallfahrtspsalmen ("songs of ascent") gerechnet werden.

Die Rolle des ,Parallelismus'

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lelismus als das bestimmende Stilmittel hebräischer (bzw. altorientalischer55) Literatur. So treffen wir ihn in erzählenden Texten (vgl. etwa Gen 21,1.6; 22,17; Ex 2,1-7) 50 ebenso an wie in rechtlichen Bestimmungen (z.B. Num 5,12-15) 57 oder Segenssprüchen (z.B. Gen 49), bei den Propheten oder in der Weisheitsliteratur.58 Wenn auch in Texten wie den Psalmen die Bezeichnung .Poesie' nicht ganz falsch ist, so ist doch letzten Endes die ganze Polarisierung ,Poesie/Prosa' der hebräischen Literatur nicht angemessen. Daher sollte man wohl vorsichtiger von .gehobener Sprache' reden und sich ansonsten an biblischen Kategorien wie .Lieder', .Gebete', .Reden' usw. orientieren.59 Erweist sich aber schon im Alten Testament der .Parallelismus membrorum' als fragwürdiges Kriterium für die Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa, dann gilt dies um so mehr für neutestamentliche Texte. Da wir es hier mit einer Sammlung griechisch geschriebener Texte zu tun haben, liegt es zudem viel näher, das Phänomen parallel gebauter Sätze mit den Begriffen griechischer Rhetorik (Isokolon usw.) zu beschreiben.60 Das verweist allerdings von vornherein in den Bereich der Prosa, und diese vorläufige Zuweisung findet ihre Bestätigung durch das Fehlen metrischer Gestaltung im Neuen Testament.61 Daher erscheint es mir angemessen, im Blick auf neutestamentliche Passagen, die .Parallelismus' aufweisen, allenfalls von .gehobener Prosa', nicht aber von .Poesie' zu sprechen.

55 Zum Parallelismus in ugaritischen Texten siehe KUGEL, Idea 2 7 - 4 0 (dort weitere Literatur). 56 Vgl. zu diesen Beispielen KUGEL, Idea 5 9 - 6 3 . Besonders instruktiv ist (ebd. 60F) der Vergleich von Ex 2 , 1 - 7 und Ps 106,29-34: Welcher der beiden Texte ist .poetisch'? 57 Dieses Beispiel wird bei KUGEL, Idea 64 f, besprochen. 58 Darauf hat ja bereits SCHOETTGEN nachdrücklich aufmerksam gemacht, siehe oben S. 32. 59 Damit schließe ich mich dem Vorschlag von KUGEL, Idea 302, an. Aber auch schon KOCH, Formgeschichte 107 (l.Aufl. 1964), weist darauf hin, „wie fragwürdig die aus unserm Kulturkreis übernommene Einteilung nach poetischen und prosaischen Gattungen bei der hebräischen Sprache wird." 60 An dieser Stelle ist noch einmal auf den oben Anm. 8 erwähnten Satz IPetr 1,20 hinzuweisen, der sogar die typisch griechische Antithesenform mit μεν - δέ (vgl. oben Anm. 12) aufweist. - Die Frage, ob auch der Parallelismus in hebräischen Texten mit rhetorischen Kategorien angemessen beschrieben werden kann, soll hier nicht erörtert werden. Sie ist jedoch (wie oben Anm. 45 gezeigt) bereits positiv beantwortet, wenn man LOWTH'S drei species akzeptiert. 61 Bei den wenigen wirklich metrischen Stellen im NT - Apg 17,28; lKor 15,33; Tit 1,12 handelt es sich durchweg um Verszitate (siehe B - D - R § 487.1). - Zu dem Versuch von BARBARA ECKMAN, in Phil 2,6-11 quantitierende Metrik nachzuweisen, siehe unten Kap. V. 2c, Anm. 26.

II. Das Lob von Göttern und Menschen in der griechisch-römischen Literatur

1. Poetisches Lob a) Griechische Götterhymnen Der Begriff .Hymnus' wird in der klassischen Altertumswissenschaft als Gattungsbezeichnung für das „Preislied auf Götter und Heroen"1 verwendet. Dies entspricht der vorwiegenden Verwendung in der Antike; daneben ist ΰμνος allerdings zu allen Zeiten auch in der allgemeineren Bedeutung ,Lied' oder ,Gesang' anzutreffen, während das Verb ύμνείν auch allgemein .preisen' oder .rühmen' bedeuten kann.2 Dementsprechend ist auch die Angabe der Etymologie schon in der Antike unterschiedlich: Einige leiten ϋμνος von ύφαίνειν (.weben') ab3, andere von ΰδειν (.singen' bzw. .preisen')4; möglicherweise wird sogar an eine etymologische Verwandtschaft mit dem Hochzeitsgott Hymenaios gedacht5.

1 KNEBEL, Hymnus 1344; vgl. WÜNSCH, Hymnos 142 („verengerte Bedeutung [ . . . ] auf Götter und den Göttern gleich verehrte Heroen beschränkt, [ . . . ] ganz speziell das Loblied zum Preise der Gottheit"). 2 Vgl. die bei WÜNSCH, Hymnos 141f, angegebenen Belege für ϋμνος sowie die bei DELLING, ίίμνος 494, angegebenen für ύμνέω. 3 Vgl. Bakchylides 5,9f (ύφάνας ϋμνον); 19,8 ( . . . ϋμνοισιν υφαίνε . . . ) . Diese Ableitung verdient nach WÜNSCH, Hymnos 141, „vielleicht den Vorzug". - Ebenfalls in die ,textile' Richtung geht FRISK, Griechisches etymologisches Wörterbuch Π, 965, der ϋμνος allerdings nicht auf ύφαίνειν („große lautliche Schwierigkeiten"), sondern auf ύμήν „im ursprünglichen Sinn von ,Band, Naht' " zurückführt („ .Liedgefüge' o. ä."). 4 So in der bei Photios, Bibl. cod. 239, referierten .Chrestomathie' des Grammatikers Proklos (Datierung umstritten, aber die verwendete Terminologie weist wohl eher in das 2. Jh. n. Chr. als in die Zeit des gleichnamigen Neuplatonikers [5. Jh.]; auf jeden Fall stützt sich der Verf. auf Quellen aus hellenistischer Zeit, insbesondere auf den Alexandriner Didymos; vgl. die Bemerkungen in der Photios-Ausgabe von HENRY, V, 159 Anm. 1; FÄRBER, Lyrik I 4 6 - 5 6 ; 69). Der hier (p. 3 2 0 a 9 - 1 2 ) gegebenen Etymologie schließt sich W. SCHMID (in: SCHMJD/STÄHLIN, Griechische Literatur 1/1, 231f Anm. 7) an. 5 Die Verwendung von ϋμνος für ein Hochzeitslied bei Sophokles, Antigone 815, spielt mit dem sprachlichen Anklang, läßt aber nicht eindeutig erkennen, ob ein etymologischer Zusam-

Griechische Götterhymnen

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Eine begriffliche Differenzierung im Sinne einer formal orientierten Gattungsbestimmung findet sich bei Piaton (Nomoi III, 700a-b): Er beklagt gegenüber der „Zeit der alten Gesetze" einen Verfall der einst klaren Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Gesängen und nennt als ältestes είδος ωδής die ϋμνοι, definiert als „Gebete an Götter" (εύχαί προς θεούς). Daneben erwähnt er Klagelieder (θρήνοι), Päane (παίωνες) und Dithyramben (διθύραμβοι)6 sowie den kitharodischen Nomos7 als weitere Gattungen archaischen Gesanges. An anderen Stellen unterscheidet Piaton lediglich zwei übergeordnete Kategorien: „Hymnen für die Götter und Enkomien für die trefflichen [Menschen]" (ϋμνους θεοΐς και εγκώμια τοις άγαθοΐς: Politela Χ, 607a; vgl. Nomoi VII, 801e. 822b-c), und diese Einteilung begegnet später immer wieder in der antiken Theorie.8 Hier ist ύμνος dann der Oberbe-

menhang zum Ausdruck gebracht werden soll. Dieser wird von BOISACQ, Dictionnaire Étymologique 1002 (im Anschluß an PAUL MAAS) angenommen; ihm folgt vorsichtig ZIEGLER, Hymnos 1268 („Ungern möchte man es [sc. das Wort Hymnos] von Hymenaios trennen."). - Noch unsicherer als die etymologischen Herleitungen aus dem Griechischen (vgl. noch unten Anm. 18) sind die von modernen Forschern vorgeschlagenen aus nicht-griechischen Sprachen: von dem vedischen sumná (.Loblied') oder von dem altindischen syuman (,Band'); siehe dazu BOISACQ, a.a.O., FRISK, a.a.O., und WÜNSCH, Hymnos 140. 6 Der Päan (παιάν/παιών) war wohl ursprünglich ein mit dem Gott Apollon (bzw. einem Gott Paian) verbundener Bitt-, Dank- und Sühnegesang, der v. a. durch den wiederkehrenden appellativen Ausruf ίή Παιάν (o. ä.) gekennzeichnet war (vgl. DANOFF, KP IV [1972], 406f; VOIGT, LAW 2188; grundlegend jetzt KAPPEL, Paian). Der Dithyrambos hängt eng mit dem Dionysoskult zusammen (vgl. ZIEGLER, Hymnos 105-107; VOIGT, LAW 763f). Beide Formen der Chorlyrik sind laut Piaton bereits zu seiner Zeit formal und inhaltlich durchlässig geworden und kaum noch voneinander abzugrenzen; vgl. die Fortsetzung der oben angeführten Stelle, 700d. Freilich ist für das rechte Verständnis dieser Platon-Stelle zu beachten, daß Piaton hier sein eigenes, formal orientiertes Gattungsverständnis in die ideale Urzeit projiziert. KAPPEL, Paian 33-43, hat anhand der Gattung des Päan nachgewiesen, daß sich die Kriterien für den Gattungsbegriff im Laufe der verschiedenen antiken Epochen gewandelt haben: Im 5. Jh. (Pindar) herrschte offenbar ein funktional bestimmter (nur am ,Sitz im Leben' orientierter) Gattungsbegriff vor; erst bei Piaton ist ein formal bestimmter, normativ gesetzter Gattungsbegriff greifbar, während schließlich in der alexandrinischen Philologie (ab dem späten 4. Jh.) ein Gattungsbegriff entwickelt wurde, der dem praktischen Zweck der Anordnung bereits vorliegender Gedichte dienen sollte und so einerseits formal [und inhaltlich] orientiert, andererseits deskriptiv in der Anwendung war. Diese Wandlung des Gattungsverständnisses ist bes. bei HARVEY, Classification 165-174, nicht in Betracht gezogen worden, so daß seine Diskussion der von Piaton genannten Gattungen ύμνος, θρήνος, π α ι ά ν und διθύραμβος nur die Unmöglichkeit der genauen Abgrenzung für die archaische und klassische Zeit konstatieren kann (zu HARVEYS Ansatz, der die Forschung nachhaltig gelähmt hat, siehe KAPPEL, Paian 3 - 7 ) . 7 Piaton spielt hier, wie noch öfter in seinen ,Nomoi', mit der Doppelbedeutung von νόμος: sowohl .Gesetz; Brauch' als auch .musikalische Weise'. 8 Als wichtigste Quelle hierzu dient die .Chrestomathie' des Proklos (vgl. oben Anm. 4), wo zu den Gedichten εις θεούς und εις ανθρώπους noch eine dritte, aus beiden gemischte Kategorie hinzukommt (bei Photios, Bibl. cod. 239, p. 319b33-320a6). Die weiteren Zeugen für

Das Lob von Göttern und Menschen

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griff für die a n d e r e n A r t e n von religiöser Dichtung (Prosodion, P ä a n , Dithyrambos u.a.). 9 Die W u r z e l n des Götterhymnus liegen n a c h M e i n u n g vieler Forscher 1 0 im „Zauberspruch

als Beschwörung eines übermenschlichen

W e s e n s " , der zu-

nächst nur aus der N e n n u n g des N a m e n s (bzw. der N a m e n ) u n d d e m eigentlic h e n Befehl bestanden habe -

und das „meist rhythmisch gebunden und ( . . . )

als G e s a n g v o r g e t r a g e n " . Mit d e m W a n d e l der W e l t a n s c h a u u n g seien dann an die Stelle der dienstbaren Geister die souveränen G ö t t e r getreten, an die sich der M e n s c h nicht m e h r befehlend, sondern nur n o c h bittend wenden könne. D a m i t habe die beibehaltene F o r m des Zauberspruchs eine U m d e u tung erfahren: D i e N e n n u n g des N a m e n s habe m a n nun als Anrufung verstanden, die den G o t t aufmerksam m a c h e n sollte, u n d aus d e m Befehl sei die Bitte geworden. Zwischen diese beiden Teile habe sich dann n o c h irgendwann ein Mittelteil geschoben, der die Bitte argumentativ u n t e r m a u e r n sollte. F ü r den so rekonstruierten Hymnus der archaischen Z e i t dürfte die platonische Definition als .gesungenes Gebet' zutreffen. 1 1 D i e erhaltenen griechischen Hymnen 1 2 weisen in der R e g e l die eben ent-

diese Einteilung sind bei FÄRBER, Lyrik I 16f; 46f besprochen und ebd. II 12f; 2 6 - 2 9 im Wortlaut zusammengestellt. - Zum Enkomion siehe unten Abschnitt b) dieses Kapitels. - Die hier vorliegende Einteilung der Lyrik nach dem Inhalt (andere Einteilungen - nach der zugehörigen Bewegung, nach der Art des Vortrags oder nach philosophischen Gesichtspunkten - sind nur selten bezeugt und blieben ohne großen Einfluß; vgl. FÄRBER, Lyrik I 1 6 - 2 5 ) ermöglichte es, daß Gattungsbezeichnungen wie ζγχώμιον oder ϋμνος ohne Schwierigkeiten von der rhetorischen Theorie übernommen werden konnten - siehe dazu unten Kap. II. 2a. 9 Diese Aufzählung steht bei Proklos, a.a.O. 319b35ff u. 3 2 0 a l 2 - 1 7 ; gleich im Anschluß (Z. 18ff) werden die Gattungen kurz erläutert. Danach ist das Prosodion ein Prozessionslied unter Aulosbegleitung, während der Hymnus im engeren Sinne (ό δέ κυρίως ϋμνος) im Stehen zur Kithara gesungen wird (zum Nebeneinander von ϋμνος als Kategorie und als Gattung γένος und είδος - siehe FÄRBER, Lyrik I 29f). Zu den weiteren von Proklos genannten Untergattungen (Nomos, Adonidion, Iobakchos, Hyporchema) siehe FÄRBER, a.a.O. I 33-35. - Eine ähnliche Aufzählung findet sich bei Pollux, Onomastikon I 38 (2. Jh. n. Chr.; nach GÄRTNER, KP IV [1972], 980f, ein „unselbständiges", aber als Quellensammlung wertvolles Werk, das sein Material überwiegend älteren lexikalischen Werken verdankt). 10 Zum folgenden vgl. WÜNSCH, Hymnos 142-147 (Zitate: 142 u. 143), sowie KEYSSNER, Gottesvorstellung 1; KNEBEL, Hymnus 1344. 11 Die Identität des (frühen) Hymnus mit dem Gebet betonen besonders KEYSSNER, Gottesvorstellung 2; BREMER, Hymns 193-197. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen Hymnus und Gebet fließend; trotzdem lassen sich viele Texte danach differenzieren, ob das Gewicht eher auf der Bitte (das wäre dann ein Gebet) oder eher auf dem Lobpreis (das wäre ein Hymnus) liegt (vgl. dazu KROLL, Hymnodik 11; HEILER, Gebet 157; MEYER, Hymnische Stilelemente 7; WÜLFING, Hymnos und Gebet 21 f; DORSCH, Götterhymnen 12; THRAEDE, Hymnus 936). 12 Ein Verzeichnis der von ihm herangezogenen Hymnen und hymnenähnlichen Texte gibt KEYSSNER, Gottesvoretellung X I - X V I ; die Liste verliert erheblich an Umfang, wenn lediglich „echte Kulthymnen" (im Gegensatz zu „literarischen Hymnen") betrachtet werden: siehe die

Griechische Götterhymnen

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wickelte dreiteilige Struktur (Anrufung - Mittelteil - Bitte)13 auf. Jeder der drei Teile ist durch ein bestimmtes Inventar von Motiven charakterisiert: Am Anfang steht die Anrufung der Gottheit, wobei die Vielnamigkeit (πολυωνυμία) der griechischen Götter für den Beter bereits ein Problem darstellen kann.14 Deshalb werden des öfteren die verschiedenen Namen und Beinamen eines Gottes gehäuft - in der Sorge, sonst vielleicht gerade den entscheidenden Namen auszulassen. Um ganz sicher zu gehen, folgt auf die Reihung der Namen (häufig mit ή ... η oder είτε . . . εϊτε verknüpft) manchmal noch eine Anheimstellung nach dem Muster ,wer Du auch immer bist' bzw. ,wie auch immer Du angerufen werden möchtest'.15 Neben der angebeteten Gottheit werden vielfach auch die Musen angerufen, die dem Sänger die richtigen Worte eingeben sollen.16 Auch metasprachliche Äußerungen sind zu finden: die Aussage, daß der Dichter jetzt „anfangen" (αρχεσθαι) will, den Gott zu preisen17, daß er seiner „gedenken" will (μνησομαι)18 oder die rhetorische Frage ,Wer könnte Dich besingen?' bzw. ,Wie soll ich Dich besingen?'19

Aufstellung bei DORSCH, Götterhymnen 5f (Zitate: 4). - LATTKE, Hymnus 13-79, bietet eine kommentierte Zusammenstellung nahezu aller Texte der griechischen Antike, die von ύμνοι reden oder selbst als solche bezeichnet werden können (mit reichen Literaturhinweisen auf Editionen und Sekundärliteratur). Durch dieses Verfahren entsteht eine gewisse Unübersichtlichkeit, zumal hier das Nebeneinander von ,Hymnen' aus Poesie und Prosa mit hymnischen Passagen aus größeren literarischen Kontexten methodisch nicht weiter differenziert wird. In der vorliegenden Arbeit werden die unterschiedlichen literarischen Bereiche getrennt betrachtet; vgl. daher zum .Prosahymnus' unten Kap. Π. 2 a und b sowie zu .hymnischen' bzw. epideiktischen Passagen in antiken Prosatexten unten Kap. Ol. 13 Dieses Schema wurde von AUSFELD, De precationibus, herausgearbeitet und mit den Begriffen invocatio, pars epica und precatio beschrieben. 14 Zum folgenden vgl. (mit Beispielen) AUSFELD, a . a . O . 517ff; USENER, Götternamen 334-336 und passim, NORDEN, Agnostos Theos 144-147; KEYSSNER, Gottesvorstellung 4 6 - 4 8 ; BREMER, Hymns 194f. - Die vielen Namen ergeben sich z.T. aus der Beifügung des Kultortes, der Herkunft oder Residenz des Gottes, der Nennung seiner Eltern oder seiner besonderen Funktion; auch die Identifizierung von Göttern aus unterschiedlichen Kulten konnte zum Nebeneinander mehrerer Namen führen. 15 Dieser Brauch wird bei Piaton, Kratylos 400e, beschrieben (ωσπερ έν τ α ΐ ς ε ΰ χ α ΐ ς νόμος έστίν ήμΐν εΰχεσθαι, οϊτίνές τε και οπόθεν χαίρουσιν ονομαζόμενοι, ταΰτα και ήμας αύτούς κ α λ ε ΐ ν ) und in Protagoras 358 a parodiert. 16 Dies geschieht oft in Form eines Appells an die Musen, daß sie den betreffenden Gott besingen sollen. Vgl. Horn. Hymn. 4,1; 9,1; 14,If; 17,1; 19,1; 20,1 u.ö. - In der Musenanrufung liegt episches, v. a. homerisches Erbe vor; vgl. Ilias 11; Odyssee 11.10. 17 Besonders in den Homerischen Hymnen endet mehrfach die Eingangszeile mit den Worten αρχομ' άείδειν (vgl. 2,1; 11,1; 13,1; 16,1; 22,1; 26,1; 28,1). Dabei ist umstritten, ob diese Aussage sich lediglich auf den vorliegenden Hymnus bezieht („ich beginne zu besingen" - so WÜNSCH, Hymnos 149f), oder ob damit auf einen nachfolgenden Gesang zu Ehren eines anderen Gottes hingewiesen wird („ich besinge zuerst" - so KEYSSNER, Gottesvorstellung lOf). Das letztere ist gerade in den Homerischen Hymnen häufig explizit zum Ausdruck gebracht, wird

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Das Lob von Göttern und Menschen

Der Mittelteil hat in der Regel die Funktion, die Bitte argumentativ zu unterstützen - etwa durch den Hinweis auf das Wesen und die Macht gerade dieses Gottes (wobei auch auf dessen entsprechende frühere Taten Bezug genommen werden kann) oder durch die Erwähnung dargebrachter bzw. geplanter Opfer.20 Mit dem argumentativen Charakter dieses Abschnitts korrespondiert die Häufigkeit der begründenden Partikel γάρ.21 Die Darstellung von Geburt und Heimat, Wesen und Taten des Gottes - also seines Mythos - bekommt vor allem in Hymnen ohne kultischen Hintergrund eigenes Gewicht; sie kann geradezu epische Breite aufweisen und so zum eigentlichen Schwerpunkt des Hymnus werden.22 Für Texte, die hauptsächlich aus einer Aufzählung der Wundertaten (άρεταί)23 eines Gottes bestehen, wird in der Forschung manchmal auch die Bezeichnung .Aretalogie' verwendet.24 dann allerdings in der Regel durch eine entsprechende überleitende Schlußzeile („ich aber werde deiner und anderen Sanges gedenken" o. ä.: Hymn. 6; 10; 19; 25; 2 7 - 3 0 ; 33; vgl. 9; 18) ergänzt, die in den oben aufgezählten Fällen (bis auf Hymn. 28) fehlt. - Daneben findet sich auch die bloße Konstatierung des Singens durch άείδω (z.B. Horn. Hymn. 12,1), άείσω (z.B. Kleanthes, Zeushymnus 6), άείσομαι (z.B. Horn. Hymn. 10,1; Orph. Hymn. 3,1) o.a., jeweils mit Akkusativ-Objekt (meist der Name des Gottes). 18 Vgl. Horn. Hymn. 3,1; 7,1; häufiger im Schlußvers: vgl. Hymn. 19; 25; 2 7 - 3 0 ; 33. Weitere Beispiele bei KEYSSNER, Gottesvorstellung 14. - BURKERT, Hymnoi 9, Anm. 1, hält „die Zuordnung zum Stamm mne- ,in Erinnerung bringen', mit einer undeutlich gewordenen alten Praeposition hu-" sogar etymologisch für die „einleuchtendste" Herleitung des Begriffs ύμνος. 19 Vgl. z.B. Horn. Hymn. 3,19 (Πώς τ' αρ σ' υμνήσω πάντως εϋυμνον έόντα; - wiederaufgenommen in 207); Kallimachos, Hymn. 1,4 (πώς . . . άείσομεν . . . ; ) u. 92f (τεά δ' εργματα τίς κεν άείδοι; . . . χίς κεν Διός εργματ' άείσει;) sowie - kombiniert mit dem Motiv des ,Anfangens' - Mesomedes 6,1 f HEITSCH = 3,1 fHORNA (πόθεν αρξσμαι | ύμνείν σε;). 20 BREMER, Hymns 196, kritisiert wegen der argumentativen Grundstruktur des hymnischen Mittelteils die von AUSFELD gewählte Benennung pars epica (vgl. oben Anm. 13) und schlägt stattdessen die Kategorie "argumentation" [englisch] vor; innerhalb dieser unterscheidet er vier Formen: 1.) da quia dedi (z.B. Hinweis auf errichtete Tempel oder erbrachte Opfer), 2.) da ut dem (In-Aussicht-Stellen eines Opfers), 3.) da quia dedisti (Hinweis auf frühere Gebetserhörung durch denselben Gott), 4.) da quia hoc dare tuum est (Hinweis auf das gerade der aktuellen Bitte entsprechende Wesen dieses Gottes). - Vgl. (weniger glücklich) bereits MEYER, Hymnische Stilelemente 5, der statt pars epica den Altemativbegriff .Hypomnese', einführt und damit einseitig den Aspekt der Erinnerung betont. 21 Zum Wörtchen men (σύ, σου, σοί, σε Horatio hymnographo NER, Gottesvorstellung

γ ά ρ (lat. nam oder ertim), das sehr häufig direkt auf ein Personalpronousw.) folgt, vgl. mit Beispielen STENZEL, De ratione 18ff; BUCHHOLZ, De 19 (kurze Bemerkungen auch bei NORDEN, Agnostos Theos 157; KEYSS29f; BERGER, Gattungen 1156).

22 Für diese Hymnen hat die AuSFELDsche Bezeichnung pars epica eine gewisse Berechtigung; nach dem Schema BREMERS liegt hier eine Verknüpfung der Varianten 3 und 4 vor (vgl. oben Anm. 20). Besonders eindrucksvolle Beispiele solcher .epischen' Hymnen sind die vier großen Homerischen Hymnen auf Demeter, Apollon, Hermes und Aphrodite (Hymn. 2 - 5 ) . 23 Der Begriff άρετή bezeichnet ursprünglich ganz allgemein eine ,gute Eigenschaft' (einer Sache, eines Tieres, Menschen oder Gottes), wird aber in bezug auf Menschen bereits vor Piaton v. a. im ethischen Sinne gebraucht (.Tugend'; dazu siehe unten Kap. II. 2 a). In bezug auf

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Anfangs- und Mittelteil des Hymnus können sowohl in der zweiten Person (direkte Anrede) als auch in der dritten Person (Aussagen über die Gottheit) formuliert sein25. Dagegen wendet sich der dritte Teil, die Bitte, in jedem Fall direkt an die Gottheit und beginnt meist mit einer erneuten begrüßenden Anrede (χαίρε o. ä.) oder einem anderen deutlichen Neueinsatz (αλλά o. ä.). Da der Hymnus meistens im Namen einer Gemeinschaft vorgebracht wird, beziehen sich auch die Bitten in der Regel auf diese; es gibt aber auch Fälle, in denen der Sänger für sein persönliches Wohlergehen bittet. Typisch sind die Bitte um die gnädige Gesinnung der Gottheit26, die Bitte um ihr Hören und Herabschauen27, um ihr Kommen28, Helfen, Retten (σωζειν) und Schützen29; sie soll die irdischen Güter mehren und fördern (αυξειν),

Götter bedeutet αρετή die ,Wunderkraft'; mit dem Plural άρεταί werden zugleich die als Manifestation der Wunderkraft verstandenen Taten bezeichnet (vgl. KEYSSNER, Gottesvoistellung 49 f). 24 Dieser Begriff wird gelegentlich für den .epischen Mittelteil' eines Hymnus verwendet (so z.B. NORDEN, Agnostos Theos 149f), taucht aber auch als Gattungsbezeichnung auf, wobei eine genaue Abgrenzung von der Gattung .Hymnus' nicht möglich scheint. Als antiker Gattungsbegriff ist .Aretalogie' nicht belegt; der Ausdruck wurde 1906 von R. REITZENSTEIN (Wundererzählungen Iff) in die Forschung eingeführt und erfuhr in seinem Gefolge eine unzulässige Ausweitung auf Berichte über menschliche Wundertäter (vgl. die Kritik bei BERGER, Gattungen 1218ff, sowie jetzt E. KOSKENNIEMI, Apollonios von Tyana 103-114). 25 Gern übernommen wird die von NORDEN, Agnostos Theos 143-166, für die „hellenischen" Hymnen eingeführte Unterscheidung zwischen dem „ ,Du'-Stil der Prädikation" und dem „,Er'-Stil der Prädikation". Der letztere Begriff trifft zwar die von NORDEN a.a.O. angeführten Beispiele (Reihungen mit ούτος bzw. illej, ist aber für die vielen Hymnen auf Göttinnen schlecht anzuwenden; daher sollte man es bei der nüchtern-grammatischen Feststellung der Prädikation in der zweiten bzw. dritten Person belassen. Beide Arten der Prädikation können sich übrigens innerhalb eines Textes abwechseln: vgl. Kallimachos, Hymn. 3 (auf Artemis), 1 - 7 1 (3.Pers.)/ 7 2 - 2 6 8 (2.Pers.). - Einen Sonderfall stellen die Prädikationen in der ersten Person dar, die v. a. für Isistexte typisch sind. 26 Die gängigsten Ausdrücke dafür sind ευμενής (εύμενεΐν), εϋφρων, εϋάντητος (εύαντής), ϊ'λαος bzw. der Imperativ ϊλαθι, ήπιος, μείλιχος (und Komposita). Vgl. die Belege bei KEYSSNER, Gottesvorstellung 8 7 - 9 8 . - Dieses Motiv ist eng damit verknüpft, daß den Göttern allgemein in den Hymnen menschliche Regungen und Verhaltensweisen beigelegt werden; dazu siehe ausführlich KEYSSNER, a.a.O. 127-135. 27 Die geläufigen Verben für das .Hören' (bes. κλϋθι/κλυτε) und .Herabschauen' (bes. έπισκοπεΐν u. έφοράν) der Götter sind mit zahlreichen Belegen bei ZIEGLER, De precationum formis 5 9 - 6 7 ; 6 7 - 7 4 , z u s a m m e n g e s t e l l t ; vgl. a u c h AUSFELD, De precationibus

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NER, Gottesvorstellung 99-101. 28 Die Bitte um das Kommen (oder Erscheinen) der Gottheit ist besonders häufig; sie kann auch bereits in der Anrufung stehen oder sogar zum Hauptgegenstand des Hymnus werden (später als ύμνοι, κλητικοί bezeichnet). KEYSSNER, Gottesvorstellung 98, nennt als häufigste Imperative έλθε, ερχεο, μόλε, βαίνε, φάνηθι sowie die Adverbien δεΰρο und δεύτε. 29 Zur Bitte um Hilfe und zur Bezeichnung der Götter als Helfer siehe KEYSSNER, Gottesvorstellung 101-103; zum Retten und Schützen ebd. 104-107 (neben dem sehr häufigen, eher

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Schlechtes abwenden, Sorgen und Leiden auflösen und beenden, die menschlichen Dinge zur Vollendung bringen (τελείν)30 und immer wieder bestimmte Dinge „geben" (διδόναι), als deren Oberbegriff όλβος (,Wohlergehen') erscheint31: ein angenehmes und langes Leben, Kraft, Glück (ευδαιμονία, ευτυχία), Wohlstand (πλούτος), Gesundheit (ύγίεια), Nahrung, Freude (ευφροσύνη, χάρις32), Nachkommenschaft, Gerechtigkeit und Frieden (εύνομία, δίκη, ειρήνη), Tugend (αρετή), Anerkennung. Einige dieser Güter (bes. ύγίεια und ειρήνη) werden auch personifiziert und können dann selbst zu Adressaten von Hymnen werden.33 In manchen Hymnen tritt die Bitte zugunsten des Lobpreises zurück und kann sich etwa auf die freundliche Annahme des Gesanges beschränken34, oder sie fehlt ganz, so daß der abschließende Gruß lediglich an die einleitende Anrufung anknüpft und nochmals das Lob des angesprochenen Gottes bekräftigt35. Zu den bisher genannten hymnentypischen Motiven kommen nun noch solche, die nicht an einen bestimmten Teil des Hymnus gebunden sind: So kann die einleitende Aussage, daß der Sänger mit dem Lobpreis eines bestimmten Gottes „anfangen" will, noch in der Anrufung oder aber am Ende des Hymnus ergänzt werden durch die überbietende Aussage, er wolle auch mit diesem Gott „enden".36 Oft wird die Gottheit selbst als „Anfang und Ende" (αρχή και τέλος o. ä.) bzw. „Erster und Letzter" (πρώτος καί ύστατος

allgemeinen σώζειν und dem davon abgeleiteten Kultbeinamen σωτήρ noch öfters ρύεσθαι, das dann auch mit konkreten Objekten verbunden wird). 30 Vgl. die Belege bei KEYSSNER, Gottesvoistellung 103f (mehren und fördern); 107-110 (Schlechtes abwehren; dafür bes. die Begriffe άλέξειν [mit Ableitungen wie ά λ ε ξ ί κ α κ ο ς u. ä.] und άποτρέπειν/άπότροπος); 110-117 (Sorgen und Leiden, kombiniert mit Verben wie λύειν, παύειν/παύεσθαι, θελγειν, άποπέμπειν/έκπέμπειν, έλαύνειν u.ä.; als spezielle Übel werden häufig Krankheiten, Gefahren und Tod sowie Mühen, Unheil, Schmerzen, Kummer, Furcht und Schrecken genannt); 117-120 (vollenden). 31 Zur folgenden Aufzählung vgl. KEYSSNER, Gottesvorstellung 136-166. - Neben διδόναι finden sich auch noch andere Verben, die das .Geben' des Gottes bezeichnen: όπάζειν, πέμπειν (+ Komposita), α γ ε ι ν (+ Komposita), φέρειν, προφαίνειν, παρέχειν, πορίζειν und πορεΐν (Belege a.a.O. 125f). 32 Der Ausdruck χ ά ρ ι ς ist mehrdeutig: Als Wirkung der göttlichen .Gunst' (oder .Gnade') kann er beim Menschen allgemein .Freude' bedeuten (so meistens), aber auch spezieller den Anteil an einer göttlich-magischen .Kraft' (vgl. KEYSSNER, Gottesvorstellung 152f). 33 Vgl. KEYSSNER, Gottesvoistellung 147. Hymnen auf Hygieia sind seit dem 5./4.Jh. v. Chr. belegt (Ariphron; Likymnios fr. 4). 34 Vgl. z.B. Horn. Hymn. 25,6 (an die Musen: Χαίρετε τέκνα Διός καί έμήν τιμήσατ' άοιδήν); Kallimachos, Hymn. 3, 268 (auf Artemis: Χαίρε μέγα κρειουσα καί εΰάντησον άοι&ñ)· 35 Vgl. Horn. Hymn. 3,545 (an Apollon: Καί σύ μέν οϋτω χαίρε Διός καί Λητούς υιέ); fast identisch 4,579 (an Hermes, dessen Mutter allerdings Maia ist) - beide Hymnen hatten auch mit der Nennung der Eltern begonnen. 36 Vgl. die Belege bei KEYSSNER, Gottesvorstellung 13.

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o. ä.) bezeichnet, und auch diese Formel kann - durch die zusätzliche Erwähnung der ,Mitte' - noch überboten werden.37 Als „Anfang" aller Dinge ist der Gott meist auch deren „Erzeuger" (γενέτωρ o. ä.)38; besonders gilt dies in bezug auf das Menschengeschlecht (aber auch auf das Geschlecht der Götter), so daß die Bezeichnung als „Vater" bzw. „Mutter" häufig ist.39 Auch die ausdrückliche Erwähnung der göttlichen „Macht" (δύναμις, αρετή, κράτος) beschränkt sich nicht auf einen bestimmten Teil des Hymnus: Sie begegnet zwar sehr häufig im argumentativen Mittelteil, kann aber ebenso Gegenstand der Verehrung (τιμή) wie auch der Bitte sein.40 In diesen Zusammenhang gehören auch die vielfältigen, häufig anzutreffenden Bezeichnungen für den Gott als „Herrscher", die sich ebenfalls durch alle Teile des Hymnus ziehen können: αναξ/αναοσα, βαοιλεύς/βασίλεια, δεσπότης, κοίρανος, κύριος, πότνια, τύραννος usw.41 Symbole für die Macht der Götter sind in den Hymnen der Herrscherstab (σκηπτρον), die Schlüssel (κληΐδες) und das Siegel (σφραγίς).42

37 Die Bezeichnung der Gottheit als Anfang und Ende aller Dinge kommt in den Homerischen Hymnen so noch nicht vor und ist wohl unter philosophischem Einfluß entstanden; siehe (mit Belegen) KEYSSNER, Gottesvorstellung 14-18. - Die dreigliedrige Formel lautet meist .Anfang und Ende und Mitte' und ist mehrfach in den Orphischen Fragmenten belegt, aber auch schon Piaton bekannt (vgl. Nomoi IV, 715e-716a); siehe KEYSSNER, a.a.O. 18-20. 38 Zu dem Verb γ ε ν ν α ν (bzw. dessen substantivischen Ableitungen) kommen hier als Objekte das .All' (τά πάντα bzw. κόσμος) und die einzelnen .Weltelemente' (στοιχεία bzw. τά κοσμικά); vgl. KEYSSNER, Gottesvorstellung 2 0 - 2 2 . Übrigens wird der Titel des .Allerzeugers' in den Orphischen Hymnen mehreren Göttern gleichermaßen zuteil - dem aktuell angesprochenen Gott kommt stets die höchste Verehrung zu (siehe dazu auch unten Anm. 43). 39 Als πατήρ werden besonders Zeus, Kronos, Poseidon und Helios bezeichnet, als μήτηρ (oder παμμήτειρα) besonders die Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen Gaia, Demeter, Rhea und Kybele (später auch Physis und vereinzelt Hygieia); vgl. die Belege bei KEYSSNER, Gottesvorstellung 22-26. - Die Aussage, daß eine Gottheit Vater und Mutter zugleich sei (z.B. Physis in Orph. Hymn. 10,18: πάντων μεν où πατήρ, μήτηρ), hängt mit der Vorstellung der Doppelgeschlechtigkeit der Götter zusammen, die sich v.a. in den Orphischen Hymnen und den Zauberhymnen findet; später war sie weit verbreitet und konnte auch von einem christlichen Hymnendichter wie Synesios aufgenommen werden (z.B. Hymn. 2,63f: σύ πατήρ, σύ δ' έσσί μάτηρ. | σύ δέ αρρην, σύ δέ θήλυς.). Siehe dazu (mit Belegen) NORDEN, Agnostos Theos 229f (mit Anm. 1); KEYSSNER, Gottesvorstellung 26f. 40 Vgl. ausführlich KEYSSNER, Gottesvorstellung 48ff, der außer den oben genannten Begriffen für die .Macht' noch μένος, σθένος, αλκή, ισχύς (mit den abgeleiteten Adjektiven und Verben) sowie σβριμος und auch σοφία nennt und die entsprechenden Belege aufführt. Der Zusammenhang von δύναμις und τιμή ist bisweilen so eng, daß beide auch als Synonyme verwendet werden können (vgl. a.a.O. 55ff). 41 In ähnlicher Weise wird die Heiligkeit und Ehrwürdigkeit der Gottheit oft durch Begriffe wie α γ ν ό ς , διος, μάκαρ/μάκαιρα und σεμνός unterstrichen. - Die hier genannten Ausdrücke sind (bis auf δεσπότης) auch bei KEYSSNER, Gottesvorstellung 83 f, aufgezählt (wegen der großen Häufigkeit ohne Einzelnachweise).

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Das Lob von Göttern und Menschen

Für die Ausdrucksweise der Hymnen ist besonders der Hang zu überschwenglichen und superlativischen Aussagen charakteristisch. Diese weisen insgesamt einen henotheistischen Zug auf, wirken aber gerade deshalb etwas übertrieben - lassen sich doch mit denselben exklusiven Zuschreibungen (sogar innerhalb einer Hymnensammlung) mehrere Götter gleichermaßen preisen.43 Eine deutliche Zunahme dieses Stils ist seit der hellenistischen Zeit zu verzeichnen.44 Typisch sind Formulierungen mit ,alles' (πάς, πάντα, πάνθ' ό'σα u.ä.) und ,immer' bzw. ,ewig' (άεί/αίεί/αίέν)45: Der im Hymnus gepriesene Gott hat alles geschaffen und erhält alles am Leben, er sieht, hört und weiß alles, ihm gehört die Macht über alles - diese letztere Aussage wird oft noch ergänzt durch betontes μόνος sein Wirken und Sein sind ewig, und so soll auch seine Verehrung durch die Menschen (besonders durch den Hymnendichter) ewig sein.46 Beide Motive finden sich oft in der Bitte des Hymnus wieder: Der Gott, der alles vermag und ewig ist, möge auch die menschlichen Wünsche in allem und auf immer erfüllen 47 Aus der Wendung ,Alles durch dich' und ihrer negativen Formulierung ,nichts ohne dich', die beide für sich allein recht häufig anzutreffen sind, ist eine besondere, ebenfalls mehrfach belegte antithetische Formel erwachsen, die aus beiden Aussagen besteht.48 Alle Aussagen dieser Art können zu entsprechenden Beinamen (Epitheta) zusammengezogen werden. Für die Bildung solcher Beinamen spielen die eben genannten Motive wieder eine wichtige Rolle: So wird die Ewigkeit der Gottheit mit Adjektiven wie αίειγενέτης, άι'διος oder αιώνιος zum Ausdruck gebracht49, und den Sätzen mit πάς, πάντα usw. entsprechen zusammenge-

42 Dazu siehe KEYSSNER, Gottesvoistellung 7 9 - 8 2 (mit Belegen). Zu ergänzen wäre der Thron (θρόνος), vgl. ζ. B. Orph. Hymn. 18,8; 27,5; 40,15; 62,2. 43 KEYSSNER spricht daher vom „hyperbolischen Stil" des Hymnus (Gottesvorstellung 28 als Überschrift; zur Begründung siehe a.a.O. 30 u. 39). Die Austauschbarkeit der henotheistischen Prädikationen wird besonders deutlich in den Orphischen Hymnen, wo mehreren Göttern jeweils die Allschöpfung und die alleinige Macht zugeschrieben wird (vgl. die Beispiele a.a.O. 36). 4 4 V g l . KEYSSNER, G o t t e s v o r s t e l l u n g 2 8 ; 3 5 f .

45 Die Wahl der jeweiligen Wortform entspricht hier lediglich dem metrischen Bedürfnis: möglich sind υ — (άεί), (αίεί) und — υ (αίέν mit folgendem Vokal). 46 Siehe die Belege bei KEYSSNER, Gottesvorstellung 3 0 - 3 4 (πάς, πάντα usw.), 3 4 - 3 9 (μόνος) und 3 9 - 4 3 (άεί). 47 Siehe KEYSSNER, Gottesvoistellung 34 u. 43 f. 48 Das wahrscheinlich älteste Beispiel für diese Antithese ist der Hygieia-Hymnus des Ariphron (5./4. Jh. v. Chr.), 7 - 9 : μετά σεΐο, μάκαιρ' Ύγίεια, | τέθαλε πάντα . . . | σέθεν δέ χωρίς οίπις ευδαίμων εφυ. Vgl. NORDEN, Agnostos Theos 159; weitere Beispiele ebd. Anm. 1; 157f Anm. 3 sowie 349f; eine zusammengefaßte und vervollständigte Liste der Belege gibt KEYSSNER, G o t t e s v o r s t e l l u n g 2 9 .

49 Schon alt ist der Ausdruck αίειγενέτης (z.B. Horn. Hymn. 2,36.322; 4,537); die Begriffe άί'δίος und αιώνιος finden sich mehrfach in den Orphischen Hymnen; dort auch noch αέναος/ αίέναος und αειθαλής - siehe die Belege bei KEYSSNER, Gottesvorstellung 44f.

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setzte Epitheta mit παν-, παντο- und πολυ-.50 Die besungene Gottheit ist ,,Allerzeuger(in)" (παγγενέτωρ/παγγεννητειρα o. ä.), „AJlerhalter(in)" (παντρόφος/παντρεφέουσα o. ä.), „Allesbezwinger(in)" (πανδαμάτωρ/-ειρα), „Allesgeber(in)" (πάνδωρος/παντοδότειρα o. ä.) und vor allem „allmächtig" (παγκρατης, παντοκράτωρ/-ειρα u.a.)51; sie hat „viel Ehre" (πολυπότνια; vgl. πολύσεμνος, πολύτιμος u. ä.), wird „viel gerühmt" (πολύυμνος, πολύαινος u. ä.) und „viel umfleht" (πολύλλιστος), ist „vielgestaltig" (πολύμορφος, v. a. in den Zauberhymnen) und, wie anfangs bereits erwähnt, „vielnamig" (πολυώνυμος, vgl. πολυωνυμία, aber auch μεγαλώνυμος u. ä.)52. In den Zusammenhang der iiberschwenglichen (.hyperbolischen') Ausdrucksweise im Hymnus möchte ich auch die superlativischen Formulierungen stellen, nach denen der besungene Gott der „Größte" (μέγιστος), der „Beste" (άριστος), der „Erhabenste" (κύδιστος) oder der „Höchste" (ύψιστος) ist.53 Neben den zusammengesetzten Epitheta - und ebenfalls mit zunehmender Tendenz in späterer Zeit - begegnen als Kurzform für die preisenden Aussagen über einen Gott (,Prädikationen') häufig auch Partizipien.54 Schließlich können die Prädikationen auch als Relativsätze formuliert sein, was gewissermaßen eine periphrastische Form der Partizipien darstellt; auch hier läßt sich im Laufe der Zeit eine zunehmende Häufung beobachten.55

50 Die Zusammensetzungen mit παν- und πολυ- entstammen nach KEYSSNER, Gottesvorstellung 49 f, „fast durchweg der hellenistischen oder der Kaiserzeit", wenn es auch einige wenige Belege schon in den Homerischen Hymnen und bei den Tragikern gibt. 51 Vgl. KEYSSNER, Gottesvorstellung 45f u. 54 (mit umfassenden Belegen und weiteren verwandten Begriffen) und ausführlich HOMMEL, Pantokrator. 52 Zahlreiche Belegstellen, v.a. zu πολυώνυμος, bei KEYSSNER, a.a.O. 4 6 - 4 8 . - Weitere Quellen für Götter-Beinamen sind bereits oben Anm. 14 genannt worden. 53 Da diese Begriffe bei KEYSSNER (a.a.O.) nicht eigens aufgeführt sind, teile ich hier einige Fundstellen mit, ohne jedoch Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben: vgl. zu μ έ γ ι σ τ ο ς Horn. Hymn. 5,37; 23,1.4; Orph. Hymn. pr. 8.15.42; 10,10; 20,5; 39,1; 61,1; 74,4; 83,6; 84,2; 86,2; Isidoros, Hymn. 2,1; 4,1.23; zu ά ρ ι σ τ ο ς Horn. Hymn. 5,235; 15,1; 23,1; Orph. Hymn. 5,4; 54,2; 56,1; zu κ ύ δ ι σ τ ο ς Horn. Hymn. 5,42; 23,4; Kleanthes, Zeushymnus 1; Mesomedes 4,6 HEITSCH ( = 1,6 HORNA); ZU ύ ψ ι σ τ ο ς Likymnios, fr. 4,1 (Hygieia); Arion, fr. 1,1 (Poseidon); Isidoros, Hymn. 1,3; 3,1; 4,4 (vgl. auch Pindar, Nem. XI2). 54 Vgl. NORDEN, Agnostos Theos 166-168 („Der Partizipialstil der Prädikation"). NORDEN geht jedoch zu weit, wenn er (ebd. 201 ff) zu erweisen sucht, daß Partizipien mit Artikel „orientalischen" Stil verrieten, während die „echt hellenischen Prädikationen" ausschließlich Partizipien ohne Artikel hätten. Siehe die Kritik bei BERGER, Gattungen 1165 f. 55 Vgl. NORDEN, Agnostos Theos 168-176 („Der Relativstil der Prädikation"). - Als Beispiel für die Häufung sei auf Orph. Hymn. 18 hingewiesen, der in 6 von 19 Verszeilen das Relativpronomen ος enthält (davon 3 am Zeilenanfang). - Allerdings muß hier im Blick auf die einschlägigen neutestamentlichen Texte festgehalten werden, daß sich kein griechischer Hymnus finden läßt, der mit dem Wort ος anfängt (das würde ja auch dem rückverweisenden Charakter eines Relativpronomens widersprechen). BERGER, Gattungen 1168f, trägt hier nicht zur Klä-

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Damit sind die typischen Züge der Gattung 3ymnus' in Hinsicht auf Struktur, Motive und Ausdrucksweise benannt. Wenn auch die zahlreichen formalen Übereinstimmungen bei den als JHymnen' bezeichneten Texten es berechtigt erscheinen lassen, hier von einer gemeinsamen Gattung zu sprechen, so bedeutet dies doch nicht, daß die Texte auch in bezug auf Umfang, Versmaß oder ,Sitz im Leben' übereinstimmen müßten. Die Vielfalt der Möglichkeiten wird deutlich, wenn wir uns nun (im großen und ganzen chronologisch angeordnet) einige ausgewählte Beispiele von Hymnen genauer ansehen. Bereits in der ältesten erhaltenen Hymnensammlung, den sog. h o m e r i schen Hymnen', sind Exemplare von über 500 Versen mit solchen von knapp 5 Versen vereint.56 Die Sammlung enthält 33 Hymnen unterschiedlicher Herkunft und Abfassungszeit (8.-6. Jh.)57, deren Bezug zum Kult unklar ist. Für eine Reihe der kürzeren Stücke ist wahrscheinlich, daß sie als Vorspiel (Prooimion) für längere rhapsodische Vorträge (Heldenepen) dienten58; bei anderen ist die Situation eines Sängerwettstreites zu erkennen59. Auf jeden Fall stehen alle Texte der Sammlung in epischer, v. a. homerischer Tradition60 und sind in daktylischen Hexametern61 abgefaßt. Sie wurden zu Musterbeispielen der Gattung und dienten in späterer Zeit immer wieder als Vorbild für die Abfassung von Hymnen.

rang bei, wenn er die Hymnen-Anfänge mit einem Relativpronomen zwar als „vergleichsweise seltene Phänomene" bezeichnet, aber doch zugesteht, sie seien „nicht ohne Analogie in der zeitgenössischen paganen ( . . . ) und jüdischen Hymnik": Keines der von ihm als .Analogien' angeführten Beispiele bildet wirklich den Anfang eines Textes; vielmehr geht stets das Bezugswort (meist der Gottesname) voraus! 56 Genauer: Die längsten sind die vier großen Homerischen Hymnen 2 (auf Demeter, 495 Verse), 3 (auf Apollon, 546 Verse), 4 (auf Hermes, 580 Verse) und 5 (auf Aphrodite, 293 Verse), die kürzesten sind Hymn. 13 (auf Demeter, 3 Verse), Hymn. 23 (auf Zeus, 4 Verse) sowie Hymn. 11; 12; 16; 17; 21; 24 (je 5 Verse). Von den übrigen sind nur zwei länger als 30 Verse: Hymn. 7 (auf Dionysos, 59 Verse) und Hymn. 19 (auf Pan, 49 Verse). 57 Jünger sind wohl nur Hymn. 19 (auf Pan, 5. Jh.) und Hymn. 8 (auf Ares, 3. Jh.); letzterer ist vielleicht erst nachträglich in die fertige Sammlung gekommen. Siehe WÜNSCH, Hymnos 148; ALLEN/HALLIDAY/SIKES (in ihrer Ausgabe) cix; 384f; 402f. 58 Das wird daraus gefolgert, daß Thukydides (ΙΠ 104,4) den Apollon-Hymnus als προοίμιov bezeichnet; es dürfte besonders für jene Hymnen zutreffen, die überleitende Schlußzeilen aufweisen (vgl. oben Anm. 17). KEYSSNER, Gottesvorstellung 9, nimmt diesen Hintergrund für alle Texte der Sammlung an; differenzierter WÜNSCH, Hymnos 148-151, sowie ALLEN/HALLIDAY/SIKES in der "Introduction" zu ihrer Ausgabe (xciii-xcv). Darüber hinaus siehe ausführlich KOLLER, Prooimion. 59 Vgl. bes. Hymn. 6,19f (auf Aphrodite); daneben Hymn. 3,165-178 (auf Apollon). 60 Das zeigen besonders die Anrufungen der Musen (siehe oben Anm. 16), aber auch sonstige Elemente der homerischen Sprache bis hin zur Übernahme ganzer Verse aus Ilias und Odyssee; siehe ALLEN/HALLIDAY/SIKES a.a.O. evi; KNEBEL, LAW 1324. 61 Der daktylische Hexameter besteht, wie der Name bereits andeutet, aus sechs als Metren geltenden Daktylen (—uu), deren letzter jedoch immer zweisilbig ist ( oder — u). Bei

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Wichtige Zeugnisse für den griechischen Hymnenstil finden sich auch innerhalb anderer Dichtungen 62 : Schon in den homerischen Epen werden den handelnden Personen immer wieder hymnische Gebete in den Mund gelegt.63 Die beiden epischen Lehrgedichte des Hesiod beginnen mit hymnischen Proömien (so ja auch die vermutete literarische Funktion der Homerischen Hymnen) an die Musen; seine .Theogonie' enthält außerdem einen Hymnus auf Hekate (v. 410-449). 64 In den Dramen sind mehrfach Götteranrufungen als Chorlieder in die Handlung eingebettet; diese weisen insbesondere bei Sophokles die typische Form auf (z.B. Antigone 1115-1154, auf Dionysos); Aischylos (z.B. Agamemnon 160-183, auf Zeus) und Euripides (z.B. Bakchai 64-169, auf Dionysos) formulieren hier etwas freier, während Aristophanes den typischen Hymnenstil auch dort getreu wiedergibt, wo er ihn parodiert (z.B. Ekklesiazusai 1-18, an eine Lampe).65 Freilich sind alle diese hymnischen Passagen integrale Bestandteile der übergeordneten Dich-

den anderen Daktylen (allerdings selten beim fünften) können die beiden kurzen Silben jeweils durch eine lange ersetzt werden, so daß sich Spondeen ( — ) ergeben. Die Grundform ist also: —uu —uu - u u —uu —uu —χ. Außer der Verwendung von Spondeen zur Variation hat der Dichter noch die Möglichkeit, den Haupteinschnitt des Verses an unterschiedlichen Stellen (auch mitten in einem Daktylus) zu setzen. - Eine weitere Verwendungsmöglichkeit des daktylischen Hexameters ist das .Distichon', wo jeweils ein Hexameter mit einem sog. daktylischen Pentameter (Grundform: —uu—uu— — uu—uu—; hier können nur die ersten beiden Doppelkürzen durch Längen vertreten werden) zu einem .Zweizeiler' verbunden ist. - Siehe dazu ausführlicher BORNEMANN/RISCH, Grammatik § 319f; SNELL, Metrik 12-17; SICKING, Verslehre 69-87. 62 Zum folgenden siehe KEYSSNER, Gottesvorstellung 4f; BREMER, Hymns 212f, sowie ausführlich MEYER, Hymnische Stilelemente (passim). 63 Aus den zahlreichen Stellen, die bei AUSFELD, De precationibus (passim), und MEYER, a.a.O., aufgeführt werden, seien hier nur vier herausgegriffen, deren .Mittelteile' jeweils unterschiedliche Argumentationsmuster (dazu vgl. BREMER, Hymns 196; s.o. Anm. 20) aufweisen: Ilias I 37-42 (Chryses an Apollon: da quia dedt), X 284-294 (Diomedes an Athene: da ut dem), XVI 233 -248 (Achilleus an Zeus: da quia dedisti - nach diesem Schema auch X 278 -282, Odysseus an Athene); XVI 514-526 (Glaukos an Apollon: da quia hoc dare tuum est). In allen genannten Fällen folgt auf das Gebet ein stereotyper Satz, der kurz die Erhörung durch die Gottheit konstatiert (ως εφατ' ευχόμενος, του δέ κλύε [folgt Göttername]). 64 Ein Beispiel für einen Hymnus als Proömium eines Lehrgedichts aus hellenistischer Zeit ist der Beginn der .Phainomena' des Aratos; dazu siehe unten Anm. 68. 65 Vgl. dazu neben den Pionierarbeiten von ADAMI, De poetis scaenicis Graecis, und KNOKE, De hymnis tragicorum Graecorum (heute weitgehend überholt) jetzt v.a. DORSCH, Götterhymnen, der sich zwar auf ausgewählte Hymnen bei Aischylos, Sophokles und Euripides beschränkt, dafür aber bei jedem untersuchten Hymnus die Funktion im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Tragödie herausarbeitet. Zu Aristophanes vgl. (wenn auch in weiter gestecktem Rahmen) KLEINKNECHT, Gebetsparodie 20-122 (zum oben genannten Beispiel 93-98), und HORN, Gebet und Gebetsparodie (passim). - Auflistungen von einschlägigen Stellen sind außerdem bei WÜNSCH, Hymnos 163 f, und bei BREMER, Hymns 213 Anm. 67, zu finden.

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tung - die Hymnenform dient dem aktuellen poetischen Zweck, ohne daß ein kultischer Bezug vorliegt. Auch für die Philosophen ist die Adaption der Hymnenform interessant: Von Aristoteles ist ein Päan auf die Άρετά - also die als Göttin personifizierte Tugend - überliefert, den er nach dem gewaltsamen Tod seines Freundes Hermias von Atarneus zu dessen rühmendem Angedenken dichtete; dieser Hymnus erhielt später eine liturgische Funktion im Hauskult der von Aristoteles gegründeten Schule (Lykeion).66 - Der Stoiker Kleanthes bringt in seinem berühmten Zeus-Hymnus 67 den höchsten Gott mit dem allgemeinen Weltgesetz (νόμος: ν. 2. 24. 39) und dem alles durchdringenden Vernunftprinzip (λόγος: ν. 12. 21) in Verbindung und entfaltet so den stoischen Gottesbegriff mit den Stilmitteln des hexametrischen Götterhymnus.68 Das schließt allerdings ein ,echtes' religiöses Empfinden des Philosophen nicht aus: Besonders das Schlußgebet (v. 32-39) zeigt, daß das Problem des Bösen in der Welt (nach v. 22-31 eine Folge der menschlichen Willensfreiheit) für Kleanthes nicht ohne göttliche Hilfe zu lösen ist.69

66 Text (mit unterschiedlicher Versabteilung): Anthologia Lyrica Graeca (ed. DIEHL) 1/1, 117-119 bzw. PMG 842 (ed. PAGE; diesem folgt GÖRGEMANNS, GLTD 3, 17-19, der auch eine Übersetzung bietet). Zur Analyse und Interpretation des Gedichtes siehe WILAMOWITZ, Aristoteles und Athen II, 405-412; JAEGER, Aristoteles 112-124 (bes. 117ff); BOWRA, Aristotle's Hymn to Virtue; deis., Problems 138-150; RENEHAN, Aristotle as Lyric Poet. 67 Der Hymnus ist überliefert in der Exzerptensammlung des Johannes Stobaios (5. Jh.), 11,12, und stellt den einzigen altstoischen Text von diesem Umfang (39 Verszeilen, wobei allerdings mit 2 - 3 kleineren Lücken gerechnet wird) dar. Kleanthes war - als Nachfolger des Begründers Zenon - von 262 bis zu seinem Tod 232/231 v.Chr. Leiter der stoischen Schule in Athen. Sein Zeus-Hymnus gliedert sich in Anrufung (v. 1-6), Mittelteil (v. 7-31) und Gebet (v. 32-39); der Mittelteil rühmt zunächst die universale Herrschaft des Zeus (v. 7-14), hebt dann zu der bekannten Prädikation nach dem Muster .nichts ohne dich' (vgl. oben bei Anm. 48) an (v. 15 f) und kommt schließlich zu dem Problem des (sittlich) Bösen, dessen Existenz der Allmacht des Gottes scheinbar widerspricht (v. 17-31). Zur Analyse und Interpretation des Textes (ed. ZUNTZ, K l e a n t h e s - H y m n u s 3 0 0 - 3 0 3 ) siehe POHLENZ, K l e a n t h e s ' Z e u s h y m n u s ; FESTUGIÈRE, H e r m è s Trismégiste Π, 3 1 0 - 3 3 2 ; ZUNTZ, a. a. O . 2 8 9 - 2 9 9 ; 3 0 4 - 3 0 8 .

68 Eine enge Parallele (z.T. mit wörtlichen Anklängen) findet sich bei dem Lehrdichter Aratos, der bei Zenon studiert hatte und ab 276 v. Chr. am makedonischen Königshof tätig war. Das Proömium seiner ,Phainomena' (v. 1-18) ist als stilechter Zeus-Hymnus gestaltet (v. 1 - 4 Anrufung; 5 - 1 4 Mittelteil; 15-18 Bitte), der gleich den (stoischen) Leitgedanken des Lehrgedichtes über die Himmelserscheinungen zum Ausdruck bringt: Zeus ist die alles durchwaltende „große Hilfe" (v. 15) und hat die Sterne als hilfreiche Zeichen für die Menschen an den Himmel gesetzt (v. 10); in dieser Funktion will der Dichter sie beschreiben (v. 17f). Vgl. die einführenden Bemerkungen und Textauszüge in GLTD 4: Hellenismus (EFFE), 132ff. 69 Diese Hilfe besteht darin, daß der „Allgeber" (πάνδωρος) Zeus den Menschen statt ihrer „Unerfahrenheit" (άπειροσύνη) die rechte „Einsicht" verleihen soll: δός δέ κυρήσαι | γνώμης (v. 34f). Durch das anschließende Versprechen, die Werke des Gottes und den κοινός νόμος unaufhörlich zu preisen, erhält das Schlußgebet die bekannte Form da ut dem (Variante

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In den Grenzbereich zwischen Religion und Politik fällt es, wenn die Form des Götterhymnus zum Dokument der kultischen V e r e h r u n g eines Menschen wird. So ist durch Zufall ein Hymnus erhalten, mit dem der makedonische König D e m e t r i o s Poliorketes (,Städtebelagerer') im Jahre 291/290 v. Chr. von den Athenern bei seinem Einzug in die Stadt gefeiert wurde.70 Der Text, der am Anfang und wahrscheinlich auch am Ende nicht ganz vollständig überliefert ist, stellt Demetrios zunächst in Beziehung zu den „größten und liebsten der [traditionellen] Götter" (μέγιστοι των θεών και φίλτατοι, ν. 1): Er wird in einem Atemzug mit Demeter genannt (v. 3f), ist „heiter, schön und lachend" wie Dionysos (v. 7f), erscheint inmitten seiner Freunde wie die Sonne (Helios) inmitten der Sterne (v. 9 - 1 2 ) und wird als Sohn des Poseidon und der Aphrodite begrüßt (v. 13 f). Dann werden Topoi der zeitgenössischen philosophischen Religionskritik aufgenommen, um den Herrscher ins rechte Licht zu stellen: Andere Götter seien entweder weit entfernt oder hätten keine Ohren oder existierten überhaupt nicht oder kümmerten sich nicht um die Menschen - Demetrios aber sei leibhaftig anwesend, „nicht aus Holz und nicht aus Stein, sondern echt (αληθινός)" (ν. 15-19). Von dieser Feststellung geht der Hymnus folgerichtig zum Gebetsteil über (v. 20: εύχόμεσθα δή σοι): Demetrios als „Herr" soll erstens allgemein Frieden schaffen (v. 21f: πρώτον μεν είρήνην ποίησον, φίλτατε, | κύριος γάρ εΐ σύ) und zweitens speziell der aitolischen „Sphinx", die ihre griechischen Nachbarn bedrücke, Einhalt gebieten (v. 23 - 34). - Wird hier am Schluß deutlich, daß die Athener auf politisch-militärische Hilfe des Herrschers gegen die kriegerischen Aitoler hoffen, so ist anzunehmen, daß sich in dem Hymnus religiöse Ergriffenheit und politisches Kalkül zumindest die Waage halten.71

2 nach der Aufstellung von BREMER; vgl. oben Anm. 20); zu beachten sind aber auch die Hinweise auf das der Bitte entsprechende Wesen des Gottes (Variante 4 nach BREMER). 70 Siehe Collectanea Alexandrina (ed. POWELL), 173-175; Anthologia lyrica Graeca (ed. DIEHL) Π/6, 104-106; deutsche Übersetzung von G. HANSEN in: Umwelt des Urchristentums (LEIPOLDT/GRUNDMANN) II, Nr. 127; griechischer Lesetext mit deutscher Prosaübersetzung und knapper, aber hilfreicher Einführung GLTD 4: Hellenismus (EFFE), 168-173. - Metrisch liegt hier eine Form der Epode vor: Das Gedicht besteht aus Zweizeilern, wobei die erste Zeile jeweils ein jambischer Trimeter (dreimal die Abfolge x — u — ) und die zweite ein jambisches Metrum mit der Grundform — u — u — ist. 71 Zur Analyse des Textes siehe EHRENBERG, Athenischer Hymnus. - Hymnen auf Menschen stellen natürlich die Ausnahme dar; es gibt sie nur im Zusammenhang der Vergottung des betreffenden Menschen. Den Übergang bildet wohl Theokrit XVII, ein Loblied auf den ägyptischen König Ptolemaios Π. (reg. 285 - 2 4 7 v.Chr.), das in bewußter Aufnahme der Hymnenform (Beginn und Ende bei Zeus!) den König zunächst als besten der Sterblichen (v. 3f) und am Ende als Halbgott (v. 135f) preist; der .Mittelteil' (v. 13-134) besingt in mythisch geprägter Sprache Abstammung (Ptolemaios Π. hatte seine Eltern zu Göttern erklärt), Geburt, Machtbereich, Reichtum, Frömmigkeit und glückliche Ehe des Herrschers. Von den wenigen sonst noch erhaltenen Beispielen für Hymnen auf Menschen ist bes. das bei Plutarch überlieferte Fragment eines Päans erwähnenswert, den die Einwohner der Stadt Chalkis 191 v.Chr. auf den römischen

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In erster Linie zur Unterhaltung eines gebildeten (höfischen) Publikums sind die sechs Hymnen des Kallimachos geschrieben.72 Ohne jede Bindung an den Kultus greift der Dichter die literarischen Konventionen und mythologischen Motive der Hymnengattung auf, um sie mit spielerischer Ironie zu variieren. So wirft ζ. B. sein Zeushymnus (Hymn. 1) zu Beginn (v. 4 - 9 ) erst einmal die Frage auf, ob als Geburtsort des Gottes das Ida-Gebirge (so die allgemein bekanntere kretische Überlieferung) oder aber das Lykaion-Gebirge in Parrhasien (so die arkadische Überlieferung) anzunehmen sei; die Entscheidung zugunsten der (entlegeneren) arkadischen Variante, die im Anschluß ausgiebig zur Entfaltung kommt (v. 10-41), begründet der Dichter damit, daß die Kreter als sprichwörtliche Lügner bekannt sind (v. 8: Κρήτες αεί ψεΰσται). Die gleiche gespielte Naivität findet sich auch in der Korrektur der „alten Sänger" (gemeint ist Homer), die den Mythos „nicht völlig wahrheitsgemäß" berichtet hätten (v. 60), sowie in dem überschwenglichen Lob des Königs, der seine Macht von Zeus erhalten habe und „am Abend vollendet, was er morgens plant" (v. 85-90). Sogar die abschließende Bitte (v. 91-96) um Tugend (αρετή) und Wohlstand (αφενός bzw. ολβος), die im Hymnus ganz gattungstypisch ist73, wird durch eine gelehrte Anspielung philosophisch aufgeladen: Die alte Streitfrage, ob Glück durch leiblich-materielles Wohlergehen oder durch seelische Güter wie sittliche Vollkommenheit bedingt wird, löst Kallimachos durch ein Sowohl-als-auch.74

Feldherrn Titus Flamininus anstimmten (siehe Collectanea Alexandrina [ed. POWELL], 173; Antologia lyrica Graeca [ed. DIEHL] Π/6, 107; GLTD 4: Hellenismus [EFFE], 172-175). Hier werden Zeus, Rom, Titus und die [schützende] Bundestreue (πίστις) der Römer als göttliche Größen in eine Reihe gestellt (Z. 4-6); und der Feldherr wird mit dem alten Kultruf ίή ίέ Παιάν (Ζ. 6; vgl. dazu oben Anm. 6) als „Retter" begrüßt (Z. 7: ώ Τίτε σώτερ). 72 Kallimachos von Kyrene wirkte in der ersten Hälfte des 3. Jh.s v. Chr. in Alexandria, wo er unter Ptolemaios II. eine Stellung an der Bibliothek innehatte und neben umfangreicher Lehrtätigkeit die Position eines angesehenen Hofdichters einnahm. Die Hymnen 1, 3 und 4 (auf Zeus, auf Artemis und auf Delos als Geburtsort des Apollon) sind in Aufbau und Metrum an die Homerischen Hymnen angelehnt, während die Hymnen 2, 5 und 6 (auf Apollon, auf das Bad der Pallas und auf Demeter) sich - beschreibend und kommentierend - auf kultische Abläufe beziehen; dabei weicht Hymn. 5 auch von der hexametrischen Form ab und ist in Distichen (s. o. Anm. 61) gestaltet. Vgl. zum ganzen HERTER, PRE Suppl. V (1931), 386-452 (bes. 433-442) und PRE Suppl. ΧΙΠ (1973), 184-266 (bes. 229 -243). 73 Vgl. z.B. Horn. Hymn. 15,9; 20,8. - Zum engen Zusammenhang beider Werte im griechischen Hymnus siehe KEYSSNER, Gottesvorstellung 158-166. 74 In älterer Zeit gilt das Hauptinteresse dem materiellen Wohlstand, der allerdings durch die Tugend noch gekrönt werden kann; vgl. dazu die im Kommentar von MCLENNAN ZU v. 96 zusammengestellten Zeugnisse (133 f). Den Vorrang der seelischen Güter proklamiert zuerst Sokrates bei Piaton; vgl. Apologie 30a-b; Gorgias 477c; Nomoi 631b-d u.ö. - Oft werden die Güter in drei Kategorien eingeteilt: die der Seele, die des Körpers und die äußerlichen. Diese drei Kategorien treten auch in der rhetorischen Theorie auf, wo Lob und Tadel ebenfalls ausschließlich durch die seelischen Qualitäten begründet werden; dazu siehe unten Kap. Π. 2a.

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Einen stärkeren Bezug zum Kult weisen natürlich die im Zusammenhang mit Heiligtümern ausgegrabenen inschriftlichen Hymnen auf. Deren genaue Funktion ist jedoch keineswegs eindeutig: Neben der liturgischen Verwendung kommt bei vielen dieser Texte auch ein apologetischer Zweck (Rechtfertigung und Werbung nach außen, Selbstbestätigung nach innen) in Frage.75 Ein für die vorliegende Untersuchung besonders instruktives Beispiel ist die Inschrift am Sarapistempel auf Delos (ca. 200 v. Chr.), weil sie aus zwei literarisch unterschiedlichen Teilen besteht, also einen ,Stilwechsel' aufweist: Die Inschrift beginnt mit einem Prosatext (Z. 1 - 2 8 ) , in dem der Priester Apollonios davon berichtet, daß er (als dritter delischer Sarapispriester nach seinem Großvater Apollonios, der den Kult aus Ägypten eingeführt hatte, und seinem Vater Demetrios) aufgrund einer göttlichen Weisung im Traum das Grundstück erworben und den Tempel errichtet habe, dann von gewissen Gegnern in einen Prozeß (offenbar wegen Asebie) verwickelt worden und daraus siegreich hervorgegangen sei. Dafür wolle er die Götter (sc. Sarapis und seine Gemahlin Isis) loben (έπαινεΐν) und ihnen angemessenen Dank abstatten (Z. 28). Nach diesem Abschluß, der zugleich eine Überleitung darstellt, folgt die Mitteilung: „Es schreibt aber auch Maiistas im Namen des Heiligtums (ύπέρ του ίεροΰ) über diesen Gegenstand" (Z. 29). Der nun folgende Text des sonst unbekannten Dichters Maiistas (Z. 3 0 - 9 4 ) ist ein hexametrisches Gedicht im Stil der Homerischen Hymnen76, das dieselben Ereignisse erzählt wie der vorausgegangene Prosaabschnitt - allerdings (gattungsbedingt) stärker ausgeschmückt und theologisch gedeutet. Der Sieg im Prozeß, der im Prosabericht nur knapp (als Erfüllung einer göttlichen Weissagung im Traum) konstatiert wird (vgl. Z. 2 5 - 2 7 ) , geht im Hymnus auf das direkte machtvolle Eingreifen des Gottes zurück: Sarapis lähmt den Gegnern bei der Verhandlung die Zunge und läßt sie gleichsam zu „Götzenbildern" (είδωλα) erstarren

7 5 Z u dieser Verwendung inschriftlicher Hymnen siehe HARDER, Isis-Propaganda. Sie ist besonders wahrscheinlich bei solchen Inschriften, die nicht innerhalb des Tempels, sondern allgemein sichtbar außen am Tempel angebracht waren: eine Vorform unseres .Schaukastens'.

-

Die meisten der zahlreichen griechischen Isis-Inschriften sind keine Hymnen im Sinne der üblichen Definition (zu der häufig anzutreffenden Bezeichnung ,Aretalogie' siehe oben A n m . 2 4 ) und bleiben deshalb hier außer Betracht. E i n e Ausnahme stellen die vier Hymnen des Isidoros auf Isis-Hermuthis dar, die 1 9 3 5 bei den Ausgrabungen in Medinet-Madi im Faijum (Oberägypten) gefunden wurden und aus d e m 1 . J h . v . C h r . stammen; sie sind in Hexametern (1 und 3 ) bzw. in Distichen (2 und 4 ) abgefaßt (s.o. A n m . 6 1 ) und lehnen sich in ihren Formulierungen eng an epische Tradition (Homer, Hesiod, Homerische Hymnen) an (Einzelheiten in Einleitung und K o m m e n t a r der Ausgabe von VANDERLIP). 7 6 Aufbau: Z . 3 0 - 3 4 Anrufung, die bereits das Leitmotiv der weltweit besungenen staunenswerten T a t e n des Gottes anschlägt; 3 5 - 9 2

.epischer 1 Mittelteil, der in diesem Text das

Hauptgewicht hat; 9 3 f abschließender Gruß (χαίρε, μάκαρ . . . ) , der das L o b des Sarapis nochmals bekräftigt und mit dem Abschluß πολύυμνε Σάραπι an die einleitende Anrufung π ο λ ύ α ι νε Σάραπι ( Ζ . 3 0 ) anknüpft. Vgl. zu diesem knappen Abschluß auch die oben Anm. 3 5 genannten Beispiele.

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(Z. 84-90). Wenn der Dichter diese Wundertat als πέλωρον θάμβος („gewaltiges Erstaunen", Z. 84) bezeichnet, so gibt er damit das entscheidende Stichwort, das die Komposition des Hymnus leitmotivisch bestimmt: Wie die „unzähligen und staunenswerten Taten" (μυρία και θαμβητά εργα) des „vielgerühmten (πολύαινε) Sarapis" in aller Welt besungen werden (Z. 30-32), so besingt auch der Priester Apollonios jeden Tag die άρεταί des Gottes (Z. 48f) und wacht nach der göttlichen Offenbarung im Traum „staunend" (θαμβήσας) auf, um der Weisung sofort zu gehorchen (Z. 60) - und so „bestaunt" schließlich das „ganze Volk" am Tag des Prozesses die eindrucksvoll manifestierte Wunderkraft des Gottes (Z. 90 f: απας δ' άρα λαός έκείνω | οην άρετην θάμβησεν έν ηματι). Der ganze Text ist eine Aufforderung zum staunenden Lobpreis, und besonders in der zuletzt zitierten Formulierung wird seine apologetisch-werbende Absicht deutlich.77 Aus neutestamentlicher Zeit stammen die Lieder des M e s o m e d e s von Kreta, der Kapellmeister am Hof des römischen Kaisers Hadrian (117-138) war. Zwar nicht als ganzes Exemplar erhalten, aber aus den überlieferten Handschriften wahrscheinlich vollständig rekonstruierbar ist eine Sammlung von 11 Stücken: zunächst eine (doppelte) Anrufung der Musen, dann vier Hymnen an Helios, Nemesis, Physis und Isis, ein hymnisches Gedicht an das Adriatische Meer und schließlich fünf scherzhaft-verspielte Gedichte (auf eine [Sonnen-]Uhr, auf eine andere, wahrscheinlich astronomische Uhr, auf einen Schwamm, einen Schwan und eine Mücke). Zwei weitere Stücke von Mesomedes (über eine Sphinx und über das Glas) sind in Anthologien überliefert.78 Über den Zweck der Sammlung oder gar über die ursprüngliche Funktion der einzelnen Texte verrät die Überlieferung nichts. Besonders die Hymnen sind wertvolle Zeugnisse für die religiöse Dichtung dieser Zeit; dies gilt schon in bezug auf ihre metrische Gestaltung. So besteht der Isishymnus, wie 77 Die staunende Akklamation der Volksmenge (,Chorschluß') gehört zum typischen (wenn auch nicht konstitutiven) Inventar antiker Wundererzählungen und hat immer auch eine missionarische Funktion; vgl. THEISSEN, Wundergeschichten 154f; 1 5 6 - 1 6 0 . 78 Die ersten drei Lieder sind, z.T. mit Noten, in mehreren Handschriften überliefert und schon lange bekannt, während Nr. 4 - 1 1 nur in einer einzigen römischen Handschrift bezeugt sind, wo sie 1903 durch HORNA entdeckt wurden. In seiner Ausgabe der „Hymnen des Mesomedes" geht es HORNA vor allem um diese neuentdeckten Texte (bei ihm Nr. I—VIII); die schon länger bekannten drei Hymnen sowie die beiden Stücke aus Anthologien (Anthologia Palatina XIV 63 und Anthologia Planudea 323, jeweils mit dem ausdrücklichen Autorvermerk Μεσομήδους) fügt er nur der Vollständigkeit halber als „Anhang" (Nr. Ι Χ - Χ Ι Π ) bei (so auch bereits WILAMOWITZ, Verskunst 5 9 5 - 6 0 7 , der allerdings den Musenhymnus aus Zweifel an dessen Echtheit wegläßt). HEITSCH (Mesomedes-Überlieferung 42f u. 36 Anm. 10) hat wahrscheinlich gemacht, daß die 11 Gedichte ursprünglich zu ein und derselben Mesomedes-Auswahl gehörten, die in der oben aufgeführten „sinnvollen Anordnung" jetzt vollständig vorliegen dürfte (anders PÖHLMANN, Denkmäler altgriechischer Musik 31, der mit zwei verlorenen Gedichten rechnet). Beim Musenhymnus handelt es sich wohl um zwei ursprünglich selbständige Proömien (v. 1 - 4 und v. 5 - 9 ) ; siehe dazu HEITSCH, a.a.O. 44f; PÖHLMANN, a.a.O. 27f).

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die handschriftliche Vorbemerkung erläutert, je Vers aus einem „zehnteiligen Takt" (ρυθμός δεκάαημος), der durch eine zweimalige „Syzygie von Pyrrhichios und Jambus" (uu + u - ) zustandekomme. Mehrfach findet sich jedoch auch der Kretikus ( - u - ) und einmal sogar ein Fuß aus fünf Kürzen (Orthios oder Pentabrachys). Gleich der erste Versfuß besteht aus zwei Längen und einer Kürze (Εις ΰμνος...). Das einzige System, das sich erkennen läßt, ist also das Prinzip der 2 x 5 ,Zeiten' (immer durch Wortende in der Versmitte voneinander abgesetzt), wobei die Kürze als Zeiteinheit dient und zwei Kürzen an beliebigen Stellen zu einer Länge zusammengezogen werden können. Damit liegt ein Metrum vor, das auf dem Päon basiert, aber neben dessen Grundformen (-UUU und UUU-) auch alle denkbaren Nebenformen kennt.79 Inhaltlich feiert der Hymnus (anläßlich eines Festes zum Mondwechsel?) Isis als Mondgöttin und „preist den wohltätigen Einfluß des zunehmenden Mondes auf alle Verhältnisse des Lebens: Vegetation, Liebe, Hochzeit und Geburt"80. Der Physishymnus besteht aus einem besonders feierlichen Metrum, das ausschließlich lange Silben verwendet (Spondeen bzw. Prokeleusmatiker)81, wäh-

79 Zu diesen Nebenformen gehören außer den oben bereits aufgeführten (—u—, uuuuu und — u ) auch die sog. ,anaklastischen Formen' uu—u und u—uu. - Während WILAMOWITZ, Verskunst 598, die Metren des mesomedischen Isishymnus als bloße Schreibtischprodukte abtut, widerspricht ihm HORNA in seiner Mesomedes-Ausgabe (15) und betont den volkstümlichen Charakter der päonischen (oder kretischen) Versmaße. - Zwei schöne Beispiele für das fünfzeitige Metrum sind die 1892 in Delphi gefundenen Päane auf Apollon (2.Jh. v.Chr.), die glücklicherweise auch noch mit Noten versehen sind (abgedruckt in den Ausgaben von POWELL und PÖHLMANN [s. Lit.verz.]; bei der Transkription in unsere Notenschrift entspricht dem Versmaß ein Fünf-Achtel-Takt, in dem ausschließlich Achtel- und Viertelnoten verwendet werden). - Daß Hymnen in diesen Metren auch ,musizierbar' sind, beweist die 1979 aufgenommene CD «Musique de la Grèce antique»/„Griechische Musik der Antike" des Atrium musicae de Madrid (Leitung: GREGORIO PANIAGUA; harmonía mundi France, Nr. Η Μ Α 1901015). Sie ist eine lebendige Rekonstruktion der wenigen musikalischen Fragmente der Antike (mit nachgebauten Originalinstrumenten) und enthält neben den beiden eben genannten delphischen Hymnen u. a. auch die drei mit Noten erhaltenen Hymnen des Mesomedes (s. o. Anm. 78). 80 HORNA, a. a. O. 16. Den von HORNA (ebd.) angenommenen kultischen Bezug des Hymnus („Fest anläßlich des Monatsbeginns") möchte ich zumindest mit einem Fragezeichen versehen: Da Mesomedes auch sonst spielerisch mit den traditionellen Formen umgeht (vgl. besonders die Stücke 6-11), ist eine Verwendung der Hymnenform zu Unterhaltungszwecken (wie bei Kallimachos) ebensogut denkbar. 81 Der Prokeleusmatikus besteht eigentlich aus vier Kürzen, erlaubt aber die Zusammenziehung zweier Kürzen zu einer Länge, was hier durchgängig geschieht; dagegen besteht der Spondeus immer aus zwei Längen ( — ) . Der Unterschied ließe sich im vorliegenden Fall nicht feststellen (anders bei 2,1-6), die handschriftliche Vorbemerkung spricht jedoch von einem πους προκελευσματικός. Da der Takt ebd. als ρυθμός όκτάσημος bezeichnet wird, die einzelnen Verszeilen jedoch nur aus sieben langen Silben (oder aus 8 + 6 kurzen Zeiteinheiten) bestehen, muß am Versende jeweils mit einer Dehnung (,Überlänge') oder einer Pause von einer Länge gerechnet werden (vgl. HUSMANN, Metrik und Rhythmik 231f).

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rend die Hymnen an Nemesis und an das Adriatische Meer sowie die Gedichte auf die beiden Uhren, den Schwamm und die Mücke in einem anapästischen Versmaß mit der Grundform u u - u u - u u - (u)- gestaltet sind.82 Eine kunstvolle Verknüpfung dieser beiden Versmaße bietet der Helioshymnus: Er beginnt mit einem deutlich abgesetzten Proömium, in dem die langen Silben vorherrschen (v. 1 - 6 ) und wird dann (v. 7 - 2 5 ) in den eben beschriebenen Anapästen fortgesetzt. Der Wechsel des Metrums ist aber nicht bloß formale Spielerei, sondern unterstützt die inhaltlichen Aussagen des Hymnus: Im feierlichen Proömium wird der ganze Kosmos - Äther, Erde, Meer und Lüfte, Berge und Täler und sogar die Vögel - zum andächtigen Schweigen aufgefordert, um dem Erscheinen der göttlichen Majestät Raum zu geben.83 Erst nach dieser weltumspannenden Aufzählung - vom Fernen zum Nahen, vom Erhabenen zum Geringen - wird das Kommen des Gottes angekündigt und endlich ein Name (Φοίβος) für ihn genannt (ν. ó).84 Jetzt erfolgt der Wechsel ins anapästische Metrum und in die direkte Anrede an den „Vater der Morgenröte" (v. 7). Im JDu'-Stil wird nun das Tun und Wirken des Gottes geschildert, wobei traditionelle mythische Vorstellungen von aufgeklärt-astronomischer Theorie überlagert werden; beides wird im naturphilosophischen Gedanken der Sphärenharmonie miteinander verbunden.85 So zeigt sich Mesomedes als ein Dichter, der die musikalischen und literarischen Ausdrucksmittel der Gattung ,Hymnus' souverän zu handhaben versteht.

82 Dieses Metrum „Allerweltsveremaß"). (δωδεκάσημος); dann angenommen werden 233 - 236).

ist in Texten der Kaiserzeit sehr häufig anzutreffen (HORNA, a . a . O . 19: Der Zeilenrhythmus ist nach der Vorbemerkung zu Nr. 7 „zwölfteilig" muß aber Dehnung bzw. Pause in der Mitte und am Ende der Veiszeilen (siehe zu den Lösungsmöglichkeiten HUSMANN, Metrik und Rhythmik

83 Die Imperative sind - als Verstärkung des Distanzierten, Unpersönlichen - in der 3. Person gehalten (εύφαμείτω/σι,γάτω). Analog zu der Bewegung vom Äther zum Vogel nickt jedoch auch der Gott näher, und die Angesprochenen werden gemeinsam mit dem Sänger zu einem ,Wir': μέλλει γ α ρ πορτ' ήμάς βαίνειν | Φοίβος (v. 5f). 84 Dabei sind v. 1 - 4 (Aufforderung zum Schweigen) und 5 - 6 (Ankündigung des Gottes) auch noch einmal rhythmisch voneinander abgehoben, indem die ersten Verse aus 7 Längen (bzw. 8 + 6 kurzen Zeiteinheiten) bestehen, also am Schluß (wie beim Physishymnus) Überlänge oder Pause eintritt, während v. 5 - 6 die ganzen 8 Längen ausfüllen. - Die Dominanz der langen Silben, denen nach antikem Empfinden ein besonders .erhabener' Charakter zukommt (dazu siehe unten Kap. ΠΙ. lb), wird in beiden Abschnitten je einmal durch zwei Daktylen am Versanfang (—uu — u u ) unterbrochen (v. 3 u. 6); es liegen also Prokeleusmatiker vor (vgl. oben Anm. 81). - Merkwürdigerweise sind zu v. 1 - 6 in keiner der einschlägigen Handschriften Noten überliefert; diese setzen erst ab v. 7 ein. 85 Dieser Abschnitt gliedert sich inhaltlich noch einmal in v. 7 - 1 6 (der strahlende Sonnengott in seinem Himmelswagen) und 1 7 - 2 5 (der Reigentanz der Gestirne), ohne dies jedoch rhythmisch zu unterstreichen. - Der Name Helios fällt übrigens im ganzen Hymnus nicht, sondern wird durch umschreibende Prädikationen vertreten (nur v. 6 u. 20 Phoibos). - In der Ana-

Griechische Götterhymnen

55

Ein wirkliches „liturgisches Buch im engeren Sinne"86 stellt schließlich die Sammlung der sog. .Orphischen H y m n e n ' dar, die wahrscheinlich als „Choralbuch einer orphischen Gemeinde" 57 in Kleinasien diente. Der Abschluß der Sammlung fällt wohl frühestens in das 2. Jahrhundert n. Chr., wenn auch einige der Texte erheblich älter sein dürften. Nach einem einleitenden Kollektivgedicht an etwa 80 verschiedene Gottheiten (mit Widmung an einen Musaios; 44 Verse) folgen 87 Einzelhymnen, die in der Tradition der hexametrischen Homerischen Hymnen stehen, allerdings das Pantheon erheblich erweitern (z.B. Hymnen an die Nacht oder die Luft, an Sonne, Mond und Sterne, an Physis, Tyche und Hygieia). Anrufung und Mittelteil (öfters nicht klar zu trennen) sind durch eine Häufung von rühmenden Epitheta gekennzeichnet, die gelegentlich durch Relativsätze aufgelockert werden; am Ende steht die gattungstypische Bitte. Jedem der Hymnen, deren Umfang zwischen 6 und 30 Versen liegt, ist eine Angabe über das zu verwendende Räucherwerk vorangestellt. Merkwürdigerweise finden sich in diesen Liedern kaum spezifisch orphische Elemente, dafür aber ein Einschlag stoischer Philosophie.88 Wie wir gesehen haben, sind die literarischen Verwendungsmöglichkeiten der Hymnengattung vielfältig: Ursprünglicher ,Sitz im Leben' ist sicherlich die kultisch-liturgische Funktion im engeren Sinne. Daneben kann der Hymnus aber auch als Mittel der .Öffentlichkeitsarbeit' eingesetzt werden - etwa in Gestalt einer allgemein zugänglichen Inschrift, die durch den Lobpreis der verehrten Gottheit zugleich eine Rechtfertigung und Selbstbestätigung der Kultgemeinschaft darstellt. So wie hier der Hymnus zum Träger religiöser Propaganda wird, ist auch eine entsprechende Verwendung im politischen Bereich belegt: In der kultischen Verehrung eines Herrschers, die durch einen Hymnus auf dessen Göttlichkeit zum Ausdruck gebracht wird, können die Einwohner einer Stadt oder Region dem Eroberer ihre politische Unterwürfigkeit demonstrieren. Besteht in diesen Fällen noch eine Einbindung in kultische Zusammenhänge - wenn auch im weitesten Sinne - , so hat sich der Hymnus daneben auch völlig unabhängig vom Kult als literarische Gattung verselbständigt. Als solche kann er etwa zur Darstellung philosophischer Gedanken dienen und damit zum Ausdruck persönlicher Religiosität werden. Möglich ist aber auch die Rezeption des Hymnus als reine Kunstform; dann dient er der Unterhal-

lyse des Liedes schließe ich mich HEITSCH, Helioshymnen 144-150, an. Andéis wird der Wechsel des Metrums von PÖHLMANN, Denkmäler altgriechischer Musik 27f, bewertet: Er sieht hier zwei eigenständige Gedichte und zieht v. 1 - 6 als drittes ursprünglich selbständiges Proömium zu den beiden Teilen des Musenhymnus (vgl. oben Anm. 78). 8 6 E . VOGT, L A W 2 1 7 3 . 8 7 WÜNSCH, H y m n o s 171.

88 Vgl. zum ganzen KEYDELL, PRE XVin/2 (1942), 1321-1333.

56

Das Lob von Göttern und Menschen

tung einer gebildeten Leserschaft, die sich am variierenden Spiel mit mythologischen und literarischen Traditionen erfreut. Außer diesen eigenständigen Verwendungsformen gibt es noch - für unsere Untersuchung besonders interessant - die Integration von Hymnen in einen anderen poetischen Kontext (Epos, Lehrgedicht, Drama). Dies ist besonders häufig am Anfang eines Werkes, dem damit mehr Würde verliehen wird, kann aber auch an geeigneten Stellen innerhalb des übergeordneten Textes geschehen - sei es, weil die Handlung es verlangt, sei es, weil der Dichter seinem Werk gewissermaßen Glanzlichter aufstecken möchte.89 Ähnlich vielfältig sind die Möglichkeiten der metrischen Gestaltung eines Hymnus. Zwar ragen unter den erhaltenen Exemplaren der Gattung solche in daktylischen Hexametern heraus90, weil die in diesem Versmaß gehaltenen .Homerischen Hymnen' sowohl für die Produktion als auch für die Kanonisierung von Hymnen als Musterbeispiele angesehen wurden. Aber es sind doch auch genügend viele Hymnen in anderen Versmaßen erhalten, um die Bandbreite erkennen zu lassen. Sogar ein Wechsel des Metrums innerhalb eines Hymnus ist möglich - wenn dies auch kein gängiges Stilmittel ist, sondern eher auf individuellen künstlerischen Gestaltungswillen zurückgeht (Mesomedes). Schließlich hat die Betrachtung ausgewählter Beispiele gezeigt, daß auch der Umfang von Hymnen erheblich variieren kann: Die Extreme liegen auf der einen Seite bei 3 Versen, auf der anderen bei 580 Versen. Aber selbst wenn wir diese äußerst seltenen Fälle außer Betracht lassen, so hat doch der normale Rahmen immer noch eine Spanne von 5 bis 100 Versen. Allerdings müssen angesichts der zahlreichen Variationsmöglichkeiten, die durch die Betrachtung einzelner Hymnen deutlich geworden sind, noch einmal die Gemeinsamkeiten betont werden: Adressat oder Gegenstand eines Hymnus ist immer ein göttliches Wesen dies gilt auch für die Sonderfälle der Hymnen auf einen Menschen oder auf einen allgemeinen Wert, weil der Betreffende hierdurch in den Rang einer Gottheit erhoben wird. Was den Aufbau angeht, läßt sich immer wieder eine dreiteilige Grundform beobachten (selbst wenn die Grenzen zwischen den einzelnen Teilen im Einzelfall fließend sein können): Anrufung der Gottheit - argumentativer oder preisender Mittelteil - abschließendes Bittgebet. Diese drei Teile sind je nach Zielrichtung des jeweiligen Hymnus unterschiedlich stark ausgeprägt,

89 Zum Vorkommen hymnischer Passagen in größeren literarischen Zusammenhängen siehe auch unten Kap. Π. 1 c (lateinische Dichtung) sowie ausführlicher Kap. ΠΙ (antike Theorie und Beispiele aus Prosatexten). 90 Vgl. KEYSSNER, Gottesvorstellung 3: „Die Hauptmasse der erhaltenen Hymnen ist in hexametrischer Form gehalten, während von den in melischen Maßen verfaßten Hymnen der Blütezeit und des Hellenismus nur wenige auf uns gekommen sind."

Enkomien und Epinikien

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aber in der Regel alle vorhanden; das Bittgebet kann bei einem reinen Lobhymnus zu einem abschließenden Lobpreis abgewandelt werden. Inhaltlich überwiegt in den Hymnen eine Reihe häufig wiederkehrender, weitgehend stereotyper Aussagen, die sich hauptsächlich auf die Erhabenheit und Macht der angesprochenen Gottheit beziehen; bei den einzelnen Göttern kommen jeweils spezifische Eigenschaften und Taten hinzu. Der Spielraum des Dichters liegt hier in der Auswahl und Zuordnung der Motive. Die sprachliche Gestaltung eines Hymnus ist durchweg von überschwenglichen Formulierungen geprägt: Neben einem Hang zum Superlativ bestimmen vor allem Aussagen mit,alles' und ,immer' das Bild. Als Kurzform solcher Aussagen finden Partizipien sowie zusammengesetzte Beinamen Verwendung, wobei für die Bildung immer neuer Zusammensetzungen mit παν-, παντοund πολυ- viel Kreativität aufgewendet wird. Zur Auflockerung ζ. T. endloser Reihen von Ein-Wort-Prädikationen sind schließlich auch Relativsätze ein gängiges Ausdrucksmittel - aber kein griechischer Hymnus beginnt mit dem Relativpronomen ος. Da eine große Zahl von antiken griechischen Texten erhalten ist, die in den eben aufgezählten Grundzügen übereinstimmen, soll der Begriff .Hymnus' hier im engeren Sinne zur Kennzeichnung für die betreffenden Texte also als Gattungsbezeichnung - dienen. Eine inflationäre Verwendung des Begriffs wird m. E. durch nichts nahegelegt und würde nur zur sprachlichen Unschärfe beitragen.

b) Enkomien und Epinikien Nach der im vorigen Abschnitt genannten Gegenüberstellung von Liedern εις θεούς und εις ανθρώπους ist .Enkomion' der Oberbegriff für das Loblied auf Menschen. Etymologisch ist έγκώμιον wahrscheinlich von κώμος (,Gelage' bzw. .festlicher Umzug') abzuleiten1, wenn auch bei den antiken Theoretikern fast einhellig die Ableitung von κώμη (.Dorf) geboten wird2. 1 Vgl. CRUSIUS, Enkomion 2581: „Loblied, welches der Festzug (κώμος) auf den heimgekehrten Sieger zu singen pflegte"; PAYR, Enkomion 333: „das Lied der feiernden Schar". Diese Etymologie bieten von den antiken Autoren Theon, Progymnasmata IX,9f BUTTS ( = p. 109, 2 6 - 2 8 SPENGEL) und Nikolaos, Progymnasmata, p. 4 9 , 1 0 - 1 2 . 2 .Hermogenes', Progymnasmata, p. 15, 3 - 5 ; Aphthonios, Progymnasmata, p. 2 1 , 5 - 7 , sowie die bei FÄRBER, Lyrik Π 43 f, im Wortlaut angeführten späteren lexikalischen Werke. Besonders auffällig ist es, daß zu der Begründung, die Preisungen der Götter (ϋμνοι των θεών) seien von den Dichtern in alten Zeiten in den Dörfern (έν ταΐς κώμαις) gesungen worden, immer wieder die erläuternde Bemerkung hinzutritt, als κώμαι habe man damals auch die Engpässe (στενωποί) bezeichnet. - Die beiden alternativen Etymologien (κώμος/κώμη) wurden auch für den Begriff ,Komödie' (κωμωδία) angeführt; der diesbezügliche Streit ist schon bei Aristoteles, Poetik 3,1448a35ff, bezeugt.

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Das Lob von Göttern und Menschen

Weist also die ursprüngliche Herkunft der Gattungsbezeichnung ganz allgemein in den Bereich der Fest- und Gelagepoesie, so hat sich doch schon früh eine engere Verwendung des Begriffs als .Preislied auf einen Menschen' eingebürgert.3 In der alten Chorlyrik, v. a. bei Pindar, ist mit .Enkomion' sogar fast immer das spezielle Preislied auf den Sieger der nationalen Wettkämpfe bezeichnet4, und zu diesen Spezialfällen (den ,Epinikien') gehören auch die weitaus meisten erhaltenen Vertreter der Gattung. Berührungen ergeben sich auch mit der Gattung des .Skolion' (beim Symposion vorgetragenes Lied), das etwa ein Lob schöner Knaben oder des Gastgebers enthalten kann; in der Zuordnung der Skolien zu den Enkomien gehen freilich schon bei den antiken Theoretikern die Meinungen auseinander.5 Weitere Gattungen antiker Lyrik, die sich auf Menschen beziehen und lobende Elemente enthalten, sind die Gedichte auf den Eros (έρωτικά), das ,Ständchen' und das Festlied zur Hochzeit (έπιθαλάμιον und ύμέναιος) und die Lieder der Totenklage (έπικήδειον und θρήνος). Das satirische Spottlied (σίλλος) ist zwar genau entgegengesetzt ausgerichtet, kann jedoch in der antiken Theorie mit den eben genannten Gattungen in eine Kategorie gerechnet werden.6 Als typische Vertreter des Enkomions gelten Simonides, Bakchylides und Pindar.7 Alle drei Namen sind in erster Linie mit dem Sonderfall des Lobliedes auf den Sieger in einem Wettstreit (άγων) verbunden, aber nicht allein auf diese (Unter-)Gattung (έπινίκιον bzw. επίνικος) beschränkt. Simonides, der 467/66 v.Chr. im Alter von 90 Jahren starb, ist wahrscheinlich der Begründer des professionellen, vom Sieger oder von dessen Familie in 3 Selbst der Begriff κώμος kann für έγκώμιον stehen (vgl. Pindar, Nem. I Ü 4 f ; Isthm. V I 58). Analog dazu bedeutet das Verb κωμάζειν (eigentlich ,einen κώμος abhalten') häufig ,loben, preisen' (z. B . Alkaios, fr. 56; Pindar, Isthm. m / I V 90; V ü 20; Nem. X 35); dies ist auch die Bedeutung von έγκωμιάξειν (z. B . Piaton, Symposion 198e; Isokrates, Busiris 5. 6; Euagoras 8. 11; Panathenaikos 253). 4 Vgl. Pindar, Olymp. Π 47; X 77; Χ Ι Π 29; Pyth. X 53; Nem. 17; aber auch die Verwendung des Begriffs έγκώμιον bei Piaton, Nomoi V m , 822b; Lysis 2 0 5 c - e ; Aristophanes, Tagenistai, fr. 505 (491), bei Athenaios X V 6 7 7 b - c . 5 Vgl. FÄRBER, Lyrik I 36f; 5 7 - 6 3 , und die zahlreichen, ebd. Π 4 5 - 4 9 im Wortlaut zusammengestellten theoretischen Äußerungen; ferner HARVEY, Classification 1 6 0 - 1 6 4 (hebt den Bedeutungswandel der Begriffe zwischen dem 5. u. 2. Jh. v. Chr. hervor), sowie VOIGT, L A W 8 1 3 f (s. v. Enkomion) u. 2816 (s. v. Skolion). 6 Die hier aufgezählten Gattungen .Chrestomathie'

des

Proklos

genannt:

einschließlich Siegeslied und Skolion Εις

δέ

ανθρώπους

εγκώμια,

sind in der

έπίνικον,

σκόλια,

έρωτικά, έπιθαλάμια, ύμεναίους, σίλλους, θρήνους, επικήδεια (bei Photios, Bibl. cod. 239, p. 3 2 0 a 1 - 3 ) . In der anschließenden Definition der einzelnen Gattungen (ebd.

321a2-33)

taucht das Enkomion nicht mehr auf; es könnte also als Oberbegriff verstanden sein. -

Weitere

Zeugnisse für diese Gattungen sind bei FÄRBER, Lyrik Π 4 9 - 5 4 , angeführt und werden ebd. I 3 7 - 3 9 ; 6 3 - 6 6 , besprochen. 7 Vgl. CRUSIUS, Enkomion 2581f; PAYR, Enkomion 333 f.

Enkomien und Epinikien

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Auftrag gegebenen Epinikion; aus Simonides' umfangreichem Œuvre sind indes nur Bruchstücke erhalten.8 Die Fragmente aus den Epinikien (fr. 14-23) verraten aufgrund ihrer Unvollständigkeit nicht viel über die gattungstypischen Züge.9 Als ,Enkomion' ist ein Stück überliefert (fr. 5), das die Toten von Thermopylai preist; an diesem Engpaß hatten im Jahre 480 die Spartaner unter ihrem König Leonidas den Zugang nach Griechenland gegen die Perser bis zum letzten Mann verteidigt. Das „Totengehege der trefflichen Männer" (ανδρών αγαθών οδε σηκός) beherbergt nach dem Lied des Simonides auch die εύδοξία Griechenlands (Z. 6f); ihr Grab wurde zum Altar, die Wehklage zum Lobpreis (έπαινος) (Ζ. 3), und selbst die alles bezwingende Zeit (πανδμάτωρ χρόνος) kann ihrem immerwährenden (αέναος) Ruhm nichts anhaben (Z. 4f. 8f). - Weniger .hymnisch' geht es in dem als ,Skolion' überlieferten Loblied auf einen noch Lebenden - den thessalischen Tyrannen Skopas - zu (fr. 4), das für ein Trinklied bemerkenswert nüchtern ist: Simonides betont hier die menschliche Unvollkommenheit (Ζ. 1 - 1 3 ) und hält die Suche nach einem „völlig untadeligen Menschen" (πανάμωμος άνθρωπος) für vertane Zeit (Z. 14-19); zum Loben genügt ihm ein Mensch, der „nicht zu schlecht und nicht zu ungeschickt" ist und das Recht kennt, das der Polis nützt - kurz: „ein gesunder Mann" (ύγιής άνηρ) (Ζ. 20-33). Von Simonides' Neffen Bakchylides sind die genauen Lebensdaten nicht bekannt; die sicher datierbaren Gedichte - größtenteils Epinikien - sind zwischen 485 und 452 v.Chr. entstanden.10 Neben den Siegesliedern (1-14B) sind noch einige Dithyramben erhalten (15-21; 26 - 27); dazu kommen Fragmente aus verschiedenen Gattungen chorischer Lyrik.11 Die Lieder der Chorlyrik sind in Aufbau und Metrum etwas komplizierter als die für den Einzelvortrag vorgesehenen Stücke, die wir im Zusammenhang 8 Die erhaltenen und übersetzbaren Fragmente zitiere ich nach: Frühgriechische Lyriker IV (SNELL/FRANYÓ), 4 6 - 6 9 ; zu Simonides' bewegtem Lebenslauf siehe ebd. 9f. 9 Humor und Geschäftstüchtigkeit des Dichters zeigen sich im Zusammenhang von fr. 19, das Aristoteles, Rhet. ΠΙ 2,14, überliefert: Den Auftrag, ein Lied auf den Sieger eines Mauleselrennens zu schreiben, lehnte Simonides zunächst ab - mit der Begründung, er wolle nicht über Halbesel dichten; als der Auftraggeber jedoch das Honorar erhöhte, erhielt er ein Siegeslied, das mit den Worten begann: „Seid gegrüßt, Töchter der windfüßigen Rosse!" (Χαίρετ', άελλοπόδων θΰγατρες ϊππων). 10 Zu den spärlichen Nachrichten über das Leben des Dichters siehe die „Einführung" in der griechisch-deutschen Bakchylides-Ausgabe von MAEHLER, 9 f. 11 Die Originaltexte des Bakchylides gingen im Mittelalter verloren und wurden erst durch einen großen Papyrusfund im Jahr 1896, dem dann weitere kleinere Funde folgten, wiedergewonnen (vgl. MAEHLER, a. a. O. 16f; eine Aufstellung aller bisher bekannten Papyri in der praefatio der Ausgabe von SNELL/MAEHLER, VII-XVII). Diese Überlieferungslage bringt es mit sich, daß keines der Lieder völlig lückenlos erhalten ist. - Die Fragmente stammen aus Epinikien, Hymnen, Päanen, Dithyramben, Prozessionsliedern (Prosodien), Tanzliedern und Liebesliedern; bei fr. 2 0 A - D u. 21 sind die modernen Herausgeber unsicher, ob sie aus Enkomien oder Skolien stammen.

60

Das Lob von Göttern und Menschen

der Hymnen kennengelernt haben12: Nicht der Vers oder das Verspaar bildet die metrische Grundeinheit, sondern die .Strophe', in der jeder Vers eine andere Abfolge von kurzen und langen Silben haben kann. Eine ,Strophe' wird im allgemeinen von einer .Gegenstrophe', die ihr metrisch genau entspricht, und einer ,Epode', die metrisch anders gebaut ist, gefolgt, so daß sich eine dreiteilige Grundstruktur ergibt: die ,Triade'. Dies kann sich innerhalb eines Liedes wiederholen; dann folgen alle weiteren .Triaden' dem metrischen Schema der ersten (,Responsion').13 Auf diese Weise ist jedes Lied metrisch einzigartig. Die Versmaße entstehen allerdings durch Kombination und Variation stets wiederkehrender metrischer Grundbausteine, die sich zwei Hauptgruppen zuordnen lassen: den in der modernen Forschung so genannten JDaktyloepitriten' und den jambisch-äolischen Maßen. In der ersteren Gruppe werden daktylische Elemente (meist - u u - u u - ; seltener - u u - und UU-) mit dem .epitritischen' Element - u - kombiniert, wobei zwischen diese Glieder jeweils noch eine (meist lange) Silbe tritt. In der zweiten Gruppe werden jambische Elemente ( x - u - u.a.) mit äolischen ( x x - u u - u - u.a.) verbunden.14 Stilistisch ist die Chorlyrik allgemein durch reiche Verwendung von zusammengesetzten Beiwörtern geprägt, die zur Veranschaulichung des Gegenstandes beitragen; speziell Bakchylides hat eine Vorliebe für Komposita mit Farbwörtern.15 Allgegenwärtig sind Mythen, die in den längeren Liedern ausführlicher erzählt werden, aber wegen ihrer allgemeinen Bekanntheit ζ. T. auch bloß angedeutet und variiert werden können. In ähnlicher Weise finden sich gerade bei Bakchylides auch Variationen über andere gängige Themen und Motive.16 Ebenfalls typisch für den Stil des Bakchylides ist eine dramatisch-pathetische Erzählweise: Die erzählerischen Partien setzen meist mitten im Geschehen ein, werden zur Steigerung der Anschaulichkeit gelegentlich Augenzeu-

12 Von den oben in Kap. Π. 1 a erwähnten Hymnen sind nur zwei in chorlyrischen Maßen verfaßt: der Päan des Aristoteles auf die Areta (a. a. O. Anm. 66) und der Päan auf Titus Flamininus (ebd. Anm. 71). 13 Vgl. MAEHLER, a.A.O. 7f. - Nicht triadisch, sondern nur aus Strophe und Gegenstrophe gebaut sind bei Bakchylides die Epinikien 4; 6 - 8 und 14B sowie der etwas längere Dithyrambus 18 (auf Theseus), der zweimal Strophe + Gegenstrophe enthält. 14 Vgl. MAEHLER, a. a. O. 15 (dort etwas differenzierter), sowie ausführlicher SNELL, Metrik 5 1 - 5 7 ; SICKING, Verslehre 160-178. - Daktyloepitritische Versmaße verwendet Bakchylides z.B. in den Liedern 1; 3 (Epode); 5; 7 - 1 5 ; 27; jambisch-äolische Maße in 2; 3 (Strophe); 4; 6; 1 6 - 1 8 . 15 Vgl. MAEHLER, a. a. O. 12f. Bakchylides spricht etwa vom „gelbäugigen" (ξανθοδερκής) Drachen (9,12) oder vom „rotblitzenden" (φοινικοστερόπας) Zeus (12,40f); besonders häufig sind Komposita mit „golden" (χρυσ-) und „erzen" (χαλχ-). 16 Zum Stilmittel der „andeutenden Variation" von Mythen, Sentenzen oder literarischen Wendungen bei Bakchylides siehe MAEHLER, a. a. 0 . 1 3 .

Enkomien und Epinikien

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gen in den Mund gelegt und sind durch rasche Wechsel geprägt; besonders lebendig werden diese Passagen dadurch, daß Bakchylides sich nicht auf die Schilderung äußerer Vorgänge beschränkt, sondern auch die emotionale Erregtheit (das πάθος) der handelnden Personen beschreibt.17 Pindar war Zeitgenosse und Rivale von Bakchylides.18 Geboren wurde er 522 oder 518 v.Chr.; seine Tätigkeit als Dichter fällt zwischen 498 (Pyth. X ) und 446 v. Chr. (Pyth. VIII). 19 In Hinsicht auf die Siegeslieder ist die Überlieferungslage bei Pindar ausgesprochen günstig: Seine Epinikien sind handschriftlich in vier Gruppen (3üchern') nach den vier großen nationalen Wettspielen überliefert; darin sind 14 olympische, 12 pythische (Kampfort: Delphi), 11 nemeische und 8 (bzw. 7) isthmische Oden praktisch vollständig erhalten. Allerdings zählte die Pindar-Ausgabe der antiken alexandrinischen Gelehrten insgesamt 17 ,Bücher' (d.h. Werkgruppen), darunter Hymnen, Päane, Dithyramben, Prosodien (Prozessionslieder), Parthenien (Mädchenlieder) und Hyporchemata (Tanzlieder) als religiöse Dichtung (εις θεούς), sowie neben den Epinikien - noch Enkomien und Threnoi als profane Dichtung (εις ανθρώπους). Von diesen sind lediglich Fragmente erhalten (größere Papyrusbruchstücke nur von den Päanen), die jedoch große stilistische Übereinstimmungen mit den Epinikien (ihrerseits vom feierlichen Ernst der religiösen Dichtung geprägt) erkennen lassen.20 Die pindarischen Epinikien sind im Vergleich mit den bisher betrachteten besonders kunstvoll gestaltet (auch meist länger) und erscheinen mit ihrer Fülle sehr unterschiedlicher Themen und Motive z.T. „hoffnungslos disparat"21. Das einigende Band dürfte jedoch darin zu sehen sein, daß der Dichter den Sieger und alles, was mit seinem Sieg verbunden ist, preisen will. Die einzelnen Objekte des Lobes lassen sich sechs Gruppen zuordnen22:

17 Vgl. (mit Beispielen) MAEHLER, a. a. 0 . 1 4 f . 18 Eine Konkurrenzsituation bestand v. a. im Ringen um die Gunst des Herrschers Hieron von Syrakus: Bakchylides schickte Hieron i.J. 4 7 6 zu seinem olympischen Sieg mit dem Rennpferd unaufgefordert ein langes, prächtiges Epinikion (Nr. 5), obwohl ein offizielles Gedicht bei Pindar in Auftrag gegeben war ( = Olymp. I); das gleiche wiederholte er i. J. 4 7 0 mit einem kürzeren Gedicht (Nr. 4 ) auf Hierons pythischen Sieg im Wagenrennen (vgl. Pindar, Pyth. I). Dafür ging der Auftrag für das offizielle Epinikion an Bakchylides, als Hieron 4 6 8 den besonders hoch angesehenen Sieg im olympischen Wagenrennen davontrug (vgl. MAEHLER, a . a . O . 10). Anspielungsweise schlägt sich die Rivalität wohl in den Gedichten nieder (VOIGT, L A W 430, s. v. Bakchylides, nennt als entsprechende Stellen: Pindar, Olymp. II 94; Nem. V I I 72f, und Bakchylides, fr. 5). 19 Vgl. VOIGT, L A W 2329f. 2 0 Zur Überlieferung vgl. ebd. - Die hier genannten Gattungen und die beiden übergeordneten Kategorien sind bereits oben, am Anfang von Kap. Π. 1 a, besprochen worden. 21 So FRANKEL, Dichtung 5 5 8 (zitiert in THUMMERS Kommentar zu Pindars isthmischen Gedichten, Bd. I, 9); das einheitstiftende Moment der pindarischen Gedichte sieht FRANKEL (a. a. O. 5 5 7 - 5 6 7 ) in ihrem „Wertdenken".

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Das Lob von Göttern und Menschen

1.) Das Lob all dessen, was mit dem Sieg zusammenhängt, gilt zunächst dem aktuellen Sieg, der ja den Anlaß des Epinikions darstellt; darüber hinaus werden aber auch weitere Siege, die der Sieger oder seine Angehörigen früher errungen haben, aufgezählt und gelobt. Hierbei richtet sich die Reihenfolge der früheren Siege meist nach dem Rang der Kampforte (Olympia, Delphi, Isthmos, Nemea; dann lokale Wettkampfstätten).23 Auch das explizite Lob dieser Stätten gehört in diesen Zusammenhang; es ist zumeist auf preisende Attribute beschränkt, kann aber in den Olympischen Oden auch breit ausgeführt werden (z.B. 11-7; VIII1-11; X24-77). 24 Der Lobpreis der Götter, unter deren Schutz die Siege errungen wurden, ist ein weiterer Topos; Schutzherren der Kampfspiele sind besonders Zeus (olympische und nemeische Spiele), Apollon (pythische Spiele) und Poseidon (isthmische Spiele).25 Am Sieg beteiligt waren auch der Trainer sowie (nicht unerheblich) der Wagenlenker, die daher in vielen Epinikien ebenfalls mit Lob bedacht werden.26 Ein Lob der Wettkampfdisziplin, in welcher der Sieg errungen wurde, findet sich bei Pindar nur ein einziges Mal; dabei handelt es sich bemerkenswerterweise um eine musische, nämlich das Flötenspiel (Pyth. XIIÓ-27).27 2.) Das Lob des Siegers beinhaltet sehr unterschiedliche Qualitäten. Besonders häufig werden Schönheit, Stärke, Kampfkraft und Mut, Bereitschaft zu Aufwand und Mühen, ererbte Tüchtigkeit, Verdienste um die Familie und Heimat, Gastfreundlichkeit und Kultfrömmigkeit des zu Preisenden hervorgehoben. In den Liedem auf fürstliche Sieger treten etwa Reichtum, Ansehen, Macht, kriegerische Erfolge sowie Gerechtigkeit, Weisheit und respektvoller

22 Die folgende Aufstellung der Lobesthemen wird in THUMMERS genanntem Kommentar, Bd. I, genannt und ausführlich entfaltet; die wichtigste Vorarbeit, auf die der Verf. sich bezieht, ist SCHADEWALDT, Aufbau (passim). 23 Vgl. ausführlich THUMMER, a.a.O. 19-30. - Keinen aktuellen Sieg nennt Pindar in Pyth. ΠΙ (Trostgedicht für den kranken Hieron) und Nem. XI (Festgedicht zu einem Amtsantritt), die aber beide auf frühere Siege der Adressaten hinweisen, sowie Isthm. Π (Gedicht an Thrasybulos, das die Siege seines verstorbenen Vaters Xenokrates preist). 24 Vgl. THUMMER, a. a. O. 31-33. 25 Vgl. THUMMER, a. a. 0 . 3 3 - 3 5 . 26 Zum Lob des Trainers (meist gegen Ende des Gedichtes piaziert) siehe THUMMER, a. a. O. 35f; zum Lob des Wagenlenkers ebd. 36f. 27 Dazu vgl. THUMMER, a.a.O. 31. - Die musischen Wettkämpfe (αγώνες μουσικοί) hatten neben den Athleten- und Pferdekämpfen (αγώνες γυμνικοί bzw. ιππικοί) ihren festen Platz bei den panhellenischen und mehreren anderen Wettkampfveranstaltungen. Sie bestanden u. a. aus rhapsodischen Vorträgen, in denen epische Hymnen oder Heldenepen dargebracht wurden (vgl. oben Kap. Π. 1 a, Anm. 58 u. 59, zu den Homerischen Hymnen), aus dem Singen von ύ'μνοι, νόμοι, διθύραμβοι und έπινίκια, aus Instrumentalwettbewerben (Kithara, Flöte, Trompete), aber auch aus Tanz- und Theateraufführungen (Preise für den Dichter, den finanziellen Träger und den Hauptdarsteller) sowie in späterer Zeit aus epideiktischen Kunstreden (zu diesen siehe unten Kap. Π. 2). Vgl. dazu RICHTER, KP I (1964), 135-139 (bes. 137), s.v. Agon(es).

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Umgang mit Untergebenen als Lobobjekte hinzu. Speziellere Eigenschaften wie Liebe zur Pferdezucht oder musische Interessen sowie allgemeinere Tugenden wie maßvolle Gesinnung und gewinnender Umgang mit den Mitmenschen sind schließlich ebenfalls anzutreffen.28 3.) Eng verbunden mit dem Lob des Siegers selbst ist das Lob der Familie und Vorfahren des Siegers, insbesondere seines Vaters. Der hierbei am häufigsten genannte Aspekt ist die sportliche Tüchtigkeit, ablesbar an der Zahl der Wettkampfsiege. Weitere Eigenschaften, die an der Familie gelobt werden, sind politische und kriegerische Tüchtigkeit, Reichtum, Macht und Ansehen, göttliche Berufung zu hohem Amt, Gastfreundlichkeit, maßvolle Gesinnung sowie speziellere Qualitäten wie Begabung als Trainer und Erzieher, Freude an Aufwand und Pferdezucht und musische oder rednerische Begabung. Gelegentlich werden Glück und göttliche Führung, aber auch große Schicksalsschläge der Familie erwähnt.29 4.) Die Heimat des Siegers wird fast ausschließlich gegen Anfang oder in der Mitte des Liedes gelobt; im ersteren Fall geschieht es (kürzer) in Form einer katalogartigen Aufzählung rühmlicher Eigenschaften, im zweiten Fall (länger) unter ausgiebiger Bezugnahme auf den Mythos. Beides findet sich auch gelegentlich innerhalb einer Ode: z.B. Olymp. XIII 3 - 23.49 - 9 2 (Lob der Stadt Korinth, erst Aufzählung, dann Mythos) oder - in drei Wachstumsstufen - Nem. IV 11-13. 25 - 30. 44-72 (Lob Aiginas). Die Prädikate, die durchweg in den Aufzählungen auftreten, sind .ruhmvoll', ,reich', .wohlgesetzlich', .gerecht', .gastfreundlich', .kriegstüchtig', friedlich', .schön' und .glücklich'; dazu kommen für die einzelnen Orte jeweils spezielle Lobmotive (etwa der Erfindungsreichtum der Korinther, die schönen Frauen in Argos oder die Fruchtbarkeit Siziliens). Für die mythische Ausgestaltung des Lobes sind Städte mit einem reichen Mythenschatz - wie Theben und Aigina, aber auch Argos und Korinth - natürlich besonders gut geeignet.30 5.) Auch das Siegesglück als solches ist Gegenstand des Lobes. Dies kann direkt ausgesprochen werden und ist dann in der Regel mit dem Lob des Siegers, seiner Familie oder seiner Heimat verknüpft. Häufiger wird aber das Siegesglück in Form einer allgemeingültigen Aussage gepriesen, wobei oft die Bestandteile des Glücks in einem Konditionalsatz oder einem konditionalen Relativsatz genannt werden (εϊ τις... bzw. δς αν...), während der Hauptsatz hervorhebt, daß der Gipfel des Glücks erreicht ist. Vertieft wird das Siegesglück durch den Hinweis auf seine lebensstärkende Macht (es läßt früheres Leid vergessen und strahlt in die Zukunft, ja bis ins Jenseits hinein), durch die

28 Zum Lob des Siegers siehe THUMMER, a. a. O. 3 8 - 4 8 (Zusammenfassung 46ff). 29 Zum Lob der Familie des Siegeis siehe THUMMER, a.a.O. 4 9 - 5 4 (Zusammenfassung 53 f). 30 Zum Lob der Heimat des Siegers siehe THUMMER, a.a.O. 5 5 - 6 5 (Zusammenfassung 640-

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Vergöttlichung seiner Aspekte (günstiges Schicksal: Tyche; Siegesglanz: Theia; Ruhe nach dem Kampf: Hesychia; Glanz, Heiterkeit und Freude beim Fest: die Chariten Aglaia, Euphrosyne und Thalia), die zum Dank für ihre Gunst hymnisch angerufen werden (vgl. die Anfänge von Olymp. XII; XIV; Pyth. VIII; Isthm. V), oder durch die Kontrastierung mit wirklichem oder möglichem Unglück. Als eine Art .Gradmesser des Glücks' kann schließlich auch der Neid der anderen dienen, der nach verbreiteter Ansicht erstrebenswerter ist als ihr Mitleid (Pyth. 185: κρέαοον γαρ οίκτιρμοΰ φθόνος).31 6.) Das Lob für den Dichter und seine Kunst32 dient der Aufwertung des Gedichtes und trägt damit letztlich auch wieder zum Lobpreis des Adressaten bei. Der Dichter versteht sich als göttlich inspiriert und damit über die anderen Menschen erhoben; im Bewußtsein seiner Größe steht er gleichrangig neben dem Sieger und den anderen Großen dieser Welt und kann daher neidlos Lob spenden. Die Abstammung des Dichters ist edel, seine Heimat berühmt und seine Wesensart vornehm; mit dem Empfänger des Lobes oder mit dessen Heimat verbindet ihn viel. Er ist weise (σοφός, oft als Synonym für den Dichter), aufrichtig und ein Freund der Wahrheit; alle Hindernisse, die sich seiner Arbeit in den Weg stellen33, werden von ihm überwunden. Ohne ihn und seine Lobgesänge würde alles Große dem Vergessen anheimfallen. Dementsprechend ist seine Dichtung göttlich, heilig und wunderbar; außerdem neuartig, weil sie kunstvoller und schmuckreicher als die alte Dichtung ist. Die Macht des Dichterwortes34 ist groß; es kann Tüchtigkeit (άρετά) und Wahrheit aufzeigen (freilich auch die Lüge als Wahrheit ausgeben), Ruhm verbreiten und dank seiner Unvergänglichkeit den Besungenen vor dem Vergessen bewahren. Damit ist das Loblied des Dichters eigentlich der beste Lohn, der dem Sieger nach mühevollem Wettkampf zuteil werden kann; es erhebt ihn und macht ihn beneidens- und begehrenswert.

31 Zu Lob und Vertiefung des Siegesglücks siehe THUMMER, a. a. O. 66-81 (Zusammenfassung 77ff). Der zuletzt genannte Gedanke, daß Neid besser als Mitleid sei, findet sich auch in den Sprüchen der Sieben Weisen (FVS 10,3,6 17) und bei Herodot (11152,5); vgl. a.a.O. 80 Anm. 57. 32 Zum folgenden siehe THUMMER, a.a.O. 82-102 (Zusammenfassung lOlf), der für diesen Lobtopos außer den Epinikien auch die Fragmente Pindars in die Analyse einbezieht (99-101).

33 Die Erwähnung von Hindernissen begegnet bei Pindar vor allem als Proömienmotiv (vgl. Isthm. 11-10; Π 1-11; VIII1-16). - In derselben Funktion ist dieser Topos auch bei anderen Dichtern (vgl. z.B. Catull, carm. 65,1-16; 68,13-38; Lukrez, De rerum natura 1136ff) sowie in der rhetorischen Praxis (vgl. z.B. Isokrates, Euagoras 8-11; Demosthenes, or. V [Περί είρήνης], 1 - 3 ; Cicero, Pro Milone 1 - 3 ) und Theorie (vgl. Cicero, De orat. I 119-124) anzutreffen. 34 Die (besänftigende) Macht der Musik preist Pindar besonders eindrucksvoll in Pyth. I 1-28.

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Die eben genannten Topoi des Lobes werden ergänzt durch Wünsche; diese werden entweder direkt oder in Form von Gebeten ausgesprochen. Erwartungsgemäß gelten die Wünsche denselben Objekten, auf die sich auch das Lob bezieht: Dem Sieger werden Glück und weitere (u. U. größere) Siege gewünscht, seiner Familie dasselbe sowie Bestand von Glück und Reichtum, und für die Heimat des Siegers kommen innere Eintracht und äußerer Frieden als Wünsche hinzu. Für sich selbst bittet der Dichter um Gelingen und gnädige Aufnahme seines Liedes.35 Als weitere, vorwiegend dekorative Elemente treten das Prooimion und der Mythos hinzu. Das Prooimion36 bietet vor allem in der Form der Anrufung einer Gottheit Gelegenheit, dem Gedicht gleich zu Beginn Glanz zu verleihen. Dazu greift der Dichter in der Regel einen Aspekt des im Anschluß ausgeführten Lobesthemas heraus, überhöht ihn zur Gottheit und gewinnt durch deren hymnische Anrufung37 einen prachtvollen, scheinbar selbständigen ,Vorbau' für sein Gedicht. Der betreffende „prunkvoll aufgewölbte Begriff"38 ist häufig dem Themenbereich des Siegesglücks entnommen (Olymp. XII

35 Zu den Wünschen siehe THUMMER, a.a.O. 103-106. - Die Bitten um Gelingen und gnädige Aufnahme des Liedes sind auch in den Götterhymnen häufig anzutreffen: erstere im Eingangsteil (meist als Musenanrufung), letztere am Schluß. Siehe dazu oben Kap. Π. l a (bes. bei Anm. 16 u. 34). 36 Zum folgenden vgl. THUMMER, a.a.O. 107-110. - Weitere Motive des Liedbeginns hat SCHADEWALDT, Aufbau 269-281, herausgearbeitet (zum Hindernismotiv vgl. auch oben Anm. 33).

37 Der Extremfall ist Pindars 14. Olympische Ode, in der das Prooimionmotiv der Götteranrufung das ganze Gedicht so stark bestimmt, daß das Epinikion hier die Form eines Hymnus annimmt: Die ersten viereinhalb Verse enthalten die Anrufung der Chariten (stilgemäße Abschlußwendung: κλυτ', έπεί εύχομαι); darauf folgt eine argumentatio (v. 5 - 1 2 ) , die auf das Wesen dieser Göttinnen hinweist (also Variante 4 nach BREMER, vgl. oben Kap. Π. 1 a, Anm. 20) und nach dem bekannten antithetischen Schema (vgl. ebd. bei Anm. 48) aufgebaut ist: „Denn mit eurer Hilfe (σύν γ α ρ ύμΐν) wird alles Erfreuliche und Angenehme vollendet für die Sterblichen ( . . . ) Denn auch die Götter gebieten nicht ohne Hilfe der erhabenen Chariten über ihre Reigentänze und Gastmähler (ούδε γ α ρ θεοί σεμνάν Χαρίτων ατερ κοιρανέοντι χορούς οΰτε δαΐτας)". Die mit v. 13 einsetzende ,Gegenstrophe' des Epinikions ist deckungsgleich mit dem Abschlußteil des Hymnus: der Bitte. Hier werden die Chariten erneut angerufen - diesmal einzeln mit ihren Namen Aglaia, Euphrosyne und Thalia - und aufgefordert, den Festzug anzuhören und anzuschauen (v. 15 f: έπακοοΐτε νΰν . . . ίδοΐσα τόνδε κώμον); erst jetzt wird der Grund (γάρ!) für alles bisher Gesagte genannt: Pindar will den Wettläufer Asopichos von Orchomenos für seinen olympischen Sieg preisend besingen (v. 17-20). Die letzte auffordernde Anrufung gilt der Nymphe Echo, die (gewissermaßen als Gehilfin des Dichters) dem Vater des Siegers, Kleodamos, die „weithin schallende Kunde" vom Sieg seines Sohnes bringen soll (v. 20-24, bes. 21: ελθ', Άχοΐ, πατρί κλυτάν φέροίσ' άγγελίαν). 38 THUMMER, a. a. O. 109. - Die Architekturmetaphorik stammt von Pindar selbst, der in Olymp. VI 1 - 4 programmatisch von einer „wohlgemauerten Vorhalle" (εύτειχές πρόθυρον) auf „goldenen Säulen" (χρυσέαι κίονες) und von einer „weithin leuchtenden Fassade am Anfang des Werkes" (αρχομένου δ' έργου πρόσωπον . . . τηλαυγές) spricht; das Gedicht selbst

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1—12a; XIV1-17; Pyth. VIII1-20; Isthm. V1-10), kann aber auch die Heimat des Siegers sein (Pyth. XII1-8), sein jugendliches Alter (Nem. VIII 1-5), sein angeborenes Wesen (Nem. VI 1 - 7 ) oder - wenig originell - die Tatsache seiner Geburt (Nem. VII 1-8). Bewußt traditionell kann Pindar schließlich auch mit Zeus (als Schutzgott der nemeischen Spiele) sein Lied beginnen (Nem. II1-5). 39 Der Mythos ist insofern ein dekoratives Element, als er der Erhöhung der einzelnen Lobobjekte dient. So werden das Lob des Siegers, des Kampfortes und seines Schutzgottes, das Lob der Familie des Siegers und (besonders häufig) das seiner Heimat, ferner das Lob des Siegesglücks und immer wieder auch das Lob des Dichters und seines Werkes von Pindar mit mythischen Motiven und Exkursen verknüpft. Auch das nur einmal vertretene Lob der Wettkampfdisziplin, in welcher der Sieg errungen wurde - hier das Flötenspiel ist mit dem Mythos von der Erfindung dieser Kunst durch Athene verbunden und erfährt damit eine Aufwertung (Pyth. XII6-27). 40 Alle genannten Bestandteile des pindarischen Epinikion - die sechs Bereiche des Lobes wie auch die beiden dekorativen Elemente - werden im jeweils konkreten Lied durchaus unterschiedlich verarbeitet; sie werden in der Regel durch vielfältige Überleitungsmotive miteinander verknüpft, können aber auch fließend ineinander übergehen.41 Ihre Reihenfolge ist ebenfalls variabel, wenn auch manche Motive häufiger an bestimmten Stellen innerhalb des Liedes anzutreffen sind.42 Die von Pindar verwendeten Stilmittel tragen zur Verstärkung des Lobes bei. Dazu gehört zunächst die bevorzugte Verwendung von Wörtern, die bei ist hier ein „Gemach" (θάλαμος) und „gleichsam ein bewundernswerter Saal" (ώς 8τε θαητόν μέγαρον). 39 THUMMER, a. a. O. 108f, betont mehrfach, daß die Gestaltung der Prooimien bei Pindar in erster Linie ästhetische Motive hat und daher nicht (wie in der älteren Forschung öfter geschehen) als Zeugnis seiner religiösen Empfindungen überbewertet werden sollte. 40 Zum Mythos als vorwiegend dekorativem Bestandteil des Epinikion siehe THUMMER a.a. 0 . 1 1 0 - 1 2 1 . 41 Zur Verknüpfung der Lobesthemen siehe ausführlich THUMMER, a.a.O. 122-137. Daß ein Abschnitt mehrere Lobesthemen vereinen kann, ist als erschwerender Umstand für die Analyse bereits ebd. 12f problematisiert worden. 42 So erfolgt das Lob des Kampfortes und der Götter (ebenso die Bitte um gnädige Aufnahme des Gesanges) eher gegen Anfang der Ode, das Lob des Trainers eher gegen Ende; das Lob der Heimat des Siegeis steht fast immer am Anfang oder in der Mitte (nur zweimal gegen Ende). Das Lob der Siege ist oft aufgeteilt, so daß zu Beginn der aktuelle Sieg und gegen Ende die früheren (vor allem lokale) Siege Erwähnung finden. Auch der Sieger selbst wird meistens mehrmals gepriesen, häufig verbunden mit den beiden Nennungen der Siege. Das Lob der Familie wird gern mit dem eisten Lob des Siegeis oder aber mit der Nennung früherer Siege verknüpft. Mit jedem beliebigen Thema dagegen kann sich das Lob des Dichters und seines Werkes verbinden, wenn es auch besonders häufig dem Lob des Siegeis und dem der Siege vorangeht. Vgl. dazu THUMMER, a. a. O. 26f, 31ff, 36,47f, 54, 64f, 102,106.

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den Hörern stark emotional besetzt sind, weil sie den zentralen Bereichen des Lebens entstammen.43 Daneben ist eine Vorliebe für Superlative und für Wortformen mit superlativischem Charakter zu beobachten: Adjektive mit a privativum (z.B. αθάνατος, άσβεστος) sowie Zusammensetzungen mit βαθυ-, έρι-, εύ-, εύρυ-, μεγάλο-, παν-, πολυ-, ύπερ- und ύψι-.44 Bei den Verben dienen häufig Komposita mit verstärkendem εκ-, έξ- oder κατα- der Steigerung des Pathos.45 Viele Aussagen werden durch affirmative Partikeln (γάρ, δή, ή, μάλα, μάν, τοι, auch άρα und ρα in diesem Sinne) unterstrichen.46 Die emotionale Beteiligung des Dichters wird stilistisch durch „Anrufe, Fragen, Befehle, Verbote, Wünsche, Gebete, Ausrufe, Beteuerungen, Zitate und Sentenzen" 47 zum Ausdruck gebracht. Ergänzt wird dies durch explizite Hinweise auf die freundschaftliche Verbundenheit mit dem Sieger oder seiner Familie und durch die Betonung von Gemeinsamkeiten (meist im Zusammenhang der Heimat), die bisweilen den Eindruck des absichtlich Konstruierten hinterlassen.48 Eine besondere Verbundenheit zwischen sich und dem Sieger drückt Pindar darin aus, daß er seine Tätigkeit als Dichter mit der des Wettkämpfers vergleicht: Beide setzen sich der Gefahr des Neides aus, beide brauchen Mut und Kraft, und bei beiden hängt der Erfolg von der Gunst des Schicksals und der Götter ab.49 Im Satz- und Versbau liebt Pindar das Ungewöhnliche, was sich allerdings in zwei entgegengesetzten Tendenzen zeigt: einerseits die Durchbrechung der gewöhnlichen Wortstellung durch Sperrungen, Asymmetrien, Anakoluthe andererseits eine Neigung zu streng architektonischer Anordnung und Ver-

43 Nach THUMMER, a.A.O. 139, gehören hierzu „z.B. Wörter aus folgenden Bereichen: Geburt, Jugend, Alter, Tod, Eltern (bes. die Mutter), Kinder, Freude, Trauer, Liebe, Haß, Glück, Unglück, Schicksal, Licht, Dunkelheit, Glanz, Mühsal, Kampf, Sieg, Friede, Belohnung, Geschenke, Gewinn, Reichtum, Ehre, Wahrheit, Lüge, Brauch, Gesetz, Schönheit, Blüte, Ruhe, Sturm, Anfang, Ende, Zeit, Augenblick." Die Wirkmächtigkeit dieser Begriffe zeigt sich besonders daran, daß etliche von ihnen bei Pindar auch personifiziert als göttliche Wesen erscheinen (vgl. die Aufzählung ebd.). 44 Vgl. THUMMER, a. a. O. 139. - Hier ist die Nähe zum Stil der Hymnen besonders deutlich; vgl. oben Kap. Π. 1 a, S. 45 (mit Anm. 5 0 - 5 2 ) . 45 Siehe die Beispiele bei THUMMER, a. a. 0 . 1 3 9 . 46 Siehe THUMMER, a. a. 0 . 1 4 0 (mit Beispielen). 47 THUMMER, a.a.O. 154; vgl. 155: „Der erzählende Dichter zeigt sich dem Objekt seiner Dichtung gegenüber distanziert, der fragende, befehlende, wünschende, beschwörende, beteuernde, ausrufende Dichter erscheint ergriffen von dem, was er sagt." - Zur Ergriffenheit des Redners bzw. Dichters als Voraussetzung für die ergreifende Wirkung seiner Worte siehe Cice,ro, D e orat. II 188-190; Quint. Inst. VI 2,26-36; XI 3,62; Horaz, Ars poetica 101-107. 48 Beispiele bei THUMMER, a. a. 0 . 1 5 6 . 49 Vgl. THUMMER, a.A.O. 156f. Auf diesem Hintergrund stellt Pindar sich metaphorisch etwa als Läufer (Olymp. VIII54; Nem. VID 19), als Weitspringer (Nem. V 19 f), als Speerwerfer (Isthm. II 35) oder als Lenker des Musenwagens dar (Isthm. VIII61 f).

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klammerung von Antithesen und Parallelismen.50 Wirkungsvolle Kontraste erzielt Pindar aber nicht nur durch antithetische Wortstellung, sondern auf vielfältige Weise: angefangen vom Klang der gewählten Worte über die Zusammenstellung kontrastierender Begriffe, Bilder und Gestalten bis hin zur Gegenüberstellung größerer Gedankenkomplexe.51 Antithetisch ist auch die bei Pindar beliebte Gegenüberstellung von Allgemeinem und Speziellem, die je nach Anordnung den Blick erweitern oder konzentrieren kann.52 Bei Aufzählungen oder Zusammenstellungen mehrerer graduell verschiedener Begriffe ist ebenfalls die Anordnung variabel: So findet sich die sehr verbreitete Form der graduellen Steigerung (.Klimax1) mit länger werdenden Gliedern (etwa bei Reihungen von Tugenden, Taten oder Wünschen) auch bei Pindar - noch deutlicher ist bei ihm jedoch die Neigung, bedeutende Dinge an den Anfang zu stellen; damit erhält jeweils der Anfang eines Lobesthemas oder einer Mythenerzählung, einer Strophe oder eines ganzen Liedes besonderes Gewicht.53 Oft werden die besonders wichtigen Gegenstände (der Sieger, sein aktueller Sieg, seine Familie oder Heimat) einmal am Anfang einer Ode erwähnt und dann weiter hinten noch einmal wiederaufgenommen, so daß sich für das Lied eine ringförmige Struktur ergibt.54 Charakteristisch für den Stil Pindars ist auch sein ausgeprägtes Bemühen, den stets gleichen Themen und Motiven immer wieder durch die Art der Gestaltung etwas Neues und Überraschendes abzugewinnen: Schier unerschöpflich sind etwa seine sprachlichen Möglichkeiten, für Riegen' und ,Sieg\ für ,loben' und .Loblied' synonyme Ausdrücke zu finden oder sie durch (kürzere oder längere) Umschreibungen zu ersetzen; auch die Siegesorte werden durch solche Umschreibungen poetisch überhöht.55 Variation bestimmt auch die Wiedergabe der Mythen, besonders wenn derselbe Mythos in verschiedenen Oden wiederkehrt56; und schließlich finden sich unter den zahlreichen überlieferten Gedichten keine zwei, deren metrische Gestaltung identisch wäre.57

50 V g l . THUMMER, a. a. 0 . 1 4 0 f .

51 Siehe THUMMER, a. a. 0.145f (mit Beispielen). 52 Dazu etwas ausführlicher THUMMER, a. a. 0.146-148. 53 V g l . THUMMER, a. a . 0 . 1 4 8 - 1 5 1 .

54 Vgl. THUMMER, a. a. O. 150, der angesichts der zweimaligen Erwähnung wichtiger Themen die automatische Entstehung von ,,Gedankenringe[n], die dem Dichter gar nicht bewußt werden mußten", betont und den Ausdruck ,Ringkomposition' nur unter dem Vorbehalt gelten läßt, daß darunter nicht zwangsläufig „ein bewußtes künstlerisches Gestalten" verstanden wird (ebd. Anm. 134). 55 D a z u zahlreiche Beispiele bei THUMMER, a . a . O . 2 8 - 3 0 und 1 4 1 - 1 4 5 . -

D i e Umschrei-

bungen bedienen sich naturgemäß oft der bildlichen Ausdrucksweise (Metapher); dieses Stilmittel ist jedoch allgemein in der Dichtung (und gehobenen Prosa) anzutreffen. 56 Dies zeigt THUMMER, a.a.O. 152-155, anhand der Lieder auf Aigineten (Olymp. VIII; Nem. ffl-Vni; Isthm. V; VI; VIH). 57 Vgl. THUMMER, a. a. 0.151, sowie zum Metrum in der Chorlyrik oben S. 59f.

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So kann Pindar mit Recht behaupten, daß er stets ein .neues Lied' zu bieten hat (vgl. Olymp. III 4; IX 48f; Isthm. V 63). Abschließend soll hier noch ein Gedicht besprochen werden, in dem ein Lob fast nahtlos in sein Gegenteil übergeht; es stammt von einem Lyriker, der ebenfalls in der ersten Hälfte des 5.Jahrhunderts v.Chr. lebte: Timokreon von Rhodos. Sein einziges vollständig erhaltenes Gedicht (fr. I)58, vielleicht ein Skolion, beginnt mit einer sich steigernden Reihung lobenswerter Männer - Feldherren, denen in den Jahren 480 und 479 entscheidende Siege gegen die Perser gelungen waren: „Wenn du Pausanias oder du auch Xanthippos lobst ('Αλλ' ει τύγε ... αινείς) oder du Leutychides, so preise ich Aristeides (έγώ δ' Άριστείδαν επαινέω)" (v. 1 - 4 bzw. If). Nach dieser Beispielreihung oder Priamel - eine Stilfigur, die in der griechischen Dichtung weit verbreitet ist59 - würde man nun ein Preislied (Enkomion) auf den zuletzt genannten Aristeides erwarten. Von diesem erfahren wir aus dem Gedicht jedoch nur noch, daß er Athen verlassen hat - mit der etwas rätselhaften Begründung, daß Leto dem Themistokles gegrollt habe (έπεί Θεμιστοκλήν ηχθαρε Λατώ) (v. 5 - 7 bzw. 3f). Hier (mit dem Beginn der Gegenstrophe) schlägt das Gedicht unvermittelt um in eine wüste Polemik gegen eben diesen Themistokles (athenischer Staatsmann und Feldherr, der wie die zu Beginn Aufgezählten gegen die Perser gesiegt hatte). Timokreon bezeichnet Themistokles als „Lügner, Übeltäter und Verräter" (v. 8 bzw. 5: ψεύστης, άδικος, προδότης), wirft ihm Geldgier vor60 und weiß auch noch von ihm zu erzählen, daß er „am Isthmos" (d.h. wohl in Korinth) seinen Gästen „eiskaltes Fleisch" (ψυχρά κρέα) aufgetischt habe (v. 18f bzw. lOf). Wenn auch der Grund für den Groll des Timokreon unschwer zu erkennen ist - Themistokles hatte (nach v. 8 - 1 4 bzw. 5 - 8 ) seinem einstigen Gastfreund die Rückkehr in dessen Heimatstadt Ialysos ver58 Überliefert bei Plutarch, Themistokles 21,3. Das Gedicht besteht deutlich aus Strophe, Gegenstrophe und Epode (also einer chorlyrischen .Triade'); in Hinsicht auf die Kolometrie sind sich die modernen Herausgeber jedoch uneinig: DIEHL (Anthologia Lyrica Graeca Π/5, 148 f) teilt jeden der drei Blöcke in 7 Veiszeilen (ihm folgen SNELL/FRANYÓ, Frühgriechische Lyriker IV, 68/69), dagegen gliedert PAGE (PMG 727) in jeweils 4 Zeilen. 59 Vgl. besonders deutlich Pindar, Nem. V m 3 7 - 3 9 ; Isthm. VII 1 - 1 5 ; daneben Olymp. 1 1 - 7 ; Π 1 - 7 ; XI 1 - 6 ; Pyth. 175 - 7 9 ; allgemeiner gehalten: Olymp. VII 11-13; V m 12-16. 6 2 - 6 6 ; Nem. m 6 - 8 ; Vffl 4 2 - 4 4 ; allgemein und speziell: Pyth. Π 13-19; Isthm. 1 4 7 - 5 1 (dazu den Komm, von THUMMER, Bd. Π, 27-29). - Der mittelalterliche Ausdruck ,Priamel' (von praeambulum, daher Betonung auf der zweiten Silbe) wird erst seit dem 18. Jh. für die Figur der Beispielreihung verwendet (vgl. HOMMEL, LAW 2429, sowie ausführlich KRÖHLING, Priamel; SCHMID, P r i a m e l ; RACE, P r i a m e l ) .

60 Das Schlüsselwort άργύριον zieht sich durch die ganze Polemik (v. 10.13.17 bzw. 6. 8. 10). Da die von Themistokles angeregte Aufrüstung der athenischen Seestreitkräfte 483/82 durch ein neuerschlossenes Silbervorkommen finanziert worden war (vgl. KINZL, KP V [1975], 680), konnte Timokreon für seine Tirade an eine bereits vorhandene Assoziation anknüpfen: Semper aliquid haeret. (Vgl. aber auch Herodot V m 4 f. 111 f; Plutarch, Themistokles 21,1 f.)

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wehrt - , so bleiben doch die einzelnen Vorwürfe und vor allem die Hintergründe des Zerwürfnisses im Dunkeln.61 Aber es geht Timokreon in seinem Gedicht eben nicht um eine argumentative Auseinandersetzung mit seinem Gegner, sondern um dessen Schmähung.62 Wenn wir nun die eben besprochenen Beispiele antiker griechischer Loblieder auf Menschen zusammenfassend betrachten und auch hier die Frage nach dem ,Sitz im Leben' stellen, so stechen zwei Situationen besonders hervor: das festliche Gelage (Symposion) und die Feier zu Ehren des Siegers. Die dort vorgetragenen Preislieder können unabhängig von ihrem Anlaß unterschiedslos als ,Enkomien' bezeichnet werden - auch deshalb, weil beide Arten von Feiern im allgemeinen Sprachgebrauch einen κώμος darstellen. Eine feinere Differenzierung der Gattungsbezeichnungen, wie sie vor allem die alexandrinischen Gelehrten des 3./2. Jahrhunderts v. Chr. anstrebten, würde im ersteren Fall von einem ,Skolion' (d. h. ,Trinklied'), im zweiten Fall von einem ,Epinikion' (d.h. ,Siegeslied') sprechen. Allerdings ist hierbei zu betonen, daß das ,Skolion' nicht auf das Lob von Menschen beschränkt ist, sondern ein breiteres Spektrum hat. Hinzu kommt ein überlieferungsgeschichtliches Phänomen: Unter den erhaltenen Lobliedern auf Menschen (Hauptvertreter: Simonides, Bakchylides und Pindar) sind die ,Siegeslieder' so stark in der Überzahl, daß sie das Bild der Gattung ,Enkomion' maßgeblich bestimmen. Da die Enkomien bzw. Epinikien immer für den chorischen Vortrag konzipiert sind, ergibt sich im Vergleich zu den meist monodischen Götterhymnen eine größere Vielfalt in der metrischen Gestaltung: Jedes Lied, das nach den Gesetzen der Chorlyrik konstruiert ist, hat seine eigene metrische Struktur (wenn auch gewisse Grundbausteine immer wiederkehren). Mehrere unterschiedlich gebaute Verszeilen bilden eine ,Strophe', deren Gesamtschema in der ,Gegenstrophe' genau wiederholt wird. Meistens, aber nicht immer, tritt zu diesen beiden noch ein dritter Block, der bei gleicher Zeilenzahl ein anderes metrisches Schema aufweist: die ,Epode'. Die aus Strophe, Gegenstrophe und Epode gebildete ,Triade' kann sich innerhalb eines Liedes mehrmals wieder-

61 Einige Vermutungen hierzu sowie knappe Informationen zum historischen Hintergrund des Gedichtes finden sich im Erläuterungsteil der Ausgabe von SNELL/FRANYÓ (Frühgriechische Lyriker IV, 105). 62 In ähnlicher Weise ist Timokreon selbst zum Gegenstand eines Spottgedichtes geworden, das sich (wahrscheinlich noch zu seinen Lebzeiten) der literarischen Form des Grabepigramms bedient und ihn wegen seines großen Appetits und wegen seiner Schmähsucht verhöhnt (bei Athenaios 415f dem Simonides zugeschrieben; siehe fr. 99 in der Ausgabe von SNELL/FRANYÓ: Frühgriechische Lyriker IV, 66/67). -

Gedichte dieser Art dürften unter die alexandrinische

Gattung ,Sillos' fallen (vgl. oben bei Anm. 6; Definition bei Proklos, a.a.O. p. 3 2 1 a 2 8 - 3 0 ) .

-

Allgemein zur schmähenden Gattung, der „Invektive in der griechischen und römischen Literatur', siehe die gleichnamige, sehr materialreiche Studie von KOSTER (Timokreon und Themistokles sind freilich nur a. a. O. 72 Anm. 253 kurz erwähnt; dort weitere Literaturhinweise).

Enkomien und Epinikien

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holen. So variiert der Umfang solcher Dichtungen in den Extremfällen zwischen 14 (= 5 + 5 + 4) Verszeilen (Bakchylides 2) und 299 Verszeilen (Pindar, Pyth. IV: 13 x 23 Zeilen); bei Pindar liegen die meisten Lieder im Bereich zwischen knapp 50 und gut 100 Zeilen.63 In der sprachlich-stilistischen Gestaltung weisen die Enkomien eine deutliche Nähe zur Hymnendichtung auf - das zeigt sich besonders in der Tendenz zu überschwenglichen Wendungen und superlativischen Aussagen. Die häufige Verwendung von zusammengesetzten Beiwörtern dient einerseits der Steigerung (Verbindungen mit Extremwörtern wie ,alles', ,hoch', ,tief usw.), andererseits der Veranschaulichung (Verbindungen mit Wörtern, die Farbe oder Stoff bezeichnen, wie ζ. B. ,rot' oder ,gold') des Gesagten. Wird bereits mit diesen Mitteln durchweg eine emotionale Beteiligung der Hörer angestrebt, so wird dies noch ergänzt durch eine Vorliebe für die .großen' Wörter aus den zentralen Bereichen des Lebens.64 Im Satzbau sorgt der Dichter durch häufige Abwechslung von erzählerischen Abschnitten mit pathetischen Einschüben (Fragen, Beschwörungen, Ausrufe usw.) für eine ergreifende Wirkung seiner Worte. Vor allem bei Pindar findet sich ein Hang zum Außergewöhnlichen und Überraschenden in Wortwahl und -Stellung sowie eine geradezu architektonische Sorgfalt bei der Verwendung von Antithesen, Parallelismen oder Reihungen im Aufbau eines ganzen Gedichtes. Der typische Inhalt eines Enkomions bzw. Epinikions ist besonders gut bei Pindar zu erkennen, der die Gattung zwar nicht erfunden, aber nach Meinung späterer Generationen in klassischer Weise repräsentiert hat: Schwerpunkt des ganzen Liedes ist das Lob eines bestimmten Menschen (des Siegers im Wettkampf) und seiner Tat (des aktuellen Sieges). Um dieses Haupt-Thema herum gruppieren sich nun weitere Lobesthemen, die damit in Zusammenhang stehen: Zum Lob des Siegers, seiner Eigenschaften und früheren Taten tritt das Lob seiner Heimat und seiner Familie; zum Lob des aktuellen Sieges kommt das Lob früherer Siege, das Lob der Kampfstätte und ihres Schutzgottes sowie das Lob der am Sieg beteiligten Personen - möglich ist auch ein Lob der Wettkampfdisziplin. Ein eigenes Thema für überschwenglichen Lobpreis ist auch das Siegesglück; und der Dichter läßt es sich nicht nehmen, auch sich selbst und seine Kunst ausgiebig zu preisen. Das Lob der genannten Objekte 63 Die Angabe der Zeilenzahl ist allerdings bei der Chorlyrik (anders als bei der monodischen Dichtung) mit einem Unsicherheitsfaktor belastet: Da die Zeilen hier unterschiedlich lang sind, die antiken bzw. mittelalterlichen Handschriften aber in der Regel einen fortlaufenden Text bieten (scriptio continua), ergibt sich für die modernen Herausgeber ein gewisser Ermessensspielraum für die Einteilung der Strophe in Verszeilen (vgl. das Beispiel oben Anm. 58, aber auch die in der Pindar-Ausgabe von SNELL/MAEHLER am inneren Rand mitgeteilten abweichenden Verszählungen älterer Herausgeber). 64 Siehe die Aufzählung oben Anm. 43, die hier nicht wiederholt zu werden braucht. Es sei nur noch darauf hingewiesen, daß viele dieser (Wert-)Begriffe sich auch in den Hymnen finden, und zwar dort v. a. im dritten, bittenden Teil (vgl. oben Kap. Π. 1 a, S. 42).

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wird durch entsprechende gute Wünsche ergänzt. Mythische Elemente und Motive sind zwar in den Siegesliedern durchweg anzutreffen, bilden aber keinen eigenen Schwerpunkt, sondern sind mit vorwiegend dekorativer Funktion den einzelnen Lobesthemen (z.B. der Heimat des Siegers oder dem Schutzgott der Kampfstätte) zugeordnet. Ähnliches gilt für Pindars Neigung, seinen Gedichten ein prachtvolles .Prooimion' - meist in der Form einer Götteranrufung - voranzustellen. Besonders im zuletzt genannten Fall ergibt sich naturgemäß wieder eine große Nähe zu den Hymnen.65 Wie dicht Lob und Tadel (bzw. Schmähung) beieinander liegen können, hat schließlich das Beispiel des Timokreon gezeigt, das wie ein Enkomion anfängt, dann aber schlagartig zu einer heftigen Beschimpfung wird.66 Dieser plötzliche Wechsel innerhalb eines Textes ist natürlich für die vorliegende Untersuchung zu den Stilwechseln im Philipperbrief von ganz besonderem Interesse; es wird sich noch zeigen, daß es sich auch bei Timokreon nicht um einen analogielosen Einzelfall handelt.67

Exkurs: .Hymnen' im Alten Testament Bevor wir den griechischen Sprachraum verlassen und uns der lateinischen Hymnendichtung zuwenden, soll hier noch ein Bereich von Texten berücksichtigt werden, die von dem griechisch sprechenden Juden Philon von Alexandria pauschalisierend als ϋμνοι bezeichnet worden sind1: die alttestamentliche Lieddichtung, speziell die Psalmen.

65 Zum Extremfall Pindar, Olymp. XIV, siehe oben Anm. 37. - Zwei weitere Beispiele, in denen Gedichtcorpora εις ανθρώπους Hymnen auf Götter enthalten, möchte ich hier noch anmerkungsweise nennen: Unter den erhaltenen Gedichten der Lyrikerin Sappho (um 600 v. Chr.), deren beherrschendes Thema die Liebe ist, ist ein Gebet an Aphrodite (fr. 1), in dem die Hymnenform dem Ausdruck persönlicher Gefühle dient. In den Elegien des Theognis - einer Sammlung von Gedichten unterschiedlichen Inhalts (und verschiedener Verfasser), von denen die meisten wohl zum Vortrag beim Symposion bestimmt waren (Datierung: 6./5. Jh. v. Chr.; siehe VOIGT, LAW 3049) - findet sich ein ausgeführter Hymnus an Phoibos (Eleg. 1, 773-782), und das ganze Werk beginnt mit hymnischen Anrufungen verschiedener Gottheiten (v. 1-18). - Vgl. zu den genannten Stellen MEYER, Hymnische Stilelemente 62f. 51f. 40. 43ff; allgemein zu hymnischen Elementen in Elegie und lyrischer Dichtung 40-47 u. 48-73, wo zahlreiche weitere Stellen genannt und besprochen werden. 66 Lob und Tadel werden in der Antike offenbar als zwei Seiten einer Medaille angesehen. Wir haben diese Auffassung bereits in der alexandrinischen Dichtungstheorie kennengelernt, wo das Schmähgedicht (,Sillos') mit den anderen Gattungen von Gedichten auf Menschen in dieselbe Kategorie gezählt wird (vgl. oben Anm. 6). Auch in der rhetorischen Theorie wird uns die Zusammenbindung von Lob und Tadel innerhalb einer Redegattung (des γένος έπιδείκτικόν) begegnen (siehe unten Kap. Π. 2 a). 67 Siehe unten Kap. ΠΙ. 2 c (Kleomedes).

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Nun ist die generelle Bezeichnung aller Psalmen als ύμνοι ebensowenig als exakte Gattungsbestimmung zu verstehen wie die Gesamtüberschrift ψαλμοί in der LXX2 oder der masoretische Buchtitel •*,ίρΠΓ1 (.Loblieder'!)3; diese Einschränkung gilt auch für die differenzierteren Einzelüberschriften der 14 ,Oden', größtenteils Passagen aus anderen biblischen Büchern, die in der LXX in selbständiger Form den Psalmen als Anhang angefügt sind.4 Gleichwohl gibt es einzelne Psalmen und verwandte Texte, die in der alttestamentlichen Wissenschaft als . H y m n e n ' im Sinne einer Gattungsbestimmung klassifiziert werden. Den Grund hierfür hat in den Anfängen der formgeschichtlichen Forschung H E R M A N N G U N K E L gelegt5, der die .Hymnen' als die „Gattung, die am leichtesten zu erkennen ist", bezeichnet und folgende Psalmen dazu rechnet: Ps 8; 19; 29; 33; 65; 67; 68; 96; 98; 100; 103; 104; 105; 111; 113; 114; 117; 135; 136; 145; 146; 147; 148; 149; 150.6 Als verwandte Gattungen nimmt er dann allerdings noch die „Zionslieder" (Ps 46; 48; 76; 84; 87; 122), die „Thronbesteigungslieder" (Ps 47; 93; 97; 99) und die „Danklieder Israels" (Ps 124; 129) hinzu und findet darüber hinaus „Hymnen und hymnenähnliche Stücke" an zahlreichen Stellen inner- und außerhalb des Psalters.7 Die „Formensprache" ist nach G U N K E L „bei den Hymnen ganz besonders deutlich"; bereits aus dem Anfang sei die Gattung „am sichersten zu erken1 Siehe Fug. 59; Mut. Nom. 115; Som. 175; Π 242. 245; Plant 29. 39; Conf. ling. 39.52; Migr. Abr. 157 (meist als Zitationsformel έν ΰ'μνοις λέγεται o.a.). - Das Wort ύμνος ist freilich bei Philon keineswegs auf die Psalmen oder auch nur auf den biblischen Kanon begrenzt, sondern „scheint überhaupt Philons Allerweltswort für gebets- u. liedartige Texte zu sein" (THRAEDE, H y m n u s 918); vgl. die Belegstellen bei DELLING, ύ'μνος 500.

2 So im codex Vaticanus (B); im codex Alexandrinus (A) steht als Überschrift ψαλτήριοv, während der Sinaiticus (S) gar keine generelle Überschrift hat. 3 SPIECKERMANN, Altestamentliche .Hymnen' 97f, weist darauf hin, daß die Bezeichnung .Lobpreisungen' bzw. .Hymnen' für den ganzen Psalter durchaus theologische Bedeutsamkeit hat: Auch die Klage (größte Gruppe von Psalmen) bleibt so an das Gotteslob gebunden, weil es „außerhalb des Gotteslobes keine Gottesbeziehung für den Menschen gibt." - Zu den lexikalischen Aspekten von b b i l und Γ0ΠΠ siehe die einschlägigen Artikel von WESTERMANN (THAT I [1971], 493-502) und RINGGREN (ThWAT Π [1977], 433-441). 4 Vgl. LATTKE, Hymnus 98f, der vielleicht etwas zu hart von „Willkür" spricht. Von den Stücken des Anhangs (die Reihenfolge und der Sammeltitel ΩΔΑ1/ODAE stammen von RAHLFS; die Handschriften differieren in der Reihenfolge und haben keine Gesamtüberschrift) tragen Nr. 8 (= Dan 3,52-88) und Nr. 14 (das christliche Gloria in excelsis) die Überschrift ύμνος. 5 Der Begriff des .Hymnus' hatte sich schon vor GUNKEL in der neuzeitlichen Dichtungstheorie und der historisch-kritischen Bibelwissenschaft eingebürgert, war aber weitgehend gefühlsmäßig gehandhabt worden; vgl. CRÜSEMANN, Hymnus und Danklied 29-31. - Für unseren Zusammenhang ist besonders interessant, daß bereits LOWTH, De sacra poesi Hebraeorum 374, eine Gruppe von Psalmen mit der Bezeichnung „Γ0ΠΓΊ sive Hymnus" belegt und diese ebd. 376ff ausdrücklich den griechischen Hymnen gleichstellt. 6 GUNKEL, Einleitung in die Psalmen 32. 7 Ebd. 32f.

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nen"8: In der Regel beginne ein ,Hymnus' mit einer Einführung im Imperativ oder Kohortativ (.Singet JHWH', ,Ich will JHWH loben' o. ä.); die Aufforderung weiche gelegentlich einer Beschreibung des Jauchzens (.Mein Herz jauchzt' o. ä.) oder einer passivischen Segensformel (JHWH sei gesegnet' o.ä.).9 Auf diese Einführung folge gewöhnlich das „Hauptstück", das sehr häufig („ungefähr lOOmal") mit einem ^S-Satz [„denn, daß"] eingeleitet werde, „der die Aufforderung begründet und also den eigentlichen Inhalt des Lobgesanges angibt."10 Die Überleitung könne auch aus einem preisenden Beiwort oder einem Relativsatz, sehr viel häufiger jedoch aus Partizipien bestehen.11 Das eigentliche „Hauptstück" bestehe aus vorwiegend kurzen Sätzen über JHWHs Eigenschaften (meist Nominalsätze), sein regelmäßiges oder wiederholtes Handeln (Partizipien, Imperfekt- oder Perfektsätze) und seine Taten in der Vergangenheit (Perfekt, erzählendes Imperfekt oder Imperfekt mit waw consecutivum).12 „Absätze" innerhalb des Hauptstückes seien häufig durch eine Wiederholung der Einführungsformel gekennzeichnet, öfters auch durch einen Wechsel der Aussageform oder durch Einführung eines neuen Motivs.13 Der Schluß des Hymnus trage häufig wieder die Form der Einführung und knüpfe damit an den Anfang an; gelegentlich füge der Dichter auch noch einen Wunsch oder eine Bitte hinzu.14 Als ursprünglichen ,Sitz im Leben' nimmt GUNKEL für die Hymnen die religiösen Feste Israels (Herbstfest, Neujahrfest, Passa, besondere Einzelfeste) an, die er nach unterschiedlichen Stationen (Wallfahrt, Einzug in den Tempel, Opfer, Festzug [Prozession] durch den Tempel) und Aufführungsarten (Chor- oder Einzelgesang) differenziert.15 Allerdings ist die Geschichte der 8 Ebd. 33. 9 Vgl. ebd. 3 3 - 4 2 . 10 Ebd. 42f. 11 Vgl. ebd. 4 3 - 4 5 . 12 Vgl. ebd. 4 8 - 5 2 . Als „freiere Formen" im Hauptstück nennt GUNKEL ebd. 5 2 - 5 6 : Passivkonstruktionen, mittelbare Beschreibungen von JHWHs Walten, Schilderungen des Jubels, des Vertrauens oder der Furcht, rhetorische Fragen („Wie herrlich ist dein Name"), Negativsätze („Niemand ist heilig wie JHWH"), Segenssprüche („Heil dem Volk, dessen Gott JHWH ist"), Gegenüberstellung mit anderen mächtigen Wesen (Götter oder Könige), die neben JHWH nicht bestehen können und auf die daher kein Verlaß ist (dazu s.u. Anm. 64), und schließlich vereinzelt Wünsche für JHWH. 13 Vgl. ebd. 56f. 14 Vgl. ebd. 57f. - Die erwähnten Wünsche und Bitten sind jedoch nach GUNKEL (ebd. 58 u. 68 f) im Gegensatz zu babylonischen und ägyptischen Hymnen stets kurz und nie der eigentliche Anlaß. 15 Vgl. ebd. 5 9 - 6 8 . Diese Annahme gilt sogar für die „eschatologischen Hymnen" der Propheten, die zwar im Blick auf ein „Sieges- und Rettungsfest der Z u k u n f t " gedichtet seien, aber nach GUNKEL „schon in der Gegenwart an bestimmten Tagen gesungen und aufgeführt worden sein [dürften], an denen die Gemeinde ( . . . ) den Jubel der Endzeit im voraus erlebte" (ebd. 63).

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Psalmendichtung nach GUNKELS Rekonstruktion durch eine zunehmende „Lösung der Gattungen von ihrer ursprünglichen konkreten Situation", „die Wendung von der kultgebundenen zur kultfreien, geistlichen Dichtung"16 bestimmt. Dabei seien zunächst die alten Formen bewahrt und mit dem „Individualismus" des Beters erfüllt worden; im Laufe der Zeit sei es dann aber mehr und mehr zu Mischungen der unterschiedlichen Gattungen gekommen.17 Die große Bedeutung der Hymnen führte nach GUNKEL auch zu einer starken Einwirkung auf andere Gattungen: An erster Stelle nennt er hier das „Danklied des Einzelnen", das in seiner „Grundstimmung (...) den Hymnen verwandt" sei; bereits die Einführung (,Ich will dir danken', ,ich will dich preisen' bzw. ,danket', .preiset' o.ä.) trage meist „die ausdrucksvolle hymnische Form", und auch der feierliche Schluß sei häufig „hymnenähnlich gebildet" - in einigen Fällen finde sich sogar ein Hymnus in der Mitte des Dankliedes.18 Weitere Gattungen, in denen GUNKEL „hymnische Stücke" findet, sind die „Klagelieder"19, das „Siegeslied"20 sowie die „Mischgedichte" und die „Liturgien"21. Aber auch in größeren literarischen Zusammenhängen ist nach GUNKEL die Form des Hymnus anzutreffen: Vor allem in den Büchern der Propheten, am stärksten bei Deuterojesaja, gebe es „Stellen, da der Hymnus in die Prophetie eindringt" (während umgekehrt auch „der Einfluß der Propheten auf die Hymnendichtung sehr groß gewesen" sei)22; „im Buche Hiob erhalten die erhabensten Gedanken hymnische Form"23, und „das Buch Jes[us] Sirach enthält eine ganze Reihe von Hymnen (...) und Hymnenmotiven" - freilich „hier bereits in voller Zersetzung", d. h. in Vermischung mit anderen Gattungen, wie es nach GUNKEL typisch für die Spätzeit ist.24 Im weiteren Verlauf der formgeschichtlichen Erforschung der Psalmen sind besonders zwei Arbeiten zu den alttestamentlichen ,Hymnen' zu nennen,

16 Ebd. 398. Die „geistliche Dichtung" ist für GUNKEL „der eigentliche Schatz des Psalters" (ebd. 3 0 ) . 17 Vgl. ebd. 30 (Zitat) u. 398f. 18 Alle Zitate ebd. 83 (zur Sache vgl. auch 267 u. 275f). 19 Vgl. ebd. 84 f sowie 249. 20 Vgl. ebd. 86 sowie 314. 21 Vgl. ebd. 87 sowie 399.402. 405 - 4 0 7 . 412f. 22 Vgl. ebd. 85 f sowie 79 f („eschatologische Hymnen") u. 45 (hymnische Erweiterung der prophetischen Einführungsformeln). - Zu den „Hymnen" oder „Lobliedern" Deuterojesajas (Jes 42,10-13; 44,23; 45,8; 48,20f; 49,13; 51,3; 52,9f; 5 4 , 1 - 3 ) siehe jetzt MATHEUS, Singt dem Herrn ein neues Lied (passim), der die vielfältigen Beziehungen dieser Textpassagen untereinander und ihre Funktion im Kontext Jes 4 0 - 5 5 herausarbeitet. 23 GUNKEL, a.a.O. 87 (dort auch Stellenangaben). 24 Zu Jesus Sirach vgl. ebd. 88 (mit Stellenangaben). Als Beispiel für eine noch stärkere „Zersetzung des Hymnus" nennt GUNKEL ebd. die Psalmen Salomos.

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die sich - aufbauend auf GUNKELS Beobachtungen - um eine Präzisierung und Modifikation der Gattungsbestimmung bemüht haben: CLAUS WESTERMANN knüpft in seiner Untersuchung .Das Loben Gottes in den Psalmen' (1954)25 besonders an GUNKELS Feststellung an, daß der Hymnus' und das .Danklied' in ihrer „Grundstimmung (...) verwandt" seien26. Er findet - auch bei GUNKEL27 - mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den beiden Gattungen; vor allem hätten sie „das Wesentliche gemeinsam: daß in ihnen Gott gelobt wird."28 Daher schlägt WESTERMANN vor, hier nicht von zwei Gattungen, sondern von zwei „Grundtypen" ein und derselben Gattung zu sprechen: des „Lobpsalms" mit seinen Unterformen, dem „berichtenden" und dem „beschreibenden Lobpsalm"29. Der Unterschied zwischen den beiden Formen liege darin, „daß der sogenannte Hymnus Gott lobt über seinem Tun und Sein im Ganzen (beschreibendes Lob), während das sogenannte Danklied Gott über einer bestimmten Tat lobt, von der der Gerettete in seinem Lied erzählt oder berichtet (berichtendes Lob; man könnte auch sagen: bekennendes Lob)."30 Dem Loben und Danken stellt WESTERMANN auf der anderen Seite das Klagen und Flehen gegenüber, so daß er alle Psalmengattungen letztlich „auf zwei Grundgattungen"31 zurückführen kann. Die „Polarität von Flehen und Lob"32 subsumiert WESTERMANN unter dem Oberbegriff „Gebet".33 FRANK CRÜSEMANN geht in seinen .Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel' (1969) gewissermaßen den umgekehrten Weg: Während WESTERMANN die GuNKELschen Kategorien .Hymnus' und ,Danklied' zu einer Gattung zusammenzieht, ist es das Anliegen CRÜSEMANNS, innerhalb der Gattung des ,Hymnus' (die bei GUNKEL „als ein recht buntes und uneinheitliches Gebilde" erscheine) „sorgfältig zu differenzieren" und zu fragen, „ob sich hier verschiedene Formtypen eindeutig voneinander abheben lassen".34

25 Jetzt in: Lob und Klage in den Psalmen, 11-124. 26 Vgl. oben bei Anm. 18. 27 Vgl. die lange Anm. 5 bei WESTERMANN, a.a.O. 13-15. 28 Ebd. 18. 29 Ebd. 30 Ebd. 25 (ähnlich schon 18). 31 Ebd. 116 (zur Sache vgl. bereits 24-28). Anders als beim .Hymnus' bleibt WESTERMANN in Hinsicht auf die .Klagepsalmen' bei der traditionellen Bezeichnung, „auch wenn die Mitte all dieser Psalmen, ihr σκόπος, nicht die Klage, sondern die Bitte (das Flehen) ist" (ebd. 27). Innerhalb dieser Gattung unterscheidet er „Klage oder Bitte des Volkes (KV)" und „Klage oder Bitte des Einzelnen (KE)" (ebd.). 32 Ebd. 116. 33 Ebd. 24 und passim. 34 CRÜSEMANN, a.a.O. 4f. 5.13.

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Ausgehend von dem „alten Miijamlied Ex 15,21", kommt CRÜSEMANN dann auf die „einfachste und wichtigste Grundform des israelitischen Hymnus"35, für die er den Terminus .imperativischer Hymnus' einführt. Als konstitutive Elemente des Imperativischen Hymnus' nennt CRÜSEMANN die „Aufforderung zum Singen" (Imperativ pl. m.), die „Angabe dessen, dem das Lied gilt, mit b angeschlossen" (meist ΓΠΓΤ0), und schließlich den mit dem Wort Ό eingeleiteten Satz, der (in einem perfektischen Verb) die Heilstat JHWHs enthält.36 Im Unterschied zu GUNKEL versteht CRÜSEMANN allerdings den Ό Satz nicht als „Begründung", sondern als „Durchführung" des Aufrufs zum Lob und übersetzt die Partikel Ό in ihrem „ursprünglich deiktischen Sinn" mit „Ja!"37. So lautet Ex 1 5 , 2 1 bei CRÜSEMANN: Singet Jahwe! Ja, hoch erhob er sich, Roß und Wagenkämpfer warf er ins Meer!38 Die zweite „Grundform des Hymnus in Israel", ist nach CRÜSEMANN der ebenfalls in vorexilischer Zeit entstandene (allerdings nur in Resten bei Deuterojesaja, Jeremía, Amos, Sacharja und Hiob erhaltene) ,partizipiale Hymnus': „Eine Reihe von Partizipialaussagen wird durch die Unterschrift "lOtö Π1Π1 [„JHWH ist sein Name"] gedeutet und zu einer Einheit geformt."39 Die hier auftretenden „hymnischen Partizipien" haben (anders als die Elemente des ,Imperativischen Hymnus') zahlreiche Parallelen in den Hymnen der Umwelt Israels, und CRÜSEMANN nimmt an, daß die partizipialen Aussagen über das „typische göttliche Handeln in Schöpfung, Natur und Menschenwelt'"10 nicht nur formal, sondern auch inhaltlich aus der altorientalischen Umwelt übernommen und exklusiv auf JHWH bezogen wurden. Als dritte Grundform neben dem Imperativischen' und dem ,partizipialen Hymnus' rekonstruiert CRÜSEMANN den „Jahwe-anredenden Hymnus eines Einzelnen", der seine Wurzel im Klagepsalm habe. Dieser Typ des Hymnus beginne meist mit einer kohortativischen Introduktion des Beters, die von JHWH in der 3. Person spricht (,Ich will JHWH preisen' o. ä.); charakteristisch sei der Wechsel zur 2. Person im Korpus des Liedes, dessen Zentrum der „anredende Bericht von Jahwes großen Taten in der Vergangenheit" bilde; dieser verbinde sich mit rhetorischen Fragen, kurzen Lobsätzen und formelhaften

35 Ebd. 19. 36 Vgl. ebd. 24. 37 Vgl. ebd. 3 2 - 3 5 , gegen GUNKEL, a.a.O. 42f (s.o. bei Anm. 10). Allerdings ist zu beachten, daß auch GUNKEL in dem Ό-Satz „den eigentlichen Inhalt des Lobgesanges" sieht (ebd.). 38 Ebd. 34. 39 CRÜSEMANN, a.a.O. 104. 40 Ebd. 153. Zu den (babylonischen) Parallelen siehe die synoptische Zusammenstellung ebd. 135-150.

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Partizipialprädikationen.41 Um jedoch die „überraschende Vielfalt von Formen"42 in den alttestamentlichen Hymnen eines Einzelnen zu erklären, sieht sich CRÜSEMANN gezwungen, noch einen zweiten, nicht mehr deutlich zu erkennenden Typ des Individualhymnus anzunehmen, der von JHWH durchgängig in der 3. Person rede und besonders durch die „partizipiale Reihung" charakterisiert sei.43 Was das ,Danklied' betrifft, so bestätigt CRÜSEMANNS Untersuchung (gegen WESTERMANN) die bei GUNKEL vorliegende gattungsmäßige Trennung von .Hymnus' und ,Danklied des Einzelnen'; bestritten wird jedoch gegenüber GUNKEL, daß das sogenannte ,Danklied Israels' eine eigenständige Gattung darstelle.44 Somit hat CRÜSEMANN innerhalb der „vielgestaltigen Gattung Hymnus" drei verschiedene „voneinander ganz unabhängige Grundformen" ausgemacht, die erst in nachexilischer Zeit miteinander verbunden worden seien; hierbei sei die Form des ,Imperativischen Hymnus' „zum entscheidenden und wichtigsten Typ des Hymnus in Israel" geworden, dem sich die anderen hymnischen Formen ein- und untergeordnet hätten.45 Gegenüber diesen Versuchen, die alttestamentlichen .Hymnen' mit den Mitteln der klassischen Formgeschichte zu erklären, ist Kritik nicht ausgeblieben: WESTERMANNS Konstruktion, in der ,Hymnus' und ,Danklied' zu einer Gattung ,Lobpsalm' zusammengefaßt und dann mit den Begriffen .beschreibendes' und .berichtendes Lob' wieder differenziert werden, wird den Texten nicht gerecht, denn .„Beschreibung' Gottes ist gerade im Hymnus immer .Bericht' von göttlichen Taten"46. Aber auch CRÜSEMANNS „Grundformen" erweisen sich bei näherem Hinsehen als Konstrukte: Auffälligerweise ist ja im alttestamentlichen Buch der Psalmen kein ,reines' Exemplar eines ,Imperativischen' oder ,partizipialen Hymnus' aus vorexilischer Zeit erhalten. Im Gegenteil: Der einzige Text im Psalter, der die Grundform des ,Imperativischen Hymnus' repräsentiert P s l l 7 - stammt eindeutig aus nachexilischer Zeit (Aufruf an die Völker).47

41 Vgl. ebd. 290. 294. 305. 42 Ebd. 295. 43 Vgl. ebd. 2 9 8 - 3 0 1 u. 305. 44 Siehe zum sogenannten .Danklied Israels' ebd. 1 5 5 - 2 0 9 und zum .Danklied des Einzelnen' ebd. 2 1 0 - 2 8 4 sowie zusammenfassend 307 - 3 0 9 . 45 Ebd. 307-309; vgl. bereits 1 2 6 - 1 3 5 . 1 5 2 - 1 5 4 . 301. 46 KOCH, Formgeschichte 199 Anm. 3. - Zur theologischen Kritik an WESTERMANNS Ansatz siehe SPIECKERMANN, Heilsgegenwart 1 2 - 1 5 . 47 Siehe CRÜSEMANN, a.a.O. 41. Auch die anderen Beispiele für das „Vorkommen der Grundform", die CRÜSEMANN, a.a.O. 3 8 - 5 0 , angibt (Ps 9,12f; 22,24f; Jer 20,13; Dtn 32,43; Jes 49,13; 52,9; 44,23), werden von ihm der exilisch-nachexilischen Zeit zugerechnet; zudem ist keines von ihnen als eigenständiger Text überliefert, sondern alle stammen aus übergeordneten literarischen Kontexten.

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Auch für die Textpassagen, in denen CRÜSEMANN Reste des Imperativischen Hymnus' findet (in den Büchern Deuterojesaja, Jeremía, Amos, Sacharja und Hiob), ist eine vorexilische Entstehung nicht wahrscheinlich.48 Das Verfahren, von den herangezogenen Texten auf die Frühzeit zurückzuschließen, geht von einer bei GUNKEL postulierten Grundvoraussetzung aus: daß „die ältesten Gattungen (...) völlig rein und einfach gewesen" seien und es erst in späterer Zeit „zu Mischungen verschiedener Gattungen gekommen" sei.49 Dieses Postulat hat jedoch an den tatsächlich überlieferten Texten keinen Anhalt: Der eben erwähnte /eine' Ps 117 ist gerade kein früher, sondern ein später Text; dagegen weisen „bereits die ältesten Beispiele sumerischer Psalmendichtung (...) komplizierte .Mischformen' auf'50. Unter diesem Aspekt gerät dann aber auch das vorausgesetzte hohe Alter von Ex 15,21 in Zweifel: Handelt es sich bei diesem Vers, in dem CRÜSEMANN gewissermaßen die .Keimzelle' israelitischer Hymnendichtung sieht51, vielleicht gerade umgekehrt um ein in die Erzählung eingeflochtenes „Kurzzitat" aus dem Anfang des . M e e r l i e d e s ' , E x 15,1-18? 52 Auf jeden Fall wird diesem kleinen Vers zu viel aufgebürdet, wenn aus ihm allein die älteste „Grundform des Hymnus in Israel" rekonstruiert wird, an der dann alle anderen Texte gemessen werden.53 Angesichts dieser Forschungslage erscheint es ratsam, die Suche nach den /einen Grundformen' aufzugeben. Sehr klar formuliert HERMANN SPIECKER54 MANN in einem zusammenfassenden Vortrag die gegenwärtigen Aufgaben

48 CRÜSEMANN erwägt a.a.O. 103 lediglich für die Amos-Stellen die Möglichkeit einer vorexilischen Redaktion („von der Struktur des Textes selbst her zumindest nicht ausgeschlossen"), lokalisiert aber die anderen prophetischen Stellen in „sicher exilisch-nachexilischen Prophetenüberlieferungen" (ebd., mit Hinweis auf 107-114). 49 GUNKEL, Einleitung 2 7 - 3 1 (Zitate: 28). 50 REVENTLOW, Gebet 122, unter Hinweis auf die Sammlung „Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete" (hg. v. A. FALKENSTEIN und W. VON SODEN). - Scharfe Kritik an den Grundvoraussetzungen der Arbeit von CRÜSEMANN hat besonders GERSTENBERGER, Literatur zu den Psalmen, 9 7 - 9 9 , geäußert. 51 Der Begriff fällt bei CRÜSEMANN, a.a.O. 79 Anm. 2, in seiner Kritik an GUNKELS These, das .Halleluja' sei die „Urzelle des Hymnus" (Einleitung 37f): Nach CRÜSEMANN ist das Verhältnis umgekehrt und das .Halleluja' „gattungsgeschichtlich eine Reduktion der Grundform des Imperativischen Hymnus ( . . . ) , nicht aber die Keimzelle des Hymnus überhaupt". 52 So REVENTLOW, Gebet 108-110. Die Datierung des .Meerliedes' ist sehr umstritten (Vorschläge vom 13. Jh. v. Chr. bis in nachexilische Zeit); REVENTLOW selbst zieht „eine Ansetzung in der frühen Königszeit" vor (ebd. 110; vgl. 129). 53 Vgl. zu dieser Kritik MATHEUS, Singt dem Herrn ein neues Lied 24 (ausgehend von den Hymnen Deuterojesajas, die bei CRÜSEMANN a.a.O. 4 5 - 4 9 behandelt werden). 54 Alttestamentliche .Hymnen'. Der Vortrag wurde 1991 gehalten und ist 1994 im Druck erschienen. Die folgenden Zitate stehen a.a.O. 103. - Vgl. die sehr ähnliche Position von REVENTLOW, Gebet 119 ff, bes. 123 f: „Gerade beim Hymnus tritt ( . . . ) eine verhältnismäßig große Variationsbreite der Formen zutage, da die Inhalte des Lobes wechseln können. Je nachdem,

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alttestamentlicher Hymnenforschung: „Bei den alttestamentlichen Hymnen gibt es Artenvielfalt. Das sollte man als Reichtum und nicht als Last begreifen." SPIECKERMANN fordert einen Forschungsansatz, der „am individuellen Text und nicht an Gattungskonstrukten orientiert" ist, und möchte angesichts der formalen und inhaltlichen Variationsbreite bei den Hymnen „lieber nicht von einer Gattung, sondern - mit Rücksicht auf die größere Offenheit - von einer Textgruppe" reden.55 Als konstitutives Merkmal der „Textgruppe der alttestamentlichen Hymnen" ist nach SPIECKERMANN56 lediglich der Sachverhalt zu werten, daß Gottes Heilshandeln als „Anstiftung zum Lob" erfahren wird. Die bekannten formalen Charakteristika - „die Begründung des Gotteslobes (kausales kî) und die Sprechrichtung zu Gott hin in 2. und/oder 3. Person, häufig verbunden mit dem Gottes Wesen und Wirken preisenden Partizipialstil" - kommen fakultativ hinzu; obligatorisch (aber ebenfalls nicht ohne Ausnahmen) sei lediglich die „einleitende Lobaufforderung, gestaltet als Selbst- oder Fremdaufforderung". Was die Rekonstruktion eines ,Sitzes im Leben' angeht, so zeigt sich 57 SPIECKERMANN skeptisch ; er sieht es als eine viel wichtigere Aufgabe an, die „theologische Reflexion" der Hymnen über „die zwielichtige conditb humana im Lichte der von Gott gestifteten Relation zwischen sich und dem Menschen" nachzuvollziehen. Was ergibt sich aus all dem nun für die vorliegende Untersuchung?

welches ,Thema' vorwiegt: Schöpfung, Taten Jahwes in der Geschichte Israels, .Königtum Jahwes', unterscheiden sich auch die Einzelformen und der Gesamtaufbau, obwohl dadurch die Grundbeobachtungen Gunkels über die Formensprache der Hymnen nicht aufgehoben werden. Eine allzu enge Schematisierung würde jedoch an der Vielfalt der Lebenswirklichkeit vorbeigehen, die sich gerade in den Hymnen Israels spiegelt." 55 Auch KRAUS gibt in der neuesten Bearbeitung seines Psalmenkommentars (BK XV/1, 5. Aufl. 1978) den Begriff ,Gattung' wegen der Defizite des GuNKELschen Ansatzes (siehe die Kritik a.a.O. 3 6 - 4 0 ) auf und führt stattdessen den Begriff .themenorientierte Formgruppe' ein (a.a.O. 40). Im Unterschied zu SPIECKERMANN übernimmt KRAUS jedoch für die formkritische Differenzierung seiner Formgruppe ,Loblieder' (Γ0ΠΠ, a.a.O. 4 3 - 4 9 ) die drei .Grundformen' von CRÜSEMANN und nimmt daneben eine „thematisch orientierte Gruppierung" (Lobpreis des Schöpfers; Jahwe-Königs-Hymnen; Erntelieder; Geschichtshymnen; Einzugshymnen) vor. Ob und wie sich formale und inhaltliche Untergliederungen aufeinander beziehen, wird bei KRAUS indes nicht deutlich. 56 Die Zitate dieses Absatzes stammen aus der „2. These", a.a.O. 103f. 57 Auch KRAUS „betrachtet es keineswegs als ausgemacht, daß alle Psalmen einen kultischen ,Sitz im Leben' einnehmen" (a.a.O. 42) und fragt für jeden einzelnen Psalm nach seinem möglichen , O r t ' . - Optimistisch im Blick auf die „gottesdienstlichen Anlässe und kultischen Institutionen, die den Hintergrund der verschiedenen Psalmengattungen bilden", gibt sich dagegen REVENTLOW, Gebet 121; seine konkreten Angaben zu den analysierten Hymnen bleiben demgegenüber allerdings recht vage, vgl. ebd. 138f (zu Ps 33), 146 (zu Ps 8), 158 (zu Ps 93), 159 f (zu Ps 24).

Exkurs: .Hymnen' im Alten Testament

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Der Begriff ,Hymnus' hat sich trotz Alternatiworschlägen und Differenzierungsversuchen als Bezeichnung für solche Texte, deren zentrales Charakteristikum das Gotteslob ist, durchgesetzt. Da er dem griechischen Raum entnommen bzw. von hier aus auf die hebräischen Texte58 übertragen worden ist (interpretatio Graecäf9, legt sich ein Vergleich mit den oben behandelten griechischen Hymnen nahe.60 Bereits der dreiteilige Aufbau hier wie dort scheint auf den ersten Blick eine Übereinstimmung zu sein; bei näherer Betrachtung zeigen sich allerdings Unterschiede: Die Anrufung in griechischen Hymnen richtet sich meist an die Gottheit selbst oder enthält eine Aufforderung an die Musen, während die charakteristische Lobaufforderung am Beginn vieler alttestamentlicher Hymnen an Menschen gerichtet ist (den Sänger selbst oder seine Mitmenschen). Mehr Ähnlichkeit besteht aber im Mittelteil, der das eigentliche Lob entfaltet: Die Eigenschaften und Taten des zu preisenden Gottes bilden in beiden Kulturen das Corpus des Hymnus. Faßt man den auf die Lobaufforderung folgenden ""D-Satz der alttestamentlichen Hymnen kausal (,denn'), besteht auch hier eine Berührung mit den griechischen Hymnen, bei denen ja der Mittelteil häufig mit einem begründenden Satz (γάρ) eröffnet wird.61 Unterschiedlich ist dann wieder der abschließende Teil: Dieser ist bei den griechischen Hymnen in der Regel ein Bittgebet, in Ausnahmefällen ein abschließender Lobpreis; bei den alttestamentlichen Hymnen ist umgekehrt die erneute Aufforderung zum Lob ziemlich häufig und eine abschließende Bitte eher selten.

58 Das oben zu den alttestamentlichen Hymnen Gesagte gilt cum grano salis auch für die Loblieder aus Qumran, da diese weitgehend auf den literarischen Konventionen der hebräischen Bibel aufbauen. Eine Weiterentwicklung stellt allerdings die typische Eingangswendung der Hodajoth (1QH) dar: „Ich preise dich, Herr, denn . . . " . Diese Formulierung findet sich in der hebräischen Bibel so nicht (dort: ,Lobt Gott, denn . . . ' oder ,Ich will JHWH preisen, denn . . . ' ) . - Siehe dazu MORAWE, Aufbau und Abgrenzung der Loblieder von Qumrân; ders., Vergleich des Aufbaus; Β. P. KITTEL, The Hymns of Qumran; HORGAN/KOBELSKI, The Hodayot (1QH) and New Testament Poetry (d. i. Lk 1,47-55 u. Lk 1,68-79); NITZAN, Qumran Prayer and Religious Poetry (darin bes. 173-200 [VI: Songs of Praise], aber auch 201 -320). 59 Dazu vgl. STOLZ, Hymnenforschung 109 f. 60 Einen kurzen Vergleich führt BERGER, Gattungen 1156f, durch; er gibt hier freilich ein Schema für den „Aufbau des alttestamentlichen Hymnus", das ausschließlich der Darstellung von KOCH, Formgeschichte 199, folgt, ohne die übrige Forschung zu berücksichtigen. 61 Zum begründenden γ ά ρ in griechischen Hymnen s.o. Kap. Π. l a , Anm. 21. Allerdings wird das Ό der alttestamentlichen Hymnen in der LXX nicht mit γ ά ρ , sondern stets mit i m wiedergegeben. Dieses οτι finden wir im Neuen Testament innerhalb von .Liedern' wieder, die bewußt den LXX-Stil imitieren (ohne daß dies ein Indiz für .liturgischen' Ursprung wäre): Lk 1,48.49; 1,68; (2,30;) Offb 4,11; 5,9; (11,17;) 15,4; 19,2; 19,6.7 (vgl. auch das frühchristliche .Gloria', LXX-Od. 14,25). - Vielleicht ist es auch nicht ganz überflüssig, darauf hinzuweisen, daß kein alttestamentlicher Hymnus mit der Relativpartikel "IttfX (entsprechend einem ος in der LXX) beginnt (vgl. zu den griechischen Hymnen oben Kap. Π. 1 a, Anm. 55).

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Auf der Ebene der vorgegebenen Struktur ergeben sich also Berührungen vor allem im preisenden Hauptteil, während im Eingangs- und Schlußteil stärkere Abweichungen zu verzeichnen sind. Wir haben jedoch schon im Bereich der griechischen Hymnen bei der Betrachtung einzelner Exemplare einen gewissen Spielraum für die individuelle Durchführung des vorgegebenen ,Schemas' festgestellt; bei den alttestamentlichen Hymnen ist die Variationsbreite so groß, daß ein für alle Einzeltexte zutreffendes .Gattungsschema' gar nicht aufgestellt werden kann. Erschwerend kommt hinzu, daß die Datierung der alttestamentlichen Texte meist nur aus inneren Kriterien erfolgen kann und daher oft umstritten ist; so läßt sich die Geschichte der Gattung kaum rekonstruieren. Ähnlich ist es mit der Frage nach dem ,Sitz im Leben': Eine Vielfalt von Verwendungsmöglichkeiten der Gattung .Hymnus', wie wir sie im Bereich der griechischen Literatur festgestellt haben, ist wohl auch für die „Textgruppe" der alttestamentlichen Hymnen zu vermuten, liegt für uns jedoch größtenteils im Dunkeln. Der Hang zu theologischer Reflexion, den SPIECKERMANN an den alttestamentlichen Hymnen hervorgehoben hat, ist hier anscheinend stärker ausgeprägt als bei den griechischen Hymnen: Zwar gibt es unter diesen eine Reihe von Beispielen, in denen die Hymnenform zur Darstellung philosophischer Reflexionen verwendet wird, aber noch zahlreicher sind die Fälle, in denen die Erhabenheit und Macht der angesprochenen Gottheit in stereotypen Aussagen gepriesen werden und der Ehrgeiz des Dichters vornehmlich darin besteht, neue Wortverbindungen mit ,ΑΙΙ-' und ,Viel-' zu erfinden. Eine spielerische Verwendung der hymnischen Form, wie sie bei den Griechen v. a. durch Kallimachos repräsentiert wird, scheidet im Bereich der hebräischen Bibel wohl gänzlich aus. Interessant ist für uns natürlich das Vorkommen hymnischer Passagen innerhalb anderer literarischer Zusammenhänge, ebenfalls ein Phänomen, das wir bereits in der griechischen Dichtung wahrgenommen haben.62 So weit ich sehe, gibt es in der gegenwärtigen alttestamentlichen Forschung vermehrt Ansätze, die Einbindung und Funktion solcher Passagen in ihrem jeweiligen Kontext herauszuarbeiten; dies bedeutet auch, die ,Gattungsmischung' als literarisches Phänomen ernstzunehmen und sie nicht mehr (wie GUNKEL) als „Zersetzung" der,reinen Form' abzuqualifizieren.63

62 Dazu siehe oben Kap. II. la, S. 47f. Dasselbe Phänomen wird uns auch in der lateinischen Dichtung (s.u. Kap. Π. l c ) sowie in griechischer und lateinischer Prosa begegnen (dazu Kap. ΠΙ. 2; zur Theorie Kap. ΠΙ. 1). 63 Zu den Hymnen D e u t e r o j e s a j a s (vgl. oben Anm. 22) siehe v.a. die bereits genannte Studie von MATHEUS (Singt dem Herrn ein neues Lied), aber auch schon den Kommentar von WESTERMANN, ATD 19 (1966), 85ff. 116f. 132f. 166. 175. 192. 201ff. 218 ff. - Die hymnischen Passagen im Buch H i o b (etwa 9,5-10; 12,7-25; 2 6 , 5 - 1 4 oder 36,26/27-37,13/17) werden in der Forschung teilweise als später eingefügte (.redaktionelle') Zusätze angesehen (vgl.

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Schließlich ist hier noch auf einen ,Stilwechsel' innerhalb mancher alttestamentlichen Hymnen hinzuweisen: die Polemik gegen Götzenbilder und deren Verehrer.64 Solche Stellen zeigen, daß auch im Alten Testament Lobpreis und Polemik unmittelbar nebeneinander auftreten können, was wir bereits in der griechischen Literatur beobachten konnten65 und für uns besonders im Blick auf die Stilwechsel des Philipperbriefs aufschlußreich ist.

c) Lateinische Hymnendichtung Die lateinische Hymnendichtung ist seit der hellenistischen Zeit ganz von der griechischen geprägt.1 Somit erübrigt sich an dieser Stelle eine erneute Aufzählung der typischen Stilmerkmale, und wir können uns gleich den einschlägigen Texten zuwenden. Dabei sehen wir uns zunächst die selbständigen Hymnen und ihre Verfasser an, achten jedoch hier auch schon auf die freiere Verwendung hymnischer Elemente zu Ehren von Menschen. In einem zweiten Schritt sollen dann die hymnischen Passagen innerhalb anderer Dichtungen (Lehrgedicht, Epos, Drama) betrachtet werden; wegen der größeren zeitlichen Nähe zum Neuen Testament werden diese Fälle von Stilwechseln hier

zu den angeführten Stellen z.B. den Kommentar von FOHRER, ΚΑΤ 16 [1963], 205. 244f. 383. 481; ähnlich HESSE, Z B K A T 14 [1978], 87. 97. 103f. 154f [anders 188-190 zu 36,27-37,13]); es mehren sich jedoch die Stimmen, die diese Passagen durchaus dem literarischen Gestaltungsvermögen des Dialog-Verfasseis zutrauen (so bes. REVENTLOW, Gebet 268f; vgl. schon WEISER, ATD 13 [ 4 1963], 73f. 92f. 190-192 sowie 236f [die Kap. 3 2 - 3 7 werden von WEISER insgesamt als nachträglicher Einschub angesehen, innerhalb dessen der „Hymnus" 36,26-37,13 ein integraler Bestandteil ist] und neuerdings GROSS, NEB. AT 13 [1986], 3 7 - 3 9 . 49-51. 93 - 9 6 . 126-128; für Hiob 5,12-16 tut das auch FOHRER, a.a.O. 150). - Ähnlich liegt die Sache beim D a n k l i e d d e s J o n a nach seiner wunderbaren Rettung aus dem Meer (Jona 2,3-10); dazu vgl. einerseits RUDOLPH, ΚΑΤ ΧΠΙ/2 (1971), 347ff, und WOLFF, BK XIV/3 (1977), 103ff (für .redaktionellen' Einschub), andererseits DEISSLER, NEB. AT 8 (1984), 158-160; GOLKA, Jona (CBK), 65ff; Lux, Jona 165-186 (für bewußte Komposition des Jona-Verfassers). 64 Vgl. bes. Ps 115,4-8 und 135,15-18; kürzer auch Ps 96,5; 97,7. Ähnliche Aussagen in bezug auf Fürsten und Könige: Ps 33,16f; 146,3f. Außerhalb des Psalters findet sich das Nebeneinander von Gotteslob und Polemik v. a. im prophetischen Umfeld: Jes 40,12-31; Jer 10,1-16; 16,19-21; 51,15-19; vgl. auch Dan 4,31f. 65 Siehe oben Kap. Π. l b , S. 69 f u . 72. 1 Die älteren Zeugnisse lateinischer Götterlieder - die nur fragmentarisch erhaltenen Salierlieder und das carmen Arvale - stammen aus archaischen Beschwörungsriten (Anrufungen und Befehle an die Götter; vgl. dazu die mutmaßlichen Wurzeln der griechischen Hymnen, oben Kap. Π. 1 a, S. 38) und wurden später nicht mehr verstanden. Siehe dazu WÜNSCH, Hymnos 175f; QUASTEN, Carmen 903; WILLE, LAW 2019f (s. v. Musik); zu Gebeten in rhythmischer Prosa aus alter Zeit auch NORDEN, Kunstprosa 156-163.

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auch ausführlicher gewürdigt als die vergleichbaren griechischen Textpassagen aus klassischer Zeit 2 . Das älteste Beispiel für einen lateinischen Hymnus nach griechischem Muster ist der Dianahymnus des C a t u l l (carm. 34).3 Das Lied ist für einen Chor von puellae et pueri integri gedichtet (v. 2)4 und besteht aus sechs vierzeiligen Strophen 5 . Die erste Strophe beginnt mit dem Namen der Göttin (v. 1: Dianae sumus in fide) und bekundet die Lobabsicht in Form einer adhortativen Aufforderung zum Singen (v. 3f: Dianam ... canamus). Mit der zweiten Strophe geht das Lied in die direkte Anrede über; der nun durchgeführte Lobpreis der Göttin nennt ihre Geburt (Str. 2), ihren Herrschaftsbereich (Str. 3) und ihre Tätigkeiten (Str. 4 - 5 ) . Dabei wird die Göttin unter verschiedenen Namen angesprochen: Latonia (v. 5), Juno Lucina (v. 13f), Trivia (ν. 15), Luna (v. 16).6 Die letzte Strophe nimmt das Motiv der Vielnamigkeit in der bekannten absichernden Weise auf - „Welcher Name auch immer dir gefällt, jeder sei geheiligt" (v.21f) 7 - und endet mit der Bitte um fortgesetzten Segen für „Romulus' Volk" (v. 2 2 - 24). Die übernommene griechische Form wird also inhaltlich auf römische Verhältnisse übertragen. Mit einem hymnischen Proömium beginnt carm. 61, ein Hochzeitslied: v. 1 - 3 5 enthält eine Anrufung des Hochzeitsgottes Hymen/Hymenaeus mit der Bitte um sein Kommen; in v. 3 6 - 4 5 richtet sich der Dichter an die Brautjungfern, daß sie in die Bitte miteinstimmen sollen. Dem schließt sich ein Lobpreis des Gottes an (v. 46 - 75), der von rhetorischen Fragen nach dem Muster ,Wer

2 Zu diesen siehe oben Kap. II. 1 a, S. 47f. 3 Catull lebte ca. 87/84 bis ca. 54 v. Chr.; zu Leben, Lieben und Werk des Dichters siehe das „Nachwort" in der lateinisch-deutschen Ausgabe von EISENHUT, 218-229. - Zur Analyse von carm. 34 vgl. NORDEN, Agnostos Theos 150-152; WÜNSCH, Hymnos 176f. 4 Kinder eigneten sich nach verbreiteter antiker Auffassung besonders gut für den Vortrag im Kult, da man sich durch ihre integritas eine günstige Wirkung auf die Götter versprach; siehe dazu DÖLGER, Sol salutis 88 f, QUASTEN, Carmen 904, sowie ausführlicher OEPKE, ThWNT V ( 1 9 5 4 ) , 6 4 2 - 6 4 4 (s. ν. π α ι ς ) .

5 Die Strophen sind jeweils aus drei Glykoneen + einem Pherekrateus gebaut; siehe zu diesem Versmaß die zweisprachige Ausgabe von EISENHUT, 233. 6 Dabei ist Latonia kein eigentlicher Name, sondern abgeleitet vom Namen der Mutter: .Tochter der Latona [Leto]'. Hinzu kommen noch die Anreden als „große Tochter des größten [Gottes] Jupiter" (v. 5f: maximi | magna progenies Iovis) als „Herrin" (v. 9: domina, mit einer Reihe von Genetiven) und als dea (ν. 17) sowie das besonders für lateinische Hymnen typische anaphorische tu (v. 13. 15. 17 jeweils am Beginn; vgl. dazu NORDEN, Agnostos Theos 149-163). - Um die von NORDEN herausgearbeiteten typischen Elemente des Prädikationsstils zu vervollständigen, sei hier noch hingewiesen auf den Relativsatz v. 7f (vgl. a.a.O. 151. 168-176 sowie oben Kap. II. la, Anm. 55) und auf die Partizipien v. 15 (potens) und v. 18 (metiens) (vgl. a.a.O. 166-168). 7 sis quocumque tibi placet \ sancta nomine. - Vgl. zu dieser Formulierung oben Kap. Π. 1 a, S. 39 (mit Anm. 15).

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könnte sich diesem Gott vergleichen?' (v. 46-50. 64f. 69f. 74f) und von Aussagen nach dem Schema ,Nichts ohne dich - [alles] durch dich' (v. 6Iff. 66ff. 71 ff) bestimmt und gegliedert ist. Mit v. 76 wendet sich das Lied dem Brautpaar zu; eingerahmt wird dieser Teil durch die Aufforderung zum Öffnen bzw. Schließen der Tür, durch die der Bräutigam die Braut heimführt (v. 76.231). Die enge Verbindung von Proömium und Corpus wird formal durch die mehrfache Wiederkehr des Kultrufes o Hymenaee Hymen bzw. io Hymen Hymenaee (v. 4f. 39f. 49f. 59f. 124f. 144f. 149f. 154f. 159f. 164f. 169f. 174f. 179f. 184f. 189f) unterstrichen.8 In der nächsten Generation von Dichtern gehört der Hymnus bereits zum festen Repertoire der poetischen Gestaltungsmöglichkeiten. Hier ist zunächst Horaz zu nennen, der mehrere seiner Gedichte als Hymnen gestaltet hat. Besonders deutlich ist die dreiteilige griechische Hymnenform in carm. 112 (Kollektiv-Hymnus), 131 (an Apollo, mit Priamel9) und 135 (an Fortuna) zu erkennen, für die sich z.T. auch Vorbilder in der griechischen Dichtung nachweisen lassen.10 In carm. 121 (auf Diana und Apollo), das offenbar von Catulls Dianahymnus inspiriert ist, wird das stilgemäße abschließende Gebet literarisch abgewandelt: Die letzte Strophe verheißt dem römischen Volk und seinem „Princeps Caesar" (= Augustus) die Abwendung von Krieg, Hunger und Seuche als Erfüllung des Gebetes (prece als letztes Wort).11

8 Hymnische Reminiszenzen finden sich bei Catull auch in anderen Gedichten, wenn von Göttern die Rede ist bzw. diese angesprochen werden: carm. 36,11-15; 63,91-93; 64,22ff. Dabei zeigt sich in carm. 36 (siehe v. 1 u. 20!) erneut, wie eng feierliches Lob und grobe Polemik bei antiken Autoren verbunden sein können (vgl. oben Kap. Π. lb, S. 69f u. 72). In dieser Hinsicht ist auch ein Blick auf den Kontext aufschlußreich, da die Zusammenstellung der einzelnen Gedichte auf Catull selbst zurückgeht: Der oben besprochene Dianahymnus (carm. 34) wird geradezu eingerahmt von derb-vulgären Schmähgedichten (carm. 28; 29; 33; 36; 37; 39). - Zu den Schmähgedichten Catulls siehe ausführlicher KOSTER, Invektive 282-293. 9 Zum Stilmittel der Priamel (Beispielreihung; hier eine Aufzählung möglicher Wünsche an Apollo, denen der bescheidene Wunsch des Sängers entgegengesetzt wird) s. o. Kap. Π. 1 b, Anm. 59. 10 Das gilt auch für carm. 110 und 130 (zu diesen s. u. Anm. 11). Vgl. BUCHHOLZ, De Horatio hymnographo 24. 27ff. 38ff. 43ff; zusammenfassend 77f. Freilich zeigt BUCHHOLZ a.a.O. auch, daß Horaz den genannten griechischen Vorbildern nie durchgängig folgt, sondern sich lediglich von ihnen anregen läßt und seine Gedichte (als römische Hymnen!) sehr selbständig unter Beachtung allgemeiner Hymnentopoi ausgestaltet (vgl. auch WÜNSCH, Hymnos 177). So imitiert Horaz z.B. am Beginn von carm. 112 und 135 die Anfangsverse von Pindar, Olymp. Π und ΧΠ, fährt aber dann ganz eigenständig fort. 11 Ohne abschließendes Gebet (stattdessen mit einem preisenden Abschluß) sind auch carm. 110 (an Merkur), II 19 (an Bacchus), ΠΙ 4 (an die Musen), m 18 (an Faunus), m 25 (an Bacchus) und IV 3 (Dank des Dichters an Melpomene) gestaltet, ganz als Gebet dagegen 130 (an Venus). Als Weihgedichte sind wohl ΠΙ 13 (an den Bandusiaquell) und ΠΙ22 (an Diana; vgl. auch hier Catull, carm. 34) aufzufassen. - Siehe zu allen genannten Gedichten BUCHHOLZ,

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Ähnlich frei verfährt Horaz im carmen saeculare, dem offiziellen Festlied zur Jahrhundertfeier des Jahres 17 v. Chr., mit der Augustus ein neues Zeitalter einleiten wollte. Getreu dem Anlaß des Festes hat Horaz einen feierlichen Hymnus geschaffen, in dem Phoebus und Diana (so v. 1) als universale Schutzgötter unter verschiedenen Namen angerufen werden: Phoebus ist zugleich Sol (ν. 9), Diana ist zugleich Luna (ν. 36), beide zusammen also nicht nur „des Himmels leuchtende Zier" (v. 2: lucidum coeli decus), sondern auch Herrscher über Tag und Nacht - und damit über die Zeit als solche, die in diesem Lied zum neuen Zeitalter immer wieder ausdrücklich erwähnt wird (v. 4. 21 ff. 67f). In freier Ausgestaltung der Hymnenform sind die drei Teile Anrufung, Mittelteil und Gebet nicht als große Blöcke hintereinandergestellt, sondern wechseln innerhalb des Liedes mehrmals ab. Auf die Anrufungen von Phoebus als Sonnengott (v. 9 ff) und von Diana als Schutzgöttin der Geburt12 und der Ehe (v. 13 ff), die durch hymnische Prädikationen erweitert sind, folgen jeweils entsprechende Gebete zugunsten des römischen Volkes. Dann werden dem göttlichen Geschwisterpaar weitere Götter zugesellt: die Parzen (v. 25 - 28), zuständig für Weissagung und Schicksal (vgl. schon v. 5 die Sibylle), sowie Tellus und Jupiter als Schutzgötter von Erde, Wasser und Luft, die wiederum Ceres als Göttin der Ernte unterstützen (v. 29-32). Nach einer erneuten Anrede an Apollo und Luna (ν. 33-36) folgt in einem langen Konditionalgefüge (Roma si vestrum est opus...) eine geraffte Darstellung der Gründung Roms nach dem Aeneasmythos (v. 38-44), die in ein Gebet um Segen für das „Romulusvolk" (Romula gens) mündet (v. 45-48). Den formalen Gesetzen des Hymnus wäre allein mit diesem Abschnitt (v. 33-48) Genüge getan, aber es muß noch dem Initiator des Festes und Imperator des Reiches die Reverenz erwiesen werden.13 Dies geschieht zunächst als Anhang an das Gebet, mit der Bitte, daß sich die Siegeswünsche des Augustus erfüllen mögen - allerdings wird sein Name nicht genannt, sondern gemäß dem Hymnenstil feierlich umschrieben: Mit der Wendung „erlauchter Sproß des Anchises und der Venus" (v. 50: clarus Anchisae Venerisque sanguis) wird er sogar dem mythischen Stammvater Aeneas gleichgesetzt. Auf die Bitte um neue Siege, in denen sich der Sieger als mild erweisen könne (v. 49-52), folgt gleich die Erwähnung bisheriger Siege, die seine „mächtige Hand" (manus potens) zu Land und Meer errungen habe (v. 53-56), und deren Folge: die Rückkehr alter Güter der Vorzeit - Treue, Friede, Ehre, Schamhaftigkeit, Tugend und Wohla.a.O. 2 4 - 5 5 . 73, sowie die Einzelinterpretationen bei SYNDIKUS, Horaz; zu „Horazens Bacchusoden" (118, Π19, ΠΙ 25) jetzt auch den gleichnamigen Aufsatz von MAURACH. 12 Auf den Namen Ilithyia (v. 14), der ja nur eine Transkription von Είλείθυια darstellt, folgen zwei Vorschläge' für echt lateinische Bezeichnungen der Geburtsgöttin, und zwar in der hymnentypischen Form: sive tu Lucina probas vocali \ seu Genitalis (v. 15f). 13 Eigenständige Lobgedichte auf Augustus mit hymnischen Zügen sind bei Horaz ebenfalls zu finden: siehe carm. 12, IV 5, IV 6 und IV 14 (dazu BUCHHOLZ, De Horatio hymnographo 65 - 72, und die betreffenden Interpretationen bei SYNDIKUS, Horaz).

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stand14 - nach Rom (v. 57-60). Der Hymnus endet, wie er begonnen hat, wieder bei Phoebus und Diana, deren Gunst in Form einer Verheißung für das neue Zeitalter beschworen wird (v. 61-76).15 Der freimütige Umgang mit der literarischen Form des Hymnus zeigt sich bei Horaz besonders deutlich an der Übertragung auf andere Gegenstände: in carm. 132, das an die Leier des Dichters gerichtet ist16, und - an der Grenze zur Parodie - in carm. III 21, einem hymnischen Gedicht an den Weinkrug.17 Hier finden sich fast alle typischen Wendungen des Hymnenstils: Der Dichter nimmt auf die .Geburt' des Weines Bezug (v. 1: O nata mecum consule Manlio), wägt die Möglichkeiten seines ,Wesens' ab (v. 2 - 4 : seu... sive... seu... seu...), stellt anheim, „unter welchem Namen auch immer du den auserlesenen Massiker[wein] verwahrst" (v. 5f: quocumque lectum nomine Massicum \ servas) und bittet am Ende der . A n r u f u n g ' um das .Herabsteigen' der Angeredeten (v. 7: descende), die inzwischen als „treues Gefäß" (v. 4: pia testa) bezeichnet worden ist. Im .Mittelteil' fallen vor allem die gehäuften Prädikationen mit tu bzw. te auf (v. 13. 14. 17. 19). mit deren Hilfe die .göttlichen' Eigenschaften des Weines aufgezählt werden - daß er einen erstarrten Geist bewegt, Geheimnisse enthüllt, Hoffnung schenkt und Kräfte verleiht. Der Schlußteil beginnt mit einer erneuten Anrede (v. 21: te) und stellt dem so Gepriesenen weitere Götter an die Seite: Liber (= Bacchus), Venus und die Grazien. Alle Genannten sollen herrschen bis zum Ende der Nacht - hymnisch ausgedrückt: „bis wiederkehrend die Sterne zum Fliehen bringt Phoebus" (ν. 24: dum rediens fugat astra Phoebus). Ist dies auch primär Gelagepoesie, der das Vergnügen am Spiel mit den überkommenen Formen deutlich anzumerken ist, so hat doch der ,Scherz' auch tiefere Bedeutung: Erstens wird in der Gabe auch der Gott geehrt, von dem sie stammt, so daß die religiöse Überhöhung der Kräfte des Weines zugleich ein Hymnus auf Bacchus ist. Und zwei14 Zu dieser Güteraufeählung (Fides, Pax, Honos, Pudor, Virtus und Copia als göttlich aufgefaßte Wertbegriffe) vgl. oben Kap. Π. 1 a, S. 42. 15 Dabei erwähnt die letzte Strophe auch den Sänger selbst, der sich abschließend als doctus et Phoebi chorus et Dianae \ dicere laudes (v. 75 f) bezeichnet und mit den beiden letzten Worten wieder an den Beginn (v. 8: dicere carmen) anknüpft. - Zur Analyse des Liedes, das WÜNSCH, Hymnos 177, als „Krone römischer H[ymnendichtung]" bezeichnet, siehe auch BUCHHOLZ, De Horatio hymnographo 56—65. 16 Dieser Hymnus hat wieder die typische Dreiteilung: Anrufung mit Aufforderung zum Singen (Str. 1; hier ein Gedicht von Sappho als griechisches Vorbild), Mittelteil mit den Motiven .Herkunft' und ,Wesen' (Str. 2 - 3 ) , Abschluß mit erneuter preisender Anrede und weiteren Beinamen (Str. 4). Siehe die ausführlicheren Analysen bei BUCHHOLZ, a.a.O. 4 1 - 4 3 , und SYNDIKUS, Horaz I, 287-292. 17 Die Erkenntnis des hymnischen Charakters von carm. ΠΙ 21 (bei BUCHHOLZ, a.a.O., noch nicht besprochen) ist EDUARD NORDEN ZU verdanken, der seine berühmte Darstellung des hymnischen Stils an der Untersuchung dieser horazischen Ode aufhängt (Agnostos Theos 143-163: „Die Messallaode des Horatius und der ,Du'-Stil der Prädikation"). Vgl. zum folgenden auch SYNDIKUS, Horaz Π, 1 8 8 - 1 9 5 .

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tens ehrt Horaz mit seinem Gedicht einen hohen Gast: den in v. 7f erwähnten Corvinus, auf dessen Wunsch die „milderen Weine" hervorgeholt werden und der, wenn auch sonst eher „triefend (bzw. trunken) von sokratischen Reden", doch einem guten Tropfen nicht abgeneigt sei (v. 9f: non ille, quamquam Socraticis madet | sermonibus, te neglegit hórridas). Dieser Mann - M. Valerius Messalla Corvinus - , hochangesehen als Feldherr und Redner ebenso wie als kunstsinniger Förderer junger Dichter18, wird in dem Hymnus an den Weinkrug auf meisterlich-heitere Weise von Horaz verewigt.19 Er wird uns auch in den beiden nächsten Beispielen wiederbegegnen. Unter den Elegien des Tibull ist eine als Hymnus an Phoebus gestaltet (Eleg. II 5): Die Anrufung (v. 1 -16) beginnt mit dem Namen des Gottes (im Vokativ), der wiederholten Bitte um sein Kommen (veni ν. 2. 6. 7) und um seine musikalische Unterstützung des Dichters; der Gott wird skizziert als Sänger von laudes (ν. 4. 10), als „strahlend und schön" (v. 7: nitidus pulcherque) sowie als Gott der Weissagungen, speziell der Sibylle, die in hexametrischen Sprüchen die Zukunft Roms geweissagt hatte (v. 11-16).20 Mit der erneuten Anrede Phoebe beginnt der Mittelteil (v. 17-104), der den „heiligen Schriften" (sacra charta v. 17) der Sibylle gewidmet ist; zuerst wird im Rückgriff auf den AeneasMythos ihre Entstehung geschildert (v. 19-76/78)21, dann folgt - nach einer kurzen Bitte an den jetzt als Apollo angesprochenen Gott, er möge alle bösen Prophezeiungen im Meer versenken (v. 79f) - die Ausmalung einer Zukunft voll Glück und Segen für Ernte, Nachkommenschaft und junge Liebe (v. 81-104). Der letzte Teil des Hymnus, die abschließende Bitte (v. 105-122), ist wieder durch den Vokativ Phoebe (ν. 106. 121) markiert, knüpft aber an das vorangegangene Motiv der Liebe an: Der Dichter bittet den Gott, daß er Amor die Pfeile und Bogen wegnimmt - also die Liebe vom Leid befreit, das mit ihr fast immer verbunden sei und das auch der Sänger selbst schon ein Jahr

18 Zu dem Dichterkreis um Messalla gehörten z.B. Tibull und Ovid (vgl. WEIDEMANN, LAW 1934f). Horaz selbst gehörte (wie z.B. auch Vergil und Properz) dem Kreis um Maecenas an, der Augustus näherstand und ,seine' Dichter immer wieder zu Lobgedichten auf den Princeps anzuregen versuchte (vgl. Horaz, Epod. 14,5; Vergil, Georg. ΠΙ 41; Properz, Eleg. Π l,17ff; ΠΙ 9; ferner M. v. ALBRECHT, LAW 729, s. v. Dichterpatronage [3]). 19 Außer den bisher genannten hymnischen Gedichten des Horaz werden bei BUCHHOLZ, De Horatio hymnographo 70-77, noch folgende Textstellen besprochen, in denen formulae hymnicae adhibeantur : carm. 13; m i l , I f f ; ΠΙ 26,9-12; ffl28,9ff; I V I , I f f ; sat. Π 6,5 ff. 20 ff; ep. 116,59ff; sat. II 3,282. 288. - Hinzufügen könnte man carm. 118,3ff (Lob des Weines/des Bacchus; vgl. oben Anm. 11). 20 In diesem Teil sind auch die betonten Personalpronomina zu beachten: Tu ..., tibi ... (v. 11), Tuque..., per te... (ν. 13), Te... (v. 15); hinzu kommt Ipse am Anfang von v. 5. 21 Die Verse 77f werden von HELM und LUCK (nach dem Vorschlag von Κ KALBFLEISCH) vor v. 75 gestellt, so daß sich die Reihenfolge 74. 77. 78. 75. 76. 79 ergibt. In der Ausgabe von LENZ/GALINSKY ist dagegen die handschriftlich überlieferte Abfolge beibehalten.

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lang schmerz- und lustvoll ertrage (v. 105-110) 22 . Liegt hier also der Form nach ein Hymnus auf Phoebus vor, so zeigt der Schluß deutlich, um wessen Ehrung und Lobpreis es hier eigentlich geht: Messalinus, ein Sohn des oben erwähnten Feldherrn und Staatsmannes Messalla, ist in das Kollegium der „Fünfzehnmänner" aufgenommen worden, die als Apollopriester über die Sibyllinischen Bücher wachen; dies stellt den Anlaß für das feierliche Gedicht dar (vgl. v. 1. 17Í)23, und nun wünscht der Dichter abschließend für sich selbst, daß er die glorreiche Zukunft des Messalinus noch erleben darf. Wenn er diese in einem Bild des Messalinus als heimkehrenden Siegers ausmalt, dann denkt er dabei auch an den Vater, der dem vorbeiziehenden Triumphwagen des Sohnes stolz applaudiert (v. 115 -120). 24 Weniger dezent ist das Loblied eines unbekannten Verfassers aus dem Kreis um Messalla, das als Eleg. IV1 [III 7] im corpus Tibullianum überliefert ist: Es beginnt mit den Worten „Dich, Messalla, will ich besingen" (v. 1: Te, Messalla, canam), und der Poet setzt gleich hinzu, daß seine schwachen dichterischen Kräfte der Erhabenheit des Stoffes zwar nicht angemessen seien, er es aber trotzdem versuchen wolle (v. 1 - 1 7 und, im Rahmen einer Priamel25, v. 18-38). Ist diese Aussage auch ein häufig anzutreffender Proömientopos26, so wird sie doch hier mit einer Breite und Unterwürfigkeit entfaltet (und am En22 Die unglückliche Liebe, um die es hier geht, wird von Tibull mit dem Decknamen Nemesis (Göttin der Vergeltung) bezeichnet (vgl. auch Eleg. Π 3,61; 4,59). Im vorliegenden Gedicht erhält das Pseudonym eine Eigendynamik und die Frau eine Art .Hymnus im Hymnus', der mit der Aussage beginnt „Beständig besinge ich Nemesis" (v. I l l : Usque cano Nemesim), fortgesetzt wird mit „ . . . ohne die mir kein Vers die passenden Worte oder Füße finden kann" (v. l l l f : sine qua verjus mihi nullus | Verba potest iustos aut reperire pedes) und sich dann direkt an die Betreffende wendet („du aber . . . , Mädchen") mit der Aufforderung, den Sänger zu schonen, da er heilig sei und wie alle Dichter unter dem Schutz der Götter stehe (v. 113f: At tu - nam divum servai tutela poetas - | Praemoneo, vati parce, puella, sacro). Wenn hier der eigene Liebeskummer mit typischen Wendungen des Hymnenstils zur Sprache kommt, zeigt sich daran sehr schön die Ironie des aufgeklärten Dichters (vgl. zu Tibulls Humor, allerdings an anderen Beispielen verdeutlicht, die „Einleitung" der Ausgabe von HELM, 6 - 8 ) . 23 V. 1: Phoebe, fave: novus ingreditur tua templa sacerdos („Phoebus, sei gnädig: Ein neuer Priester betritt deinen Tempel"); v. 17f: Phoebe, sacras Messalinum sine tangere Chartas \ Vatis, et ipse precor quid canat illa doce („Phoebus, laß Messalinus die heiligen Schriften der Seherin berühren, und lehre du, bitte, ihn selbst, was sie singend verkündet!"). - V. 17f korrespondiert in der Form (kurze Bitte) mit v. 79 f; daher lassen sich die beiden Stellen als Gliederungssignale innerhalb des hymnischen Mittelteils auffassen (also nicht v. 79 als Beginn des dritten Teils). 24 Tibull gehörte dem Dichterkreis um Messalla an (vgl. oben Anm. 18). Die bewundernde Zuneigung zu seinem Gönner zeigt sich auch in Eleg. I l,53f; 1 3 , l f . 55f; besonders aber in 17, das auch hymnologisch interessant ist (Loblied zu Messallas Geburtstag, mit mehreren Götteranrufungen). 25 Zur Priamel (hier: „mögen andere . . . ich a b e r . . . ) vgl. den Verweis oben Anm. 9. 26 Die nächste Parallele sehe ich bei Ovid, Fasti Π 119-126, dem Proömium zu einem Lobpreis des Augustus. Zur Selbstverkleinerung des Redners als rhetorischem Bescheidenheitstopos vgl. unten Kap. ΠΙ. 1 a, Anm. 7. Die Erwähnung von Hindernissen haben wir auch bei Pindar

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de des Gedichtes noch einmal aufgegriffen: vgl. v. 177ff), die schon peinlich wirkt. Das Lied, statt in elegischen Distichen durchgängig in Hexametern abgefaßt27, strebt epische Größe an; ausgiebig werden Motive aus Mythos und Lehrdichtung an mehr oder weniger passender Stelle für Abschweifungen herangezogen. Das Lob des Messalla als Redner (v. 45-47) veranlaßt den Sänger zu einer Aufzählung sämtlicher Irrfahrten des Odysseus - der ja ebenfalls ein großer Redner war (v. 48-81). Die Erwähnung von Messallas Kriegskünsten (v. 82) zieht einen Überblick über die einzelnen Tätigkeiten des Feldherren nach sich (v. 83-105). Und die Prophezeiung weiterer militärischer Erfolge für Messalla (v. 135 f) gibt dem Poeten nicht nur Gelegenheit zu einer geographischen Übersicht über die ganze bekannte Welt (v. 137-150), sondern auch zu einem Exkurs über die Einteilung der Welt in fünf Zonen (v. 151-174). Bei so viel gutgemeinter Übertreibung verwundert es dann auch nicht mehr, daß sich der Verfasser keineswegs mit dem Versprechen zufriedengibt, er werde Messalla auch in bitterer Armut und bis ans Lebensende preisen: Nein, er will noch nach dem Tod in wiedergeborener Gestalt - als Pferd, Stier, Vogel und dann wieder als Mensch - seine Lobgesänge fortsetzen (v. 181-211).28 Einen freien, geradezu spielerischen Umgang mit der Hymnenform, wie wir ihn bei Horaz und Tibull kennengelernt haben, finden wir schließlich auch bei dem Elegiker Properz. Seine Elegie III 17, die von dem Wunsch des Dichters handelt, seinen Liebeskummer im Wein zu ertränken, ist als feierlich-ironischer Hymnus an Bacchus gestaltet29: Gleich zu Beginn wird durch die namentliche Anrede des Gottes und die Wendung „demütig knien wir vor deinem Altare nieder" eine sakrale Atmosphäre beschworen (v. 1: Nunc, o Bacche, tuis humiles advolvimur aris), die in der anschließenden Bitte um Frieden und glückliche Fahrt, verbunden mit dem Beinamen „Vater", stilgemäß vervollständigt wird (v. 2: da mihi pacato vela secunda, pater!). In drei weiteren

kennengelernt (vgl. oben Kap. Π. lb, Anm. 33; dort weitere Beispiele), wobei der Ton jedoch darauf liegt, daß der Dichter alle noch so großen Hindernisse zu überwinden vermag. 27 Zu diesen Metren, die aus der griechischen Tradition übernommen sind, siehe oben Kap. Π. la, Anm. 61. 28 Weitere für uns interessante Texte aus dem corpus Tibullianum sind die Elegie ΠΙ 6 von Lygdamus (Trinklied mit hymnischer Anrede an Bacchus) sowie aus dem Sulpicia-Kranz des Tibull die Gedichte IV 2 [ΠΙ 8] (Loblied auf die Geliebte, beginnend mit Anrufung des Mars), IV 4 [ΠΙ 10] (Gebet an Phoebus um Heilung der kranken Geliebten) und IV 6 [ΠΙ12] (Gebet an Juno, zum Geburtstag der Geliebten). - Darüber hinaus finden sich auch wieder .hymnische' Stellen innerhalb anderer Gedichte: Eleg. 13,27-34; 1 1 0 , 1 5 - 3 2 . 4 5 - 6 8 ; Π1,3ί. 17ff. 37ff. 81f;IV5[rail],9ff. 29 Zur Analyse vgl. besonders LITTLEWOOD, TWO Elegiac Hymns 664 -669; die Bezüge zur zeitgenössischen Dichtung, insbesondere von Tibull und Horaz, untersucht MILLER, Propertius' Hymn to Bacchus ("a meaningful intertextual discourse", a.a.O. 86).

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Verspaaren (beginnend mit tu potes..., per te... und te...) wird dann die Anrufung des Gottes in Hinsicht auf die Situation des ,Beters' (Liebeskummer) zugespitzt. Dabei ist das mittlere Verspaar (v. 5f) besonders herausgehoben: formal durch das dreifache, z.T. anaphorische Personalpronomen (per te ... , per te ... , \ tu) und die erneute namentliche Anrede Bacche, inhaltlich dadurch, daß hier die Bitte um Erlösung von diesem Leiden ausgesprochen wird (v. 6: tu Vitium ex animo dilue, Bacche, meo!), das Bacchus durch seine spezielle Medizin', den Wein, lindern kann (v. 3f) und das er gemäß dem Mythos am eigenen Leibe erfahren hat (v. 7f). Der ^Mittelteil* des Hymnus* beginnt mit einer Beschreibung des chronischen Leidens (Symptome: Fieber und Schlaflosigkeit), von dem der Dichter erlöst zu werden hofft (v. 9-12), und steigert sich zu einem feierlichen Gelübde: Wenn die Gabe des Bacchus tatsächlich den ersehnten Schlaf herbeiführt (v. 13 f), will der .Beter' sein Leben fortan in den Dienst des Gottes stellen, indem er selber sich dem Weinbau zuwendet (v. 15-18) und vor allem indem er als Sänger die wunderwirkende Kraft (virtus) des Gottes verkündet (v. 19Í).30 Eine Kostprobe für diese Gesänge schließt sich an (dicam ego...); sie läßt zunächst Szenen aus dem Bacchus-Mythos Revue passieren (v. 21-28), beschreibt dann die äußere Erscheinung des Gottes (v. 29-32) und findet ihren Höhepunkt in einer lautmalerischen Schilderung des bacchantischen Festzuges (v. 33-38). Die Schlußverse lenken wieder zum Dichter zurück: Properz bekräftigt, daß er seine Lobgesänge auf Bacchus im hochtönenden Stil des Pindar verfassen will (v. 39f: haec ego non humili referam memoranda coturno, | qualis Pindarico spiritus ore tonat), und erinnert den Gott mit einer erneuten Anrede (tu modo ...) noch einmal abschließend an seine Bitte um erlösenden Schlaf (v. 41 f).31

30 Die Selbstverpflichtung des Beters für den Fall der Gebetserhörung ist ein bekannter Topos im .argumentativen' Mittelteil des Hymnus (da ut dem - Variante 2 nach BREMER, Hymns 196; vgl. oben Kap. II. l a , Anm. 20). - Zum Verständnis von virtus = άρετή siehe oben Kap. Π. l a , Anm. 23. 31 Weitere Gedichte des Properz, in denen G ö t t e r eine tragende Rolle spielen, sind die Elegien Π 12 (Amor, v. 1 - 1 6 in 3. Ps„ v. 1 7 - 2 4 in direkter Anrede); Π 2 8 - 2 8 b (Gebete an Jupiter für die kranke Geliebte); Π 30 (kein Entrinnen vor Amor); Π 31 (Beschreibung einer neuerrichteten Phoebus-Statue); IV 2 (Ich-Rede der Statue des Gottes Vertumnus); IV 6 (Preis des Apollo-Tempels auf dem Palatin); IV 9 (die Begründung der römischen ara maxima durch Hercules); IV 10 (Jupiter Feretrius). Auch in diesen Gedichten sind hymnische Elemente mit spielerischer Ironie umgesetzt, die nicht von ungefähr an Kallimachos (s.o. Kap. Π. l a , S. 50f) erinnert (vgl. IV 6,3f sowie 1134,32; ΠΙ 1,1). - Dem Drängen seines Gönners Maecenas (vgl. oben Anm. 18), Preislieder auf A u g u s t u s und Rom zu verfassen, gab Properz nur sehr zögernd nach: ΠΙ 4 ist ein Geleitgedicht für den geplanten Indienfeldzug des Augustus, der v. 1 als deus Caesar bezeichnet wird; der Dichter selbst will freilich nicht an dem Feldzug teilnehmen, sondern begnügt sich damit, am Straßenrand die siegreichen Heimkehrer zu begrüßen (v. 21 f). Ein weiteres Augustus-Lob findet sich innerhalb des bereits genannten Gedichtes auf den Apollo-Tempel, den Augustus nach seinem Sieg bei Actium auf dem Palatin errichten ließ (IV 6): Der Ankündigung eines Preislieds auf den Tempel (mit Musenanrufung, v. l l f ) folgt die Ankündigung

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Wenn die voranstehend aufgeführten Beispiele für eigenständige Hymnen in der lateinischen Dichtung alle aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. stammen, so ist das kein Resultat der subjektiven Auswahl, sondern hängt mit der Überlieferungslage zusammen: In dem uns interessierenden Zeitraum ließen sich die Beispiele nicht nennenswert vermehren32; etwas zahlreicher treten lateinische poetische Hymnen erst wieder im 4. Jahrhundert n. Chr. auf - dann allerdings zum größten Teil christlich.33 Diese Lücke läßt sich jedoch wenigstens teilweise schließen, wenn wir zusätzlich zu den selbständigen Hymnen nun auch die hymnischen Passagen innerhalb anderer Dichtungen in den Blick nehmen.34 Den Anfang macht hier Lukrez, der die einzelnen Bücher seines großen hexametrischen Lehrgedichts De rerum natura mit feierlichen Proömien eröffnet (11-148; II 1-61; III 1-93; I V 1 - 2 5 ; V 1 - 9 0 ; VI 1-95). Diese Proömien heben sich in ihrem Stil stark von den nachfolgenden, mehr wissenschaftlichtrockenen Darlegungen ab; gleichzeitig sind sie untereinander sehr kunstvoll verknüpft. So wird Epikur, als dessen Jünger sich Lukrez versteht, in den Proömien der Bücher I, III und V mit fortlaufender Steigerung gepriesen35: In 1 6 2 - 7 9 wird er eingeführt als erster Mensch (v. 66 ohne Namensnennung nur als „Grieche" - Graius homo - bezeichnet), der sich der falschen

von carmina auf den Caesar (mit Anrufung des Jupiter, v. 13f); den Hauptteil des Gedichtes nimmt die von Phoebus unterstützte Seeschlacht bei Actium ein (v. 15-68), in deren Verlauf Phoebus den Augustus als „Retter der Welt" (v. 37: mundi servatof) bezeichnet. - Als Lob auf einen M e n s c h e n seien hier schließlich noch Π 2 und besonders Π 3 genannt, in denen die Schönheit der Geliebten mit nahezu hymnischen Zügen gepriesen wird (Vergleich mit Göttinnen und mit Helena). 32 Alle bei LATTKE, Hymnus 80ff, genannten lateinischen Hymnen vor- und außerchristlicher Herkunft sind, soweit sie selbständige und poetische Texte darstellen, auf den vorangegangen Seiten genannt worden - und dazu noch einige, die LATTKE nicht aufführt. Weitere Hymnen, die aus der Zeit bis zur Mitte des 2. Jh.s n. Chr. stammen könnten, wären allenfalls in Anthologien, Inschriften oder als Zitate bei späteren römischen Metrikern zu finden. Hinweise auf einschlägige Texte (von denen die meisten allerdings jünger oder schwer datierbar sind) geben WÜNSCH, Hymnos 178-181, und LATTKE, Hymnus 89f. 33 Die christlichen lateinischen Hymnen bis ca. 600 n. Chr. sind bequem zusammengestellt in den Sammlungen "Early Latin Hymns" (ed. WALPOLE) und Hymni Latini Antiquissimi (ed. BULST). Hier stammen die frühesten Texte aus dem 4. Jh. (Hilarius, Ambrosius, Prudentius; zu diesen Autoren auch - mit weiterführender Literatur - BASTIAENSEN, De oudchristelijke hymne; neuere Editionen sind im Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit aufgeführt). 34 Für die oben besprochenen Dichter ist das ja en passant bereits geschehen; vgl. oben Anm. 8, 19 u. 28. - Nur bedingt hilfreich ist in diesem Zusammenhang das Verzeichnis von lateinischen Gebetsstellen bei APPEL, De Romanorumprecationibus 47-52. 35 Zum Lobpreis Epikurs in den Proömien des Lukrez vgl. (unter problemgeschichtlichem Aspekt) auch FAUTH, Divus Epicurus.

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Götterfurcht entgegengestellt und durch die Entdeckung der Naturgesetze die Religion überwunden habe36. In III 1 - 3 0 wendet sich der Dichter direkt an den „Vater", den „Entdecker der Wahrheit" (v. 9: tu, pater, es rerum inventor), den er auch als „Zier des griechischen Volkes" anredet (v. 3: o Graiae gentis decus — wieder ohne Nennung des Namens), und in dessen Fußstapfen er treten will (v. 3f); er preist in hymnischer Manier37 den ruhmreichen Spender goldener Worte, die - „aus göttlichem Geiste entsprungen" (v. 15: divina mente coorta) - die Ängste der Menschen und die Mauern des Weltalls zum Verschwinden bringen und die Natur in jeder Hinsicht enthüllen. In V 1 - 5 4 erreicht diese Reihe der Preisungen Epikurs ihren Höhepunkt: Dieses Proömium beginnt mit zwei rhetorischen Fragen nach dem Muster ,Wer wäre imstande, ein angemessenes Loblied auf diesen Mann zu dichten?', und die Antwort „Niemand" erhält die Begründung (v. 7: nam ...), daß „jener" (auch hier ohne Namen) ein Gott gewesen sei (v. 8: deus ille fuit, deus, inclyte MemmifEr habe durch die Entdeckung der „Lehre des Lebens" (vitae ratio), die jetzt „Philosophie" (sapientia) genannt werde, die Menschen aus Stürmen und Finsternis zu Ruhe und Licht geführt (v. 9-12). Auch der Vergleich mit den „Erfindungen anderer Götter aus alter Zeit" (v. 13: confer enim divina aliorum antiqua reperto) führt nur zur Bestätigung der Ausgangsthese: Ohne den Weizen der Ceres, ohne den Wein des Liber (= Bacchus) könne man gut leben (v. 14-17), nicht aber ohne ein reines Herz (v. 18: at bene non poterai sine puro pectore vivi), so daß dessen Urheber mit um so größerem Recht ein Gott sein müsse (v. 19-21), und selbst die Heldentaten des Hercules (v. 22-38 ausgiebig aufgezählt) seien nichts gegen den Mann, der die grausamen Folgen des unreinen Herzens „mit Worten, nicht mit Waffen" (dictis, non armis) besiegt habe und daher doch wohl würdig sei, zur Zahl der Götter 36 Wieviel Unheil die Religion anrichten könne, demonstriert Lukrez gleich im Anschluß am Beispiel der Opferung Iphigenies (180-101). 37 Das betrifft nicht nur die typischen Wendungen in v. 2 (Relativische Anrede: qui primus potutiti...) und v. 9ff (,Du-Stil': tu, pater, es rerum inventor, tu patria nobis \ suppeditas praecepta, tuisque ex, inclute, chartis, \ floriferis ...), sondern auch die Gesamtstruktur: v. 1 - 8 bilden die Anrufung, in der die Absicht der Nachfolge bekundet wird (v. 3: te sequofy gleich aber auch die Unmöglichkeit eines Wetteiferns zum Ausdruck kommt (v. 5 - 8 mit den rhetorischen Fragen, wie sich die Schwalbe mit den Schwänen oder die Ziegenböcke mit der Kraft des Pferdes messen könnten); mit der to-Anrede in v. 9 beginnt der Mittelteil (hier ist das redende Subjekt ein ,Wir'), der die väterlichen Lehren und ihre beglückenden Folgen preist; und in v. 2 8 - 3 0 stellt der Dichter (wieder in der Ich-Form) resümierend fest, daß ihn die Macht des Angesprochenen (tua vis) mit „göttlicher Lust und Schaudern zugleich" erfülle (divina voluptas ... atque horror). - Zum hymnischen Charakter dieses Proömiums vgl. auch STENZEL, De ratione 22-24. 38 Die betonende Wiederholung von deus ist nach rhetorischer Terminologie eine Anadiplosis (reduplicatio); diese Figur paßt nach verbreiteter Ansicht gut zum gehobenen Stil (vgl. dazu unten Kap. ΙΠ. lb; Beispiele aus der Dichtung bei NORDEN, Agnostos Theos 169 Anm. 1). Zu dem hier angeredeten Memmius s.u. Anm. 49.

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zu gehören (v. 39-51) - zumal er schon immer ein Offenbarer göttlicher Worte und Sachverhalte bei den Sterblichen gewesen sei (v. 52-54). 39 Setzen die Proömien der Bücher I, III und V in ihrem Lob des Epikur bei der Person an (wenn auch unter Vermeidung des Namens, der im ganzen Werk nur einmal - III 1042 - fällt), so gehen die Proömien von Buch II, IV und VI von der Sache aus: II 1 - 6 1 schildert als höchstes Glück das Lebensgefühl dessen, der sich die „Lehre der Weisen" (v. 8: doctrina sapientum - gemeint ist auch hier Epikur, wie die Fortsetzung zeigt) zu Herzen nimmt und so von sicherer Warte auf das Treiben der übrigen, irrenden Menschen herabschaut, die im Streit um materielle Vorteile doch nur in Angst und Finsternis ihr Dasein fristen; der (epikureische) Weise, der statt von Gold und Silber umgeben lieber im weichen Grase am Ufer des murmelnden Baches unter den Ästen eines hohen Baumes den Sonnenschein genieße (v. 29-33)40, sei frei von Angst, weil er die äußere und innere Gesetzmäßigkeit der Natur (v. 61: naturae species ratioquë) durchschaue. I V 1 - 2 5 thematisiert und preist die dichterische Sendung des Lukrez, der sich mit seinem Werk - einem völlig neuartigen Unternehmen - einen herrlichen Musenkranz erringen will (v. 1-5): „Erstens weil ich die Lehre von großen Dingen verkünde und es eifrig betreibe, den Geist von den engen Fesseln der Religion zu befreien; dann, weil ich über eine dunkle Sache so lichtvolle Lieder dichte (obscura de re tarn lucida pango | carmina), die ich allesamt mit dichterischer Anmut versehe" (v. 6-9). Wie ein Arzt, der Kindern bittere Medizin mit Honig verabreicht (v. lOff), will auch der Dichter die von ihm verkündigte Lehre „in der süßen Sprache des pierischen Liedes [= Musenliedes] darlegen und gleichsam mit dem lieblichen Honig der Dichtkunst bestreichen" (v. 20—22: suavibquenti \ carmine Pierio rationem exponere nostram | et quasi musaeo dulci contingere melle).41 39 Bemerkenswerterweise ist gerade in diesem Proömium, das in der Vergottung des Epikur am weitesten geht, der Charakter weniger hymnisch als vielmehr argumentativ: v. 7 - 1 2 stellt die These dar, die in zwei Argumentationsgängen (v. 1 3 - 2 1 und 22-51, jeweils mit einer eigenen conclusio in v. 1 9 - 2 1 und 4 9 - 5 1 ) bewiesen wird. Hier liegt eine deutliche Nähe zum rhetorischen .Enkomion' (Lobrede) vor, zumal auch dort der Vergleich (.Synkrisis') als Mittel, den zu Lobenden ins rechte Licht zu setzen, eine herausragende Rolle spielt (siehe dazu ausführlich unten Kap. II. 2). 40 Diese Schilderung des Idylls wird in V 1392-1396 fast wörtlich wiederholt. Die Elemente der Beschreibung (Grundausstattung: 1 Baum, 1 Wiese, 1 Bach oder Quelle) begegnen einzeln bereits bei Homer, in dieser charakteristischen Zusammenstellung zueist in der Hirtendichtung (vgl. Theokrit I I ff; VII Iff u.ö.), werden aber schon bald zu einem allgemeinen literarischen Topos (.locus amoenus', siehe dazu CURTIUS, Literatur 191-209, bes. 202-206, sowie ausführlich SCHÖNBECK, Locus amoenus; vgl. auch unten Kap. m . lb, S. 206 Anm. 126). Beispiele aus antiken römischen Autoren: Horaz, carm. 11,21; Vergil, ecl. ni55ff; V 4 5 f f u.ö.; ironisch gebrochen bei Ovid, Met. X 8 6 f f (die Bäume - 27 Arten! - kommen zu dem Sänger Orpheus); XU! 778 ff (für Polyphem ins Riesenhafte gesteigert).

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VI 1 - 4 1 beginnt als Lobpreis der Stadt Athen, weil sie den Mann hervorgebracht hat, dessen Ruhm sich wegen seiner göttlichen Entdeckungen zum Himmel erhebe (v. 7f: cuius ... propter divina reperto \ ...ad caelum gloria fertur). Mit der Überleitung „Denn als er sah ..." (v. 9: nam cum vidit...) geht das Proömium dann jedoch über in einen Preis der Verdienste Epikurs um die Menschheit: Er habe die Ursache dafür erkannt, daß die Menschen trotz Reichtum und Ruhm von Angst gequält wurden - einen Schaden im menschlichen Herzen selbst (v. 9 - 2 3 ) ; daher habe er mit Wahrheit kündenden Worten die Herzen gereinigt (v. 24: veridicis igitur purgavit pectora dictis) und den Menschen einen Weg gewiesen, die Schrecken und Finsternisse des Gemütes zu vertreiben (v. 39.41: terrorem animi tenebrasque ... discutiant): die Einsicht in die äußere und innere Gesetzmäßigkeit der Natur (v. 41: naturae species ratioque).42 Ganz am Anfang des Werkes jedoch - noch vor dem ersten Lob des Epikur - steht ein feierlicher Hymnus an Venus (1 1-49). 4 3 Sie ruft der Dichter an als „Mutter der Aeneaden, Wonne44 der Menschen und Götter, lebenspendende Venus" (v. If: Aeneadum genetrix, hominum divomque voluptas, | alma Venus)·, darauf wird in zwei Relativsätzen (quae mare ... quae terras ...) ihre Allgegenwart gerühmt (ν. 2 - 4 ) . Es geht weiter mit einer ,These', die auch die 41 Das Proömium von Buch IV ist fast wörtlich bereits in 1 9 2 1 - 9 5 0 zu finden, wo es nach einem längeren Abschnitt über die Grundlagen der epikureischen Atomlehre (1149-634) und der polemischen Abgrenzung gegen andere Theorien (1635-920) die Funktion eines Binnenproömiums einnimmt und so für eine kleine Ruhepause sorgt, bevor das Lehrgedicht mit Ausführungen über die Unendlichkeit des Alls (1951-1113) fortgesetzt wird. - Haben wir es hier in der Abfolge 1635-920/1921-950 wieder einmal mit einem engen Nebeneinander von Polemik und Lob zu tun (vgl. oben Anm. 8), so wird dies gegen Mitte des polemischen Abschnitts 1635 - 9 2 0 sogar zu einem Ineinander: In 1 7 1 6 - 7 3 3 begegnet uns ein feierliches Lob des Empedokles innerhalb der kritischen Polemik gegen dessen Lehre (1705-829). 42 Die Anknüpfung an die vorangehenden Proömien, besonders von Buch Π und V, ist schon durch die wiederkehrenden Leitwörter evident. Möglicherweise ist mit der Darstellung des Epikur in VI 1 - 4 1 auch noch eine Steigerung gegenüber V 1 - 5 8 (Epikur als Gott) beabsichtigt: Nach V 1 3 - 2 1 bestehen ja die reperto der übrigen Götter nur jeweils in einer Sache, die das Leben der Menschen angenehmer macht; dagegen ist Epikur durch seine divina reperto (VI 7) der Erlöser der ganzen Menschheit (VI 24-41; vgl. aber bereits V 19-21). 43 Nach ZIEGLER, Hymnos 1270, ist dies der „schönste lateinische] H[ymnus]". Natürlich ist die Verleihung des .ersten Preises' eine subjektive Angelegenheit; wie wir gesehen haben (s.o. Anm. 15), erkennt WÜNSCH, Hymnos 177, diese Ehre dem carmen saeculare des Horaz zu. 44 Das Stichwort voluptas ist mehrdeutig: Als Anrede an die Göttin ist es zunächst mit ,Wonne' zu übersetzen (vgl. VI 94 von Calliope). Es bedeutet aber auch ,Lust' oder .Freude' und ist so eine auch anderswo belegte Übersetzung für den epikureischen Schlüsselbegriff ηδονή. Die Wortwahl ist somit sicher beabsichtigt. Vielleicht soll der Hymnus sogar die beiden Arten des epikureischen Lustverständnisses nacheinander zur Darstellung bringen: in der eisten Hälfte die sexuelle Lust, in der zweiten aber die Freiheit von Leidenschaften als höchste Form der Lust (zu dieser These vgl. die Diskussion in den „Erläuterungen" der Ausgabe von MARTIN, 445 f).

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Epitheta genetrix, voluptas und alma erläutert: „Durch dich wird jegliches Geschlecht der beseelten Wesen empfangen und geboren und strebt dem Lichte der Sonne entgegen" (v. 4f: per te quoniam genus omne animantum ) concipitur visitque exortum lumina solus). Zum Ende der Anrufung wird Venus noch mit einer Reihe von Dich/Dir-Sätzen und einer erneuten Anrede („Göttin") als Friedensbringerin für die Natur gepriesen (v. 6-9) 45 . Der Mittelteil, beginnend mit nam (ν. IO)46 hat nun die Funktion, die ,These' zu entfalten, und zeichnet dazu ein Bild der Natur im Frühling: Alle Lebewesen werden durch den machtvollen Einzug der Göttin im Herzen erschüttert und streben - von Liebe durchdrungen - gierig nach Fortpflanzung (v. 10-20). Der hymnische Gebetsteil beginnt nochmals mit einer Zusammenfassung der ,These', diesmal nach dem bekannten Muster »Alles nur durch dich - nichts ohne dich'; diese conclusio dient syntaktisch als Begründung für die Bitte um den Beistand der Göttin beim Dichten (v. 21-28)47. An diese erste, persönliche Bitte schließt sich noch eine Bitte um Frieden für die Menschen (v. 32: mortalis), speziell für die Römer (v. 40: Romanis) an48, die allerdings mit der ersten verknüpft ist: Ohne Frieden könne weder der Dichter ruhigen Gemütes sein Werk betreiben noch finde sein Gönner Memmius, dem es zugeeignet ist (vgl. schon v. 26 f)49, die Muße, es entsprechend zu würdigen (v. 29-43). Anknüpfend an das Stichwort .Frieden', schildern schließlich die Verse 44 - 4 9 den vollkommenen Frieden unter den Göttern, die, weit geschieden von unserer Welt, frei von

45 te, dea, te fugiunt venti, te nubila caeli \ adventumque tuum, tibi suavis daedala tellus \ summittit flores, tibi rident aequora ponti \ placatumque nitet diffuso lumine caelum. - Zur Anadiplosis in der ersten Zeile (te, dea, te...) vgl. oben Anm. 38. 46 Dieses nam entspricht dem γάρ im Mittelteil griechischer Hymnen; dazu vgl. oben Kap. Π. la, Anm. 21. 47 Die Verse 2 1 - 2 5 seien hier zitiert: quae quoniam rerum natura sola gubernas \ nec sine te quicqam dias in luminis oras \ exoritur neque fit lactum neque amabile quicqam, | te sociam studeo scribendis versibus esse, \ quos ego de rerum natura pangere conor. 48 Dafür, daß gerade Venus diejenige ist, die den Frieden herbeiführen kann, wird auch eine mythologische Begründung gegeben: Nur sie allein könne Mars (Mavors), den Bringer des Krieges, in ihrem Schoß besänftigen und sich bei ihm mit süßen Reden für die Menschen einsetzen (v. 31-40). 49 In v. 26f wird dieser als „unser Memmiade" bezeichnet, „von dem du, Göttin, wolltest, daß er sich zu jeder Zeit in jeder Hinsicht als Geehrter hervortat" (Memmiadae nostro, quem tu, dea, tempore in omni \ omnibus omatum voluisti excellere rebus). Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um C. Memmius, der 66 v. Chr. Volkstribun und 58 v. Chr. Prätor war. Da die Karriere dieses Mannes bereits im Jahr 55 (durch einen mit Ehescheidung verbundenen Parteiwechsel) einen Einbruch erlitt und im Jahr 54 (durch einen Bestechungsskandal im Zusammenhang seiner Kandidatur um das Konsulat) vollends zum Erliegen kam, ergibt sich für die Fertigstellung von Lukrez' Gedicht der Zeitraum 56/55 v. Chr., was auch durch einige andere zeitgeschichtliche Anspielungen bestätigt wird (vgl. dazu ausführlicher die „Einführung" in der Ausgabe von MARTIN, l l f , sowie die „Erläuterungen" ebd. 446f).

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Schmerzen und Gefahren, ungerührt durch Verdienste oder Zorn, der Menschen nicht bedürften.50 Im römischen Nationalepos des Vergil - der ,Aeneis' - sind die .hymnischen' Passagen stärker in die Handlung integriert. Etwa ein Gebet des Arruns an Apollo (XI785-793), das schon durch die Rahmung klar abgesetzt und zugleich in den Kontext eingebettet ist (v. 784: superos Arruns sie voce precatur: - folgt Gebet - v. 794: audiit... Phoebus ...). Das Gebet selbst weist typische Züge auf: Es beginnt mit der Anrede summe deum ... Apollo (v. 785), wird fortgesetzt durch zwei die Verehrung bekundende Relativsätze (v. 786: quem ..., cui...), und kommt dann zur Bitte (v. 789: da, pater, ...). Ein eigener preisender Teil fehlt, da es vor allem auf die Bitte ankommt (v. 789-793); und so findet sich innerhalb dieser nur noch eine Prädikation in Form eines (zum Adjektiv erstarrten) Partizips: omnipotens (v. 790).51 In VIII280 ff sind Handlung und Hymnus äußerst kunstvoll miteinander verwoben: Vergil beschreibt eine Prozession der Salier, die sich dann zum Gesänge (v. 285: ad cantus) um den Opferaltar stellen: „Hier der Chor der Jünglinge, dort der der Greise; die priesen im Lied den Hercules und seine Taten" (v. 287f: hie iuvenum chorus, ille senum, qui carmine laudes \ Hercúleas et facta ferunt). Der Inhalt dieses Hercules-Hymnus wird zunächst in indirekter Rede referiert (v. 288 - 293, drei Taten mit ut eingeleitet) und geht v. 293 in direkte Rede über. Hier werden weitere Taten aufgezählt (v. 293-300, jeweils eingeleitet mit tu ..., tu..., te..., te..., nec te..., non te...); am Schluß steht die Bitte um Kommen und wohlwollende Annahme des Opfers (v. 301 f, eingeleitet mit der Grußformel salve).52 Mit der Wendung „solches brachten sie in Liedern feierlich dar" (v. 303: talia carminibus celebrant) ergreift wieder der Er50 Die Veise 44-49, die sich nicht mehr direkt an Venus wenden, werden in der Forschung z.T. dem Hymnus abgesprochen, zumal sie in Π 646-651 (innerhalb einer Einlage über die kultische Verehrung der Erde als magna mater, ν. 600-659) noch einmal zu lesen sind. Der Anschluß an das Vorangegangene ist jedoch durch das Stichwort pax gegeben; zudem steht bei Zugehörigkeit der Verse 44-49 die Titelangabe für das ganze Werk genau in der Mitte des einleitenden Hymnus (v. 25: de rerum natura), was wohl kaum ein Zufall sein kann. Und schließlich ist bei einem Epikureer, der die Verehrung der Götter als Aberglauben ablehnt (vgl. die übrigen oben besprochenen Proömienabschnitte sowie V 110-234, bes. 156ff) ja eher die Tatsache erstaunlich, daß er sein Werk überhaupt mit einem Götterhymnus beginnt. Folgt Lukrez hier lediglich einer literarischen Konvention (vgl. etwa den einleitenden Zeushymnus in den ,Phainomena' des Aratos, s.o. Kap. Π. la, Anm. 68), so sind die epikureischen Interpretamente um so stärker zu beachten (vgl. auch oben Anm. 44 zum Stichwort voluptas). In diesem Sinne können die Verse 44-49 auch als Vorbereitung von späteren Aussagen wie V 156ff gelesen werden, wo Lukrez die Ansicht zurückweist, die Welt sei von den Göttern für die Menschen eingerichtet, so daß ihr preisenswertes Werk gelobt werden müsse (v. 158: adlaudabile opus divom laudare decere) - nach Epikurs Lehre haben die Götter mit den Menschen nichts zu tun. 51 Weitere Gebetsstellen bei Vergil (mit mehr oder weniger starken hymnischen Zügen) sind bei APPEL, De Romanorum precationibus 52, aufgeführt.

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zähler das Wort, trägt noch zwei besonders wichtige Taten (super omnia ...) des Hercules nach (v. 303f) und fügt hinzu, daß Wälder und Höhen laut von diesen Lobgesängen widerhallten (v. 305). Außer den traditionellen Göttern und Halbgöttern erhält auch Augustus seinen Lobpreis von Vergil53, und zwar an herausgehobener Stelle: Am Ende von Buch VI, also genau in der Mitte des ganzen, zwölf Bücher umfassenden Werkes, prophezeit der tote Anchises seinem in die Unterwelt hinabgestiegenen Sohn Aeneas die Zukunft seines Geschlechts (v. 756 -853). Die Aufzählung von römischen Heroen findet wiederum ihren Mittel- und Höhepunkt mit dem „so oft verheißenen" Augustus Caesar, dem „Sproß des Göttlichen", der das „Goldene Zeitalter wiederbringt für Latiums Flur, die einst von Saturn regiert ward" (v. 791-794: hic vir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, \ Augustus Caesar, divi genus, aurea condet \ saecula qui rursus Latio regnata per arva | Saturno quondam) und der das römische Reich bis an die Grenzen des Weltalls ausdehnen werde (v. 794-800) - selbst Alcides (= Hercules) und Liber (= Bacchus) hätten nicht so viel Land gesehen (v. 801-805). - Ähnlich herausgehoben ist die Beschreibung von Aeneas' Schild, den ihm seine Mutter Venus durch Volcanus hat anfertigen lassen, am Ende von Buch VIII (v. 626-728; vgl. die Rahmung v. 608 - 625 u. 729-731). Auch hier sind die Taten der römischen Heroen Gegenstand der Aufzählung; aber den größten Raum inmitten des beschriebenen Bildes (und mehr als die Hälfte der literarischen Beschreibung) nimmt die Seeschlacht bei Actium ein, in der Augustus 31 v. Chr. den entscheidenden Sieg über Antonius und Kleopatra davongetragen hat (v. 671-728).54 Eine Reihe markanter Beispiele für hymnische Passagen finden wir in den .Metamorphosen' des Ovid. 55 So ist z.B. in V341-661 ein langer, ,epischer' 52 Die Prädikationen für Hercules sind „nie Besiegter" (v. 293: invicte) sowie „wahrer Sproß des Jupiter" und „den Göttern beigesellte Zierde" (v. 301: vera Iovis proles, decus addite divis). 53 Vergil gehörte ja dem Dichterkreis um Maecenas an, der Augustus nahestand (s.o. Anm. 18). Vgl. zum folgenden auch PÖSCHL, Virgil und Augustus (problemgeschichtlich orientiert). 54 Zur Seeschlacht bei Actium vgl. auch Propeiz, Eleg. IV 6 (s.o. Anm. 31). - Vergil hat bereits in seinen .Geórgica' eine Einreihung des Octavian unter die Götter vorgenommen: innerhalb der hymnischen Proömien 1 1 - 4 2 (v. 24ff) und ΠΙ 1 - 4 8 (ν. 16ff) sowie innerhalb der Finalabschnitte 1466-514 (v. 498ff) und IV 559-566 (v. 560ff). Weitere .hymnische' Stellen in diesem Werk sind das an Bacchus gerichtete Proömium Π 1 - 8 sowie Π 136-176 (Lob Italiens, darin 167-172 Heldenreihe mit Augustus als Höhepunkt, 173ff Gebetsanrede an Tellus) und Π 458-540 (Lob des Landlebens). Schließlich enthält auch die berühmte vierte Ekloge, in der die Geburt eines vielumrätselten „Sohnes" als Anbruch des Goldenen Zeitalters verherrlicht wird, hymnische Elemente, in der achten Ekloge steckt ein kleiner Hymnus an die Muse (v. 6-13), und die zehnte Ekloge hat durch Musenanrufungen eine entsprechende Rahmung (v. 1-8.70-77). 55 Mit diesem Werk betreten wir das erste Jahrhundert unserer christlichen Zeitrechnung: Die ersten Exemplare wurden um 8 n. Chr. in Rom verbreitet (vgl. die „Einführung" von HOLZ-

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Hymnus auf Ceres eingelegt (nach v. 338-340 und 662-664 ein Lied - carmen bzw. cantus - der Muse Calliope), der in seinem Hauptteil den Mythos vom Raub der Proserpina durch Dis, den Herrscher der Unterwelt, und von der langen, schließlich erfolgreichen Suche der Mutter Ceres nach ihrer verschwundenen Tochter erzählt.56 Zu nennen wären hier auch VII 433-450, ein Preislied auf Theseus (im Kontext v. 425 -452), oder in IX 773-781 das Gebet der Telethusa an Isis, die jeweils hymnische Gestaltung aufweisen; selbst unter Göttern gehört es anscheinend zum guten Ton, daß der ranghöhere' in hymnischer Form angesprochen wird (so jedenfalls in VIII595-603 der Flußgott Achelous an Neptun). Eine besonders enge Verknüpfung von Hymnus und Erzählung liegt jedoch im folgenden Beispiel vor: Der Anfang von Buch IV handelt von den Töchtern des Königs Minyas, die den Kult des Gottes Bacchus nicht ernstnehmen; sie entweihen ein Fest der thebanischen Frauen zu Ehren des Bacchus, indem sie Handarbeiten ausführen und sich dabei Geschichten erzählen (v. 1-388). In diesem Zusammenhang wird von Ovid der auf dem Fest gesungene Hymnus mitgeteilt, wobei indirektes Referat und direkte Ausführung ineinandergreifen (v. 11-31). Dies gilt bereits für die lange Reihe von Namen und Beinamen, mit denen die Feiernden den Gott anrufen (v. 11-17): Die Reihe fängt berichtend an (v. 11: Bacchumque vocant Bromiumque Lyaeumque usw., v. 13: additur his Nyaeus indetonsusque Thyoneus usw.), geht jedoch am Ende in die direkte Anrede über (v. 16f in der bekannten absichernden Weise: et quae praeterea per Graias plurima gentes \ nomina, Liber, habes). Mit der Wen-

BERG zu der Ausgabe von RÖSCH, 713). -

Außerhalb der .Metamorphosen' gibt es bei Ovid

noch einige hymnische Stellen in seinem unvollendeten römischen Festkalender

(Fasti):

I 461 ff

(an Carmentis/Carmenta). ( 6 7 1 ) 6 7 5 - 6 8 0 (an Ceres und Terra). 7 1 1 - 7 2 2 (an Pax); Π 1 1 9 - 1 4 4 (Lobpreis des Augustus). 6 3 9 - 6 8 4 (an Terminus); ΠΙ I f f (an Mars). 7 1 3 - 7 9 0 (an Bacchus); IV 9 1 - 1 3 2 (auf Venus, vgl. Lukrez I I f f ) . 1 3 3 - 1 6 2 (auf das Bad der Venus, dazu FLORATUS, V e neraba). 3 9 3 - 4 1 6 (Lob der Ceres); V 1 1 1 - 1 2 8 (auf die Ziege der Amalthea, die einst Jupiter säugte). 1 8 3 - 1 9 2 (an Flora; 195ff Selbstvorstellung der Göttin). 6 6 3 - 6 9 2 (an Mercurius; dazu LOTLEWOOD, T w o Elegiac Hymns 6 6 9 - 6 7 3 ) . 56 Ein Musterbeispiel für hymnische Gestaltung ist bereits die programmatische Ankündigung v. 3 4 1 - 3 4 5 , die zweimal den N a m e n der Göttin enthält: Auf die dreimalige anaphorische Bezeichnung als „erste" (v. 3 4 1 - 3 4 3 : Prima Ceres . . . dimovit... dedit leges ...)

| prima dedit fruges . . . | prima

folgt die Zusammenfassung: „alles ist Gabe der Ceres" (v. 343: Cereris sunt

om-

nia munus); dies zieht die Verpflichtung zum Lobpreis nach sich: „ S i e muß ich besingen; o wenn ich doch nur Lieder singen könnte, die der Göttin würdig sind! D i e Göttin ist des Liedes sicher würdig." (v. 344 f: illa canenda

mihi est; utinam modo

dicere possim

| carmina

digna dea! certe

dea Carmine digna est.). Zur Erhabenheit des Stils trägt neben der Anapher mit prima auch die gehäufte Verwendung von Wörtern mit c und d bei (Alliteration); vgl. ausführlicher unten Kap. ΠΙ. 1 b. -

D i e nächste Parallele zum vorliegenden Ceres-Hymnus bildet der große homerische

Demeter-Hymnus ( = Horn. Hymn. 2), der Ovid sicher bekannt war.

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Das Lob von Göttern und Menschen

dung tibi enirrP beginnt der preisende Mittelteil, der die Jugend und Schönheit des Gottes, seinen Siegeszug bis nach Indien, seine Bestrafung der Frevler, sein Gefolge und seine ekstatisch-musikalische Verehrung besingt (v. 17-30; betontes tu/tibim v. 17.18 [2x], 19. 20. 22. 24). Die Bitte an Bacchus, er möchte „sanft und mild" zugegen sein, wird dann wieder deutlich als Zitat der Thebanerinnen gekennzeichnet und durch die Feststellung ergänzt, daß ihre Feier die heiligen Vorschriften einhalte (v. 31f: 'Placatus mitisque' rogant Ismenides 'adsis', I iussaque sacra colunt) - im Gegensatz zu dem gleich anschließend geschilderten Verhalten der Töchter des Minyas. So sind der Hymnus und sein Kontext aufs engste miteinander verbunden, was auch der Ausgang der Geschichte zeigt: Die Aussage im Hymnus, daß Bacchus die sacrilegi bestrafe (v. 22f, mit mythischen Beispielen, von denen Ovid in III 511-733 berichtet hatte), bestätigt sich auch an den Minyastöchtern, die ihren Frevel mit der Verwandlung in Fledermäuse bezahlen müssen (v. 389-415). Schließlich weiß Ovid auch den Hymnus mit dem Herrscherlob zu verbinden und schafft damit einen grandiosen Abschluß für das ganze Werk: Das letzte Buch der .Metamorphosen' enthält eine Erzählung von der Übersiedlung des griechischen Heilgottes Aesculapius (= Asklepios) nach Rom (XV 626-744). Ovid stellt diesem Abschnitt eine Anrufung der Musen voran (v. 622-625), so daß die mythische Erzählung zum .epischen Mittelteil' eines Hymnus wird.58 Der Abschnitt endet jedoch nicht mit einer Bitte oder einem abschließenden Lobpreis, sondern mit einer steigernden Überleitung: Aesculapius, der zur Zeit einer schlimmen Seuche der „Heilbringer für die Stadt" (v. 744: salutifer urbi) war, ist dennoch nur ein „Zugereister" - (Julius) Caesar dagegen „ist Gott in seiner eigenen Stadt" (745 f: Hic tarnen accessit delubris advena nostris: \ Caesar in urbe sua deus est). Es folgt der Preis von Caesars Taten (v. 746 - 759) und der Bericht über seine Ermordung, der seinen Höhepunkt in der Apotheose findet: Caesar steigt als Stern in den Himmel (v. 843-851). Aber auch diese Erzählung endet mit einer steigernden Überleitung: Der ,verstirnte' Caesar sieht von oben die großen Taten seines Sohnes

57 Dies entspricht genau der Formulierung σοι γ ά ρ im Mittelteil von griechischen Hymnen; siehe zu dieser und ähnlichen Wendungen (im Lateinischen auch mit nam - s.o. Anm. 46) oben Kap. Π. l a , Anm. 21 und die dort genannte Literatur, bes. STENZEL, De ratione 18ff (mit Beispielen). 58 Zur stilistischen Analyse von X V 6 2 2 - 7 4 4 siehe MUTSCHLER, Stildifferenzen 2 6 5 - 2 7 9 ; die Verfasserin sieht den Abschnitt als „eigentümliche" Verbindung von Zügen des Lehrgedichtes, der epischen Erzählung und des lyrischen Gedichtes (a.a.O. 265f, vgl. 125f). Die Bezeichnung als „Hymnus" wird mit der einleitenden Musenanrufung, der „Charakterisierung als Aition" (v. 624), den Hinweisen auf kultische Szenen und dem „Rühmen der hilfreichen göttlichen Tätigkeit" begründet (a.a.O. 279); zugleich betont die Verfasserin die Eigenständigkeit des Ovid, der die „Form des Hymnus" hier „in den epischen Bereich der Metamorphosen transponiert" habe (ebd.). -

Der unvollständige Schluß des .Hymnus' bzw. das Verhältnis zu v. 745 ff

wird von MUTSCHLER leider nicht problematisiert.

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und freut sich, von ihm übertroffen zu werden (v. 850f).59 Nun folgt der Lobpreis des Augustus, der zwar verboten habe, seine eigenen Taten höherzustellen als die des Vaters, aber sich in diesem einen Punkt der Meinungsfreiheit beugen müsse (v. 852-854): Auch Agamemnon, Theseus, Achilles und - um den angemessensten Vergleich zu ziehen - auch Jupiter seien wie Augustus größer als ihre Väter (v. 855-860).® Am Ende steht ein Gebet des Ovid an die Götter: Sie möchten den Tag, an dem Augustus die Erde zu seiner eigenen Apotheose verlasse, möglichst lange hinauszögern (v. 861-870). Damit hat der in v. 622-625 begonnene JHymnus' endlich seinen stilgemäßen Abschluß - das Gebet - erreicht. Der Dichter erlaubt sich indes noch eine Schlußbemerkung zu seinem nun vollendeten Werk, in der er auf den Tag vorausblickt, da er selbst sich mit seinem „ewig überdauernden besseren Teil über die Sterne emporschwingt", einen „unzerstörbaren Namen" gewinnt und „im Ruhme für alle Zeiten lebendig" bleibt (v. 871-879). 61 Ein Beispiel, in dem der Lobpreis auf den Kaiser buchstäblich ,in der Familie bleibt', bietet die lateinische Nachdichtung Arati Phaenoma. Das hexametrische Lehrgedicht ersetzt den Zeushymnus im Proömium der Vorlage62 bewußt durch ein Herrscherlob, wie schon die Anrufung' (v. 1 - 4 ) zeigt: 59 Dieses Motiv ist bereits im Lobpreis Caesars angedeutet worden: Dort wird als seine größte Tat herausgestellt, daß er der Vater eines solchen Sohnes sei (v. 750f. 757-759). Ovid spielt hier vermutlich auf eine bekannte Anekdote an (vgl. Herodot ΠΙ 34), nach der der jähzornige und tyrannische Perserkönig Kambyses auf seine Frage, ob er oder sein Vater Kyros größer sei, von Kroisos eine ,salomonische' Antwort erhält: Kyros sei größer, weil er einen solchen Sohn hinterlassen habe. - Der versteckte Vergleich mit Kambyses ist natürlich für Augustus nicht gerade schmeichelhaft; vgl. dazu unten Anm. 61. 60 Ein Lobpreis des Augustus, der dessen Taten in Krieg und Frieden würdigt und ihm die Vergottung am Lebensende weissagt, ist bereits in der prophezeienden Jupiterrede v. 819—839 noch innerhalb des Caesar-Teils (der Sohn als Nachfolger und Rächer des ermordeten Vaters) vorangegangen. 61 Parte tarnen meliore mei super alta perennis \ astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum (v. 875 f) . . . perque omnia saecula fama, \ siquid habent veri vatum praesagia, vivam (v. 878 f). — Die ironische Brechung, die sich durch die Schlußstellung der eigenen Apotheose des Dichteis ergibt, zeigt eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Vergöttlichung des Augustus bei Ovid. Dieser Eindruck wird besonders durch zwei Beobachtungen noch verstärkt: Erstens verzichtet Ovid bei der Erzählung von der Reise des Aeneas in die Unterwelt (XIV 101-157) auf die Weissagung der künftigen Größe Roms, die für Vergil ja den herausgehobenen Mittelpunkt seiner ,Aeneis' (VI 756-853, s.o.) bildete; zweitens werden die Götter in den Geschichten Ovids immer wieder als „hemmungslos wollüstig, heimtückisch, grausam und gewalttätig" dargestellt, so daß ihre Gleichsetzung mit menschlichen Herrschergestalten auch diese in keinem guten Licht erscheinen läßt. Vgl. dazu die erhellenden Bemerkungen in der „Einführung" von HOLZBERG ZU der Ausgabe von RÖSCH, 721-727 (Zitat 726). 62 Zum Zeushymnus in den .Phainomena' des Aratos (v. 1 - 1 8 ) siehe oben Kap. Π. la, Anm. 68. Das Proömium beginnt mit den Worten Έχ Διός άρχώμεαθα (v. 1) und spricht ihn am Schluß an: χαίρε, πάτερ, μέγα θαύμα (v. 15).

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Ab love principium magno deduxit Aratus. carminis at nobis, genitor, tu maximus auctor, te veneror tibi sacra fero doctique laboris primitias. probat ipse deum rectorque satorque,63 Nach diesen einleitenden Versen führt der .Mittelteil' (v. 5 - 1 4 ) aus, daß die hilfreiche Macht der Sternbilder und Himmelszeichen für den Schiffer wie für den Landmann nichts wäre, wenn nicht der Friede, den der angesprochene Herrscher herbeigeführt habe, ihre ungestörte Tätigkeit erst ermöglichen würde. Daran anknüpfend, endet das hymnische Proömium stilgemäß mit einem Gebet (v. 15 f): haec ego dum Latiis conorpraedicere Musis, pax tua tuque adsis nato numenque secundes,64 So deutlich hier die Vergöttlichung des Herrschers ausgesprochen ist, so unklar bleibt für uns, um wen es sich bei .Vater1 und ,Sohn' handelt.65 Als Name des Verfassers ist „Germanicus Caesar" bzw. „Claudius Caesar" überliefert. Diese Angaben werden gewöhnlich auf Germanicus, den Neffen und (seit 4 n. Chr.) Adoptivsohn des Kaisers Tiberius, bezogen.66 In diesem Fall wäre das hymnische Proömium an Tiberius gerichtet - und zwar noch zu dessen Lebzeiten, denn Germanicus ist bereits 19 n.Chr. gestorben (Tiberius erst 37 n. Chr.). Allerdings trat Tiberius als Princeps eher bescheiden auf und lehnte Huldigungen jeder Art ab.67 So ist vielleicht eher an Tiberius selbst als Verfasser des Lehrgedichtes zu denken68, zumal für ihn eine literarische Bildung in griechischer und lateinischer Sprache sowie ein Interesse an Astrologie und

63 „Vom großen Jupiter leitete Aratus seinen Anfang/sein Proömium her. Für uns (mich) aber, Vater, bist du der größte Veranlasser des Gedichtes; dich verehre ich, dir bringe ich meine Opfer dar: die Erstlinge meiner gelehrten Arbeit. So kann sie der Lenker und Erzeuger der Götter selbst beurteilen." 64 „Wenn ich nun versuche, dies in lateinischen Veisen zu künden, dann mögen dein Friede und du selbst deinem Sohne beistehen und deine göttliche Macht ihm günstig sein." 65 Zum folgenden vgl. Punkt 6 der "Introduction" in der Ausgabe von GAIN, 16-20 ("Identity of the author and date of the poem"). 66 Vgl. z . B . HANSUK, K P Π (1967), 7 6 7 - 7 7 0 . - G e r m a n i c u s w a r B r u d e r d e s s p ä t e r e n Kai-

sers Claudius und Vater des Caligula. 67 Nach Sueton, Tiberius 26-27, verzichtete Tiberius nicht nur auf Tempel und Standbilder für seine Person, sondern auch auf Titel wie .Imperator" und .Augustus'; selbst die Anrede als .Herr' (dominus) habe er weit von sich gewiesen (vgl. auch Cassius Dio LVD 8,1). 68 Sein Name vor der Adoption durch Augustus war Tiberius Claudius Nero; nach Cassius Dio LVD 8,2 wurde er als Herrscher normalerweise Caesar und manchmal auch Germanicus genannt (zu den Germanienfeldzügen des Tiberius vgl. auch Sueton, Tiberius 16-19).

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Mythologie bezeugt sind69. Dann wäre sein Adoptiwater Augustus der im Proömium verehrte göttliche Herrscher, was insofern besser passen würde, als v. 558-560 bereits auf dessen Tod und Himmelfahrt zurückblicken, also die Apotheose des Angerufenen schon voraussetzen. Auch die Darstellung als Friedensbringer läßt ja eher an Augustus als an Tiberius denken. Schwierig ist bei dieser Annahme jedoch die Bezeichnung des Werkes als „Erstling" (v. 3f), da Tiberius schon vor dem Tod des Augustus literarisch tätig war - es sei denn, es handelte sich bei den Phaemmena um ein Jugendwerk, das später um die Verse 558-560 erweitert und mit einem neuen Proömium versehen wurde.70 Bei dem Philosophen und Dramatiker Seneca sind hymnische Partien besonders in den Liedern der Tragödien anzutreffen: Das zweite Chorlied im Oedipus (ν. 403-508) ist ein Lobhymnus auf Bacchus, der als selbständiger, eher locker mit dem Kontext verbundener Block erscheint und vor allem dem Überbrücken der Zeit während Oedipus' Totenbeschwörung dient.71 Meist beschränkt sich das Hymnische jedoch auf Teile eines Chorliedes, um mit diesem unlösbar zu verschmelzen: So stimmt der Chor im Hercules [furens] ein klagendes Lied an, nachdem Hercules im gottgesandten Wahnsinn seine eigenen Kinder getötet hat; das Lied beginnt mit der Aufforderung, daß der Kosmos trauern solle (Lugeat aether . . . v. 1054ff zunächst in 3. Ps. sg. an Äther, Erde und Meer, ab v. 1057 in direkter Anrede an „Titan" = Helios)72. Mit v. 1063 geht das Lied in ein Bittgebet für den wahnsinnigen Hercules über, das sich

69 Vgl. Sueton, Tiberius 69-71. - Das lateinische Lehrgedicht weist gegenüber der griechischen Vorlage einige astrologische (z.B. v. 558-560) und mythologische (z.B. v. 531-564) Zusätze auf. 70 So die Erwägung von GAIN, a.a.O. 20, der die Verfasserfrage jedoch letzten Endes für unbeantwortbar hält. 71 Die Gattung wird sogar explizit genannt in der Ankündigung des Liedes durch Tiresias, v. 402: populare Bacchi laudibus carmen sonet. - Zum Aufbau: v. 403-411 bilden die Anrufung mit kurzer ,Regieanweisung' (403f) und der Bitte um das Kommen des Gottes; 412-502 folgt ein .epischer' Mittelteil (darin 412-428 die Verfolgung des neugeborenen Bacchus durch seine eifersüchtige Stiefmutter Juno und seine Rettung in Mädchenkleidem, 429-448 seine Begleiter, 449-466 seine eindrucksvoll bewiesene Macht, 467-487 sein Siegeszug in die entferntesten Gegenden der Erde und sogar nach Argos, der heiligen Stadt der Juno, 488-502 seine Hochzeit mit Ariadne als Friedensfest der Götter); 503 -508 krönender Abschluß mit dem Versprechen, Bacchus (hier: Lyaeus) zu ehren, solange Sterne, Mond und Meer bestehen. - Das Lied wechselt nicht nur von der direkten Anrede (so ab v. 405 überwiegend; anaphorisches te in v. 412. 413. 429. 432. 449) in die 3. Person (so v. 471-487 u. 503-508; betontes ille in v. 478), sondern auch mehrfach das Metrum (.Polymetrie', nach einer zeitgenössischen metrischen Theorie von Caesius Bassus; so auch im 3. Chorlied und im Agamemnon). 72 Formal und inhaltlich besteht eine frappierende Ähnlichkeit dieser Verse zu dem oben (Kap. Π. la, S.54f) besprochenen Helioshymnus des Mesomedes (dort bes. der Anfang). Da Mesomedes als Kulturträger am römischen Kaiserhof auch mit den Tragödien des Seneca gut

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zunächst an alle Götter richtet (1063 f: Solvite ... | solvite, superi)13, ab v. 1066 jedoch speziell an Somnus, also den als Gott vorgestellten Schlaf, gewandt ist (1066 wie 1057 Übergang mit tuque). Dieser Gott wird mit einer langen Reihe rühmender Epitheta angeredet (v. 1066-1076) und gebeten, den Erschöpften in seine Obhut zu nehmen, bis sein Geist wiederhergestellt sei (v. 1077-1081). Die auf diesen kleinen .Hymnus' folgenden Verse haben die Funktion des Hinweisens (JDeixis') auf den am Boden liegenden Helden und scheinen eher an das Publikum adressiert. Aber dann wird noch einmal Somnus angerufen, die Wogen des Wahnsinns zu vertreiben (v. 1092f), und auf diese direkte Bitte folgen nun wieder Wünsche, die im Konjunktiv der 3. Ps. sg. formuliert sind (vgl. v. 1054ff). Dabei wird die Bitte um Erlösung vom Irrsinn explizit zurückgenommen, weil nur der bleibende juror Hercules als unschuldig erweisen könne (v. 1094-1099). Nach den unpersönlichen Wünschen (oder Vorhersagen), daß von Hercules' Trauergeschrei und seinen Schlägen auf die eigene Brust das Weltall widerhallen möge (v. 1100-1114), wendet sich der Chor in direkter Anrede an die Waffen des Hercules, die seine Trauerschläge unterstützen sollen (v. 1115-1121), und schließlich an die toten Kinder, die im Hades die von ihrem Vater getöteten Könige aufsuchen sollen (v. 1122-1137; viermaliges ite, das dreimal durch eine Anrede ergänzt wird und dann erst zur eigentlichen Aufforderung kommt). In diesem Beispiel ist der .Hymnus' an Somnus untrennbar mit dem Chorlied verflochten, und das ganze Lied ist ein fester Bestandteil im Kontext des Dramas.74 Die für unsere Untersuchung interessanteste Stelle aus diesem Umfeld mit einem Wechsel von Sprechversen zu einer Soloarie innerhalb eines Dialoges - findet sich in der Seneca zugeschriebenen, aber wohl pseudepigraphi-

vertraut gewesen sein dürfte, halte ich hier eine bewußte literarische Anspielung - die dann freilich in ganz eigenständiger Weise weitergeführt wird - durchaus für möglich. 73 Zur Anadiplosis (Wiederholung von solvite) vgl. oben Anm. 38. 74 Dasselbe gilt für die anderen .hymnischen' Stellen in den Tragödien Senecas, die ich hier mit stichwortartigen Bemerkungen anführen möchte, da dieser engste Zeitgenosse des Paulus (Seneca lebte 4 v . - 6 5 n. Chr.) bei LATTKE, Hymnus 80ff, völlig fehlt (vgl. aber NORDEN, Agnostos Theos 155 Anm. 1; WÜNSCH, Hymnos 178; THRAEDE, Hymnus 931). Es handelt sich um folgende Abschnitte: Medea 5 6 - 1 1 5 (Hochzeitslied des Chores, 67ff. 71 ff direkt an Hymenaeus und Sol, llOff an Hymenaeus gerichtet), 740-839 [842] (beschwörender Zauberhymnus der Medea, ab 750 an Phoebe/Trivia [= Hecate] gerichtet); Phaedra 5 4 - 8 2 (an Diana, im Sololied des Hippolytus), 274-357 (Chorlied auf Cupido/Amor; Anrede 274f an Venus), 406ff (Bittgebet der Amme an Hecate), 959ff (Chor, an Natura und Jupiter, beginnt mit Theodizeefragen und geht 978 ff über in allgemeine Sentenzen über Fortuna und ihre blinde Begünstigung der Bösen); Oedipus 248 - 2 7 3 (Gebet des unwissenden Oedipus um Strafe für den Mörder seines Vaters, an mehrere Götter); Agamemnon 310-387 (Chor, an Phoebus, Juno, Pallas, Trivia/Lucina und Jupiter; 340ff besondere Häufung von tu, tibi usw.), 802-807 (Gebet des Agamemnon an Jupiter). Weitere Gebete, die aber nicht so starke hymnische Züge aufweisen, lassen sich der Aufstellung bei APPEL, De Romanorum precationibus 50, entnehmen.

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sehen Tragödie ,Octavia'75. Die Protagonistin, Adoptivschwester und Gattin des Kaisers Nero, der sie jedoch verachtet und andere Frauen vorzieht, klagt ihrer Amme ihr Leid (v. 75 ff). Zwischen den beiden entspinnt sich ein längerer Dialog, in welchem die Amme der verschmähten Ehefrau zu Geduld rät, da die langjährige Liebe zur Gattin mehr Bestand habe als die schnell entflammte und ebenso schnell erloschene Leidenschaft für die Geliebte (v. 189 ff). Als Beleg für ihren Ratschlag zieht die Amme einen mythischen Vergleich heran, und an dieser Stelle gehen ihre Sprechverse in ein Lied über: Auch die Königin der Götter - Juno - habe durch die zahlreichen Liebschaften ihres Gatten Jupiter ähnliche Schmerzen erlitten (v. 201 f: Passa est similes ipsa dolores \ regina deum). Nach der anspielenden Aufzählung einiger Affären Jupiters (gemeint sind Leda, Europa, Danae) und der daraus hervorgegangenen Kinder (v. 203 -212) kommt das Lied zu dem Resümee, daß sich die erhabene Gattin durch ihre weise Nachgiebigkeit und das Unterdrücken ihres Schmerzes letzten Endes als siegreich erwiesen habe (v. 213f: Vicit sapiens tarnen obsequium \ coniugis altae pressusque dolor). Diese Erfahrung aus der Welt des Mythos wird nun, immer noch im Lied, auf Octavia übertragen: „Auch du, auf Erden eine zweite Juno, Schwester und Gattin des Augustus, besiege deine schweren Schmerzen!" (v. 219-221: Tu quoque, terris altera Iuno, I soror Augusti coniunxque, graves \ vince dolores.) Wie der Schluß deutlich zeigt, ist das Loblied der Amme auf Junos Geduld eine Fortsetzung ihrer tröstenden Beratung Octavias mit anderen Mitteln; besonders das Stichwort dolor ist nicht nur bestimmendes Leitmotiv für das Lied (v. 201. 214. 221), sondern verknüpft es auch fest mit seinem Kontext (vgl. v. 52.76.112.176).76

75 Dieses Drama wird auch als (fabula) praetexta bezeichnet, weil es seinen Stoff nicht aus dem Mythos, sondern aus der römischen Geschichte bezieht und daher im römischen Gewand (der toga praetexta) gespielt wurde. Die .Octavia' ist das einzige erhaltene Stück dieser Art. 76 Geradezu eine Fundgrube für hymnische Passagen ist das gleichfalls pseudepigraphische Drama Hercules [Oetaeus]. Hier weisen die einschlägigen Stellen - ebenfalls alle fest im Kontext verankert - eine recht große Variationsbreite auf: v. 1 - 9 8 ist ein Gebet des Hercules an seinen Vater Jupiter um Aufnahme unter die Götter, wobei der Beter als Begründung der Bitte eine Aufzählung seiner eigenen großen Taten gibt. v. 5 4 1 - 5 6 2 ist ein Gebet der Deianira an Amor um die Liebe ihres Gatten Hercules, v. 1518-1594 ist ein Geleitgebet des Chores für den sterbenden Hercules (darin 1518-1549 Anrufung an Titan, 1550-1586 Lobpreis des Hercules, 1587-1594 Bitte an den pater rerum), v. 1696-1715 ist ein Gebet des Hercules auf dem Scheiterhaufen an seinen pater und genitor um Aufnahme unter die Gestirne (innerhalb des Berichts des Philoctetes vom Ende des Hercules: v. 1607-1757, darin 1693-1726 die letzten Worte des scheidenden Helden), v. 1863-1939 ist die Totenklage der Alcmene, die erst die Völker und ab v. 1903 (vos quoque) auch die Götter zum Trauern aufruft und sich schließlich v. 1917ff an den hingegangenen Sohn (o nate) wendet, ν. 1983-1996 ist das abschließende Chorlied, zunächst ein Preis des Heldentums, ab v. 1989 (sed tu) ein Gebet an Hercules, er möchte mit kräftigen Blitzen die Völker vor Ungeheuern aller Art beschützen.

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Die angeführten Textbeispiele lassen erkennen, daß der Hymnus in der lateinischen Poesie in erster Linie eine literarische Kunstform darstellt, die immer wieder auf griechische Muster bezogen ist. Die Rezeption dieser Muster, zu denen die dreiteilige Grundform, der überschwengliche Stil und die Häufung von Prädikationen (auch in Form von Partizipien und Relativsätzen) gehören77, ist recht frei, gelegentlich sogar spielerisch. Dazu gehört vor allem die Übertragung der Hymnenform auf einen anderen Gegenstand (Leier und Weinkrug bei Horaz, carm. 132 und III 21), aber auch ihre .Zweckentfremdung' - wenn ein ausgeführter Götterhymnus insgeheim dazu dient, einem Menschen die Reverenz zu erweisen (Tibull, Eleg. II 5, ähnlich auch Horaz, carm. III 21) oder auf geistreiche Weise ein Thema der Liebeslyrik zu variieren (Properz, Eleg. III 17). Fragt man nach dem Lebenskontext lateinischer Hymnen, dann ist am ehesten noch der Bezug zum Gelage zu erkennen, das aber eher als Quelle der Inspiration denn als ,Sitz im Leben' fungiert.78 Eine Verwendung im regelrechten Kult ist nur in ganz wenigen Fällen zu verzeichnen; allerdings wird die Hymnenform besonders ab der augusteischen Zeit zunehmend für die .kultische' Verehrung des Herrschers verwendet. Dies geschieht sowohl in selbständigen Gedichten als auch innerhalb größerer literarischer Zusammenhänge. Das Phänomen der hymnischen Passagen in größeren literarischen Kontexten (Lehrgedicht, Epos, Drama) ist ebenfalls griechisches Erbe. Es ist jedoch in der lateinischen Dichtung im 1. Jh. v. und n. Chr. häufiger anzutreffen als zur selben Zeit in der griechischen Poesie. Die untersuchten Beispiele zeigen, daß sich hymnenartige Abschnitte sowohl an den herausragenden Stellen eines Werkes (Proömium; exakte Mitte; Finale) als auch an weniger auffälligen Positionen finden können. In allen Fällen liegt eine deutliche Verknüpfung (bis hin zur regelrechten Verschmelzung) mit dem Kontext vor. Eine philosophische Verwendung der Hymnenform ist zwar in Ansätzen erkennbar, aber insgesamt nicht so stark ausgeprägt wie in der griechischen Hymnendichtung. In den beiden Fällen, die dieser Verwendung am nächsten kommen (die Proömien des Lukrez und das Proömium der Arati Phaenomenä), ist zudem ein deutlicher Hang zum Personenkult zu verzeichnen. Im Umfang variieren die lateinischen Hymnen nicht ganz so stark wie die griechischen: Unter den selbständigen Gedichten ist carm. I 30 des Horaz (ein Gebet an Venus) mit seinen 8 Versen (2 vierzeiligen Strophen) das kürzeste und die Elegie II 5 des Tibull mit 120 Versen das längste; noch länger ist allerdings das Loblied (Enkomion) des Ps.-Tibull (Eleg. IV1) auf Messalla (211 Verse). Im Rahmen zwischen 8 und 120 Versen bewegen sich auch die hymnischen Passagen in anderen Kontexten; lediglich Ovid fällt hier heraus: Der 77 Siehe zu den griechischen Hymnen ausführlich oben Kap. Π. 1 a. 78 Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht verwunderlich, daß Hymnen auf den Weingott Bacchus überproportional vertreten sind.

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sich drei- bzw. viermal überbietende Schlußabschnitt seiner .Metamorphosen' (XV 622-870 + 871-879) kommt insgesamt auf weit über 200 Verse, und sein Ceres-Hymnus (V 341-661) umfaßt sogar über 300 Verse. Auch die metrische Gestaltung weist eine gewisse Variationsbreite auf: So finden sich verschiedene chorlyrische Maße in den strophischen Gedichten von Catull und Horaz.79 Den Elegikern (Tibull und Properz, aber auch Ovids Fasti) ist das Distichon als .elegisches Versmaß' vorgegeben, während für die episch angelegten Werke, die von großen Dingen künden (Lukrez, Vergil, Ovids .Metamorphosen' und die Arati Phaenomena, aber auch Ps.-Tibulls Loblied auf Messalla), der daktylische Hexameter das einzige in Frage kommende Metrum ist.80 Mehr Vielfalt weisen wiederum die Lieder in Senecas Dramen auf: Hier ist ein Wechsel des Metrums innerhalb eines Liedes durchaus üblich und kann im Extremfall (Oedipus 403-508) sogar in fast jedem Vers erfolgen.81 Erheblich häufiger als bei den griechischen Vorbildern ist in den lateinischen Hymnen die betonte, v. a. anaphorische Verwendung der Personalpronomina (tu, tibi, te usw.). Hier dürfte sich bereits der Einfluß der Rhetorik bemerkbar machen.82 Zum Schluß ist hier noch auf die Wendung carmen dicere einzugehen, die sich in den untersuchten Beispielen gelegentlich findet.83 Sie hat im Kontext poetischer Texte die Bedeutung ,ein Gedicht vortragen' oder ,ein Lied singen',

79 Allerdings ist hier nicht - wie bei Simonides, Bakchylides und Pindar (s.o. Kap. Π. l b ) jedes Gedicht nach einem eigenen Metrum gebaut, sondern es gibt auch Wiederholungen. Horaz verwendet für seine hymnischen Gedichte besonders gern eine an Sappho angelehnte Strophenform, bei der auf drei ,sapphische' Zeilen (—υ uu—υ—χ) ein Adoneus (—uu—x) folgt (vgl. die Aufstellung in der Oden-Ausgabe von KYTZLER, 280). 80 Zu diesen Metren siehe oben Kap. Π. 1 a, Anm. 61. 81 Wenn hier die .Polymetrie' zum Programm erhoben ist, bedeutet dies freilich kein metrisches Chaos; vielmehr erfolgen die Wechsel nach einer bestimmten Regel, der .Derivationstheorie' des Caesius Bassus. Siehe dazu Bd. Π der Ausgabe von THOMANN, 495 ff. 82 Das anaphorische σύ, σοί, σέ usw. ist in den älteren griechischen Hymnen „nicht sehr ausgebildet gewesen" (NORDEN, Agnostos Theos 157; ebd. 1 5 7 - 1 6 0 folgen „maßvolle" Beispiele). Richtig greifbar wird es erst in späterer Zeit (vgl. die bei STENZEL, De ratione 21 f, gebotenen Beispiele, darunter Synesios, Hymn. 3). Genauso ist es bei der anaphorischen Reihung mit ούτος, für die NORDEN a.a.O. 164f ein Beispiel anführt: Dieses stammt aus dem 2. Jh. n. Chr., und dazu noch aus einem Prosatext - dem rhetorischen Zeushymnus des Ailios Aristeides (or. 43; dazu s.u. Kap. II. 2b, S. 165ff, dort bes. Anm. 73). 83 Vgl. bes. Horaz, carmen saeculare 8 (dicere carmen; offenbar damit synonym v. 76: dicere laudes)·, daneben Vergil, Aen. VI 644; Eel. VI 5; X 3 ; Properz, Eleg. 19,9; Ovid, Met. V 344f (s.o. Anm. 56); sowie (allerdings vom Leier- bzw. Flötenspiel) Horaz, carm. I 32,3f; IV 12,9f. Das Verb dicere kommt in der Bedeutung .singen; besingen; preisen' auch an folgenden Stellen vor: Vergil, Ecl. m 55; IV 54 (Objekt: tua facta; vgl. auch v. 55 carminibus); V 2. 51; V m 5; Horaz, carm. I 12,13.25; 2 1 , l f ; ΠΙ 4,1 (evtl. 25,7; vgl. aber v. 8 indicium ore alio - s.u. Anm. 85);

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und dicere mit Akkusativobjekt (.besingen') kann im entsprechenden Zusammenhang (große Taten oder Eigenschaften eines Gottes oder Menschen) auch im Sinne von .preisen' aufgefaßt werden.84 Damit ist allerdings noch lange nicht der Umkehrschluß erlaubt, daß bei der Formulierung carmen dicere zwangsläufig an das Singen von Liedern oder gar von Hymnen zu denken wäre: Im Bereich der Prosa wird mit dicere das Wortfeld .sagen; reden; sprechen' (feierlicher auch .vortragen') abgedeckt85; und carmen ist (nach EDUARD NORDEN) „jeder laut hergesagte feierliche Spruch, gleichgültig ob in der äußeren Form von Prosa oder Vers: Zauberspruch, Gebet, Eidesformel, Bündnisvertrag und dgl. m.".86 Dies ist für uns deshalb von Bedeutung, weil es die Interpretation des frühesten nichtchristlichen Zeugnisses über christliche Kultpraxis berührt: Plinius d.J. schreibt (ca. 112 n.Chr.) in seinem berühmten Brief als Statthalter in Bithynien an den Kaiser Trajan (ep. X 96,7), daß die von ihm verhörten Christen versichert hätten, „ihre ganze Schuld oder ihr ganzer Irrtum habe darin bestanden, sich an einem bestimmten Tage vor Sonnenaufgang zu versammeln, wechselseitig ein carmen an Christus wie an einen Gott zu richten und sich durch ein sacramentum zu verpflichten - nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen, sondern dazu, keinen Diebstahl, keinen Raub, keinen Ehebruch zu begehen, Vertrauen nicht zu mißbrauchen, anvertrautes Gut, wenn es zurückgefordert wird, nicht zu verleugnen."87

28,16 (vgl. v. 9: nos cantabimus u. v. 13: summo carminé)·, Ps.-Tibull, Eleg. IV 1,18.30.176 (vgl. lousv. 177 und carmen ν. 178); Properz, Eleg. ΠΙ 17,21. 84 Damit wird dicere im Bereich der Poesie zu einem Synonym des griechischen ύμνεΐν. Aber auch die Verbindung ύμνους λέγειν (entsprechend carmen dicere) ist bezeugt (bei Eusebios, KG Π 17,22; zit. bei DÖLGER, Sol salutis 131 Anm. 4). 85 Hier entspricht dicere also dem griechischen λέγειν. - Mit der Grundbedeutung .sagen' kommt man auch an zwei Horaz-Stellen gut aus, die LATTKE, Hymnus 83, im Übereifer unter die Rubrik „hymnodische Terminologie" faßt: carm. ΠΙ 25,7f ( d i c a m insigne, recens, adhuc \ indicium ore alio - also „Unerhörtes, Neues, bis heute ungesagt von anderem Munde"; hier ist mit dicam zwar ,dichten' gemeint, wird aber wegen der Paronomasie mit indicium am besten mit .sagen' übersetzt) und IV 6,41 (an eine der Jungfrauen, die beim Säkularfest mitwirken [v. 41-44]: „Noch als Vermählte wirst du sagen (nupta iam dices)·. ,Ich habe den Göttern zur Freude, | als das Jahrhundertfest erstrahlte, | gesungen das Lied (reddidi carmen) gelehrig nach den Weisen | des Dichteis Horaz.' "). 86 Kunstprosa 161. Noch umfangreicher ist die Aufzählung der möglichen Wortbedeutungen bei QUASTEN, Carmen 901 f: ,jede gesungene, gesprochene oder geschriebene Formel, näherhin die liturgische Formel, das Kultlied, der Hymnus, das Orakel, die Weissagung, das Sprichwort, die Zauberformel, der Gesetzestext, die Gesetzesformel, der Gesang, Ton, Laut, Dichtung jeder Art, das Spott- u. Schmähgedicht, die in Versen abgefaßte Inschrift." 87 Adfirmabant autem hanc fuisse summam vel culpae suae vel erroris, quod essent soliti stato die ante lucem convenire carmenque Christo quasi deo dicere secum invicem seque sacramento non in scelus aliquod obstringere, sed ne furia, ne latrocinio, ne adulterio committerent, ne fidem fallerent, ne depositum appellati abnegarent.

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Umstritten ist nun, wie in dieser Aussage die Wendung carmenque Christo quasi deo dicere secum invicem zu verstehen ist: Viele Forscher sehen hier einen Beleg für frühchristliche Hymnen, die im Wechselgesang vorgetragen wurden.88 Hinter der Formulierung kann sich jedoch ebensogut ein an Christus gerichtetes und im Wechsel gesprochenes Bittgebet verbergen.89 Der Zusammenhang mit dem sacramentum als Treueid legt aber vielleicht eine dritte Deutung noch näher: daß mit dem carmen das gegenseitige Bekenntnis zu Christus als Gott, also das Taufsymbol, gemeint sei.90 Zu den Schwierigkeiten der Deutung kommt noch hinzu, daß der uns vorliegende Bericht von einem römischen Beamten formuliert wurde und damit mehr über sein eigenes Vorverständnis als über den Kult der verhörten Christen verrät: Wahrscheinlich hat Plinius im Verhör nach mala carmina - schädlichen Zauberformeln - gefragt, da Zauberei zu den gängigen Anschuldigungen gegen die Christen gehörte; die Antwort der Verhörten wäre dann eine Richtigstellung in dem Sinne, daß sie keine Zauberformeln, sondern lediglich eine Formel an Christus als Gott vorgetragen hätten.91 Die genaue Gestalt dieser ,Formel' ist aber -

88 Hier kämen dann allerdings nicht nur original christliche Hymnen in Frage (so bes. COULTER, Further Notes, die mutmaßliche .Hymnen' aus dem NT als Beispiele anführt; etwas vorsichtiger MARTIN, Carmen Christi 1 - 9 ) , sondern zunächst wohl eher alttestamentliche Psalmen (so z.B. KRAEMER, Pliny; zu gut Bescheid weiß CABANISS, Harrowing, der das carmen als Ps 24 identifziert). Siehe zur Deutung als Lied auch LATTKE, Hymnus 87, wo noch weitere Vertreter genannt sind. Wenn LATTKE ebd. Anm. 1 zwei französische Übersetzungen von carmen mit «des hymnes» bzw. «des poèmes» als „viel zu frei" anführt, bezieht sich dieses Urteil offenbar nur auf den Plural; LATTKE selbst tendiert jedenfalls dazu, das carmen des Plinius als Hymnus zu verstehen (ebd. 87f, unter Hinweis auf Horaz, carm. ΙΠ 28,9-16, und die Übersetzung von carmen durch ϋμνοι im zweisprachigen Monumentimi Ancyranum, einer inschriftlich erhaltenen Abschrift von Augustus' Res gestae, col. V lOf, cap. 10). - Als Gesang ist das carmen der bithynischen Christen bereits von Tertullian verstanden worden, der sich in seinem 197 n. Chr. geschriebenen Apologeticum auf den Brief des Plinius bezieht und die fragliche Stelle so paraphrasiert: coetus antelucanos ad canendum Christo ut deo (Apol. 2,6). 89 Diese Deutung vertritt z.B. DÖLGER, Sol salutis 114f (vgl. aber ebd. 124-136, wo der Verf. doch mit einem Gesang rechnet); ihm folgend rechnet auch MOHLBERG, Carmen Christo, mit einem (litaneiartigen) Bittgebet. MÖHLER, Bithynian Christians, nimmt als Gebet eine verchristlichte Fassung des Schema an. - Der ,Wechsel', den das secum invicem zum Ausdruck bringt, könnte sich nach den genannten Autoren auf Responsorien wie ,Amen', ,Halleluja' ,Maranatha' oder,Kyrie eleison' beschränken. 90 Das ist die These von LIETZMANN, Angaben, und ders., carmen = Taufsymbol; ihr hat sich DÖLGER, Sonne der Gerechtigkeit 116f, zunächst angeschlossen (anders ders., Sol salutis 114f [Bittgebet] u. 124ff [Wechselgesang]; vgl. oben Anm. 89). In neuester Zeit wird diese Sicht z.B. von SCHENK, Philipperbrief (ANRW) 3300 Anm. 74, vertreten, der sich damit auch grundsätzlich gegen die Annahme kultischer Hymnen im frühen Christentum wendet. 91 So hat zuerst LIETZMANN, Angaben, die Situation des Verhörs rekonstruiert; DÖLGER, Sol salutis 111-115, übernimmt seine These und steuert zahlreiche Belegstellen bei (vgl. zusammenfassend auch QUASTEN, Carmen 906f). - Der Begriff carmen kommt in der Bedeutung .Zauberformel' übrigens auch bei den in diesem Kap. behandelten römischen Dichtern vor: Ho-

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auch durch die Eigenart der Quelle bedingt - nicht mehr auszumachen, und so ist die Wendung carmen Christo quasi deo dicere im Bericht des Plinius kein sicherer Beleg für die Existenz von .Christushymnen' in neutestamentlicher Zeit.92

2. Prosaisches Lob a) Das γένος έπιδεικτικόν in der rhetorischen Theorie Die Aufteilung der Beredsamkeit in drei Redegattungen wird seit der Antike meist Aristoteles (384-322 v. Chr.) zugeschrieben.1 Dieser unterscheidet am Beginn seiner .Rhetorik' (I 3) drei Arten der Rede, was er mit drei Gruppen von Zuhörern begründet und den drei Zeitstufen zuordnet: Ein Zuhörer (ακροατής) sei zwangsläufig entweder passiver Zuschauer (θεωρός) oder jemand, der eine Entscheidung zu treffen hat (κριτής)2, letzteres entweder in bezug auf Vergangenes (der Richter, δικαστής) oder Zukünftiges (z.B. ein Mitglied der Volksversammlung, εκκλησιαστής). Dagegen habe der θεωρός die Gegenwart im Blick und beurteile die δύναμις des Redners.3 Aus diesen drei

raz, epod. V 72 (v. 49: dixit - seil. v. 49-82); XVH 4. 28; sat. I 8,19; Tibull, Eleg. I 2,56; 8,17; Vergil, Eel. VDI 67ff; Ovid, Met. VII 167. 203. 253; XIV 20. 34. 44. 57f. 366. 369. 387 (tria carmina dixit); Fasti IV 551 f. 92 Vgl. zur schwierigen Deutung der Pliniusstelle auch KROLL, Hymnodik 18f; BRIOSO SANCHEZ, Aspectos y problemas 31-34; HENGEL, Christuslied 382-284; sowie vor allem die gründliche Untersuchung bei SALZMANN, Lehren und Ermahnen 133-148 (zum carmen Christo quasi deo: 139-146), wo auch die ebenfalls umstrittenen Begriffe status dies und sacramentum in Auseinandersetzung mit zahlreichen Forschungsbeiträgen diskutiert werden. SALZMANN betont zu Recht, daß keine Deutung der Angaben des Plinius ohne die Annahme von Verkürzungen und Mißverständnissen auskommt (a.a.O. 143f), und vermutet als eine dieser Verkürzungen, „daß Plinius alle Lieder, .Liturgie' und Gebete unter dem Stichwort carmen Christo quasi deo zusammenfaßte" (a.a.O. 145). 1 Vgl. Cicero, De inv. I 5,7; De orat. Π 43; Quint. Inst. ΠΙ 4,1. - Zur Zuverlässigkeit dieser Zuschreibung siehe BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 116-118, und allgemein zu den drei Redegattungen HINKS, Tria genera causarum. 2 Die hier durchschimmernde Zweiteilung läßt eine ältere Stufe der rhetorischen Theorie erkennen: Offenbar wurden vor Aristoteles die Reden danach unterschieden, ob es darin um eine Auseinandersetzung (άγών) ging oder um die kunstvolle Darstellung (έπίδειξις) eines prinzipiell unstrittigen Sachverhaltes. Vgl. auch Rhet. ΠΙ 12 sowie BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 123-126, und ausführlich HELLWIG, Untersuchungen 136-147 u. ö. 3 Rhet. I 3,2. - Mit dem etwas unklaren Begriff όύναμις meint Aristoteles natürlich nicht die sprichwörtliche Macht des Redners, „die schwächere Sache zur stärkeren zu machen" (τον ηττω λ ό γ ο ν κρείττω ποιεί ν) - diesen ,Satz des Protagoras' weist Aristoteles ausdrücklich als

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Gruppen der Zuhörer folgten notwendig drei Gattungen der Rede: die symbuleutische (beratende), die dikanische (gerichtliche) und die epideiktische4, in sich jeweils unterteilt in Zuraten oder Abraten, Anklage oder Verteidigung und Lob oder Tadel5. Im Anschluß an diese allgemeine Gliederung der Rhetorik behandelt Aristoteles die drei einzelnen Gattungen nach Stoff und Vorgehensweise. Näheres über das γένος έπιδεικτικόν findet sich in Kap. 9; es steht damit in der Mitte zwischen dem γένος συμβουλευτικόν (I 4 - 8 ) , mit dem es einige Gemeinsamkeiten hat6, und dem γένος δικανικόν (110-15). Die Hauptgesichtspunkte für den lobenden oder tadelnden Redner sind nach Aristoteles Tugend (αρετή) und Schlechtigkeit (κακία), Schönes (καλόν) und Häßliches (αίσχρόν) (I 9,1). Auffällig ist die gleich im Anschluß getroffene Feststellung, daß der Lobredner nicht nur die αρετή des zu Lobenden, sondern auch seine eigene αρετή erweise. Die Forderung der Tugend des Redners ist für Aristoteles programmatisch; bereits im Abschnitt über die Beweismittel (πίστεις, I 2) hatte er den Charakter des Redenden (τό ήθος του λέγοντος), der sich in der Rede selbst erweisen müsse, als ein wichtiges rhetorisches Uberzeugungsmittel eingeführt. Wenn nun im Abschnitt über die Lobrede ausdrücklich darauf Bezug genommen wird, so geschieht dies, um der Willkür einen Riegel vorzuschieben: Aristoteles weiß sehr wohl, daß in der Praxis „sowohl ohne Ernst (σπουδή)7 als auch mit Ernst gelobt wird - häufig nicht nur ein Mensch oder ein Gott, sondern auch sowohl leblose Dinge als auch die Art der anderen Lebewesen" (I 9,2).8 Nur wenn der Redner sich als

unphilosophisch zurück (Rhet. Π 24,11). Vielmehr ist δύναμις hier im Zusammenhang der ganzen aristotelischen Rhetorik auf das Vermögen des Redners zu beziehen, das vom ethischen Standpunkt aus schon als lobenswert Feststehende eindrucksvoll zu erweisen (έπιδεικνύναι). Vgl. BUCHHETT, Genos Epideiktikon 123-126. 4 Rhet. I 3,3 (τρία γένη των λ ό γ ω ν των ρητορικών, συμβουλευτικόν, δικανικόν, έπιδεικτικόν). Der letzte Begriff ist absichtlich nicht übersetzt, da sich kein angemessenes deutsches Adjektiv hierfür eingebürgert hat und wohl auch kaum finden läßt. Das Substantiv ,Prunkrede' setzt ein altes Mißverständnis fort (vgl. schon Cicero, Orat. 3 7 - 4 2 ; Quint. Inst. ΙΠ 4,12-14), nach welchem der epideiktische Redner lediglich die Zurschaustellung seiner stilistischen Fähigkeiten im Blick habe. Dies trifft zumindest für Aristoteles nicht zu (vgl. die vorige Anm. und BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 120-128). - Im folgenden wird daher in der Regel das Adjektiv .epideiktisch' benutzt; als Substantiv je nach Zusammenhang .Lobrede' oder neutraler ,Gelegenheitsrede'. 5 Rhet. 13,3 (προτροπή - αποτροπή, κατηγορία - α π ο λ ο γ ί α , έπαινος — ψόγος). 6 Vgl. Rhet. 19,35 sowie die in 1 5 - 7 aufgeführten Güter und Übel der Beratungsrede. 7 Hier klingt ein Begriff an, der bei Aristoteles eine ethische Implikation hat: Der σπουδαίος ist fast synonym mit dem Besitzer der αρετή (vgl. Nikomachische Ethik Π 4, 1105b30; Π 9, 1109a24; VII 2, 1145b9; dazu DIRLMEIER, Komm. 284f, und BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 131.139.147). 8 Diese Stelle ist nicht mißzuverstehen als Auflistung der nach Aristoteles möglichen Gegenstände einer Lobrede. Bei ihm kann Lob nur einem Menschen zukommen, was auch der

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glaubwürdig in bezug auf seine Tugend (αξιόπιστος προς άρετήν) erweist, ist für Aristoteles garantiert, daß ausschließlich der gelobt wird, der nach ethischem Maßstab auch Lob verdient.9 Dieser Gedanke wird im folgenden entfaltet, wobei in Übereinstimmung mit der Loblehre in den aristotelischen ,Ethiken'10 die αρετή zum entscheidenden Faktor wird und das Verständnis des καλόν bestimmt (9,3.14). Aufgegliedert wird die Tugend in neun Unterarten (μέρη): Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Tapferkeit (ανδρεία), Besonnenheit (σωφροσύνη), Großzügigkeit (μεγαλοπρέπεια), Hochherzigkeit (μεγαλοψυχία), Freigebigkeit (έλευθεριότης), Sanftmut (πραότης), Einsicht (φρόνησις) und Weisheit (σοφία).11 Diese werden zunächst kurz definiert (9,4-13) und dann ausführlich besprochen (9,14-27) - besonders in Hinsicht auf die Taten (εργα), in denen sich die jeweiligen Einzeltugenden äußern, denn „aus den Handlungen (folgt) das Lob" (έκ των πράξεων ό έπαινος, 9,32). Ist damit der Stoff der epideiktischen Rede dargelegt, kann Aristoteles nun zu ihrer Ausführung kommen (9,28-40). Wie schon am Beginn des Kapitels nimmt er dabei auch Bezug auf die rednerische Praxis der Sophisten, ohne diese explizit zu nennen: Man könne im Interesse der Lobrede sogar die Untugend oder das Übermaß an einer Tugend sozusagen von der besten Seite sehen und „etwa den Verwegenen als tapfer und den Verschwender als freigebig" usw. bezeichnen - das gefalle der Menge (δόξει τοις πολλοίς) und sei zugleich ein „Trugschluß aus der Ursache" (παραλογιστικόν έκ της αιτίας)12. Allerdings müsse man schon beachten, vor wem das Lob vorgetragen werde, und die Werte der Zuhörer berücksichtigen (9,30). Des weiteren seien die Taten des zu Lobenden daran zu messen, ob sie bestehende Erwartungen erfüll-

weitere Verlauf des Kapitels zeigt. Lobreden auf Götter werden in der ,Nikomachischen Ethik' (I 12, 1101b 18-25) geradezu als lächerlich bezeichnet, weil Göttern von Seiten der Menschen nicht Lob, sondern Ehrfurcht zukommt. - Die oben zitierte Aussage dürfte sich also auf die Praxis zeitgenössischer (sophistischer) Lobredner beziehen, die Aristoteles hier im Sinne der Information über gegenteilige Ansichten (vgl. Rhet. I 1,12) anführt. Vgl. zu dieser Erklärung scheinbarer Zugeständnisse an die zeitgenössische Rhetorik BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 152-158 (hier 152-155). 9 Auch Piaton läßt (Nomoi VIH, 829 d) als Dichter von Enkomien (bzw. Epinikien) nur αγαθοί gelten (derselbe Gedanke bei Pindar, Isthm. V M 69). - Vgl. zur Wichtigkeit der αξιοπιστία für den aristotelischen Lobredner BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 129-131. 10 Zur aristotelischen Loblehre und ihren Berührungen mit der Theorie der Lobrede siehe BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 132-144. 11 Zu diesem .Tugendkatalog' vgl. die lange Güteraufzählung in I 5 - 7 : Es fällt auf, daß für die Lobrede nur die Güter der ψυχή (vgl. 16,9) herangezogen werden. 12 Rhet. I 9,28f. Hier legt sich der schon oben Anm. 8 vorgeschlagene Bezug auf I 1,12 (Kenntnis des entgegengesetzten Standpunktes) besonders nahe, weil die Hinweise auf die „Menge" und auf die Möglichkeit, im dialektischen Schlußverfahren „das Gegenteil zu beweisen", beiden Stellen gemeinsam sind. Vgl. BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 155 f.

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ten oder gar übertrafen, und ob sie mit Absicht oder nur aus Zufall erfolgten13 (9,31f). Eingefügt in diese Anweisungen (die ab 9,38 mit spezielleren Bemerkungen fortgesetzt werden) ist eine Definition der Untergattungen Epainos, Enkomion und Makarismos (9,33f) sowie ein Passus über die Gemeinsamkeiten von epideiktischer und symbuleutischer Rede (9,35-37). 14 Die Differenzierung der drei Gattungen erfolgt wiederum in Übereinstimmung mit den aristotelischen .Ethiken'15: Der Epainos zeige die Größe der Tugend auf (daher könne auch jemand gelobt werden, der keine Taten vorzuweisen habe), das Enkomion dagegen befasse sich nur mit einzelnen Taten oder besser Leistungen (εργα) eines Menschen; es nimmt damit deutlich eine niedrigere Stufe ein16. Jenseits des Lobes und damit auf einer höheren Stufe steht der Eudaimonismos oder Makarismos, der nur dem Besitzer von Eudaimonia gebührt.17 Somit dient die Gattungsbestimmung als Abgrenzung des zu behandelnden Gegenstands: Enkomion und Makarismos werden im weiteren Verlauf nicht behandelt, sondern nur der der αρετή zugehörende Epainos.18 Ebenfalls eine Verhältnisbestimmung liegt im anschließenden Abschnitt vor: Der Epainos

13 Die hier erwähnte Möglichkeit des Lobredneis, den Zufall als Absicht hinzustellen (I 9,32 Ende), ist wieder als Bezugnahme auf sophistische Praxis zu deuten, dazu siehe BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 157f. Zum Stellenwert der .Absicht' (προαίρεσις) in der aristotelischen Ethik siehe KUHN, Prohairesis. 14 Der ganze Abschnitt I 9,33-37 (der in den Handschriften noch einmal hinter ΠΙ 16,3 überliefert ist) ist in der Forschung stark umstritten und wird teils an der falschen Stelle des Werkes vermutet, teils als Einschub eines .Redaktors' angesehen; bei BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 159-161 (vgl. 151 f), sind die seit L. SPENGEL diesbezüglich vorgebrachten Argumente referiert und als nicht stichhaltig zurückgewiesen (vgl. auch die Ausgaben von DUFOUR oder Ross). Dagegen stimmt KASSEL in seiner Ausgabe den literarkritischen Erwägungen zu und markiert den ganzen Abschnitt als (möglicherweise von Aristoteles selbst) nachträglich eingefügt; darüber hinaus werden die Bemerkungen über Enkomion und Makarismos als Zufügungen von fremder Hand indiziert. 15 Vgl. Eudemische Ethik Π 1, 1219b6-16; Nikomachische Ethik I 12, 1101b 31-35 (dazu die Erläuterungen bei BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 162-165). 16 Der Begriff έγκώμιον wird also von Aristoteles in Anlehnung an das Preislied auf den Sieger (dazu siehe oben Kap. Π. 1 b) in einer eingeschränkten Wortbedeutung gebraucht. In der zeitgenössischen und späteren Rhetorik werden dagegen έγκώμιον und έπαινος synonym verwendet; erst Alexander Numeniu greift die aristotelische Unterscheidung auf (s.u. S. 135). 17 Die Frage, ob ein Mensch zu Lebzeiten überhaupt ευδαιμονία (Glückseligkeit; vgl. zur Definition Rhet. I 5) erlangen könne, wird in der Eudemischen Ethik (a.a.O.) noch verneint (das ist die zeitgenössische opinio communis); in der Nikomachischen Ethik (a.a.O.) räumt Aristoteles jedoch die Möglichkeit ein. 18 Die Stelle ist also ganz ähnlich zu verstehen wie I 9,2 (vgl. oben Anm. 8), wo Lobreden auf Götter oder unbelebte Gegenstände zwar erwähnt werden, aber in der aristotelischen Theorie der Lobrede keinen Platz haben. - Durch diese Deutung von I 9,33 ff als Verhältnisbestimmung (vgl. BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 162-169) erübrigen sich die oben Anm. 14 erwähnten literarkritischen Hypothesen.

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habe einen gemeinsamen Aspekt (κοινόν είδος) mit der symbuleutischen Redegattung, denn das, was in der Beratung empfohlen werde, sei dasselbe, was auch Lob verdiene. Der Unterschied zwischen den beiden Gattungen bestehe aber in der Ausdrucksweise (λεξις). Die Fortsetzung der praktischen Anweisungen zur Lobrede (9,38) besteht in einer Aufzählung einiger Steigerungsmittel (αυξητικά): so müsse der Lobredner es erwähnen, „wenn jemand etwas alleine oder als erster oder mit wenigen oder in vorzüglicher Weise getan hat"19, erschwerende Umstände und Häufigkeit von Handlungen berücksichtigen und den zu Lobenden mit anderen vergleichen, am besten mit berühmten Leuten20. Nach einer Bemerkung über die Angemessenheit der αυξησις gerade für die Lobrede (9,38) kommt Aristoteles noch einmal auf eine Verhältnisbestimmung: So wie die Steigerung für die epideiktische Redegattung, seien Beispiele (παραδείγματα) für die symbuleutische und Enthymeme (schlußfolgernde Gedanken) für die dikanische am geeignetsten (9,40). Den Abschluß der allgemeinen Bemerkungen über das γένος έπιδεικτικόν bildet der Hinweis, daß das hier nicht eigens behandelte Gegenstück zum έπαινος, der ψόγος (vgl. I 3,3), aus dem Dargelegten klar, weil einfach das Gegenteil sei (9,41).21 Speziellere Anweisungen über Stil (λέξις) und Gliederung (τάξις) der epideiktischen Rede sind im dritten Buch der .Rhetorik'22 zu finden: Auf die Feststellung, daß zu jedem Genos eine eigene Lexis gehöre (III 12,1), folgt eine Zweiteilung dieser Stilarten in eine schriftliche (λεξις γραφική), sehr sorgfältig ausgearbeitete (ακριβέστατη), und eine mündliche (λεξις αγωνιστική), bei der es mehr auf den Vortrag als auf literarische Qualität ankomme (12,1—2).23 Dieser letzteren Stilart wird nun die Beratungsrede vor der Volks19 Vgl. zu dieser Aufzählung die Ausführungen über den .hyperbolischen Stil' im Hymnus (oben Kap. Π. la, S. 44f). - Interessant ist die bei Aristoteles dieser Aufzählung folgende Begründung: απαντα γαρ ταίπα καλά (1368al2, vgl. a22.24). Es wird also auch hier nicht die rhetorische Wirksamkeit betont, sondern die moralische Qualität, da ja das καλόν durch die άοετή bestimmt ist (s. o. S. l l l f ) . 20 Als griechische Termini für dieses Vergleichen werden hier (άντι)παραβάλλειν (1368a20.25; vgl. I 3,9 [1359a22]) und συγκρίνειν (1368a21) genannt. - Die „berühmten Leute" (ένδοξοι) werden in der angeschlossenen Begründung auch als σπουδαίοι („tüchtige Leute", zur ethischen Implikation dieses Begriffs vgl. oben Anm. 7) bezeichnet, die zu übertreffen besonders edel sei: αύξητικόν γαρ και καλόν, εί σπουδαίων βελτίων (1368a22, zum καλόν vgl. die vorige Anm.). 21 Diese knappe .Definition' der Tadel- oder Schmährede wird uns in der rhetorischen Theorie zum γένος έπιδεικτικόν immer wieder begegnen. Eine genauere Begriffsbestimmung anhand zahlreicher antiker Äußerungen arbeitet KOSTER, Invektive 7 - 3 9 , heraus. 22 Die Echtheit und literarische Zugehörigkeit des dritten Buches der aristotelischen .Rhetorik' ist früher z.T. bestritten worden; dazu besteht jedoch kein triftiger Grund. Siehe hierzu DIELS, Über das dritte Buch 3 - 3 4 ; BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 169-172. 23 Vgl. dazu die Zweiteilung in Rhet. 13 und die Bemerkungen oben Anm. 2.

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Versammlung (ή δημηγορικη) zugerechnet, während die Gerichtsrede (ή δίκη) schon etwas sorgfältiger (άκριβέστερον) sein müsse (12,5). Aber die epideiktische Ausdrucksweise sei am stärksten literarisch (γραφικωτάτη), weil sie vor allem zum Lesen bestimmt sei (12,5 Ende). Was die Gliederung einer Rede angeht, hält Aristoteles zwei Teile für notwendig: die Bekanntgabe des Themas (πρόθεσις oder πρόβλημα) und den Beweis für das Gesagte (πίστις oder άπόδειξις) (13,1-2). Eine Zergliederung in mehrere Teile und Unterabschnitte24, wie sie von anderen Rhetoren schematisch für jede Rede verlangt werde, hält er für lächerlich (γελοίως, 13,3). Trotzdem geht er im folgenden auf die gängigen Redeteile und ihre Bedeutung für die einzelnen Redegattungen ein (14-19). Das προοίμιον (Vorspiel) der epideiktischen Rede vergleicht Aristoteles mit dem προαύλιον der Flötenspieler, die von dem ausgehen, was sie gut spielen können, und dann zum eigentlichen Präludium25 überleiten. Dasselbe sei auch für die Lobreden zu empfehlen - jedenfalls machten es alle so. Als Beispiel für so einen Redeanfang ohne Bezug auf das Thema könne das Prooimion der ,Helena' des Isokrates gelten. (14, l.)26 Ansonsten könne die epideiktische Rede mit Lob oder Tadel (14,2), mit einem Rat (14,3) oder mit einem Appell an die Zuhörer (14,4) - also wiederum epideiktisch, symbuleutisch oder dikanisch - beginnen.27 Die .Erzählung' (διήγησις) als Redeteil gehört nach Aristoteles eigentlich nur in die Gerichtsrede (vgl. III 13,3). In der beratenden Rede läßt er sie jedoch gelten, wenn für die zu treffende Entscheidung eine Erinnerung an frü-

24 Aristoteles kennt als gängige Redeteile προοίμιον, διήγησις, πρόθεσις, πίστις und ε π ί λ ο γ ο ς (vgl. III 13,3f; 14ff) und nennt als weitere Untergliederungen noch τά προς τον αντίδικο ν (Widerlegung des Gegners) und αντιπαραβολή (vergleichende Gegenüberstellung, s. o. Anm. 20), beide zur πίστις gehörig (vgl. ebd.), sowie als Krönung der Lächerlichkeit „die Nach-Erzählung und die Vor-Erzählung" (έπιδιήγησις και προδιήγησις) und die „Widerlegung und Nebenwiderlegung" (ελεγχος και έπεξέλεγχος). Über diese letzteren Begriffe aus der Schule des Theodoras von Byzanz macht sich auch Sokrates bei Piaton, Phaidros 266 d bis 267d, lustig. 25 Das ένδόσιμον als musikalisches Vorspiel hat die Aufgabe, Gnindton und damit Charakter des Stückes anzugeben. Vgl. zum Begriff SIEVEKE, Übere. 294 f (Anm. 212). 26 Die Empfehlung eines weit hergeholten Prooimions (noch verstärkt durch den abschließenden Zusatz, die Rede werde dann nicht so eintönig, m 14,1 Ende) ist wohl am besten als ironische Kritik an den sophistischen Rhetoren zu verstehen (mit BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 178f, wiederum gegen einschlägige literarkritische Hypothesen). Sie widerspricht nicht nur den sonstigen rhetorischen Theorien, die alle einen Zusammenhang zwischen Proömium und Redegegenstand verlangen (vgl. Rhet ad Alex. 29; 36; Rhet ad Her. I 7,11; Cicero, De inv. I 18,26; De orat. Π 325; Quint. Inst. IV 1,71), sondern auch den Äußerungen bei Aristoteles selbst über die Proömien in der gerichtlichen (ΙΠ 14,6) und der beratenden Rede (ΙΠ 14,11 Ende). Und auch die Anweisungen zu den Proömien in der epideiktischen Rede in ΠΙ 1 4 , 2 - 4 setzen einen Bezug zum Gegenstand voraus. 27 Zum Genos-Wechsel innerhalb der Rede siehe ausführlich unten Kap. ΠΙ. 1 a.

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her geschehene Dinge nützlich sei (vgl. III 16,11); und ganz ähnlich hieß es bereits im ersten Buch (im Zusammenhang der Zuordnung der drei Redegattungen zu den drei Zeitstufen) über den Lobredner, er habe es zwar hauptsächlich mit der Gegenwart zu tun, ergänze aber diese Zeitstufe häufig durch Erinnerung an die früher geschehenen Dinge und Vorwegnahme der zukünftigen (13,4). So kann Aristoteles also auch beim γένος έπιδεικτικόν von einer .Erzählung' sprechen - freilich in einem uneigentlichen Sinne: sie sei „nicht chronologisch, sondern nach Einzelpunkten" (ούκ εφεξής αλλά κατά μέρος) angeordnet (III 16,1); Erzählung der Taten und Beweisführung greifen ineinander (16, lf). Wieder geht es in erster Linie um die Tugend des zu Lobenden, die sich in seinen vergangenen Handlungen erweist (16,2)?* Wie ausführlich auf die Taten einzugehen sei, richte sich nach ihrem Bekanntheitsgrad (16,3); daher sei nicht pauschal Kürze, sondern Angemessenheit der .Erzählung' zu fordern (16,4)®. Über die Beweisführung (πίστις) im epideiktischen Genos ist aufgrund ihrer Verschränkung mit der .Erzählung' nicht mehr viel zu sagen: Die erzählten Taten als Tugend-Erweise werden im allgemeinen geglaubt und nicht ihrerseits bewiesen; und bei ihrer Darstellung nimmt die αυξησις eine wichtige Rolle ein (III 17,3; vgl. ausführlicher bereits 19,38-40). Der έπίλογος schließlich, den Aristoteles nicht nach den Redegattungen differenziert30, setze sich aus vier Bestandteilen zusammen: aus dem Versuch, den Zuhörer für sich selbst und gegen die gegnerische Partei einzunehmen, aus Steigerung und Abschwächung (αύξησαι καί ταπεινώσαι), aus der Erregung von Affekten beim Zuhörer und aus der erinnernden Wiederholung des Dargelegten (III 19,1). Dabei haben die ersten beiden Punkte naturgemäß einen epideiktischen Charakter, denn auf den Erweis der eigenen Darlegung als wahr und der gegnerischen als unwahr folge automatisch das Verteilen von Lob und Tadel (έπαινεΐν καί ψέγειν) (19,1), und das Steigern und Abschwächen der dargelegten Fakten (das der Einigung über ihre gradmäßige Bedeutung dient) war bereits als typisch epideiktische Argumentationsfigur behandelt worden (so 19,2; vgl. I 9,38-40). Aber auch die Rekapitulation der vorgetragenen Argumente kann epideiktische Züge annehmen: Sie kann nach Ari-

28 Wenn als Beispiele hier die Adjektive ανδρείος, σοφός und δίκαιος genannt werden, steht dahinter deutlich die in 1 9 , 3 - 2 7 erfolgte Entfaltung des Tugend-Begriffs. 29 Das hier kritisierte Postulat der βραχυλογία (brevitas) für die .Erzählung' wurde nach Quint. Inst. IV 2,31f von Isokrates und seinen Schülern vertreten (siehe z.B. Rhet. ad Alex. 30,4.8). Vgl. auch die Kritik bei Cicero, De orat. ΠΙ 326 und die Gleichsetzung von .Kürze' mit .Angemessenheit' bei Quint. Inst. IV 2,40-51. 30 Daraus, daß in diesem Kapitel mehrfach von dem Gegner (ό έναντίος) die Rede ist, läßt sich allerdings schließen, daß Aristoteles hier vor allem Reden mit einem άγών, also Gerichts· und Beratungsreden im Auge hat; vgl. zu dieser Zweiteilung oben Anm. 2.

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stoteles nämlich in Form einer vergleichenden Gegenüberstellung der gegnerischen und der eigenen Argumente erfolgen (19,5), und diese (αντιπαραβολή31 oder Synkrisis war ja oben unter den Steigerungsmitteln des Lobredners angeführt worden (vgl. 19,38). Einen anderen Standpunkt in der rhetorischen Theorie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts, nämlich die sophistische Gegenposition, vertritt die .Rhetorik an Alexander 132 . Sie unterscheidet in ihrem einleitenden Satz zunächst wie Aristoteles drei Gattungen (γένη) der öffentlichen Rede33, spricht dann jedoch von sieben Arten (είδη): dem Zu- und Abraten, dem Loben und Tadeln, der Anklage und der Verteidigung sowie der .prüfenden' Rede34. Diese Arten werden im folgenden (Kap. 1 - 5 ) in der angegeben Reihen-

31 Beide Formen des Substantivs kommen in dem genannten Abschnitt vor (1419b34 und 1420a4), daneben das Verb π α ρ α β ά λ λ ε ι ν (1419b35). Vgl. dazu die oben Anm. 20 angeführten Termini aus 19,38. 32 Dies gilt unabhängig von der Frage der zeitlichen Priorität und damit den Fragen nach Verfasserschaft und Datierung der (unter dem Namen des Aristoteles überlieferten und mit einem fingierten Widmungsbrief dem König Alexander zugeeigneten) Rhet. ad Alex.: Weil in diesem Werk sieben Arten von Reden unterschieden werden (Rhet. ad Alex. 1,1; s.u. Anm. 34), sehen einige Forscher den Rhetor Anaximenes von Lampsakos als Autor an, der nach Quint. Inst. HI 4,9 genau dieselbe Einteilung vertreten hat. Die mit dieser Hypothese verbundene zeitliche Ansetzung (vor Veröffentlichung der Rhetorik des Aristoteles) wirft indessen einige Schwierigkeiten auf, die zu text- bzw. literarkritischen Operationen nötigen (s.u. Anm. 33 u. 50). Daher hat wohl die Annahme eines unbekannten sophistischen Verfassers am Ende des 4.Jh.s, der sowohl die Theorie des Anaximenes als auch die Rhetorik des Aristoteles kannte und miteinander zu verbinden suchte, die meiste Wahrscheinlichkeit für sich. Siehe dazu ausführlich BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 189ff. 33 Rhet. ad Alex. 1,1: Τρία γένη των πολιτικών είσί λόγων, το μέν δημηγορικόν, το δέ έπιδεικτικόν, το δέ δικανικόν. - Der Satz wird unter Voraussetzung der Verfasserschaft des Anaximenes und unter Berufung auf Quint. Inst, M 4,9 meist als verfälscht (SPENGEL liest Δύο statt Τρία und streicht το δέ έπιδεικτικόν) oder gänzlich interpoliert angesehen (so FUHRMANN in der praefatio seiner Ausgabe, X L - X L I , ohne jedoch im Text eine Streichung vorzunehmen). Dagegen ist nach BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 191-197 der handschriftlich überlieferte Text beizubehalten (so auch in RACKHAMS Ausgabe). 34 Rhet. ad Alex. 1,1: ε'ίδη δέ τούτων έπτά, προτρεπτικόν, άποτρεπτικόν, έγκωμιαστικόν, ψεκτικόν, κατηγορικόν, άπολογητικόν, και έξεταστικόν η αυτό καθ' αύτό η προς αλλο. - Die ersten sechs lassen sich natürlich mühelos den vorgenannten drei Gattungen zuordnen (vgl. deren fast identische Unterteilung bei Aristoteles, Rhet. I 3,3; siehe oben Anm. 5) und werden auch im folgenden (Kap. 1 - 4 ; 2 9 - 3 6 ) paarweise behandelt. Eine merkwürdige Sonderrolle nimmt das siebte είδος ein, das entweder selbständig (so in Kap. 5 u. 37 behandelt) oder bezogen auf eine der sechs vorgenannten Arten (so nach 37,1 meistens) vorkomme. Quint. Inst. ΠΙ 4,9 ordnet die siebte species des Anaximenes der gerichtlichen Gattung zu, was eine schematisierende Vereinfachung darstellen dürfte.

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folge vorgeführt; über das έγκωμιαστικόν είδος und sein Gegenstück35 handelt Kap. 3. Der Unterschied zu Aristoteles wird schon in der einleitend gegebenen Definition von Lob- und Tadelrede deutlich: „Zusammengefaßt ist die Lobrede eine Steigerung (αυξησις) rühmlicher36 Absichten und Taten und Worte und eine Beilegung (συνοικείωσις) nicht vorhandener; die Tadelrede aber ist das Gegenteil davon: die Abschwächung (ταπείνωσις) des Rühmlichen und die Steigerung des Unrühmlichen." (3,1). Also nicht das Vorhandensein der Tugend bestimmt, ob jemand Lob erhält, sondern der Redner entscheidet, wen er loben oder tadeln will, und stellt dessen Vorzüge und Nachteile entsprechend dar, ja kann sogar willkürlich welche hinzuerfinden.37 Dieser Definition folgt eine Aufzählung dessen, was lobenswert sei, nämlich „die gerechten, gesetzlichen, nützlichen, schönen, angenehmen und leicht zu vollbringenden Taten" ^,Ι) 38 . Genau dieselben Begriffe waren vorher als Topoi der zu- und abratenden Rede angeführt (1,4) und ausführlich besprochen worden (1,7-12), so daß an unserer Stelle darauf verwiesen werden kann.39 Nach diesen relativ knappen Bemerkungen über das Was wird dann um so ausführlicher das Wie der Lob- oder Tadelrede behandelt40: Der zu Lobende oder seine Taten seien zu den genannten επαινετά in Beziehung zu setzen -

35 Mit der Wendung τό τε έγκωμιαστικόν είδος και tò ψεκτικόν περιλάβω μεν wird am Ende von 2,35 zu Kap. 3 übergeleitet, und diese schon am Anfang genannten Begriffe (vgl. die vorige Anm.) werden auch in 3,1 beibehalten. 36 Im Original steht das Adjektiv ένδοξος, bei dem es sich um ein Lieblingswort des Verfassers handelt (limai allein in Kap. 35). Es hat die Konnotation .allgemein anerkannt' (dazu vgl. unten Anm. 39) und eine etymologische Nähe zu der von den Sophisten so geschätzten δόξα (vgl. Piaton, Phaidros 259e-260a). - Vgl. zum Wort im Zusammenhang der Lobrede auch Aristoteles, Rhet. 19,38 (s. o. Anm. 20). 37 Zu dieser sophistischen Position, die nicht der Wahrheit, sondern der rhetorischen Wirksamkeit verpflichtet ist, vgl. auch Isokrates, Busiris 4 (s.u. Kap. Π. 2b, S. 150 m. Anm. 15), und die (ironisch formulierte) Kritik bei Piaton, Menexenos 234c-235a; Symposion 198d-199a. 38 έπαινετά μεν ουν έστι πράγματα τα δίκαια και τά νόμιμα και τά συμφέροντα και τά καλά και τά ήδέα και τά ρςιδια πραχθηναι. (FUHRMANN möchte hier und in 3,2 das Wort πράγματα tilgen; das widerspräche jedoch der Fortsetzung in 3,3 f.) 39 Ein Blick auf die Entfaltung der genannten Topoi zeigt, daß ihre Definition keinerlei philosophischen Hintergrund hat, sondern vom gesellschaftlichen common sense ausgeht (BUCHHERR, Genos Epideiktikon 211, spricht angesichts der letzten drei von Werten der „vulgären Ethik"). 40 BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 212, weist darauf hin, daß die Rhet. ad Alex, „für die Angabe des Inhalts und die Kenntnis des Gegenstandes bei der Lobrede, einschließlich der Definition, nur sieben Zeilen Text benötigt, während sie sich breit (mit fast über drei Textseiten), über die Kunst ausläßt, wie man es anstellen muß, um die Person oder Sache, der das Lob gilt, als lobenswert zu erweisen."

Das γένος ίπώειχιικόν in der rhetorischen Theorie

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sei es, daß durch ihn selbst oder durch seine Anregung oder von ihm ausgehend oder seinetwegen etwas Lobenswertes geschehen ist oder nicht ohne ihn vollbracht worden wäre (3,2).41 Zu den letzten drei dieser fünf Möglichkeiten folgen (nach der Feststellung, daß für die Tadelrede das genaue Gegenteil gelte) mehrere Beispiele (3,3f). An diesen fällt zweierlei besonders auf: zum einen ihre stilistische Ausgestaltung, die von ,gorgianischen Figuren' dominiert wird42, zum anderen die darin genannten Objekte, bei denen es sich eben nicht (wie bei Aristoteles) ausschließlich um Menschen handelt, sondern auch um Handlungen; danach wäre z.B. eine Lobrede auf das Sport-Treiben oder auf das Bekränzt-Werden oder eine Tadelrede auf das Trinken möglich43. Ebenso ausführlich und ebenso rhetorisch stilisiert ist schließlich der letzte Abschnitt des Kapitels, der Anweisungen zur αϋξησις und ταπείνωσις gibt (3,6-14). Mittel der Steigerung seien erstens der eben behandelte Nachweis, daß gerade durch den zu Lobenden (oder zu Tadelnden) Vieles (Gute oder Schlechte) geschehen sei (3,6); zweitens das Zitieren eines anderen Urteils über die Person und Vergleichen (παραβάλλειν) mit der eigenen Aussage, die dabei natürlich besser dastehen muß (3,7); drittens das Vergleichen (αντιπαραβάλλεις) der eigenen Sache mit der kleinsten aus derselben Kategorie (3,8). Weiter könne die Zusammenstellung einer Sache mit ihrem Gegenteil effektvoll sein (S.Q)44; und eine Tat erscheine größer, wenn ihre Planung, Dauer, Wiederholung und Folgen sowie ihre Freiwilligkeit, Einzigartigkeit oder die erschwerenden Umstände ausführlich dargestellt würden (3,10f). 45 Dabei sei auch zu überlegen, ob die Sache (το πράγμα) durch die Schilderung der Ein-

41 Minutiös differenziert der Verf. hier zwischen ύπ' αύτοΰ, δι' αύτοΰ, ίκ τούτου, ενεκα τούτου und ούκ ανευ τούτου, stellt jedem ein eigenes Partizip an die Seite und konstruiert auf diese Weise einen Parallelismus aus fünf Kommata, deren längstes (vorschriftsgemäß) am Ende steht. 42 Vgl. nur die Analyse der ersten Beispielreihe bei BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 213, Anm. 1, der auf Anapher, Homoioteleuta und Isokola aufmerksam macht. - Zu den hier und Anm. 41 genannten Kunstmitteln siehe ausführlich Kap. I. 2 dieser Arbeit. 43 Die hier aus 3,3f herausgegriffenen Beispiele heißen το φιλογυμναστεΐν (1426a9), το στεφανω&ηναι (1426al3f) und το πίνειν (1426al8). Gegen BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 212, ist jedoch festzuhalten, daß es hier ausschließlich um Handlungen von Menschen geht; über Lobreden auf Tiere oder Gegenstände (vgl. Aristoteles, Rhet. I 9,2; s.o. Anm. 8) ist damit nichts gesagt (anders freilich 35,5). 44 Die logische Gedankenfolge des Satzes ist nicht ganz klar; möglicherweise will der Verf. hier den Leser absichtlich verwirren und blenden, um das, worum es inhaltlich geht, gleich zu demonstrieren: die Macht des Redners, jede Sache in ihr Gegenteil zu verdrehen (dazu vgl. 36,25 sowie Isokrates, Panegyrikos 8 [kritisiert von .Longinos', De sublim. 38,2] und zur Kritik schon Piaton, Phaidros 267 a). 45 Zu diesen Punkten ist die Aufzählung bei Aristoteles, Rhet. I 9,38 zu vergleichen, die nicht nur kürzer, sondern ganz anders begründet ist (siehe oben Anm. 19).

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zelheiten oder als ganze besser wirke46 (3,12). Zur Erreichung der Abschwächung schließlich müsse man gegenteilig verfahren (3,13). Anweisungen für den Aufbau einer Lobrede im einzelnen gibt die .Rhetorik an Alexander' in Kap. 35.47 Im Prooimion48 müsse der Redner zunächst das Thema angeben und dann bestehende Vorurteile (διαβολαί) der Hörer gegen ihn ausräumen, wie dies auch für die beratende Rede notwendig sei und im entsprechenden Abschnitt ausführlich dargelegt wurde (35,1; vgl. 29,10-28). Um die Aufmerksamkeit der Hörer zu gewinnen, seien zunächst die aus der Beratungsrede bekannten Mittel (vgl. 29,2-9) anzuwenden, darüber hinaus aber „erstaunliche und außerordentliche Dinge" (θαυμαστά και διαφανή) als Inhalt der Rede anzukündigen sowie darauf hinzuweisen, daß es um die Taten der zu lobenden oder zu tadelnden Personen gehe. Denn im allgemeinen diene diese Gattung nicht zur Stellungnahme in einem Streitfall (άγων), sondern zur Unterhaltung (έπίδειξις)49 (35,2). Im Anschluß an das Prooimion50 empfiehlt der Verf. eine Sondierung der Güter, die außerhalb der Tugend liegen, von denen, die innerhalb der Tugend liegen, und nennt dazu jeweils 4 Beispiele (35,3).51 Dabei erfolge ein Lob bei den Gütern der Tugend zu Recht, während bei denen außerhalb eigentlich eher ein Glücklichpreisen (μακαρίζειν) am Platz wäre (35,4).52

46 Griechisch: μείζον φανεΐται (1426b 10). Das Verb durchzieht den ganzen Abschnitt als Leitwort (1426a28.30.31.34.35; 1426b9) und unterstreicht so, welchen Stellenwert die Wirkung bzw. der Schein für den Verf. hat. 47 Damit stehen Lob und Tadel wie im ersten Teil (Kap. 1 - 1 7 ) zwischen der beratenden (vgl. Kap. 29 - 3 4 ) und der gerichtlichen Redegattung (vgl. Kap. 36). - Der Verf. gliedert diesen Komplex also nicht, wie Aristoteles, Rhet. HI 13-19, nach den Redeteilen, sondern nach den Redegattungen, für die er die Redeteile jedesmal ganz durchgeht. Dieses Vorgehen hat naturgemäß etliche Wiederholungen zur Folge. 48 Eine allgemeine Definition des Prooimions war in 29,1 vorausgegangen: Es sei eine Vorbereitung der Hörer und solle diese über Thema und Position der Rede informieren, zur Aufmerksamkeit auffordern und wohlwollend stimmen. 49 Zur Zweiteilung ά γ ώ ν - έπίδειξις siehe oben Anm. 2. 50 Allerdings wohl nicht als eigenen Redeteil, sondern im Sinne einer ordnenden Vorüberlegung des Redners (so BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 224). Einige Forscher haben in 35,3 f aufgrund der (scheinbaren) Konkurrenz zu 35,5 sowie Anklängen an Aristoteles einen sekundären Einschub gesehen; siehe die Diskussion bei BUCHHEIT, a.a.O. 223-227, der vor allem sprachlich-stilistische Beobachtungen für die Echtheit des Abschnitts anführt. 51 Als α γ α θ ά εξω της αρετής nennt er „edle Abkunft, Stärke, Schönheit und Reichtum" (ευγένεια, ρώμη, κ ά λ λ ο ς , πλούτος), als solche έν τη αρετή „Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und rühmliche Beschäftigungen" (σοφία, δικαιοσύνη, ανδρεία, έπιτηδεύματα ένδοξα). Vgl. dazu 1,10, wo die συμφέροντα eingeteilt werden in solche für den Körper (ρώμη, κ ά λ λ ο ς , ΰγίεια), für die Seele (ανδρεία, σοφία, δικαιοσύνη) und erworbene Dinge (φίλοι, χρήματα, κτήματα). Die Unterschiede zwischen beiden Stellen arbeitet BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 227f, heraus.

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Als erster Redeteil nach dem Prooimion wird die γενεαλογία genannt, da die Abstammung bei Mensch und Tier die erste Quelle für das Rühmliche oder Unrühmliche (ενδοξον η αδοξον) sei (35,5). Dabei seien in der Lobrede nur die tüchtigen Vorfahren zu erwähnen (35,6—δ)53; gebe es aber keine, müsse der Redner betonen, daß ein Mensch um seiner selbst willen zu loben sei und sowieso nicht nach dem Ruhm der Vorfahren bewertet werden könne (35,9). Entsprechend umgekehrt sei bei der Tadelrede zu verfahren (35,10). Die nächsten beiden Redeabschnitte bilden die Handlungen des zu Lobenden in seiner Kindheit - dies aber nur kurz - (35,11) und in seiner Jugend, wobei die in Kap. 3 dargestellten Steigerungsmittel zur Anwendung kommen sollten, insbesondere die Erwähnung des Alters (35,12-14). Beide Abschnitte seien gut mit einem schlußfolgernden Gedanken (ενθύμημα) oder einer Sentenz (γνώμη) abzuschließen (35,12.15).M Den Teil über die Taten des Erwachsenen (άνηρ) schließlich gliedert der Verf. nach den oben sondierten αγαθά (vgl. 35,3): zunächst solle über die Gerechtigkeit des zu Lobenden gesprochen werden, danach über seine Weisheit (wenn er welche habe), schließlich über seine Tapferkeit (wenn vorhanden)55 - alles natürlich unter Anwendung der einschlägigen Steigerungsmittel (35,15f). Nach dem Ende dieses Teiles sei das Gesagte in den Hauptpunkten

52 Diese Unterscheidung erinnert zunächst an Aristoteles, Rhet. I 9,33f (s.o.) und hat daher einige Ausleger an literarische Abhängigkeit bzw. gemeinsame Tradition denken lassen. Nun ist freilich der μακαρισμός ganz unterschiedlich gefüllt: Dort setzt er ευδαιμονία voraus, hier bloß durch Glück erworbene äußere Güter. Andererseits ist die wertende Einteilung der Güter sowie die Unterscheidung έπαινείν - μακαρίξειν schwerlich andeiswo herzuleiten. BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 228-231, referiert die Diskussion und kommt nach Abwägen der Argumente zu der Hypothese, der Verf. der Rhet. ad Alex, habe die Aristoteles-Stelle formal übernommen und dabei inhaltlich „in seine eigenen, ihm überkommenen Vorstellungen um- und eingeschmolzen" (230). Da BUCHHEIT nicht Anaximenes für den Verf. hält, kommt seine Erklärung ohne die Annahme einer Interpolation aus (dazu vgl. oben Anm. 50). 53 Dies wird wieder ausführlich differenziert in die Fälle, daß entweder alle Vorfahren (35,6) oder nur die früheren (35,7) oder nur die späteren (35,8) tüchtig (σπουδαίοι) bzw. berühmt (ένδοξοι) waren; dabei werden jeweils die Tricks genannt, wie die unliebsamen Ahnen übergangen werden können. 54 Der Abschluß eines Abschnitts durch ενθύμημα oder γνώμη (definiert Kap. 10-11) wird von unserem Verf. immer wieder empfohlen: vgl. 32,6.8; 34,11; 36,18.34. 55 Auffällig ist, daß hier nur die άγαθά έν τη αρετή aus 35,3 (bzw. die συμφέροντα für die Seele aus 1,10) erwähnt werden (vgl. oben Anm. 51). Allerdings kann der genealogische Abschnitt (35,5-10) auf die ευγένεια bezogen werden, und die übrigen άγαθά εξω της αρετής könnten im Anschluß daran behandelt worden sein, da am Beginn von 35,11 nach der Erwähnung der τύχη der gestörte Satzbau für eine Lücke in der Textüberlieferung spricht. Wenn jedoch die επιτηδεύματα ένδοξα aus 35,3 hier nicht wieder auftauchen, zeigt das nur, daß dieser etwas schwammige Oberbegriff oben bloß aus Gründen der formalen Symmetrie ( 2 x 4 Glieder) gebraucht wurde.

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zu wiederholen56 und dann wiederum mit einer Sentenz oder einem Enthymem die ganze Rede zu beschließen (35,16).57 Auf dieselbe Weise sei bei der Tadelrede (κατηγορία) zu verfahren, wobei zu beachten sei, daß grobe Polemik weniger wirksam sei als der sachliche Bericht über den Werdegang des Betreffenden (35,17). Unanständige Taten sollten nicht mit unanständigen Worten geschildert, sondern lieber nur angedeutet oder euphemistisch umschrieben werden (35,18). Nützlich sei hier der Einsatz von Ironie und das Auslachen dessen, worauf der Gegner stolz sei. Aber verächtlich machen (άτιμάζειν) dürfe man ihn nur im kleinen, privaten Kreise, während die Vorwürfe in einer öffentlichen Tadelrede eher allgemein gehalten sein sollten (35,19). Wie sich gezeigt hat, haben die beiden rhetorischen Konzeptionen des 4. Jahrhunderts v. Chr. gerade in der Theorie der Lobrede entgegengesetzte Positionen. Gleichwohl ist es in hellenistischer Zeit zu einer eklektischen Vermischung der beiden Entwürfe gekommen, wobei je nach Verfasser der philosophisch-ethische oder der formal-technische Aspekt im Vordergrund stehen kann. Durchgesetzt haben sich die drei aristotelischen Redegattungen, die wir in den lateinischen Rhetorik-Handbüchern aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. als tria genera causarum (demonstrativum, deliberativum, iudiciale) wiederfinden.58 Das genus demonstrativum wird definiert durch das Erteilen von Lob oder Tadel für eine bestimmte Person.59

56 Der hier nur kurz angedeutete letzte Redeteil wird in 36,45-51 noch einmal ausführlicher behandelt. Dabei wird die παλιλλογία für jeden Redeteil und jede Redegattung empfohlen; am Schluß der Rede diene sie jedoch nicht nur der Erinnerung, sondern auch dazu, vor Richtern und Zuhörern sich selbst gut darzustellen und die Gegner schlecht zu machen. - Vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 19 (s.o. bei Anm. 30), sowie ausführlicher unten Kap. m. la, S. 178f. 57 Vgl. zu diesem Schema für die Lobrede die Andeutung bei Aristoteles, Rhet. I 9,33, zum έγκώμιον (das er ja nicht eigens behandelt): τα δέ κύκλω εις πίστιν, οίον ευγένεια και παιδεία. Vollständiger bei Platon, Menexenos 237a-b, für den Epitaphios (εύγένεια, τροφή, παιδεία, των έργων πρδξις). - Zum Vergleich mit den anderen Redegattungen: Die beratende wie die gerichtliche Rede werden in der Rhet. ad Alex. (Kap. 29-34; 36) gegliedert in Einleitung (προοίμιον), Bericht (απαγγελία), Beweisführung (βεβαίωσις), Vorwegnahme gegnerischer Argumente (προκατάληψις) und abschließende Wiederholung der Hauptpunkte (παλιλλογία) mit Erregung von Affekten. Dies unterscheidet sich insofern von den bei Aristoteles angeführten geläufigen Redeteilen (vgl. oben Anm. 24, dort etwas andere Benennungen), als jener noch eine Voranstellung des Redezieles (πρόθεσις) aufführt, die Widerlegung des Gegners dagegen nur als Unterabschnitt der Beweisführung gelten läßt. Sehr schlicht ist das Schema der Rhet. ad Alex, für die (nur selten selbständige) Prüfrede (Kap. 37): Einleitung, Prüfung, abschließende Wiederholung. 58 Rhet. ad Her. I 2,2; Cicero, De inv. I 5,7 (mit Hinweis auf Aristoteles). Dazu siehe HlNKS, Tria genera causarum 170-176. 59 Rhet. ad Her. I 2,2 = Cicero, De inv. I 5,7: Demonstrativum est quod tribuitur in alicuius certae personae laudem aut vituperationem.

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In der .Rhetorik an Herennius' 6 0 werden die drei eingangs (I 2,2) genannten und definierten Gattungen dann in umgekehrter Reihenfolge dargestellt. Der Schwerpunkt des Interesses liegt dabei eindeutig auf der gerichtlichen Rede, deren Behandlung Buch I und II einnimmt. In Buch III werden dann noch - der Vollständigkeit halber - die beratende Redegattung (2,2-5,9) und das demonstrativum genus causae (6,10-8,15) kurz besprochen, bevor sich der Autor dem Aufbau, dem Vortrag und der memoria der Rede zuwendet. Da es sich beim genus demonstrativum um Lob oder Tadel drehe, könne zunächst festgestellt werden, daß der Stoff für das Lob durch sein Gegenteil auch den Stoff für den Tadel biete. Das Lob aber könne bezogen werden aus den äußeren Umständen, aus dem Körper und aus der Seele61 (III 6,10). Zu den äußeren Umständen - Dingen, die jemandem durch günstiges oder ungünstiges Schicksal (fortuna) zugefallen seien - werden gerechnet: „familiäre Herkunft, Erziehung, Reichtümer, Arten von Macht, Ruhm, Bürgerrecht, Freundschaften und dergleichen sowie deren Gegenteil."62 (6,10.) Körperliche Qualitäten - von der Natur (natura) gegeben - seien Behendigkeit, Kraft, würdevolles Aussehen, Gesundheit und deren Gegenteil63 (6,10).

Als Eigenschaften der Seele - zustandegekommen durch unser Wollen und Denken (Consilio et cogitatione nostra) - werden genannt: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit (und deren Gegenteil)64 (6,10).

60 Die Abfassungszeit dieser unter den Werken Ciceros überlieferten anonymen Schrift wird in der Forschung einhellig um 85 v.Chr. angesetzt; vgl. dazu die Einleitungen in den benutzten Ausgaben (siehe Literaturverzeichnis). 61 Laus igitur potest esse rerum extemarum, corporis, animi - Diese Gütereinteilung ist bereits für Aristoteles „altbekannt" (Nikomachische Ethik I 8, 1098 b); er verwendet sie auch Rhet. I 5 , 4 - 1 7 , wo er Unterpunkte für die beiden ersten Kategorien aufzählt. Zu beachten ist jedoch, daß Aristoteles als επαινετά nur die Eigenschaften der Seele gelten läßt (vgl. Rhet. I 6,9 und 9,5-13; dazu siehe oben Anm. 11). - Größere Ähnlichkeit besteht mit der Einteilung der συμφέροντα in der Rhet. ad Alex. 1,10 (s. o. Anm. 51). 62 genus, educatio, divitiae, potestates, gloriae, civitas, amicitiae, et quae huiusmodi sunt et quae his contraria. 63 velocitas, vires, dignitas, valetudo et quae contraria sunt. 64 prudentia, iustitia, fortitudo, modestia. - Diese vier Begriffe sind bereits in ΠΙ 2,3 (im Zusammenhang der Beratungsrede) als Unterbegriffe des moralisch Rechten (rectum) genannt worden. Als σοφία (φρόνησις), δικαιοσύνη, ανδρεία und σωφροσύνη sind sie in der griechischen philosophischen Tradition bei Platon (Politela IV, 428 ff) und Aristoteles zu finden (vgl. Rhet. I 9 , 4 - 2 7 innerhalb der neun Unterarten der αρετή) und wurden von den Stoikern als .Kardinaltugenden' (τελικά κεφάλαια) betrachtet (vgl. Diogenes Laertios VII 92). Hinzuweisen ist hier auch auf Rhet. ad Alex. 35,3 (vgl. 1,10), wo jedoch nur die ersten drei genannt werden (s.o. Anm. 51).

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Was nun den Aufbau der Lobrede bzw. ihres Gegenteils betrifft65, so gebe es für die Einleitung (principiumf6 vier Möglichkeiten: Der Redner könne bei seiner eigenen Person einsetzen, etwa mit der Aussage, daß er sich zu dieser Rede verpflichtet fühle (6,11); er könne bei der Person des zu Lobenden (bzw. zu Tadelnden) einsetzen und z.B. sagen, dessen Tugenden (bzw. deren Gegenteil) und Taten überstiegen die Fähigkeiten jedes Redners (6,11); er könne bei den Hörern einsetzen und ihre Kompetenz oder ihren Tugendeifer hervorheben (6,12); und schließlich könne er beim Gegenstand einsetzen und erklären, er sei unsicher, was er am meisten loben solle, und befürchte, vieles zu sagen und dabei noch mehr zu übergehen (6,12). Bei einer so vorbereiteten Rede sei eine eigenständige ,Erzählung' (narratio) eigentlich nicht erforderlich, könne aber bei Bedarf - wenn es über eine Tat der in Rede stehenden Person etwas zu berichten gebe - hier stattfinden (7,13; mit Hinweis auf die Anweisungen in 18,12-9,16). Die Einteilung (divisio) solle so aussehen, daß man zunächst darlege, welche Dinge gelobt oder getadelt werden sollen, und diese dann anhand der Taten aufzeige, und zwar in zeitlicher Folge. Dabei müßten aber die Tugenden bzw. Fehler der Seele als Leitlinien gelten und gezeigt werden, wie die körperlichen Qualitäten und die äußeren Umstände jeweils genutzt worden seien. (7,13.) Konkret ergibt sich ein Aufbau, der zwischen chronologischen und systematischen Gesichtspunkten zu vermitteln sucht: zunächst, von den äußeren Umständen, Herkunft (mit Verhältnisbestimmung) und Erziehung (7,13), dann die körperlichen Qualitäten und wie sie genutzt, erhalten oder erworben wurden (7,14), schließlich wieder die äußeren Umstände, wie sie erworben wurden und welche Tugenden sich darin erwiesen haben (7,14). Bei jeder Betrachtung menschlicher Charaktereigenschaften seien vor allem die oben genannten vier Tugenden der Seele (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit) zu beachten (8,15). Der Verf. fügt dieser tripartita divisio jedoch hinzu, daß nicht immer alle Teile zur Anwendung kommen müßten und der Redner die Teile auszuwählen habe, zu denen es etwas zu sagen gebe (8,15).

65 Der Verf. hatte in I 3,4 sechs Redeteile unterschieden: exordium, narratío, divisio, confirmatio, confutatio, conclusio. Hier sind die beiden bei Aristoteles (s. o. Anm. 24) und der Rhet. ad Alex. (29-34; 36; s. o. Anm. 57) genannten fünfteiligen Redeschemata, die in jeweils einem Redeteil voneinander abweichen (divisio nur bei Aristoteles; confutatio nur in der Rhet. ad Alex.), durch Synthese zum sechsteiligen Schema erweitert. 66 Als principium wurde in I 4,6 die direkte Art der Redeeröffnung bezeichnet ( = προοίμιov), im Gegensatz zur insinuatio (= έφοδος), dem .Schleichweg'; letzterer sei angebracht, wenn die Hörer aufgrund der Sache selbst, aufgrund ihrer Sympathie für den Vorredner oder aufgrund ihrer Ermüdung durch denselben negativ voreingenommen seien (I 6,9). Dieser Fall ist für das genus demonstrativum offenbar nicht vorgesehen.

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Als Schluß der Rede (conclusio) wird nur eine kurze Aufzählung der Hauptpunkte (enumeratio) empfohlen; in der Rede selbst sollten allerdings öfters kurze amplificationes durch allgemeine Topoi (loci communes) eingestreut werden.67 Der Abschnitt über das genus demonstrativum endet mit einer Verhältnisbestimmung: Diese Redegattung komme zwar im Leben selten vor, sei aber deshalb nicht weniger zur Übung empfohlen; denn erstens müsse ein Redner für jeden Fall gerüstet sein und zweitens widmeten sich in gerichtlichen und beratenden Reden oft größere Abschnitte dem Lob oder Tadel68 (8,15). Der nächste Verfasser rhetorischer Schriften ist Cicero. 69 Er äußert sich in seinem Jugendwerk De inventione nur ganz am Ende kurz zum genus demonstrativum (II 59,177 f): Lob und Tadel seien aus den auf Personen bezogenen Topoi (bei) zu gewinnen70; wenn jemand systematischer vorgehen wolle, könne er diese unterteilen in die Bereiche der Seele, des Körpers und der äußeren Umstände.71 Die Tugenden der Seele wurden von Cicero bereits im Zusammenhang der Beratungsrede besprochen72; als solche des Körpers und der äußeren Umstände sind weitestgehend dieselben wie in der .Rhetorik an Heren-

67 Die conclusio der Gerichtsrede besteht nach Π 30,47 aus drei Teilen: der Zusammenfassung (enumeratio), der Steigerung (amplificado) und dem Erregen von Mitleid (conmiseratio). Die beiden letzteren dienen der Erregung von Affekten (vgl. dazu Aristoteles, Rhet. ΠΙ 19 und Rhet. ad Alex. 36,45-51, s.o. Anm. 56). Zehn Topoi für die amplificano werden Π 30,48f aufgeführt (z.T. auch bei Aristoteles, Rhet. I 9,38 zu finden; hierzu gehört übrigens auch der sonst nicht eigens erwähnte .Vergleich' [9. Topos: conparatio]). Bemerkenswert ist, daß die Steigerung hier nicht als Domäne der epideiktischen Rede gesehen wird (vgl. aber auch Aristoteles, Rhet. 114). 68 Zu diesem Phänomen siehe ausführlich unten Kap. ΠΙ. 1 a. 69 Cicero hat sich im Laufe seines Lebens (106-43 v.Chr.) mehrmals der rhetorischen Theorie gewidmet: Erstmals in jungen Jahren mit De inventione (ca. 85/80 v. Chr.); nach seinem Aufstieg zum .ersten Redner Roms' verfaßte er das Dialogwerk De oratore (55 ν. Chr.); in die letzte Phase seines Lebens fallen die Schriften Brutus (46 v. Chr.), Orator (45 ν. Chr.) und Partitiones oratoriae (44 v. Chr.). Siehe zu Entstehung und biographischen Hintergründen BURCK, Ciceros rhetorische Schriften. 70 Diese wurden in I 24,34-25,36 und Π 9,29-31 behandelt. Die genannten loci sind: nomen, natura, victus, fortuna, habitus, affectìo, studia, Consilia, facta, casus, orationes. 71 Sin distributius tractare qui volet, partiatur in animum et corpus et extráñeos res licebit (177). Wenn hier die systematische Einteilung nur widerwillig zugestanden wird, mag das damit zusammenhängen, daß das Ende des Buches bereits in greifbarer Nähe liegt, aber auch mit dem vergleichsweise niedrigen Stellenwert des genus demonstrativum in der römischen Rhetorik (vgl. Rhet. ad Her. ΙΠ 8,15 und Cicero, De orat. m 341). - Zur Einteilung selbst vgl. Rhet. ad Her. m 6,10 (s.o. Anm. 61). 72 Siehe Π 53,159-54,165. Hierbei handelt es sich um die vier ,Kardinaltugenden' prudentia, iustitia, fortitude, temperanza (vgl. Rhet. ad Her. m 6,10; s.o. Anm. 64) als Unterbegriffe des honestum, die jeweils in sich noch einmal unterteilt werden.

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nius' genannt.73 Und auch Cicero betont: Die letztgenannten Eigenschaften seien nicht an und für sich Gegenstand des Lobes oder Tadels, sondern es komme darauf an, wie sie genutzt worden seien.74 Eigentliches Objekt einer Lob- oder Tadelrede sei der animus eines Menschen.75 In seiner Schrift .Über den Redner* widmet sich Cicero dem tertium genus ebenfalls nur kurz und nachtragsweise (De orat. II 341-349)76. Dies wird in einer vorausgeschickten entschuldigenden Bemerkung mit der Seltenheit von Lobreden auf dem Forum begründet (341). Auch hier betont Cicero, daß die äußerlichen oder körperlichen Vorzüge an sich kein Lob begründen, sondern nur die Tugend; da die Tugend sich aber besonders im vernünftigen Gebrauch der „Gaben der Natur und des Geschicks" (naturae et fortunae bona) erweise, hätten diese eben auch ihren Platz in einer Lobrede (342). Die Tugend selbst, schon an sich lobenswert, habe jedoch mehrere partes, von denen einige mehr, andere weniger für eine Lobrede geeignet seien: Lieber höre man nämlich von solchen Tugenden, die nicht so sehr für den Träger, sondern für die Menschheit nützlich seien, wie Milde, Gerechtigkeit, Güte, Treue und Tapferkeit in gemeinsamen Gefahren77 (343 f). Dagegen erregten Weisheit, Seelengröße, Erfindungskraft des Geistes und selbst Beredsamkeit78 eher Bewunderung als Wohlgefallen, sollten aber gleichwohl in einer Lobrede nicht unerwähnt bleiben (344). In der Rede selbst sollten die Taten jeweils den Tugenden zugeordnet werden und so als Erweis derselben dienen (345). Besonders ergiebig für Lobreden seien Taten, die ohne den Blick auf den eigenen Vorteil (also zugunsten anderer) sowie mit Mühe und Gefahren vollbracht wurden (346); auch vorangegangene Anerkennungen und Ehrungen eines Menschen sollten ruhig Erwähnung finden (347). Man solle jedoch nur Dinge vornehmen, die sich wirklich durch Größe, Neuheit oder Einzigartigkeit auszeichnen, „da kleine, übliche und alltägliche Dinge in der Regel nicht bewunderns- oder lobenswert scheinen" (347).79 Wirkungsvoll sei in einer Lobrede auch „der Ver-

73 corporis: valetudo, dignitas, vires, velocitas; extraneae: honos, pecunia, affinitas, geruis, amici, patricia, potentia, cetera quae simili esse in genere intellegentur. (177; vgl. Rhet. ad Her. ΠΙ 6,10; s.o. Anm. 63 u. 62.) 74 Dazu vgl. Rhet. ad Her. III 7,13. 75 Der Abschnitt endet mit einer kunstvollen Antithese: Nam fortunam quidem et laudare stultitia et vituperare superbia est, animi autem et laus honesta et vituperatio vehemens est. (178.) 76 Die Aussagen von Π 341-349 werden in komprimierter Form in Π 45f vorweggenommen. 77 dementia, iustitia, benignitas, fides, fortitudo in periculis communibus. - Vgl. Aristoteles, Rhet. 19,16-19. 78 Sapientia et magnitudo animi (...) et in excogitando vis quaedam ingeni et ipsa eloquentia. 79 Diese Abgrenzung gegen eine willkürliche Lob-Praxis zeigt Cicero als Vertreter einer philosophisch-ethisch reflektierten Rhetorik.

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gleich mit anderen hervorragenden Männern"80 (348). Für das Tadeln gelte die gegenteilige Vorschrift, nämlich die schlechten Eigenschaften einer Person vorzunehmen (349). Abschließend stellt Cicero zwei Grundsätze auf: erstens, daß für den Redner die Kenntnis aller Tugenden notwendig sei (348), und zweitens, „daß man weder einen guten Menschen ohne Kenntnis seiner Tugenden treffend und erschöpfend loben, noch einen schlechten ohne Kenntnis seiner Laster prägnant und hart genug tadeln und kritisieren kann."81 (349). Die dargelegten Topoi für das Loben und Tadeln seien „in jeder Redegattung häufig anzuwenden"82 (349). Systematischer ist Ciceros Darstellung der laudandi vituperandique rationes in den Partitiones oratoriae (21,70-23,82): Alles mit der Tugend Verbundene sei zu loben, alles mit Lastern Verbundene zu tadeln. Das Erzählen und Auseinandersetzen der jeweiligen facta benötige in dieser Redegattung keine Beweisführung; es gehe nämlich nicht um strittige Sachverhalte (dubia), sondern um solche, die als certa gelten und in der Rede lediglich gesteigert werden83 (21,71). Da in Reden dieser Art die Unterhaltung der Zuhörer der wichtigste Zweck sei, müsse der Stil dem entsprechen, und zwar durch die häufige Verwendung von neugeprägten, altertümlichen und bildhaften Ausdrücken84 sowie durch Parallelismen, Antithesen, Wiederholungen und rhythmische Perioden85 (21,72). Schmückend wirke auch die häufigere Erwähnung von wunderlichen und unerwarteten Dingen, von Vorzeichen und Orakeln sowie von Ereignissen, die als göttliche oder schicksalhafte Einwirkung erscheinen (21,73). Entsprechend der Einteilung der bona und mala in drei Kategorien (externa, corporis, animi) sei mit den externa (Herkunft, Glück, Begabungen) zu beginnen, dann sei über die körperlichen Vorzüge zu reden (22,74). Es folgten die facta, die entweder in ihrer zeitlichen Abfolge oder in umgekehrter Weise, beginnend mit den aktuellsten, oder nach Tugenden und Lastern angeordnet werden könnten (22,75). Nach einem ausgiebigen Exkurs über das ,weite Feld'

80 cum ceteris praestantibus viris comparatio. - Dazu vgl. Aristoteles, Rhet. I 9,38 (oben bei Anm. 20). 81 nec bonum virum proprie et copiose laudari sine virtutum nec improbwn notori ac vituperan sine vitiorum cognitione satis insignite atque aspere posse. - Vgl. ΠΙ 105. 82 his locis et laudandi et vituperandi saepe nobis est utendum in omni genere causarum. Vgl. Rhet. ad Her. ΠΙ 8,15 Ende und ausführlich unten Kap. ΠΙ. 1 a. 83 Vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 17,3. Stärker systematisiert findet sich der Gedanke dann bei Quint. Inst. ΙΠ 4,8. 84 utfactis verbis aut vetustis aut translatisfrequenterutamur. 85 ut paria paribus et similia similibus saepe referantur, ut contraria, ut geminata, ut circumscripta numerose. Ausdrücklich fügt Cicero hinzu, daß diese rhetorischen Kunstmittel nicht der Angleichung an die Verskunst dienen, sondern das Ohr erfreuen sollen (vgl. dazu ausführlich oben Kap. I. 2).

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der Tugenden und Laster (22,75 - 23,81)86 faßt Cicero abschließend die wichtigsten Punkte für den Gesamtaufbau der lobenden oder tadelnden Rede zusammen (23,82): Besonders ausgiebig sollten die Herkunft, Erziehung, Bildung und charakterliche Eigenart der betreffenden Person dargestellt werden, ferner jedes große und unglaubliche Ereignis (besonders wenn es als göttliches Wirken angesehen werden könne) sowie die Gedanken, Worte und Taten, angeordnet nach den Tugenden. Auch der Tod des zu Lobenden dürfe nicht stillschweigend übergangen werden, da in der Art des Todes oder den Ereignissen nach dem Tod noch etwas Bemerkenswertes liegen könnte. Der am Ende des 1.Jahrhunderts n.Chr. schreibende Quintilian bespricht die Lobrede als erste der genera causarum, deren Dreizahl er - nach kurzer Diskussion der Kritik87 - als Mehrheitsmeinung übernimmt (Inst. III 4,12.15). Die Reihenfolge ist wie in den oben vorgestellten lateinischen RhetorikHandbüchern genus laudativum bzw. demonstrativunP, deliberativum, iudiciale; in der Darstellung der Gattungen wird diese Folge beibehalten.89 Das Kapitel über die aus Lob und Tadel bestehende Rede beginnt mit der Zurückweisung der Ansicht, diese Redegattung sei weniger öffentlich als die anderen (III 7, l).90 Als Gegenbeispiele aus dem römischen Leben werden öffentliche Grabreden91, Lob und Tadel von Zeugen vor Gericht und Bewerbungsreden im Senat (gegen Mitbewerber um politische Ämter) genannt (7,2). Es gebe jedoch auch solche Stoffe, in denen keine res dubia vorliege und die

86 In diesem Abschnitt wird die Tugend zunächst in die zwei Bereiche scientia und actio aufgeteilt und diese dann weiter untergliedert. Wie auch in De oratore (Π 343f) bestimmen nicht die vier .Kardinaltugenden' (vgl. oben Anm. 64 u. 72) das System, sondern die Bereiche des Lebens, insbesondere das Motiv .Eigennutz - Gemeinnutz'. - Was die Laster (definiert als Gegenteil der genannten Tugenden) betrifft, mahnt Cicero zur Wachsamkeit, da manche Laster im Gewand von Tugenden aufträten, etwa Arglist als Klugheit, Verwegenheit als Tapferkeit oder Wortklauberei als Beredsamkeit, und auch eine Tugend durch Übermaß wieder zunichte gemacht werden könne (vgl. Aristoteles, Rhet. 19,28f). 87 Im Gegensatz zu Rhet. ad Her. I 2,2 (Tria genera sunt causarum quae recipere debet orator) und Cicero, De inv. I 5,7 (s.o. Anm. 58) beginnt Quintilians Kapitel mit dem Satz: Sed tria an plura sint ambigitur (ΙΠ 4,1). Die Kritiker der Dreizahl empfinden diese nach ΠΙ 4 , 2 - 5 als Einengung der Vielfalt möglicher Redefoimen. (Vgl. dazu ausführlicher die Erörterungen, die Cicero, De orat. Π 4 1 - 8 4 , dem Antonius in den Mund legt.) 88 Quintilian vereteht den Gattungsnamen demonstrativum = έπιδεικτικόν als .Schaustellung' (ostentatio);vgl. oben Anm. 4. 89 Die Beratungsreden werden in ΠΙ 8, die Gerichtsreden in ΠΙ 9 - 1 1 (also auch hier am ausführlichsten) behandelt. 90 Die Ansicht wird Aristoteles zugeschrieben, findet sich dort aber so nicht. Offenbar hat Quintilian den θεωρός (Rhet. 13,2) als privaten Einzelzuhörer (solus auditor) mißverstanden. 91 Zur römischen Leichenrede, die in der rhetorischen Theorie als Spezialfall der Lobrede nur sporadisch Erwähnung findet, siehe die gründliche Studie von KIERDORF, Laudatio Funebris (bes. 4 9 - 9 3 : Beziehung zur Rhetorik). Zum griechischen (attischen) Epitaph s.u. Anm. 106.

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daher als bloße Kunstleistung zur Schau gestellt würden, wie etwa die Lobreden auf Götter und Helden vergangener Zeiten (7,3f). Eine Lobrede könne zwar eine Beweisführung (probatio) und auch Elemente der Verteidigung enthalten, ihr proprium sei es jedoch, Dinge zu steigern und auszuschmücken (res amplificare et ornare) (7,4-6). Der Stoff für solche Reden biete sich „zwar vor allem bei Göttern und Menschen, jedoch auch bei anderen Lebewesen und sogar auch bei Leblosem" (7,6).ffi Erstmals in der rhetorischen Theorie finden wir hier ein Schema für Lobreden auf Götter (7,7-9): Auf die allgemeine Verehrung der göttlichen maiestas folgt der Lobpreis der speziellen Macht (vis) des jeweiligen Gottes sowie das Rühmen seiner für die Menschheit nutzbringenden Erfindungen (inventa) und der von ihm überlieferten Taten (acta). Auch bei Göttern könne die Erwähnung der Eltern (parentes), des ehrwürdigen Alters (antiquitas) oder der Nachkommen (progenies) zur Steigerung der Ehre beitragen. Was schließlich ihre Unsterblichkeit (immortalitas) betrifft, so sei bei manchen zu loben, daß sie als Unsterbliche geboren seien, bei anderen, daß sie diese Eigenschaft durch ihre Tüchtigkeit (virtus) erlangt hätten.93 Das Lob auf einen Menschen gliedert Quintilian zunächst nach den drei Zeitabschnitten vor, während und (bei Verstorbenen) nach der Lebenszeit des Betreffenden (7,10). Dem zu Lobenden vorangestellt seien Vaterland, Eltern und Vorfahren (patria ac parentes maioresque) zu behandeln (7,10); eventuell seiner Geburt vorausgehende Orakelsprüche oder Vorzeichen (responso vel auguria) seien ebenfalls hier zu erwähnen (7,11). Der Stoff für das Lob des betreffenden Menschen selbst sei ex animo et corpore et extra positis zu holen, wobei jedoch die körperlichen und äußerlichen Schicksalsumstände nur dann zur Bewunderung beitrügen, wenn sie zum Guten (honeste) genutzt worden seien (7,12-14).*4 Das echte Lob gelte immer dem animus (1,15).95 Für den Aufbau dieses Abschnitts gebe es zwei Möglichkeiten, zwischen denen sich der Redner von Fall zu Fall entscheiden müsse: Die Taten könnten entweder chronologisch nach den Lebensphasen oder systematisch nach den Tugenden („Tapferkeit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung usw.")96 aufgeführt werden (7,15f). Auf jeden Fall höre das Publikum lieber, „was jemand als einziger

92 Hier klingt Aristoteles, Rhet. I 9,2 an; der Unterschied besteht darin, daß Aristoteles ausschließlich das Lob von Menschen gelten läßt (s. o. Anm. 8). 93 Diesen letzten Punkt, der auf die Vergottung (verstorbener) römischer Kaiser anspielt, nutzt Quintilian für eine Verbeugung vor dem Kaiser Domitian, der seinen Vater Vespasian und seinen Bruder Titus zu Göttern erhoben hatte: Seine Frömmigkeit habe auch der Gegenwart Ehre gemacht (pietas principis nostri praesentium quoque temporum decus fecit) (ΠΙ 7,9). 94 Vgl. Rhet. ad Her. m 6,10; 7,13; Cicero, De inv. Π 59,177f (s. o. Anm. 61 u. 71). 95 Vgl. Cicero, De inv. Π 59,178 (s.o. bei Anm. 75). 96 fortitudinis, iustitiae, continentiae ceterarumque (ΙΠ 7,15). Auch hier begegnen wieder die .Kardinaltugenden' (vgl. oben Anm. 64 u. 72), deren erste (prudentia) allerdings nicht genannt wird. Über die lateinische Wiedergabe der σωφροσύνη (hier continentia) herrschte offenbar kei-

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oder erster oder doch nur mit wenigen getan haben soll" oder über alle Hoffnung bzw. Erwartung hinaus oder eher für andere als für sich selbst (7,1s).97 Nach dem Lebensende des zu Lobenden könnten Denkmäler Lob begründen, aber auch Kinder für ihre Eltern, Städte für ihre Gründer oder Werke und Erfindungen für ihre Urheber (7,17f). Die obligatorische Aussage, bei der Tadelrede gelte dieselbe Anordnung im entgegengesetzten Sinn, wird bei Quintilian noch ein wenig mit Beispielen ausgeführt, vor allem in bezug auf die Zeit vor und nach dem Leben der betreffenden Person (7,19-22). 98 Nach einem kurzen Abschnitt, der einige spezielle Anweisungen des Aristoteles referiert (7,23 -25)", sind zum Schluß des Kapitels - ebenfalls erstmals in der rhetorischen Theorie - Anweisungen für das Lob von Städten gegeben (7,26f)100 und als weitere mögliche Gegenstände für Lobreden noch Bauwerke, Gegenden101, rühmliche Worte und Taten und überhaupt „Dinge aller Art" genannt (7,27f)102. Eine Bemerkung über die Gemeinsamkeit von

ne Einigkeit, wie der Vergleich mit Rhet. ad Her. ΠΙ 6,10 (modestia) und Cicero, De inv. II 54,164 (temperantia, wiederum unterteilt in continentia, dementia, modestia) zeigt. 97 Vgl. Aristoteles, Rhet. 19,38.31.16-19; Cicero, De orat. Π 343Í.346. 98 Hier nutzt Quintilian die Gelegenheit zu einer antijüdischen Polemik: „Und für die Gründer von Städten ist es eine Schmach, ein Volk gesammelt zu haben, das anderen Verderben bringt, wie es bei dem Stifter des jüdischen Aberglaubens [Mose!] der Fall ist." (ΙΠ 7,21.) Der Antijudaismus ist unter römischen Intellektuellen des 1./2. Jh.s n. Chr. sehr verbreitet; eine Art ,Kompendium' der gängigen Vorwürfe und Unterstellungen bietet Tacitus in der berüchtigten Stelle seiner .Historien' (V 1-13). 99 Es handelt sich um die Feststellung, daß es wichtig sei, vor wem eine Lobrede gehalten werde, damit die Werte der Zuhörer berücksichtigt werden könnten, und um die Bemerkung, der Lobredner könne den Verwegenen als tapfer und den Verschwender als freigebig bezeichnen (vgl. Aristoteles, Rhet. I 9,28-30). Das letztere (bei Aristoteles wohl ironisch gemeint, s.o. Anm. 12) weist Quintilian für den Redner als vir bonus entrüstet zurück - es sei denn, es diene dem allgemeinen Nutzen (7,25). 100 Ähnlich wie beim Menschen sei mit der Abstammung (statt Eltern der Gründer) und dem hohen Alter anzufangen, könnten die Tugenden und Laster anhand der Taten dargestellt werden und die Bürger gleichsam als .Kinder' gelten. „Eigentümlich ist hier nur, was zur Lage und Befestigung des Platzes gehört." (7,26). 101 Als Beispiel wird das Lob Siziliens bei Cicero (2. Rede gegen Verres, 2,Iff) genannt, auf das Quintilian in IV 3,12f bei der Behandlung der .Abschweifung' zurückkommt. Dazu siehe unten Kap. m. 1 a, S. 177. 102 Gleichsam als Kuriosum wird abschließend festgestellt: „Sind doch sogar auf den Schlaf und auf den Tod Lobreden verfaßt worden, und von Ärzten auf bestimmte Speisen." (7,28.) Vgl. dazu Aristoteles, Rhet. I 9,2 (s.o. Anm. 8). Platon, Symposion 177b, erwähnt ein Buch mit Lobreden auf Hummeln und Salz (vgl. auch Isokrates, Helena 12). Die Liste kurioser Gegenstände für antike Lobreden ließe sich mühelos vermehren; siehe zu diesem Thema grundlegend PEASE, Things without Honor (vgl. auch die Zusammenstellung aus antiker Theorie und Praxis bei BURGESS, Epideictic Literature 157-166, sowie VOLKMANN, Rhetorik 316f).

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Lobreden und Beratungsreden - in dieser werde empfohlen, was in jener gelobt werde (7,28)103 - leitet zum Kapitel über das genus deliberativum über. In den .Progymnasmata' des Ailios Theon 104 ist dem Enkomion und seinem Gegenteil eine eigene Lektion gewidmet (Kap. IX Butts = Kap. 8 Spengel: Περί εγκωμίου καί ψόγου). Hier wird das Enkomion definiert als „Rede, welche die Größe der tugendhaften Handlungen und anderen Güter einer bestimmten Person aufzeigt"105 (IX,2f B. = p. 109,20- 22 Sp.). Im engeren Sinne beziehe sich der Begriff έγκώμιον jedoch nur auf lebende Menschen; bei Toten heiße eine Rede der genannten Art έπιτάφιος106, bei Göttern ΰμνος107 aber der Zugang sei in allen drei Fällen ein und derselbe ( I X , 4 - 8 = 109,22-26). Etymologisch komme der Ausdruck έγκώμιον dadurch zustande, daß die Alten ihre Preisungen (εύλογίαι) auf die Götter bei einem Gelage bzw. Festzug (κώμος) und bei einem Spiel (παιδιά) dargebracht hätten (IX,9f = 109,26-28). 108 Inhalt des Lobes seien die αγαθά, und zwar „die, welche Seele und Charakter betreffen, die, welche den Körper betreffen, und die der äußeren Umstände"109 (IX, 1 1 - 1 4 = 109,28ff). Zu den Gütern der äußeren Umstände gehöre erstens die gute Abstammung (ευγένεια) - sowohl von einer guten Stadt, einem guten Volk und einer guten Staatsform (πόλεως καί έθνους καί πολιτείας άγαθης) als auch von den Eltern und übrigen Verwand103 Auch diese Feststellung ist uns schon von Aristoteles her geläufig, vgl. Rhet. 19,35. 104 Für die Datierung dieses Werkes kommt etwa die Zeitspanne zwischen 50 und 100 n. Chr. in Frage; umstritten ist besonders das zeitliche und literarische Verhältnis zu Quintilian. Vgl. dazu die "Introduction" in der Ausgabe von BUTTS, 2 - 6 . 105 Vgl. die Definition des έπαινος bei Aristoteles, Rhet. 19,33. 106 Der έπιτάφιος λ ό γ ο ς (vgl. dazu M. v. ALBRECHT, KP Π [1967], 329; MARTIN, Rhetorik 180f) ist eine in der athenischen Polis zu Kriegszeiten gepflegte kollektive Grabrede auf die Gefallenen. Von den wenigen erhaltenen Beispielen sind einige in ihrer Echtheit umstritten (so die Gorgias, Lysias und Demosthenes zugeschriebenen Epitaphien), andere sind literarische Bildungen (so die Rede, die bei Thukydides Π 3 5 - 4 6 dem Perikles in den Mund gelegt wird, oder die bei Piaton, Menexenos 236d-249c, von Sokrates vorgetragene Rede, die dieser von Aspasia gehört haben will); gleichwohl lassen sie die gattungstypischen Elemente erkennen: Der attische Epitaph beginnt mit der Abstammung der gefallenen Helden, d.h. dem Lob des Landes und seiner freiheitlichen Verfassung sowie dem Lob der Vorfahren bis in mythische Zeit; darauf folgt das Lob der Gefallenen und ihrer Tapferkeit. Ihr unsterblicher Ruhm begründet die nun folgende Paraklesis an die Lebenden, die den eigentlichen Skopos dieser Redegattung darstellt: Mahnung zur Nachahmung und Tröstung der Angehörigen. - Wenn Theon den Epitaph hier bloß als ,Lobrede auf Tote' definiert, vernachlässigt er dessen symbuleutische Funktion (vgl. zum Nebeneinander beider Motive schon Piaton, Menexenos 236e). 107 Der Begriff taucht hier zum eisten Mal in der rhetorischen Theorie der Lobrede auf. 108 Zu dieser Etymologie, die wahrscheinlich zutreffend ist, wenn sich auch die Ableitung von κώμη (,Dorf ) häufiger bei antiken Autoren findet, siehe oben Kap. Π. l b (Anfang). 109 τα μέν περί ψυχήν τε καί ήθος, τά δέ περί σώμα, τα δέ έ'ξωθεν (109, 29f). Vgl. zu dieser Einteilung Rhet. ad Her. m 6,10; Cicero, De inv. Π 59,177f; Quint. Inst, m 7,12 (s.o. Anm. 61, 71 u. 94).

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ten - und zweitens „Erziehung, Freundschaft, Ruhm, Herrschaft, Reichtum, Kindersegen und ein schöner Tod"110 (IX, 15-19 = 110,2-6). Güter des Körpers seien „Gesundheit, Kraft, Schönheit und Scharfsinn"111 (IX,20 =110,6f). Als seelische Güter werden die „ernsthaften Charaktereigenschaften und die diesen folgenden Taten"112 bezeichnet: etwa daß der zu Lobende „einsichtig, besonnen, tapfer, gerecht, fromm, freimütig, großgesinnt und dergleichen"113 sei (IX,21-24 = 110,7-10). Edle Taten seien vor allem solche, die nach dem Tode noch gelobt werden - unbelastet von Schmeichelei oder Neid - , und solche, die zugunsten anderer begangen wurden (IX,25-34 = 110,10-20) 114 . Lobenswert könnten Taten sein, weil der Zeitpunkt richtig war, oder wenn jemand sie allein begangen hat oder als erster oder zu einem Zeitpunkt, als noch keiner [das tat] (δτε ουδείς) oder mehr als andere oder mit wenigen oder über das hinaus, was man in dem Alter erwarten würde (ύπέρ την ήλικίαν), oder wider alle Hoffnung oder unter Mühen115 - oder aber wenn etwas am elegantesten oder am schnellsten (ράστα ή τάχιστα) getan wurde (IX, 3 5 - 3 8 = 110,21-25). Der Lobredner müsse auch die Urteile berühmter Leute über den zu Lobenden aufgreifen (IX,39f = 110,25f); bei einem Verstorbenen könnten auch Vermutungen angestellt werden, was er noch alles getan hätte, wenn sein Leben länger gewesen wäre (IX,41-46 = 110,27ff). Günstig sei es auch, an schon geehrte Leute (οί ήδη δεδοξασμένοι) zu erinnern und ihre Leistungen mit denen der zu Lobenden zu vergleichen (άντιπαραβάλλοντα εκείνων τα εργα προς τα των έγκωμιαζομένων) (IX,47f = 111,1-3). Manchmal könne

110 παιδεία, φιλία, δόξα, αρχή, πλούτος, εύτεκνία, εύθανασία. Die beiden letzten Begriffe sind gegenüber den bisher gefundenen Aufzählungen (s.o. Anm. 62 u. 73) neu; die εΰτεκνία findet sich allerdings in vergleichbarem Zusammenhang (als Unterpunkt der ευδαιμονία) bei Aristoteles, Rhet. 15,4.6. 111 ύγεία, ισχύς, κάλλος, ευαισθησία. Statt „Scharfsinn" (vgl. Aristoteles, Rhet. I 6,15) haben die entsprechenden lateinischen Aufzählungen (s.o. Anm. 63 u. 73) „Behendigkeit" (velocitas). 112 τά σπουδαία ήθικά καί τούτοις άκολουθοΰσαι πράξεις. - Der Begriff σπουδαίος spielt in der aristotelischen Ethik eine wichtige Rolle (s. o. Anm. 7). 113 οίον, οτι φρόνιμος, ö n σώφρων, οτι ανδρείος, οτι δίκαιος, οτι οσιος, οτι ελεύθερος [v.l. έλευθέριος = freigebig], και οτι μεγαλόφρων, καί όσα τοιαύτα. Bemerkenswert an diesem .Tugendkatalog' ist, daß er sich nicht auf die vier τελικά κεφάλαια beschränkt (vgl. oben Anm. 64, 72 u. 96), sondern auch hier wieder der aristotelischen Rhetorik (I 9,3 ff) folgt. Die religiöse Kategorie δσιος ist allerdings neu (vgl. jedoch die Betonung der ευσέβεια bzw. όσιότης bei Isokrates, Busiris 24-28; Euagoras 26. 38f. 51; sowie religio als Tugend bei Cicero, Part. or. 22,78). 114 Diesen Topos kennen wir bereits aus Aristoteles, Rhet. I 9,16-19; Cicero, De orat. Π 343 f. 346; Quint. Inst. ΠΙ 7,15. Theon faßt ihn noch in einer schönen Antithese zusammen: Taten, bei denen ό μεν πόνος ι'διος, ή δέ ώφέλεια κοινή (Dí,30f = 110,17f). 115 Vgl. Aristoteles, Rhet. 19,38; Cicero, De orat. Π 346; Quint. Inst, m 7,15.

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es sogar reizvoll sein, im Enkomion an den Namen oder Beinamen des Betreffenden anzuknüpfen: Demosthenes etwa könne etymologisierend als ,Stärke des Volkes'(δήμου σθένος) bezeichnet werden (IX,49-55 = 111,3—II).116 Diese Topoi seien nun in folgender Weise anzuwenden (IX,56ff = 111, 11 ff): Nach dem Prooimion sei gleich über die ευγένεια und die anderen äußerlichen und körperlichen Güter zu reden, wobei vor allem deren tugendhafter Gebrauch aufgezeigt werden müsse.117 Gerade wenn der zu Lobende keine dieser Güter aufweisen konnte, müsse gezeigt werden, wie er trotz Unglück, Armut oder niedriger Herkunft etwas Gutes geschaffen habe: „Denn am hellsten leuchtet die Tugend im Unglück." (IX,75f = 112, lf). - Danach seien die Taten und Erfolge (πράξεις και κατορθώματα) zu behandeln, jedoch nicht als chronologische Erzählung (ούκ εφεξής διηγούμενοι), sondern nach den einzelnen Tugenden geordnet und diesen als Beleg und Illustration hinzugefügt118 (IX,77-81 =112,2-8). Bestehen Vorurteile (διαβολαί) gegen den zu Lobenden, so müsse der Redner sie entweder ganz verschweigen oder möglichst unauffällig einflechten119 - sonst bestehe die Gefahr, daß ihm das Enkomion unter der Hand zur Apologie gerät120 (IX,81-86 = 112,8-13). Für Enkomien auf leblose Dinge („wie z.B. auf Honig, Gesundheit, Tugend und ähnliche Dinge")121 seien die oben genannten Topoi ebenfalls zu

116 Der Topos άπό του ονόματος findet sich schon in den Götterhymnen (s.o. Kap. Π. la). In der rhetorischen Theorie siehe Aristoteles, Rhet. Π 23,29; Cicero, De inv. Π 9,28; Quint. Inst. V 10,30f (vgl. VI 3,53-56). - Wortspiele mit dem Namen gelten natürlich nicht als Beweise im eigentlichen Sinn, sondern sind eher Stoff für Witze und können leicht ins .Frostige' (ψυχρόv) abgleiten, wovor besonders .Longinos', De sublim. 4,3, warnt. 117 Vgl. Rhet. ad Her. ffl 7,13; Cicero, De inv. Π 59,178; Quint. Inst, ffl 7,12-14. 118 Vgl. Aristoteles, Rhet. m 16,lf. - Quint. Inst. ΠΙ 7,15f überläßt die Entscheidung über die beiden Möglichkeiten der Anordnung dem Redner. 119 Viel offensiver geht die Rhet. ad Alex, mit den διαβολαί um: Sie sollen gleich im Prooimion ausgeräumt werden (35,1; vgl. 29,10-28). 120 Der locus classkus in diesem Zusammenhang ist der Vorwurf des Isokrates im Prooimion seiner .Helena' an den Verfasser einer gleichnamigen Rede (wahrscheinlich Gorgias), dieser habe statt eines Enkomions auf Helena eine Apologie geschrieben (Helena 14). Daß Theon hier auf diese berühmte Stelle anspielt, zeigt sich in der unmittelbar folgenden Verhältnisbestimmung: άπολογεΐσθαι μεν γαρ προσήκει περί των άδικεΐν αίτίαν έχόντων, έπαινεΐν δέ τούς έπί άγαθω τινι διαφέροντας („Zu verteidigen ist nämlich angebracht in bezug auf die, die einer Straftat angeklagt werden; dagegen [ist es angebracht,] die zu loben, die sich in bezug auf irgendein Gut auszeichnen"), die ein wortwörtliches Zitat aus Helena 15 darstellt (in der Ausgabe von BUTTS weder im Text noch im Kommentar vermerkt; bei SPENGEL ist immerhin durch Sperrung gekennzeichnet, daß ein Zitat vorliegt, wenn auch die Quellenangabe etwas ,versteckt' ist: p. VI, im textkritischen Vorspann des Bandes). - Vgl. zur .Helena' des Isokrates unten Kap. II. 2b, S. 146ff. 121 Vgl. Quint. Inst, ffl 7,27f, und oben Anm. 102.

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verwenden (IX,87-89 = 112,14-16); und für Tadelreden die gegenteiligen (IX,89f = 112,17f). Der .Vergleich', der uns bisher als Mittel der αυξησις begegnet war, wird in den .Progymnasmata' gleich im Anschluß, aber in einem eigenen Abschnitt behandelt (Kap. X B. = Kap. 9 Sp.: Περί συγκρίσεως)122 und wurde offenbar auch im Unterricht als eigenständiger λόγος geübt. Aufgabe der Synkrisis ist es laut Definition, „das Bessere und das Schlechtere nebeneinanderzustellen (παριστάναι)" (X,2 = 112,20f). Vergleiche gebe es zwischen Personen und zwischen Sachen (X,3-7 = 112,21-26); es sei aber klarzustellen, daß man nicht völlig verschiedene, sondern nur ähnliche Dinge miteinander vergleichen dürfe (X,8-12 = 112,26 ff). Beim Vergleich zwischen Personen seien zuerst die körperlichen und äußerlichen Güter, von denen im Abschnitt über die Enkomien die Rede war, einander gegenüberzustellen (άντιπαραβάλλειν) (X,13-17 = 113,2-7). Danach vergleiche man die Taten; günstiger zu beurteilen (προκρίνειν) seien jeweils die edleren und diejenigen, die zu zahlreicheren und größeren αγαθά geführt haben, die mit der größeren Dauer, die, bei denen der Zeitpunkt günstiger war, und die, deren Unterlassung großen Schaden mit sich gebracht hätte, sowie eher die mit Absicht als die aus Zufall begangenen123, eher die von wenigen als die von vielen vollbrachten, eher die mit Mühe als die mit Leichtigkeit durchgeführten und schließlich die, bei denen Alter und Gelegenheit eigentlich schon überschritten waren (X,18-26 = 113,7-16). 124 Überhaupt nicht lobenswert seien „gewöhnliche und alltägliche Dinge" (τά κοινά και δημώδη)125 (X,23f= 113,13f). Vorurteile, die bei der Lobrede ja verschwiegen oder schnell übergangen werden sollten (vgl. IX,81-86 = 112, 8-13), müsse man, wenn sie die gegnerische Person betreffen, um so mehr .durchhecheln' (διασύρειν) und verspotten (χλευάζειν) - dies jedoch nur in der voreingenommenen Vergleichsrede, bei der die Überlegenheit der einen Person schon als Beweisziel angekündigt wird. Diese Art des Vergleichs bezeichnet Theon als ύπόθεσις, die sich dadurch von der σύγκρισις unterscheiden müsse, daß sich der Redner zusätzlich zu den Erfolgen (κατορθώματα) der eigenen Partei auch darauf stürze, ob den Gegnern bereits irgendeine Verfehlung (αμάρτημα) angelastet worden sei. Die eigentliche Synkrisis dagegen kündige nur die Absicht an, herauszufin-

122 Daß sich die Übung der Synkrisis im Rhetorikunterricht den Übungen von Lob- und Tadelreden gleich angeschlossen hat, belegt auch Quint. Inst. Π 4,20f (für die römische Ausbildungspraxis). Vgl. auch die anderen erhaltenen (späteren) .Progymnasmata'. 123 Zur Betonung der προαίρεσις siehe Aristoteles, Rhet. 19,32, und oben Anm. 13. 124 Die Aufzählung weist naturgemäß Berührungen mit der Liste der επαινετά im Enkomienkapitel (IX,35 - 3 8 = 110,21-25) auf. 125 Vgl. Cicero, De orat. Π 347.

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den, welcher der beiden zu Vergleichenden das höhere Maß an Erfolgen aufweise (X,27-33 = 113,17-24). Beim Vergleich von Sachen könne man zwar nicht auf Verwandtschaft (συγγένεια) verweisen, aber doch analog dazu auf ihren Erfinder, ihre Natur oder die Gegend, aus der sie stammen (X,34ff = 113,24ff). Vor allem aber müsse man den jeweiligen Nutzen beider Sachen miteinander vergleichen (X,42f= 114, lf). Sind damit die Kriterien für Vergleiche, die nach der besseren Person oder Sache fragen, dargestellt, ergebe sich aus den gegenteiligen die Frage nach dem Schlechteren (X,44-46 = 114,3 -6). Für den Fall, daß nicht nur je eine Person oder Sache miteinander zu vergleichen sind, sondern mehrere mit mehreren (z.B. bei der Frage, ob das männliche oder das weibliche Geschlecht tapferer sei), gebe es zwei Möglichkeiten: Erstens könne man stellvertretend je einen herausragenden Vertreter der beiden Gruppen miteinander vergleichen (in dem genannten Beispiel also die tapferste Frau mit dem tapfersten Mann) und das Ergebnis des Vergleichs auf die ganze Gruppe (τό σύμπαν γένος) übertragen - dieses Verfahren sei jedoch sehr subjektiv, da der Redner durch entsprechende Auswahl der beiden Gruppenvertreter immer zum gewünschten Ergebnis seiner ύπόθεσις gelangen könne (X,47- 65 = 114,6 -27). Die zweite Art vergleiche die beiden Gruppen direkt miteinander und beurteile jene günstiger, in der sich mehr Vertreter der in Frage stehenden Eigenschaft finden lassen (wenn es also mehr tapfere Männer als tapfere Frauen gebe, sei das männliche Geschlecht nach diesem Verfahren auch dann das tapferere, wenn die tapferste Frau dem tapfersten Mann überlegen sei) (X,66- 75 = 114,27 - 115,5). Zur Ausgestaltung der Synkrisis als λόγος schließlich habe man entweder die Möglichkeit, für jedes der zu Vergleichenden eine eigene Rede auszuführen, oder innerhalb einer Rede das eine gegenüber dem anderen günstiger zu beurteilen (X,76-80 = 115,6-10). Das letzte rhetorische Lehrbuch aus dem uns interessierenden Zeitraum ist nur fragmentarisch erhalten: das Werk des Alexander Numeniu. 126 Es enthält im ersten der drei erhaltenen Kapitel (p. 1,1 - 2,7) die bekannte Einteilung in drei Redegattungen (hier als έγκώμιον, συμβουλή, δίκη bezeichnet), welche untereinander nach den drei Zeitstufen, den diesen zugeordneten πράγματα, den sechs Zwecken (Lob und Tadel, Verteidigung und Anklage, Zuraten und Abraten) und den drei Arten von Zuhörern (αυθένται, κριταί, μόνον άκροαταί) unterschieden werden. Das zweite Kapitel (2,8-4,15) referiert verschiedene Meinungen zur Unterscheidung der zumeist als synonym verwendeten Begriffe έπαινος und εγ126 Dieser Autor lebte zur Zeit des Kaisers Hadrian (117-138 n.Chr.); vgl. SONTHEIMER, KP I (1964), 253 (s. v. Alexandros, Nr. 20.).

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κώμιον: So werde gesagt, das eine sei Zeugnis einer einzelnen Tugend, das andere befasse sich mehr materiell mit den vielen in einem Menschen verkörperten guten Eigenschaften (2,11-21); oder das eine sei kurz und einfach, das andere vielfältig und lang (2,28-31). Für die richtigste Unterscheidung hält Alexander Numeniu jedoch die nach Wahrheit und Glaubwürdigkeit: Der Epainos komme aufgrund einer an der Wahrheit orientierten Beurteilung der σπουδαίοι zustande127, das Enkomion dagegen gehe von der Glaubwürdigkeit aus und könne daher bei geschickter Formulierung auch, wie bei Polykrates, Töpfe und Stimmsteinchen zum Gegenstand haben128 (2,31-4,1). - Weitere Definitionen: Der έπαινος zeige die Größe der Tugend auf, das έγκώμιον die edlen Taten (4,1-3) 129 ; Götter versuche man durch das Loben ihrer αρετή130 zu verehren, auf Menschen mache man Enkomien zum Aufweis ihrer edlen Taten (4,3-7). Zum Schluß des Kapitels fallen noch zwei für uns sehr interessante Begriffe: περιαυτολογία für das Eigenlob eines Menschen und ύμνος für das Lob eines Gottes. Die angekündigte Darlegung, wie man sich selbst ohne Anstoß loben könne (4,9-14), ist leider nicht erhalten.131 Aber dem (Prosa-)Hymnus (4,14f)132 widmet sich ausführlich das dritte (= letzte erhaltene) Kapitel: In einem philosophischen Vorspann (4,16-28) wird die Frage diskutiert, ob der Gott „etwas Unerzeugtes und Unvergängliches"133 sei oder ob, wie Piaton meinte134, alle Götter vom eráten Gott abstammen. Die erste Ansicht ist nach unserem Autor zwar verbreiteter, die zweite jedoch weiser.

127 In der Wendung ταΐς των σπουδαίων κρίσεσι (3,20.32) bleibt offen, ob ein genetivus obiectivus oder subiectivus vorliegt; wahrscheinlich soll (im Sinne von Aristoteles, Rhet. I 9,lf) beides gehört werden: Ein paar Zeilen vorher waren die Begriffe δόξα und κλέος differenziert worden, wobei δόξα (dem Enkomion zugeordnet) als Anerkennung durch die πολλοί und κλέος als έπαινος κεκριμένος παρά σπουδαίων γιγνόμενος (3,17f) definiert wurde. Zum Begriff σπουδαίος vgl. oben Anm. 7. 128 Zu dieser Art von Enkomien vgl. oben Anm. 102. - Zu Polykrates siehe auch unten Kap. II. 2b, S. 150ff (im Zusammenhang mit Isokrates' .Busiris'). 129 Die Definition knüpft in der Formulierung deutlich an Aristoteles, Rhet. 19,33f, an. 130 Hier liegt gegenüber dem vorigen Satz eine Bedeutungsverschiebung vor: άρετή hat im Zusammenhang mit Göttern die Bedeutung ,Wunderkraft' (im Plural auch .Wundertaten'). Vgl. KEYSSNER, Gottesvorstellung 49 f, und oben Kap. Π. 1 a, Anm. 23. 131 Siehe zum Thema .Eigenlob' den Exkurs gleich im Anschluß (S. 137ff). 132 Der Begriff ΰμνος für ein Götter-Lob in Prosa war uns bisher nur bei Theon, Progymnasmata IX,6 BUTTS (= p. 109,24 SPENGEL) begegnet (s.o. S. 131). - Zum gleich anschließenden Schema für Lobreden auf Götter vgl. Quint. Inst. ΠΙ 7 , 7 - 9 (s. o. S. 129). 133 ό μεν φιλόσοφος λόγος περί θεοί) φησιν, οτι ó θεός άγέννητόν έστι και άνώλεθρον αεί ων (4,17f). Die Verbindung άγέν(ν)ητον καί άνώλεθρον findet sich (in bezug auf das Sein) bei Parmenides, FVS 28 Β 8,3 und bei Piaton, Timaios 52a, von wo es entnommen sein dürfte. Die Aussage, der Gott sei „ewig", ist in den Hymnen durchweg anzutreffen (s.o. Kap. Π. la). 134 Vgl. Timaios 40d - 41 d.

Exkurs: Zum Eigenlob

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Somit sei zu reden über die Abstammung (γένος) eines Gottes, dann darüber, ob er zu den älteren oder jüngeren Göttern gehöre, also über sein Alter (ηλικία) (4,28-5,3). Bei einigen sei auch umstritten, ob es sich überhaupt um einen Gott handele (wie etwa bei Herakles); bei anderen gebe es mehrere Namen für denselben Gott (etwa Helios und Apollon oder Selene, Artemis und Hekate) (5,3-9). Weiter sei zu erwähnen, ob der betreffende Gott von allen Völkern oder nur von einigen verehrt werde; im ersteren Fall komme dem Gott um so größeres Lob zu, im zweiten müßten die betreffenden Völker für ihre Verehrung gerade dieses Gottes gelobt werden (5,9-18). Auch aus Vorurteilen (διαβολαί) über andere Völker, die den betreffenden Gott nicht verehren, lasse sich ein Lob des Gottes ableiten - aber auch daraus, wenn „sogar die Barbaren" ihn kennen (5,18-26). Dann sei über seine Macht (αρχή) zu sprechen; in diesem Zusammenhang sei wichtig, was seine spezielle δύναμις sei und in welchen Taten (εργα) sie sich gezeigt habe (5,27-29). Ferner, „als was für ein Gott - von denen des Himmels, des Meeres oder der Erde, und danach in bezug auf die Stadt und die Gegend - er gelobt werden könnte" (5,29—31).135 Dann, welche τέχνη ihm zugeschrieben werde (und ob eine oder alle oder viele), und was durch diese alles zustandegekommen sei; welche Erfindungen (ευρήματα) ihm zugeschrieben würden; welche spezielle Aufgabe ihm unter den Göttern zufalle (so wie Hermes die κηρύκεια) (5,31-6,4). Weiter, auf welche Weise er sich den Menschen offenbare (in diesem Zusammenhang könne seine φιλανθρωπία Erwähnung finden); welche Tiere ihm heilig seien, welche Bäume, welche Orte; ob er im Land umhergezogen sei und für gastfreundliche Aufnahme Geschenke gewährt habe; und schließlich, mit welchen anderen Göttern er zusammen sei (so wie Apollon mit den Musen) (6,5-9.)

Exkurs: Zum Eigenlob Das Eigenlob des Redners wird von den Rhetorik-Handbüchern nicht im Zusammenhang der Lobrede behandelt. Abgesehen von vereinzelten kurzen Bemerkungen geht nur Quintilian überhaupt auf diesen Punkt in ein paar Sätzen ein (Inst. XI 1,15-26). Er hat vor allem die Prahlerei (iactatio) des Redners mit der eigenen eloquentia im Blick, die bei den Hörern Widerwillen

135 είτα ποΐός τις, των ουρανίων, των εναλίων, των έπιγείων, και έξης το αστυ και το χωρίον έπαινοίτο αν. 136 Aristoteles, Rhet. Π 6,11 nennt ,Angeberei" (αλαζονεία) („von sich reden und prahlen und sich die Verdienste anderer zuschreiben") in einem Katalog schimpflicher Handlungen (vgl. auch die ausführlichere Behandlung der αλαζονεία in der Nikomachischen Ethik IV 7). - Geeignete Stellen für ein Eigenlob des Redners werden Rhet. ad Alex. 36,5; Rhet. ad Her. I 5,8; Cicero, De inv. 116,22; 51,97 genannt; dazu siehe Kap. ΙΠ. la.

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(fastidium), ja sogar Haß (odium) bewirke (1,15). Cicero, dem dieses Laster vorgeworfen wurde, wird von Quintilian verteidigt: Er habe eher mit seinen Taten als mit seiner Beredsamkeit geprahlt, und das auch noch mit gutem Grund, nämlich zur Verteidigung anderer oder seiner selbst (l,17f u. 23). Als Redner sei er eher bescheiden aufgetreten und habe nur in seinen Briefen an Freunde, gelegentlich auch in seinen Dialogen, wahrheitsgemäß von seiner Redefähigkeit gesprochen (l,20f).137 Aber sich so zu rühmen sei in seiner Naivität vielleicht denn doch noch erträglicher als die verdrehte Prahlerei (iactatio perversa), mit der sich ein Reicher als arm oder ein geschickter Redner als unerfahrenen Anfänger bezeichne (1,21). Am besten sei es, sich von anderen loben zu lassen (1,22). Zwei Zeitgenossen Quintilians haben das Eigenlob einer gesonderten Betrachtung gewürdigt: Plutarch und Dion von Prusa. Plutarch widmet sich in einem Traktat der Frage, wie man sich selbst loben könne, ohne Mißgunst zu erregen.138 Er konstatiert zunächst, daß das Eigenlob generell schlecht angesehen sei - allerdings bei vielen Autoren eher in der Theorie als in der eigenen Praxis139. Denn erstens erscheine jemand, der sich selbst lobt, als schamlos (αναίσχυντος) - es sollte einem doch eigentlich schon peinlich sein, von anderen gelobt zu werden140 - , zweitens als.ungerecht (άδικος), weil er sich selbst etwas zuteile, was man eigentlich von anderen verliehen bekommen sollte, und drittens bringe er die Zuhörer in eine peinliche Lage: Wer bloß schweigend zuhöre, erscheine verärgert und neidisch, und so werde man fast gezwungen, wider besseres Wissen dem Lob zuzustimmen und unfreiwillig zum Schmeichler zu werden (Kap. 1). Trotzdem gebe es Situationen, in denen „die sogenannte περιαυτολογία (539E)141 für einen Mann des öffentlichen Lebens (πολιτικός άνηρ) angezeigt sei - nicht zur eigenen Ehre oder Gefälligkeit (δόξα η χάρις), sondern im Interesse der Sache: etwa wenn die Wahrheit über den Redner die Zuhörer zu guten Handlungen animiert (Kap. 2). Aber auch dabei müsse ein κενός έπαινος (540A) - der Eindruck, der Redner lobe sich bloß um des Lobes willen - vermieden werden; und schon gar nicht dürfe die περιαυτολογία im eifersüchtigen Wettstreit gegen

137 Nur in seinen Gedichten ist Cicero nach Quintilians Meinung gelegentlich etwas zu weit gegangen (1,24). 138 Περί του έαυτόν έπαινεΐν άνεπιφθόνως (Moralia 539A-547F). Zur Stellung des Traktats im Kontext rhetorischer Diskussionen siehe RADERMACHER, Studien; eine Zusammenfassung der Hauptaussagen in Form einer rhetorischen Disposition bietet BETZ, De laude ipsius 368-372 (doch s. u. Anm. 142 u. 147). 139 Dies wird mit Zitaten von Euripides und Pindar belegt, denen Plutarch dann selbst dauerndes Rühmen der eigenen Person vorwirft. 140 Hier spielt Plutarch wohl auf Demosthenes',Kranzrede' (§ 128) an. 141 Bei dem hier eingeführten Begriff περιαυτολογία (vgl. auch 540B; F; 544C; 546B; C; D; 547C), der uns schon bei Alexander Numeniu begegnet ist (s.o. S. 136), dürfte es sich um den in der rhetorischen Diskussion geläufigen terminus technicus handeln (vgl. dazu RADERMACHER, Studien).

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Lobreden auf andere stehen, um diese im Vergleich (άντιπαραβάλλειν) auszustechen (Kap. 3).142 In folgenden Fällen ist es nach Plutarch moralisch erlaubt, sich selbst zu loben: wenn man sich gegen ein Vorurteil oder eine Anklage verteidigt (Kap. 4)143; wenn ein Unglücklicher sich lobt (Kap. 5); wenn man zu Unrecht angegriffen wurde (Kap. 6); wenn man die Handlungen, die einem vorgeworfen wurden, als gute Taten erweist (Kap. 7) oder wenn man zeigt, daß gerade die gegenteilige Handlungsweise schändlich gewesen wäre (Kap. 8)144; wenn das Eigenlob mit dem Lob der Zuhörer gemischt wird (Kap. 9) ; wenn man stellvertretend jemand anderen lobt, der in Absichten und Handlungen ähnlich ist (Kap. 10); wenn man einen Teil seiner Erfolge dem Glück oder Gott zuschreibt (Kap. 11); ferner, wenn man ein vorausgegangenes übertriebenes Lob der eigenen Person auf ein menschliches Maß reduziert (Kap. 12), in der Selbstdarstellung auch kleinere Mißerfolge und Fehler einstreut (Kap. 13) und die großen Mühen und Kosten des eigenen Erfolges betont (Kap. 14) . Nicht nur akzeptabel, sondern sogar nützlich sei das Eigenlob, wenn es einem höheren (pädagogischen) Zweck diene147: ängstliche Zuhörer anzuspornen (παροξύνειν) (Kap. 15) und übermütige auf den Boden der Tatsachen zu holen (ταπεινώσαι) (Kap. 16); wurde jemand aus zweifelhaften Gründen gelobt, dürfe dieses unberechtigte Lob mit einem berechtigten Eigenlob konfrontiert 142 Nach dem einleitenden Kap. 1 (exordium) bilden Kap. 2 - 3 die Vorstellung des Gegenstandes (propositio) (vgl. BETZ, De laude ipsius 368f). Kap. 2 wird in Kap. 4 - 1 7 entfaltet (von BETZ a.a.O. 369 als argumentum bezeichnet), Kap. 3 in Kap. 18-21 (BETZ, a.a.O. 371, sieht 18-22 als exhortatio. Da der Traktat symbuleutischer Natur ist [vgl. a.a.O. 367: "moral instruction"], geht es die ganze Zeit um Zu- und Abraten; daher ist die Annahme einer eigenständigen exhortatio m.E. nicht sinnvoll [und auch in den Rhetorik-Lehrbüchern nicht zu finden].). Kap. 22 ist aufgrund der Anklänge an Kap. 1 m. E. insgesamt als conclusio aufzufassen (nach BETZ a.a.O. 372 nur die letzten 2 Zeilen [ab άφεξόμεθα], die aber keinen selbständigen Satz darstellen!). Zum Fehlen einer narratio im beratenden Genus vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 13,3; 16,11; Rhet. ad Her. m 4,7; Cicero, De inv. 121,30; Quint. Inst, ffl 8,10f. 143 Αΰτόν δέ έπαινείν άμεμπτως έστί πρώτον μεν αν άπολογούμενος τοΰτο ποιης προς διαβολήν η κατηγορίαν (Kap. 4, 540C). Vgl. zum Ausräumen von Vorurteilen (als Aufgabe des Prooimions) Rhet. ad Alex. 29,10-28 (allerdings ohne Bezug auf Eigenlob). 144 Als Beispiel in Kap. 7 u. 8 nennt Plutarch besonders Demosthenes',Kranzrede'. 145 Dieselbe Mischung findet sich Rhet. ad Her. I 5,8 und Cicero, De inv. I 16,22 in den Anweisungen für das exordium zur Erlangung der benivolentia der Zuhörer. 146 Zu diesem Punkt bietet Cicero, De orat. Π 210, eine enge Parallele. 147 Έπεί δέ ού μόνον άλύπως και άνεπιφθόνως, άλλα και χρησίμως καί ώφελίμως προσοιστέον εστί τούς επαίνους, ίνα μή τούτο πράττειν άλλ' ετερόν τι δια τούτου δοκώμεν (Kap. 15, 544D). Dieser Satz, der sich deutlich auf Kap. 15-17 bezieht, markiert m.E. einen stärkeren Einschnitt innerhalb von Kap. 4 - 1 7 als der erste Satz von Kap. 14, den BETZ, De laude ipsius 370f, als Gliederungssignal versteht: Dort ist (bezogen auf Kap. 4-13) von εξωθεν . . . φάρμακα της περιαυτολογίας die Rede, denen nun Fälle entgegengestellt werden sollen, bei denen das φάρμακον schon in der Art des Lobens enthalten sei. Dies bezieht sich m. E. nur auf die Beispiele in Kap. 14; ein Eigenlob, das zum Nutzen anderer erfolgt (Kap. 15-17), hat gar kein .Gegengift' nötig.

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werden, um anderen zu zeigen, was wirklich bewunderungswürdig sei und was nicht148 (Kap. 17). Der Gefahr eines Eigenlobes „zur Unzeit" (άκαίρως) schließlich entgehe man am ehesten, wenn man Situationen, die in dieser Hinsicht besonders gefährlich sind, entweder ganz meidet oder in ihnen um so größere Vorsicht walten läßt: erstens, wenn andere gelobt werden - weil das Eifersucht wecken kann (Kap. 18); zweitens, wenn man von seinen Erfolgen (insbesondere von erhaltenem Lob) erzählt - weil man durch die Begeisterung schnell mitgerissen wird (Kap. 19); ferner, wenn man andere tadelt - weil man sich dann leicht als ,gutes Beispiel' hinstellt149 (Kap. 20); und besonders, wenn man selbst gelobt wird - weil die Versuchung groß ist, den berichteten Taten und Tugenden selbst noch welche hinzuzufügen (Kap. 21). Die beste Vorsichtsmaßnahme aber sei es, wenn man sich stets an den unangenehmen Eindruck beim Hören fremden Eigenlobs erinnert (Kap. 22). Dion (,Chiysostomos') von Prusa geht in seiner Rede mit dem Titel .Nestor' (or. 57) von einem literarischen Beispiel aus (1): In einer Szene der ,Ilias' (I 260-274) läßt Homer den alten Ratgeber zu den streitenden Helden Agamemnon und Achilleus sagen, er habe schon mit größeren Helden als ihnen verkehrt (die er auch namentlich aufzählt), und diese hätten seine Ratschläge verstanden und befolgt; so sollten es auch die beiden tun. Dion fragt nun, ob Homer durch diese Darstellung aus Nestor einen „Prahlhans" (άλαζών) gemacht habe (2). Um diese Frage zu beantworten, müsse man beachten, daß dumme Menschen (ανόητοι) grundsätzlich nicht auf Ratgeber ohne Reputation hören, und sei ihr Rat auch noch so gut. Daher habe der Hinweis Nestors auf die vielen mächtigen Männer, die seine Ratschläge befolgt hätten, gegenüber Agamemnon und Achilleus die Funktion einer Selbstempfehlung (3). Dies sei im vorliegenden Fall gerechtfertigt, weil Nestors Rat eben wirklich gut sei - und wäre es nicht dumm, das Eigenlob zu scheuen, wenn man damit den größten Nutzen erzielen könne? (4) Nestor sei daher ebensowenig Prahlerei vorzuwerfen wie einem Arzt, der einen Patienten durch den Hinweis auf seine Heilungserfolge von dem Nutzen einer unangenehmen Behandlung überzeugt (5). Zweitens aber verfolge Nestor mit seinem Hinweis auf die größeren Helden das Ziel, die beiden Streitenden vom hohen Roß zu holen (ταπεινώσαι), da die eigentliche Ursache für ihren Streit in ihrer ΰβρις liege ( 6 - 8 a). Somit habe Homer, der Nestors Redegabe bekanntermaßen mit der Süße des Honigs vergleicht (Ilias I 247-249), diesem auch hier die Worte sehr 148 Vgl. den abschließenden Satz (546B): καλός γαρ ò τοιούτος έπαινος και ώφέλιμος και διδάσκων τά χρήσιμα και τα συμφέροντα θαυμάζειν και αγαπάν αντί των κενών και περιττών. 149 Dies könne allenfalls alten Männern mit entsprechenden Verdiensten zugestanden werden - und wäre bei ihnen sogar positiv als Ansporn zu werten (547A; vgl. Kap. 15-16). 150 Dieser zweite Punkt hat eine deutliche Parallele bei Plutarch, a.a.O. Kap. 16, während das erste Argument dort in Kap. 2 (propositio) anklingt, dann aber in Kap. 15 mit etwas anderem Schwerpunkt entfaltet wird. Nestor wird von Plutarch in Kap. 15 (dort Ilias XI 655-762) und 16 (Ilias 1260f) als Beispiel erwähnt.

Das γένος έπιδεικτικόν in der rhetorischen Theorie

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bewußt in den Mund gelegt; denn so wie Honig für Kranke ein ätzendes und reinigendes Heilmittel sein könne, so seien Nestors Worte für Agamemnon und Achilleus bitter, aber heilsam (8b-9). 151

Für den uns interessierenden Zeitraum (bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts n.Chr.) liegen nun alle wesentlichen Äußerungen der rhetorischen Theorie über das γένος έπιδεικτικόν bzw. genus demonstrativum vor. Nur der Vollständigkeit halber sollen hier noch die späteren antiken Darstellungen des γένος έπιδεικτικόν kurz vorgestellt werden: Die unter dem Namen des Rhetois Hermogenes überlieferten, pseudepigraphischen ,Progymnasmata' sind nicht sicher zu datieren, aber jedenfalls älter als die .Progymnasmata' des Aphthonios (s.u.).152 Kap. 7 (p. 14,16 bis 18,14) behandelt das έγκώμιον, das sich vom έπαινος durch die größere Länge unterscheide (15,6-8). Enkomien auf Götter werden als ϋμνοι bezeichnet (17,20-22). Der Verf. bespricht außer den Topoi für Lobreden auf Menschen auch solche für Tiere, Gegenstände, Pflanzen und Städte. Dabei empfiehlt er als besonders wichtig die Verwendung von Vergleichen (συγκρίσεις), wo immer die Rede dazu Gelegenheit bietet (17,2-4.11 f; 18,6f). Dem Vergleich als eigenständiger Form ist dann Kap. 8 (p. 18,15-20,5) gewidmet. Wahrscheinlich aus dem späteren 3. Jahrhundert n.Chr. stammen die ersten sieben Kapitel einer Τέχνη ρητορική, die unter den Werken des Dionysios von Halikarnassos erhalten ist, aber eine Kompilation aus rhetorischen Traktaten verschiedener Verfasser darstellt. Die für uns interessanten Kapitel stellen verschiedene Typen epideiktischer Rede dar: Ansprachen auf öffentlichen Festveranstaltungen (πανηγύρεις), auf Geburtstagen, am Beginn

151 Nach diesem eigentlichen Abschluß des Gedankengangs folgt noch eine Art .Anwendung' auf den Redner selbst (10-12): Dion will im Anschluß eine Rede halten, die er bereits vor dem Kaiser [Trajan] gehalten hat; seine Verteidigung Nestors soll zugleich Dion selbst gegen den möglichen Vorwurf der Prahlerei verteidigen. - Der Mitte des 2. Jh.s wirkende Rhetor Ailios Aristeides (vgl. unten Kap. Π. 2b, S. 165ff) hat sich in einer längeren Rede (or. 28: Περί του παραφθέγματος) ebenfalls zum Thema geäußert: Ausgehend von einer beiläufigen Bemerkung in einem (nicht erhaltenen) Prosahymnus, die seine überragenden rednerischen Fähigkeiten herausgestrichen hatte und von einem Hörer kritisiert worden war, gibt Aristeides hier eine ausführliche Rechtfertigung seines Eigenlobs; dabei umrahmen zwei Kataloge mit Beispielen für Eigenlob aus der griechischen Literaturgeschichte (§ 11-97 u. 135-154) den zentralen Abschnitt über Aristeides' göttliche Inspiration, die ihn nach seiner Ansicht über alle anderen Redner und Dichter erhebt (§ 98-134). Siehe zu dieser Rede RUTHERFORD, Pamphthegma. 152 Hermogenes von Tarsus lebte ca. 160 bis ca. 225 n. Chr. (vgl. GÄRTNER, KP Π [1967], 1082); da die Progymnasmata „sicher unecht sind" (ebd.; vgl. RABE in der praefatio seiner Ausgabe, IV-VI), ergibt sich für die Abfassung wohl frühestens das 3. Jh. n. Chr. Den terminus ad quem (Aphthonios) entnehme ich RUSSELL/WILSON, Einleitung zu Menander Rhetor, xxvii Anm. 70, die auch eine sehr übersichtliche Zusammenfassung bieten (xxvii-xxviii). Eine Übersetzung hat BALDWIN, Medieval Rhetoric 23-38 (darin 30-32 das Enkomienkapitel).

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und am Ende von Hochzeiten, Reden zur Begrüßung hoher Gäste sowie Leichenreden (επιτάφιοι) und schließlich noch die Mahnrede an die Teilnehmer einer Sportveranstaltung.153 Die ausführlichste Darstellung der epideiktischen Redegattung in der Antike sind zwei dem Rhetor Menandros von Laodikeia zugeschriebene Traktate Περί επιδεικτικών. Sie sind von verschiedenen Verfassern Ende des 3. Jahrhunderts geschrieben und reflektieren deutlich die rhetorische Praxis ihrer Zeit.154 Der erste Traktat (p. 331-367) differenziert acht Arten von Hymnen und gibt ausführliche Anweisungen für das Lob von Ländern und Städten. Der zweite Traktat (368-446) hat große Ähnlichkeit mit den eben erwähnten sieben Kapiteln des Pseudo-Dionysios. Er behandelt 15 Typen epideiktischer Rede und gibt am Schluß ein selbstverfaßtes Musterbeispiel für einen Prosa-Hymnus auf Apollon Smintheus (Σμινθιακός λόγος, 437-446). In diesem Traktat begegnet das Aufbauschema für ein Enkomion in besonders ausführlicher Form155; bemerkenswert ist, daß der Abschnitt über die πράξεις nur nach den vier .Kardinaltugenden' (Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Weisheit) aufgebaut ist und keine Dreiteilung der Güter (Seele, Körper, äußere Umstände) aufweist. Die σύγκρισις rückt als eigener Abschnitt an den Schluß des Hauptteils und bekommt so besonderes Gewicht.156 153 Eine kommentierte Übersetzung dieser Kapitel bieten RUSSELL/WILSON, Menander Rhetor 362-381 ("Appendix"); für die Datierung ist neben der "stylistic exuberance" v. a. die Nähe zu Traktat Π bei Menandros (s. u.) ausschlaggebend (ebd. 362). Bei DIHLE, Kaiserzeit 266 und 373, ist das Werk versehentlich zweimal aufgeführt; dadurch lassen sich bei ihm zwei verschiedene Datierungen finden. 154 Zur engen Verbindung der Traktate mit der rhetorischen Praxis der späten Kaiserzeit siehe die Einleitung von RUSSELL/WILSON, a.a.O. xxix-xxxi. Die Datierung wird ebd. xl noch etwas präzisiert: Beide Traktate sind wahrscheinlich in der Regierungszeit Diokletians anzusetzen (Tr. I nach 295; Tr. Π nach 285). 155 In der am breitesten dargestellten Rede auf den Herrscher (βασιλικός λ ό γ ο ς ) wird folgender Aufbau sichtbar (vgl. 368-377): Nach dem Prooimion, das v. a. die Schwierigkeit, aber auch Notwendigkeit der Aufgabe betont, sind πατρίς, πόλις, έθνος und γένος des Kaisers zu preisen, dann seine wunderhafte Geburt (γένεσις), seine φύσις, ανατροφή, παιδεία, weiter beim Erwachsenen die έπιτηδεύματα und besonders die πράξεις (angeordnet nach Taten im Krieg und im Frieden sowie nach den Tügenden), gefolgt von der Darstellung seiner τύχη; schließlich der Vergleich (σύγκρισις) mit früheren Herrschern und der επίλογος, der die Dankbarkeit des Volkes für Frieden und Wohlstand unter dieser Regierung hervorhebt und mit einem Gebet endet. - Ein entsprechender Aufbau gilt auch für den παραμυθητικός λ ό γ ο ς (413,11 ff) und den έπιτάφιος λ ό γ ο ς (420,11 ff). 156 Neben der abschließenden Synkrisis, die als eigener Redeteil hier erstmals in der Theorie zu finden ist, läßt der Verf. aber auch Vergleiche einzelner Punkte innerhalb der Rede noch gelten (vgl. 377, 2ff und schon 372,14-25, wo auch zusätzliche προοίμια zu Beginn wichtiger Redeabschnitte zugelassen werden). - Das Nebeneinander von Elementen aus der älteren rhetorischen Tradition mit Neuerungen aus der spätkaiserzeitlichen Praxis ist charakteristisch für beide Traktate; daher sind sie für die Analyse von Texten früherer Epochen nur bedingt geeignet und dürfen keineswegs als Zeugen für jahrhundertealte "generic patterns" vereinnahmt

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Die um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert verfaßten .Progymnasmata' des antiochenischen Rhetors A p h t h o n i o s geben für das Enkomion (Kap. 8) ein Schema an, das dem eben genannten des .Menandros' sehr ähnlich ist auch hier bildet die Synkrisis den letzten Hauptpunkt vor dem gebetsähnlichen Epilog. Der als μέγιστον κεφάλαιον bezeichnete Abschnitt über die Taten (πράξεις) ist jedoch noch einmal in die Bereiche Seele, Körper und Geschick (κατά ψυχήν, κατά σώμα, κατά τύχην) unterteilt, die dann weiter aufgefächert werden.157 Zur Theorie des Enkomions kommen zwei praktische Beispiele (Muster-Enkomien auf Thukydides und auf die Weisheit). Bemerkenswert ist auch, daß die Tadelrede (ψόγος) in einem eigenen Abschnitt behandelt wird (mit einer Musterrede auf Philipp von Makedonien) (Kap. 9). Wie auch in den älteren .Progymnasmata' ist die σύγκρισις noch einmal als eigenständige Form dargestellt (Kap. 10; Muster: Vergleich zwischen Achilleus und Hektor). Das letzte zu erwähnende antike Zeugnis sind die ,Progymnasmata' des Nikolaos von Myra (5. Jh.).158 In seiner Behandlung von Lob- und Tadelrede (p. 47-58) wird die Dreiteilung der Güter explizit als altmodisch zurückgewiesen (50,2-10); die nach Nikolaos jetzt „vorherrschende" Anordnung (διαίρεσις κρατούσα 50,9f) ist ein Enkomienschema, das weitgehend dem des ,Menandros' entspricht (50,10-53,6). Dem Enkomienkapitel folgt auch hier ein eigener Abschnitt über die Synkrisis (p. 59-63).

Die in diesem Kapitel gesammelten Äußerungen ermöglichen uns, epideiktische Topoi im Neuen Testament im Rahmen der zeitgenössischen rhetorischen Theorie zu beschreiben. Wenn nun abschließend das zusammengetragene Material anhand einiger Leitfragen (Bezeichnung, Redegegenstand, Stoff, rhetorische Mittel, Stil, Aufbau und Abgrenzung der epideiktischen Rede) gebündelt werden soll, können die Darstellungen der späteren Kaiserzeit außer acht bleiben, da sie in ihrer Weiterentwicklung der bekannten Motive nur da neue Gesichtspunkte bieten, wo sie sich auf die Praxis ihrer eigenen Zeit beziehen und damit für die Analyse früherer Texte als wenig geeignet erscheinen. werden (siehe dazu die differenzierten Bemerkungen in der Einleitung von RUSSELL/WILSON, a.a.O. xxxi-xxxiv; gegen CAIRNS, Generic Composition, passini). 157 Zur Datierung siehe GÄRTNER, KP I (1964), 431. - Das sehr klare Enkomienschema des Aphthonios ist bei BURGESS, Epideictic Literature 120, graphisch dargestellt. 158 Der Rhetor Nikolaos von Myra (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen - wohl legendären - Bischof und Patron des 6. Dezember) wurde ca. 430 geboren; seine ,Progymnasmata', die „expressis verbis keinerlei Anspruch [auf Eigenständigkeit]" erheben, unterscheiden sich von älteren Vorgängern v. a. dadurch, daß sie „offenbar aus didaktischen] Gründen auf feinere Differenzierung zugunsten größerer Übersichtlichkeit verzichtefn]" (GÄRTNER, KP IV [1972], 111).

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Als Bezeichnung für die Lobrede verwenden die griechischen Theoretiker allgemein den aus dem poetischen Bereich entlehnten Begriff έγκώμιον, der meist als gleichbedeutend mit dem sachlicheren Ausdruck έπαινος empfunden wird; vereinzelt findet sich allerdings der Versuch, zwischen den beiden Termini zu differenzieren (Aristoteles, Alexander Numeniu; später häufiger). Die Tadelrede heißt immer ψόγος, wird jedoch regelmäßig nur als Gegenteil der Lobrede definiert. Die lateinischen Rhetorik-Lehrbücher verwenden durchweg die Gattungsbezeichnungen laus und vituperatio. In bezug auf den Redegegenstand fällt auf, daß Lobreden auf Götter, obwohl in der Praxis bereits Aristoteles bekannt, in der Theorie erst ziemlich spät ihren Platz bekommen: Quintilian gibt als erster ein Schema für eine Lobrede auf einen Gott; Theon nennt als erster hierfür den Begriff ύμνος, aber keine eigene Topik. Beides zusammen findet sich erst im 2. Jahrhundert n.Chr. bei Alexander Numeniu. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich auch für die Lobrede auf unbelebte Gegenstände feststellen: Vor Quintilian sind als Gegenstand einer Lobrede in der Theorie ausschließlich Menschen im Blick, obwohl auch hier die Praxis längst weiter gefächert ist. - Die eigene Person als Gegenstand des Lobes wird im allgemeinen als peinlich empfunden, ist jedoch in bestimmten Fällen akzeptabel und kann aus pädagogischen Gründen sogar geboten sein. Den Stoff für epideiktische Reden liefern unterschiedliche Zusammenstellungen von Tugenden und Lastern, wobei sich ab der hellenistischen Zeit die vier .Kardinaltugenden' Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit immer mehr durchsetzen - allerdings weniger bei den Autoren, bei denen ein stärkerer Einfluß des Aristoteles festzustellen ist (Cicero; Theon). Die neben den Tugenden der Seele noch herangezogenen Vorzüge des Körpers und der äußeren Umstände gelten durchweg als ergänzendes Material: Nicht die zufällig erworbenen Qualitäten an sich .sind Grund für Lob oder Tadel, sondern nur ihr entsprechender Gebrauch. Das geeignetste rhetorische Mittel in Lob- und Tadelreden ist anerkanntermaßen die Steigerung (αυξηαις/amplificatio). Allerdings können darunter verschiedene Dinge verstanden werden: Ob lediglich die wahren Sachverhalte durch Erwähnung der Umstände und durch Vergleiche als besonders wertvoll erwiesen werden (Aristoteles), oder ob im Interesse der rhetorischen Wirksamkeit auch erfundene Sachverhalte ins Feld geführt werden (Rhet. ad Alex.), sind die Extreme, zwischen denen sich die verschiedenen Theoretiker jeweils einordnen (fast alle freilich näher am ersten). Der Vergleich (Synkrisis) ist ursprünglich nur eines unter vielen Steigerungsmitteln, gewinnt aber im Kontext des kaiserzeitlichen Rhetorik-Unterrichts (»Progymnasmata') eigenes Gewicht (Theon).159 159 Ausführlicher wird die Geschichte des Vergleichs behandelt von FOCKE, Synkrisis (mit besonderem Interesse an Plutarch).

Beispiele epideiktischer Rhetorik

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Der Stil im γένος έπιδεικτικόν wird, wo sich Bemerkungen dazu finden (Aristoteles; Cicero, Part, or.), im Vergleich mit den anderen beiden Redegattungen als literarischer bzw. gehobener bezeichnet, was sich durch stärkere Verwendung der rhetorischen Schmuckmittel äußert.1® Diese Sicht findet sich implizit auch dort, wo der Gattungsname έπιδεικτικόν bzw. demonstrativum primär als .Schaustellung' der rednerischen Fähigkeiten (miß-)verstanden wird (Cicero, Orator; Quintilian). Was den Aufbau der epideiktischen Rede betrifft, so wird nach dem Redeeingang (Prooimion/exordium) zumeist ein biographischer Zugang zu der betreffenden Person empfohlen (Herkunft, Erziehung). Für den Hauptteil, in dem die Handlungen des Erwachsenen geschildert werden sollen, wird dann jedoch teils eine chronologisch, teils eine systematisch (an den einzelnen Tugenden) orientierte Anordnung bevorzugt. Berührungen ergeben sich schließlich sowohl zur Beratungsrede als auch zur gerichtlichen Rede: In der Beratungsrede wird empfohlen, was in der Lobrede gelobt wird; und eine Lobrede wiederum kann dem Redner versehentlich zur Apologie geraten.

b) Beispiele epideiktischer Rhetorik Die Anfänge der antiken Lobrede sind eng mit dem Redner Isokrates verbunden, der im Athen des vierten Jahrhunderts v. Chr. die bedeutendste Rhetorenschule unterhielt. Seine Rede auf den verstorbenen König Euagoras erhebt wohl zu Recht den Anspruch, das erste Prosa-Enkomion auf einen zeitgenössischen Menschen zu sein, und wurde für die weitere Entwicklung der Gattung maßgeblich. Es gab jedoch Vorläufer für diese Art der Lobrede: einerseits die in Athen zu Kriegszeiten übliche kollektive Grabrede auf die Gefallenen (επιτάφιος λόγος)1, andererseits die von Gorgias initiierten und von seinen Schülern weiter gepflegten Reden, die das Ziel verfolgen, schillernde Figuren aus der Sagenwelt zu rehabilitieren'. Auch der Gorgias-Schüler Isokrates hat solche Reden auf mythische Gestalten verfaßt - auf Helena und auf Busiris. Da er sich hier programmatisch zur Lobrede äußert und sich dabei

160 Zum Zusammenhang von gehobenem Stil und γ έ ν ο ς έπιδεικτικόν siehe ausführlicher unten Kap. ΠΙ. 1 b; zu den Mitteln des Redeschmucks auch oben Kap. I. 2. 1 Das stellt BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 74f, heraus. Unter den übrigen Reden des Isokrates zeigt besonders der .Panegyrikos' Einfluß des Epitaphs (vgl. bes. 2 8 - 9 9 bzw. 74-81). Siehe zu dieser Gattung auch oben Kap. Π. 2a, Anm. 106.

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dezidiert von seinen Vorgängern absetzt, sollten wir uns diesen frühen Reden des Isokrates zuerst zuwenden.2 Das Prooimion (§ 1 - 1 5 ) der .Helena' (or. 10) beginnt mit einer Polemik gegen Philosophen verschiedener Richtungen (1) und gegen sophistische Redner, die ihre rhetorischen Fähigkeiten auf nichtige und unemste Gegenstände verschwendeten ( 2 - 1 0 ) . Solche Art von Reden zu verfassen, ist laut Isokrates keine Kunst; viel schwieriger dagegen seien Reden über Themen von Wichtigkeit und allgemeinem Interesse ( 1 1 - 1 3 ) . Aus diesem Grunde ( δ ι ό ) lobt Isokrates nun einen Autor, der mit einer Rede auf Helena eine gute Stoffwahl getroffen habe, da diese Frau durch ihre Herkunft, ihre Schönheit und ihren Ruhm ( κ α ι τ ω γ έ ν ε ι κ α ι τ ω κ ά λ λ ε ι κ α ι τ η δ ό ξ η ) alle anderen weit übertreffe - nur die Ausführung sei jenem nicht so recht geglückt, denn er behaupte zwar, ein Enkomion auf sie verfaßt zu haben, tatsächlich aber sei es eine Apologie ( 1 4 ) . 3 Isokrates schließt noch eine kurze Belehrung über den Unterschied zwischen den beiden Gattungen an4 und leitet dann zum Corpus seiner Rede über: „Damit es aber nicht so aussieht, als würde ich es mir leicht machen und andere tadeln, ohne etwas Eigenes vorzuweisen ( έ π ι τ ι μ ά ν τ ο ι ς ά λ λ ο ι ς μ η δ έ ν έ π ι δ ε ι κ ν ύ ς τ ω ν έ μ α υ τ ο ΰ ) 5 , will ich versuchen, über dieselbe

2 Die chronologische Abfolge der beiden Reden ist nicht mehr rekonstruierbar; beide dürften aber aufgrund ihres programmatischen Auftretens an den Anfang der rednerischen Laufbahn des Isokrates gehören (d.h. ca. 390/385 v.Chr.). Vgl. dazu BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 45 f, Anm. 2, sowie die Diskussion in der Ausgabe von MATHIEU/BRÉMOND, Bd. 1,160.184f. 3 Zwar nennt Isokrates nicht den Namen seines Vorgängers (der den Hörern auf jeden Fall bekannt war, wie die Wendung τον γ ρ ά ψ α ν τ α περί της 'Ελένης zeigt); es dürfte sich jedoch hier um niemand Geringeren als um G o r g i a s handeln. Das zeigt besonders BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 54 ff, in einem minutiösen Vergleich zwischen der unter Gorgias' Namen überlieferten ,Helena' (FVS 82 [76] Β 11; Echtheit heute allgemein anerkannt) und der Rede des Isokrates: Nicht nur der Aufbau ist übernommen, sondern auch bis in einzelne Formulierungen hinein erweist sich die literarische Abhängigkeit. - Isokrates' Gattungskritik beruht allerdings auf einer Unterstellung, die die letzten Worte der Gorgias-Rede (έβουλήθην γ ρ ά ψ α ι τον λ ό γ ο ν Ε λ έ ν η ς μέν έγκώμιον, έμόν δέ π α ί γ ν ι ο ν ) aus ihrem Zusammenhang reißt. Liest man indes den ganzen Absatz (§ 21), so wird das erklärte Anliegen des Gorgias deutlich: Er habe mit seiner Rede eine Frau von der üblen Nachrede befreit und versucht, die Ungerechtigkeit der Schande und die Unwissenheit der allgemeinen Meinung zu beseitigen - ganz wie er es zu Beginn der Rede angekündigt habe (vgl. § 2). Gorgias wollte also die Beschuldigungen (Stichwort αιτία: § 2. 5. 6. 7. 8. 12. 15. 20) gegen Helena ausräumen, und dieses apologetische Anliegen wird auch die ganze Rede hindurch mit immer neuen Argumenten verfolgt. Der Schlußsatz kann mithin nicht als Gattungsbestimmung gemeint sein, sondern ist zu übersetzen: „Die Rede wollte ich schreiben zu Helenas Preis und meinem Spaß." - Vgl. ausführlicher zu Gorgias' .Helena' BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 2 7 - 3 8 . 4 Dieser Satz wird bei Theon, Progymnasmata I X , 8 4 - 8 6 BUTTS (= 1 1 2 , 1 1 - 1 3 SPENGEL) zitiert und ist in diesem Zusammenhang oben Kap. II. 2a, Anm. 120, angeführt. 5 Das Verb έπιδεικνύναι gehört zu den Lieblingswörtern des Isokrates (vgl. in der .Helena' noch 22 u. 60 sowie die weiteren Belege bei BURGESS, Epideictic Literature 97—102). Das zu-

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Frau zu reden, indem ich alles außer acht lasse, was von den anderen über sie gesagt worden ist (παραλύτων απαντα τά τοις άλλοις είρημένα)6." (15). In seiner eigenen Lobrede auf Helena beginnt Isokrates mit ihrer Herkunft von Zeus und Leda. Er stellt sie als Lieblingstochter des Zeus neben den Lieblingssohn Herakles, wobei die übernatürliche Kraft des einen und die übernatürliche Schönheit der anderen auch sprachlich als parallele Gaben des Vaters zum Ausdruck gebracht werden.7 Beiden habe Zeus ein Leben voller Kämpfe und Kriege, aber dafür auch ewigen Ruhm gegeben. Gleich in diesem ersten Absatz (16-17) finden sich die drei in der Einleitung (14) schon genannten Leitworte γένος, κάλλος und δόξα wieder. Das Motiv der Schönheit bestimmt den Fortgang der Rede: Theseus, ein bedeutender König und Sohn des Poseidon, sei ihr als erster erlegen, als sie noch nicht einmal in voller Blüte stand, und habe Helena gewaltsam nach Aphidna in Attika entführt (18-20). Hier taucht für Isokrates nun wieder die Gattungsfrage auf: Wäre der Entführer nur ein gewöhnlicher Mann gewesen, wäre es an dieser Stelle der Rede unklar, ob sie ein Lob der Helena oder eine Anklage des Theseus, ('Ελένης έπαινος η κατηγορία Θησέως) sei. Aber da es sich bei Theseus um einen Menschen ohne Fehl und Tadel gehandelt habe, sei es für den, der Helena loben will, das größte Argument (μεγίστη πίστις), wenn er aufzeigen (έπιδεικνύναι) könne, daß diejenigen, die sie liebten und bewunderten, selbst mehr Bewunderung verdienten als andere (21-22). Daher folgt jetzt ein längerer Abschnitt, der die Taten des Theseus rühmt, wobei

gehörige Substantiv έπίδειξις ist freilich bei Isokrates noch nicht im Sinne eines rhetorischen Genos (und damit auf die Lobrede beschränkt) zu veistehen, sondern bezeichnet im Gegensatz zum άγών eine Rede ohne ernsten Hintergrund, die vor allem dem Erweis der rednerischen Fähigkeiten dient (vgl. zu dieser Zweiteilung oben Kap. Π. 2a, Anm. 2). In diesem Sinne versteht sich Isokrates ausdrücklich nicht als Epideiktiker (gegen BURGESS, a.a.O. 102; vgl. die Distanzierungen Busiris 44; Philippos 17. 93, die entsprechende Vorwürfe durchschimmern lassen). Daß der Begriff έπίδειξις/έπιδεικτικόν auch wertneutral verstanden werden konnte, zeigt die Verwendung bei Aristoteles (siehe oben Kap. Π. 2a, Anm. 4, sowie zum ganzen BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 120-128). 6 Auch παραλιπεΐν stellt eines der isokrateischen Vorzugswörter dar; in der Regel ist damit die rhetorische Figur der παράλειψις (Rhet. ad Alex. 21, lf; Demetrios, De eloc. 263; vgl. auch Rhet. ad Her. IV 27,37 [occultatici] u. Quint. Inst. IX 2,47 [άντίφρασις]; in den modernen Nachschlagewerken wird die Figur meist als praeteritio bezeichnet) verbunden, bei der ein mehr oder weniger ausführlich angedeuteter Sachverhalt vom Redner ausdrücklich übergangen' wird (vgl. etwa Helena 30. 67; Euagoras 21. 73). - Was die vorliegende Stelle betrifft, so erweist sich die Ankündigung des παραλιπεΐν (wie auch der Plural τοίς άλλοις) ebenfalls als rhetorische Floskel; denn der Vergleich mit Gorgias' .Helena' (siehe BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 54-62) macht deutlich, daß Isokrates die Rede des Vorgängers ganz und gar nicht außer acht läßt, sondern ihr im Gegenteil auf Schritt und Tritt folgt, um sie an geeigneten Stellen durch Erweiterungen zu übertrumpfen. 7 Ein Satz aus diesem Abschnitt ist oben in Kap. I. 2, S. 29, als Beispiel für ,Parallelismus' (hier: antithetisches Isokolon) angeführt worden.

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Herakles wieder - diesmal ausführlicher - als Vergleich herangezogen wird (23-28). 8 Im vollen Bewußtsein, daß er den Rahmen seiner Rede bereits überschritten hat, macht Isokrates den ungeduldigeren unter seinen Hörern ein Zugeständnis, indem er verspricht, die zahlreichen noch zu erwähnenden Taten zu übergehen (παραλιπείν) (29-30). Er preist nun allerdings noch die Tugenden des Theseus - άνδρία, έπιστήμη, εύσέβεια und neben seiner übrigen αρετή noch σωφροσύνη, die sich besonders in seiner Verwaltung der Sta.dt gezeigt habe (31-37) - und kommt erst dann zum Ausgangspunkt der Abschweifung zurück: Helena, die so viel αρετή und σωφροσύνη besiegt habe, müsse gelobt und verehrt und gegenüber allen anderen Frauen als überlegen angesehen werden (38). Nach dem Tod des Theseus sei Helena nach Lakedaimon zurückgekehrt, nun im heiratsfähigen Alter; und alle Könige und Fürsten jener Zeit seien zur Brautwerbung herbeigekommen, obwohl sie in ihrer Heimat Frauen aus den vornehmsten Familien hätten heiraten können (39). Schon jetzt sei es klar gewesen, daß um Helena einmal kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden würden, und so hätten die Freier sich für den Fall einer gewaltsamen Entführung Helenas gegenseitig zur Hilfe für den rechtmäßigen Bräutigam verpflichtet (40). Daß dieser Fall schon kurz darauf tatsächlich eingetreten sei, ist nach Isokrates auf den Wettstreit der Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite zurückzuführen, die den Alexandras (= Paris), Sohn des Priamos, zum Richter über ihre Schönheit ernannten und ihm zur Belohnung Geschenke anboten: Hera die Herrschaft über ganz Asien, Athene den Sieg in allen Kriegen, Aphrodite aber die Ehe mit Helena. Da Alexandras, vom bloßen Anblick der Göttinnen überwältigt, seine Entscheidung nicht nach ihren körperlichen Vorzügen habe treffen können, sei er gezwungen (αναγκασθείς) gewesen, sein Urteil von den versprochenen Geschenken abhängig zu machen. So habe er die Verbindung mit Helena allem anderen vorgezogen - aber nicht, weil er dabei seine Lust (ηδονή) im Blick gehabt hätte, sondern weil er den bleibenden Wert dieses Geschenkes erkannt habe: Als Schwiegersohn des Zeus könnte er seinen Nachkommen ευγένεια als unvergängliches Erbe hinterlassen, während die ευτυχία der anderen Geschenke so vergänglich sei wie sein eigenes Leben (41-44). Isokrates stellt fest, daß manche den Alexandras schon für seine Entscheidung getadelt hätten (ήδη τινές έλοιδόρησαν αύτόν), und führt zu seiner Verteidigung an, daß er von den Göttinnen ja wegen seiner besonderen Kompetenz als Schönheitsrichter ausgewählt worden sei - wie hätte ausgerechnet er die Schönheit Helenas verachten können? (45-48) 9

8 Der Vergleich (Synkrisis) wird in der Theorie der Lobrede immer wieder als wichtiges Stilmittel hervorgehoben (siehe oben Kap. Π. 2 a passim). 9 In diesem Abschnitt der Rede verfällt Isokrates selbst in eine απολογία - allerdings nicht in bezug auf Helena.

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Aber auch die weiteren Ereignisse bestätigen für Isokrates die Bedeutung der Helena, denn, so fragt er: Welcher Mann hätte die Ehe mit einer Frau verschmäht, deren Entführung Griechen und Barbaren, ja selbst die Götter in den größten Krieg aller Zeiten gestürzt habe? (49-53) So folgt ein Lobpreis der Schönheit und ihrer Macht: Sie sei allen anderen menschlichen Eigenschaften überlegen (54-58), und selbst Zeus, der Herrscher über alle Dinge (Ζευς ό κρατών πάντων), nähere sich der Schönheit nur in niedriger Gestalt (προς δε τό κάλλος ταπεινός γιγνόμενος άξιοι πλησιάζειν) - als Amphitryon bei Alkmene, als Goldregen bei Danae, als Schwan bei Nemesis und Leda (59). An vielen der Unsterblichen ließe sich aufzeigen (έπιδεικνύναι), daß sie menschlicher Schönheit erlegen seien; aber keiner von ihnen suchte dies wie eine Schande zu verschweigen, sondern sie wollten, daß es in Hymnen als schöne Taten besungen werde (ώς κάλων όντων των πεπραγμένων ύμνεΐσθαι). Und schließlich seien mehr Menschen aufgrund ihrer Schönheit unsterblich geworden als aufgrund aller anderen άρεταί (60). Helena habe auch hierin alle anderen übertroffen, da sie nicht nur Unsterblichkeit (αθανασία)', sondern auch göttergleiche Macht (δύναμις ίσόθεος) erlangt habe. Durch diese habe sie zuerst ihre Brüder (Castor und Pollux) zu göttlichem Rang erhoben und als Sterne an den Himmel gesetzt, dann Menelaos für das ihretwegen Erlittene und den Untergang seines Geschlechts entschädigt und als Gott für immer an ihre Seite geholt (61-63). Auch an dem Dichter Stesichoros habe sie ihre δύναμις demonstriert: Als dieser in einer Ode über sie gelästert hatte, verlor er sein Augenlicht; nachdem er jedoch die Ursache erkannt und einen .Widerruf (παλινωδία) verfaßt hatte, habe sie ihn völlig wiederhergestellt (64).10 Einige Homeriden behaupteten sogar, daß sie die Abfassung der ,Ilias' in einer nächtlichen Erscheinung bei Homer angeregt habe (65). Da also Helena die Macht habe, Gericht zu halten und Gunst zu gewähren, müsse sie von den Menschen auch wie eine Göttin verehrt werden (66).

Isokrates beendet seine Rede mit einem Hinweis auf die vielen hier übergangenen Dinge (παραλελειμμένα) - etwa Helenas Verdienst um die Einigung Griechenlands11 - und ermuntert andere Redner, es sei noch genügend Stoff für weitere Lobreden auf Helena vorhanden (67-69). Gemessen am vorgeblichen Anspruch, nur über würdevolle und ernsthafte Dinge zu reden (vgl. 11-13), ist das Ergebnis recht mager: Abgesehen von der Darstellung des idealen Politikers am Beispiel des Theseus (32-37) und vielleicht noch dem .philosophischen' Lob der Schönheit (54-60) gibt die Themenwahl kaum etwas der vollmundigen Ankündigung Entsprechendes her auch die am Ende eher beiläufig geäußerte Wertung, daß Griechenland nur

10 Vgl. Piaton, Phaidros 243a-b, wo auch ein Stück aus der παλινωδία zitiert wird. 11 Der Spitzensatz lautet hier: „Wir dürfen wohl zu Recht der Meinung sein, daß Helena auch dafür die Ursache (αιτία) ist, daß wir nicht die Sklaven der Barbaren sind."

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dank Helena und dem Trojanischen Krieg der Versklavung durch die Barbaren entgangen sei (67), ist wohl schwerlich ernst gemeint. So erweisen sich die Ankündigungen im Redeeingang als rhetorische Floskeln mit dem einzigen Zweck, die anderen Redner (und Philosophen, vgl. 1) abzuwerten, um selbst um so glänzender dazustehen. In diesem Bemühen des Isokrates, alle anderen Redner zu übertreffen, dürfte das eigentliche Ziel seiner .Helena' liegen.12 Er erreicht es über die Schaffung einer neuen Form der Rede: eines Enkomions, das sich insofern deutlich von der Apologie unterscheidet (vgl. 14f), als darin alles Negative weggelassen und möglichst viel an Positivem zusammengetragen wird.13 Dieser Grundsatz findet sich als explizite Forderung in der nun zu betrachtenden Rede auf den mythischen König Busiris. Auch in seinem JBusiris' (or. 11) setzt sich Isokrates kritisch mit einem Vorgänger auseinander - hier ist es der sophistische Redner Polykrates, der neben einer berühmt-berüchtigten κατηγορία Σωκράτους eine απολογία Βουσίριδος verfaßt hatte.14 Isokrates hat beide Schriften gelesen (vgl. §4) und nimmt gegenüber dem älteren Kollegen (vgl. § 50), der ihm persönlich unbekannt ist (vgl. 2), nun die Position des schulmeisterlichen Ratgebers ein (1-3): In beiden Reden habe Polykrates das Thema verfehlt, denn jeder wisse doch, daß man den Personen, die man loben wolle, mehr gute Eigenschaften beilegen müsse als sie besitzen, und bei denen, die man anklagen wolle, das Gegenteil15 (4). Während jedoch die üblichen Darstellungen von Busiris' Grausamkeit sich mit dem Vorwurf begnügten, er habe die ins Land gekommenen Fremden geopfert, beschuldige Polykrates ihn sogar, er habe sie gegessen. Auf der anderen Seite lege er dem Sokrates, als wolle er ihn preisen (έγκωμιάσαι)

12 BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 43-45 (vgl. 50. 62. 68), stellt den ,,maßlose[n] Ehrgeiz" des Isokrates als eine entscheidende Voraussetzung für das Entstehen seiner Lobreden heraus. 13 So erklärt sich der der lange Exkurs über Theseus aus der Absicht, daß das Lob seiner großen Taten auf Helena .abfärben' soll; von Helena selbst sind zu Lebzeiten anscheinend keine (lobenswerten) Taten zu berichten, so daß die eigentliche Hauptperson über weite Teile der Rede die Rolle einer Statistin hat, deren einziges Attribut ihre Schönheit ist. Auf der anderen Seite wird die Ehe der Helena mit Menelaos - sicher bewußt - verschwiegen, offenbar um den Vorwurf des Ehebruchs auszuschließen; die beiläufige Erwähnung des Menelaos (51. 62) zeigt, daß diese Ehe als bekannt vorausgesetzt wird. 14 Beide Reden waren wohl wie die Lobreden desselben Verfassers auf kuriose Gegenstände (u.a. Töpfe und Stimmsteinchen; vgl. oben Kap. II. 2a, Anm. 128) als παίγνια - scherzhafte Reden - gemeint; die Anklagerede gegen Sokrates hat indes so viele Reaktionen ausgelöst, daß sie, obwohl nicht erhalten, aus den Gegenreden noch weitgehend rekonstruiert werden kann. Vgl. dazu DREYER, KP IV (1972), 1006. 15 απάντων γαρ είδότων oti δει τους μέν εύλογεΐν τινάς βουλομενους πλείω των υπαρχόντων αγαθών αύτοΐς προσόντ' άποφαίνειν, τους δέ κατηγοροϋντας τάναντία τούτων ποιεΐν. - Diese Ansicht ist in der .Rhetorik an Alexander' 3,1 (vgl. oben Kap. Π. 2a, Anm. 37) in die Lobredentheorie übernommen worden.

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statt anklagen, fälschlich noch den hervorragenden Alkibiades16 als Schüler zu (5). So könnte sich Sokrates über die .Anklage' mehr freuen als über jedes Lob, und Busiris, selbst wenn er der sanftmütigste Gastgeber gewesen wäre, würde durch die Rede des Polykrates wahrscheinlich dermaßen in Rage geraten, daß er tatsächlich vor keiner Rache zurückschrecken würde (6). Isokrates kritisiert noch ein paar kleinere Nachlässigkeiten des Polykrates (7-8) und beschließt dann das Prooimion: „Damit es aber nicht so aussieht, als würde ich das Einfachste tun und andere Reden angreifen, ohne etwas Eigenes vorzuweisen17, will ich versuchen, dir mit kurzen Worten am selben Gegenstand zu zeigen (δηλωσαι περί την co)την ύπόθεσιν) - wenn er auch nicht ernsthaft (σπουδαίος) ist und keine würdevollen Gedanken (σεμνοί λόγοι) enthält18 - , aus welchen Elementen man sowohl das Lob als auch die Verteidigung anfertigen müßte (έξ ών εδει και τον επαινον και την άπολογίαν ποιήσασθαι)" (9)· So beginnt Isokrates' eigentliche Lobrede auf Busiris mit dessen ευγένεια: Sein Vater sei Poseidon gewesen; seine Mutter Libye (eine Enkelin des Zeus) sei, wie es heiße, die erste Frau gewesen, die als Königin regiert und ihr Land nach sich selbst benannt habe. Busiris aber habe sich auf diese großen Vorfahren (πρόγονοι) nichts eingebildet, sondern danach gestrebt, ein für alle Zeiten bleibendes Denkmal seiner eigenen αρετή zu hinterlassen (10). Da ihm das kleine Reich seiner Mutter für seine Natur (φύσις) nicht angemessen erschienen sei, habe er nach mehreren Siegen und dem Erwerben der größten Macht (μεγίστη δύναμις) in Ägypten seine βασιλεία eingerichtet (11). Die Feststellung, daß Busiris dieses Land allen anderen vorgezogen habe (11), gibt Isokrates Gelegenheit zu einem Lobpreis der Schönheit und Fruchtbarkeit Ägyptens (12-14). Nachdem Busiris also den κάλλιστος τόπος in Besitz genommen und damit seinen eigenen Leuten auch ausreichende Nahrung verschafft habe, sei er darangegangen, alle Bewohner in Klassen einzuteilen: einige für das Priestertum, andere für Kunst und Handwerk (τέχναι), wieder andere für den Krieg; und im Interesse des größten Gemeinwohls habe niemand die Tätigkeit wechseln dürfen (15-16). Diese Staatsordnung habe den Beifall der Philosophen gefunden19 und sei in einigen Zügen von den Lakedaimoniern nachgeahmt 16 Zu Alkibiades vgl. den erhaltenen (vielleicht überarbeiteten) Teil der Verteidigungsrede, die Isokrates ca. 396 v. Chr. für dessen Sohn geschrieben hatte (or. 16: Περί του ζεύγους); innerhalb dieser Rede werden Alkibiades und seine Taten zugunsten Athens in 1 2 - 2 1 und besonders in 2 5 - 4 2 gelobt. 17 Diese Formulierung findet sich fast wörtlich in Helena 15. 18 Ernsthaftigkeit und Würde werden auch in Helena 11 beschworen (το σεμνυνεσθαι . . . και το σπουδάζειν), dort aber dem gewählten Redegegenstand gerade nicht abgesprochen (vgl. 14). Hängt das mit der Person des Gorgias zusammen, den Isokrates nicht einer so radikalen Kritik unterziehen konnte? Vgl. dazu BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 62. 19 Hierfür könnte Piatons .Politeia' als Beispiel angeführt werden.

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worden - allerdings zeige der direkte Vergleich, daß diese das Berufssoldatentum für imperialistische Zwecke mißbrauchten, während die Ägypter sich nur für die Verteidigung ihres eigenen Landes gerüstet hätten (17-20)20. Auch die Pflege des geistigen Lebens (ή περί την φρόνησιν επιμέλεια) könne Busiris zugeschrieben werden: Er habe schließlich den Priestern ihren Lebensunterhalt (εύπορία) aus den Tempeleinkünften, Besonnenheit (σωφροσύνη) durch vorgeschriebene Reinigungsriten und Muße (σχολή) durch Befreiung von Kriegs- und Arbeitspflicht verschafft; und aufgrund dieser günstigen Lebensbedingungen hätten einige von ihnen die Heilkunst erfunden, andere das Philosophieren eingeführt (21-22).21 Den Älteren habe Busiris die wichtigsten Angelegenheiten anvertraut, die Jüngeren dazu angeregt, sich mit Astrologie, Rechenkunst und Geometrie zu beschäftigen - Künste, die von den einen wegen ihrer Nützlichkeit, von den anderen wegen ihres erheblichen Beitrags zur Erlangung von άρετή gelobt würden (23). Am meisten Lob und Bewunderung verdienten jedoch die Frömmigkeit und Götterverehrung der Ägypter22: Ein Eid habe bei ihnen mehr Verbindlichkeit als anderswo, und jeder glaube daran, daß die Strafe für ein Vergehen unverzüglich folge und nicht erst später oder gar an den Kindern vergolten werde (24-25). Dazu hätten sie allerdings auch guten Grund; denn Busiris habe eine Vielzahl von religiösen Übungen gesetzlich angeordnet, darunter auch die Verehrung von bestimmten Tieren, die bei den Griechen verachtet würden; damit habe er einerseits das Volk daran gewöhnt, den Anordnungen der Herrschenden unbedingt Folge zu leisten, und andererseits ein Mittel der Kontrolle zur Hand gehabt - denn am Verhalten in bezug auf sichtbare oder geringfügige Dinge könne auch die Einstellung gegenüber den unsichtbaren oder wichtigeren Dingen abgelesen werden (26 -27). Vieles und Wunderbares über die Frömmigkeit (όσιότης) der Ägypter könnte Isokrates noch erzählen, wenn er sich nicht selbst zur Eile gedrängt hätte; allerdings wäre er auf diesem Gebiet weder der erste noch der einzige, sondern viele hätten schon davon berichtet - darunter auch Pythagoras von Samos. Der23 habe auf einer Reise

20 Die Synkrisis zwischen den beiden Völkern beendet Isokrates mit dem Motiv der Nachahmung und ihrer Konsequenzen: Wenn alle die Trägheit und Habsucht der Lakedaimonier nachahmten, würde das zu Hungersnot und Bürgerkrieg führen, die Übernahme der ägyptischen νόμοι dagegen würde ein glückseliges Leben zur Folge haben (20). 21 Diese beiden Künste werden antithetisch auf σώμα und ψυχή verteilt. Die von den Heilkundigen gefundenen Arzneien (φάρμακα) seien sogar .ohne Risiken und Nebenwirkungen' gewesen, so daß jene anerkanntermaßen als die gesündesten und langlebigsten Menschen gegolten hätten (22). 22 Μάλιστα δ' άξιον έπαινεΐν και θαυμάξειν την εύσεβειαν αύτών και τήν περί τούς θεούς θεραπείαν (24). 23 Da das nun folgende Lob des berühmten Philosophen Pythagoras relativisch angeschlossen ist und mit zwei Partizipien beginnt, möchte ich im Blick auf die epideiktischen Passagen im Neuen Testament (bes. Phil 2,5.6) den Übergang etwas ausführlicher zitieren: ουτε μόνος οϋτε

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nach Ägypten bei den Einheimischen gelernt und diese fremde Philosophie als erster zu den Griechen gebracht; wegen seines ernsthaften religiösen Bemühens habe er alle anderen Lehrer in der ευδοξία so sehr übertroffen, daß alle jungen Männer (οί νεώτεροι άπαντες) seine Schüler sein wollten und die älteren ihre Söhne lieber bei ihm als bei den einheimischen Lehrern gesehen hätten. Diesen müsse man Glauben schenken; denn noch jetzt würden die, die sich als Schüler des Pythagoras bezeichneten, selbst wenn sie schwiegen, mehr bewundert als die mit dem größten Ruhm im Reden24 (28-29). Damit ist das Muster-Enkomion auf Busiris zu Ende, und Isokrates kommt noch einmal auf seine Auseinandersetzung mit Polykrates zurück: Sollte dieser nun einwenden, Isokrates lobe zwar das Land, seine Gesetze und seine Frömmigkeit, ja sogar seine Philosophie, könne aber keinen Beweis erbringen, daß tatsächlich Busiris der Urheber all dessen sei, so würde Isokrates antworten, daß gerade Polykrates zu dieser Art von Kritik keinerlei Recht beanspruchen könne (30). Denn der habe ja in seinem Versuch, Busiris zu loben (εύλογεΐν), behauptet, daß dieser den Nil umgeleitet sowie die ins Land gekommenen Fremden als Opfer geschlachtet und gegessen hätte, und habe dafür ebenfalls keinen Beweis erbracht (31). Die Glaubwürdigkeit sei aber auf Seiten des Isokrates; denn νόμοι und πολιτεία seien „Taten von edlen und guten Männern" (πράξεις των ανδρών τών καλών κάγαθών), während das, was Polykrates dem Busiris zuschreibe, eher zur Grausamkeit der Tiere bzw. zur Macht der Götter passe (32). Sollten aber tatsächlich beide die Unwahrheit über Busiris gesagt haben (ψευδή λέγοντες), dann hätte doch Isokrates wenigstens nur solche λόγοι verwendet, die für Lobredner (έπαινοΰντες) angebracht seien, Polykrates aber solche, die sich für Schmähredner (λοιδοροϋντες) gehörten. Somit habe letzterer sich nicht nur gegen die Wahrheit (αλήθεια) verfehlt, sondern auch gegen das Ideal der Eulogie (33). Den Rest der Rede nutzt Isokrates dafür, noch einmal sich selbst und seine Rede, an der nach seiner Meinung kein Kritiker etwas aussetzen könnte, ins rechte Licht zu rücken (34-35) und Polykrates noch einen weiteren Stoß zu versetzen: Die Quellen über Busiris widersprächen sich doch gegenseitig in chronologischen Details; das hätte sich ein tüchtiger Verteidigungsredner nicht entgehen lassen dürfen (36-37). Aber Polykrates sei es ja nicht um die Wahrheit gegangen, sondern er sei unkritisch den βλασφημίαι der Dichter gefolgt - die hätten jedoch alle ihre Strafe von den Göttern erhalten, so daß es nicht ratsam sei, ihre Worte nachzuahmen (38-40). Isokrates glaube, daß die

πρώτος έγώ τυγχάνω καθεωρακώς, ά λ λ α πολλοί . . . , ών και Πυθαγόρας ό Σάμιός έστιν· ο ς ά φ ι κ ό μ ε ν ο ς εις Αϊγυπτον και μαθητής έκείνων γ ε ν ό μ ε ν ο ς την τ' αλλην φιλοσοφίαν πρώτος εις τους "Ελληνας έκόμισε. - Stünde dieser Satz im Neuen Testament, wäre hier sicher längst ein .Hymnus' vermutet worden . . . 24 Dies ist natürlich eine zusätzliche Spitze gegen Polykrates, der sicher eine επί τω λέγειν μεγίστη δόξα für sich in Anspruch nahm.

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Götter und ihre Kinder niemals an etwas Schlechtem teilhaben könnten, sondern, von Natur aus mit allen άρεταί ausgestattet, Führer und Lehrer der Menschheit seien; Polykrates dagegen, der doch selbst seine Schüler zu besseren Menschen erziehen wolle, traue dies den Göttern bei ihren eigenen Kindern nicht zu und unterstelle ihnen somit entweder mangelndes moralisches Bewußtsein oder mangelnde Macht (41-43). Der Schlußteil greift auf die Ankündigung zurück (vgl. 9): Isokrates könnte noch vieles darüber sagen, wie man sowohl das Lob als auch die Verteidigung verlängern könnte, aber er halte es nicht für nötig, noch länger zu reden - er wolle ja nicht den anderen eine Demonstration seiner Redekunst (επίδειξις) geben, sondern dem Polykrates zeigen (ύποδείξαι), wie man es machen müsse; dessen Rede sei jedenfalls keine Verteidigung für Busiris (απολογία ύπέρ Βουσίριδος), sondern eine Zustimmung (ομολογία), daß die Vorwürfe zu Recht erhoben würden (44). Wenn Polykrates in seiner Rede ins Feld führe, solche Taten seien auch von anderen schon begangen worden, dann sei dieses Argument alles andere als überzeugend: Er brauche sich nur einmal vorzustellen, jemand würde ihn selbst vor Gericht auf diese Weise gegen schwere Anklagen verteidigen oder einer seiner Schüler würde durch die in der Rede gelobten Dinge zur Nachahmung angeregt (45 -47). Aber vielleicht habe Polykrates nur den Philosophen ein Beispiel geben wollen, wie man für schändliche Anklagen und schwierige Fälle die Verteidigungsreden gestalten müsse dagegen wendet Isokrates ein, daß ein Angeklagter eher durch Schweigen einen Freispruch erhoffen dürfte als durch solche Verteidigungsreden, die noch dazu die Philosophie25 in Verruf brächten (48-49). So sollte Polykrates in Zukunft am besten keine solchen Themen mehr behandeln - oder höchstens so, daß er weder seinen eigenen Ruf damit schädige noch seine Nachahmer ins Verderben stürze noch dem Ansehen der Schul-Rhetorik (ή περί τους λόγους παίδευσις) schade (49). Und im übrigen dürfe er die Kritik des jüngeren, ihm unbekannten Isokrates ruhig annehmen, da das Ratgeben (συμβουλεύειν) nicht die Aufgabe der Ältesten oder der Vertrautesten sei, sondern derer, die am meisten wissen und bereit sind, andere zu fördern (50). So zeigt sich, daß es Isokrates auch in dieser Rede vor allem darum geht, als der Beste dazustehen. Er will den älteren und bereits bekannten Kollegen ausstechen, indem er ihm eine öffentliche Belehrung zuteil werden läßt. Dies gelingt ihm jedoch nur mit einem Trick: Polykrates hatte seine Rede als „Verteidigung (απολογία) des Busiris" bezeichnet (vgl. 4. 5. 44. 46. 48) und konnte die Nennung der Anklagepunkte schwerlich übergehen - stattdessen hat er die Vorwürfe sogar noch ins Unermeßliche gesteigert (Menschenfresserei!), wohl um sich als besonders geschickten Verteidiger zu erweisen. Isokrates tut aber so, als hätte Polykrates eine Lobrede des Busiris beabsichtigt (εύλογεΐν: 4. 25 Mit .Philosophen' und .Philosophie' meint Isokrates offenbar die sophistische Schul-Rhetorik, die er in 49 im Rahmen einer abschließenden Wiederholung erwähnt.

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31. 33. 47; έγκωμιάσαι: 5. 6; επαινος/έπαινεΐν: 9. 33. 44). Wenn er deren Durchführung nun heftig kritisiert - insbesondere, daß Polykrates auch Negatives über Busiris erwähnt - , hat er leichtes Spiel, da er von unzutreffenden Voraussetzungen ausgeht. Zudem fordert er die Befolgung von Gesetzen einer Gattung, die es so noch gar nicht gibt: Das Enkomion als reine Lobrede unter Weglassung alles Negativen hat Isokrates mit seinem ,Busiris' und seiner Helena' erst geschaffen. Dabei handelt es sich beim 3usiris' freilich insgesamt nicht um eine Lobrede, sondern um eine Beratungsrede an Polykrates (vgl. das Stichwort συμβουλευειν in 3 und 50), die in 10-29 das Musterbeispiel einer isokrateischen Lobrede enthält.26 Beratende bzw. mahnende Elemente enthält auch die erste Lobrede auf eine zeitgenössische historische Persönlichkeit: den König Euagoras von Salamis (Cypern). Die Rede auf den toten König (or. 9) richtet sich an dessen Sohn Nikokles, der für seinen verstorbenen Vater eine prächtige Gedenkfeier mit Tanz, Musik und sportlichen Wettkämpfen ausgerichtet hatte (l).27 Isokrates, ein Freund des Toten und Lehrer des Nikokles, meint, daß Euagoras die Ehrungen sicher wohlwollend entgegennehmen würde, aber noch viel dankbarer wäre, wenn jemand über seine Tätigkeiten und seine gefahrvollen Unternehmungen in würdiger Weise Bericht erstatten könnte (2). Ehrgeizige und großgesinnte Männer strebten nämlich einen Ruhm an, der ihr Leben überdauert (3); und eine gut ausgeführte Rede könne bewirken, daß die Tugend eines Mannes wie Euagoras der Menschheit ewig in Erinnerung (αείμνηστος) bleibe (4).28 Damit hat Isokrates sein Vorhaben bereits angedeutet; er kommt nun jedoch erst noch einmal auf die Konkurrenz zu sprechen: Eigentlich hätten 26 Nach Busiris 2 muß man vielleicht genauer sagen: eine Beratungsrede in Briefform. Aber die Aussage des Isokrates, er wolle seine guten Ratschläge lieber brieflich erteilen (έπιστεΐλαι), um sie so gut es gehe vor den anderen zu verbergen (άποκρύψασθαι), ist wohl nicht ganz ernst zu nehmen und dient eher dazu, Polykrates noch mehr zu demütigen. Die ganze Anlage der Rede erweckt vielmehr den Eindruck, daß Isokrates sie als Lehrstück für seinen Schulbetrieb benutzt hat. Allerdings muß sich beides auch nicht widersprechen, wie ein Blick auf den ,Philippos' (or. S) zeigt: Auch hier macht sich Isokrates mit einer als Brief übersandten Rede (an den König Philipp von Makedonien) unaufgefordert zum Ratgeber, und nach § 7 - 2 3 hat er nicht nur sein Vorhaben mit seinen Schülern besprochen (die entsetzt reagiert hätten), sondern ihnen auch die fertige Rede vorgelesen (worauf sie ihre eiste Reaktion bereut und ihn inständig um die sofortige Absendung der Rede gebeten hätten). 27 Euagoras' Tod (vgl. unten Anm. 36) fällt in das Jahr 374/373 v. Chr.; die Rede des Isokrates ist wahrscheinlich nicht allzu lange danach entstanden (vgl. BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 45 f, Anm. 2; eine spätere Datierung aufgrund von § 73 der Rede vertreten MATHIEU/BRÉMOND in ihrer Ausgabe, Bd. Π, 142). 28 Der mahnende Charakter der Einleitung, der am Ende (73-81) noch einmal aufgegriffen wird, läßt darauf schließen, daß die Rede nicht, wie einige Forscher meinen, von Nikokles bestellt worden ist (das wäre dann wohl auch erwähnt worden), sondern auf eigene Initiative des Isokrates entstanden ist (vgl. die Diskussion bei BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 65—68).

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auch die anderen Redner (οί άλλοι)29 schon die άνδρες αγαθοί ihrer Tage loben (έπαινείν) müssen, um die Jugend zum Streben nach der Tugend zu animieren (5). Daß dies bisher nicht geschehen sei, führt Isokrates auf den Neid der Zeitgenossen zurück (6).30 Aber von solch niederen Gefühlen dürften sich Leute mit Verstand (οί νουν εχοντες) nicht abschrecken lassen, denn nur durch Mut sei Fortschritt möglich (7). So ist sich Isokrates der Schwierigkeit der vor ihm liegenden Aufgabe - die Tugend eines Mannes durch eine ProsaRede zu preisen - sehr wohl bewußt31; und er hat Verständnis dafür, daß dies vor ihm noch niemand gewagt habe - denn die Dichter hätten es ja so viel einfacher, da ihnen eine Vielzahl an Schmuckmitteln (πολλοί κόσμοι) zur Verfügung stehe: Sie könnten die Götter mit ihren Helden verkehren lassen (als Gesprächspartner oder Mitstreiter), und sie könnten ihrer Dichtung durch fremdartige, neugeprägte oder metaphorische Ausdrücke32 Buntheit verleihen ( 8 - 9 ) . Dies alles sei den Verfassern von Prosa-Reden (οί περί τους λόγους) verwehrt; sie dürften nur gängige Ausdrücke benutzen und müßten sich auf die Fakten beschränken. Dazu komme noch die Gestaltung der Poesie durch Metren und Rhythmen (μετά μέτρων και ρυθμών), an der die Redner ebenfalls keinen Anteil hätten; damit könnten die Dichter selbst bei gedanklicher Armut ihre Hörer mitreißen. Aber obwohl die Poesie dermaßen im Vorteil sei, dürfe der Redner nicht verzagen, sondern müsse den Versuch machen, ob es in Prosa möglich sei, die trefflichen Männer nicht schlechter zu preisen (εύλογεΐν) als die Enkomiendichter mit ihren Liedern und Metren (οί έν ταΐς ώδαΐς και τοις μετροις έγκωμιάζοντες) (10-11). 3 3 Das nun durchgeführte Lob des Euagoras beginnt mit seiner Herkunft und Art34, wobei Isokrates es sich nicht entgehen läßt, einige der edelsten Halbgötter, nämlich Söhne des Zeus, in der Familiengeschichte des königlichen Geschlechts von Salamis unterzubringen (12-18). Dieses Geschlecht war indes von einem phoinikischen Flüchtling entmachtet worden, dessen Nachkommen die Herrschaft innehatten, als Euagoras geboren wurde (19-21). Die Orakel und Traumgesichte, durch die seine Geburt als übermenschlich erscheine, will Isokrates übergehen (παραλιπείν) - nicht, weil er diesen Berich29 Vgl. zu dieser pauschalen Abgrenzung Helena 15. 30 Historisch gesehen dürften vor allem zwei geistesgeschichtliche Voraussetzungen zum Tragen gekommen sein, die erst in der Zeit des Isokrates Lobreden auf Zeitgenossen ermöglichten: Das Hervortreten der Einzelpersönlichkeit und die Entwertung des Mythos (siehe dazu ausführlich BUCHHEIT, Genos Epideiktikon 6 8 - 7 4 ) . 31 Οιδα μεν ouv δτι χαλεπόν έστιν ο μέλλω ποιεΐν, ανδρός άρετήν δια λόγων έγκωμιάζειν (8). 32 όνόμασιν . . . τα μεν ξένοις, τα δε καινοΐς, τά δε μεταφοραΐς (9). In der antiken Stiltheorie wird eine stärkere Verwendung dieser in der Dichtung beheimateten Schmuckmittel für die gehobene' Stilart zugestanden; vgl. dazu ausführlich unten Kap. ΙΠ. 1 b. 33 Zur Unterscheidung von Poesie und Prosa vgl. ausführlicher oben Kap. 1.1. 34 Πρώτον μεν ουν περί της φύσεως της Εύαγόρου, κφ. τίνων rjv απόγονος (12).

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ten mißtraute, sondern um sich ganz auf die allgemein anerkannten Fakten (τά όμολογούμενα) zu stützen (21). Als Knabe (παις) habe Euagoras bereits die für dieses Alter angemessensten αγαθά besessen, nämlich Schönheit (κάλλος), Stärke (ρώμη) und Besonnenheit (σωφροσύνη); dies könne von vielen Zeugen (μάρτυρες) bestätigt werden (22). Als er ein Mann geworden war (άνδρί δε γενομένω), seien zu diesen Eigenschaften noch Tapferkeit (άνδρία), Weisheit (σοφία) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) hinzugekommen; alle seine άρεταί - sowohl die des Körpers als auch die der Seele - hätten ein solches Ausmaß angenommen, daß die damaligen Könige einerseits um ihre Macht fürchteten, andererseits im Blick auf seine Charakterzüge von ihm eher Hilfe als Unrecht erwarteten (23-24). Und tatsächlich hätte die Gottheit (ό δαίμων) vorgesehen, daß Euagoras auf edle Art (καλώς) zur Königsherrschaft gelange, indem alle vorbereitenden Handlungen, die mit ασέβεια verbunden seien, von jemand anderem begangen wurden und Euagoras die Herrschaft auf fromme und gerechte Weise (όσίως και δικαίως) übernehmen konnte: Einer der Fürsten tötete den Tyrannen und wollte Euagoras als potentiellen Konkurrenten gefangensetzen; dieser aber entkam nach Soloi, steigerte sich im Exil zu wahrer Seelengröße (μεγαλοφροσύνη) und konnte etwa fünfzig der besten Männer um sich scharen, mit denen er den Freunden in Salamis zur Hilfe kam, die Feinde bestrafte und sich selbst zum τύραννος der Stadt machte (25-32). Isokrates meint, daß die Tugend des Euagoras und die Größe seiner Taten schon aus dem bisher Gesagten leicht zu erkennen seien, aber durch das, was noch komme, noch klarer zutage treten werde (33). Denn von allen Herrschern der Geschichte gebe es keinen, der seine Würde (τιμή) auf edlere Weise erworben habe. Da man ihn jedoch nicht mit jedem einzelnen von ihnen vergleichen (παραβάλλειν) könne, sollten nur die Angesehensten von ihnen für diese Betrachtung ausgewählt werden (34). Diese fänden sich zweifellos bei den Dichtern (wenn auch neben historischen auch erfundene Gestalten); aber keiner unter ihnen berichte von einem Thronerben, der unter so gewaltigen und fürchterlichen Gefahren das Königreich seiner Väter zurückerobert habe - vielmehr seien hier Glück (τύχη) oder Betrug und List (δόλος και τέχνη) ausschlaggebend (35-36). Von den geschichtlichen Herrschern sei Kyros der am meisten bewunderte; auch hier falle der Vergleich zu Euagoras' Gunsten aus, denn neben der Größe der Erfolge müsse auch die Tugend (in diesem Falle besonders die bei Kyros nicht sehr ausgeprägte Frömmigkeit und Gerechtigkeit) beachtet werden (37-38). Kurz: Niemand, ob Sterblicher, ob Halbgott, ob Unsterblicher, könne gefunden werden, der seine Königsherrschaft auf edlere, herrlichere oder frommere Weise erlangt hätte (39). Ja, Isokrates steigert sich zu der aus den Hymnen geläufigen rhetorischen Frage: „Wer könnte ihn - sei es ein Dichter, sei es ein Verfasser von Reden - so loben, wie es seiner Taten würdig wäre?"35 (40).

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Die Ausübung der Königsherrschaft durch Euagoras bringt nach Isokrates' Darstellung noch weitere Tugenden ans Licht: Obwohl von Natur aus mit Intelligenz und der Fähigkeit zum erfolgreichen Handeln gesegnet, habe er doch nie etwas unbedacht getan, sondern die meiste Zeit mit Untersuchen, Nachdenken und Überlegen verbracht; diese Pflege der eigenen φρόνησις sei auch seinem Königreich zugute gekommen, da er jede Entscheidung nach eigener Kenntnis der Sachlage getroffen habe (41-42). Alle Eigenschaften, die man von einem guten König wünschen könne, habe Euagoras in sich vereint: Er habe götter- und menschenfreundlich (θεοφιλως καί φιλάνθρωπος) die Polis regiert, niemals jemandem Unrecht getan, stets den Rat von Freunden gesucht, allen durch seine Taten Respekt eingeflößt und von allen Regierungsformen jeweils das Beste übernommen (43 -46). Seiner Führung sei es zu verdanken, daß Salamis von der Barbarei zur Kultur gelangt sei und die vormals fremdenfeindlichen und grausamen Einwohner sich zu ausgesprochenen Philhellenen (φιλέλληνες) entwickelt hätten (47-50). So sei Cypern auch zur neuen Heimat für viele edle und gute (καλοί κάγαθοί) Griechen geworden; ein Beispiel sei der wegen seiner vielen άρεταί besonders hervorragende Konon, der nach einer Niederlage der athenischen Flotte gegen die Lakedaimonier bei Euagoras Asyl suchte, gleich mit ihm Freundschaft Schloß und schon bald mit seiner Unterstützung eine persische Flotte zum Sieg über die lakedaimonische Besatzungsmacht (und zur Befreiung Griechenlands) anführte (51-57). Der persische König allerdings habe die Dankbarkeit der Griechen gegen Euagoras nicht geteilt, sondern ihn aus Furcht vor seiner wachsenden Macht mit einem Krieg überzogen, in dessen zehnjährigem Verlauf Euagoras unbesiegt geblieben sei, ja zeitweilig über ganz Cypern geherrscht sowie Phoinikien, Tyrus und Kilikien bedrängt habe (57-64). So kann Isokrates zum Schluß noch einmal die aufgeführten Taten und gefahrvollen Unternehmungen (εργα και κίνδυνα) zusammenfassend aufzählen, an denen man die άνδρία und φρόνησις und gesamte άρετη des Euagoras aufzeigen (έπιδεικνύειν) könne (65 -69). Er kommt zu dem Resümee, wenn jemals Menschen wegen ihrer άρετη Unsterblichkeit erlangt hätten, dann habe Euagoras diese Gabe mehr als alle anderen verdient, und die poetische Rede vom ,Gott unter Menschen' (θεός έν άνθρώποις) oder einer .sterblichen Gottheit' (δαίμων θνητός) treffe auf ihn in besonderem Maße zu (70—72).36 Die Rede endet, wie sie begonnen hat, mit einer direkten Anrede an Nikokles: Isokrates habe zweifellos noch vieles übergangen (παραλιπεΐν), da er nicht mehr der Jüngste sei; aber er habe doch sein Bestes gegeben, damit Euagoras nicht ungepriesen (άνεγκωμιαστός) bleibe - denn so schön auch die

35 . . . τις αν η ποιητής η λόγων εύρετης άξίως των πεπραγμένων έπαινέσειεν; 36 Den Tod des Euagoras übergeht Isokrates mit Stillschweigen - entsprechend seinem Ansatz, in der Lobrede alles Negative wegzulassen, denn wahrscheinlich ist Euagoras ermordet worden (vgl. Aristoteles, Politika 131 lb5; Diod. Sic. XV 48).

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Standbilder als Andenken seien, so könnten doch die Taten und die Gesinnung eines Mannes nur in den kunstmäßig ausgeführten Reden (λόγοι) erkannt werden. Diese könnten außerdem über ganz Griechenland verbreitet werden, während Standbilder an einen Ort gebunden seien (73-75). Vor allem aber habe Isokrates diese Rede geschrieben, weil sie für Nikokles und die Seinen die beste παράκλησις sei, dem Beispiel des Euagoras nachzueifern (76-81). Mit seinem ,Euagoras' hat Isokrates vollends verwirklicht, was sich bereits in der .Helena' und im .Busiris' abgezeichnet hat: die Schaffung der reinen Lobrede, in der alles Negative weggelassen wird. In diesen drei Reden finden sich bereits alle Elemente, die in der späteren Theorie durchweg anzutreffen sind, vor allem der zwischen chronologischen (Herkunft, Jugend, Erwachsenenleben) und systematischen (die einzelnen Tugenden und die Taten, in denen sie sich erweisen) Gesichtspunkten schwankende Aufbau, die übersteigerte positive Darstellung des Felden' und der Vergleich mit großen Gestalten aus Mythos und Geschichte.37 Auch die Verwendung rhetorischer Schmuckmittel, insbesondere der .gorgianischen Figuren' wie Isokolon und Antithese, ist hier reichlicher als in den übrigen Reden des Isokrates.38 Diese Form des prosaischen Enkomions hat bald Nachahmer gefunden39, und die drei besprochenen Reden des Isokrates wirkten durch die gesamte Antike maßgebend für Theorie und Praxis der Gattung.40 Stilbildende neue Impulse sind jedoch noch einmal in der Kaiserzeit zu verzeichnen, und zwar in bezug auf den Redegegenstand: Als Sonderfälle der epideiktischen Rhetorik heben sich zwischen 100 und 150 n. Chr. die Lobrede auf den Kaiser (Panegyricus) und die Lobrede auf einen Gott (Prosa-Hymnus) heraus, die ihrerseits in Theorie und Praxis ihre Nachwirkungen zeitigen.

37 Vgl. dazu ausführlich oben Kap. Π. 2a. 38 Zu diesen Mitteln des Redeschmucks siehe oben Kap. I. 2 sowie unten Kap. m . Ib. 39 Das früheste erhaltene Beispiel ist der .Agesilaos' des Xenophon (ca. 357 v. Chr.); dazu siehe die knappe Zusammenfassung des Inhalts bei MARTIN, Rhetorik 191, sowie ausführlich KRÖMER, Xenophons Agesilaos. - Zeugnisse über die weitere epideiktische Praxis in klassischer und hellenistischer Zeit (nur in Fragmenten erhalten) besprechen RUSSELL/WILSON in der "Introduction" ihrer Menandros-Ausgabe, xvi-xvii. 40 Dies gilt trotz der zeitgenössischen Kritik von philosophischer Seite: Besondere Piaton stellt mehrmals durch Parodie und ironischen Kommentar heraus, daß es bei dieser Art der Lobrede nicht um den Wahrheitsgehalt, sondern nur um die Schönheit der Form geht (vgl. im .Symposion' die Reden auf den Eros und v.a. 198a-199b die Bemerkungen des Sokrates zur Agathon-Rede; im .Menexenos' die angeblich von Aspasia gehaltene Grabrede [έπιτάφιος λόγος, 236d-249c] und die ironischen Vorbemerkungen des Sokrates 234c-235c; nach MARTIN, Rhetorik 192-196, hat Piaton hier Isokrates selbst im Visier). Aristoteles versucht in seiner .Rhetorik', eine ethisch begründete und an der Wahrheit orientierte Theorie der Lobrede zu entwickeln (Rhet. 19; dazu siehe oben Kap. Π. 2a, S. l l l f f ) .

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Im Jahre 100 n.Chr. hatte Plinius d. J. - zusammen mit einem Kollegen für zwei Monate das Amt des Konsuls inne. Beim Amtsantritt am 1. September hielt er, wie es Brauch war, eine Dankrede (gratiarum actio) vor dem Senat, die er wenig später in überarbeiteter und erweiterter Fassung publizierte.41 Zumindest in dieser Fassung macht Plinius aus der vorgeschriebenen Dankrede eine lange Lobrede auf den Kaiser Trajan und wird damit zum Begründer einer neuen literarischen Gattung: dem später so genannten panegyricus.42 Eine im 4. Jahrhundert zusammengestellte Sammlung von XII Panegirici Latini, deren übrige Stücke zwischen 289 und 389 n. Chr. entstanden sind, wird mit der Rede des Plinius (unter dem Titel Panegyricus Plinii Secundi Traiano imp. dktus) eröffnet; sie ist nur dank dieser Sammlung überhaupt vollständig erhalten.43 An den Anfang seiner Rede stellt Plinius ein Gebet an Jupiter um gutes Gelingen (1,6); dem Gebet selbst geht freilich noch eine an die Senatoren gerichtete Begründung voraus: Es sei als guter und weiser Brauch von den Vorfahren eingerichtet, alle Unternehmungen mit einem Gebet zu beginnen44; besonderen Grund, diesen Brauch zu üben, habe der Konsul, der dem besten Princeps seinen Dank abstatte, da dieser Princeps „rein und heilig und göttergleich" (castus et sanctus et dis simillimus) sei; ohne Zweifel sei er von den Göttern, ja von Jupiter selbst eingesetzt (1,1-5). Aber Plinius lehnt in bezug auf diesen Princeps, der zu Recht den Titel Optimus (,der Beste') trage, alle Schmeicheleien ab, die bei seinen Vorgängern gang und gäbe waren: Nicht als

41 Zu Entstehungsverhältnissen und literarischem Charakter der R e d e vgl. die „Einleitung" in der Ausgabe von KÜHN, 1 - 8 . Plinius selbst äußert sich in ep. ΠΙ 18 ausgiebig über sein Werk. 42 Der Begriff stammt aus dem Griechischen ( π α ν η γ υ ρ ι κ ό ς [sc. λ ό γ ο ς ] ) und bezeichnet dort ursprünglich die R e d e anläßlich einer (festlichen) Volksversammlung ( π α ν η γ υ ρ ι ς ) . Reden dieser Art sind der ,Panegyrikos' und der ,Panathenaikos' des Isokrates, beide mit mahnendem (also symbuleutischem) Charakter. Im Laufe der Zeit erhielt das Adjektiv π α ν η γ υ ρ ι κ ό ς die abgeschwächte Bedeutung .festlich' und konnte so in der rhetorischen Theorie - als Synonym für ε π ι δ ε ι κ τ ι κ ό ς - zur Kennzeichnung der lobenden Redegattung verwendet werden (so erstmals im 2. Jh. n. Chr. bei Hermogenes, der innerhalb des π ο λ ι τ ι κ ό ς λ ό γ ο ς den π α ν η γ υ ρ ι κ ό ς , συμβουλευτικός und δ ι κ α ν ι κ ό ς λ ό γ ο ς unterscheidet). Der lateinische Ausdruck panegyricus in der Bedeutung .Lobrede' (laudatio) ist um 300 n. Chr. erstmals bezeugt. Vgl. dazu den materialreichen PRE-Artikel von ZIEGLER (siehe Literaturverz.), bes. 5 5 9 - 5 7 1 . 43 Zu den XII Panegyrici Latini siehe ZIEGLER a.a.O. 5 7 1 - 5 8 1 ; nach der Ausgabe von MYNORS wird im folgenden auch die Plinius-Rede zitiert. 44 Dies wird noch einmal unterstützend mit dem bekannten ,Nichts-ohne'-Schema begründet: quod nihil rite nihil providenter homines sine deorum immortalium ope Consilio honore auspicarentur („weil die Menschen nichts ordentlich, nichts mit Vorsicht beginnen können ohne Beistand, Rat und Ehrung der unsterblichen Götter"; der Wechsel vom genetivus subiectivus zum genetivus obiectivus innerhalb der Aufzählung ist im deutschen Sprachgebrauch unüblich, könnte aber nur durch eine paraphrasierende Auflösung der Konstruktion vermieden werden).

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dominus oder als deus solle er gepriesen werden45, sondern aufgrund seiner Menschlichkeit, Besonnenheit und Freundlichkeit (humanitas temperantia facilitas) (2). Bei ihm habe der Redner keine Angst, ihn zu wenig zu loben, sondern müsse wegen seiner ausgeprägten Bescheidenheit eher fürchten, es könnte ihm zu überschwenglich erscheinen (3). Plinius selbst sei zu dieser Rede durch einen Senatsbeschluß verpflichtet, und wenn der Princeps, der jede private Danksagung verbiete, diese öffentliche Danksagung auf Wunsch des Senats zulasse, handle er damit auf doppelte Weise moderat (4,1-3; das letzte in direkter Anrede an den „Caesar Augustus"). Das Lob des Trajan beginnt mit seinem Wesen und seiner äußeren Erscheinung, die genau dem Idealbild eines vollkommenen Herrschers entsprächen (4,4-7). Es folgt die Darstellung seiner Adoption durch Nerva (5-8), bei der sich durch viele Vorzeichen (vgl. 5; 8) wiederum die Mitwirkung der Götter erwiesen habe.46 In der verbleibenden Lebenszeit Nervas, als Trajan von diesem bereits zum Caesar und zum imperator ernannt war, habe er vor allem seine Bescheidenheit und seinen Gehorsam als Sohn unter Beweis gestellt (9-10); aus echt empfundener Frömmigkeit (und nicht, wie mehrere frühere Kaiser, aus niederen Beweggründen) habe er dem Vater nach dessen Tod durch die Erhebung zum Gott die angemessene Ehre erwiesen und sei auch durch den Umstand, nun der Sohn eines Gottes zu sein, nicht überheblich geworden (II).47 Mit der Feststellung, daß die Feinde Roms durch diesen imperator vom alten Schlage ihren verlorenen Respekt wieder angenommen hätten, leitet Plinius zu den militärischen Leistungen Trajans über (12): Schon im jugendlichen Alter habe sein Marsch wie auch sein Ruhm über den ganzen Erdkreis geführt (14); durch seine vorbildliche Haltung und sein gutes Verhältnis zu Soldaten und Offizieren habe er als Militärtribun eine Erneuerung der Heereszucht bewirkt (13; 15; 18f). Aber auch hier zeige sich neben der militärischen fortitudo auch wieder die moderatio Trajans, denn trotz seinen kriegerischen Tugenden liebe er den Frieden (16). Seine Laufbahn als Soldat habe er nur dem Vaterland zuliebe beendet, um im Kapitol als Princeps einzuziehen - und wieder kommt in der Schilderung durch Plinius die gemäßigte Art des Herrschers zum Tragen: der dispziplinierte Rückmarsch seiner Truppen von der Donau nach Rom (20), seine anfängliche Ablehnung des Titels pater patriae (21), sein umjubelter Einzug in die Stadt - nicht gefahren oder getragen, sondern zu Fuß (22), seine respektvolle Begrüßung der Senatoren, seine Nähe

45 Mit diesen Bezeichnungen ließ sich Domitian gern anreden (vgl. Sueton, Domitian 13,2; Cassius Dio LXVn 13,4). 46 Die Adoption entspricht hier offenbar der Geburt im üblichen Enkomien-Schema. 47 Zur Chronologie der Ereignisse: Die Adoption (und Erhebung zum Mitregenten) fand am 27. Oktober 97 statt (übrigens in Abwesenheit Trajans, der sich als Statthalter in Germanien aufhielt); Nerva starb am 27. Januar 98, wodurch Trajan zum Alleinherrscher wurde. (Die Daten entnehme ich der Zeittafel in der Ausgabe von KÜHN, 201 f.)

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zum Volk und sein unprätentiöser Gang ins Kapital, den kaiserlichen Palast (23). In direkter Anrede an den Princeps preist der Redner noch einmal zusammenfassend dessen volksnahe Art (24).48 Anlässe zu einer öffentlichen Danksagung finden sich nach Plinius reichlich in Trajans Regierungstätigkeit: in seinen Zuwendungen für alle Bedürftigen in Rom (darunter die Einführung eines Kindergeldes) und in den Provinzen (z.B. eine Getreidespende für Ägypten) (25 -32), in seiner Ausrichtung der Kampfspiele ohne die Dekadenzerscheinungen früherer Jahrzehnte (33), in seiner Bekämpfung von Rechtsunsicherheiten bei Erbschaften, verbunden mit steuerlichen Erleichterungen für die Erben (34-40). Bewundernswert sei angesichts dieser großzügigen Maßnahmen die Sparsamkeit in der Haushaltsführung der kaiserlichen Kasse (41), zumal die Anzeigen wegen Majestätsbeleidigung durch (bestochene) Sklaven, einst eine reich fließende Einnahmequelle für Bußgelder, von ihm unterbunden worden seien (42) und Testamente zugunsten des Princeps jetzt im Gegensatz zu früher nur noch aus freier Entscheidung des Erblassers erfolgten (43). Auch an der Tugend seiner Bürger zeige dieser Princeps größeres Interesse als seine Vorgänger, indem er die Guten für ihre edlen Taten belohne und sie durch öffentliche Auszeichnung zum Vorbild aller mache - dadurch folge fast die ganze Menschheit dem moralischen Vorbild eines einzigen Mannes, eben Trajans (44-45). Die von vielen als sittengefährdend angesehenen Pantomimenspiele habe er, so Plinius, auf allgemeinen Wunsch abgeschafft (46) und die Moral der Jugend durch Förderung der Redekunst, der Weisheitslehre und der Wissenschaften gehoben (47,1-2). Das Kapital sei durch ihn zu einem offenen und gastfreundlichen Haus geworden (47,3-49,8). Großzügig gebe er die von seinen Vorgängern konfiszierten Häuser und Landgüter wieder an seine Untertanen - durch Verkauf oder Schenkung - und bewahre die Gebäude damit vor dem Verfall (50). Das führt zu seiner Bautätigkeit, die bescheiden im eigenen, aber großartig im öffentlichen Bereich sei; hier rage besonders die Vergrößerung des circus maximus heraus (51). Der Tempel aber sei ihm ein Ort zum Beten, keiner, sich anbeten zu lassen; deshalb begnüge er sich auch mit ein oder zwei Statuen aus Bronze in der Vorhalle des Jupitertempels, während seine Vorgänger überall in Gold und Silber geprangt hätten, um selbst verehrt zu werden (52).

48 Der Abschnitt endet (24,5) geradezu doxologisch (mit Anklängen an hymnischen Stil): Trajan wird von seinen Vorgängern abgesetzt, die aus Dünkel und Angst vor Gleichheit nicht zu Fuß gingen, sondern sich von Sklaven tragen ließen: „Dich heben dein Ruhm, deine Ehre, die Verehrung deiner Bürger, die Freiheit sogar über die (anderen) Principes empor; dich erhebt der ganz gewöhnliche Erdboden und (die Tatsache, daß) die Fußspuren des Princeps (mit allen anderen) vermischt (sind), bis zu den Sternen." (te fama te gloria te civium pietas, te libertas super ipsos principes vehunt; te ad sidera tollil humus ista communis et confusa principis vestigia·)

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Ausführlich begründet Plinius gegenüber den Senatoren, warum er in seiner Lobrede auf Trajan immer wieder den Vergleich mit früheren (= schlechteren) Principes zieht: Erstens werde dadurch die Wiederherstellung der verfallenen Sitten durch Trajan recht deutlich, zweitens könne ohne comparatio niemand angemessen gelobt werden, drittens folge aus der Liebe zu einem guten Herrscher zwangsläufig der Haß gegen die schlechten, und viertens gehöre es gerade zu den Verdiensten Trajans, daß man die schlimmen Kaiser vergangener Zeiten ohne Angst kritisieren dürfe (53). Jene seien aus niederster Schmeichelei überall und in jeder Form mit Lob überhäuft worden - „im Senat und auf der Bühne, vom Komödianten und vom Konsul" - , und hätten sich daran erfreut; Trajan dagegen, zurückhaltend gegenüber jeder Huldigung, erhalte statt kurzlebiger und peinlicher Lobhudeleien ernsthafte Ehrungen und einen Ruhm, der die Jahrhunderte überdauere (54-55). Die immense Länge seiner Rede rechtfertigt Plinius mit dem Hinweis, bei diesem Princeps brauche man nichts zu übergehen, sondern lobe sein ganzes Wirken am besten durch vollständiges und wahrheitsgetreues Erzählen (56, 1 - 2 ) . Nach diesem Prinzip fährt er nun mit Trajans Ausübung des Konsulats fort, wobei wieder besonders dessen moderatio hervorgehoben wird: Als Princeps lehnte er ein drittes Konsulat49 zunächst ab und gab nur zögernd dem Drängen des Senats nach; seine Ausübung des Amtes sei aber so vorbildlich, daß Plinius ihn bittet, das Konsulat auch ein viertes Mal und immer wieder anzunehmen (56-79). 50 Als oberster Richter sei er gerecht und gütig, ein Versöhner und Helfer, ja Stellvertreter Jupiters auf Erden (δΟ).50® Ein Blick in Trajans Privatleben rundet das Bild seiner Persönlichkeit ab: Plinius erzählt von den Freizeitbeschäftigungen des Kaisers (81-82), von seiner Gattin und seiner Schwester - beide frei von Eifersucht untereinander und mit derselben modestia wie Trajan selbst - (83-84), von seiner Pflege der Freundschaft (85-87) und von seinem Verhältnis zu seinen Freigelassenen (88,1-3). Das Lob des Princeps schließt mit einer kurzen Besinnung über seinen Beinamen Optimus (88,4-10; vgl. 2,7) und einer Seligpreisung seiner bei-

49 Das zweite Konsulat (1. Januar bis 30. Juni 98) war Trajan noch von Nerva verliehen worden (vgl. 56,3); nach Erlangung des Principati hätte ein drittes Konsulat zum 1. Januar 99 nahegelegen. Das eiste Konsulat (i. J. 91) erwähnt Plinius nur beiläufig (64,4) - wohl, weil es von dem verhaßten Domitian verliehen war. 50 Nach dem dritten Konsulat (1. Januar bis 29. Februar 100) hat Trajan tatsächlich noch ein viertes übernommen (1.-12. Januar 101). 50a An dieser Stelle erreicht die Rede einen weiteren Höhepunkt, was besonders in 80,3 seinen übeischwenglichen Ausdruck findet (die gleichsam .göttliche' Fürsorge des Princeps, der nach Art der Sonne „alles sieht, alles hört und, von wo auch immer angerufen, sogleich wie eine Gottheit hilfreich zur Stelle" ist [omnia invisere, omnia audire et undecumque invocatimi statim velut < numen > adesse et adsistere ]).

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Das Lob von Göttern und Menschen

den Väter, des göttlichen Nerva und des „wenn nicht unter den Sternen, dann doch nahe bei den Sternen" wohnenden Trajan pater (89)51. Plinius beendet seine Rede mit einer persönlichen Danksagung an Trajan für die Verleihung des Konsulats (90-93), mit einem Gebet an Jupiter um Wohlergehen für diesen besten Princeps (94; vgl. 1,6) und mit einer letzten Anrede an die Senatoren, in der er seinen Dank und seine Verpflichtung für das Amt zum Ausdruck bringt (95). Die rhetorische Gestaltung des Panegyricus folgt den Gesetzen der epideiktischen Redegattung.52 So wird im Interesse des Kaiserlobes alles von der positiven Seite betrachtet, und selbst nebensächliche Sachverhalte erscheinen wie unter einem Vergrößerungsglas. Der Stil entspricht der Üppigkeit des Inhalts53: Alle Mittel des Redeschmucks wie Anapher, Epipher, Homoioteleuton usw. finden reichlich Verwendung, und der Gedanke wird oft durch parallele, vor allem antithetische Konstruktionen zum Ausdruck gebracht. In diesem Zusammenhang ist auch der immer wieder herangezogene Vergleich mit den Vorgängern Trajans zu nennen, der im wesentlichen auf eine durchgängige Schmähung des Domitian hinausläuft. Rhetorisch gesehen bildet hier der schlechte Herrscher die dunkle Folie, auf der sich der gute um so strahlender abhebt; allerdings sollte man Plinius' Erleichterung über das Ende der domitianischen Schreckensherrschaft und seine Beschwörung eines Neuen Zeitalters nicht nur rhetorisch, sondern auch als Reflex der Zeitstimmung sehen.54 Seine Dankbarkeit und Verehrung gegenüber Trajan sind sicher echt. Im Vergleich mit dem .Euagoras' des Isokrates fällt noch eine Besonderheit der Plinius-Rede auf: In dieser wird immer wieder Trajan selbst angesprochen; das Lob wechselt also zwischen der dritten und der zweiten Person. Dies hängt natürlich mit der Anwesenheit des laudandus zusammen (Euagoras war ja zum Zeitpunkt der Rede bereits tot), führt aber auch auf ein weiteres Vorbild für den Panegyricus des Plinius55: die Gruppe der drei von Cicero in den Jahren 46-45 v.Chr. als Senatsreden gehaltenen Danksagungen an Caesar (,Für

51 Seinen leiblichen Vater hat Trajan wahrscheinlich i. J. 113 zum Gott erklärt (vgl. die „Erl ä u t e r u n g e n " in der A u s g a b e v o n KÜHN, 1 9 5 , z u 8 9 , 2 ) .

52 Vgl. zur sprachlichen Gestalt die „Einleitung" in der Ausgabe von KÜHN, bes. 4 - 7 . 53 Vgl. dazu die Bemerkung des Plinius selbst, ep. ΠΙ 18,10: „Ich bin überzeugt, daß für diese Art des Stoffes ein blühenderer Stil das Richtige ist." (ac mihi quidem confido in hoc genere materiae laetioris stili constare rationem.) - Siehe dazu ausführlich unten Kap. ΠΙ. lb; zu den rhetorischen Schmuckmitteln auch oben Kap. I. 2. 54 Und das heißt auch, Plinius' Bemerkungen in Paneg. 53 ernstnehmen. - Den Anspruch einer neuen Ära hatte ja Trajan selbst, wie an dem berühmten nec nostri saeculi est („Das entspricht nicht dem Geist unserer Zeit") im Reskript auf Plinius' Christenbrief deutlich wird (ep. X 97,2, in bezug auf die Berücksichtigung anonymer Anzeigen). - Auch Tacitus spricht in Hinsicht auf die Regierungszeit Trajans rückblickend von felicitas temporum (Hist. 11; Agr. 3). 55 Abgesehen davon, daß uns der Wechsel zwischen dem Lob in der dritten und der zweiten Person auch in den Hymnen mehrfach begegnet ist (siehe oben Kap. Π. 1 a. c).

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Marcellus', ,Für Ligarius', ,Für Deiotarus', drei von Caesar begnadigte Gegner), in denen besonders die Milde (dementia) des Herrschers gelobt wird.56 Zur Nachwirkung der Rede des Plinius gehören die bereits erwähnten lateinischen Panegirici späterer Jahrhunderte.57 Ailios Aristeides war der bedeutendste griechische Redner des zweiten Jahrhunderts n. Chr.58 Von seinen erhaltenen Reden sind zehn an Götter gerichtet und werden allgemein als »Hymnen' bezeichnet.59 Für uns ist die Rede auf Sarapis (or. 45) besonders aufschlußreich, weil sie mit programmatischen Bemerkungen zur Gattung des Prosahymnus beginnt.60 56 Auf diese drei Reden, insbesondere die eiste, weist KÜHN in der „Einleitung" seiner Ausgabe, 2 u. 5, hin (allerdings ohne den Wechsel zwischen der Anrede an die Senatoren und an Caesar zu vermerken). 57 Siehe oben bei Anm. 43. Leider sind die im 2./3. Jh. (vor 289) entstandenen Reden dieser Art alle verloren. - In der rhetorischen Theorie sind die ausführlichsten Anweisungen für die Lobrede auf den Herrscher bei ,Menandros' (Ende 3. Jh.) zu finden (Traktat Π, p. 368-377: βασιλικός λόγος). Das hier empfohlene Aufbauschema (siehe oben Kap. Π. 2a, Anm. 155) stimmt allerdings eher mit den griechischen Vertretern der Gattung überein, während die lateinischen Panegyrici in mehreren Punkten davon abweichen (vgl. RUSSELL/WILSON im "commentary" ihrer Menandros-Ausgabe, 271 f). 58 Das Leben des Aristeides (wohl 117-180 n.Chr.) war von vielen Krankheiten gezeichnet; eine zweijährige Kur im Asklepiosheiligtum zu Pergamon (145-147) brachte zeitweilige Besserung und fand später ihren literarisch-autobiographischen Niederschlag in den sog. .Heiligen Reden' ("Ιεροί λόγοι, or. 47-52 in der Zählung von KEIL), die außer den therapeutischen Maßnahmen v.a. eine große Zahl von Traumprotokollen des Aristeides mitteilen. Siehe zum ganzen ausführlich BEHR, Aelius Aristides and the Sacred Tales. 59 Es handelt sich um die Reden 37-46 (Zählung nach KEIL), in denen folgende Gottheiten gepriesen werden: Athena, die Söhne des Asklepios, der Brunnen im Asklepiostempel, Herakles, Dionysos, Asklepios, Zeus, das Ägäische Meer, Sarapis und Poseidon. - Einen einführenden Überblick zu diesen Texten gibt MESK, Prosa- und Vershymnen; in die Gattung ,Prosahymnus' in der rhetorischen Theorie und bei Aristeides führt AMANN, Zeusrede 1-23, ein; vgl. auch (mit neuerer Literatur) RUSSELL, Aristides and the Prose Hymn, der nach einer kurzen Einführung exemplarisch vorgeht (Schwerpunkt .Sarapis', .Dionysos' und .Ägäisches Meer'). 60 Möglicherweise ist die Sarapisrede, die Aristeides wohl i. J. 143 nach seiner Rückkehr aus Ägypten als Dank für die Rettung aus Seenot in Smyrna gehalten hat (vgl. § 13. 33), auch die älteste seiner Götterreden. Allerdings ist sie in großer zeitlicher Nähe zur Zeusrede (or. 43) anzusetzen, die sich ebenfalls auf eine Seenot des Redners bezieht (§ 1-6). Handelt es sich hierbei um einen anderen Vorfall, und zwar auf der Hinreise nach Ägypten (i. J. 142)? Das vermutet AMANN, Zeusrede 28 -36, für den diese Rede deshalb der eiste Prosahymnus des Aristeides ist - gehalten in Alexandria (mit Hinweis auf § 21 der Sarapisrede). Dem schließt sich HÖFLER, Sarapishymnus 1 - 4 , an. Dagegen halten MESK, Prosa- und Vershymnen 664f, und BEHR, Aelius Aristides and the Sacred Tales 53, die Sarapisrede für die ältere von beiden. Die Frage ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden; auf jeden Fall ist weder die „starke Anlehnung an das rhetorische Schema" (AMANN, a.a.O. 4) beim Zeushymnus noch die Existenz eines programmatischen Prooimions beim Sarapishymnus ein schlagendes Argument für die Priorität der jeweiligen Rede (mit RUSSELL, Aristides and the Prose Hymn 200).

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„Glücklich ist das Geschlecht der Dichter und frei von Schwierigkeiten in jeder Hinsicht!" (Εΰδαιμόν γε τό των ποιητών έστι γένος και πραγμάτων απηλλακται πανταχη.) - so lautet der erste Satz der Rede, und Aristeides gibt auch eine Begründung für diesen Stoßseufzer eines neidischen Rhetors: Die Poeten dürften sich ihre Themen (υποθέσεις) frei wählen, welche oft genug weder wahr noch glaubwürdig seien und überhaupt keinen logischen Zusammenhang (συστασις) hätten; sie dürften sich wie Tyrannen der Gedanken aufführen, indem sie diese oft nur anreißen und unvollständig lassen, so daß der Sinn erst durch den gesamten Zusammenhang erkennbar wird (1). Selbst mit Göttern könnten sie wie mit Marionetten umgehen (θεούς από μηχανης α'ίρουσι) und sie den Menschen in verschiedenen Situationen beigesellen (2).61 Daher könnten es sich die Dichter von Hymnen und Päanen für die Götter so leicht machen: Zwei Strophen oder Perioden - schon ist die ganze Aufgabe erfüllt; ein paar Epitheta, die beiläufige Erwähnung von Szenen und Namen aus dem Mythos, und am Schluß die Selbstbeweihräucherung der Poeten als „Sprößlinge der Musen" (θρέμματα Μουσών) - schon meinen sie, das reiche für ihren Hymnus aus (und tatsächlich wage es auch kein Laie, mehr von ihnen zu verlangen) (3). Aber die Monopolstellung der Dichter in bezug auf die Hymnen ist nach Aristeides nicht gerechtfertigt: Die Prosarede eigne sich ja auch sonst für jeden Gegenstand - ob zum Preisen (έγκωμιάζειν) von Festveranstaltungen (πανηγύρεις), ob zum Erzählen von Taten einzelner Männer (πράξεις ανδρών) oder von Kriegen, ob zum Anfertigen von erfundenen Geschichten (μΰθοι) oder ob zum Kämpfen im Gerichtssaal; sogar für kultische Satzungen verwende man die Prosa, nur nicht für Hymnen (4). Wenn aber „alle Menschen der Götter bedürfen", wie die Dichter selber sagen62, dann müsse auch jeder Mensch nach seinem Vermögen die Götter ehren (5). Auch seien nicht die Dichter allein Lieblinge der Götter - sonst müßten ja alle Priester Dichter sein (6). Nicht einmal die Propheten bedienten sich zwangsläufig der metrischen Form; das bewiesen die Seherin von Delphi, die Priesterinnen von Dodona sowie die Orakel des Trophonios und die Träume aus den Tempeln des Asklepios und des Sarapis - allesamt in Prosa (7). Und schließlich entspreche die Prosarede (πεζός λόγος) mehr der Natur des Menschen (wie auch das Gehen mehr als das Fahren) und sei gegenüber der Poesie das Frühere und Ältere (τό πρότερον και πρεσβύτερον) und daher, nach einem Ausspruch der

61 Ganz offensichtlich lehnt sich Aristeides hier und in § 9 - 1 3 an Isokrates, Euagoras 8 - 1 1 (vgl. oben S. 156), an. Die Beispiele zur Illustration des Gesagten entnimmt er hauptsächlich Homers .Odyssee' und den Oden Pindais (Nachweise in den Anmerkungen der Ausgabe von KEIL). - Übrigens liegt in der scharfen Abgrenzung des Aristeides von den Hymnendichtern ein Gutteil rhetorischer Übertreibung: Er hat selbst einige Hymnen in Versen gedichtet (zu diesen nur fragmentarisch erhaltenen Stücken vgl. MESK, Prosa- und Veishymnen 668-672). 62 Homer, Odyssee ΠΙ 48.

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Dichter selbst, vorzüglicher (αμεινον)63 - also müßte es auch ehrwürdiger (τιμιώτερον) sein, die Götter auf diese Art anzurufen (8). Mit dem letzten Argument ist eigentlich schon nicht mehr die Ebenbürtigkeit der Prosa gegenüber der Poesie behauptet, sondern ihre Überlegenheit. Das führt Aristeides im folgenden noch weiter aus, allerdings nicht ohne vorher zu beteuern, er wolle die Dichter weder beleidigen (άτιμάζειν) noch von dem ihnen gebührenden Platz verstoßen. Aber wenn das Natürliche den Göttern wohlgefälliger sei, dann dürfte es ihnen wohl auch mehr Freude machen, in Prosa geehrt zu werden. Vor allem jedoch sei das μέτρον keine Domäne der Dichter (wie der heilige Klang des Wortes [ευφημία του ονόματος] zunächst nahelege), sondern tatsächlich viel eher in der Prosa anzutreffen (9): In der Poesie müsse man nur die (epischen oder jambischen) Vers-Maße ausfüllen; in der Prosa dagegen gehe es um das .rechte Maß' im Vollsinne des Wortes, das die ganze Rede maßgeblich bestimme (δλον καταμετρεΐ τον λόγον). Dieses verlange vom Redner die genaue Wiedergabe des Gemeinten - beginnend mit der Wahl des jeweils treffenden Wortes64 (ohne Über- oder Untertreibung, aber auch ohne überflüssige Füllwörter „um des Metrums willen" [εϊνεκα του μέτρου]), fortgesetzt mit dem Bau in sich abgerundeter Perioden (Stichwort το αϋταρκες - laut Aristeides wohl das Schwierigste von allen μέτρα), bis hin zur Wohlabgewogenheit (συμμετρία) der ganzen Rede (10). Mit den Maßen der Dichter sei es wie mit denen der Händler auf dem Markt: Man könne zwar mit ihnen etwas abmessen, besitze damit aber nicht ,das Maß an sich' (τό ολον μέτρον) (11). Und so sei es auch beim Umgang mit Worten möglich, ohne die Verwendung solcher (Vers-)Maße (χωρίς μέτρων των γε τοιούτων) das ,rechte Maß' zu treffen (τυγχάνειν του μέτρου) und umgekehrt - so wie ein Arzt auch ohne Meßwerkzeuge das Notwendige verordnen könne oder umgekehrt mit solchen, aber in Unkenntnis der Sache (απειρία του πράγματος), auch fehlgehen (διαμαρτεΐν) könne (12). Obwohl es also, wie gesagt, für die Dichter viel leichter sei, müsse der Versuch einer Anrufung (πρόσρησις) in Prosa gewagt werden, denn Aristeides hat sich durch ein Gelübde dazu verpflichtet - „weil wir ja gerettet worden sind"

63 Mit seiner - historisch wohl zutreffenden - Behauptung, daß die Prosa älter sei als die Poesie, widerspricht Aristeides den erhaltenen Äußerungen antiker Theoretiker zu dieser Frage (bei NORDEN, Kunstprosa 30-35, angeführt und besprochen). Die Argumentationsfigur, nach der das Ältere als das Bessere gilt (.Altersbeweis'), ist in der Antike allgemein verbreitet und spielt besonders in der religiösen Apologetik eine wichtige Rolle; vgl. dazu ausführlich PILHOFER, Presbyteron kreitton. 64 So ist die Formulierung άρχεται γε εύθύς ix του ονόματος (p. 355,13) doch wohl zu verstehen (gegen KEILS Anmerkung z. St., der an den Autor-,Namen' in der Überschrift denkt; siehe im obigen Sinne HOFLER, Sarapishymnus 13 [Übersetzung] u. 33 Anm. 1, sowie in Auseinandersetzung mit neuerer Literatur RUSSELL, Aristides and the Prose Hymn 205).

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(έπειδήπερ έσώθημεν) (13).65 So beginnt er nun seinen Prosahymnus mit einem Gebet an Sarapis, der von allen in jeder Lage als Helfer (βοηθός) angerufen werde, um Gelingen der Rede und einen dem Gott wohlgefälligen Anfang. Die Bitte wird unterstützt mit dem Hinweis: „und wie du das Erste gegeben hast, so laß auch dem Zweiten Erhörung zuteil werden" (wobei sich τα πρώτα auf die Erhörung der Gebete in Seenot beziehen dürfte)66 sowie durch die allgemeinere Feststellung, daß „durch dich und deinetwegen" (δια σου τε και δια σέ) alle Wünsche der Menschen erfüllt würden (14). Die für den nun folgenden hymnischen .Mittelteil' wichtige Frage, „wer der Gott ist und was für ein Wesen (φύσις) er hat", will Aristeides an seinen Werken (εργα) aufzeigen; aber schon um diese vollständig aufzuzählen, reichten - wie Homer sagt67 - „zehn Zungen und zehn Münder" nicht aus, so daß erneut die Hilfe der Götter angerufen werden müsse. Grundsätzlich gelte: „Das sind die Werke des Sarapis, durch die das Leben der Menschen geordnet und bewahrt wird (διοικείται και σώζεται)" (15-16). Das Leben wiederum bestehe aus den folgenden drei Bereichen: der Seele, dem Leib und dem, was außerhalb von diesen zum Gebrauch diene (ψυχή, σώμα, οσα τούτων εκτός εις χρείαν ερχεται).68 Sarapis sorge für alle diese Bereiche, indem er die Seele mit Weisheit (σοφία) austatte69, dem Leib Gesundheit (ύγίεια) schenke und für äußerlichen Wohlstand (εξωθεν εύπορία) durch den friedlichen Erwerb materieller Güter (χρημάτων κτησις) sorge (17-19). Darüber hinaus habe er durch Verknüpfung dieser drei einzelnen Gaben miteinander das menschliche Leben zu einer Art Einklang (αρμονία) gebracht, weshalb er als „Heiland aller Menschen" (σωτήρ πάντων ανθρώπων) ein Gott sei, der allen Ansprüchen genüge (αυτάρκης θεός) (20). Mit Recht werde er von den Bürgern Alexandri-

65 Zu der Rettung aus Seenot siehe oben Anm. 60. So wie hier und in der Zeusrede (§ 1 - 6 ) ein Gelübde (εύχή) als Anlaß für den ϋμνος ανευ μέτρου (ebd. 2) genannt wird, so gibt Aristeides in seinen Prosahymnen auf Athena, die Söhne des Asklepios und Dionysos die Weisung durch einen Traum (οναρ) als Grund an (or. 37,1. 29; 38,1. 24; 41,1; vgl. dazu RUSSELL, a.a.O. 199f, der auch noch auf die Heraklesrede - or. 40,1. 22 - hinweist). 66 Mit HÖFLER, Sarapishymnus 39, während KEIL in seiner Anmerkung zu dieser Stelle (p. 356,20) πρώτα auf § 1 - 1 3 und δεύτερα auf § 15ff der Rede bezieht. 67 Dias Π 489. 68 Diese Dreiteilung war uns in der Theorie der Lobrede regelmäßig begegnet; siehe oben Kap. Π. 2 a passim. 69 In diesem Zusammenhang zählt Aristeides die Segnungen auf, die durch die σοφία den Menschen zuteil geworden seien: Als Unterscheidungsmerkmal zu den Tieren seien ihr die gesamte religiöse Erkenntnis und Betätigung, die Gesetze und das Staatswesen, alle Fertigkeiten und Künste sowie die Unterscheidung zwischen wahr und falsch zu verdanken (17). Damit ist auf indirekte Weise (die σοφία als Mittlerin) ein Topos der Lobrede auf einen Gott abgehandelt, der in der einschlägigen Theorie (siehe Quint. Inst. ΠΙ 7,7; Alexander Numeniu, p. 6, 2f; dazu oben S. 129 bzw. S. 136f) seinen festen Platz hat: die .Erfindungen' (mvenío/εύρήματα) des Gottes zum Nutzen der Menschen.

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as auch als „der Eine", als Zeus (εις Ζευς) verehrt (21). Die anderen Götter seien nämlich in bezug auf ihre δυνάμεις und τιμαί verschieden und würden daher von verschiedenen Menschen und zu verschiedenen Anlässen angerufen; er als einziger (μόνος) erfülle jedem Menschen jede Bitte (22). So sei auch sein Machtbereich nicht auf die Erde beschränkt, sondern erstrecke sich gleichermaßen über das Meer und bis in den Äther und die Wolken; seine Herrschaft über die Menschen aber ende nicht mit deren Tod, sondern setze sich in seiner Richtertätigkeit in der Unterwelt fort (23-25).70 Der Gedanke an ihn erfülle die Menschen mit Frohsinn und Furcht zugleich, da er zugleich der menschenfreundlichste (φιλανθρωπότατος)71 und der am meisten zu fürchtende (φοβερώτατος) von den Göttern sei; aber während die Furcht die Menschen vor bösen Taten bewahren solle, überwiege doch das Mitleid (ελεος) des Gottes und seine Zuwendung zu den ewig Hilfsbedürftigen (26). Dementsprechend halte er mit den Menschen echte Gemeinschaft (κοινωνία), indem er im Kultmahl zugleich Gastgeber und teilnehmender Gast sei (27) und im Geschäftsleben nicht nur Patron, sondern auch Partner der Kaufleute und Reeder (28).Ώ Ganze Schränke heiliger Bücher geben laut Aristeides davon Zeugnis, daß Sarapis etwa der Herr der Winde sei, mitten im Meer trinkbares Wasser hervorgebracht, Darniederliegende auferweckt und den Ausschauenden das ersehnte Licht der Sonne gezeigt habe (29). Wollte jemand alle seine Werke aufzählen, so brauchte er die ganze Ewigkeit dafür; zu allen Zeiten würden daher immer wieder Menschen von seinen Hilfeleistungen berichten (30-31). Mit einer feierlichen Bekräftigungsformel, wie sie bei der Verkündigung von Verträgen üblich sei, schließt Aristeides den Hauptteil seiner Rede ab (31 Ende): „Keine Angst, wir sagen nichts als die Wahrheit!" (πάντως ού δέος μή ψευσώμεθα). Darauf folgt eine Zusammenfassung, die an den Anfang (§ 16)

70 Als Beispiel für den feierlichen Stil des Prosahymnus sei hier der letzte Teil von § 25 zitiert: σωτήρ αύτός και ψυχοπομπός, αγων εις φως και πάλιν δεχόμενος, πανταχή πάντας περιέχων („Heiland und Seelenführer in einem, der [uns] zum Licht führt und wieder zu sich nimmt, allerorten alle allumfassend.") - zu beachten sind besonders die (hymnentypische) Reihung von Partizipien und die mit Paronomasie verbundene Alliteration (gerade die πAlliteration in Verbindung mit πάντα o.a. findet sich noch öfter in dieser und den anderen Götter-Reden des Aristeides). 71 Die φιλανθρωπία des zu preisenden Gottes wird in der Theorie des Götterenkomions bei Alexander Numeniu (p. 6 , 5 f ) ausdrücklich erwähnt und gehört zu den bevorzugten Topoi in der Götterreden des Aristeides (vgl. bes. zu Athena: or. 37,17 [Φιλανθρωποτάτη δέ ή αύτη και δυνατωτάτη]; femer die bei AMANN, Zeusrede 9, angegebenen Stellen). - Das superlativische Prädikat φιλανθρωπότατος wird schon bei Piaton, Symposion 189c, dem Eros beigelegt, und zwar aufgrund seiner Eigenschaft als „Helfer" (έπικουρός) und „Arzt" (ιατρός) - eine Stelle, die Aristeides sicher bekannt war. 72 Dazu, wie sich dieses reziproke Verhältnis wohl konkret dargestellt hat, siehe HÖFLER, Sarapishymnus 9 3 - 9 8 (zum Kultmahl) und 9 8 - 1 0 0 (zu den Bankgeschäften des Kultvereins).

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der Rede anknüpft und noch einmal die Macht (κράτος) und die Vorsehung (πρόνοια) des Sarapis preist (32).73 Zum Schluß der ganzen Rede wird noch einmal Sarapis selbst angesprochen als „Beherrscher der schönsten aller Städte" (d. i. Smyrna), in der auch seine alljährliche Feier (πανήγυρις) stattfinde, und als Licht aller Menschen; Aristeides dankt dem Gott für die kürzlich erfolgte Rettung aus Seenot und bittet ihn um gnädige Annahme dieses ύμνος - als Dankesgabe (χαριστήριον) für die Rettung74 und zugleich als Schutzanrufung (ίκετηρία) und Bitte (παράκλησις) für die Zukunft (33-34). Die ausführliche Rechtfertigung des Prosahymnus im Prooimion der Sarapisrede erweckt den Eindruck, daß Aristeides hier etwas völlig Neues unternimmt. Wir haben aber bei der Betrachtung der rhetorischen Theorie gesehen, daß die Lobrede auf einen Gott bereits vor Aristeides eine anerkannte Gattung der Rede darstellt.75 Es muß also auch hier Vorläufer geben, bei denen die von Isokrates entwickelten Regeln des Prosa-Enkomions bereits auf Götter angewandt worden sind. Dies ist auch tatsächlich der Fall, und zwar zum ersten Mal bei Piaton: Er läßt die Teilnehmer an seinem .Gastmahl' reihum Lobreden auf den Eros halten.76 Freilich sind diese voller Ironie, ζ. T. an der Grenze zur Parodie, und außerdem nicht selbständig, sondern Bestandteile eines größeren literarischen Zusammenhangs. Ernster gemeint ist ein Hymnus 73 Der resümierende Abschnitt 2 9 - 3 2 ist umschlossen von Satzfolgen mit anaphorischem ούτος (fünfmal in § 29, viermal in § 32), was die Erhabenheit des Stils noch einmal steigert; ganz ähnlich am Ende des Zeushymnus (§ 29 f: neunmal anaphorisches ούτος). Diese Sätze werden von NORDEN, Agnostos Theos 164f, als Beispiele für den hymnentypischen „,Er'-Stil der Prädikation" angeführt. Es bleibt jedoch zu beachten, daß sich anaphorische Reihungen von Personalpronomina zwar in der lateinischen Hymnendichtung recht häufig finden, aber im griechischen Bereich erst spät und überwiegend in der Prosa anzutreffen sind (vgl. oben Kap. Π. 1 c, Anm. 82). 74 Vgl. hierzu wiederum den Zeushymnus des Aristeides, § l f , wo die Erwähnung der Rettung aus Seenot ebenfalls mit der Bitte um Annahme (Imperativ προσοΰ) des ϋμνος als χ α ρ ι στήριον verbunden wird. 75 Ausgeführte Topik bei Quint. Inst. ΠΙ 7 , 7 - 9 (s.o. S. 129); Alexander Numeniu, Kap. 3 ( = p. 4 , 1 6 - 6 , 9 ) (s.o. S. 136f); der Begriff ύμνος auch bei Theon, Progymnasmata IX,6 BUTTS ( = p. 109,24 SPENGEL) (S.O. S. 131). 76 Phaidros: 1 7 8 a - 1 8 0 b ; Pausanias: 180c-185c; Eiyximachos: 1 8 5 e - 1 8 8 e ; Aristophanes: 1 8 9 c - 1 9 3 d ; Agathon: 1 9 4 e - 1 9 7 e ; Sokrates (in der Maske der Diotima): 2 0 1 d - 2 1 2 c . - Ein ähnlicher Fall ist die erste Rede des Sokrates auf den Eros im .Phaidros' ( 2 3 7 a - 2 4 1 d ) , die mit einer feierlichen Musenanrufung beginnt, sich enthusiastisch steigert (vgl. 238c) und am Schluß in Dithyramben und epische Verse übergeht - und das, obwohl es sich laut Sokrates erst um eine Tadelrede handele, weshalb er auf den lobenden Teil lieber verzichte, um nicht vollends von Begeisterung fortgerissen zu werden (vgl. 241 e). Allerdings scheint mir der Begriff des .Hymnus' zu weit gefaßt, wenn auch die zweite Sokratesrede über den Eros (Phaidros 2 4 4 a - 2 5 7 b ) oder die Rede des Timaios (im gleichnamigen Dialog 2 7 c - 9 2 c ) über die Entstehung der Welt so bezeichnet werden (gegen NORDEN, Kunstprosa 844). - Auf die hier genannten Beispiele hat übrigens schon .Menandros', Traktat I, p. 3 3 4 , 5 - 2 1 , hingewiesen.

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an die Philosophie, der sich in Ciceros .Gesprächen in Tusculum' (V 5) findet - aber auch dieser ist fest mit seinem Kontext verbunden.77 Der Prosahymnus als eigenständige Gattung ist tatsächlich bei Aristeides erstmals belegt.78 Zum feierlich gehobenen Stil der Götterrede muß nicht viel gesagt werden: Aristeides nutzt die rhetorischen Möglichkeiten, der Rede Schmuck zu verleihen, voll aus - schließlich muß er mit den Dichtern konkurrieren (und steht überdies in der isokrateischen Tradition der Lobrede).79 Nur auf eine Besonderheit sei hier noch hingewiesen: das ist der zweimal begegnende Wechsel zur direkten Anrede des Gottes (§ 14. 33 f), während die Rede sonst durchgängig von Sarapis in der dritten Person spricht. Auch die anderen Götterreden des Aristeides beginnen fast alle mit der direkten Anrufung der Gottheit (der Zeushymnus fügt § 6 sogar noch eine Musenanrufung hinzu) und gehen dann in die dritte Person über (umgekehrt bei der Rede auf das Ägäische Meer, die in der 3. Pers. beginnt und mit einem Gebet in der 2. Pers. endet). Dieses Ne-

77 Mit diesem Text befassen wir uns ausführlich unten Kap. ΠΙ. 2a. 78 Vgl. allerdings den Anfang der Heraklesrede (or. 40,1), wo die Feststellung, der Gott sei πάντως πολυύμνητος, mit dem Hinweis auf Vorgänger in Prosa und Poesie begründet wird: πολλοί γ α ρ οί κ α τ α λ ο γ ά δ η ν αδοντες τα σά, π ο λ λ ά δέ ποιηταί κατά π ά ν τ α ς τρόπους ϋμνηκασιν („viele nämlich sind es, die deine [Taten] in Prosa besingen [!], vieles haben aber [auch] Dichter auf jede Weise in Hymnen gepriesen"). Im Gegensatz dazu betont Aristeides im Hymnus auf das Ägäische Meer (or. 44,1), daß noch keiner das Meer um seiner Weihung willen besungen hätte - weder ein Dichter noch ein Prosaautor: Πέλαγος δέ ουδείς πω δια τέλους ήσεν ουτε ποιητής οϋτε λογογράφος. Auch hier könnten .Prosahymnen' auf andere Gottheiten den Hintergrund der Aussage bilden - wobei wir freilich nicht wissen, ob es sich bei diesen Vorläufern um selbständige Texte oder um .hymnische' Abschnitte in größeren Kontexten gehandelt hat. Ich halte es sogar für möglich, daß beide Stellen auf Piaton, Symposion 177a-c, zurückgehen: Hier findet sich sowohl die Aussage, die Sophisten hätten auf Herakles (und auf andere) Lobreden in Prosa geschrieben ( Η ρ α κ λ έ ο υ ς μεν και ά λ λ ω ν επαίνους κ α τ α λ ο γ ά δ η ν συγγράφειν), als auch die bedauernde Feststellung, daß von den vielen Hymnen-Dichtern und fleißigen Lobrednern nicht ein einziger bisher einen Hymnus oder eine Lobrede auf den Eros angefertigt habe. 79 Auf Beispiele (Partizipien, Alliteration, anaphorisches ούτος) wurde bereits oben Anm. 70 u. 73 hingewiesen. Durchweg lassen sich auch die für Hymnen charakteristischen überschwenglichen Formulierungen wie Superlative oder Aussagen bzw. Prädikationen mit άεί, μόνος, πάντα, π ο λ ύ ς usw. (siehe oben Kap. Π. 1 a) antreffen. Für eingehendere stilistische Analysen siehe den Kommentar von HÖFLER (Sarapishymnus 21-113). - RUSSELL, Aristides and the Prose Hymn 200f, unterscheidet zwei stilistische Grundtypen in bezug auf die Hymnen des Aristeides: auf der einen Seite einen mehr .hymnischen' Stil mit kurzen, oft asyndetischen oder anaphorischen Sätzen, .gorgianischen' Figuren und poetischem Vokabular, auf der anderen Seite einen mehr .epideiktischen' Stil, der ausgeführte Perioden aufweise und den Enkomien auf Menschen und Orte näher stehe. Zum ersten Typ zählt RUSSELL die Reden auf Athena, Zeus, Sarapis und Dionysos, zum zweiten die auf Poseidon und auf das Ägäische Meer, während die Hymnen auf Herakles, Asklepios und den Asklepiosbrunnen Elemente aus beiden enthielten. RUSSELL betont indes, daß aus dieser Klassifizierung weder Qualitätsurteile noch chronologische Schlußfolgerungen gezogen werden dürften (gegen AMANN, Zeusrede 19 ff).

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Das Lob von Göttern und Menschen

beneinander von zweiter und dritter Person konnten wir zwar auch in der Lobrede des Plinius auf Trajan beobachten; hier erklärt es sich jedoch aus der Anlehnung an die poetischen Hymnen: Anders als im Panegyricus, wo der Lobredner den Kaiser physisch vor Augen hat und deshalb auch direkt anspricht, muß im Hymnus erst um die Anwesenheit (das Kommen, Hören, Schauen) der Gottheit gebeten werden; hinzu kommt, daß ihre Gunst in Form der Inspiration als ein wichtiger Faktor für das Gelingen des Hymnus angesehen wird.80 Auch der Aufbau des Prosahymnus lehnt sich an die Gepflogenheiten der poetischen Vorbilder an: Die bereits eben besprochene Anrufung der Gottheit (und evtl. auch der Musen) zu Beginn (§ 14) wird durch Reflexionen auf metasprachlicher Ebene ergänzt (§1-13, freilich hier wegen der Rechtfertigung der Prosaform außergewöhnlich lang); darauf folgt ein preisender .Mittelteil' (§ 15-32) und am Schluß ein Gebet (§ 33-34). Der Eingangsteil ist bei den anderen Prosahymnen des Aristeides kürzer, weil die metasprachlichen Reflexionen, soweit vorhanden, knapper gefaßt sind; der Schlußteil beschränkt sich auf einen abschließenden (meist besonders feierlichen) Lobpreis. In bezug auf den .Mittelteil' der Sarapisrede fällt auf, daß Aristeides die Abstammung (γένος) des Gottes, die sowohl im üblichen Aufbau der Hymnen als auch in der diesbezüglichen rhetorischen Theorie81 ihren festen Platz vor den Taten hat, völlig übergeht. Dies erklärt sich jedoch mit dem Fehlen eines entsprechenden Mythos für Sarapis82 und ist in den anderen Götterreden des Aristeides anders; vor allem die Verwandtschaft ersten Grades mit Zeus sowiedas hohe Alter werden bei den betreffenden Göttern als Steigerung der Ehrwürdigkeit besonders hervorgehoben.® Die Darstellung der göttlichen δύναμις anhand der εργα ist dann wieder im Einklang mit den einschlägigen Regeln; da Sarapis aber betont als Universalgott gefeiert wird, erhält die Frage nach seinem speziellen Macht- und Zuständigkeitsbereich und dem Ort seiner Verehrung eine entsprechend weite Antwort: Seine Herrschaft umfasse das ganze menschliche Leben von der Geburt bis über den Tod hinaus, so daß er (als „Einziger" unter den Göttern) von allen Menschen angerufen werde - zu Lande, zu Wasser und in der Luft84 (vgl. bes. § 17-25). Als weitere Namen für

80 Vgl. dazu ausführlich oben Kap. Π. 1 a (zum Wechsel zwischen der 2. und 3. Person bes. S. 41 mit Anm. 25). 81 Siehe die oben Anm. 75 genannten Stellen. 82 Vgl. HÖFLER, Sarapishymnus 41 ff. 83 Dazu vgl. AMANN, Zeusrede 7 (mit Belegstellen). 84 Zu dieser Dreiteilung der Welt (§ 23) vgl. die Frage des Alexander Numeniu, ob es sich um einen Gott „des Himmels, des Meeres oder der Erde" handele (p. 5, 29 f; im Wortlaut oben S. 137 Anm. 135 zitiert). Vgl. im biblischen Bereich Ex 20,11 ( = Ps 146,6; Neh 9,6; Apg 4,24; 14,15; Offb 10,6; 14,7); Dan 3,56 LXX; ähnlich (Unterwelt statt Meer) Phil 2,10; Offb 5,3; IgnTrall 9,1 (beides nebeneinander - somit eine Vierteilung - Offb 5,13). Hingewiesen sei auch auf die dreimalige Dreiteilung in Diogn 7,2 - innerhalb eines Abschnitts, der insgesamt mit zahlreichen hymnischen Stilelementen durchsetzt ist.

Beispiele epideiktischer Rhetorik

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denselben Gott nennt Aristeides explizit Zeus (εις Ζευς, §21) und implizit Helios (κοινόν απασιν άνθρώποις φως, § 33, vgl. 29). So wie Aristeides in seinen Götterreden die rhetorische Theorie der Lobrede und die Praxis poetischer Hymnen und epideiktischer Reden rezipiert, so beeinflußt er seinerseits Theorie und Praxis des Prosahymnus späterer Jahrhunderte: Die wichtigsten, weil umfangreichsten antiken Beiträge zur epideiktischen Rhetorik - die beiden aus dem 3. Jahrhundert stammenden Traktate Περί επιδεικτικών unter dem Namen des Menandros - zeigen in ihren Vorschriften für die Gattung .Hymnus' deutlichen Einfluß des Aristeides und führen ihn sogar als Vorbild an (p. 344,2).K Als praktische Beispiele sind besonders die Hymnen zweier nichtchristlicher Autoren des 4. Jahrhunderts zu nennen: der des Rhetors Libanios auf Artemis (or. 5) und die seines Schülers, des Kaisers Julian (später mit dem Beinamen Apostata' versehen, weil er sich vom Christentum abgewandt hatte) auf Helios (or. 11 bzw. 4) und auf die Göttermutter (or. 8 bzw. 5).80

Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Beispiele epideiktischer Rhetorik im wesentlichen wie auch in einzelnen Punkten mit der Theorie ihrer Zeit im Einklang stehen; da die in diesem Kap. ausgewählten Vertreter jeweils auch Neuerer waren, ging von ihnen außerdem eine starke Wirkung auf die spätere Theorie und Praxis aus. So ist es zu erklären, daß die früheren Texte des öfteren den Vorschriften späterer Theorie zu folgen scheinen, wo sie in Wirklichkeit die Vorlage dafür gebildet haben. Es verbietet sich demnach, diese Vorschriften zum strengen Maßstab für die Texte aus früherer Zeit zu erheben.

85 Dieses Doppelwerk ist oben S. 142 kurz vorgestellt und in die Entwicklung der Theorie des γένος έπιδεικτικόν eingeordnet worden. Die Gattung .Hymnus' wird in Traktat I, p. 333 bis 344, theoretisch behandelt, während Traktat Π, p. 437-446, ein praktisches Beispiel gibt: eine Musterrede auf Apollon Smintheus (Σμινθιακός λόγος). 86 Zu diesen siehe die Bemerkungen bei NORDEN, Kunstprosa 845 f.

III. Das Phänomen des Stilwechsels in antiken Texten

1. Zur antiken Stiltheorie a) Die rhetorischen Redegattungen und ihre Mischung Wenn in der antiken Rhetorik seit Aristoteles auch allgemein drei Gattungen der Rede (gerichtliche, beratende und epideiktische) unterschieden werden1, so ist doch damit keine starre Undurchlässigkeit behauptet. Auch abgesehen von den Grenzfällen - etwa daß gelegentlich eine Lobrede zur Apologie oder eine Äußerung im Senat zur Tadelrede geraten2 - können gerade Lob und Tadel in jeder Gattung enthalten sein, was nach Quintilian (Inst. III 4,11) schon Isokrates bewußt war. Daß epideiktische Passagen in gerichtlichen und beratenden Reden sogar häufig seien, ist aus der .Rhetorik an Herennius' (III 8,15) zu erfahren und wird durch Cicero (De orat. II 349) bestätigt.3 Diese allgemeine Feststellung läßt sich indes noch etwas präzisieren, wenn wir in den rhetorischen Anweisungen für die einzelnen Redeteile nach der Erwähnung von Lob und Tadel suchen. Daß das Prooimion in der epideiktischen Rede selbst wiederum epideiktischen, symbuleutischen oder dikanischen Charakter haben kann, war uns schon bei Aristoteles (Rhet. III 14,2-4) begegnet. Aber auch in der Gerichtsrede bietet die Einleitung Gelegenheit für Lob und Tadel, da die Hörer (bzw. Richter) hier wohlwollend gestimmt werden sollen. Nach der .Rhetorik an Alexander' hat der Redner im Falle einer unvoreingenommenen Hörerschaft zuerst kurz sich selbst zu loben und die Gegner schlechtzumachen (36,5)4. Die

1 Vgl. zu den drei Redegattungen ausfuhrlicher oben Kap. Π. 2a. 2 Vgl. zum ersten Fall Theon, Progymnasmata IX,81-86 BUTTS (= p. 112, 8 - 1 3 SPENGEL) (s.o. Kap. II. 2a, S. 133) und Isokrates, Helena 14 (s.o. Kap. Π. 2b, S. 146f), zum zweiten Fall Quint. Inst. ΙΠ 7,2 (s.o. Kap. II. 2a, S. 129). 3 Beide Stellen sind bereits oben in Kap. Π. 2a angeführt. - Dazu, daß eine epideiktische Rede als ganze auch eine symbuleutische Funktion haben kann, siehe Piaton, Menexenos 236 e. 4 αυτούς μεν συντόμως έπαινετέον και τούς έναντίους κακολογητέον. (Statt αυτούς liest RACKHAM αυτούς, muß dann aber in der Übersetzung die Klienten ergänzen, weil sonst

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Richter müßten mit einem Lob ihrer Gerechtigkeit und Kompetenz bedacht werden5; und etwaige Mängel (ελαττώσεις) des Redners gegenüber seinen Gegnern (in Hinsicht auf das Reden oder Handeln oder etwas anderes im Zusammenhang des aktuellen Falles) seien zwecks Werbung um Sympathie ebenfalls hier mitanzuführen (36,6). Bei der Beratungsrede seien dementsprechend die Hörer mit Lob zu bedenken6, und der Redner selbst solle sich durch ελαττώσεις einführen (ζ. B.: „Nicht im Vertrauen auf meine Redegewalt habe ich mich erhoben, sondern in der Meinung, einen Vorschlag zum Nutzen für die Gemeinschaft zu machen.")7 (29,9). Dieselben Gedanken finden sich in den späteren Rhetorik-Handbüchern in stärker systematisierter Form wieder, und zwar werden für die Sympathiegewinnung im Redeeingang8 vier Möglichkeiten angenommen: von der eigenen Person bzw. Partei des Redners her, von der Person der Gegner her, von der Person der Hörer bzw. des Richters her und von der Sache her.9 Das Lob der eigenen Person soll die lauteren Motive des Redners unterstreichen, aber nicht durch arrogantes Auftreten, sondern eher durch Bescheidenheit und Betonung der eigenen Schwäche.10 Der Tadel der Gegenpartei, insbesondere die unvoreingenommenen Hörer das Objekt des Satzes wären. Eine handschriftliche Basis hat seine Konjektur anscheinend nicht.) - Die Topoi für Lob und Tadel an dieser Stelle der Rede sollen möglichst großen Bezug zu den Hörern haben, wie etwa Liebe zur Stadt und zu den Freunden, Dankbarkeit und Mitleid (bzw. deren Gegenteil). 5 χρή δε και τούς δικαστάς έπαίνω θεραπεΰσαι ώς δικασταί δίκαιοι και δεινοί είσιν. 6 επειτα τούς άκούοντας έπαίνω θεραπευτέον. 7 ού δεινότητι πιστεύων άνέστην, άλλα νομίζων τω κοινω τό συμφέρον είσηγήσεσθαι. - Die „sympathiewerbende Bescheidenheitsformel" (LAUSBERG, Handbuch § 1245 s. v. έλάττωσις) ist nur ihrer Form nach epideiktisch, da es dem Redner ja nicht wirklich um die Herabsetzung der eigenen Person geht, sondern im Gegenteil um „eine Art stillschweigende Empfehlung" (quoque commendatio tacita: Quint. Inst. IV 1,8), eine „Verstellung, um die Redekunst zu verbergen" (circa occultandam eloquentiam simulatio: ebd. 1,9; vgl. 1,55-60). Die Selbstverkleinerung des Redners als „schwach, unvorbereitet und [dem Gegner bzw. der Sache] nicht gewachsen" (infirmus, imparatus, impar: ebd. 1,8; vgl. kritisch bereits Isokrates, Panegyrikos 13) ist als Topos des Redeeingangs weitverbreitet („affektierte Bescheidenheit": dazu mit B e i s p i e l e n NORDEN, K u n s t p r o s a 595, A n m . 1, u n d CURTOS, L i t e r a t u r 9 3 - 9 5 ) .

8 Das exordium hat in den lateinischen Handbüchern drei Aufgaben: Es soll das Publikum wohlwollend, aufmerksam und gelehrig (benivolum, attentum, docile) machen; vgl. (mit schwankender Reihenfolge) Rhet. ad Her. I 4,7; Cicero, De inv. I 15,20; Quint. Inst. IV 1,5. (Cicero, Part. or. 8,28: ut amice, ut intellegenter, ut attente audiamur.) 9 Rhet. ad Her. I 4,8: Benivolos auditores facere quattuor modis poterimus: ab nostra, ab adversariorum nostrorum, ab auditorum persona, ab rebus ipsis. — Cicero, De inv. I 16,22: Benivolentia quattuor ex locis comparatur: ab nostri, ab adversariorum, ab iudicum persona, a causa. Vgl. Cicero, De orat. Π 321; Part. or. $,28; Quint. Inst. IV 1,6. 10 Rhet. ad Her. I 5,8; Cicero, De inv. I 16,22; Quint. Inst. IV 1,7-15. - Zu den Bescheidenheitsformeln vgl. oben Anm. 7; zum Eigenlob allgemein ausführlicher den Exkurs in Kap. Π. 2a, S. 137ff.

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die Erwähnung von bösen Taten, von Macht und Reichtum und von dekadenter Lebensweise, soll bei den Hörern Haß, Mißgunst und Verachtung (odium, invidia, contemptio) erregen.11 Die Hörer (bzw. der Richter) sollen für Mut, Weisheit und andere Tugenden, die sie in ihren früheren Entscheidungen gezeigt haben (und die für die aktuell anstehende Entscheidung das beste erwarten lassen), gelobt werden, jedoch ohne übertriebene Schmeichelei.12 Von der Sache her schließlich ist Wohlwollen zu gewinnen durch lobende Steigerung des eigenen Standpunktes und verächtliche Abwertung des gegnerischen.13 Auch der auf die Einleitung folgende Redeteil der .Erzählung' (διήγησις/ narratio) kann epideiktische Elemente enthalten, da es sich hierbei um eine parteiliche Wiedergabe des zur Debatte stehenden Sachverhaltes handelt.14 Dabei können die beteiligten Personen gleich bei ihrer Einführung vom Redner durch Lob geschmückt oder durch Tadel in Verruf gebracht werden (vgl. Quint. Inst. IV 2,129); und der Redner kann Bemerkungen über sein eigenes Verhalten im vorliegenden Fall einflechten und damit seine eigene Tugendhaftigkeit ins rechte Licht rücken (vgl. Arist. Rhet. III 16,5). An unterschiedlichen Stellen der Rede kann der Redner nach Bedarf Exkurse einlegen, die den eigentlichen Gedankengang der Rede unterbrechen. Schon bei Isokrates, der gern kleine .Lobreden' in seine Reden einfügte15, begegnen Reflexionen dazu: Der Redner ist sich bewußt, daß Passagen über Sachverhalte, die außerhalb des Themas liegen, von den Hörern nicht unbedingt geschätzt werden, betont aber zur Rechtfertigung seiner eigenen Exkurse deren Relevanz für das aktuelle Thema.16 Der bei Cicero (De inv. I 51,97) referierte Rhetor Hermagoras von Temnos wies der digressio den Ort zwischen Beweisführung und Schlußteil zu und hielt Eigenlob des Redners oder Tadel des Gegners oder die Erinnerung an einen

11 Rhet. ad Her. I 5,8; Cicero, De inv. I 16,22; Quint. Inst. IV 1,11.14. - Bemerkenswert ist, daß Macht, Reichtum, familiäre Herkunft etc., die uns in Kap. Π. 2a als Topoi der .äußeren Umstände' in der Lobrede begegnet waren (vgl. Rhet. ad Alex. 35,3; Rhet. ad Her. ΠΙ 6,10; Cicero, De inv. Π 59,177f; Quint. Inst, m 7,12-14; Theon, Progymnasmata IX, 1 5 - 1 9 BUTTS = p. 1 1 0 , 2 - 6 SPENGEL), je nach Kontext vom Redner positiv oder (wie hier) negativ verwendet werden können, da sie keine Tugenden per se darstellen. 12 Rhet. ad Her. 15,8; Cicero, De inv. 116,22; Quint. Inst. IV 1,16-22. 13 Fast wörtlich übereinstimmend Rhet. ad Her. I 5,8 u. Cicero, De inv. I 16,22 ( . . . si nostram causam laudando [exjtollemus, adversariorum [causam] per contemptionem deprimemus); zur Sache vgl. Quint. Inst. IV 1,23. 14 Siehe allgemein zur .Erzählung' Aristoteles, Rhet. ΠΙ 16; Rhet. ad Alex. 30f; Rhet. ad Her. 18,11-9,16; Cicero, De inv. 119,27-21,30; Part. or. 9,31f; Quint. Inst. IV 2. 15 Vgl. Helena 1 8 - 3 8 (Lob des Theseus), Antidosis 101-128 (Lob des Timotheos), Panathenaikos 7 4 - 8 7 (Lob des Agamemnon). 16 Vgl. Helena 21f, Antidosis 104 und v.a. Panathenaikos 74f.

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anderen Fall (im Interesse der amplificatio) für angemessene Gegenstände dieses Redeteils.17 Cicero selbst grenzt sich von dieser Sicht ab: Lob und Tadel sollten keinen eigenen Redeteil bilden, sondern in die Argumentation verwoben sein.18 Unberührt von dieser Kritik bleibt es jedoch, daß ein Abschweifen (digredì) vom eigentlichen Thema der Rede auch nach Ciceros Meinung oft nützlich sein kann, um die Gemüter der Hörer so zu erregen, wie es sonst vor allem dem Anfang und dem Schlußteil der Rede zukommt.19 Zur Zeit Quintilians hatte der Exkurs bei vielen Rednern seinen festen Platz gleich im Anschluß an die narratio, wo das Abschweifen zu allgemein dankbaren Themen zugleich die Eitelkeit der Redner und das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums befriedigte (vgl. Inst. IV 3, lf). Quintilian weist demgegenüber auf die Verschiedenheit der Fälle hin: Nicht in jeder Rede sei im Anschluß an die .Erzählung' der rechte Ort für eine Abschweifung; oft sei es von der Sache her eher geboten (oder zumindest erlaubt), sie vor oder nach der Beweisführung einzuschieben oder an einzelne Beweise anzuschließen (3,3f.9-ll). So könne ein Exkurs an jeder Stelle innerhalb der Rede durchaus zu deren Glanz und Schönheit beitragen; er müsse aber einen logischen Bezug zum Thema der Rede haben und dürfe nicht mit Gewalt einen organischen Zusammenhang auseinanderreißen (3,4). Für ein solches Stück - von den Griechen als παρέκβασις, von den Römern als egressus, egressio oder excursus bezeichnet - eigne sich v.a. „Lob von Menschen und Orten, Beschreibung von Landschaften und Darstellung von Taten - auch aus der Sagenwelt" (3,12). Als Beispiele nennt Quintilian (3,13) das Lob Siziliens und die Erzählung vom Raub der Proserpina aus Ciceros zweiter Rede gegen Verres (2,Iff; 4,4s)20 sowie aus der (verlorenen) Rede für Cornelius die Erinnerung an die Leistungen des Pompeius. Schließlich räumt Quintilian ein, daß es „sehr viele" (plurima), ja „unzählige" (innumerabilia) Fälle gebe, in denen Dinge ohne sachlichen Zusammenhang in die Rede eingefügt werden, „durch die der Richter ermuntert, ermahnt, besänftigt, gebeten und gelobt wird" manchmal vorbereitet, manchmal spontan aufgrund passender Gelegenheit oder durch eine Störung erzwungen (3,16). Auf jeden Fall solle man nach einer Abschweifung schnell wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren (3,17).

17 Hermagoras von Temnos lebte im 2. Jh. v. Chr.; seine umfangreichen τέχναι ρητορικά ι sind verloren, waren aber eine Quelle für die Rhet. ad Her. und Cicero, De inv. (vgl. GÄRTNER, KP Π [1967], 1064). 18 A.a.O.; vgl. auch De orat. Π 80f. In De orat. ΠΙ 203 wird die digressio folgerichtig innerhalb einer Aufzählung von Gedankenfiguren erwähnt. 19 Vgl. De orat. Π 311 f; Part. or. 4,14. 20 Das Lob Siziliens war schon ΠΙ 7,27 als Beispiel für Lobreden auf Gegenden genannt worden (s.o. Kap. Π. 2a, S. 130 mit Anm. 101). - Die Beispiele zeigen, daß Ciceros theoretische Distanzierung von der digressio als eigenem .epideiktischen' Redeteil ihn nicht an deren praktischer Anwendung gehindert hat.

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Der Schlußteil einer Rede besteht nach Aristoteles (Rhet. III 19) daraus, den Zuhörer für sich selbst und gegen die gegnerische Partei einzunehmen, Dinge zu steigern und abzuschwächen, Affekte beim Zuhörer zu erregen und das Dargelegte kurz in Erinnerung zu bringen. Hierbei haben die beiden ersten Punkte deutlich epideiktischen Charakter, und sogar die erinnernde Wiederholung der Hauptargumente kann (wenn sie in der Form einer Synkrisis ausgeführt wird) diesen Charakter haben.21 Auch nach der .Rhetorik an Alexander' (36,45-51) dient ein wiederholender Schlußteil (παλιλλογία, definiert als των είρη μένων ήδη σύντομος άνάμνησις) in Gerichts- und Beratungsreden dazu, Richter und Zuhörer für sich selbst wohlwollend und für die Gegner übelwollend zu stimmen. Zu diesem Zweck solle der Redner die eigenen Wohltaten, die er (bzw. sein Klient) den Gegnern oder den Zuhörern erwiesen habe, ins Feld führen und sich zum Objekt von Mitleid machen (36,47f); auf der anderen Seite müsse er bei den Zuhörern Haß und Zorn erregen, indem er ihnen zeige, daß die gegnerische Partei ihnen übel mitgespielt habe oder dies vorhabe - könne dies aber nicht gezeigt werden, müsse wenigstens Mißgunst erzeugt werden (36,49).22 Dieselben Motive, wieder in stark systematisierter Form, bestimmen die Darstellung der conclusio oder peroratio in den lateinischen Handbüchern: Die ,Rhetorik an Herennius' (II 30,47) und Cicero (De inv. I 52,98) nehmen für die conclusio der Rede drei Teile an - die Aufzählung der Hauptpunkte (enumeratio), die Erregung negativer Affekte gegen die Gegenpartei (amplificatio/indignatio) und die Erregung von Mitleid für die eigene Partei (conmiseratiolconquestio). Cicero teilt später (Part. or. 15,52-17,60) - logisch folgerichtiger - die peroratio nur noch in zwei Teile: die amplificatio als Erregung der Gefühle und die enumeratio als kurze Wiederholung der Hauptpunkte. So unterteilt auch Quintilian (Inst. VI 1,1) die peroratio in die sachliche Zusammenfassung (rerum repetitio et congregatio) und die Wirkungen auf die Gefühle der Hörer (adfectus, pl.); dies letztere wird dann (1,9) im obigen Sinne noch einmal zweigeteilt. Ausdrücklich bestimmt Quintilian das Verhältnis zum exordium (1,9.12.51): Die dort bereits angerissenen Topoi der Gefühlswirkung sollen im Schlußteil voller entfaltet werden.23 21 Eine ausführlichere Wiedergabe von Rhet. ΠΙ 19 findet sich oben in Kap. Π. 2a, S. 116f. Hier seien aber noch die in 19,3 aufgeführten Affekte genannt: Mitleid (ελεος), Entrüstung (δείνωσις), Zorn (οργή), Haß (μίσος), Mißgunst (φθόνος), Eifersucht (ζήλος) und Rivalität (È'QLÇ).

22 Die Erwähnung der Affekte Haß, Zorn und Mißgunst (μίσος, όργή, φθόνος) korrespondiert mit den drei Affekten, die oben (siehe im Text bei Anm. 11) im Zusammenhang des exordium aufgeführt waren (dort allerdings Verachtung statt Zorn). - Aristoteles hat auch hier (wie bei den Tugenden) einen ausführlicheren Katalog (s.o. Anm. 21). 23 Dieser Zusammenhang mit dem exordium wird unterstrichen durch die Aufzählung der drei Affekte invidia, odium, ira (VI 1,14), die mit der Aufzählung in IV 1,11.14 korrespondiert (siehe oben im Text bei Anm. 11; dort contemptio statt ira).

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Wir wir gesehen haben, sind nach der rhetorischen Theorie des hier betrachteten Zeitraums epideiktische Partien in jeder Redegattung erlaubt. Bevorzugte Stellen, an denen Lob oder Tadel innerhalb einer Rede sogar ausdrücklich empfohlen werden, sind vor allem die Einleitung und der Schluß; aber auch der Redeteil der .Erzählung' ist für epideiktische Elemente geeignet. Darüber hinaus können Lob und Tadel an jeder Stelle der Rede in Form einer eigenständigen Einlage (.Exkurs') angebracht werden.

b) Die rhetorischen Stilarten und ihre Mischung In der antiken Rhetorik bzw. Stilkritik gibt es keine allgemein anerkannte Definition, was genau .erhabener* oder .niedriger' Stil sei. Je nachdem, ob die .Erhabenheit' des Stoffes oder des Redners oder der Gefühlsgehalt der Rede (Pathos) oder ihr Gehalt an Redeschmuck in den Vordergrund der Betrachtung gerückt wird, kann ein konkreter Text „geradezu entgegengesetzt gewertet werden"1. Der Anfang antiker Stilbetrachtung läßt sich bei Homer finden, wo die auftretenden Redner - oft durch den Mund ihrer Zuhörer - knapp charakterisiert werden: Menelaos redet schlicht, aber inhaltsvoll; er ist kein Freund vieler Worte.2 Telemachos wird - mit einem schillernden Begriff, der Erhabenheit und Überheblichkeit zugleich zum Ausdruck bringt - als ύψαγόρης bezeichnet.3 Die Redegewalt des Odysseus wird mit dem Ungestüm winterlicher Schneemassen verglichen.4 Dem steht auf der anderen Seite die „honigsüße Rede" des Nestor gegenüber.5 Der ideale Redner aber, dessen Bild in der .Odyssee' entworfen wird, vereint das Erhabene mit dem Anmutig-Schönen; er redet selbstsicher und doch bescheiden.6 Großen Einfluß auf die spätere antike Stiltheorie hatte die Lehre des Demokrit, daß hohe Dichtung nur „in Verzückung und göttlichem Anhauch" (μετ' ένθουσιασμοΟ και ίεροΰ πνεύματος) geschrieben sein könne7. Freilich 1 QUADLBAUER, Genera dicendi 55. 2 Ilias ΠΙ 213-215. 3 Odyssee 1385; Π 85. 303; XVII406. 4 Ilias LH 222: νιφά&εσσιν . . . χειμερίησιν. Vgl. dazu die .technische' Interpretation bei Quint. Inst. ΧΠ 10,64: copia atque impetus (nach QUADLBAUER, Genera dicendi 56, auf die Kategorien „Fülle und Pathos" zu beziehen). 5 Ilias I 249: toC και από γλώσσης μέλιτος γλυκίων ρέεν αύδή. Vgl. 248 die Bezeichnung Nestors als ήδυεπής. 6 Odyssee V m 171f; vgl. dazu QUADLBAUER, Genera dicendi 56. 7 FVS 68 Β 18; ähnlich Β 21, wo Homer eine φύσις θεάζουσα bescheinigt wird. Wichtig als Vermittler der Enthusiasmuslehre wurde Piaton, obwohl er sie bloß als Anknüpfungspunkt für seine eigene Lehre nimmt: Er lobt zunächst (ironisch) die Ergriffenheit der Dichter, wertet aber

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wird damit die rednerische τέχνη nicht völlig abgewertet: Demokrit schrieb insbesondere der Wortwahl eine gewisse Bedeutung zu.8 Aber der hier erstmals formulierte Gegensatz zwischen Natur und Kunst (φύσις und τέχνη natura bzw. ingenium und ars) blieb für die spätere Zeit bestimmend. In der Rhetorik begegnet zuerst bei Isokrates die Gegenüberstellung der schmuckvollen epideiktischen Reden über große Stoffe auf der einen und der schmucklosen praktischen Reden, deren Themen nur für einen Tag interessant sind, auf der anderen Seite.9 Die Erhabenheit der epideiktischen Rede liegt für Isokrates in der Größe ihres Themas10 und in ihrer musikalisch-ästhetischen Gestaltung. Genau umgekehrt wertet sein Zeitgenosse Alkidamas 11 : Für ihn ist nur die Stegreif-Rede mit Leben erfüllt (εμψυχον) und von praktischer Nützlichkeit (ωφέλεια); scharf verurteilt er die aufgeschriebene und bloß der „Ergötzung" (τέρψις) dienende epideiktische Rede. Sein Kriterium für Erhabenheit ist also der Pathosgehalt der Rede.12 Die Gegenüberstellung von schriftlicher und mündlicher Ausdrucksweise (λέξις) nimmt auch Aristoteles vor, jedoch ohne Wertung: Die eine (γραφική) eigne sich mehr zum Lesen, die andere (αγωνιστική) für die „dramatische Darstellung" (το ύποκρίνεσθαι) (Rhet. III 12,1-3). Diesen zwei Kategorien ordnet er die von ihm begründeten drei Redegattungen folgendermaßen zu: Bei der Volksrede sei „peinliche Sorgfalt" (τά ακριβή) überflüssig, die Gerichtsrede müsse schon „sorgfältiger" (άκριβέστερον) formuliert sein, und die epideiktische Ausdrucksweise sei „am literarischsten" (γραφικωτάτη), da sie vor allem zum Lesen bestimmt sei (12,5).13 Ausdrücklich lehnt Aristoteles die isolierte Forderung, daß die Lexis „an-

dann die philosophische Erkenntnis (επιστήμη) höher (vgl. Ion 533e-536c; Phaidros 245a-b; Apologie 22c; dazu WEHRU, Stil lOOf). Zur Inspiration siehe auch RUSSELL, Criticism 69-83. 8 Vgl. FVS 68 Β 20a; 18b und die Bemerkungen dazu bei WEHRU, Stil 110, und QUADLBAUER, Genera dicendi 56f. 9 Antidosis 46-50; Panegyrikos 4 - 1 4 ; Panathenaikos lf; 271. 10 Als .große Themen' galten seit dem 5. Jh. v. Chr. ganz besonders die μετέωρα (.Himmelserscheinungen'); siehe dazu CAPELLE, Μετέωρος - μετεωρολογία. 11 In seiner einzigen erhaltenen Schrift Περί των τους γραπτούς λόγους γραφόντων η περί σοφιστών (Allium scriptores, ed. RADERMACHER, Β ΧΠ 15, p. 135-141). Der sophistische Rhetor Alkidamas war, wie sein Gegner Isokrates, Schüler des Gorgias (siehe DÖRRIE, KP I [1964], 264f); Aristoteles zitiert mehrere Formulierungen von Alkidamas als Beispiele für überladenen, .frostigen' Stil (Rhet. III 3). 12 Vgl. QUADLBAUER, Genera dicendi 61. - Die Kontroverse zwischen Isokrates und Alkidamas wird jetzt ausführlich von O'SULUVAN, Beginnings 23-62, dargestellt, der auch die stiltheoretischen Äußerungen im Werk des Aristophanes auswertet (ebd. 106-150). 13 Diese Passage wurde bereits oben Kap. Π. 2a im Zusammenhang der Anweisungen für die epideiktische Rede besprochen. - Zur voraristotelischen Zweiteilung der rhetorischen Gattungen (άγων - έπίδειξις) siehe dort Anm. 2.

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genehm und erhaben" (ήδεΐα και μεγαλοπρεπής) sein müsse14, ab (12,6). Sein stilistisches Ideal (αρετή της λέξεως) ist „Deutlichkeit" (σαφήνεια) des Ausdrucks: „weder niedrig noch über die Maßen erhaben, sondern angemessen" (III 2,1)15. Das .Angemessene' (τό πρέπον) liege vor, wenn sowohl das Gefühl des Redenden (πάθος) als auch sein Charakter (ήθος) zum Ausdruck kommen und zu den zugrundeliegenden Gegenständen (πράγματα) „im rechten Verhältnis" (άνάλογον: weder über gewichtige Dinge nach Art der Stegreifrede noch über geringfügige Dinge feierlich zu sprechen) stehen (III 7,lf).16 Insofern können die „pathetischen" Stilmittel (Doppelausdrücke, Anhäufung von Epitheta, fremde bzw. ungebräuchliche Wörter, Metaphern), die sonst (III 3) als Ursache für das .Frostige' (τό ψυχρόν) in der Ausdrucksweise angeführt werden, gelegentlich durchaus angemessen sein: dort nämlich, wo es um den Ausdruck von Affekten (etwa Zorn oder Begeisterung, letztere bei den Zuhörern ζ. B. durch Lob oder Tadel hervorgerufen) geht (III 7,11). Diese grundsätzlichen Überlegungen werden durch ein paar technische' Hinweise ergänzt: Je nachdem, ob Fülle (όγκος) oder Knappheit (συντομία) des sprachlichen Ausdrucks angestrebt werde, könne ein Sachverhalt durch detaillierte Umschreibung oder einfache Benennung dargestellt werden; und auch die Anwendung von Metaphern und Epitheta (jedoch unter Vermeidung poetischer Ausdrucksweise), die Verwendung der Pluralform anstelle des Singulars, der ausgiebige Gebrauch der Artikel und verbindender Partikeln (Konjunktionen) sowie die Erwähnung des Nicht-Zutreffenden (Redeweise via negationis) trügen zur Fülle der Rede bei (III 6). In der .Rhetorik an Alexander' wird nur der zuletzt erwähnte Aspekt als Kriterium für unterschiedlichen Stil angeführt: Der Verf. gibt Anweisungen, wie die Rede je nach Bedarf länger, kürzer oder in mittlerer Länge ausgeführt werden könne (22,3-7). In Lobreden (έπαινοι) sei es angebracht, für jeden einzelnen Sachverhalt mehrere Begriffe zu verwenden und dadurch - also durch größere Länge - die Ausdrucksweise „großartig" (μεγαλοπρεπής) zu gestalten (35,16).

14 Diese Forderung hatte der Isokrates-Schiiler Theodektes aufgestellt (nach Quint. Inst. IV 2,63 allerdings nur für den Redeteil der .Erzählung'); sie entspricht der bei Homer für den idealen Redner behaupteten Einheit (s.o. Anm. 6). 15 μήτε ταπεινην μήτε ύπέρ τό αξίωμα, άλλα πρέπουσαν. Eine entsprechende Anweisung für die Dichtung gibt Aristoteles in seiner .Poetik', Kap. 22,1458al8ff. 16 Der Begriff des .Angemessenen' (τό πρέπον bzw. πρέπειν) ist ein Schlüsselwort der antiken Stiltheorie (mit ethischer Färbung). Die bei Aristoteles aufgeführten Faktoren πάθος ήθος - πράγματα werden bei einigen späteren Autoren zum Dreieck .Redner - Gegenstand - Hörer' variiert (ζ. B. Cicero, Orator 71; Dionysios v. Halik., Lysias 9,1) und gelegentlich noch um den vierten Faktor καιρός erweitert (z.B. Cicero, De orat. ΠΙ 210f; vgl. aber auch schon Aristoteles, Rhet. ΠΙ 7,8). - Zur Geschichte des Begriffs siehe ausführlich POHLENZ, TO πρέπον (passim).

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Vier Stilarten (χαρακτήρες) unterscheidet die Schrift Περί έρμηνείας des Demetrios 17 : den χαρακτηρ ισχνός, μεγαλοπρεπής, γλαφυρός und δεινός; von diesen seien die beiden ersten entgegengesetzte Pole, während die beiden letzteren mit den beiden ersten kombinierbar seien (36). Die Ansicht, daß es überhaupt nur zwei Stilarten gebe (wobei der γλαφυρός dem ισχνός und der δεινός dem μεγαλοπρεπής zugeordnet wäre), lehnt der Verf. als „lächerlich" ab (36f).18 Seine Ausführungen und Kategorien gelten übrigens - wie es in den stilkritischen Schriften der Antike üblich ist - gleichermaßen für Poesie und Prosa.19 Der „großartige" Stil (χαρακτηρ μεγαλοπρεπής), mit dem die Darstellung der Stilarten beginnt, bezieht nach Demetrios seine Erhabenheit aus drei Dingen: dem Gedanken (διάνοια), der Ausdrucksweise (λέξις) und der Wortfügung (σύνθεσις) (38). Letztere ist - im Anschluß an Aristoteles - vor allem am päonischen Rhythmus orientiert20, wobei die lange Silbe jeweils das Kolon eröffnen und beschließen sollte (38-40)21. Lange Kola sowie lange, in sich abgerundete (nicht in Einzelaussagen zerlegte) Perioden tragen nach Demetrios ebenfalls zur Großartigkeit bei (44-47).22 Im Aufbau der Perioden sollte das Prinzip der Steigerung befolgt werden: die auffälligeren Wörter hinter den weniger auffälligen (50-52) und das letzte Kolon am längsten (18). Eine zu penible Entsprechung von Partikeln wie etwa μεν - δε (Parallelismus!) sei zu vermeiden: μικροπρεπές γαρ ή ακρίβεια (53). Überhaupt sollten Partikeln nicht wahllos gebraucht werden, sondern nur wenn sie zur Größe des Gesagten beitragen (54-58). Sehr wirkungsvoll seien Figuren der Wortwiederho-

17 Die Datierung dieser Schrift ist äußerst unsicher, und so reichen die Vorschläge von ca. 300 v. Chr. bis ca. 100 n. Chr.; siehe dazu die ausführliche Diskussion in der «introduction» der Ausgabe von CHIRON, X m - X L , wonach ein Abfassungsdatum um 100 v. Chr. die größte Wahrscheinlichkeit für sich hat. 18 Tatsächlich dürfte die Aufteilung in zwei Stilarten - ausgehend von der Zweiteilung bei Isokrates, Alkidamas und Aristoteles (s.o.) - die ursprünglichere sein, wobei die Rede metaphorisch als .Körper" aufgefaßt wurde, dessen Typus (χαρακτήρ) entweder αδρός (,dick, voll, kräftig, saftig') wie beim Athleten oder ισχνός (,dünn, mager, dürr, trocken') wie beim Soldaten sein konnte. Siehe dazu QUADLBAUER, Genera dicendi 6 4 - 7 1 . 19 Zur wichtigen Rolle der Dichtung in der antiken Rednerausbildung siehe NORTH, The Use of Poetry in the Training of the Ancient Orator. 20 Der „heroische" Rhythmus (= Spondeus, Anapäst und Daktylus) ist für die Prosa zu feierlich (σεμνός), der Jambus zu gewöhnlich; der Päon bildet die [aristotelische] „Mitte" zwischen zwei Extremen (De eloc. 42f; vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 8,4f und oben Kap. 1.1, Anm. 3). 21 Demetrios gibt dafür einen Beispielsatz aus Thukydides, den er frei zitiert: ήρξατο δέ tò κακόν έξ Αιθιοπίας („Das Übel [sc. die Pest] nahm seinen Anfang von Äthiopien her"; vgl. Thukydides Π 48,1; Rhythmus: - u u u uuu— — uuu —). Zur Außenstellung der langen Silbe im ersten und letzten Päon vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 8,6. 22 Auch an anderen Stellen bringt Demetrios Länge mit Großartigkeit in Verbindung (183; 204; vgl. auch 41 Ende) - vgl. dazu die oben angeführten Stellen aus der Rhet. ad Alex.

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lung (Anadiplosis, Anapher)23, denn das δίς ρηθέν erzeuge μέγεθος und δγκος (59-6Ó).24 Auch der Inhalt der Rede, die Wahl großer Stoffe (πράγματα), könne μεγαλοπρέπεια erzeugen - etwa die Schilderung einer (Land- oder See-) Schlacht oder „die Rede über den Himmel oder über die Erde" (περί ουρανοί) η περί γης λόγος). Aber da auch von großen Stoffen in niedriger Weise geredet werden könne, sei vor allem darauf zu achten, wie etwas gesagt wird. (75f.) Das Wie des Gesagten, die λέξις, sollte im .großartigen' Stil „herausragend, vom Alltäglichen abweichend und eher ungewöhnlich" (περιττή, έξηλλαγμένη, ασυνήθη μάλλον) sein (77). In Hinsicht auf die Wortwahl bedeutet das den Gebrauch von Metaphern ( 7 8 - 90), von zusammengesetzten Wörtern (91-93) und von lautmalerischen und neugeprägten Ausdrücken (94-98)^ aber gelegentlich auch die gezielte Verwendung schwer auszusprechender oder unangenehm klingender Wörter (δυσφωνία 48f; 105), obwohl nach Demetrios im allgemeinen eher Wohlklang anzustreben ist (68 -74) 26 . Zur Größe neige auch die allegorische Ausdrucksweise (99-102), und ein besonders eindrucksvolles Stilmittel sei das Epiphonem (106-108) sowie, diesem ähnlich, das Enthymem (109) und die Sentenz (γνώμη, llOf)27. Gelegentlich könne sogar συντομία großartig wirken - insbesondere die άποσιώπησις, das plötzliche Verstummen: Manche Dinge erscheinen bedeutsamer, wenn sie nicht ausgesprochen, sondern bloß angedeutet werden (103). Schließlich trage auch das ποιητικόν in der Prosa zur Großartigkeit bei - dies jedoch mehr bei den Autoren, die nicht einfach die Dichter imitieren, sondern sich deren Sprache ei-

23 Als άναδίπλωσις (140; 267) wird die unmittelbare Wiederholung eines Begriffs innerhalb eines Satzes bezeichnet, als επαναφορά (61; 268) oder αναφορά (72; 141; 268) die Wiederholung des eisten Wortes bei aufeinander folgenden Kola oder Kommata. 24 Die anschließende Warnung vor Übertreibung (67) ist ein nicht nur in dieser Schrift häufig wiederkehrender Topos, der eng mit dem Begriff des πρέπον (s.o. Anm. 16) zusammenhängt. 25 Auch in diesen Abschnitten wird wieder vor Übertreibung gewarnt (90; 93; 98). 26 Der Abschnitt 68-74 behandelt das Zusammentreffen von Vokalen (σύγκρουσις φωνηέντων, lat. hiatus), das bei Isokrates und seinen Schülern generell vermieden, bei anderen generell, aber unreflektiert zugelassen werde (68). Demetrios will die Extreme vermeiden und betont die musikalischen Qualitäten des Phänomens. In diesem Zusammenhang weist er auch auf eine Praxis ägyptischer Priester hin, die Hymnen auf die Götter darbringen, indem sie die sieben Vokale (sc. α, ε, η, ι, ο, υ, ω) nacheinander zum Klingen bringen und damit solch einen Wohlklang erzielen, daß man statt Flöten- und Kitharenspiel lieber dem Klang ihrer Vokale zuhört (71: Έν Αίγύπτω δε και τους θεούς ύμνοΰσι δια των έπτά φωνηέντων οί ιερείς, έφεξής ήχοΰντες αύτά, και άντί αύλοΰ και άντί κιθάρας των γραμμάτων τούτων ό ήχος ακούεται ύπ' εύφωνίας). Vgl. zum Phänomen der Vokalreihung, das auch in antiken Zaubertexten begegnet, DORNSEIFF, Alphabet 35-60 (bes. 52f). 27 Das επιφώνημα ist eine .krönende' Abschlußwendung, deren schmückender Charakter im Sprachlichen liegt, während das Enthymem (.Schlußfolgerung') und die Sentenz den Satz gedanklich zum Abschluß bringen.

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genständig aneignen, wie z.B. Thukydides (112f), der auch sonst als Muster dieses Stils genannt wird (vgl. 40; 44f; 48f; 65; 72). In enger Nachbarschaft zum χαρακτήρ μεγαλοπρεπής liegt nach Demetrios das ψυχρόν als fehlerhafter Stil, das er - im Anschluß an Theophrast - so definiert: „Frostig ist das, was über den passenden Ausdruck hinausschießt"28 (114). Wie das Großartige, entstehe auch das Frostige aus drei Quellen: der διάνοια (übertriebener, unmöglicher Inhalt, 115), der λέξις (Übertreibung in der Wortwahl, 116) und der σύνθεσις (z.B. nur lange Silben oder poetische Versmaße in der Prosa, 117f). Auch die großartige Rede über kleine Dinge ist nach Demetrios .frostig' - außer wenn es im Scherz geschieht29 oder die Situation eine Übertreibung erfordert (119-123). Die Figur der ύπερβολή, der Übertreibung ins Unmögliche30 hält Demetrios im allgemeinen für das .frostigste' aller Stilmittel (ψυχρότατον πάντων), räumt aber zwei Ausnahmen ein: Zu Recht beliebt sei die Hyperbole bei den Komödiendichtern, weil die Unmöglichkeit Lachen erregt, und höchst bewunderungswürdig in Verbindung mit Anmut (χάρις), wie bei der „göttlichen Sappho" (124-127).31 Die Bemerkungen zur Hyperbole leiten bereits zur zweiten Stilart über: zum „eleganten" (oder „glatten") Stil (χαρακτήρ γλαφυρός), der eng mit dem Begriff der Anmut (χάρις) verbunden ist. Demetrios unterscheidet zwei Arten von χάριτες: die erhaben-feierlichen und die geistreich-witzigen (128f). Typische „anmutige" Stoffe (πράγματα χαρίεντα) seien z.B. die Gärten der Nymphen, Hochzeiten und Liebesgeschichten - kurz: die Themen, die sich in der Poesie Sapphos finden (132; vgl. 166). Die Anmut der πράγματα könne durch eine entsprechende λέξις unterstützt werden, ja es könnten sogar ernste und unerfreuliche Gegenstände mit Leichtigkeit und Anmut behandelt werden (133-135). Als Mittel für eine anmutige λέξις empfiehlt Demetrios erstens Knappheit des Ausdrucks (συντομία) (137f). Zweitens sei die richtige Anordnung (τάξις) zu beachten: eine Pointe dürfe eben nicht am Anfang oder in der Mitte eines Satzes stehen (139). Die für diese Stilart angemessenen Figuren (σχήματα) sind nach Demetrios: Anadiplosis (140f), Metapher (142), zusammengesetzte Wörter (143), umgangssprachliche und neugeprägte Ausdrücke (144), ungewöhnliche Verwendung von Begriffen (145) und überhaupt Überraschungs28 ψυχρόν έστι το υπερβάλλον τήν οίκείαν άπαγγελίαν. - In dieser Definition ist der Begriff des πρέπον nur implizit enthalten; er fällt jedoch auch noch explizit (120). 29 In diesem Zusammenhang werden auch die scherzhaften Enkomien des Polykrates erwähnt (vgl. dazu oben Kap. Π. 2a, S. 131 m. Anm. 102 u. S. 136) und dabei ausdrücklich zwischen (erlaubtem) Scherz und Ernst unterschieden: επαιζεν γάρ, ουκ έσπούδαζε (120; zur σπουδή vgl. Aristoteles, Rhet. 19,2 oben Kap. Π. 2a, S. 111 m. Anm. 7 u. 8). 30 Als Beispiele nennt Demetrios Wendungen wie ,.schnell wie der Wind" und „weißer als Schnee" (124; vgl. Homer, Ilias X 437 [über die Pferde des Rhesos]). 31 Das letzte Beispiel zeigt, wie subjektiv die Stilbewertung ist, zumal Sappho die Wendung „goldener als Gold" zugestanden wird.

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effekte (152-154), außerdem vergleichende Wendungen (παραβολή 146f, εικασία 160), Anspielungen auf andere Autoren (150) und - besonders in den Komödien - die Hyperbole (161f; vgl. oben 124-127). Sehr wirkungsvoll sei auch der Gebrauch von Sprichwörtern (156) und von mythischen Geschichten (157f), beide bereits selbst von anmutiger Natur. Allerdings müsse zwischen den beiden Aspekten des Anmutigen differenziert werden (163) - so wie ja auch Satyrspiel und Komödie von der Tragödie streng unterschieden seien (169): Erhaben-feierliche Stoffe sollten nicht scherzhaft behandelt werden (163), sondern mit etwas Schmuck (κόσμος) und in schönen Worten (καλά ονόματα) (164; vgl. 166; 173-178) 32 , während Schmuck und schöne Worte wiederum bei witzigen Passagen unpassend wären (165; 167). Allgemein sei jedoch darauf zu achten, daß beim Scherzen die Grenzen des guten Geschmacks nicht überschritten werden (170-172). Eine anmutig-elegante σύνθεσις werde in der Prosa vor allem durch einen Rhythmus erreicht, der den Eindruck des Metrischen erzeugt, ohne es wirklich zu sein; dies wird vor allem an Beispielen aus Piaton illustriert (179-185). Dem eleganten Stils benachbart ist nach Demetrios der „affektierte" Stil (κακόζηλον): wenn der Witz zum Kalauer wird, die Metaphern oder Komposita albern und unangemessen geraten und der Rhythmus überwiegend aus Anapästen oder, schlimmer noch, aus „gebrochenen und unfeierlichen Versmaßen" (κεκλασμένοις και άσέμνοις μέτροις) besteht (186-189). 33 Der „schlichte" (oder „trockene") Stil (χαρακτηρ ισχνός), als dessen Vertreter Lysias genannt wird, ist nach Demetrios angebracht für kleine und alltägliche πράγματα; und so sollte auch die λέξις alltäglich und gewöhnlich sein (190). Alles Ungewöhnliche - wie etwa zusammengesetzte oder neugeprägte Wörter34 oder andere Mittel, die μεγαλοπρέπεια erzeugen - sei zu vermeiden, vielmehr komme es auf Deutlichkeit des Ausdrucks an (191)35. Diese werde erreicht durch syndetische Wortfügung (das Asyndeton erzeuge zu viel Pathos)

32 Für den Begriff der .schönen Worte' übernimmt Demetrios (173) die Definition von Theophrast, nach der die Schönheit eines Wortes sowohl in der angenehmen Wirkung auf Ohr oder Auge als auch in der edlen Bedeutung liegen könne (κάλλος ονόματος έστι το προς την άκοήν η προς την οψιν ήδύ, η το τη διανοία εντιμον.). Ähnlich definiert auch Aristoteles, Rhet. ΠΙ 2,13 (unter Hinweis auf Likymnios). 33 Der Anapäst gehört zu den .heroischen' Versmaßen, die für die Prosa zu feierlich sind (vgl. 42 und die Bemerkungen oben dazu). Die Beurteilung eines Witzes oder die Frage nach der Angemessenheit einer Metapher läßt natürlich wieder einen gewissen Spielraum für subjektive Stilbewertung. 34 Der Ausdruck πεποιημένα ονόματα kann bei Demetrios sowohl lautmalerische (so 220) als auch neugeprägte (so 144) Wörter bezeichnen; im Abschnitt 9 4 - 9 8 (im Zusammenhang des χαρακτηρ μεγαλοπρεπής) sind beide Bedeutungen präsent. Da in 220 die Lautmalerei im schlichten Stil ausdrücklich zugelassen wird, müssen in 191 Neologismen gemeint sein. 35 Die Forderung nach σαφήνεια, die Demetrios vor allem für den schlichten Stil aufstellt (vgl. auch 203), gilt bei Aristoteles (Rhet. ΠΙ 2) für alle Arten der Rede.

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(192-194), Wiederholung wichtiger Worte (196f) und kurze Sätze mit einfacher Satzstruktur (Subjekt - Prädikat - Objekt) (198-202). Die spezifischen Tugenden dieser Stilart seien Anschaulichkeit (ενάργεια) und Glaubwürdigkeit (πιθανότης) (208). Anschaulichkeit gewinne die Rede, wenn sie sorgfältig alle Fakten berücksichtige, ohne etwas auszulassen; im Interesse der Anschaulichkeit seien auch Wiederholungen oder die Entfaltung eines Sachverhalts in kleinen Schritten angebracht, und von den Figuren solche, die ein Element der μίμησις enthalten: Kakophonie und lautmalerische Wörter (209-220) 36 . Glaubwürdigkeit resultiere vor allem aus der schon erwähnten Klarheit und Gewöhnlichkeit: Die λέξις dürfe nicht zu gewählt und überladen sein, die σύνθεσις nicht zu rhythmisch (221). Im Zusammenhang des schlichten Stils kommt Demetrios in einem längeren Exkurs (223-235) auf den Briefstil (επιστολικός χαρακτηρ) zu sprechen, da dieser nach seiner Meinung ebenfalls schlicht sein sollte, wenn auch etwas sorgfältiger formuliert als ein Dialog. Der Brief ist für Demetrios eine Art Geschenk an einen Freund (224f), ein kurzer Freundschaftsbeweis (φιλοφρόνησις σύντομος, 231) und ein „Abbild der Seele" (είκών ψυχής) des Schreibenden (227). Keinesfalls dürfe er in Umfang und Inhalt diese Grenzen überschreiten und etwa zu einer Abhandlung (σύγγραμμα) mit brieflichem Rahmen werden (228 - 231) - selbst dann nicht, wenn er sich an Staatswesen oder Könige richtet, obwohl in diesem Fall eine etwas gehobene (έξηρμενη) Schreibweise angebracht sei (234). Als einziges .philosophisches' Moment (μόνον σοφόν) in einem Brief sei die Verwendung von Sprichwörtern zulässig (232). So sollte der Briefstil ganz allgemein eine Mischung zweier Stilarten darstellen: des anmutigen (χαρίεντος) und des schlichten Stils (235).37 Als benachbarten Stilfehler zum χαρακτηρ ισχνός nennt Demetrios den „dürren" (ξηρός) Stil, der in bezug auf den Inhalt (διάνοια) durch unangemessene Verkleinerung gekennzeichnet wird, in bezug auf die λέξις durch "understatement" in der Wortwahl und in bezug auf die σύνθεσις durch zu kurze Sätze (z.B. durchgängig Aphorismen). In diesem Zusammenhang wird auch die Kombinationsmöglichkeit verschiedener stilistischer Fehler erwähnt: Ist der Inhalt ψυχρόν oder κακόζηλον, der Satzbau aber ξηρόν, dann spricht Demetrios von ξηροκακοζηλία. (236 - 239.) Die vierte Stilart schließlich ist durch „Gewaltigkeit" (δεινότης) charakterisiert (240). Die δεινότης resultiere wiederum aus den schon bekannten drei Quellen; als Beispiel für δεινά πράγματα nennt Demetrios eine bei Theopompos geschilderte Szene, in der Seeleute im Hafen von Piräus sich mit Flöten-

36 Als Beispiel für Lautmalerei weist Demetrios (220; vgl. 94) auf Homer (Ilias XVI 161) hin, der das Trinken von Hunden [eigentlich Wölfen] durch die Wortwahl λάπτοντες γλώσσησι hörbar mache. 37 Siehe ausführlicher zum Brief als literarischer Gattung unten Kap. IV dieser Arbeit, wo wir uns auch mit dieser Passage noch einmal unter anderem Aspekt befassen müssen (S. 254 ff).

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Spielerinnen vergnügen - hier werde δεινότης allein durch die Beschreibung erzeugt (240). Auch die sarkastische Art der Kyniker gehört nach Demetrios hierher (259-262; vgl. aber 170-172). Die Synthesis gewinne ihre δεινότης vor allem durch Kürze: Kommata statt Kola (241), »lakonische* Brachylogie (242; vgl. 7Í)38, kurze, zweigliedrige Perioden (252) in dichter Abfolge (251). Unterstützt werde diese συντομία durch eine gewisse „arsfeindliche Schroffheit"39, die ungewöhnliche Rhythmen bevorzugt (245; 251; 299-301)"° und lieber Kakophonie als allzugroßen Wohlklang in Kauf nimmt (246; 255 -258), ferner durch asyndetische Ausdrucksweise (268f; 271), Figuren der Wortwiederholung (Anadiplosis 267, Anapher, Homoioteleuton 268, Klimax 270)41, Plazierung des δεινότατον am Periodenende und gezieltes Verstummen (Aposiopese 253; 264). Zu vermeiden seien Antithesen und Isokola (αντίθετα καί παρόμοια), weil sie bestenfalls ογκος, meist aber eher ψυχρότης erzeugten (247; 250)42 und überhaupt für Darstellungen von πάθος oder ήθος wegen ihrer Künstlichkeit ganz ungeeignet seien (27 f).43 Die λέξις sei in diesem Stil - wenn auch mit einem anderen Zweck (τέλος) - die gleiche wie im χαρακτηρ μεγαλοπρεπής: Metaphern (272), Vergleiche (273f) und zusammengesetzte Wörter (275). Auch durch Euphemismus (281) könne δεινότης erzeugt werden, und besonders durch die Kombination von Emphase44, allegorischer Ausdrucksweise und Übertreibung (ύπερβολή), weil hier poetische Züge mit solchen der Komödie vermischt seien (282- 286). Emphase und damit δεινότης liege schließlich auch in einer anspielenden, indi-

38 Dazu gehört auch die Verwendung von σύμβολα bis hin zur absichtlichen Unklarheit (ασάφεια), weil das Erschließen einer verborgenen Bedeutung (ύπονοησαι) ebenfalls δεινότης erzeuge (243; 254). 39 QUADLBAUER, Genera dicendi 75. 40 Ein Beispiel für Angemessenheit des Unrhythmisch-Schroffen ist nach Demetrios die Schmährede (λοιδορία), während rhythmischer Wohlklang eher für Enkomien als für Tadelreden geeignet sei ( . . . αρυθμον, τοιπέστι δεινότητι πρέπον καί λοιδορίοί· τό γ α ρ ερρυθμον καί ευήκοον έγκωμίοις α ν πρέποι μ ά λ λ ο ν η ψόγοις) (301). 41 Zu Anadiplosis und Anapher siehe oben Anm. 23; das όμοιοτέλευτον ist Gleichklang der Endwörter zweier Kola oder Kommata (also ,Reim'); eine κ λ ΐ μ α ξ (.Treppe') liegt vor, wenn jeweils der vorangehende Begriff wiederholt und durch einen neuen überboten wird. 42 Als Beispiel führt Demetrios hier (250) die berühmte Antithesenreihe aus Demosthenes' .Kranzrede' 265 an (Zitat siehe oben Kap. I. 2, S. 27). 43 Zum .Parallelismus' bzw. den .gorgianischen Figuren' und ihrem Ansehen vgl. oben Kap. 1.2. 44 Der Begriff εμφασις bezeichnet in der antiken Rhetorik eine andeutende Redeweise, bei der mehr gemeint ist als tatsächlich gesagt wird (vgl. die ausführliche Behandlung bei Quint. Inst. IX 2 , 6 4 - 9 9 ) . Die Bemerkungen bei Demetrios zeigen, daß die Emphase je nach Redesituation der Verdeutlichung eines Sachverhaltes (282f) oder seiner Verschleierung (287ff) dienen kann. Zur «polysémie d' εμψασις» siehe die Diskussion in der Ausgabe von CHIRON, Anm. 374 (p. 133; dort weitere Lit.).

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rekten Redeweise; diese sei besonders geeignet im Umgang mit hochgestellten oder empfindlichen Persönlichkeiten, die nicht direkt kritisiert werden können (287-298).45 Der im Zusammenhang des χαρακτηρ δεινός am häufigsten erwähnte und zitierte Redner ist Demosthenes (vgl. 245 f; 248; 250; 253; 263; 268-273; 277 - 280; 299). Demetrios beendet sein Werk mit einem kurzen Abschnitt über den benachbarten Stilfehler zum χαρακτηρ δεινός, den „unfeinen" Stil (χαρακτηρ άχαρις). Dieser liege vor, wenn von schändlichen und unanständigen Dingen (αισχρά καί δύσρητα) offen geredet wird, wenn die Sätze entweder völlig unverbunden zusammengestückelt sind oder aber durch ihre Länge den Redner außer Atem bringen, und wenn durch unangemessene Wortwahl ein an sich anmutiger Gegenstand als weniger erfreulich erscheint (302-304). Das in späterer Zeit allgemein gültige Schema, in dem von drei Stilarten ausgegangen wird, ist zum erstenmal in der .Rhetorik an Herennius' bezeugt (IV 8,11). Dort werden in Hinsicht auf die elocutio drei Gattungen untadeliger Rede unterschieden, die der Verf. als figurae bezeichnet.46 Diese drei figurae nennt er gravis, mediocris und attenuata. Die „gewichtige" oder „erhabene" Stilart (gravis figura) liege vor, wenn zu jedem Stoff die schönsten Worte (ornatissima verba)*1 gefunden werden, wenn gewichtige Gedanken {graves sententiae) gewählt werden - solche, die auch am Redeende in der amplificatio und der conmiseratio vorkommen48 - , und wenn von den rhetorischen Schmuckmitteln (exornationes) solche zur Anwendung kommen, die gravitas besitzen49 (8,11). Diese Anweisungen verdeutlicht 45 In diesem Zusammenhang ist natürlich von Lob und Tadel die Rede: Die αμαρτήματα der Herrschenden könnten kritisiert werden, indem man ihnen gegenüber andere Herrscher für dieselben Handlungen tadelt (ψέγειν) oder für die entgegengesetzten Handlungen lobt (έπαίνεΐν) (292). Eher pädagogische Motive stehen hinter der Empfehlung, etwa einen jähzornigen Menschen für seinen jüngst bewiesenen Sanftmut zu loben und ihn als Vorbild für seine Mitbürger zu bezeichnen - er werde sich gern als Vorbild für andere sehen und eifrig bestrebt sein, diesem Lob noch ein weiteres folgen zu lassen (295). 46 Sunt igitur tria genera, quae genera nos figuras appellamus, in quibus omnis oratio non villosa consumitur. - Der Bezug auf den Stil bzw. die Ausgestaltung der Rede (elocutio) ergibt sich aus dem vorangehenden Absatz, der die Behandlung der Stillehre (elocutionis praeceptä) ankündigt (TV 7,10), und zwar in zwei Teilen: zunächst die möglichen genera des Stils (vgl. 8,11 bis 11,16), dann die Bedingungen, die allgemein für einen guten Stil gelten (vgl. 12,17-55,69). 47 Zu den ,schönen Worten' vgl. oben Anm. 32. 48 In diesen Teilen geht es um die Erregung von Affekten, und zwar von heftigen Gefühlen (πάθος) gegen die Gegenpartei (amplificatio) und von milden Gefühlen (ήθος) für die eigene Partei (conmiseratio); siehe Rhet. ad Her. Π 30,47 und oben Kap. m . la, S. 178f, zum Schlußteil der Rede. 49 Gravitas wird in der Rhet. ad Her. folgenden Stilmitteln zugeschrieben: der Anapher (repetitio, 13,19), der Antithese (contentio, 15,21), der rhetorischen Frage (interrogatio, 15,22) und

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der Verf. mit Hilfe eines selbstverfaßten Beispieltextes, der den Schlußteil einer fiktiven Anklagerede darstellt (842).50 Die „mittlere" Stilart (mediocris figura) sei vom Erhabenen aus etwas niedriger, aber doch noch nicht zum untersten Niveau (ad infimum) hinabgestiegen (8,11; 9,13). Auch dieser Stil wird an einem Beispieltext illustriert; diesmal aus der Beweisführung einer Staatsrede (9,13).51 Ganz bis zur gewöhnlichen Alltagssprache hinabgestiegen (ad infimum et cottidianum sermonem demissum est) sei die „niedrige" Stilart (attenuata figura)·, hier stammt der Beispieltext aus der narratio einer Verteidigungsrede (10,14).52 Zu allen drei Stilarten gebe es eng benachbarte fehlerhafte (finitima et propinqua vitia), die es zu meiden gelte: Neben dem erhabenen stehe der „geschwollene" Stil ([figura] sufflata ... quae turget et infiata est), der für Laien zunächst durchaus erhaben wirken könne - wie eine Schwellung (tumor) am Körper auch oft die Form eines guten körperlichen Zustande nachahme53. Kennzeichen dieses fehlerhaften Stils seien Neologismen oder Archaismen, schwerfällige Metaphern sowie für den Sachverhalt zu gewichtige Ausdrücke. (10,15.) Das Vitium des mittleren Stils sei das genus dissolutum, der „unverbundene" Stil „ohne Sehnen und Gelenke" (sine nervis et articulis), der es mit seiner fahrigen Art nicht vermag, „fest und mannhaft" (nec confirmate ñeque viríliter) aufzutreten und daher die Hörer nicht packt (11,16). Und wer es nicht schaffe, sich in der überaus eleganten Schlichtheit der .niedrigen' Stilart angemessen zu bewegen (in illa facetissima verborum attenuatione commode versori), gleite in das „trockene und blutleere" (aridum et ex[s] angue) genus orationis, das man nur das „dürre" bzw. „magere" (exilé) nennen könne (11,16). Alle drei

ihrer Beantwortung durch den Redner selbst (subiectio, 24,33f), der Wiederholung einer Aussage mit anderen Worten (interpretatio, 38), der Verwendung des Plurals für den Singular (intellectio, 45), der anschaulichen Beschreibung (descriptio, 39,51) und der Anhäufung von Einzelpunkten {frequentatio, 40,52); der Sache nach auch dem Anheimstellen eines Urteils an die Hörer (permissio, 29,39) und dem Asyndeton (dissolutum, 30,41). Gemindert werde die gravitas durch zu häufiges Zusammentreffen von Homoioptoton, Homoioteleuton und Paronomasie (23,32; vgl. oben Kap. I. 2). 50 Zur Analyse dieser Passage vgl. MAROUZEAU, Pour mieux comprendre 155 f («Π ne manque aucun ornement de style») und die Bemerkungen in der Ausgabe von CAPLAN (256f Anm. b). Besonders hervorzuheben sind die gewählten, seltenen und altertümlichen Ausdrücke, die Häufung von Beiwörtern, die parallel gebauten Sätze, z.T. mit Anapher oder Homoioteleuton (auch dreigliedrig) sowie die zahlreichen Superlative. 51 Vgl. die kurzen Bemerkungen bei CAPLAN, a.a.O. 260f Anm. c. 52 Dieses Beispiel ist v.a. gekennzeichnet durch kurze, einfache Sätze und den Gebrauch umgangssprachlicher Wörter und Wendungen; vgl. MAROUZEAU, a.a.O. 156f; CAPLAN, a.a.O. 262f Anm. b. 53 Nämlich die Form eines besonders trainierten Muskels. Bei allen drei stilistischen vitia ist die explizit ausgeführte Körpermetaphorik zu beachten (vgl. oben Anm. 18)!

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vitia werden jeweils mit kurzen Textproben illustriert, in denen die Motive aus den vorangegangen Beispieltexten wiederaufgegriffen werden.54 In der praktischen Anwendung der drei Stilarten sei es nun allerdings notwendig, immer wieder zwischen ihnen zu wechseln; durch solche Farbigkeit der Rede werde Übersättigung der Hörer leicht vermieden55 (11,16). Die Tugenden, die ein „angemessener und vollkommener Stil" (elocutio commoda et perfecta) abgesehen von den drei Stilarten allgemein aufweisen sollte, seien Eleganz, kunstvoller Aufbau und Würde (elegantia, conpositio, dignitas) (12,17). Unter elegantia versteht der Verf. dabei sprachliche Korrektheit (latinitas) und Deutlichkeit (explanado) (12,17).56 Die conpositio, der Aufbau aller Redeteile mit gleicher Sorgfalt, wird vorwiegend negativ definiert: Zu vermeiden seien das häufige Zusammentreffen von Vokalen (crebra vocalium concursiof1, die exzessive Wiederkehr desselben Buchstabens oder desselben Wortes (nimia adsiduitas eiusdem litterae/verbif8, die mehrfache Aufeinanderfolge gleicher Kasusendung (continenter similiter cadentes verba)59, die unnötige Abweichung von der üblichen Wortstellung

54 Eine Analyse des eisten und dritten Textbeispiels bietet MAROUZEAU.a. a. O. 157f; vgl. CAPLAN, a.a.O. 264f Anm. c u. 266f Anm. d. 55 Sed figurarti in dicendo commutali oportet, ut gravem mediocris, mediocrem excipiat attenuata, deinde identidem commutentur ut facile satietas varietale vitetur. 56 Hinter diesen stilistischen Forderungen steht das peripatetische System der vier ά@εταί λέξεως (virtutes dicendi), das Aristoteles' Schüler Theophrast (in seiner verlorenen Schrift Περί λέξεως) aufgestellt hatte; diese Tugenden sind: sprachliche Korrektheit (έλληνισμός), Deutlichkeit (σαφές), Angemessenheit (πρέπον) und Schmuck (κατασκευή bzw. κεκοσμημένον). Vgl. dazu SOLMSEN, Quellenmaterial 241f und grundlegend STROUX, De Theophrasti virtutibus dicendi (passim). - Die Frage, ob Theophrast als .Erfinder1 der (drei) Stilarten (χαρακτήρες λέξεως!genera dicendi) gelten kann, ist wohl zu verneinen (vgl. STROUX, a.a.O. 104ff; WEHRU, Stil 116; QUADLBAUER, Genera dicendi 64-71). 57 Vgl. die differenzierteren Überlegungen zum Hiatus bei Demetrios, De eloc. 68-74 (s.o. Anm. 26). 58 Die Alliteration wird in der Rhet. ad Her. nur hier erwähnt; die Wortwiederholung am Satzanfang (repetòio/Anapher) bzw. am Satzende (conversio/Epiphet) wird in IV 13,19 besprochen, die Kombination beider (conp/etio/Symploke) in 14,20. Da zumindest der Anapher in hohem Grade Anmut, Erhabenheit und Schärfe zuerkannt werden (13,19: Haec exornatio cum multum venustatis habet tum gravitatis et acrimoniae plurimum), kann die Wiederholung von Wörtern oder Buchstaben innerhalb eines Satzes nicht grundsätzlich als Vitium gelten, sondern lediglich deren Übertreibung (vgl. zu diesen Figuren auch oben Kap. I. 2). 59 Das Homoioptoton (similiter cadens) wird in IV 20,28 zusammen mit der sehr ähnlichen Figur des Homoioteleuton (similiter desinens: gleiche Wortendungen) behandelt. Im Anschluß stellt der Verf. verschiedene Formen der Paronomasie (adnominatio) dar (21,29-22,31) und betont dann im Blick auf alle drei Figuren, daß sie wegen ihrer Künstlichkeit sparsam zu verwenden seien und eher der Unterhaltung (delectatio) als der Wahrheitsfindung dienten; sie hätten Anmut und Witz (lepos et festivitas), aber keine Würde und keine Schönheit (non dignitas neque pulcritudö) - hier und da eingestreut, könnten sie der Rede jedoch durchaus Glanz verleihen (22,32-23,32).

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(verborum transiectio) sowie lange Satzperioden, die gleichermaßen die Ohren der Zuhörer wie auch den Atem des Redners überanstrengen (12,18). Dignitas schließlich bedeute, die Rede mit Schmuck auszustatten und durch Farbigkeit zu beleben60, wobei die Mittel des Redeschmucks in solche des Ausdrucks und solche des Gedankens (verborum et sententiarum exomationes) aufgeteilt werden (13,18). Die ausführliche Darstellung und Beurteilung der einzelnen rhetorischen Schmuckmittel bildet den letzten großen Abschnitt der .Rhetorik an Herennius' (13,19-55,69), und in seinem Epilog stellt der Verf. noch einmal heraus, daß der Stil bei gewissenhaftem Studium der hier gegebenen Anweisungen et gravitatem et dignitatem et suavitatem besitzen werde (56,69)61. In Ciceros Schrift ,Über den Redner1 werden die drei Stilarten ähnlich definiert wie in der .Rhetorik an Herennius', vor allem, was die explizite Körpermetaphorik und die etwas farblose Charakterisierung des .mittleren' Stils angeht: In bezug auf die „Statur der Rede" (habitus orationis), „gleichsam ihre Farbe" (quasi color), unterscheidet er „eine volle und doch geschmeidige [Art der Rede], eine, die dünn (schlicht), jedoch nicht ohne Sehnen und Muskeln ist, und eine, die von beiden etwas hat und sich durch ein gewisses Mittelmaß auszeichnet"62 (De orat. III 199). Die erwähnte (Gesichts-)Farbe (color) solle bei allen drei figurae „die einer gewissen Anmut" (quidam venustatis) sein, die nicht von Schminke, sondern von gesunder Durchblutung herrührt (non fuco inlitus, sed sanguine diffusus) (ebd.). Nachdem die Figuren des Redeschmucks kurz aufgezählt sind, widmet sich Cicero (durch den Mund des Crassus) der Frage, was nun in einer Rede jeweils das Angemessene sei (quid aptum sit, hoc est, quid maxime deceat in oratione), denn es könne nicht eine einzige Art der Rede (orationis unum genus) für jeden Fall und jeden Hörer und jeden Redner und jede Situation geeignet sein (210f). Aber die einzige Vorschrift, die hierzu aufgestellt wird, ist die, „daß wir die vollere und die dünnere Gestalt der Rede und ebenso jene mittlere entsprechend dem, was wir behandeln, auswählen"63 (212). In welchem Ausmaß jeweils die Mittel des Redeschmucks

60 Dignitas est quae reddit omatam orationem varietale distingüeos. - Die oben geforderte Abwechslung der drei Stilarten innerhalb einer Rede (varietas!) ist also der Stilqualität der dignitas zugeordnet. 61 Hier liegt - im Gegensatz zur Darstellung der figura gravis - wieder die Vereinigung des Erhabenen mit dem Anmutig-Schönen beim idealen Redner vor (vgl. oben bei Anm. 6 zu Homer sowie Arm. 58 zu Rhet. ad Her. IV 13,19 [Bewertung der repetitio]). 62 est et plena quaedam, sed tarnen teres, et tenuis, non sine nervis ac viribus, et ea, quae particeps utriusque generis quadam mediocritate laudatur. 63 ut figurant orationis plenioris et tenuioris et item illius mediocris ad id, quod agemus, accomodatam deligamus.

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(ornamenta) zur Anwendung kommen, liege ganz beim Redner und hänge von seinem Können wie von seinem Wissen ab64 (ebd.). Einen neuen Aspekt bringt Cicero in seiner Schrift über den idealen Redner (.Orator4) hinein. Zunächst wird im Blick auf die Realität festgestellt, daß es insgesamt drei genera dicendi gebe, in denen jeweils einzelne Redner hervorragten: auf der einen Seite „sozusagen die Hochtönenden" (grandiloqui, ut ita dicarrif5, deren Sätze ¡pavitas und deren Worte maiestas besitzen und bei denen sich Pathos und Fülle finden66 - auf der anderen Seite die „schlichten, scharfsinnigen" Redner (tenues acuti), denen es mehr darauf ankomme, die Hörer zu belehren und aufzuklären, und deren knappe Art der Rede (pressa oratio) einfach, aber ausgefeilt wirkt (20). Zwischen diesen beiden liege ein dritter Stil, ein „mittlerer und gleichsam ausgeglichener" (medius et quasi temperatus), der weder das Scharfsinnige (acumen) des letzteren noch das Aufblitzende (fulmeri) des ersten besitze und eigentlich an beiden ohne Anteil (expers) sei (21). Soweit die bekannte Dreiteilung mit der farblosen, nur negativen Charakterisierung des .mittleren' Stils. Neu ist nun, daß in der Suche nach dem vollkommenen Redner die drei Stilarten den drei Aufgaben des Redners - beweisen, unterhalten, beeinflussen - zugeordnet werden: so viele officia oratoris, so viele genera dicendi gebe es auch, und so sei „die einfache [Stilart] beim Beweisen, die gemäßigte beim Unterhalten, die heftige beim Beeinflussen"67 anzuwenden (69). Der Redner müsse moderator et quasi temperator dieser dreifachen Farbigkeit (tripartita varietal) sein - eine Aufgabe, die großes Urteilsvermögen und höchste redneri-

64 Dabei wird die grundsätzliche Fähigkeit, das jeweils Angemessene auch auszuführen, auf Kunstfertigkeit und Begabung des Redners zurückgeführt und das Erkennen, was jeweils das Angemessene ist, auf seine Weisheit: omnique in re posse, quod deceat, facere artis et naturae est, scire, quid quandoque deceat, prudentiae. - Zum Gegensatz von ars und natura, der hier harmonisiert ist, vgl. oben S. 179f. Cicero stimmt aber ausdrücklich Demokrit zu, daß ohne inflammatio animorum und ohne quidam adflatus quasi furoris niemand ein guter Dichter werden könne (De orat. Π 194). 65 Bei diesem Begriff dürfte es sich um eine Übersetzung des homerischen ύψαγόρης (s.o. bei Anm. 3) handeln (vgl. QUADLBAUER, Genera dicendi 85). 66 Pathos und Fülle werden in der Formulierung vehementes varii copiosi graves chiastisch zum Ausdruck gebracht. - Innerhalb der Gruppe der grandiloqui stellt Cicero noch einmal differenzierend fest, daß „die einen mit einer rauhen, grimmigen, ungeschliffenen Redeweise" (alii aspera tristi hórrida oratione) und „die anderen mit einer glatten, geordneten und periodisch kadenzierten" (alii levi et structa et terminata) versuchen, die Geister zu bewegen und zu verwandeln. 67 subtile [genus dicendi] in probando, modicum in delectando, vehemens in flectendo. - Eine Vorstufe dieser Zuordnung läßt sich in De orat. Π 128f erkennen: Hier wird dem conciliare (= Sympathiegewinnung, daher mit dem delectare austauschbar) Sanftheit der Rede (lenitas orationis) zugeordnet, dem docere (= probare, vgl. ebd. 115) Scharfsinn (acumen'. ) und dem concitare (= movere) Kraft (vis).

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sehe Fähigkeit erfordere (70).68 In diesem Zusammenhang - die schwierige Aufgabe, „zu erkennen, was sich schickt" (quid deceat videre) - schließt Cicero einen philosophischen Exkurs über das πρέπον (hier mit decorum übersetzt) an (70-74). Die Darstellung der drei Stilarten beginnt mit dem „bescheidenen und demütigen" (summissus et humilis), der von einigen alleinig als .attisch' in Anspruch genommen werde® (75 f). Dieser Stil sei vor allem durch größere Freiheit gekennzeichnet: im Rhythmus (77)™, im Bau der Perioden und in der „Verleimung" (conglutinatio) der Wörter (78). Allerdings sollte diese Freiheit nicht mit Nachlässigkeit verwechselt werden - allenfalls wäre hier noch an die „sorgfältige Nachlässigkeit" (neglegentia diligens) einer ungeschminkten und gerade dadurch um so anmutigeren Frau zu denken (78f)71. Nach Abzug des künstlichen Schmucks blieben Eleganz und Klarheit, die Sprache werde rein und echt lateinisch, klar und deutlich sein und überall das Angemessene suchen72 (79). So werde auch ein Redner im „schlichten" Stil zurückhaltend sein mit den Schmuckmitteln (ornamenta) der Rede, vor allem bei der Neubildung von Wörtern (in faciendis verbis), bei übertragenen Wendungen (in transferencia)73 und bei altertümlichen Ausdrücken (in priscis) (81). Auch parallele Entsprechung der Sätze, gleiche Wort- und Kasusendungen und Wortspielerei74 seien zu vermeiden (84), ebenso Wortwiederholungen, die eine heftige Tonlage erfordern75 - und auch den Staat oder die Toten aus der Unterwelt lasse man hier nicht redend auftreten (85). Sonst aber dürften alle Mittel des Re-

68 Als unübertroffener Meister aller drei Stilarten war bereits oben (22f) Demosthenes bezeichnet worden; ihm sei unter den lateinischen Rednern keiner vergleichbar. 69 Eine Polemik gegen die Attici, denen Cicero Einseitigkeit vorwirft, findet sich bereits oben im Zusammenhang des Demosthenes-Lobes (23f). 70 In diesem Zusammenhang wird auch der hiatus concursu vocalium (das Zusammentreffen von Vokalen; vgl. Anm. 26 und 57) ausdrücklich erlaubt, weil er etwas Weiches habe und die „nicht unangenehme Nachlässigkeit (non ingrata neglegentia) eines Menschen erkennen läßt, der sich mehr um die Sache als um die Wörter bemüht" (77). 71 Zum Bild der Kosmetik vgl. De orat. ΠΙ 199; es gehört in den weiteren Bereich der bekannten Körpermetaphorik. 72 elegantia modo et munditia remanebit. sermo purus erit et Latinus; dilucide planeque dicetur; quid deceat circumspicietur. - Hier werden die stilistischen Forderungen des Theophrast (vgl. Rhet. ad Her. IV 12,17 und oben Anm. 56) explizit aufgegriffen, wobei der vierte Punkt der reiche Schmuck (omatum suave et affluens) - bewußt ausgeklammert wird (79). 73 Eine Ausnahme bilden solche Metaphern (tralationes), die auch in der Umgangssprache gebräuchlich sind (81 f). 74 paria paribus relata et similiter conclusa eodemque pacto cadentia et immutatione litterae quaesitae venustates - also die rhetorischen Figuren Isokolon, Homoioteleuton und Homoioptoton sowie Paronomasie (vgl. oben Kap. I. 2). 75 Nach der Aufzählung in De orat. ΠΙ 206f ist hierbei v.a. an die rhetorischen Figuren Anadiplosis (geminatio), Anapher (repetitio) und Klimax (gradatio) zu denken (vgl. oben Anm. 23 und 41).

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deschmucks - wenn auch etwas zurückhaltend (suppressior) - verwendet werden (85). Gern dürfe die Rede mit einer Prise Humor gewürzt werden, und zwar sowohl in seiner anmutigen Variante, dem Scherz (facetiae), als auch in der Form des beißenden Witzes (dicacitas) - jedoch nicht zu häufig, nicht zu derb, nicht frivol und nicht am falschen Platz, weil dies zum indecorum zählen würde (87-89). Der Stil des „bescheidenen" Redners könne insofern als „echt attisch" gelten, als alles, was in einer Rede „geistreich oder gesund" (salsum aut salubre) sei, eben ein charakteristisches Merkmal der Attiker (proprium Atticorum) sei (90).76 Die „gemäßigte und ausgeglichene" Stilart (illa modica ac temperata, 95) wird zunächst als typisch .mittlere' charakterisiert: Sie sei reicher, kräftiger und voller als der niedrige, aber bescheidener als der hohe Stil (91). Dann aber ordnet Cicero dieser Stilform ein eigenes besonderes Merkmal zu: Sie besitze den höchsten Grad an Anmut (suavitas) (92). Deshalb paßten zu ihr auch alle rhetorischen Schmuckmittel (92), besonders aber die übertragene Ausdrucksweise (Metapher, Metonymie, Allegorie) (92-94).77 Insgesamt handele es sich um „einen auffälligen und blühenden Stil, bunt und zierlich, in dem alle Schönheiten der Wörter, alle Schönheiten der Sätze zusammen erscheinen"78 (96) und der daher seinen Beifall finde, solange kein Vertreter des kräftigeren dritten Stils zum Vergleich danebenstehe (95). Redner der mittleren Stilart gingen vor allem aus Philosophenschulen hervor (95), und sie sei auch ursprünglich „aus den Quellen der Sophistik" entsprungen79 (96). Der dritte Typ des Redners sei der „weitausgreifende, wortreiche, erhabene 76 Als der schlagfertigste attische Redner gelte Demades; Cicero hält jedoch Demosthenes für geistreicher, weil sein feiner Humor von größerer Kunst zeuge (90). Bei den Attici seiner Tage vermißt Cicero Witz und Humor (89). 77 Als besonders herausragenden Vertreter dieser Stilart nennt Cicero Demetrius von Phaleron, dessen ruhig dahinfließende Rede dann und wann von übertragenen Ausdrücken gleichsam wie von Sternen erleuchtet werde (92; vgl. 94). 78 insigne et florens orationis pictum et expolitum genus, in quo omnes verborum, omnes sententiarum üügantur lepores. 79 Cicero identifiziert hier den .mittleren' Stil, der von den .einfachen' Rednern verachtet, von den .erhabenen' Rednern abgelehnt werde (spretum a subtilibus, repulsum a gravibus: 96), mit dem .epideiktischen' Stil der Sophisten: Diesen hatte er oben (37-42) exkursweise besprochen, da er zwar „vom Forum verachtet und abgelehnt" werde (spretum et pulsum foro: 42), aber doch eigentlich die „Amme" (nutrix) bzw. die „Wiege" (incunabula) des Redners sei (37; 42). Charakteristisch für diesen angenehmen und wohlklingenden Stil (vgl. 42: dulce orationis genus et solutum et affluens, sententiis argutum, verbis sonans) sei vor allem die unbefangene Ausdrucksweise in parallel gebauten Sätzen, die sich genau entsprechen, Gegensätze einander gegenüberstellen und im gleichen Kasus oder Ton enden (ut verba verbis quasi demensa et paria respondeant, ut crebro conferantur pugnantia comparenturque contraria et ut pariter extrema terminentur eundemque référant in cadendo sonum) (37; zu den Formen der concinnitas sententiarum — des .Parallelismus' - siehe ausführlich oben Kap. I. 2). Eine Laudatio auf Isokrates als dem größten Vertreter des epideiktischen Stils bildet eine Art .Exkurs im Exkurs' (40-42).

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(gewichtige) und geschmückte" (amplus copiosus gravis ornatus); er habe die größte Wirkungskraft, werde am meisten bewundert und könne die Gemüter in jeder Hinsicht bewegen und mitreißen (97). Im Gegensatz zu den Vertretern der vorher genannten Stilarten bewege er sich in einer schwindelnden Höhe mit großer Sturzgefahr (98), und wenn er nur Fülle und Feurigkeit ohne stilistische Nuancen zu bieten habe, könne er leicht wirken „wie ein Wahnsinniger vor Vernünftigen und gleichsam wie ein bacchantisch Berauschter vor Nüchternen"80 (99). Damit kommt Cicero zum vollkommenen Redner: Das sei der, der alle drei Formen der Rede gleichermaßen beherrscht und sie miteinander „mischen und abwechseln" (temperare et variare: 103) kann, der „das Gewöhnliche einfach, das Erhabene großartig und das in der Mitte Liegende in rechter Mischung zu formulieren vermag"81 (101). Er erkenne immer, „was sich schickt" (quid deceat)·, seine Rede sei den jeweiligen Themen stets „angemessen und gleichartig" {par et aequalis) (123).82 Daneben verfüge er über umfassende Kenntnisse in Philosophie (Dialektik, Ethik, Ontotogie), Recht und Geschichte (113-120). Diesen idealen Redner habe es noch nie gegeben (101); aber Demosthenes sei dem Ideal sehr nahegekommen (110-112; 133), und Cicero selbst - wenn auch weit von Vollkommenheit entfernt - habe sich in seinen Reden ebenfalls stets darum bemüht (102-109). 83 Der klassizistische Stiltheoretiker Dionysios von Halikarnassos 84 unter-

80 furere apud sanos et quasi inter sobrios bacchari vinulentus videtur. 81 qui et humilia subtiliter et magna graviter et mediocria temperate potest dicere. 82 Dies wird auch in bezug auf die einzelnen Redeteile ausgeführt (124-132): Der Anfang soll bescheiden bzw. zurückhaltend (verecunda) und scharfsinnig (acuta) sein, die .Erzählung' glaubwürdig durch deutliche Alltagssprache (cotidiano sermone), die Beweisführung je nach Art des Falles schlicht oder mitreißend; und beim abschließenden Appell an das Mitleid (miseratio) bzw. andere (positive wie negative) Affekte sollte der Redner von der Leidenschaft, die er beim Hörer entzünden will, auch selbst entflammt werden (zur Erregung der Affekte im Schlußteil vgl. auch Part. or. 15,53-17,58: Dort werden für die stilistische Gestaltung der amplificatio kräftige, ungewöhnliche, neugeprägte und besonders metaphorische Wörter, ein asyndetischer Satzbau, Figuren der Wiederholung und der Häufung sowie die Einführung großer, weltbewegender Themen empfohlen). 83 Eine Überprüfung der stiltheoretischen Äußerungen Ciceros aus Orator 7 5 - 9 0 in seiner rednerischen Praxis nimmt HUBBELL, Cicero on Styles of Oratory, vor: Er vergleicht die in Orator 102 genannten Reden Pro Caecina und De lege Manilio (= De imperio Cn. Pompei) mit den genannten Stilvorschriften und kommt zu dem Ergebnis, daß die Rede Pro Caecina entgegen Ciceros eigener Einstufung eher dem .mittleren' als dem .schlichten' Stil zuzurechnen sei. Fazit: "For all his trying - if he did really try - Cicero could not be a plain or simple orator." (186). 84 Dionysios v. Hal. lehrte 3 0 - 8 v.Chr. in Rom (vgl. M.v.ALBRECHT, KP Π [1967], 70, s.v. Dionysios, Nr. 20). Zur Chronologie seiner Schriften siehe tome I der Ausgabe von AUJAC, 2 2 - 2 9 ; eine Einführung in seine Theorie gibt auch FUHRMANN, Dichtungstheorie 168-174.

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scheidet in seiner Schrift über Demosthenes ebenfalls drei Stilarten (χαρακτήρες [λέξεως]): den schlichten (ισχνός), den erhabenen (ύψηλός) und den dazwischenliegenden (τό μεταξύ τούτων); Demosthenes sei in allen dreien erfolgreich gewesen (Demosth. 33,3). Die erhabene Ausdrucksweise, „vom Alltäglichen abweichend und herausragend und geputzt und mit sämtlichen zusätzlichen Schmuckmitteln ausgestattet"85, wird nach Dionysios besonders von Thukydides vertreten, der daher als „Norm und Maßstab" (ορος και κανών) dieses Stils bezeichnet wird (1,3)® Das Muster für die entgegengesetzte „schlichte und einfache" (λιτή καί αφελής) Lexis ist Lysias, Zeitgenosse von Gorgias und Thukydides (2,3).^ Das Verhältnis der beiden Stilarten zueinander sei so wie das der höchsten und der niedrigsten Saite auf einem Instrument (2,4). In einem Vergleich zwischen Thukydides und Lysias werden die Merkmale für den erhabenen und den schlichten Stil herausgearbeitet: Der eine könne die Sinne der Zuhörer erschüttern (καταπλήξασθαι), der andere ihnen angenehm sein (ήδΰναι), der eine könne den Geist in Spannung versetzen, der andere Entspannung bewirken, der eine errege πάθος, der andere ήθος (2,5). Thukydides könne die Hörer durch seine Lexis überwältigen und bezwingen (βιάσαοθαι καί προσαναγκάσαι), Lysias sie täuschen und die Fakten verheimlichen (άπατήσαι καί κλέψαι τα πράγματα) (2,5); und während Thukydides in seinen Formulierungen Originalität und Kühnheit (νεωτεροποιία καί τό τολμηρόν) zeige, suche Lysias Gefahrlosigkeit und Sicherheit (ασφάλεια καί τό άκίνδυνον) (2,6).88 Die dritte Stilart bildet bei Dionysios die Mitte zwischen den beiden anderen, sie ist μικτή τε καί σύνθετος εκ τούτων των δυεΐν (3,1). Vertreter dieser „gemischten und zusammengesetzten" Stilart seien besonders Isokrates und Piaton (3,2). Allerdings gelängen bei beiden die schlichten, Jysianischen' Partien überzeugender und angenehmer (4,3; 5,1-3): Isokrates übertreibe bei 85 έξηλλαγμένη καί περιττή καί έγκατάσκευος καί τοις έπιθέτοις κόσμοις έίπασι συμπεπληρωμένη λέξις. - Vgl. Demetrios, De eloc. 77 (s.o. S. 183). 86 Vgl. Demetrios, De eloc. 40; 44f; 48f; 65; 72; 112f, wo Thukydides als typischer Vertreter des χαρακτηρ μεγαλοπρεπής genannt wird (s.o. S. 184). 87 Über Lysias hat Dionysios eine eigene Schrift verfaßt, die seine Reihe Περί των αρχαίων ρητόρων eröffnet; die Stilqualitäten des Lysias werden dort v. a. in Kap. 2 - 1 3 dargestellt. - Als typischer Vertreter des schlichten' Stils (χαρακτηρ ισχνός) wird Lysias auch von Demetrios, De eloc. 190, erwähnt (s.o. S. 185). 88 In 4,lf finden sich weitere Gegenüberstellungen: Die Lexis des Lysias besitze τό καθαρό ν καί τό ακριβές (wozu auch das aus der geläufigsten Alltagssprache stammende Vokabular gehört) und sei ήθική τε καί πιθανή καί ηδεία, während Thukydides (und Gorgias) die Eigenschaften μεγαλοπρέπεια καί σεμνότης καί κ α λ λ ι λ ο γ ί α (mit Archaismen, Neologismen und anderen ungebräuchlichen Wörtern) zugeordnet werden. - QUADLBAUER, Genera dicendi 93, weist zu Recht darauf hin, daß diese Aufteilung des Dionysios genau der bei Demetrios, De eloc. 36, zurückgewiesenen entspricht, nach der der χαρακτηρ δεινός zum μεγαλοπρεπής und der χαρακτηρ γλαφυρός zum ισχνός gerechnet wird.

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dem Wunsch, die Hörer zu erschüttern, gelegentlich mit den .gorgianischen Figuren', und seine Hiatvermeidung und langen, gewundenen Perioden wirkten oft gekünstelt (4,4f).89 Piaton verfalle bei dem Versuch, sprachliche Fülle und Schönheit zu erzielen, oft in Undeutlichkeit und mache viele Worte um Dinge, die in wenigen Worten deutlicher wären - mit „geschmacklosen Periphrasen", „leerem Wortreichtum" und maßlos in der Verwendung übertragener Redeweise (5,4—6).90 Der einzige, dem nach Dionysios eine perfekte Stilmischung gelungen ist, ist Demosthenes. Er habe sich von allen Vorgängern und Zeitgenossen in der Redekunst das Beste und Nützlichste ausgewählt und zu einem Stil zusammengewoben, der das Großartige mit dem Schlichten, das Außergewöhnliche mit dem Gewöhnlichen, das Nicht-Alltägliche mit dem Alltäglichen, das Festlich-Prunkvolle mit dem Wahrhaftigen, das Ernste mit dem Heiteren, das Angespannte mit dem Ungebundenen, das Liebliche mit dem Bitteren und das Mild-Gefühlvolle mit dem Heftig-Pathetischen vereine91 (8,2). Dabei übertreffe er sogar Thukydides in den erhabenen Partien, da dieser von seinem Stil oft selbst ergriffen werde und sein maßloses Bemühen um eine außergewöhnliche Ausdrucksweise oft auf Kosten der Deutlichkeit gehe (10,2), während Demosthenes bei aller rednerischen Gewalt (δεινότης) stets verständlich bleibe (10,3). Aber auch Lysias werde von Demosthenes übertroffen: Der sanfte und anmutige Stil des Lysias sei zwar sehr angenehm im Prooimion und der .Erzählung' (διήγησις) einer Rede, werde jedoch in der Beweisführung undeutlich und schwach und schwinde im pathetischen Schlußteil völlig dahin (13,8). Demosthenes dagegen behalte auch an Stellen ohne außergewöhnliche Wendungen und zusätzliche Schmuckmittel seine Größe und Spannkraft (μέγεθος και τόνος) (13,9). Neben den χαρακτήρες der Lexis unterscheidet Dionysios in seiner Schrift ,Über literarische Komposition' (Περί συνθέσεως ονομάτων) auch drei Arten der Synthesis, die er als άρμονίαι (/Tonarten1)92 bezeichnet und denen er - wie

89 Die .gorgianischen Figuren' werden in einer Parenthese erläutert als τα γ α ρ αντίθετα τε και πάρισα και τά παραπλήσια τούτοις; siehe dazu ausführlich oben Kap. I. 2 — Zur Hiatvermeidung s.o. Anm. 26. - Auch über Isokrates gibt es von Dionysios eine eigene Schrift innerhalb der Reihe Περί των αρχαίων ρητόρων (zum Stil des Isokrates vgl. dort Kap. 2 - 3 ) . 90 Die Vorliebe des Dionysios für das schlichte, ,lysianische' erklärt sich aus seiner Zugehörigkeit zu jenen Attici, gegen die Cicero im .Orator' polemisiert (23f; 75; 89f; vgl. oben Anm. 69 u. 76). Vgl. dazu Dionysios' Prolog zu Περί των αρχαίων ρητόρων. 91 . . . μίαν εκ πολλών διάλεκτον άπετέλει, μεγαλοπρεπή λιτήν, περιττην άπέριττον, έξηλλαγμένην συνήθη, πανηγυρικην άληθινήν, αύστηράν ίλαράν, σύντονον άνειμένην, ήδεΐαν πικράν, ήθικην παθητικήν. - Demosthenes ist hier also als der homerische ideale Redner dargestellt, der das Erhabene mit dem Anmutig-Schönen vereint (vgl. oben bei Anm. 6 zu Homer sowie Anm. 14, 61 und 68). 92 Der Begriff άρμονίαι ist wahrscheinlich aus der Musiktheorie auf die Literatur übertragen worden (vgl. QUADLBAUER, Genera dicendi 95).

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er sagt - mangels gängiger Begriffe metaphorische Bezeichnungen beilegt: αυστηρά, γλαφυρά und κοινή bzw. εύκρατος (Comp. 21,4)93. Im Unterschied zu dem Werk über die alten Redner wird hier auch die Poesie in die Ausführungen einbezogen. Die rauhe oder schroffe .Tonart' (αύστηρά αρμονία)94 gleiche einem Gebäude aus unbehauenen Natursteinen: kräftige (auch schroffe), von einander abgesetzte lange Wörter, in denen die langen Silben dominieren (22,1-3); Kola mit feierlichen Rhythmen, ein Satzbau, der eher der Natur (φύσις) als der Kunst (τέχνη) zuneigt (keine πάρισα oder παρόμοια!) und eher πάθος als ήθος zum Ausdruck bringt (22,4). Auf die Abrundung der Perioden und auf die Verbindung oder grammatische Vollständigkeit der Sätze werde kein großer Wert gelegt; der ganze Stil habe etwas Archaisches (22,5f). Als Vertreter werden vor allem Pindar (vgl. 22,11-33) und Thukydides (vgl. 22,34-45) anhand von Beispielen vorgestellt.®5 Die zweite Art der Synthesis ist nach Dionysios die glatte oder elegante (γλαφυρά); sie gleiche einem nie anhaltenden Fluß (23,2) oder einem feingewobenen Stoff (23,3), weil die Worte so kunstvoll miteinander verbunden seien. Dies gelte auch für die Satzglieder; und die Perioden seien weder zu lang noch zu kurz, sondern gerade dem menschlichen Atem entsprechend (23,5). Die Periodenschlüsse seien ευρυθμοι, und von den rhetorischen Figuren kämen vor allem die weichen und schmeichelnden zur Anwendung. Allgemein gesagt, sei dieses σχήμα der Synthesis in den wichtigsten Punkten das genaue Gegenteil der vorher beschriebenen (23,8). Als Hauptvertreter kommen Sappho (vgl. 23,10-17) und Isokrates (vgl. 23,18-23) zitatweise zu Wort.96 Die dritte άρμονία, die Dionysios als „mittlere" (μέση) und in Ermangelung eines gängigen oder besseren Begriffs als „gemeinsame" (κοινή) oder „wohlgemischte" (εύκρατος) bezeichnet97, habe kein eigenes σχήμα, sondern komme durch Mischung der beiden anderen zustande (κεκέρασται) und stelle eine

93 In der Bezeichnung der dritten αρμονία gehen die Handschriften auseinander: die älteste und zuverlässigste (P) hat in 21,4 und 24,1 den Terminus κοινή (dieser Lesart folgen AUJAC/ LEBEL in ihrer Ausgabe; siehe die ausführliche Anmerkung a.a.O. 217f); zwei andere, fast ebensogute Zeugen (F und E) haben εύκρατος (so die Ausgabe von USHER). Dionysios selbst benutzt auch noch den Ausdruck μικτή (Demosth. 36,5; 41,1). 94 Als Gegensatz zu γλαφυρός (,glatt' oder .elegant') ist αυστηρός hier als ,rauh' oder .schroff zu übersetzen; in der oben zitierten Aufzählung von Gegensatzpaaren in Demosth. 8,2 verwendet Dionysios αυστηρός als Gegensatz zu ιλαρός (.ernst/heiter'). 95 Eine korrespondierende Daistellung der άρμονία αυστηρά gibt Dionysios in Demosth. 38-39; zur Illustration wird dort ebenfalls ein (aber nicht dasselbe) Beispiel aus Thukydides zitiert. 96 Zur άρμονία γλαφυρά bei Dionysios vgl. Demosth. 40; dort stammt das illustrierende Beispiel ebenfalls aus einer (aber nicht derselben) Rede des Isokrates. - Vgl. außerdem Demetrios, De eloc. 128-185 (χαρακτήρ γλαφυρός); s.o. S. 184f. 97 Siehe oben Anm. 93.

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„Auslese" (έκλογή) von deren besten Elementen dar98 (24,1). Somit sei ihr (als einer μεσάτης im aristotelischen Sinne)99 der Vorzug zu geben (24,2). Die unerreichte κορυφή dieser Stilart sei Homer; beachtenswert seien aber doch auch Herodot, Demosthenes sowie Piaton und Aristoteles (24,4f). Beispiele seien hier nicht nötig (24,6).100 Die beiden Modelle der Einteilung von Stilkategorien bei Dionysios sind nicht ganz deckungsgleich: Zwar entspricht die αρμονία αυστηρά weitgehend dem χαρακτηρ υψηλός (bei beiden wird Thukydides als Vertreter genannt), aber der χαρακτηρ ισχνός hat unter den άρμονίαι keine rechte Entsprechung; die αρμονία γλαφυρά ist durch die Zuordnung von Isokrates in die Nähe der „gemischten" Lexis gerückt, an der aber (wegen der Nennung von Piaton) auch die dritte, gemischte αρμονία Anteil hat.101 Übereinstimmend an beiden Modellen ist jedoch die Hochschätzung des „gemischten" Stils, der von zwei gegensätzlichen Stilextremen das jeweils Beste zu einer vollkommenen Einheit verbinde. Nur mit dem .Erhabenen' in Poesie und Prosa befaßt sich die anonyme Schrift Περί υψους (überliefert unter dem Namen ,Longinos'). 102 Als Quellen des Erhabenen läßt der Verf. ausdrücklich neben der Naturanlage (φύσις) auch die Kunstfertigkeit (τέχνη) gelten (2,2; 36,4). Er nennt dann jedoch als erste (und wichtigste) Quelle „die kraftvolle Fähigkeit, erhabene Gedanken zu zeugen"103, und an zweiter Stelle „starke, begeisterte Leidenschaft" (σφοδρόν και ένθουσιασακόν πάθος), beide weitgehend angeboren (8,1). Erst dann folgen die erlernbaren und durch τέχνη erreichbaren Faktoren: die Figuren des Gedankens (σχήματα νοήσεως) und des Ausdrucks (σχήματα λέξεως), die edle

98 Vgl. die oben wiedergegebenen Aussagen über Demosthenes (Demosth. 8,2). 99 Zur μεσότης-Lehre bei Aristoteles siehe Nikomachische Ethik Π 5 - 8 , 1106a-1109a; Eudemische Ethik 2,1220b21 (vgl. auch oben Anm. 20). 100 Vgl. die entsprechende Darstellung der dritten .Tonart' (αρμονία μικτή) bei Dionysios, Demosth. 41; dort wird auch ein längeres Beispiel (aus Herodot) angeführt. 101 Eine bemerkenswerte Parallele zu der Gegenüberstellung von αρμονία αυστηρά und αρμονία γλαφυρά bei Dionysios bilden die zwei Redeweisen innerhalb der Gruppe der grandiloquibei Cicero, Orat. 20 (s.o. Anm. 66). 102 Eine genaue Datierung dieser Schrift ist nicht möglich; die zitierten Autoren sowie das Schlußkapitel über den Niedergang der Beredsamkeit (s.u. Anm. 107) lassen jedoch das 1. Jh. n.Chr. als wahrscheinlichsten Abfassungszeitraum erscheinen. Siehe dazu die "Introduction" in der Ausgabe von RUSSELL, spez. xxii-xxx, sowie das „Nachwort" der Ausgabe von SCHÖNBERGER, spez. 135f; außerdem FUHRMANN, Dichtungstheorie 138. 103 το περί τάς νοήσεις άδρεπήβσλον. Die Wendung klingt noch einmal in einer zusammenfassenden Bemerkung in 15,12 an (τοσαΰτα περί των κατά τάς νοήσεις ύψηλών); ansonsten spricht ,Longinos' von der „großen Natui" (το μεγαλοφυές: 9,1; vgl. 2,1; 9,14; 15,3; 34,4; 36,1; αί υπερμεγέθεις φύσεις: 33,2).

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Sprache (γενναία φράσις) sowie - das Vorige umfassend - die würdevolle und gehobene Wortfügung (έν άξιώματι καί διάρσει συνθεσις) (ebd.).104 Allerdings gehörten Pathos und Hypsos nicht automatisch zusammen: So seien ζ. B. Jammer, Trauer und Furcht (οίκτοι λΰπαι φόβοι) geradezu „niedrige Affekte" (πάθη ταπεινά) (8,2)105, und umgekehrt seien die „Preis-, Prunkund Schaureden" (τά εγκώμια καί τα πομπικά και έπιδεικτικά) der Redner trotz „Fülle und Erhabenheit" (ογκος καί τό ύψηλόν) weitgehend frei von Pathos (8,3)106. Die wahrhaft großen Naturen sind für ,Longinos' göttergleich (ίσόθεοι, 35,2) und gehören der Vergangenheit an (44,l)107. Als Beispiele nennt er vor allem Homer, Demosthenes und Piaton (36,2 u.ö.). Ihre Größe lasse sich freilich nicht in der Abwesenheit von stilistischen Fehlem ermessen - im Gegenteil: Eher kleine und mittelmäßige Naturen (ταπεινά καί μέσα φύσεις), die nichts riskieren und sich nicht nach dem Gipfel strecken, seien frei von Fehlern, und gerade die Korrektheit in allem berge die Gefahr des Kleinlichen108, während die wirklich großen Naturen eine gewisse Nachlässigkeit und Großzügigkeit walten ließen (33,2). Und so gebe es die einen, die fehlerlos und im eleganten Stil durchweg schön schreiben (αδιάπτωτοι καί έν τω γλαφυρω πάντη κεκαλλιγραφημενοι) (33,5), aber den Hörer kaltlassen (34,4), und die anderen, die, mit gottgesandten mächtigen Gaben (θεόπεμπα δεινά δωρήματα) ausgestattet (34,4), die Zuhörer durch ihre Leidenschaft mitreißen und erschauern lassen (33,5; 34,4), aber eben auch öfters zu Fall kommen (πίπτειν) (33,5).109

104 Vgl. zu dieser Aufteilung die jeweiligen drei Quellen der χαρακτήρες bei Demetrios, De eloc. (διάνοια, λέξις, σύνθεσις), (s.o. S. 182ff). 105 Die lateinischen Autoren rechnen die mitleiderregenden Affekte durchaus zum Erhabenen (vgl. Rhet. ad Her. IV 8,11; Cicero, Orat. 130f; Quint. Inst. ΧΠ 10,62). 106 Vgl. Demetrios, De eloc. 301 (s.o. Anm. 40), der das Unrhythmisch-Schroffe des χ α ρακτήο δεινός nur für Schmähreden zuläßt und für Enkomien eher rhythmischen Wohlklang für angebracht hält: Dahintersteckt ebenfalls der Gegensatz Pathos-Ethos. 107 De subì. 44, das letzte Kapitel der Schrift, widmet sich der Frage nach den Gründen für den Niedergang der wirklich großen Literatur und Beredsamkeit. .Longinos' weist einen Zusammenhang mit der Staatsform - einst Demokratie, jetzt Despotie - energisch zurück: Nicht der „Weltfriede" verderbe die großen Naturen, sondern die dem Menschen angeborenen „Begierden" (έπιθυμίαι), deren gegenwärtige Frucht die allgemeine „Oberflächlichkeit" (ραθυμία) sei. - Der Niedergang der Beredsamkeit wurde im 1./2. Jh. n. Chr. mehrfach diskutiert; am bekanntesten ist wohl Tacitus' Dialogus de oratoribus. Quintilian hatte dem Thema eine (nicht erhaltene) eigenständige Schrift De causis corruptae eloquentiae gewidmet und äußert sich Inst. V 12,17-23 kurz dazu. Vgl. außerdem Seneca, ep. 114; (Ps.-)Plutarch, De liberis educandis (Moralia 1 A - 1 4 C ) . (Siehe zu den genannten Schriften und weiteren antiken Stellungnahmen ausführlich SCHÖNBERGER, Klagen, und HELDMANN, Theorien.) 108 τό γ α ρ έν παντί ακριβές κίνδυνος μικρότητος - vgl. zur Formulierung Demetrios, De eloc. 53 (s.o. S. 182).

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Diese Ausführungen zum Thema .Genie und Mittelmäßigkeit', die im Gesamtaufbau der Schrift einen Exkurs darstellen (Kap. 33-36), zeigen, daß große Natur und starke Leidenschaft, also die erste und zweite der genannten Quellen des Erhabenen, für .Longinos' in der Regel eng verbunden sind. Seine systematische Entfaltung der fünf genannten Quellen (vgl. 8,1) läßt eine eigenständige Darstellung der zweiten Quelle (starkes Pathos) vermissen; sie spielt jedoch in weiten Teilen der Schrift eine nicht unbedeutende Rolle.110 Große Gedanken (und große Gefühle) sind nach ,Longinos' eine unerläßliche Bedingung für das Hervorbringen großer Werke (9,1-4). Dies wird zunächst an Darstellungen des Göttlichen aus Homer und dem „Gesetzgeber der Juden"111, aber auch an homerischen Darstellungen aus der menschlichen Sphäre aufgezeigt (9,5-11). Daß die starke Leidenschaft im Alter von milderen, wenn auch nicht weniger großen Gefühlen abgelöst wird (also ήθος statt πάθος), soll ein Vergleich zwischen der ,Ilias' und der .Odyssee' (als Alterswerk Homers) erweisen (9,11 -15). In der Auswahl erhabener Gegenstände und deren Verbindung zu einem Organismus (σώμα) zeigten die großen Naturen ihre Meisterschaft (άρετή), wie an Beispielen aus Sappho, Homer, Archilochos und Demosthenes verdeutlicht wird (10,1-7). Eng damit verwandt sei die Steigerung (αυξησις), die in ihrer Wirkung jedoch nur bei der Darstellung wirklich erhabener Gegenstände vollkommen sei: Dann entstehe das Erhabene durch Aufschwung (έν

109 Vgl. zu dem Bild von Höhe und Sturzgefahr Cicero, Orator 98, der allerdings die Vertreter des schlichten und des mittleren Stils nicht abwertet und dafür den enthusiastisch berauschten Redner des hohen Stils auch kritisch sieht (ebd. 99). - Den Gegensatz .Risikobereitschaft - Sicherheitsstreben' hat auch Dionysios v. Halik., Demosth. 2,6 in seiner Synkrisis von Thukydides und Lysias (siehe oben S. 196 f). 110 Eine größere Lücke in der Textüberlieferung (mehrere Seiten bei 9,4) hat hier zu verschiedenen Spekulationen Anlaß gegeben: Enthielten die verlorenen Seiten die ganze Erörterung des πάθος, oder einen Hinweis auf eine Änderung des Aufbaus der Schrift gegenüber 8,1, oder aber eine Überleitung, so daß 9 , l - 4 a von den großen Gedanken und 9,4b-15,12 von den großen Gefühlen handelt? Wichtig ist die Beobachtung, daß der abschließende Satz 15,12 den Inhalt von Kap. 9 - 1 5 kurz rekapituliert, ohne das πάθος zu erwähnen. Somit legt sich die Folgerung nahe, daß der Verf. in Kap. 9 - 1 5 die Darstellung der ersten beiden Quellen eng miteinander verflochten und unter dem Stichwort μεγαλοφροσύνη (9,2; 15,12) subsumiert hat; die Textlücke enthielt möglicherweise einen Hinweis auf dieses Vorgehen sowie das Versprechen, den πάθη eine eigene Schrift zu widmen (vgl. 44,12). - Vgl. die Diskussion über den Aufbau der Schrift in der "Introduction" der Ausgabe von RUSSELL, xiii-xiv (dem ich mich weitgehend anschließe); eine andere Gliederung, nach der in 9 , 5 - 1 5 , 1 2 das Pathos behandelt wird, vertritt SCHÖNBERGER in seiner Ausgabe 144-147. 111 Gemeint ist Mose als Verfasser des Pentateuch. Die hier angeführte Stelle „gleich zu Beginn", an der die „Macht des Göttlichen" würdig zum Ausdruck gebracht sei, ist Gen 1,3.9, etwas frei zitiert: «είπεν ό θεός» φησί' τί; «γενέσθω φως, και έγένετο· γενέσθω γη, και έγένετο.» (De subi. 9,9).

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διάρματι), während bloße Steigerung auch durch Mehrung (έν πλήθει) entstehen könne (11,1 -12,2). Ein Vergleich zwischen Demosthenes und Cicero läßt in der Hypsos-Theorie des ,Longinos' zwei Arten von Größe (μέγεθος) erkennen: Demosthenes wirke „meist durch schroffe Höhe" (έν ΰψει τό πλέον άποτόμω), Cicero „durch breites Ausströmen" (έν χύσει); Demosthenes sei aufgrund seiner Schnelligkeit, Kraft und Gewaltigkeit (τάχος, ρώμη, δεινότης) einem Blitz vergleichbar112, Cicero eher einer dauernden, weitausgreifenden Feuersbrunst (12,4). Die erste Art sei angebracht bei heftigen und starken Ausbrüchen von Leidenschaft (εν τε ταΐς δεινώσεσι και τοις σφοδροΐς πάθεσι) und wo es darum gehe, den Hörer zu erschüttern (έκπλήξαι), während die zweite Art eher zum „Überfluten" (καταντλήσαι) der Zuhörer geeignet sei und „für allgemeine Betrachtungen, Redeschlüsse, Exkurse, alle beschreibenden und epideiktischen Passagen - Geschichtserzählungen und auch Naturbeschreibungen sowie etliche andere literarische Formen" passe113 (12,5). Für die nicht so enthusiastisch Veranlagten gebe es noch einen anderen Weg zum Erhabenen: die „Nachahmung und Nacheiferung (μίμησίς τε και ζήλωσις) der großen Schriftsteller und Dichter von einst", denn dadurch ströme etwas vom Genius der Alten in die Seelen ihrer eifrigen Nachahmer (13,2). Selbst Piaton und andere große Schriftsteller seien Nacheiferer Homers gewesen (13,3 f), und so könnten die Orientierung an großen Vorbildern sowie die Vorstellung, diese wären Hörer und Kritiker, und schließlich der Gedanke an die Rezeption bei der Nachwelt ein Ansporn für die eigene literarische Produktion sein (14,1 -3). Schließlich würden Fülle und Größe und kämpferische Kraft (δγκος και μεγαληγορία και άγων) auch durch lebendige Vergegenwärtigung (φαντασία) hervorgerufen; dabei sei jedoch zu unterscheiden zwischen der rhetorischen φαντασία, die auf Anschaulichkeit (ένάργεια) ziele, und der poetischen φαντασία, deren Ziel Erschütterung (εκπληξις) sei (15,1-11, mit Beispielen aus Poesie und Prosa). Die .technischen' Quellen für das Erhabene versteht ,Longinos' als „eine ganz wunderbare Hilfe" (θαυμαστή τις επικουρία), um das Hypsos und das Pathos zu unterstützen (συμμαχεΐν); sie sollen aber stets durch deren Glanz überstrahlt werden und selbst eher im Verborgenen wirken (17,1-3). Von den Figuren (σχήματα), die das Erhabene vervollkommnen, erwähnt der Verf. den Eid (auch als Apostrophe bezeichnet, 16,2-4), die rhetorische

112 Der Vergleich mit dem Blitz (vgl. schon 1,4) geht auf Aristophanes (Acharnai 531, über die Redegabe des Perikles) zurück und findet sich in bezug auf Demosthenes bereits bei Cicero, Orator 234 (vgl. 21 das julmen des hohen Stils). 113 τοπηγορίαις τε γαρ και έπιλόγοις κατά τό πλέον και παραβάσεαι και τοις ψραστικοίς απασι και έπιδεικτικοΐς, ιστορίαις τε και φυσιολογίαις, και ούκ ολίγοις άλλοις μέρεσιν αρμόδιος.

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Frage mit Antwort (18), das Asyndeton (auch in Verbindung mit der Anapher, 19-20), die Abweichung von der üblichen Wortstellung (Hyperbaton, 22), Figuren der variierenden Wiederholung (πολύπτωτα, 23,l)114 mit Vertauschung von Numeri, Tempora und Personen (23 -27) sowie die Umschreibung (Periphrase, 28-29).115 Dabei handelt es sich ausdrücklich nur um eine Auswahl; eine umfassende Darstellung sei für den vorliegenden Zweck nicht nötig (16,1). Für den sprachlichen Ausdruck (φράσις) komme es in erster Linie auf die Wahl der richtigen Worte an, „denn schöne Worte sind wirklich des Gedankens eigenes Licht"116 (30,1). In manchen Fällen sei allerdings ein Ausdruck aus der gewöhnlichen Sprache (ίδιωτισμός) anschaulicher und treffender (31). Metaphern trügen besonders an pathetischen und beschreibenden Stellen zur Erhabenheit bei und dürften dort sogar in größerer Anzahl eingesetzt werden; sie bräuchten auch nicht durch entschuldigende Wendungen abgemildert zu werden (wie Aristoteles und Theophrast meinen) (32). Den Metaphern nahestehend seien Bilder und Gleichnisse (παραβολαί και εικόνες) (37); und für pathetische Stellen sei oft auch Übertreibung (ύπερβολή) angebracht (38).117 Die Wortfügung (σύνθεσις) schließlich könne eine natürliche Harmonie (αρμονία) erzeugen, und zwar durch den Rhythmus (39; besonders der „heroische" daktylische Rhythmus erzeuge Größe) und durch die Verbindung der einzelnen Wörter zu organischen' Satzverbindungen (σωματοποιεΐν), wodurch selbst gewöhnliche Wörter Erhabenheit gewönnen (40). Eine Verkleinerung des Erhabenen werde jedoch durch einen „gebrochenen und hektischen Rhythmus" (ρυθμός κεκλασμένος και σεσοβημένος), wie etwa Pyrrhi114 Als πολύπτωτον wird üblicherweise die Wiederholung eines Wortes (oft Eigennamen) In verschiedenen Kasus bezeichnet; ,Longinos' ordnet diesem Begriff die verwandten, aber nicht identischen Figuren άθροισμός, μεταβολή und κλΐμαξ unter (23,1), so daß er ihn wohl im weiteren Sinne als .(variierende) Wortwiederholung' verwendet. Siehe dazu den Kommentar in der A u s g a b e v o n RUSSELL, 1 3 9 f.

115 Gemindert werde das Erhabene durch Sätze mit vielen Konjunktionen (Polysyndeton, 21); und besondere der Wechsel des Numerus und die Periphrase dürften nicht im Übermaß Verwendung finden (23,4; 29,1). - Im abschließenden Satz des Abschnitts über die Figuren (29,2) werden diese in besonderer Weise dem Pathos zugeordnet; somit wäre (nach der Aufzählung von 8,1) die zweite Quelle des Erhabenen nicht nur eng mit der ersten, sondern auch mit der dritten verknüpft und somit auch ohne einen eigenen Abschnitt durchweg präsent. Vgl. die Erwägungen zu Kap. 9 - 1 5 oben Anm. 110 sowie RUSSELL, a.a.O. xix. 116 φως γαρ τω οντι L&LOV του νου τά καλά ονόματα. — Der Satz spielt wahrscheinlich auf eine etymologische Spekulation an, nach der φωνή von φως voti hergeleitet wird (siehe die Anm. z. St. in der Ausgabe von RUSSELL, 149). - Zu den καλά ονόματα vgl. Demetrios, De eloc. 173 (s.o. Anm. 32). 117 Auch im Abschnitt über die Phrasis warnt der Verf. vor übertriebenem bzw. unpassendem Gebrauch der besprochenen Stilmittel, vgl. 30,2 (nicht große und feierliche Worte für geringe Gegenstände); 32,7 (maßlose Metaphern bei Piaton); 38,lf (überspannte Hyperbole).

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chien, Trochäen und Dichoreen, bewirkt (41,l).118 Ebenso abzulehnen sei eine zu starke Rhythmisierung, die vom Inhalt des Gesagten ablenke (41,2), und eine Zerlegung in lauter kurze Einzelsätze (41,3). Weitere Minderungen der Erhabenheit seien allzu starke, den Sinn verstümmelnde Verkürzung im Ausdruck (συγκοπή statt συντομία), aber auch Langatmigkeit im falschen Moment (ακαιρον μήκος) (42) sowie triviale, dem Gegenstand nicht angemessene Ausdrücke (43). Als Verfehlungen des Erhabenen finden sich bei .Longinos' vier Kategorien, die allerdings in ihrer Zuordnung zu einem Oberbegriff und zueinander nicht ganz eindeutig sind: der .Schwulst' (τό οίδοΰν), der zuviele und zu hochgestochene Worte macht und „das Erhabene noch überhöhen will" (3,1-4)119, das .Kindische' (τό μειρακιώδες), das originell sein will und doch nur Tand und Affektiertheit hervorbringt (3,4), die ,Scheinraserei' (παρένθυρσον), die zur falschen Zeit ein hohles Pathos zur Schau stellt (3,5)120, und das .Frostige' (τό ψυχρόν), das auf der Suche nach ungewöhnlichen Ideen in alberne Wortspielereien verfällt (4)121. Die gemeinsame Ursache für alle diese Verfehlungen sei die „Jagd nach Neuheit der Gedanken" (τό περί τάς νοήσεις καινόσπουδον) (5). Zu vermeiden seien sie nur durch ein klares Wissen um das wirklich Erhabene; diese Kritikfähigkeit sei zwar in erster Linie das Ergebnis langer Erfahrung, könne aber zu einem gewissen Grad auch durch eine Lehrschrift wie die vorliegende vermittelt werden (6). Außerdem habe die menschliche Seele von Natur aus einen Sinn für das wahrhaft Große und Erhabene, das den Hörer mit Freude und Stolz erfüllt, sich fest im Gedächtnis einprägt und auch beim wiederholten Hören jederzeit und allen gefällt (7). Quintilian bespricht im Abschnitt über die Stilgattungen (Inst. XII 10) zunächst „jene alte Unterscheidung zwischen attischen und asiatischen Rednern", bei der die einen als „knapp und gesund" (pressi et integri), die anderen

118 Zum fehlerhaften Rhythmus vgl. bes. Demetrios, De eloc. 189 (κεκλασμένοις και άσέμνοις μέτροις), der allerdings gerade den .heroischen' Rhythmus für die Prosa als zu feierlich ablehnt und den Päon favorisiert (De eloc. 42f, in Anlehnung an Aristoteles, Rhet. ΠΙ 8,4f; vgl. oben Anm. 20). - Pyrrhichien (uu), Trochäen (—u oder auch uuu, vgl. Cicero, Orator 217 u. Quint. Inst. IX 4,82) und Dichoreen (—u—u) werden von .Longinos' dem Tanz zugewiesen (όρχηστικόν); ähnlich bereits Aristoteles, Rhet. ΠΙ 8,4, für den Trochäus. 119 Der Verf. vergleicht den literarischen .Schwulst' explizit mit Schwellungen am Körper (3,4); vgl. Rhet. ad Her. IV 10,15 (s.o. bei Anm. 53). 120 Die Vertreter dieses Stilfehlere wirken nach .Longinos' wie „Verzückte vor nicht Verzückten" (έξεστηκότες προς ούκ έξεστηκότας) - vgl. Cicero, Orator 99 (s. o. Anm. 80). 121 ψυχρότης wird allerdings auch dem .Kindischen' bescheinigt (3,4), während umgekehrt das .Frostige' auch als „überaus kindisch" (παι&αριωδέστατον) bezeichnet wird (4,1). Beiden gemeinsam ist auch das Attribut „kleinlich" (3,4: μικρόψυχον; 4,7: μικροψυχία). Unklar bleibt, worin sich das φυχρόν und das μειρακιώδες unterscheiden.

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als „schwülstig und hohl" (inflati et inanes) gegolten hätten (10,16); zu dieser Einteilung sei noch eine dritte Gattung hinzugekommen: die „rhodische Stilart", die ein mittleres und aus beiden gemischtes (medium atque ex utroque malum) Genus darstelle und „weder knapp nach attischer noch überquellend nach asiatischer Art" sei (10,18)122. Quintilian gesteht zu, daß die .attische' Stilart „bei weitem die beste" sei (10,20), will dann aber den Begriff des Attischen' nicht zu eng gefaßt haben: Nicht nur „die schlichten, durchsichtigen und im Ausdruck deutlichen" (tenues et lucidi et significantes) Redner wie Lysias seien Attici, sondern eine ganze Reihe sehr verschiedener Redner, besonders Demosthenes, der alle anderen Redner übertroffen habe; daher sollte man definieren: At tice dicere esse optime dicere (10,21 -26). 123 Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen der schriftlichen Ausarbeitung einer Rede und ihrem mündlichen Vortrag, wie es „viele der Gelehrten" vertreten124, läßt Quintilian nicht gelten: Wenn es statthaft sei, solle der Redner seine Rede immer so halten, wie sie schriftlich ausgearbeitet sei - nur durch besondere Umstände (Knappheit der Redezeit, Rücksicht auf die Hörer) müsse manchmal davon abgewichen werden (10,49-57). Neben der Einteilung in Attici, Asiani und Rhodici nennt Quintilian noch eine zweite, ebenfalls in drei Gruppen unterteilte divisio, die eine richtige Unterscheidung der genera dicendi zu gewähren scheine: das [genus] subtile oder ίσχνόν (.schlicht'), das grande atque robustum oder άδρόν (.großartig und kräftig') und das dritte, das die einen als medium ex duobus, die anderen als floridum oder άνθηρόν (.blühend1) bezeichnet hätten (10,58). Diese Stilarten werden den drei Aufgaben des Redners zugeordnet: die erste dem docere, die zweite dem movere und die dritte je nach gewählter Definition dem delectare oder dem conciliare, dabei sei für das Belehren Scharfsinn (acumen), für die Sympathiegewinnung Sanftheit (lenitas) und für das Bewegen Kraft (vis) erforderlich (10,59).125 Der .schlichte' Stil habe seinen Ort vor allem beim Erzählen und beim Beweisen und sei auch ohne die übrigen virtutes - nämlich die rhetorischen Schmuckmittel - vollgültig (plenum) (10,59).

122 Zur „Weder-noch"-Definition des .mittleren' Stils vgl. bes. Cicero, Orator 21 (s.o. S. 192). 123 Vgl. Cicero, Orator 90 und Brutus 284ff. Quintilians Auseinandersetzung mit den Attici (die er 10,14 polemisch als aridi el exsuci et exsangues charakterisiert) ist auch eine Verteidigung Ciceros, der von jenen mit religiösem Fanatismus angegriffen worden sei (10,14), und basiert weitgehend auf dessen Ausführungen (10,15). 124 Vgl. dazu die Kontroverse zwischen Isokrates und Alkidamas und ihre Rezeption bei Aristoteles, Rhet. ffl 12,lf (s.o. S. 180). 125 Hier hat Quintilian offensichtlich zwei Stellen aus Ciceros Schriften miteinander verbunden, nämlich De orat. Π 128 f und Orator 69 (vgl. oben Anm. 67).

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Der medius modus sei reicher an Metaphern und Figuren, lieblich durch seine Exkurse, wohlabgerundet im Satzbau und angenehm durch Sentenzen; er sei wie ein von grünenden Wäldern eingesäumter ruhiger Fluß (10,60).126 Dagegen sei der .kräftige' Stil ein wilder Strom, der sich seine Ufer selber schafft und alles mit sich fortreißt; der Redner lasse Tote oder gar das Vaterland reden126®, wende Steigerungen und Übertreibungen an, richte sich beschwörend an die Götter, hauche den Hörern Zorn und Mitleid ein und ziehe sie durch alle Höhen und Tiefen der Gefühlserregung (10,61f). Diesen Stil würde man, wenn man nur einen auswählen dürfte, den anderen vorziehen, weil er der stärkste und für große Fälle der passendste sei (10,63). Aber auch wenn sich diese drei Formen der Rede bereits bei Homer finden lassen (10,64f)127, sei in ihnen die Beredsamkeit doch nicht vollständig erfaßt, denn wie bei der Windrose oder einem Saiteninstrument lasse sich auch bei den Stilarten jeweils zwischen zwei Punkten immer noch ein dritter finden, so daß sich „fast unzählige Spielarten" (prope innumerabiles species) ergäben (10,66-68).128

Hinzu komme, daß ein Redner sich ohnehin nicht nur nach einer der Stilarten richten sollte, sondern jede Art - an der richtigen Stelle - ihren Nutzen habe und verwendet werden müsse (10,69). Zu beachten sei jeweils, um welche Redegattung und um was für einen Fall es sich handele129; aber auch 126 Die Schilderung einer lieblichen Gegend ist besonders seit der Kaiserzeit ein beliebter Topos für Exkurse beschreibender Art (,Ekphraseis'; vgl. NORDEN, Kunstprosa 285 f, und speziell zum ,locus amoenus' CURTIUS, Literatur 202-206; SCHÖNBECK, Locus amoenus; siehe auch oben Kap. ΙΠ. la, S. 176f, zum Exkurs, bes. zu Quint. Inst. IV 3,12). Quintilian spielt hier offenbar mit diesem Topos (vgl. die Wendung egressionibus amoenus). - Durch den Vergleich mit dem Fluß ergibt sich außerdem eine Nähe zur Charakterisierung der αρμονία γλαφυρά bei Dionysios v. Halik., Comp. 23,2; vgl. ferner .Longinos', De subì. 12,5 über die Redeweise Ciceros sowie das Fließende in der Redeweise Nestors bei Homer, Ilias I 249 (bei Quintilian gleich anschließend angeführt, s.u. Anm. 127). 126a Ein berühmtes Beispiel hierfür findet sich in Ciceros erster Rede gegen Catilina, § 18; siehe dazu unten S. 217f. 127 Für den .schlichten' Stil verweist Quintilian auf Menelaos (vgl. Ilias ΠΙ 213-215), für die delectatio auf Nestor (vgl. Ilias I 249) und für die kraftvolle Größe auf Odysseus (vgl. Ilias ΙΠ 222f; siehe zu allen drei Stellen den Anfang dieses Kap.s). Außer auf Homer weist Quintilian auch auf Aristophanes hin, der die Reden des Perikles mit Blitzen verglichen hat (Acharnai 531; vgl. oben Anm. 112). 123 Zum Vergleich mit dem Saiteninstrument vgl. Dionysios v. Halik., Demosth. 2,4 (s.o. S. 196). 129 Quintilian gesteht dem genus demonstrativum, da es dem delectare der Zuhörer diene, einen größeren Einsatz an Schmuckmitteln (Metaphern, Neologismen und Archaismen, ungewöhnlicher Satzbau, abrollende Perioden, Fülle von Topoi und Sentenzen) zu als den beiden Gattungen der .praktischen' Beredsamkeit (XI 1,48; vgl. VIH 3,11-14 und, auf die Schul- und Übungsrede ausgeweitet, Π 10,1 If). Die Zuordnung des delectare zum genus demonstrativum rezipiert die von Cicero durchgeführte Gleichsetzung des .mittleren' Stils mit dem .epideiktischen' Stil (Orator 95f; s.o. Anm. 79).

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innerhalb derselben Rede seien die Erfordernisse für die einzelnen Partien und Redeteile ganz unterschiedlich (10,70f).130 Ein Redner, der diese Nuancen beherrsche, werde auch Anerkennung finden - und zwar nicht nur von den Gelehrten, sondern auch von der Menge (10,72). Es sei nämlich ein Irrtum, zu glauben, daß kindischer Schwulst und hohles Pathos beim Volk beliebter und beifallsträchtiger seien: Durch den Vergleich mit dem Besseren werde die zunächst noch bewunderte Art der schlechten Redner ihre Wirkung verlieren, so wie rotgefärbte Wolle beim Vergleich mit einem echten Purpurgewand ganz verblasse (10,73 - 76). Beim Aufstieg des Redners zum Gipfel der Beredsamkeit liege die größte Mühe auf dem untersten Teil; weiter oben böten sich die Früchte ohne Mühe dar (10,78 f).131 Wer diese obere Region erreicht habe, sei nicht ängstlich in der Verwendung seiner Sprache, sondern gebiete über die rednerischen Mittel wie ein Feldherr über seine Truppen: „glänzend, erhaben und aus dem vollen schöpfend" (nitidus et sublimis et locuples) (10,77f).132 Allerdings müsse auch die rednerische Fülle ihr Maß haben, damit etwa das Große nicht ins Übermäßige, das Erhabene nicht ins Abschüssige und das Großartige nicht ins Geschwollene umschlage (10,80)133. Damit ist die Bestandsaufnahme der für ,unseren' Zeitraum relevanten stiltheoretischen Ausführungen abgeschlossen.134

130 An dieser Stelle werden zwar die einzelnen Redeteile aufgezählt, jedoch nicht dem jeweils passenden Stil zugeordnet. Etwas konkreter, wenn auch negativ formuliert, ist Inst. XI 1,6: keine veralteten, übertragenen und neugebildeten Wörter am Redeanfang, in der .Erzählung' und in der Beweisführung; keine eleganten Perioden in der propositio; keinen niedrigen, alltagssprachlichen und syntaktisch lockeren Stil im Epilog (und keine Scherze, wo miseratio am Platze ist). Nach IX 4,130-138 (bes. 132f) hat die compositio sich so weit nach den behandelten Gegenständen zu richten, daß sogar innerhalb der unterschiedlichen Partien eines Proömiums (vgl. oben Kap. ΠΙ. 1 a) die Wortfügung (Satzbau, Rhythmus usw.) variieren sollte (vgl. die sehr differenzierten Ausführungen IV 1,55-60). - In V 14,33-35 wird der Beweisführung (im ausdrücklichen Widerspruch gegen andere Rhetoriker) maßvoller Schmuck zugestanden - z.B. um einen spröden Gegenstand für die Hörer etwas „schmackhafte^' zu machen. 131 Die Metapher vom beschwerlichen Gipfelaufstieg findet sich in bezug auf die Tugend (άρετή) zuerst bei Hesiod, Erga 289-292 (mit dem .geflügelten' Anfang „Vor die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt") und wird häufig aufgegriffen (ζ. B. von Simonides, fr. 37). Quintilian überträgt es hier auf die rednerische Tugend. 132 Als Muster der höchsten Beredsamkeit gilt wiederum Cicero, der die vis des Demosthenes, die copia Piatons und die iucunditas des Isokrates miteinander verbinde (X 1,105-112, bes. 108).

133 Zu diesem Umschlagen vgl. X 1,66, wo es von Aischylos heißt, er sei „erhaben, gewichtig und hochtönend, oft bis zum Fehlerhaften" (sublimis et gravis et grandiloquus saepe usque ad Vitium). 134 Zu Beginn des 2. Jh.s n.Chr. äußert sich noch Plinius d. J. in zwei Briefen (ep. 120 u. IX 26) zu den beiden Varianten des Erhabenen (breite Fülle und pathetisch-kühne Höhe); alle

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Als Ergebnis ist zunächst festzuhalten, daß die antike Stiltheorie alles andere als einheitlich ist. Schon die Zahl der angenommenen Stilarten schwankt zwischen zwei, drei und vier (wenn die Mischformen außer acht bleiben); und selbst bei der am häufigsten angenommenen Dreizahl ist die Zuordnung des .mittleren' Stils recht unterschiedlich: Er kann als bloße Übergangsstufe zwischen ,hoch' und .niedrig' bzw. ,νοΙΓ und .schlicht' angesehen werden, er kann an beiden Extremen gleichermaßen Anteil (oder keinen Anteil) haben und diesen somit gleichwertig sein, und er kann schließlich eine Mischung der jeweils besten Elemente beider Extreme darstellen und damit beide übertreffen. Als Kriterium dafür, was ,hohen' oder .erhabenen' Stil ausmacht, kann je nach Standpunkt des Kritikers der Gehalt an großen Gefühlen (Pathos) oder die ästhetische Gestaltung durch rhetorische Schmuckmittel gelten - was sich aber wiederum auch nicht zwangsläufig ausschließen muß. Fehlt beides, liegt auf jeden Fall ein .niedriger" bzw. schlichter' Stil vor, als dessen klassischer Vertreter allgemein Lysias gilt. Auch das Verhältnis von Naturbegabung bzw. Inspiration und (erlernbarer) Kunstfertigkeit wird unterschiedlich bewertet; meist wird jedoch das Nebeneinander beider Faktoren als notwendig angesehen. Es gibt jedoch einen .gemeinsamen Nenner' der antiken Stilkritiker: die vor allem seit Aristoteles aufgestellte Forderung des .Angemessenen' ( x ò πρέπον). Danach erfordern erhabene Gegenstände auch einen erhabenen Stil, während umgekehrt ein erhabener Stil für geringfügige Dinge lächerlich wirkt. Somit ist die stilistische Bewertung eines Textes keine absolute, sondern eine relative Aussage: Gefragt wird danach, ob die sprachliche Gestalt dem Gegenstand und der Situation (Redner, Hörer, Zeitpunkt usw.) gerecht wird. Mit der Forderung nach »Angemessenheit' ist ein konsensfähiger Schlüsselbegriff gegeben, der freilich noch genügend Spielraum für subjektive Bewertung läßt. Wichtig ist die Konsequenz, daß mehrere Stilformen als .richtig' anerkannt werden: Der ideale Redner darf nicht einseitig sein, sondern soll alle

hier versammelten Motive sind uns oben bereits begegnet (v.a. bei Quintilian und in der Schrift Περί ΰ'ψους). Siehe dazu QUADLBAUER, Genera dicendi 107-109, sowie ausführlicher GAMBERINI, Stylistic Theory and Practise in the Younger Pliny. QUADLBAUER bespricht (a.a.O., passim) auch verstreute Äußerungen aus anderen Autoren, auf die ich jedoch hier verzichtet habe, da sie keine neuen Gesichtspunkte beisteuern. - Um die Wende zum 3. Jh. schlägt Hermogenes von Tarsus mit seinem Werk Περί ιδεών einen neuen Weg ein, indem er das bekannte (weitgehend von Dionysios v. Halik. übernommene) Material neu sortiert und fünf Hauptgesichtspunkten oder .Ideen' (ίδέαι) zuordnet (p. 213-413): erstens „Deutlichkeit" (σαφήνεια), zweitens „Würde, Fülle und Größe" (αξίωμα και ογκος και μέγεθος), drittens „Schönheit" (κάλλος), viertens „Lebhaftigkeit" (γοργότης) und fünftens „Charakter" (ήθος). Als δεινότης bezeichnet Hermogenes die virtuose Vermischung aller dieser .Ideen' (samt ihren Unterpunkten), wie es beispielhaft bei Demosthenes zu finden sei. (Eine gute Zusammenfassung gibt VOLKMANN, Rhetorik 555-566; zum Hintergrund der einzelnen Motive siehe HAGEDORN, Ideenlehre.)

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Stilarten beherrschen. Als große Beispiele, die diesem Ideal nahegekommen seien, werden mehrfach Homer, Piaton und Demosthenes genannt; über ihre Größe besteht Einigkeit, auch wenn in ihren Schriften im einzelnen stilistische Fehler gefunden werden können. Der Bezug der Stilarten auf die Redegattungen ist nicht ganz eindeutig. Im zweiteiligen Schema der Frühzeit wird der epideiktischen Rede ein größeres Maß an Schmuck (insbesondere den ,gorgianischen Figuren') und an literarischer Gestaltung zugeordnet, den .praktischen' Reden dagegen ein größeres Maß an kämpferischem Pathos. Cicero (gefolgt von Quintilian) identifiziert den .mittleren' Stil des von ihm vorgefundenen dreiteiligen Schemas mit dem ,epideiktischen' Stil des Isokrates und verteilt damit Pathos und Redeschmuck auf zwei unterschiedliche Stilformen. Vor allem aber ordnet er die drei Stilarten den drei Aufgaben des Redners' (officia oratoris: docere, movere, delectare) zu, wobei das delectare natürlich in besonderer Weise mit dem genus demonstrativum verbunden ist - aber eben nicht ausschließlich. Vielmehr gelten alle drei officia für jede Redegattung und wechseln sich im Verlauf einer Rede ab. Daraus folgt die Forderung, daß sich innerhalb eines Textes auch die Stilarten abwechseln sollen - eine Forderung, die sich in anderen Stiltheorien ebenfalls findet, weil sie gleichzeitig dem rhetorischen Wunsch nach variatio entgegenkommt und weil die .glückliche Mischung' eine Vermeidung der Extreme darstellt. Dies kann nun, wenn auch mit Vorsicht, folgendermaßen auf die einzelnen Redeteile bezogen werden135: Die Einleitung soll entsprechend der geforderten Bescheidenheit stilistisch eher schlicht ausfallen; sie kann aber auch etwas pathetisch werden, wenn es der Gegenstand erfordert. Die .Erzählung' soll sachlich wirken und daher ebenfalls in einem schlichten, an der Alltagssprache orientierten Stil formuliert sein. Das gleiche gilt für die Ankündigung des Beweiszieles (propositio). Gelegenheit für reicher geschmückten Stil bieten Exkurse, besonders in Form von (epideiktischen) Beschreibungen. Die Beweisführung als Hauptteil der (praktischen) Rede verlangt nach größerer Variationsbreite, da sie sich den wechselnden Gegenständen der einzelnen Beweise anzupassen hat; sie erfordert rednerische Spannkraft, aber einen größtenteils sachlich-schlichten Stil (evtl. durch maßvollen Schmuck gelegentlich aufgelockert). Während bei den Stilvorschriften für die Beweisführung am wenigsten Einigkeit besteht, ist sie für den Schlußteil am größten: Hier darf der Redner sich zu stärkstem Pathos steigern, um bei den Zuhörern die gewünschten Affekte zu erregen. Das wichtigste Ergebnis in bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit ist, daß in der antiken Stiltheorie bei aller Verschiedenheit der einzelnen Ent135 Zum folgenden vgl. auch oben Kap. ΙΠ. la. Die Redeteile, in denen bevorzugt Lob und Tadel vorkommen kann, und die, in denen der Stil .erhabener' ausfallen kann, stimmen zum Teil überein, sind aber nicht ganz deckungsgleich.

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würfe einhellig zu Mischung und Wechsel der Stilarten innerhalb eines Textes ermutigt wird. Dabei ist auch zu beachten, daß die Forderung nach Stilmischung und -Wechsel nicht nur für rhetorische Texte im engeren Sinne (also Reden), sondern für jede Art von Literatur gilt.

2. Beispiele für Stilwechsel in antiken Prosatexten Zwar gibt es bereits „hymnische Elemente in der philosophischen Prosa der Vorsokratiker"1, und wir sind auch im Zusammenhang dieser Arbeit schon auf epideiktische Passagen in den Reden des Isokrates oder in den Dialogen Piatons gestoßen2. Das Phänomen des Wechsels von Stilebene und rhetorischem γένος ist also schon sehr früh in der Praxis antiker Prosaliteratur anzutreffen. 3 In diesem Kapitel sollen jedoch Beispiele betrachtet werden, die in größerer zeitlicher Nähe zu den Schriften des Neuen Testaments entstanden sind. Wir setzen daher Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. - also etwa 100 Jahre vor der Abfassung der Paulusbriefe - bei Cicero ein (a). Dann folgen Autoren aus dem ersten (b: Philon, c: Kleomedes), der Wende vom ersten zum zweiten (d: Epiktet) und dem zweiten Jahrhundert n. Chr. (e: Apuleius). Bei diesen fünf Autoren werden die von mir ausgewählten epideiktischen Passagen in ihrem jeweiligen Kontext etwas ausführlicher analysiert; auf eine Reihe weiterer Texte und Textpassagen, die im Blick auf unsere Fragestellung von Interesse sind, aber nicht mit derselben Ausführlichkeit besprochen werden sollen, wird in den Anmerkungen hingewiesen. Die Auswahl berücksichtigt sehr unterschiedliche Gattungen der Prosaliteratur4; dafür nehme ich beim letzten Text - dem erotisch-mystischen Eselsroman des Apuleius - gern in Kauf, daß der in der Einleitung abgesteckte zeit-

1 So der Titel des einschlägigen Aufsatzes von KARL DEICHGRÄBER; vgl. darauf aufbauend auch JAEGER, Die Theologie der frühen griechischen Denker 42f. 234-237 (Anm. 44). 290f Anm. 59. 2 Zu den epideiktischen Exkursen bei Isokrates siehe oben S. 176 (mit Anm. 15 u. 16); hinzufügen läßt sich das Prooimion der Rede ,Nikokles' (§ 1 - 9 ) , das als Rechtfertigung der Redekunst beginnt und sich nach und nach zu einem hymnischen Lobpreis des λ ό γ ο ς aufschwingt. Bei Piaton sind vor allem die Lobreden auf den Eros im Kontext des .Symposion' zu nennen (s.o. Kap. Π. 2b, S. 170 mit Anm. 76); daneben ist auch auf den Epitaph im ,Menexenos' hinzuweisen (dazu s.o. Kap. Π. 2a, S. 131 Anm. 106). 3 Zu hymnischen bzw. epideiktischen Passagen in der griechischen und lateinischen Dichtung siehe oben Kap. Π. 1 a, S. 47f, sowie Kap. Π. le, S. 84f u. 92ff. 4 Bewußt ausgespart bleibt allerdings hier die Gattung ,Brief: Ihr wird ein eigener Abschnitt dieser Arbeit gewidmet (siehe unten Kap. IV).

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liehe Rahmen unserer Untersuchung (bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr.) in diesem Fall etwas großzügiger ausgelegt wird.

a) Cicero Schon in anderem Zusammenhang waren wir auf Epideiktisches in den Reden Ciceros aufmerksam geworden: Das Lob Siziliens in der zweiten Rede gegen Verres wird von Quintilian (Inst. III 7,27; IV 3,13) als Beispiel für exkursartige Lobreden auf Gegenden angeführt 1 ; das durchgängige Lob von Caesars dementia in Ciceros Danksagungen für die Begnadigung des Marcellus, des Ligarius und des Deiotarus diente Plinius d. J. als Modell für seinen Panegyricus auf den Kaiser Trajan 2 . Selbst die rhetorische Theorie hält bei Cicero Entsprechendes bereit: Die theoretische Aussage in seinem Dialog ,Über den Redner*, daß Lob und Tadel „in jeder Redegattung" anzuwenden seien (De orat. II 349)3, findet ihre praktische Bestätigung noch im selben Werk - nämlich in den Proömien des ersten und zweiten Buches, die jeweils ein Lob der Redekunst enthalten (De orat. 130-34; II 33-38). 4 Die schönste Stelle dieser Art ist aber der „Gebetshymnus an die Philosophie" 5 in Ciceros .Gesprächen in Tusculum', einem 45 v. Chr. entstandenen philosophischen Werk in Dialogform (I 7f als scholae bezeichnet). Das Proömium des fünften Buches ist an Brutus gerichtet, dessen (stoische) These, daß die Tugend sich selbst genüge, um glücklich zu leben (virtutem ad beate vivendum se ipsa esse contentam), den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet (1). Die allgemeine Erfahrung zeige ja, daß auch die Tugend (d. h. die sittlich vollkommene Persönlichkeit) „den wechselnden und ungewissen Zufällen unterworfen" und daher „Sklavin des Schicksals" sei (virtus subiecta sub varios incertosque casus famula fortunae est)·, daher scheine es weniger angebracht, in Hinsicht auf ein glückliches Leben auf die sittliche Vollkommenheit (virtus) zu vertrauen, als vielmehr Gebete zu entrichten (vota facienda) (2). Ciceros ei-

1 Siehe oben Kap. Π. 2a, S. 130 Anm. 101, und Kap. ΠΙ. la, S. 177. 2 Siehe oben Kap. Π. 2b, S. 164f. 3 Diese Stelle ist oben zweimal angeführt: Kap. Π. 2a, S. 127, und Kap. m . 1 a, S. 174. 4 Vgl. auch den lobenden Exkurs über den ,epideiktischen' Stil und dessen größten Vertreter Isokrates, Orator 3 7 - 4 2 (siehe oben Kap. DI. 1 b, Anm. 79). 5 So lautet die m.E. zutreffende Chrarakterisierung der Stelle im Titel der Arbeit von HOMMEL, dem ich auch in der Analyse weitgehend folge. Vgl. daneben die beiden im Literaturverzeichnis genannten grundlegenden Aufsätze von WEINREICH (in den früheren Darstellungen der Hymnengattung - etwa NORDEN, Agnostos Theos, oder WÜNSCH, Hymnos - wird dieser .Prosahymnus' Ciceros nicht erwähnt, den man übrigens auch bei LATTKE, Hymnus 80ff, vergeblich sucht) sowie W. SCHMID, Ein Tag und der Aion.

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gene Schicksalsschläge der zurückliegenden Monate 6 haben ihm die „Schwachheit und Zerbrechlichkeit des Menschengeschlechtes" verdeutlicht - nicht nur wegen der krankheitsanfälligen und schmerzempfindlichen Körper, sondern auch wegen der in Ängste und Leiden verstrickten Seelen (3). Dies führt ihn zu Selbstvorwürfen und Gefühlen der Unvollkommenheit und Schuld (4). In dieser seelischen Bedrängnis von „Schuld, Fehlern und Vergehen" (culpa, vitia, peccata) scheint es ihm angeraten, die Philosophie um Heilung (correctio) zu bitten, in deren sicheren Hafen er von Jugend auf schon oft geflohen sei (confugimus) (5). Nun folgt, in direkter Anrede, ein hymnisches Gebet an die personifizierte Philosophie (§5f), das ich hier im vollen Wortlaut wiedergeben möchte und zwar nach Sinnzeilen (κατά κώλα και κόμματα) gegliedert, ohne daß damit ein .poetischer' Charakter impliziert werden soll7: o vitae Philosophia dux o virtutis indagatrix expultrixque vitiorum quid - non modo nos, sedomnino vita hominum sine te esse potuisset? tu urbis peperisti tu dissipatos homines in societatem vitae convocasti tu eos interse primo domiciliis, deinde coniugiis, tum litterarum et vocum communione iunxisti, tu inventrix legum, tu magistra morum et disciplinae fuisti. ad te confugimus, a te opem petimus tibi nos ut antea magna ex parte sic nuncpenitus totosque tradimus. est autem unus dies bene et ex praeceptis tuis actus peccanti immortalitati anteponendus. cuius igiturpotius opibus utamur quam tuis, quae et vitae tranquillitatem largita nobis es et terrorem mortis sustulisti?

6 Neben familiären Zerwürfnissen und seiner Ehescheidung hat Cicero vor allem der Tod seiner Tochter Tullia (im Februar d. J. 45) schwer getroffen; vgl. HOMMEL, Gebetshymnus 9f, und ausführlicher M. GELZER, PRE VU A (1948), 1018ff. 7 Die Zeilengliederung folgt HOMMEL, Gebetshymnus IIa bzw. Sebasmata I, 265, der die nur als unglücklich zu bezeichnende Paragraphenabgrenzung (§ 6: cuius igitur...) stillschweigend ignoriert. - Zur Anordnung von Prosatexten κατά κώλα και κόμματα siehe grundsätzlich oben Kap. I. 2.

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In diesem kleinen Prosahymnus8 gehen hymnische Struktur und rhetorische Disposition eine eindrucksvolle Verbindung ein: Hymnologisch betrachtet bilden die beiden ersten Zeilen eine deutliche Anrufung der Göttin Philosophia, der drei Epitheta (vitae dux - virtutis indagatrix — expultrix vitiorum) beigelegt werden. Der .Mittelteil' wird eingeleitet durch den bekannten ,Nichts-ohne-dich'-Topos, der hier in eine rhetorische Frage gekleidet ist9, und streng durchgeführt mit fünf anaphorischen tuSätzen, die eine preisende Aufzählung der Verdienste der angesprochenen Göttin darstellen (Aretalogie').10 Der dritte Teil, die Bitte, knüpft formal an die tu-Sätze des vorausgehenden Teils an, setzt sich aber zugleich davon ab, indem das Personalpronomen - ebenfalls am Satzanfang - dreifach variiert wird (ad te... a te... tibi...). Beide Teile sind auch durch die ,Reime' (Ho-

8 Bei HOMMEL, Sebasmata I, 265, ist dem lateinischen Text eine Übersetzung beigegeben, die ich hier unverändert anfuhren möchte (zur leichteren Orientierung füge ich lediglich Absatzmarkierungen in Form von Schrägstrichen ein): „O Lebensführerin Philosophie, o Tugendaufspürerin und Lasteraustreiberin! / Was hätte - nicht nur ich, sondern überhaupt - das menschliche Leben ohne dich zu sein vermocht? Du hast die Städte hervorgebracht, du hast die verstreuten Menschen zu gemeinsamem Leben gesellt, du hast sie untereinander erst durch Wohnstätten, dann durch Ehestiftung, schließlich durch die Gemeinschaft der Schrift und der Sprache verbunden, du warst die Erfinderin der Gesetze, du die Lehrerin der Gesittung und Bildung. / Bei dir such' ich Zuflucht, von dir erbitt' ich Hilfe, dir vertrau' ich mich an, wie schon bisher weithin, so jetzt ganz und gar. / Es ist aber ein Tag, gut und nach deinen Vorschriften verbracht, einer verruchten .Unsterblichkeit' vorzuziehen. Auf wessen Hilfe soll ich mich also mehr verlassen als auf die deine, die du mir die Ruhe des Lebens geschenkt und den Schrecken des Todes genommen hast?" - Die singularische Wiedergabe der 1. Person Pluralis bei Cicero („wobei Bescheidenheitsformel und Einschluß des Lesers sich die Waage halten dürften") ist sachlich angemessen (Cicero wechselt im ganzen Proömium - § 1 - 1 1 - mehrmals zwischen Singular und Plural und spricht ab § 4 eindeutig von sich selbst) und steht bei HOMMEL im Zusammenhang seiner These, daß es sich bei dem Abschnitt um ein sehr persönliches Zeugnis echter Religiosität Ciceros handelt (siehe die ausführliche Diskussion der Pluralform Gebetshymnus 10 Anm. 5, von wo auch das letzte Zitat stammt). 9 In Aussageform findet sich derselbe Gedanke schon Tusc. m 13, wo die Philosophie als eine Art ,Heilgöttin' dargestellt wird: nisi sanatus animus sit, quod sine philosophia fieri non potest, finem miseriamm nullum fore, quam ob rem, quoniam coepimus, tradamus nos ei curandos: sanabimur, si volemus. („Wenn die Seele nicht geheilt ist, was ohne die Philosophie nicht geschehen kann, wird kein Ende des Elends sein. Deshalb - da wir schon einmal begonnen haben - übergeben wir uns ihr zur Heilung: Wir werden geheilt werden, wenn wir es wollen.") 10 Eine inhaltlich ähnliche Aufzählung der Segnungen durch die Weisheit (σοφία) ist uns in der Sarapisrede des Ailios Aristeides (§ 17) begegnet (s.o. Kap. Π. 2b, S. 168 Anm. 69); bei Isokrates, Nikokles 6 - 9 (vgl. oben S. 210 Anm. 2), werden dieselben Segnungen dem Logos zugeschrieben. Der Topos ist anscheinend schon alt und findet sich u. a. auch bei Cicero, De inv. 12; De orat. 133; daneben in der Ars poetica des Horaz, v. 396ff, und bei Seneca, ep. 90,5ff (unter Hinweis auf Poseidonios); im biblischen Bereich vgl. Weish 8 - 9 . Siehe dazu (mit weiteren Belegen und Literaturhinweisen) W. SCHMID, Ein Tag und der Aion 15 Anm. 4 u. ebd. 31 mit Anm. 50; HOMMEL, Gebetshymnus 13 mit Anm. 8.

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moioteleuta) aufgrund gleicher Flexionsformen sowohl jeweils in sich geschlossen als auch voneinander deutlich unterschieden. Eine Besonderheit der Bitte ist, daß hier nicht um das Kommen der Gottheit gebeten wird, sondern der Betende die Position eines Schutzflehenden einnimmt, der sich hilfesuchend an den Altar der Gottheit begibt.11 Rhetorisch gesehen folgt auf das prooemium (Z. lf) eine propositio (Ankündigung des Beweiszieles) in Form einer rhetorischen Frage (der sine-teSatz); die argumentatio (gebildet durch die ta-Sätze) erfährt eine Ergänzung durch eine abschließende .Sentenz' {sentential·^ώμη), und am Ende steht wiederum in Frageform - eine conclusio (erkennbar durch das schlußfolgernde igitur), die durch eine nochmalige kleine argumentatio (den Relativsatz) unterstützt wird. Der zu beweisende Sachverhalt ist offenbar der Nutzen der Philosophie für das Leben. Das wird in zwei Schritten vom Allgemeinen zum Konkreten entfaltet: zunächst bezogen auf die Menschheit (als quaestio infinita bzw. generalis - griechisch θέσις), dann bezogen auf Cicero selbst (als quaestio finita bzw. specialis - griechisch ύπόθεσις). Die allgemeine Ebene ist in der propositio und der ersten argumentatio im Blick, während die conclusio mit der angehängten zweiten argumentatio deutlich macht, daß in der persönlich-konkreten Fragestellung das eigentliche Beweisziel liegt. Dieses ist in der propositio auch bereits angedeutet (durch die Parenthese non modo nos, sed omnino), so daß die quaestio generalis vom Argumentationsgefälle her als Unterstützung der quaestio specialis anzusehen ist.12 Rhetorisches und Hymnisches ergänzen sich nun dergestalt, daß die hymnische Bitte zwischen die beiden rhetorischen quaestiones piaziert ist und somit die Hinwendung zur angerufenen Gottheit die Überleitung zum persönlichen Teil der argumentatio bildet; zugleich wird der argumentative Charakter des hymnischen .Mittelteils', der ja die Begründung für die Bitte liefern soll, durch die Überlagerung des rhetorischen Schemas verstärkt. Auch die Formulierung der zweiten argumentatio als Relativsatz greift hymnischen Stil auf. Zweifellos ist dieser kunstvoll gestaltete Hymnus Ciceros eigene literarische Leistung.13 Dies bedeutet freilich nicht, daß hier keine traditionellen Elemente verarbeitet wären. Solche finden sich - abgesehen von den hymnentypischen Wendungen - vor allem in der .Sentenz' (est autem unus dies bene et ex praeceptis tuis actus peccanti immortalitati anteponendus), die in ihrem Kern letztlich auf ein Bibelzitat - übrigens ebenfalls aus einem .Hymnus' 11 HOMMEL bezeichnet diesen Teil deshalb als ικεσία bzw. supplicatio. Zur Traditionsgeschichte der hier von Cicero verwendeten Topoi siehe Gebetshymnus 14-19. 12 Das rhetorische Schema wird bei HOMMEL, Gebetshymnus 20-26, analysiert, der für das Verhältnis der beiden quaestiones auf Cicero, De inv. I 8, sowie auf LAUSBERG, Handbuch § 69-78, verweist. 13 Darin sind sich die oben Anm. 5 genannten Forscher einig; besonders nachdrücklich betont SCHMID, Ein Tag und der Aion 18 u. 31 f, „daß der Hymnus als Ganzes freie Schöpfung Ciceros ist" (vgl. dazu HOMMEL, Gebetshymnus 27f).

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zurückgehen dürfte (Ps 84 [83], 11): „Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als tausend andere; an der Schwelle zu stehen im Haus meines Gottes (ist besser) als zu wohnen in den Zelten des Frevels."14 Der Satz lautet in der Vulgata: Vere, melior est dies unus in atriis tuis quam alii mille; consistere malo in limine domus dei mei quam moran in tabernaculis peccatorum Freilich könnte die Übersetzung des klassisch gebildeten Hieronymus vom ciceronianischen Sprachgebrauch beeinflußt sein, so daß auch die LXX-Fassung der Stelle heranzuziehen ist: δτι κρείσσων ή μέρα μία έν ταΐς αύλαις σου ύπέρ χιλιάδας· έξελεξάμην παραρριπτεΐσθαι έν τω οϊκω του θεοΰ μάλλον η οίκεΐν έν σκηνώμασιν αμαρτωλών.15 Die Vermittlung dieses Psalmenverses verdankt Cicero wahrscheinlich seinem stoischen Lehrer Poseidonios, von dem Seneca einen entsprechenden Satz überliefert (ep. 78,28): nam ut Posidonius ait, unus dies hominum eruditorum plus patet quam imperitis longissima aetas.16 Die durch die bisher angeführten Parallelen noch nicht erklärte Wendung von der peccans immortalitas hat Cicero wohl aufgrund seiner Platon-Lektüre selbst ins Spiel gebracht: Piaton polemisiert im zweiten Buch der .Gesetze' (660e-661e) gegen ein Lied des Dichters Tyrtaios (fr. 9), der in einer Güterpriamel die .Unsterblichkeit' der Kriegshelden als höchstes Gut verherrlicht hatte17, und spricht in diesem Zusammenhang von einer αθανασία, die mit αδικία und ϋβρις einhergehe (661 e).18

14 So der masoretische Text; das einleitende Ό könnte auch affirmativ mit ,ja' oder .fürwahr' wiedergegeben werden (vgl. Vulgata). HOMMEL, Gebetshymnus 48f, zitiert den Vers in der Übersetzung von GUNKEL, Psalmen (HK Π/2, 1929), 368, der aufgrund von Konjekturen die Lesarten „tausend in meiner Kammer" (vgl. BHS) und „im eigenen Zelte zu wohnen" bietet. Siehe dazu die Diskussion im Kommentar von KRAUS, BK XV/2 (51978), 746f. 751. - Zu den alttestamentlichen .Hymnen' siehe auch den Exkurs oben S. 72ff. 15 Möglicherweise ist hinter χ ι λ ι ά δ α ς (aufgrund von Haplographie?) das Wort α λ λ α ς ausgefallen (vgl. HOMMEL, Gebetshymnus 48 Anm. 2, unter Hinweis auf das alii der Vulgata); hinter θεοΰ bietet cod. A noch - der masoretischen Vorlage entsprechend - μου. - Wichtig ist auch das freie Zitat der Stelle bei Philon, Quis rer. div. heres 290b: μίαν γ α ρ ήμέραν - ύ γ ι ώ ς είπε τις προφητικός άνηρ - βούλεσθαι βιώναι μετ' άρετης η μυρία ετη έν σκιά θανάτου, θάνατον μέντοι των φαύλων αίνιττόμενος βίον. (Im Blick auf Phil 2,6 ist hier für uns auch die Anadiplosis mit dem Wort θάνατος interessant.) 16 Poseidonios von Apameia, dessen Schriften nur in fragmentarischen Zitaten überliefert sind, lebte ca. 135-51 v.Chr. und lehrte hauptsächlich in Rhodos, wo i. J. 78 auch Cicero seine Vortrage besuchte. Literarische Spuren des Poseidonios finden sich bei Cicero v.a. in den Schriften De divinatione und De fato. Vgl. DÖRRIE, KP IV (1972), 1080-1084. 17 Vgl. zu diesem Gedicht U. SCHMID, Priamel 1 - 6 ; zur Piatonstelle ebd. 2 7 - 3 3 . 18 Daß die genannte Platon-Stelle den Hintergrund für Ciceros peccans immortalitas bildet, zeigt HOMMEL, Gebetshymnus 3 2 - 4 1 . 42f. - Schon in der Jagdmetaphorik der anrufenden Epitheta (virtutis indagatrix expultrixque vitiomm) ist nach HOMMEL, a.a.O. 30f, Einfluß der platonischen ,Nomoi' zu erkennen (V, 728c9-d2), und der den ganzen Hymnus bestimmende Gedanke von der Zuflucht bei der Philosophie könnte von einer Stelle aus Piatons .Theaitetos' (168a) inspiriert sein (vgl. HOMMEL, a.a.O. 14f. 29).

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Das Stichwort peccans führt uns wieder auf den Kontext des Hymnus: Als unmittelbaren Anlaß hatte Cicero ja angegeben (§5 Anfang), er wolle die Philosophie um Heilung bitten für seine culpa, vitia und peccata. So wie der letzte Begriff in der .Sentenz' des Hymnus anklingt, so begegnet das Stichwort vitia zusammen mit seinem Gegensatz virtus und dem Motiv des beate vivere und somit das zentrale Thema des ganzen Proömiums - gleich in den drei einleitenden Epitheta des Hymnus, wobei sich das Wort ,Leben' (vita) nochmals an drei markanten Stellen wiederholt. Im Anschluß an den Hymnus wird das Proömium mit Reflexionen zum Lob der Philosophie (in der 3. Person) fortgesetzt (§ 6): Cicero konstatiert, daß die Philosophie aufgrund ihrer Verdienste um das Leben der Menschen (hominum ... vita merita) eigentlich gelobt werden müßte (laudetur), aber stattdessen von vielen getadelt werde (vituperetur). In seiner Kritik dieser Haltung bringt er noch einmal religiöse Terminologie ins Spiel: Wer die „Mutter des Lebens" zu tadeln wage, begehe einen „Verwandtenmord"; „frevelhaft undankbar" sei der, der „jene anklagt, die er verehren müßte" - auch wenn er sie nicht recht begreife.19 Dann geht es in ruhigerem, argumentierenden Tonfall weiter, indem das schlechte Ansehen der Philosophie als Unwissenheit erklärt wird und mit Hilfe der Gleichsetzung Philosophie = Weisheit (sapientia) deren hohes Alter und Bezug zu vielen angesehenen Männern erwiesen wird (§7-II). 2 0 Mit der negierten Wiederaufnahme der eingangs (§1) aufgestellten These im Munde des Schülers (§ 12: Non mihi videtur ad beate vivendum satis posse virtutem) beginnt dann der eigentliche Dialog des fünften Buches. Die enge Einbindung des Gebetshymnus in seinen literarischen Kontext ist damit deutlich. Aber auch Ciceros biographischer Kontext ist für das angemessene Verständnis der hymnischen Passage zu berücksichtigen. Die anfangs geschilderte seelische Bedrängnis Ciceros (§ 1 - 5 a ) findet in den bekenntnishaften Aussagen des Hymnus (in der hymnischen .Bitte' und in der rhetorischen conclusio) ihre Entsprechung, so daß das Ganze als ein Zeugnis persönlicher Religiosität anzusehen ist. Von daher ist dann auch die platonisierende Wendung von der peccans immortalitas zu verstehen: Cicero hat am Ende sei19 Die Wertung ist (wie Hingang und Abschluß im Hymnus) als rhetorische Frage formuliert: vituperare quisquam vitae parentem et hoc parricidio se inquinare audet et tarn impie ingratus esse, ut earn accuset, quam vereri deberet, etiamsi minus percipere potuisset? 20 Dieser Abschnitt könnte auch als „Apologie" der Philosophie bezeichnet werden, wie es HOMMEL, Gebetshymnus 55, tut (vgl. das Stichwort accusare in §6, s.o. Anm. 19). HOMMEL weist ebd. auch darauf hin, daß in § 11 der Name Piaton von Cicero besonders hervorgehoben wird. Ich möchte hinzufügen, daß bereits in § 10 ein kurzes Lob des Sokrates steht, das wiederum Anklänge an den Hymnus aufweist: Socrates autem primus philosophiam devocavit e cáelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coëgil de vita et moribus rebusque bonis et mails quaerere. („Sokrates aber hat als erster die Philosophie vom Himmel heruntergeholt, in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser eingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Bösen zu fragen.")

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nes Lebens - angesichts seines Scheiterns in der Politik und seiner Verzweiflung über den Verlust geliebter Menschen - anscheinend erkannt, daß das Streben nach irdischem Ruhm vergeblich, ja sogar verwerflich ist, und sieht als das ihm gemäße .Heilmittel' die völlige Wendung zur Philosophie an. Somit kann Ciceros Gebetshymnus im Horizont philosophischer Religiosität durchaus als Ausdruck eines .Bekehrungserlebnisses' bezeichnet werden, auch wenn für dessen Formulierung alle Mittel rhetorischer Kunst zur Anwendung kommen.21 Daß Cicero die Formelemente des Hymnus allerdings auch für rhetorische Zwecke einsetzen kann, zeigt beispielhaft seine erste Rede gegen Catilina, die am 7. November 63 im Senat gehalten und i. J. 60 in Buchform herausgegeben wurde. Ziel der Rede ist es, Catilina der Verschwörung zu überführen und ihn zum Verlassen Roms zu bewegen. Dazu bietet Cicero eine ganze Reihe von Argumentationsmitteln auf22; eines davon ist die Personifikation der patria, der eine kurze ,Rede' an Catilina in den Mund gelegt wird (§ 18).23 Diese Rede wird durch Ciceros rhetorische Gestaltung zu einer regelrechten Hymnenparodie: Der Topos .Nichts ohne dich' bekommt hier die Gestalt .kein Verbrechen ohne dich' (Nullum ... facinus ... nisi per te, nullum flagitium sine te) und wird auch durch die komplementäre JDu allein'-Aussage ergänzt: tibi uni multorum civium neces, tibi vexatio direptioque sociorum impunita fuit ac libera („Dir allein blieb die Ermordung vieler Bürger, dir die Mißhandlung und Plünderung der Bundesgenossen ungestraft und frei"). Im selben Sinne wird die .Macht' des Angesprochenen benannt: tu non solum ad neglegendas leges et quaestiones, verum etiam ad evincendas perfringendasque ν aluist i („Du warst imstande, nicht nur die Gesetze und Untersuchungen geringzuschätzen, sondern sie tatsächlich auch zu überwinden und zu durchbrechen"). Diese ins Gegenteil verkehrte Aretalogie' weist sogar eine anaphorische Reihung von Personalpronomina auf (tibi..., tibi..., tu ...). Waren die Taten der Vergangen-

21 Zum religiösen Charakter des Hymnus vgl. HOMMEL, Gebetshymnus 5 4 - 5 6 , der damit ausdrücklich an WEINREICH anknüpft und die Ansicht von W. SCHMID (Ein Tag und der Aion 32 m. Anm. 55) zurückweist, wonach hier lediglich „Formelemente der religiösen Rede" zur Anwendung kämen, ohne daß „von wirklich empfundener Frömmigkeit' die Rede sein könne. 22 Daß die Rede einen wohldurchdachten Übeizeugungsversuch darstellt, weist PRIMMER, Historisches und Oratorisches zur ersten Catilinaria, nach. Dazu gehört auch ein planmäßiger Aufbau nach dem rhetorischen Dispositionsschema (siehe ebd. 28). 23 Wenn Cicero hier (und noch einmal in § 2 7 - 2 9 ) das Stilmittel der personarumfictainducilo (De orat. ΠΙ 205) anwendet (der griechische Terminus ist προσωποποιΐα; siehe dazu Demetrios, De eloc. 265f; Quint. Inst. IX 2,29-37; Theon, Progymnasmata Kap. VIII BUTTS = Kap. 10 SPENGEL [p. 115ff]; vgl. Rhet. ad Her. IV 53,66 [conformation steckt wahrscheinlich wieder eine Platon-Stelle dahinter: In Kriton 5 0 a - 5 4 d werden in gleicher Weise die Νόμοι personifiziert (vgl. RATKOWITSCH, .Hymnus' 157 Anm. 4, mit Hinweis auf ältere Literatur). Nach Ciceros .Orator' (85) paßt dieses Kunstmittel nicht für den .schlichten' Stil; Quint. Inst. XII 10,61 rechnet es explizit zum .kräftigen' Stil (s.o. Kap. m . lb, S. 193 u. 206).

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heit schon unerträglich (superiora illa ... ferenda non fuerunt), so werden sie doch durch die der Gegenwart noch übertroffen, wenn die patria gesteht: nunc vero me totam esse in metu ... non est ferendum. Dabei greift sie noch einmal auf die Topoi .allein durch dich - nichts ohne dich' zurück (me totam esse in metu propter unum te ... - nullum videri contra me consilium iniri posse, quod a tuo scelere abhorreat). So steht am Ende und als Folgerung aus dem Gesagten ganz stilgemäß die .Bitte' - allerdings nicht um das .Kommen' des Angesprochenen, das das Heil (hier: die Beendigung des Angstzustandes) herbeiführen würde, sondern im Gegenteil: quam ob rem discede atque hunc mihi timorem eripe ...ut tandem aliquando timere desinami

b) Philon von Alexandria Gern zitiert wird seit EDUARD NORDEN eine Stelle aus Philons Legatio ad Gaium, an der ein rhetorisch stilisiertes Enkomion auf Augustus geboten wird; allerdings läßt NORDEN dieses Enkomion erst mit der Reihung von ούτος-Sätzen (§145-147) einsetzen, indem er konstatiert: „Das Charakteristische seiner Struktur ist dieses, daß die einzelnen Kola mit οΰτός έστιν (oder οΰτος allein) beginnen und dann die Prädikationen mit ό + Partizip, angefügt werden"1. Nun finden sich freilich die „Prädikationen mit ό + Partizip." bereits seit § 143 im Anschluß an ein einleitendes Τί δέ; - zu übersetzen etwa: „Wie steht es aber mit ihm, der...?" In dieser rhetorischen Frageform wird der große Vorgänger des Gaius/Caligula eingeführt als deijenige, der die menschliche Natur in allen άρεταί übertroffen habe, der aufgrund seiner Leistungen (und nicht durch Erbschaft) als erster den Ehrentitel „Augustus" (Σεβαστός) 24 Eine ausführlichere Analyse dieser Passage bietet RATKOWITSCH, .Hymnus', die den Text in kolometrischer Anordnung abdruckt (a.a.O. 158), zahlreiche hymnische Parallelen für die einzelnen Wendungen anführt (darunter mehrere Entsprechungen im Venus-Hymnus des Lukrez; vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit Kap. Π. l e , S. 95f) und schließlich auch die Funktion des Abschnitts im Kontext der ganzen Rede herausarbeitet (a.a.O. 165-167). Sie weist auch darauf hin, daß der in der patria-Rede fehlende Teil der hymnischen .Anrufung' sich durch Ciceros Einleitungssatz am Anfang von § 18 (Quae [sc. patria] tecum, Catilina, sic agit et quodam modo tacita loquitur) erübrigt, durch den Cicero und die Patria zur Einheit werden (a.a.O. 164). - Hymnischer Stil (mit Anadiplosis und anaphorischem Personalpronomen) ist auch in der dritten Catilinaria anzutreffen (§ 22): ille, ¡lie Iuppiter restitit, ille Capitolium, ille cunctam urbem, ille vos omnis salvos esse voluit. 1 NORDEN, Agnostos Theos 223. - NORDENS allzu saubere Unterscheidung (vgl. ebd. 201 ff) in „orientalische" Prädikationen (Partizipien mit Artikel und an der Spitze der Kola) und „echt hellenische" Prädikationen (Partizipien ohne Artikel und am Kolon-Ende) läßt sich bei Philon nicht bestätigen, weshalb NORDEN hier „Mischformen", „alttestamentliches Kolorit" und „Konzession an hellenische Wortstellung" zugesteht (ebd. 224 m. Anm. 1). Zur Kritik an NORDENS Konstruktion siehe BERGER, Gattungen 1165 f.

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erhalten habe und der gleich nach Übernahme der Verantwortung für das Gemeinwesen den verworrenen und chaotischen Verhältnissen entgegengetreten sei (143). Als Begründung für diese Prädikationen (γάρ!) wird in ein paar knappen Sätzen die Situation des Bürgerkrieges aller gegen alle, zu Lande und zu Wasser, geschildert und mit dem Resümee geschlossen, daß beinahe das gesamte Menschengeschlecht im gegenseitigen Morden vernichtet worden wäre, „wenn da nicht ein Mann und Herrscher gewesen wäre, der Augustus, den man mit Recht als ,Unheilwehrer' bezeichnen kann" (ει μή δι' ενα άνδρα και ηγεμόνα, τον Σεβαστόν [οίκον], ον άξιον καλείν άλεξίκακον)2 (144). Jetzt folgt die Aufzählung seiner großen Taten, beginnend mit οΰτός έστιν ό Καίσαρ, ό . . . χειμώνας εύδιάσας und fortgesetzt mit vier weiteren οΰτοςSätzen, die jeweils wiederum mehrere mit ό substantivierte Partizipien nach sich ziehen: Augustus war nicht nur Besänftiger der Stürme, sondern auch Heiler der Krankheiten (ό τάς ... νόσους ... ίασάμενος); er sprengte die Fesseln der Welt, beseitigte Räuberei und Piraterie, führte die πόλεις in Freiheit und die Unordnung zur Ordnung, hellenisierte die wichtigsten barbarischen Gebiete, war der Hüter des Friedens (ό είρηνοφύλαξ) und hielt sein ganzes Leben lang nichts Gutes oder Edles verborgen (ό μηδέν άποκρυψάμενος αγαθόν η καλόν έν απαντι τω έαυτοΰ βίω) (145—147). Ist so der von NORDEN vernachlässigte Abschnitt § 1 4 3 - 1 4 4 angemessen berücksichtigt, läßt sich in den bisher angeführten Teilen unschwer eine rhetorische Disposition mit Proömium ( 1 4 3 ) , narratio und propositio ( 1 4 4 ) sowie 3 argumentatio ( 1 4 5 - 1 4 7 ) entdecken. Diese Beobachtung legt es nahe, noch einen Blick auf die Fortsetzung zu werfen, die mit einem rückverweisenden τούτον bei Augustus als Hauptperson bleibt: Durch folgerndes οΰν und eine neue, zusammenfassende Prädikation (ευεργέτης) erweist sich der gleich an2 Statt des handschriftlich offenbar korrupt überlieferten Σεβαστόν οίκον, öv ά ξ ι ο ν κτλ. ist vielleicht zu lesen: Σεβαστόν οικουμένης ά ξ ι ο ν κ α λ ε ί ν ά λ ε ξ ί κ α κ ο ν („Augustus, den man mit Recht als ,der Welt Unheilwehrer' bezeichnen kann"; so der Vorschlag des Übersetzers F. W . KOHNKE in d e r v o n L. COHN U. a. h e r a u s g e g e b e n e n d e u t s c h e n P h i l o n - A u s g a b e , B d . V I I ,

1964, S. 212 Anm. 3). - Zu ά λ ε ξ ί κ α κ ο ς als Beiname von Göttern vgl. KEYSSNER, Gottesvorstellung 1 0 7 - 1 1 0 .

3 Anders gliedert FAUST, Pax 3 2 0 - 3 2 4 , der das „Enkomion auf den Friedensstifter Augustus" (§ 1 4 3 - 1 4 7 ) als Parallele zu dem „Christus-Enkomion" Eph 2,14 ff heranzieht: Ausgehend von der „Kurzzusammenfassung in LegGai 309" vertritt er eine „Zweiteilung des Enkomions in 1) Begründung des Augustus-Namens (LegGai 143) und 2) Darstellung des Friedenswerkes (LegGai 143fin.-147)." (a.a.O. 321 Anm. 321). Die Fortsetzung beider Stellen - über § 147 bzw. 309 hinaus - scheint FAUST überhaupt nicht zu interessieren. Siehe zu 148ff oben im Text und zu 309ff unten Anm. 5. - Vorbildlich in ihrer Berücksichtigung des literarischen und zeitgeschichtlichen Kontextes ist demgegenüber die Auslegung von DELLING, Philons Enkomion auf Augustus (auch wenn hier das „eigentliche Enkomion" mit § 147 als beendet angesehen wird); durch den Vergleich mit anderen Äußerungen Philons weist DELLING (bes. a.a.O. 187f) auch die philonische Verfasserschaft der Passage nach.

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schließende Satz in der Tat als conclusio: „Diesen also, einen Wohltäter von solchem Ausmaß, hatte man in den dreiundvierzig Jahren, die er über Ägypten regierte, nicht beachtet und für ihn in den Synagogen kein Standbild, keine Büste und kein Gemälde errichtet." (148) Und dies, wie Philon hinzufügt, obwohl er als πρώτος και μέγιστος και κοινός ευεργέτης wirklich alle Ehrungen am ehesten verdient und auch bekommen habe (149-151). Der eben zitierte und als conclusio bestimmte Satz läßt zugleich die Funktion des Abschnitts im Kontext erkennen4: Das Augustus-Enkomion steht nicht für sich allein, sondern dient als idealisiertes Gegenbild zu Gaius/Caligula, der sich selbst für einen Gott hielt und gerade in Alexandria auch eine entsprechende Verehrung genießen konnte (162-165) - bis hin zur Aufstellung seines Bildes in jüdischen Synagogen (134f; vgl. 197-338). Philon zeigt die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgehens durch den Vergleich mit früheren Herrschern: Keiner der etwa zehn ägyptischen Könige aus dreihundert Jahren obwohl alle als Götter verehrt - stellte sein Bild in den Gebetshäusern der Juden auf (138-139), und auch Gaius' Vorgänger Tiberius verzichtete auf diese Art der Ehrung - obwohl er doch nach Herkunft (γένος), Bildung (παιδεία) oder Alter (ήλικία) seinem Nachfolger nicht nachstand (140-142). Die Krönung dieser kleinen Synkrisis-Reihe bildet der oben besprochene Abschnitt über Augustus (143-151). Mit einer Darstellung der religiösen Toleranz des Augustus gegenüber den Juden (152-158), die im großen und ganzen auch von Tiberius geübt worden sei (159-161), lenkt Philon dann wieder zur göttlichen Verehrung Caligulas in Alexandria zurück.5

4 Diese Kontexteinbindung wird ebenfalls völlig vernachlässigt von WEBER, Der Prophet und sein Gott 155-157, der in dem Abschnitt 143-147 einen „ H y m n u s a u f Augustus", „eine enkomiastische Litanei im orientalisierenden Gebetsstil" sieht („Unzweifelhaft will das Stück in singendem Ton vorgelesen sein."), auch wenn er zugeben muß, daß „jeder Hinweis auf göttliche Herkunft ( . . . ) oder auf Erhöhung zum Gott" fehlt. Die Entstehung des .Hymnus* vermutet WEBER im Zusammenhang mit dem Friedensfest des Jahres 9 v.Chr., allerdings in Alexandria, wo er „wohl von der Regierung selbst zur Propaganda der römischen Monarchie" benutzt worden sei. Philon habe dieses Dokument „aufgenommen", um „seine Loyalität zu erhärten". Der großzügige Umgang mit dem Begriff ,Hymnus' wie auch die freimütige Herauslösung der Passage aus ihrem literarischen Kontext in dieser 1925 erschienenen Studie zu Vergils vierter Ekloge lassen den forschungsgeschichtlichen Trend erkennen, in dem auch LOHMEYERS ,Kyrios Jesus' (1928) steht. - Freilich läßt sich diese Sicht noch 1987 finden: CEAUSESCU, „Hellenisator" 46, hält § 143-147 für „einen Hymnus, der aller Wahrscheinlichkeit nach von einem orientalischen Poeten [!] kurz nach dem Tode des Kaisers gedichtet [!] wurde." Der Verf. beruft sich allerdings nicht auf WEBER, sondern auf ETHELBERT STAUFFER [fälschlich als „J. STAUFER" angeführt], Jerusalem und Rom 33f, dessen stark rhythmisierte Übersetzung vollständig zitiert wird (a.a.O. 46f). Ansonsten geht der Beitrag jedoch nicht weiter auf diese Frage ein (setzt sich auch nicht mit dem 15 Jahre vorher in derselben Zeitschrift erschienenen Aufsatz von DELLING auseinander!), sondern widmet sich ausschließlich der Aussage von Augustus als „Hellenisator". 5 Ein ähnlich aufgebauter Abschnitt ist § 276-329, der die Form eines Bittbriefes (§ 276: δέησις) des Agrippa an den Kaiser Gaius hat: Die Bitte um Wohlwollen (εύμένεια § 287, vgl.

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Das ganze Buch läßt sich am besten als Schmähschrift gegen den Kaiser verstehen6, der bei seinem Herrschaftsantritt zunächst für den Heiland und Wohltäter gehalten worden war (ό σωτηρ και ευεργέτης είναι νομισθείς), bis er plötzlich seinen wahren Charakter offenbarte (22): Grausamkeit (vgl. 23-73) und Anmaßung (vgl. 74-113) 7 . Die titelgebende, von Philon geleitete „Gesandtschaft an Gaius" wegen der Pogrome gegen die Juden in Alexandria i.J. 38 n.Chr. (vgl. zu den Pogromen 120-131, zur Gesandtschaft 349-372) bildet den äußeren Anlaß für das grundsätzlicher angelegte Werk. Somit ist auch die übergeordnete Gattung (als ψόγος) dem γένος έπιδεικτικόν zuzurechnen8, die lobenden Passagen dienen der σύγκρισις, und wieder einmal liegen Lob und Tadel dicht nebeneinander.9 329) für die Juden wird untermauert mit einer Erinnerung an das Verhalten von Gaius' Vorgängern (294-297 Marcus Agrippa, 298-308 Tiberius, 309-318 Augustus, 319-320 Julia Augusta). Auch hier könnte man die Passage über Augustus als .Enkomion' ansehen; der „beste aller bisherigen Herrscher" wird dargestellt als würdiger Träger des Ehrentitels Σεβαστός (aufgrund seiner άρετή und seiner τύχη), als Friedensbringer für die ganze Welt, als frommer Herrscher und wahrer Philosoph (309f, Beweisführung 311-317, conclusio 318). 6 So COLSON (vol. X der Loeb-Ausgabe) im einleitenden Satz seiner "Introduction": "The treatise generally known by this somewhat misleading name is a very lively and powerful invective against the Emperor Gaius." (ix). - Demgegenüber hält DELLING, Philons Enkomion auf Augustus 188 Anm. 117, die Legatio ad Gaium sowie die verwandte Schrift .Gegen Flaccus' für „Schutzschriften", die nach Caligulas Tod entstanden sind und als Adressaten den neuen Kaiser Claudius im Blick haben. 7 In diesem Abschnitt geht es um Caligulas Auftreten als Halbgott (78-92) bzw. als Gott (93-113). Das gibt Gelegenheit für eine Synkrisis, die Elemente des Götter-Enkomions enthält: Nach der Feststellung, daß Gaius (3. Pers.) im Theater gern in den Kostümen von Dionysos, Herakles und den Dioskuren (= Castor und Pollux) aufgetreten sei (78 -80), wendet sich Philon in direkter Anrede an den Kaiser (81), der seiner Meinung nach statt der Insignien lieber die άρεταί der Genannten übernehmen sollte. In knappen Sätzen werden diese άρεταί dann aufgezählt (81 Herakles, 82f Dionysos, 84f die Dioskuren) und den Taten des Gaius gegenübergestellt - in Form von rhetorischen Fragen, weiterhin direkt an den Kaiser gerichtet (86f die Dioskuren, 88 f Dionysos, 90 Herakles). Das Ergebnis (91 f) ist natürlich vernichtend, wobei Philon einen schönen Syllogismus entwickelt (91): Wenn Tugenden zur Unsterblichkeit führen, dann führen Schlechtigkeiten auf jeden Fall zum Verderben (εί γαρ άθανατίζουσιν άρεταί, πάντως φθείρουσι κακίαι), so daß Gaius, selbst wenn er als Gott geboren wäre, inzwischen aufgrund seiner bösen Betätigungen längst zur sterblichen Natur übergewechselt hätte (εί καί τις εδοξας γεγενησθαι θεός, πάντως αν σε μεταβαλεΐν ενεκα των πονηρών επιτηδευμάτων εις θνητήν φύσιν). - In ähnlicher Weise werden in § 93-113 die Verdienste der von Gaius imitierten Götter Hermes, Apollon und Ares aufgezählt und mit seinen jeweils genau entgegengesetzten Taten konfrontiert. 8 Der in fast allen Handschriften gebotene alternative Titel Περί αρετών könnte so - wenn man Philon Ironie zutrauen darf - einen Sinn ergeben: Es geht um die (eben nicht vorhandenen) .Tugenden' des Caligula. Zu anderen Erklärungsversuchen siehe COLSON, a.a.O. xiv-xvi. 9 Scharfe Polemik, z.T. mit herabsetzenden Vergleichen aus der Tierwelt, findet sich auch im Blick auf Philons judenfeindliche alexandrinische Mitbürger: § 120. 131. 132. 162. 166 (vgl. dazu, mit weiteren vergleichbaren Stellenangaben aus antiken jüdischen Schriften, JOHNSON,

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Im Blick auf das Neue Testament ist für uns noch eine andere Schrift Philons aufschlußreich, die Epideiktisches enthält: seine Biographie des Mose {De vita Mosis). Das ganze Werk als Biographie eines großen, ja sogar „des in jeder Beziehung größten und vollkommensten Mannes" (ανδρός τα πάντα μεγίστου καί τελειοτάτου) (11) gehört naturgemäß der epideiktischen Gattung an10, wenngleich kein Enkomion im isokrateischen Sinne angestrebt wird, sondern ein Bericht über „ihn selbst, so wie er wirklich war" (αύτόν δε όστις ήν έπ' αληθείας), da dies den meisten unbekannt sei (12). Entsprechend den beiden alternativen Möglichkeiten der Lobrede ist das erste Buch chronologisch aufgebaut und erzählt, beginnend mit Herkunft und Geburt, Erziehung und Bildung, seine Entwicklung zum Führer der Israeliten und die Ausübung dieser Führerschaft von der Flucht aus Ägypten über das Rote Meer bis zu seinen machtvollen Taten in der Wüste (vgl. die Inhaltsangabe in II 1). Das zweite Buch ist dagegen nach systematischen Gesichtspunkten angeordnet (Begründung in II 1 - 7 ) und stellt Mose, dessen vorher geschilderte Führerschaft als Königsamt gedeutet wird, nun nacheinander in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber (118-65), als Hohepriester (1166-186) und als Prophet (11187-287) dar. Ein kurzer Abschnitt über sein Lebensende (II 288-292) beschließt das ganze Werk. Auch in dieser insgesamt epideiktischen Schrift gibt es eine für unsere Fragestellung interessante Passage: ein in sich geschlossenes Enkomion auf Mose (1148-162). Im Kontext des Ganzen bildet der betreffende Abschnitt einen Exkurs, der die Erzählung vom Auszug aus Ägypten unterbricht, um den Anführer (ήγεμών) der bunt gemischten Exilantengruppe (vgl. 147) zusammenfassend (und der Handlung vorgreifend) zu charakterisieren. Mose wird dargestellt als ein Herrscher, der seine αρχή καί βασιλεία nicht aufgrund eines Gewaltaktes, sondern wegen seiner αρετή und καλοκαγαθία erhalten hat, und dies von Gott selbst, dem Freund der Tugend und des Edlen, als verdiente Auszeichnung (γέρας άξιον) (148). Hatte er doch wegen der Ungerechtigkeiten im Land auf die Herrschaft über Ägypten verzichtet und seine Aussichten auf die Thronfolge (als angeblicher Sohn der Pharaonentochter) fahren lassen, so daß es dem Herrscher des Alls gefiel, ihn mit der Königswürde über ein viel größeres und besseres Volk zu betrauen, das zudem dazu bestimmt war, alle anderen Völker an Heiligkeit zu übertreffen und seine Gebete im Namen der ganzen Menschheit zu verrichten (149). Auch als

Slander 434-441). - Zum Nebeneinander von Lob und Tadel vgl. auch oben S. 69f, 72, 83 und 85 Anm. 8. 10 Zur Gattung der Biographie (und ihrem Verhältnis zum Enkomion) siehe FUHRMANN, KP I (1964), 902-904, und ausführlicher LEO, Die griechisch-römische Biographie; DIHLE, Studien zur griechischen Biographie; MOMIGLIANO, The Development of Greek Biography. Nicht ganz unumstritten ist die Zuordnung der Gattung .Evangelium' zur antiken Biographie; vgl. STRECKER, Literaturgeschichte 146f (mit weiterer Literatur).

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Herrscher über dieses Volk eiferte Mose nicht danach, sein eigenes Haus zu fördern oder seinen Söhnen (er hatte nämlich zwei) zu großer Macht zu verhelfen, sondern erwies sich als lauteren und reinen Sinnes wie ein unbestechlicher Richter (150). Sein vordringlichstes Ziel war, seinen Untertanen zu nützen (όνησαι τους άρχομένους), wozu er keine Gelegenheit ausließ (151). Als einziger von allen, die jemals geherrscht hatten (μόνος ούτος των πώποθ' ήγεμονευοάντων), sammelte er keine Schätze, obwohl er alles im Überfluß hätte haben können (152). Vielmehr verachtete (κατεφρόνησε) er den materiellen Reichtum, hielt aber den Reichtum der Natur in hohen Ehren (εξετίμησε) (153). Seine Schätze waren seine Tugenden (153f) n . Deshalb also (τοιγαροΰν) - weil er alle menschlichen Reichtümer hatte fahren lassen - belohnte ihn Gott, indem er ihm dafür den größten und vollkommensten Reichtum gab (γεραίρει θεός τον μέγιστον και τελεώτατον άντιδούς πλοΰτον ούτω): den der ganzen Welt. „Er hielt ihn nämlich für würdig, als Teilhaber seines eigenen Besitzes hervorzutreten, und überließ ihm den ganzen Kosmos als ein dem Erben angemessenes Eigentum" (κοινωνόν γάρ άξιώσας άναφανηναι της έαυτοΰ λήξεως άνηκε πάντα τον κόσμον ώς κληρονομώ κτησιν άρμόζουσαν) (155). Deshalb (τοιγαροΰν) gehorchte ihm auch jedes der Elemente wie einem Herrn (δεσπότης) - was nach Philon wiederum „kein Wunder" (θαυμαστόν ουδέν) war, sondern ganz logisch; denn ein bekanntes Sprichwort sagt: κοινά τά φίλων12, der Prophet ist aber ein φίλος θεοΰ13, hat folglich auch Anteil an dessen Besitz (156). Eine allgemeine Aussage über den σπουδαίος άνθρωπος als Weltbürger und -erbe schließt sich an (157) und bildet den Hintergrund für die nächste, noch einmal gesteigerte Aussage über Mose: Er konnte sich nicht nur der κοινωνία mit dem Vater und Schöpfer des Alls erfreuen, sondern wurde sogar mit der gleichen Benennung (πρόσρησις) gewürdigt: „Er wurde nämlich des ganzen Volkes Gott und König

11 Philon gibt eine katalogartige Aufzählung dieser Tugenden, die für uns nicht uninteressant ist: ταΰτα 6' ήσαν έγκρατείαι, καρτερίαι, σωφροσύναι, άγχίνοιαι, συνέσεις, έπιστημαι, πόνοι, κακοπάθειαι, ήδονών ΰπερσψίαι, δικαιοσύναι, προτροπαί προς τά βέλτιστα, ψόγοι και κολάσεις άμαρτανόντων νόμιμοι, έπαινοι καί τιμαί κατορθούντων πάλιν συν νόμω (154). Die durchgehenden Pluralformen bringen wohl die aus den Tugenden resultierenden Handlungen zum Ausdruck (vgl. δύναμις - δυνάμεις), so daß etwa so zu übersetzen ist: „Das waren seine Erweise von Enthaltsamkeit, Standhaftigkeit, Besonnenheit, Scharfsinn, Einsicht, Wissen, Arbeitseifer, Ertragen von Unglück, Gleichgültigkeit gegen Vergnügungen, Gerechtigkeit, Ermunterung zum Besten, Tadel und gesetzmäßiger Strafe für Sünder, Lob und Ehrung für recht Handelnde - wiederum im Einklang mit dem Gesetz." 12 Dieses Sprichwort, das auch im Neuen Testament aufgegriffen ist (Apg 4,32), wird in der griechischen Antike außerordentlich häufig zitiert - in Aristoteles' .Nikomachischer Ethik' (1X8, 1168b 6 - 8 ) ist es noch mit zwei weiteren (μία ψυχή und ίσότης φιλότης) zusammengestellt. Vgl. dazu (mit zahlreichen Stellenangaben) STÄHLIN, ThWNT IX (1973), 149f (s.v. φίλος κτλ.).

13Vgl.Ex33.il.

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genannt" (όνομάσθη γάρ ολου του έθνους θεός και βασιλεύς)14 (158). Er hatte Einblick in die von Gott bewohnte Dunkelheit15 und konnte das unsichtbare und unkörperliche Wesen des Seienden (των όντων ούσία) erkennen, was ihn in die Lage versetzte, sein eigenes Leben als ein Modell zur Nachahmung zu gestalten (158). Eine Seligpreisung für die, welche diesem „vollkommenen Urbild der Tugend" (είδος τέλειον αρετής) nacheifern (159), könnte den Abschnitt beschließen. Philon fügt indes noch eine allgemeine Reflexion darüber an, daß die gewöhnlichen Menschen stets die angesehenen (οί ένδοξοι) nachahmen und daher die moralische Qualität eines Herrschers für die des ganzen Volkes von großer Wichtigkeit sei (160f). Dann kommt er etwas unvermittelt noch einmal auf Mose zu sprechen: Vielleicht sei dieser, der ja zum Gesetzgeber bestimmt war, sogar schon lange vorher selbst der νόμος εμψυχός τε και λογικός gewesen (162). Abgesehen davon, daß Mose hier wie oben Augustus als idealer Herrscher dargestellt wird16, ist für uns besonders die strukturelle Abfolge interessant: Mose verzichtet auf Macht und Reichtum und ist nicht auf sein eigenes Wohl bedacht; dafür wird er von Gott zu seinem Teilhaber und Erben eingesetzt, mit Macht über die Elemente versehen und sogar mit dem göttlichen Namen ausgestattet. Fast alle hier vorliegenden Gedanken - einschließlich der paränetischen .Anwendung' (159. 160f) und der (hier erst nachträglich erwogenen) Präexistenz (162) - begegnen uns auch in Phil 2,1-11 und sind bei der Untersuchung dieser Textpassage zu berücksichtigen.17 Neben diesem exkursartigen Enkomion auf Mose gibt es jedoch in derselben Schrift auch ein Gotteslob, das in die erzählte Handlung integriert ist (II 234-245). Es geht in der Episode, die eine erweiterte Nacherzählung von Num 27,1-11 darstellt, um die Einführung des Erbrechts für Töchter. Dieses ist der Erzählung zufolge den Töchtern des Salpaad (Zelofhad) zu verdanken, deren Vater gestorben war, ohne einen Sohn zu hinterlassen. Weil sie das Erbe und Ansehen ihres Vaters nicht untergehen lassen wollten, traten sie - mit der gebührenden Scheu, aber doch selbstbewußt genug - an Mose heran, der, beeindruckt von der Klugheit der Jungfrauen, die Sache Gott anheim stellte

14 Zur Traditionsgeschichte dieser Aussage siehe MEEKS, Moses as God and King. 15 Vgl. Ex 20,21. 16 Ganz ähnliche Aussagen über Mose finden sich übrigens bei Josephus, etwa Ant. IV 327-331 (Abschluß des in Π 201 begonnenen Abschnitts über die Zeit des Mose [entspricht Ex-Dtn] in Form eines ,Nachrufs' [basierend auf Dtn 34,7ff]: Mose habe alle übertroffen; aus seiner Gesetzgebung könne seine überragende άρετή erschlossen werden); c. Ap. Π 154-162 (Mose als ältester Gesetzgeber und idealer Führer und Lehrer des Volkes, der aus seiner Position keinerlei Vorteil gezogen und sich mit all seinen Taten und Gedanken Gottes Willen unterstellt habe). 17 Siehe unten Kap. V. 2c.

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(234-237). An dieser Stelle geht Philon mit hymnischen Prädikationen weit über die Vorlage hinaus18: „Und der Schöpfer des Alls, der Vater der Welt (ό δε ποιητής των δλων, ό του κόσμου πατήρ), der Erde, Himmel, Wasser und Luft und alles, was aus diesen hervorgegangen ist, zusammenhält und lenkt, der Herrscher über Götter und Menschen (ό θεών και ανθρώπων ήγεμών), verschmähte es nicht, sich den verwaisten Mädchen zu widmen. (...) Er, der alles in allem erfüllt mit seiner wohltätigen Macht (ό πάντα δια πάντων πεπληρωκώς της εύεργέτιδος έαυτοΰ δυνάμεως), verkündete nämlich ein Lob der Jungfrauen (επαινον γαρ διεξηλθε τών παρθένων)." (238). In direkter Anrede an Gott fährt Philon fort: „O Herr, wie könnte dich jemand preisen (ώ δέσποτα, πώς άν σέ τις ύμνήσειε), mit welchem Munde, mit welcher Zunge, mit welchem Instrumentarium der Sprache, mit welchem leitenden Prinzip der Seele? Würden die Sterne, zu einem Chor vereint, ein deiner würdiges Lied singen? Wäre der Himmel, ganz in Sprache aufgelöst, imstande, auch nur einen Teil deiner Machterweise (άρεταί) zu schildern?" (239).19

18 Auch hier bietet Josephus etwas Vergleichbares: Dieser gibt in seiner unter dem Titel Contra Apionem überlieferten Apologie des Judentums eine Darstellung der jüdischen Gesetze (νόμοι), die er mit dem ersten Gebot (ή περί θεοΰ) beginnt (Π 190-192). Die Inhaltsangabe dieses Gebotes gerät zum hymnischen Lobpreis Gottes, der das All in Händen halte (θεός έ'χει τα σύμπαντα), „Anfang, Mitte und Ende aller Dinge" sei (άρχη και μέσα και τέλος οδτος τών πάντων) und nicht dargestellt werden könne und dürfe. Sichtbar seien dafür seine Werke (έ'ργα): Das Licht, der Himmel, die Erde, die Sonne, die Wasser (ύδατα), die Entstehung (oder: die Geschlechter) der Lebewesen (ζώων γενέσεις), das Wachsen der Früchte (καρπών άναδόσεις). Dies alles habe er nicht mit Händen, nicht mit Mühen (πόνοις) und nicht mit Hilfe von Assistenten [vgl. dagegen Philon, De opif. m. 72, der aufgrund des Plurals in Gen 1,27 mit δημιουργοί für die Erschaffung des Menschen rechnet] vollbracht. Der kleine Abschnitt endet mit dem Resümee: „Diesen müssen wir verehren durch Ausüben von Tugend; das ist nämlich die frömmste Art der Gottesverehrung." (τούτον θεραπευτέον άσκοΰντας άρετήν τρόπος γαρ θεοΰ θεραπείας ούτος όσιώτατος.) 19 Diese Stelle wird von BERGER, Gattungen 1151 f, zitiert und mit der lapidaren Bemerkung eingeführt, hier liege „offenbar der Anfang eines Hymnus" vor. Nun sind rhetorische Fragen dieser Art tatsächlich ein Topos, der sich vor allem am Beginn von Hymnen findet (vgl. oben Kap. Π. la, S. 39f). Aber im vorliegenden Fall erwächst doch das Gotteslob aus dem (von BERGER völlig ignorierten) Kontext, und nichts spricht gegen die Annahme, daß Philon selbst die angeführten Sätze formuliert hat - unter bewußter Verwendung hymnischer Sprache, wobei das .Bildmaterial' für die einzelnen Aussagen aus zahlreichen Psalmenstellen stammen könnte: vgl. Ps 34,2; 51,16f; 63,6; 145,21 (Mund/Zunge); 103,1.22 (= 104,1.35; 146,1) (Seele); 19,2; 89,6; 97,6; 148,3f (Sterne/Himmel).

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Nach diesem hymnischen Lobpreis Gottes wird dessen Antwort auf die Anfrage des Mose zitiert: „Richtig (όρθώς) haben die Töchter des Salpaad gesprochen." (239, vgl. Num 27,7). Philon deutet dieses göttliche Zeugnis als ein großes έγκώμιον (240) und läßt sogleich eine paränetische Anwendung folgen: „Kommt her, ihr Angeber (αλαζόνες), die ihr euch mächtig aufblast, weil es euch gutgeht (...), bei denen das bemitleidenswerte Unglück des Witwentums von Frauen ein Grund zum Lachen ist und die noch bemitleidenswertere Verlassenheit verwaister Kinder verspottet wird - und seht ein, daß die anscheinend so Niedrigen und Unglücklichen (ουτω ταπεινοί και ατυχείς είναι δοκοΰντες) nicht zu den Verachteten und Unangesehenen gerechnet werden bei Gott (...); nehmt (diese) zwingende Ermahnung an (δέξασθε νουθεσίαν άναγκαίαν)! " (240f). So befinden sich auch hier wieder Lob und Polemik, aber auch Lob und Ermahnung (Epideiktisches und Symbuleutisches) in enger Nachbarschaft. Aber beenden wir die Beschäftigung mit Philons Mosebiographie nicht ohne einen Blick auf das von Philon gezeichnete (und von Ex 15 inspirierte) Bild des Mose als Dirigenten eines gigantischen Chores in der Wüste: Nach dem Wunder am Schilfmeer will Mose den göttlichen „Wohltäter" (ευεργέτης) „mit Dankhymnen ehren" (εύχαρίστοις υμνοις γεραίρειν); dazu teilt er die Israeliten, tausende an der Zahl, in zwei Chöre auf - hier die Männer, dort die Frauen - , dirigiert selbst den einen und läßt den anderen von seiner Schwester (Miijam) dirigieren, so daß die nun erklingenden „Hymnen auf den Vater und Schöpfer" (ιν' αδωσιν υμνους εις τον πατέρα και ποιητην) durch die Mischung der beiden Stimmlagen eine höchst angenehme und vollkommen harmonische Melodie ergeben (ήδιστον και παναρμόνιον αποτελείται μέλος) (II 256f; vgl. bereits 1180 sowie De Agricultura 79-83). 20 20 Die von SCHATTENMANN, Prosahymnus 81 f, angeführten Philon-Stellen sind zum größten Teil keine Hymnen, sondern Synkrisisreihen; allenfalls Mut. 135 und Som. Π 252-254 weisen einen .hymnischen' Charakter auf (sind jedoch fest im Kontext verankert). Hinzufügen könnte man Som. I 35-37, wo eine Reflexion über den Lobpreis Gottes selbst in feierlicher Sprache formuliert ist. - Eine andere Schrift aus dem Bereich des hellenistischen Judentums, die eine gesonderte hymnologische Untersuchung verdiente, sei hier wenigstens anmerkungsweise erwähnt: die wohl Anfang des l.Jh.s v.Chr. verfaßte .Weisheit Salomos'. Hatte bereits GUNKEL, Einleitung in die Psalmen 33 u. 50, die Abschnitte 11,20-12,2 und 6,12ff zu den Hymnen gezählt, hatte SCHATTENMANN, Prosahymnus 85-87, gar in 7,22-8,1 einen vierstrophigen „Hymnus auf die Weisheit" entdeckt, so legt GEORGI in seiner kommentierten Übersetzung eine regelrechte „Hymnenfreudigkeit" (LATTKE, Hymnus l l l f , mit Belegstellen) an den Tag. Überzeugender erscheint mir die Analyse im Kommentar von SCHMITT, der von der literarischen Einheitlichkeit der Schrift ausgeht (12f); er findet im „zweiten Hauptteil" ( = 6,22-11,4) „das rhetorische Genus Enkomion (.Lobrede') mit den drei Schwerpunkten Physis, Genos, Praxeis" (17) und im „dritten Hauptteil" (= 11,5-19,17) eine „Synkrisisreihe", die durch zwei „Einschal-

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c) Kleomedes Die wahrscheinlich noch im ersten Jahrhundert η. Chr. entstandene Einführungsschrift (Eisagoge) des Kleomedes über die Himmelskörper (μετέωρα)1 ist überwiegend in einem technisch-trockenen Stil gehalten. Eine Ausnahme bildet jedoch das längste Kapitel des Werks, nämlich II 1, in dem es um die Größe der Sonne geht: Hier wechselt der nüchterne .Normalstil' sowohl mit religiöser Feierlichkeit als auch mit derber Beschimpfung. Ausgangspunkt des Kapitels ist die Behauptung des Epikur und vieler seiner Schüler, die Sonne sei genauso groß wie sie erscheine (II 1,2f Todd = p. 120,7-9 Ziegler).2 Diese Ansicht - von Kleomedes boshaft so .übersetzt', daß Epikur die Sonne für „fußgroß" (ποδιαίος) halte3 - wird in einer langen Reihe von Argumenten widerlegt. Das beginnt mit der einfachen Beobachtung, daß die Sonne beim Auf- bzw. Untergang größer erscheine als bei ihrem Höchststand, also nach Epikurs These viele verschiedene Größen haben müsse - und dies sogar gleichzeitig, da sie ja wegen der Kugelgestalt der Erde an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten auf- und untergehe (II 1,5 ff = p. 120,12ff). Weiter geht es mit verschiedenen, z.T. hochkomplizierten Berechnungen, in denen Erdumfang, Umfang der Sonnenbahn und Entfernung zwischen Erde und Sonne miteinander in Beziehung gesetzt werden, um die Mindestgröße der Sonne zu bestimmen. Auf diese Berechnungen brauchen wir hier nicht im einzelnen einzugehen - zumal auch Epikur laut Kleomedes

tungen/Exkuise (11,15-12,27 und 13,1-15,19)" unterbrochen sei (18). Leider wird der epideiktische bzw. .hymnische' Charakter von 6,12ff und ll,20d ff hier nicht genügend gewürdigt. Problematisch ist die Unterscheidung „nach Poesie und Prosa" aufgrund von „Rhythmus, Reim, Parallelismus membrorum, Chiasmus" (13; vgl. dazu oben Kap. I. 2). 1 Als Titel des Werks bezeugen die Handschriften teils Μετέωρα, teils Κυκλική θεωρία nur vereinzelt findet sich die Kombination Κυκλικτ\ θεωρία μετεώρων, die in der Ausgabe von ZIEGLER (mit der ebenfalls nicht unproblematischen lateinischen Übersetzung De motu circulari corporum caelestium) als Titel gewählt wurde (siehe dazu TODD, Title). - Als Abfassungszeit hatte REHM, PRE XI/1 (1921), 681 f, noch das 2. Jh. n. Chr. angenommen; FESTUGIÈRE, Révélation Π, 479-481 (Anm. 7) plädiert für «une date moins tardive» (so auch MAU, KP ΠΙ [1969], 239: „nahe dem Anf[ang] der Kaiserzeit"). Nach der ausgiebigen Untersuchung von SCHUMACHER, Datierung, liegt „der wahrscheinlichste Abfassungszeitraum" der Schrift „zwischen dem Beginn des ersten und der Mitte des zweiten Jh. n. Chr." („Gesamtergebnis": 102). 2 Vgl. Epikurs Brief an Pythokles (bei Diogenes Laertios X), § 91, sowie Lukrez, De rerum natura V 564-574 (weitere Nachweise im Apparat der Ausgabe von TODD z.St.; ausführlichere Zitate - in französischer Übersetzung - im Kommentar von GOULET, 206f, n. 218). 3 Das Stichwort ποδιαΐος findet sich ab Π1,78 TODD (= p. 126,20 ZIEGLER) insgesamt 18 Mal in diesem Kapitel und wird im ersten Satz des folgenden Kapitels noch einmal resümierend aufgenommen. In Π 3,61 (= p. 178,1) bezieht es sich auf die Größe des Mondes, für die Epikur a.a.O. dasselbe behauptet hatte wie für die der Sonne. - Auf die Größenangabe ,wie ein menschlicher Fuß' könnte Kleomedes durch die entsprechende Äußerung des Heraklit (FVS 22 Β 3) gekommen sein.

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zu solchen Überlegungen oder Entdeckungen gar nicht imstande war, da deren Erforschung zu hoch gewesen sei für einen Menschen voller Ehrerbietung für die Wollust4 (II l,357f = p. 152,26 - 28). Aber eines hätte selbst Epikur in Betracht ziehen müssen: die Kraft (oder Macht) der Sonne. Die nun folgende Partie über die δΰναμις του ηλίου weist eine offenbar durch die Erhabenheit des Gegenstands bedingte größere Feierlichkeit auf.5 Sie beginnt mit einer Aufzählung, deren einzelne Glieder - syntaktisch abhängig von dem Verb ένθυμηθηναι (Epikur hätte „bedenken" müssen) - im Wechsel durch οτι oder διότι eingeleitet werden und in sich mehrfach noch durch Antithesen unterteilt sind. Auf diese Weise ergibt sich eine litaneiartig zusammenhängende Satzperiode von beträchtlicher Länge (II 1,357-375 = p. 152,26-154,22). 6 Die inhaltlichen Aussagen der Aufzählung könnten auch in einem Hymnus auf Helios zu finden sein: Die Sonne - im Griechischen 4 . . . ταΰτα, ών μείζων ή ζήτησις ήν ανθρώπου ήδονήν τετιμηκόΐος. - Wenn hier ήδονή mit ,Wollust' übersetzt wird, so ist damit das Verständnis des Kleomedes wiedergegeben. Epikur selbst versteht unter ,Lust' eine lebensbejahende Einstellung, die weder von der Vernunft (φρόνησις) noch von der Tugend (αρετή) getrennt werden dürfe. Der Unterstellung, er propagiere sexuelle Ausschweifungen und Schwelgerei, hat er schon zu Lebzeiten widersprochen; vgl. seinen Brief an Menoikeus (bei Diogenes Laertios X), § 129-132. 5 An dieser Stelle sei ein Hinweis auf einen Text aus unserem Jahrzehnt erlaubt: In der Illustrierten ,stern', Heft 24 vom 4.6.1992, informiert ein Artikel von INGA THOMSEN (anläßlich der Diskussion über die schwindende Ozonschicht) über die positiven und negativen Wirkungen der UV-Strahlen (Titel: „Wieviel Sonne verträgt der Mensch?"). Der Artikel beginnt folgendermaßen: „Ohne sie gäbe es kein Leben auf der Erde. Sie läßt Pflanzen grünen, erweckt Tiere aus tiefer Erstarrung und bringt die Menschen in Schwung. Sie spendet Energie, stellt die innere Uhr und macht gute Laune. Im Winter haben wir sie vermißt und sind ihr nachgereist bis in die Karibik, nach Afrika, Indien oder gar Australien. Jetzt ist sie da: die Sonne, und hat uns im Mai erfreut wie selten zuvor. / Doch der Glutball im Zentrum unseres Planetensystems - Milliarden Jahre alt, Millionen Grad heiß, millionenfach größer als die Erde - kann auch gefährlich werden. Seine Strahlen können uns verbrennen und krank machen - körperlich und seelisch." (S. 28). Nach diesem hymnischen .Proömium' (dessen Topoi wir in dem gleich zu besprechenden Abschnitt bei Kleomedes fast alle wieder antreffen werden) folgt ein historischer Rückblick rhetorisch gesehen eine stilechte narratio („Früher haben die Menschen die Sonne gemieden . . . / Schick wurde Braunsein erst, als . . . " , S. 28/30) - und dann eine propositio des Inhalts, daß langes Sonnen ein gesundheitliches Risiko darstelle, weil nach den Warnungen vieler Ärzte „zuviel Sonne schaden kann" (S. 30). Nun folgt (angeschlossen mit einem ,nämlich'-Satz) ein längeres Referat über die wissenschaftlichen Erkenntnisse und kulturgeschichtlichen Aspekte des Themas - also eine probatio (S. 30-33). Angesichts dieser bis hierhin streng durchgeführten rhetorischen Disposition fällt die conclusio (S. 33) geradezu ab: Weder faßt sie die Thesen zusammen noch knüpft sie an den .hymnischen' Anfang an, sondern gibt lediglich einen knappen Ausblick auf die Erfindung eines die Hautpigmente aktivierenden Hormons durch amerikanische Wissenschaftler. - Die Analyse dieses Zeitschriftenartikels zeigt, daß sowohl die klassischrhetorische Disposition als auch das Phänomen des .Stilwechsels' bzw. der .hymnischen Passagen' in argumentativen Texten heute noch sehr aktuell sind. 6 Die Struktur der Periode ist bei FESTUGIÈRE, Révélation Π, 486f, anschaulich herausgestellt.

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männlich - „erleuchtet den ganzen Kosmos, der doch von fast unermeßlicher Größe ist" (πάντα τον κόσμον φωτίζει σχεδόν άπειρομεγέθη οντα); sie macht Teile der Erde durch Verbrennen unbewohnbar, erfüllt aber durch ihre gewaltige Kraft die Erde auch mit Leben (ύπό πολλής δυνάμεως αυτός εμ~ πνουν παρέχεται την γην), so daß diese Früchte und Tiere hervorbringt (καρποφορεΐν/ζωογονεΐν); sie ist die Ursache (αύτός έστιν ό αίτιος) dafür, daß die Tiere überleben und die Früchte sprießen, wachsen und reifen; sie ist „der Schöpfer" (αύτός έστιν ό ποιών) des Wechsels von Tag und Nacht, Sommer und Winter; auch für die Verschiedenheit der Menschen in bezug auf Hautfarbe und andere Eigenschaften ist sie die Ursache (αυτός αίτιος γίνεται), und „keine andere Kraft als einzig die der Sonne" (ούκ άλλη τις η μόνη ή του ήλιου δύναμις) bewirkt, daß einige Gegenden auf der Erde wasserreich, andere trocken, einige unfruchtbar, andere sehr fruchtbar, einige übelriechend, andere wohlriechend sind und verschiedene Gegenden verschiedene Früchte hervorbringen. Die nächste Periode (II 1,376-386 = p. 154,23-156,8) entfaltet noch einmal an zahlreichen Beispielen die schon genannte These, daß die Sonne für fast jede auf der Erde vorkommende Verschiedenheit (διαφορά) die Ursache sei, und bringt keinen neuen Gedanken. Der Blick wird aber mit dem nächsten Satz erweitert: So groß sei der Überschuß an Kraft (περιουσία δυνάμεως), daß auch noch der Mond - im Griechischen weiblich - von der Sonne das Licht empfängt (και ή σελήνη άπ' αύτοΰ δεχόμενη τό φως); so sei die Sonne auch die Ursache für die Mondphasen und damit indirekt für die vom Mond bewirkten Veränderungen des Wetters und der Gezeiten (II 1,387-392 = p. 156,9-16). 7 Schließlich sei noch zu beachten, daß das Feuer der Sonne - trotz der gewaltigen Entfernung - durch Lichtbrechung ein Feuer auf der Erde entfachen könne (111,393-396 = p. 156,17-21). Und während sie den Tierkreis (ζωδιακός) durchwandere, ordne sie das Weltall und bewirke dessen harmonische Einrichtung, da sie die Ursache für den Bestand der Ordnung des Weltalls bilde8 (111,396-399 = p. 156,21-25). Ist so die Sonne hinreichend als .Ursache alles Seins' dargestellt, kann Kleomedes seinen Abschnitt über die δύναμις του ήλιου mit dem komplementären Hymnentopos nach dem Muster .Nichts o h n e . . p a t h e t i s c h beschließen (II 1,399-403 = p. 156,26-30): „Und wenn diese (ihre Bahn) verändern oder ihren angestammten Ort verlassen oder auch völlig verschwinden würde, dann würde weder etwas entstehen noch wachsen, ja auch das ganze Weltall würde nicht beste7 Diese Äußerungen über die δύναμις des Mondes werden im Kapitel, das von der Größe des Mondes handelt, noch einmal fast wörtlich aufgegriffen (Π3, 6 1 - 6 7 = p. 176, 25 ff), um zu zeigen, daß auch der Mond schon wegen seiner Kraft nicht „fußgroß" sein könne. 8 . . . αύτός ολον αρμόζεται tòv κόσμον και συμφωνοτάτην παρέχεται την των ολων διοίκησιν, αύτός αίτιος γινόμενος της περί την διάταξιν των ολων διαμονής.

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hen bleiben, vielmehr würde sowohl alles Seiende als auch alles Sichtbare zusammenstürzen und zugrundegehen."9 Der feierlich-gehobene Stil der Passage äußert sich nicht nur in den inhaltlich überschwenglichen Aussagen und dem stärker rhetorisch strukturierten Satzbau (mehrmalig mit betontem αυτός), sondern auch in der Wortwahl: Mehrere Wörter, teils mit poetischer oder religiöser Färbung, kommen nur in diesem Kapitel vor - so z.B. άπειρομεγέθης (,von unermeßlicher Größe'), ύπερφυής (.außerordentlich'), άπειράκις (.unendlich'), ακίνητος (.unbeweglich'), αμετάβατος (.unveränderlich'), άπέρατος (.undurchdringlich'), πυρωπός (,von feurigem Ansehen'), μαρμαίρειν (.funkeln'), ώχριαν (.erblassen'), κνηκίς (fahlgelb'), μίλτινος (.mennigfarben'), λευκός (,weiß'), ξανθός (,gelb'), χλωρός (,grünlich-gelb'), ποικίλος (,bunt'), εμπνους (,mit Leben erfüllt'), ζωογονεΐν (.Lebewesen hervorbringen'), έκφέρειν (hervorbringen'), καρπός/ακαρπος/ καρποφορεΐν (.Frucht'/,unfruchtbar'/,Früchte tragen'), τρέφειν (jähren'), τελεσφορείοθαι (,zur Reife gelangen'), άρωματοφόρος (.Duftkräuter tragend'), δριμύς (.scharf; herb'), εύώδης/δυσώδης (.wohlriechend'/,übelriechend'), άρμόζειν (.ordnen'), σύμφωνος (harmonisch', hier im Superlativ), διάταξις (.Ordnung'[des Weltalls]).10 Weniger feierlich geht es in der Fortsetzung des Kapitels zu: Kleomedes widmet sich nach seinen enthusiastischen Ausführungen über die Macht der Sonne nun Epikur, der sich hätte fragen müssen, ob ein „fußgroßes Feuer" eine so außerordentliche Kraft haben könnte. Aber er sei eben - genau wie in der Prinzipienlehre, der Zwecklehre und der Ethik - auch in der Astronomie und in der Lehre von den Vorstellungen „blinder als die Maulwürfe" (των σπαλάκων τυφλότερος) (111,404-409 = p. 158,1-8). Das sei freilich nicht verwunderlich (ούδεν γε θαυμαστόν); denn es sei - beim Zeus - nicht Sache der „wollustliebenden Menschen" (φιλήδονοι άνθρωποι), die Wahrheit im Seienden zu finden, sondern Sache der Männer, die nach der Tugend (αρετή) streben (111,409-413 = p. 158,8-14). Mit Recht sei in früheren Zeiten die Sekte der Epikureer aus den Städten verbannt worden, weil die Alten erkannt hätten, daß Lehren von solcher „Blindheit und Geilheit" (τυφλότης και κιναιδεία) zu „Verderben und Vernichtung der Menschen" (λύμη και διαφθορά των ανθρώπων) führten (II 1,414-417 = p. 158,14-18). Heute jedoch sei die Menschheit schon so „durch Schwelgerei und Weichlichkeit erschlafft" (ύπό τρυφής καί μαλακίας έκλελυμένοι), daß lieber die Lehren Epikurs für wahr gehalten würden als der Glaube an die Existenz von Göttern und an die 9 καί τούτου μεταστάντος ή καί τον οίκεΐον τόπον άπολιπόντος η καί τέλεον άφανισθέντος, ουτε φύσεταί τι οϋτε αύξήσεται, άλλ' ουδέ τό σύνολον ύποστήσεται, ά λ λ α καί πάντα τα οντα τε και φαινόμενα συλλυθήσεται καί διαφθαρήσεται. 10 Auf einige dieser Wörter hat bereits RUDBERG, Gedanke und Gefühl 8, hingewiesen; da RUDBERG „vor allem die Lichtwörter" wichtig sind, führt er auch φωτίζειν (.erleuchten') und φλογμός (.Brand; Glut') an, die jedoch noch an anderen Stellen des Werkes vorkommen.

Kleomedes

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Vorsehung (πρόνοια) (111,417-421 = p. 158,18-23). Seine Anhänger, ganz und gar der Wollust (ήδονή) ergeben, sähen auch lieber die Vorsehung vergehen, als daß Epikur der Lüge überführt würde (II 1,421 -425 =p. 158,23 - 28). Zu den bereits erwähnten „verrücktesten" (άτοπωτάτοις) Thesen Epikurs komme noch die hinzu, daß die Gestirne bei ihrem Aufgang angezündet und bei ihrem Untergang gelöscht würden.11 Diese wird von Kleomedes wieder durch Argumente widerlegt, wobei sich aber kleine polemische Seitenhiebe gegen Epikur durch die Argumentation ziehen12 (II 1,426-466 = p. 158,29 bis 162,23). Rein polemisch ist dann der Rest des Kapitels: Zuerst wird Epikur mit dem homerischen Thersites verglichen, der sich prahlend (άλαζονευόμενος) den Königen und Fürsten gleichstellte (vgl. Ilias 11211-277). Kleomedes läßt es sich nicht entgehen, daß Thersites bei Homer als der „häßlichste Mann, der gegen Troja gezogen", bezeichnet wird (Ilias II 216), und schließt sich den Worten des Odysseus an (ebd. 246f): „Törichter Schwätzer Thersites, obgleich ein tönender Redner, Schweig!" Allerdings nimmt Kleomedes die Bezeichnung „tönend" (λιγυς) in bezug auf .seinen Thersites' Epikur gleich wieder zurück, und die Synkrisis erweist, daß dieser an Frechheit den homerischen Thersites noch weit hinter sich gelassen habe (διαβεβαιούμενος ... θρασύτερον εαυτόν άποφαίνων), da er den Alleinbesitz der Wahrheit für sich beanspruche (II 1,467-494 = p. 162,24-164,28). Die nächste Kritik gilt der Verkommenheit des sprachlichen Ausdrucks (τα κατά την έρμηνείαν ... διεφθορότα) bei Epikur: In Wendungen wie „wohlaufgerichtete Zustände des Fleisches" (σαρκός εύσταθη καταστήματα), „heilige Schreie" (ίερά άνακραυγάσματα) oder „Kitzelungen des Körpers" (γαργαλισμούς σώματος) werde die Sprache des Bordells mit der des Demeterfestes, die des Gebetes mit der von Bettlern, jüdische13 Ausdrücke mit falschgepräg-

11 Vgl. Epikure Brief an Pythokles (bei Diogenes Laertios X), § 92, sowie Lukrez, De rerum natura V 650-662. 731-736. 758-761. 12 Ironisch: Epikur sei ein „kluger und göttlicher Mann" (συνετός και δαιμόνιος άνηρ), der „als einziger und erster (μόνος και πρώτος) aller Menschen die Wahrheit gefunden" habe. (Vgl. auch das gleich anschließende Resümee: „Das hat die heilige Weisheit Epikurs herausgefunden." [ταΰτα ή ίερά Επικούρου σοφία έξεΰρεν]). Direkt polemisch: Es lasse sich „nichts Unvernünftigeres (άνοητότερα) denken"; seine Thesen seien „lächerlich" (καταγέλαστα) und offenbarten „Unwissenheit und Voreiligkeit" (άμαθία καί προπέτεια); er habe „einem Ammenmärchen Glauben geschenkt" (μυθαρίω γραώδει πιστεύσας). - Seitenhiebe dieser Art sind auch schon in der Argumentationsreihe im eisten Teil des Kapitels anzutreffen. 13 Statt des rätselhaften 'Ιουδαϊκά haben zwei Handschriften ψευδή. Vielleicht ist (nach einem Konjekturvorschlag von MEINEKE) χυδαϊκά (.hingeworfene' Ausdrücke) zu lesen. - SCHUMACHER, Datierung 36f, sieht in der Verwendung des Ausdrucks eine „pauschale antijüdische

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ten und das alles noch mit den niedrigsten Schweinereien (των έρπετών ταπεινότερα) bunt durcheinandergewürfelt (II 1,494 -502 = p. 166,1-12). Wenn Epikur sich trotzdem neben solche Männer wie Pythagoras, Heraklit und Sokrates stellt und unter diesen gar noch den ersten Platz beansprucht, dann ist das nach Kleomedes so, als ob ein Tempelschänder sich als Oberpriester aufspielte oder als ob Sardanapal14 Keule und Löwenfell des Herakles beanspruchte (II 1,503-510 = p. 166,12-22). Und so wendet er sich am Schluß voller Pathos in direkter Anrede und rhetorischen Fragen an Epikur selbst. Inhalt dieser letzten Tirade ist die Aufforderung an den Beschimpften, er solle sich aus dem Kreis der Philosophen fortscheren und sich in den Betten der „Buhlerinnen" (παλλακίδαι) wälzen wie der Wurm im Mist - die Philosophie verlange nach Männern wie Herakles, nicht aber nach einem Wüstling (κίναιδος) und seiner Wollust (ηδονή) (II 1,511-522 = p. 166,22-168,7). Auch die polemische Passage ist durch die Verwendung auffälliger Wörter gekennzeichnet: Die meisten der zitierten .Kraftausdrücke' kommen nur in diesem Kapitel (und auch hier fast alle nur einmal) vor. Dabei bezieht Kleomedes sein Vokabular nicht nur aus der niedersten Umgangssprache, sondern zum Teil sogar aus der Dichtung (ζ. Β. κιναιδεία, παλλακίδαι) und greift auch immer wieder Schlagworte des Gegners und seiner Anhänger auf. Wir finden also bei Kleomedes genau dieselbe bunte Sprachmischung, die er Epikur vorwirft. Der Erhöhung des Pathos dienen auch die Rückgriffe auf die Bildungstradition - wenn etwa Gestalten aus der Sagenwelt (Herakles, Sardanapal) oder aus dem Epos (Thersites, mit ausgiebigen Homerzitaten) zum Vergleich herangezogen werden. Nicht einfach ist daher die Bestimmung der Stilebene: Gemessen am Pathosgehalt liegt sicher ein gehobener Stil vor; andererseits ergibt sich aber auch ein deutlicher Kontrast zum vorangegangenen hochfeierlichen Lobpreis der Sonne - ging es doch dort um die Erhöhung, hier um die Erniedrigung des behandelten .Gegenstands'. Schmuckmittel wie Antithesen, Dichterzitate und rhetorische Fragen, aber auch die Wahl ungewöhnlicher Wörter und der epideiktische Topos der Synkrisis lassen die Absicht einer kunstmäßigen rhetorischen Gestaltung erkennen; andererseits wirkt die Art, mit der auf Epikur ,eingedroschen' wird, sachlich unangemessen und teilweise peinlich.15 Deutlich ist aber, daß sich der Angriff gegen Epikur ebenso wie das Lob der Sonne stilistisch vom Kontext abhebt.16 Haltung", wie sie unter den Gebildeten in Rom und im Osten des Reiches in der Zeit vor dem Bar-Kochba-Aufstand ( 1 3 2 - 1 3 5 n.Chr.) verbreitet war; damit gewinnt er ein weiteres Indiz für die Abfassungszeit (vgl. oben Anm. 1). 14 Der legendäre assyrische König Sardanapal gilt als Sinnbild der Dekadenz; ihm werden großer Reichtum, sexuelle Ausschweifungen und verweichlichtes Wesen (Spinnen von Purpur, Tragen von Frauenkleidern) zugeschrieben. Vgl. RÖLLIG, KP IV (1972), 1550f. 15 Zu den Topoi der Polemik zwischen den Anhängern verschiedener philosophischer Richtungen vgl. JOHNSON, Slander 4 3 0 - 4 3 4 , wo Beispiele aus Dion von Prusa, Ailios Aristeides, Lukian von Samosata, Plutarch, Epiktet und Apollonius von Tyana zitiert werden. Standard-Vor-

Kleomedes

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Das Kapitel schließt mit der Bemerkung, es müßte für Menschen mit gutem Naturell (τοις εύφυέσι των ανθρώπων) deutlich geworden sein, daß Epikur weder von Astronomie noch von der sonstigen Philosophie etwas verstehe (II 1,523f = p. 168,7-10). Damit ist die Polemik beendet; das nachfolgende Kapitel (112) widmet sich - wieder ganz sachlich-nüchtern - dem Beweis, daß die Sonne größer als die Erde sei. Es finden sich also in diesem Werk sachliche Argumentation, enthusiastischer Lobpreis und schärfste Polemik innerhalb eines Kapitels versammelt. Natürlich stützt sich Kleomedes für seine wissenschaftliche Beweisführung auf Werke anderer Autoren - etwa Poseidonios, der im ganzen Werk oft, im hier betrachteten Kapitel zweimal als Quelle genannt wird (II 1, 54. 273 = p. 124,20. 144,28)17. Auch verleiht Kleomedes seinen Ausführungen etwas mehr Glanz durch Verszitate aus Homers Jlias' und Arats J'hainomena' - übrigens bis auf zwei Ausnahmen auf .unser* Kapitel II 1 beschränkt und in allen Fällen explizit als Zitate gekennzeichnet. Eine weitere .Quelle' bilden die bei Kleomedes aufgegriffenen Zitate und Schlagworte von Epikur und seinen Anhängern18, und selbst die Angriffe gegen diese haben bereits eine längere Tradition19 - ganz zu schweigen von den hymnischen Topoi des Sonnenlobes. Aber die Zusammenstellung all dieser disparaten Elemente - und damit auch der Wechsel zwischen den Stilebenen - geht auf das Konto des Kleomedes.20 würfe, die gegen jeden Gegner verwendet werden können, sind vor allem Vergnügungssucht (φιληδονία), Geldgier (φιλαργυρία) und Ruhmsucht (φιλοδοξία). JOHNSON führt aus, daß die literarische Funktion solcher Polemik oft darin besteht, die eigene Philosophie durch ein "negative counterimage" in hellerem Licht erscheinen zu lassen - über die gegnerische Position wird in der Regel nur soviel deutlich, daß es sich eben um eine gegnerische Position handelt. - Entsprechendes gilt übrigens für die Polemik neutestamentlicher Autoren gegen abweichende theologische Positionen: Auch hier finden sich stereotype Vorwürfe der genannten Art bis hin zu sexuellen Unterstellungen (vgl. 2Tim 3,1-9; 2Petr 2,1-22; Jud 4 - 1 9 ; Offb 2,12ff. 18ff). 16 Zu den unterschiedlichen Kriterien der Stilbewertung bei den verschiedenen antiken Stiltheoretikern siehe ausführlich oben Kap. HI. Ib. 17 Vgl. schon die Ankündigung am Ende von Buch I, wo Poseidonios als einer der Forscher genannt wird, die sich mit dem Thema der Sonnengröße befaßt hätten. - Zu Poseidonios siehe auch oben S. 215 Anm. 16. 18 Einen dieser Anhänger, nämlich Lukrez, haben wir oben, Kap. Π. 1 c, S. 92ff, ausführlicher zu Wort kommen lassen; seine Proömien lassen die göttliche Verehrung für Epikur hinreichend deutlich werden und bilden so ein Gegengewicht zur Polemik des Kleomedes. 19 Dazu vgl. oben Anm. 4. 20 Schon REINHARDT, Poseidonios 183-186, warnt vor dem Versuch, aus Kleomedes Π 1 einen Traktat des Poseidonios über die Größe der Sonne literarkritisch herauszuschälen oder diesem gar das ganze Kapitel zuzuschreiben. - RUDBERG, der 1918 (Poseidonios 17f. 32-35) noch die Zugehörigkeit des Kapitels zu Poseidonios vertreten hatte (mitsamt den charakteristischen Wechseln der Stilebene), äußert sich dreieinhalb Jahrzehnte später (Gedanke und Gefühl 8f. 12f) in dieser Frage viel zurückhaltender, da er den „Stilwechsel" als Phänomen erkannt hat, das sich auch bei vielen anderen antiken Autoren findet. (Trotz der Unsicherheit der Zuschreibung ist das ganze Kapitel als Fragment 290 a in die Poseidonios-Ausgabe von THEILER

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Im Blick auf die Stilwechsel im Neuen Testament, insbesondere für den großen Kontrast zwischen den lobenden und den polemischen Passagen im Philipperbrief, ist das besprochene Kapitel aus dem Werk des Kleomedes21 für uns besonders lehrreich, auch wenn sich Lob und Polemik auch in vielen anderen antiken Texten in enger Nachbarschaft finden lassen.22

d) Epiktet Unter den Lehrvorträgen (Diatriben) des stoischen Philosophen Epiktet, die noch zu dessen Lebzeiten (ca. 50-120 n. Chr.) von seinem Schüler Arrian aufgezeichnet wurden1, befindet sich ein Beitrag über die Vorsehung (πρόνοια),

aufgenommen worden; in den „Erläuterungen" [Bd. Π, 163] wird jedoch die Frage nach möglichen Veränderungen der Vorlage unter Hinweis auf den Kleomedes-Artikel von REHM, P R E XI/1, 689, offengelassen.) 21 Hymnische Partien enthält auch die ungefähr gleichzeitig abgefaßte Lehrschrift Π ε ρ ί κ ό σ μ ο υ (De mundo), die sich als Werk des Aristoteles ausgibt. Neben wissenschaftlich-technischen Abschnitten finden sich durchweg Passagen in höherem Stil; dies beginnt schon im einleitenden Kap. 1 (Herrlichkeit des Kosmos), zieht sich durch Kap. 2 und 3 (bes. 3 9 2 a 3 1 - b 2 0 : Beschreibung des „göttlichen Äthers" und der Erde) und steigert sich in den Kapiteln 5 - 7 ins Hymnische (bes. 396b23ff: Preis des Kosmos; 398b35ff: „Reigentanz" der Gestirne; 399a30ff: Gott als Lenker und Erzeuger des Weltganzen; 4 0 1 a l 2 - b 2 9 [= Kap. 7 passim]: Lobpreis des einen Gottes, der viele Namen trägt [mit Zitat aus einem Orphischen Zeushymnus - Orph. fr. 21a; vgl. Piaton, Nomoi 715 c]). - Im Vergleich zu Kleomedes ist dieser Traktat viel stärker ,theologisch', d. h. auf ein religiöses Verständnis des Kosmos ausgerichtet; polemische Abschnitte gibt es hier nicht. Vgl. zu diesem Text FESTUGIÈRE, Révélation Π, 4 6 0 - 5 1 8 , sowie die kommentierten Übersetzungen von STROHM und SCHÖNBERGER. - Im lateinischen Bereich ist auf das zweite Buch der . N a t u r k u n d e ' d e s ä l t e r e n P l i n i u s ( 2 3 - 7 9 n.Chr.) zu verweisen, das der Kosmologie gewidmet ist: Hymnische Züge trägt bereits das Proömium (§ 1 - 4 ) , mit hymnischen Motiven wird die Sonne als mundi totius animus gepriesen (§ 12f: hunc . . . hunc . . . hic ... hic ... hic ... hic ... hic . . . omnia ... omnia ...), besonders ausgeprägt jedoch ist der hymnische Charakter beim Lobpreis der „Mutter" Erde (§ 154-159), auf den bereits WÜNSCH, Hymnos 180, und NORDEN, Kunstprosa 317 (mit vernichtender Beurteilung des Stils), aufmerksam gemacht haben. Vgl. zu den genannten Stellen die kommentierenden Anmerkungen in der Ausgabe von BEAUJEU. 22 Vgl. dazu bes. oben S. 69f, 72,83, 85 Anm. 8,164, 221 u. 226. 1 Die Publikation der Sammlung, die ursprünglich 8 Bücher Diatriben, 12 Bücher Homilien und das ,Handbüchlein' (Encheiridion) umfaßte (erhalten sind das Encheiridion und 4 Bücher Diatriben), erfolgte um 130 n. Chr. Vgl. zu diesen Daten GIGON, LAW 830f und OLDFATHER in der "Introduction" seiner Ausgabe, xii; etwas anders DÖRRIE, KP Π (1967), 313f, der als Lebenszeit „ca. 55 bis ca. 135" angibt und das ,Handbüchlein' als Werk des Epiktet selbst ansieht. - Für unsere Fragestellung ist es übrigens unerheblich, ob die Aufzeichnungen des Arrian eine stenographische Mitschrift der ipsissima verba Epiktets darstellen (so OLDFATHER a.a.O. xiii) oder von ihm literarisch bearbeitet wurden (so DÖRRIE a.a.O.).

Epiktet

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der sich schrittweise im Ton steigert und schließlich zu hymnischen Höhen aufschwingt (Diss. 116).2 Der Vortrag beginnt mit einer Aufforderung an die Hörer, sich nicht darüber zu wundern (Μή θαυμάζετε), daß die anderen Lebewesen im Gegensatz zu den Menschen nicht selbst für ihren Leib sorgen müßten (1). Diese Einrichtung der Natur (φύσις) habe den einfachen Grand, daß die Tiere nicht um ihrer selbst, sondern um der Menschen willen (zum Dienen) geschaffen seien, so daß es für die Menschen eine Entlastung darstelle, nicht auch noch für Essen, Trinken und Kleidung der Schafe und Esel sorgen zu müssen (2-5). Statt nun aber dafür dankbar zu sein, beschwerten sich die Menschen bei Gott, daß er ihnen gegenüber nicht dieselbe Fürsorge (επιμέλεια) aufgebracht habe (6). Dabei müßten doch schon die kleinen Dinge des Alltags - etwa daß aus Gras Milch (und daraus wiederum Käse) wird oder Wolle aus der Haut wächst für einen ehrlichen und dankbaren Menschen genügen, um die Vorsehung zu spüren (αίσθέσθαι της προνοίας) (7f). Gerade an den Nebenwerken (πάρεργα) der Natur werde dies deutlich, z. B. an etwas so Nutzlosem wie den Haaren am Kinn: In einer Reihe rhetorischer Fragen stellt Epiktet heraus, daß die Natur mit diesem unscheinbaren Mittel eine sofort erkennbare Unterscheidung zwischen männlich und weiblich geschaffen habe. Es werde damit zu einem „edlen und wohlanständigen und würdigen Wahrzeichen" (καλόν τό σύμβολον και εύπρεπές και σεμνόν) schöner als der Kamm des Hahnes, prachtvoller als die Mähne des Löwen und sollte daher erhalten werden (δια τοΰτο εδει σώζειν τά σύμβολα του θεοϋ), um nicht den Unterschied der Geschlechter wieder zu verwischen (9-14). Der Ton ist im eben beschriebenen zweiten Absatz ( § 9 - 1 4 ) gegenüber dem ersten deutlich gehoben - das zeigt sich an der Häufung der rhetorischen Mittel3 und den durchgängig überschwenglichen Formulierungen. Eine weitere Steigerung bringt der nun folgende Absatz mit sich, der wiederum mit rhetorischen Fragen anhebt und dann in einen explizit als ΰμνος bezeichneten Lobpreis Gottes mündet (§ 15 -17): „Sind das die einzigen Werke der Vorsehung an uns? Und welche Rede vermag es, sie adäquat zu loben oder darzustellen (και τίς έξαρκεΐ λόγος ομοίως αύτά έπαινέσαι ή παραστησαι)? Was sollten wir denn, 2 Schon Diss. 16 handelt vom selben Thema und beginnt mit der programmatischen Feststellung, daß jedes Ereignis in der Welt leicht als Anlaß dienen könne, die Vorsehung zu lobpreisen (έγκωμιάσαι την πρόνοιαν), wenn man nur über Einsicht und Dankbarkeit verfüge. In 116 wird dieser Lobpreis auch praktisch durchgeführt. - Dagegen ist Diss. HI 17, wo es ebenfalls um die Vorsehung geht, eine Apologie derselben. 3 Neben dem Stilmittel der rhetorischen Frage, mehrmals verbunden mit parallelen Satzkonstruktionen, fallen besonders die anaphorischen Fragenreihen in lOf (ού . . . ; ού . . . ; ούκ . . . ; ) und 13 (πώς . . . ; πόσω . . . ; πόσω . . . ; ) ins Auge.

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wenn wir Verstand hätten, anderes tun - sowohl gemeinschaftlich wie auch einzeln - , als das Göttliche zu besingen und zu preisen und seine Gnadengaben aufzuzählen (ύμνεΐν τό θείον και εύφημεΐν καί έπεξέρχεσθαι τάς χάριτας)? Sollten wir nicht beim Graben und beim Pflügen und beim Essen den Hymnus auf Gott singen (αδειν τον ΰμνον τον εις τον θεόν)?: Groß ist Gott, denn er hat uns diese Werkzeuge gegeben, mit denen wir die Erde bearbeiten sollen. Groß ist Gott, denn er hat uns Hände gegeben, einen Schlund, einen Magen; (er hat gegeben, daß wir) unbemerkt wachsen und im Schlaf atmen!4" Nach diesem Höhepunkt der ganzen Diatribe geht es mit Reflexionen zum Gotteslob weiter, wobei der Stil wiederum durch rhetorische Fragen, überschwengliche Wortwahl und parallele Satzkonstruktionen auf einer gewissen feierlichen Höhe gehalten wird. Epiktet führt aus, daß man einen Hymnus der angeführten Art bei jedem Anlaß anstimmen (έφυμνεΐν) sollte, den „größten und erhabensten Hymnus" (τον μεγιστον καί θειότατον ϋμνον) aber darüber, „daß er [sc. Gott] uns das Vermögen gegeben hat (δτι την δύναμιν εδωκεν), diese Dinge nachzuvollziehen und auf rechte Art und Weise zu gebrauchen" (18).5 Da aber die große Menge blind sei, müsse wohl einer diese Aufgabe übernehmen und stellvertretend für alle den Hymnus auf Gott singen (ύπέρ πάντων αδοντα τον ΰμνον τον εις τον θεόν) (19). Mit einem Hinweis auf sein Alter, der zugleich eine Bescheidenheitsformel darstellt, erklärt sich Epiktet zu der genannten Aufgabe bereit: „Was kann ich lahmer Greis anderes tun, als Gott zu lobsingen (ύμνεΐν τον θεόν)?" Wie schon oben (§ 13: Hahn/Löwe), wird nun ein parallel gebauter Vergleich aus der Tierwelt herangezogen, dann aber durch einen Hinweis auf das Menschsein zum Syllogismus erweitert: „Wenn ich freilich eine Nachtigall wäre, dann würde ich tun, was die Nachtigall tut; wenn ein Schwan, das, was der Schwan tut. Nun bin ich aber ein vernunftbegabtes Wesen - also muß ich Gott mit Hymnen preisen."6 (20).

4 Μέγας ό θεός, cm ήμΐν παρέσχεν όργανα ταΰτα δι' ών την γην έργασόμεθα· μέγας ό θεός, οτι χείρας δέδωκεν, δτι κατάποσιν, οτι κοιλία ν, οτι αυξεσθαι λεληθότως, οτι καθεύδοντας άναπνεΐν. - Die (im Deutschen in dieser elliptischen Häufung nicht nachahmbaren) δτι-Sätze erinnern an alttestamentliche Hymnen (vgl. dazu den Exkurs oben S. 72ff), und diese bieten auch vergleichbare Wendungen zur einleitenden μέγας-Aussage: siehe z.B. LXX, ψ 47,2; 95,4 (μέγας κύριος καί α'ινετός σφόδρα); 94,3 (θεάς μέγας κύριος καί βασιλεύς μέγας). Die Akklamation μέγας θεός ist orientalischen Ursprungs, seit hellenistischer Zeit jedoch weit verbreitet; vgl. die Belege bei GRUNDMANN, ThWNT IV (1942), 545f (s. ν. μέγας), und ausführlicher B. MÜLLER, Μέγας θεός. 5 Das οτι την δύναμιν εδωκεν κτλ. ist unverkennbar eine Reminiszenz an den vorangegangenen Hymnus, wo ja in den letzten vier δτι-Sätzen δέδωκεν zu ergänzen ist. 6 εί γοΰν άηδών ημην, έποίουν τα της άηδόνος, εί κύκνος, t à του κύκνου, νυν δέ λογικός είμι· ύμνεΐν με δει τον θεόν.

Apuleius von Madaura

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Epiktet beschließt den Vortrag mit dem Versprechen, diese seine Aufgabe solange zu verrichten, wie es ihm vergönnt sei, und wendet sich mit dem letzten Satz noch einmal direkt an seine Hörer, die er zum Einstimmen in dieses Lied auffordert (και ύμάς έπί την αυτήν ταύτην φδήν παρακαλώ) (21). Nicht erst durch das betont gesetzte letzte Wort (παρακαλώ) wird deutlich, daß der ganze Text symbuleutisch ausgerichtet ist. Schon der einleitende Absatz läßt erkennen, daß es um die Propagierung einer bestimmten Lebenshaltung geht, nämlich der Dankbarkeit gegenüber der göttlichen Vorsehung (vgl. bes. §6.7). Für diese Bestimmung des rhetorischen Genos spricht auch die durchgängige Verwendung des Wörtchens εδει (.man sollte', §4. 14 [2x], 15. 16. 18. 19; vgl. δει § 20). Die zunehmende Erhabenheit im Ausdruck ergibt sich folgerichtig aus dem Inhalt; und so bildet der vermutlich ad hoc formulierte, vorzüglich in den Kontext passende kleine .Hymnus' 7 , der das theoretisch geforderte Gotteslob gleich in die Praxis umsetzt, das Herzstück und Glanzlicht dieses philosophischen Lehrvortrags.8

e) Apuleius von Madaura Die Werke des Apuleius weisen eine große Bandbreite stilistischer Variationsmöglichkeiten auf: So sind seine populär-philosophischen Schriften eher sachlich-nüchtern gehalten, seine Verteidigungsrede (Apologia) gegen die (ca. 158 n.Chr. erfolgte) Anklage der Zauberei zieht alle Register sophistischer Rhetorik - verbunden mit Anleihen bei Cicero - , und die als Florida (.Blütenlese') überlieferte Auswahl besonders prunkvoller Stellen aus seinen Reden zeigt eine oft schon übermäßige Verwendung der .gorgianischen Figuren' 7 Der im Text als ϋμνος eingeführte Lobpreis Μέγας ό θεός κτλ. (s.o. Anm. 4) ist im strengen Sinne unserer Definition aus Kap. Π. 1 a kein vollwertiger, dreiteilig aufgebauter Hymnus. Allerdings sind die Topoi der .Anrufung' (die Ankündigung der Lobabsicht, die rhetorische Frage nach dem angemessenen λόγος) bereits in § 15f vertreten, so daß nur die .Bitte' fehlt. Als eine solche kann aber wiederum die abschließende Aufforderung an die Hörer verstanden werden (παρακαλώ!). So zeigt sich auch hier die feste Einbindung des Gotteslobes in den literarischen Kontext. 8 Gelegentliche .hymnische' Züge finden sich auch noch in den Reflexionen eines anderen stoischen Philosophen: in den .Selbstbetrachtungen' des Kaisers Marcus Aurelius (abgefaßt 168-180 n. Chr.). So enthält IV 23 eine im ,Du-Stil' formulierte Betrachtung über die harmonische Abfolge der Jahreszeiten, die ihren Höhepunkt in einer feierlichen Anrufung der Natur findet (ώ φύσις, έκ σου πάντα, έν σοι πάντα, εις σε πάντα - vgl. zu dieser „stoischen Doxologie" NORDEN, Agnostos Theos 240 ff, der als neutestamentliche Parallelstelle v.a. Rom 11,36 und daneben noch IKor 8,6; Kol l,16f; Eph 4,5f; Hebr 2,10 anführt). In V 7 wird ein „Gebet der Athener" (εύχή Αθηναίων) an Zeus zitiert (ϋσον, υσον, ώ φίλε Ζεΰ, κατά της άρούρας της 'Αθηναίων και των πεδίων - vgl. dazu NORDEN, a.a.O. 156 Anm. 1, und Kunstprosa 46) und mit der generellen Bemerkung kommentiert, genau so - schlicht und freimütig - müsse man beten (ητοι ού δει ευχεσθαι η οϋτως, απλώς και ελευθέρως).

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Das Phänomen des Stilwechsels in antiken Texten

- Antithese, Isokolon, Homoioteleuton und Paronomasie - sowie eine Vorliebe für ungewöhnliche Ausdrücke (poetische, veraltete oder neugebildete Wörter).1 Interessant im Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist vor allem sein Roman mit dem Titel .Metamorphosen' - auch bekannt als ,Der Goldene Esel' - , der alle die genannten Stilmerkmale in einem Werk vereint.2 Dies ergibt sich schon aus seinem Aufbau: Äußerer Handlungsrahmen sind die Abenteuer des jungen Ich-Erzählers Lucius, der durch ein Versehen (bzw. als Folge seiner maßlosen Neugier) in einen Esel verwandelt wird, aber sein menschliches Bewußtsein behält. Seine wechselvollen Erlebnisse - Entführung durch Räuber, vergeblicher Fluchtversuch und Rettung, mehrfacher Besitzerwechsel und Gefahr für Leib und Leben bis zur Erlösung durch Isis und Einweihung in ihre Mysterien - werden ergänzt durch eine Reihe novellistischer Erzählungen, die der Ich-Erzähler auf seinen Wanderungen mitanhört.3 Epideiktische Passagen im weiteren Sinne finden sich in dem Roman vor allem in Form von anschaulichen Beschreibungen (.Ekphraseis'), wobei etwa die Schilderung der Räuberhöhle (IV 6) auch sprachlich in anderer Weise gestaltet ist als die von Amors Palast (V l). 4 Die Beschreibung der betörenden Magd Photis und ihrer Reize (II 7 - 9 ) gibt dem Erzähler einen willkommenen Anlaß zu einem Enkomion auf das Frauenhaar (118,2-9,3), auf das dann die Ekphrasis von Photis' Haartracht folgt (II 9,4).5

1 Vgl. NORDEN, Kunstprosa 600-605, der sich mit der Feststellung, Apuleius schreibe „in jeder Schrift einen anderen Stil", schon auf „die Humanisten" berufen kann (603). Vgl. ausführlicher BERNHARD, Stil des Apuleius (allerdings zu schematisch, siehe dazu die kritischen Bemerkungen bei EICKE, Stilunterschiede Π-ΠΙ). 2 Das hat bereits NORDEN, Kunstprosa 604 Anm. 2, angedeutet; den Nachweis dieser (von BERNHARD, Stil des Apuleius 4 u. 255, abgelehnten) Hypothese führt EICKE, Stilunterschiede, in gründlichen Analysen einzelner Abschnitte (wobei neben dem Satzbau besonders die Wortwahl stärker beachtet wird). 3 Die längste und berühmteste dieser eingeschobenen, inhaltlich selbständigen Geschichten ist das Märchen von Amor und Psyche (TV 2 8 - V I 2 4 ) , das auch die Mitte des Romans bildet. Die Rahmenhandlung geht auf eine griechische Erzählung zurück, von der eine Kurzfassung als Λούκιος η δνος unter den Werken des Lukian von Samosata überliefert ist; Photios, Bibl. cod. 129, gibt eine kurze Inhaltsangabe des ursprünglich etwas längeren Werkes und nennt Lukios von Patrai als Verfasser und Μεταμορφώσεις als Titel. Sowohl die Eselsgeschichte als auch die eingefügten Novellen sind von Apuleius in eigenständiger Weise verarbeitet und stilistisch .angeeignet' worden. 4 Zu diesen beiden Abschnitten siehe EICKE, Stilunterschiede 8 4 - 9 1 bzw. 92-99. Besonders auffällig ist es, daß die Ekphrasis der Räuberhöhle kaum Poetismen, aber viele Archaismen aufweist, während die Schilderung von Amors Palast durch „poetische Wörter als Glanzlichter der Diktion" (94) und kurze, stark rhythmisierte Sätze gekennzeichnet ist. 5 Weitere Ekphraseis, mehr oder weniger eng mit der Handlung verbunden, finden sich in 114 (Marmorstatuen-Gruppe im Atrium eines Hauses); IV 3 1 , 3 - 5 (Venus schreitet durch das Meer); V 2 2 (der schlafende Amor); X 29,3-34,2 (Pantomimische Aufführung vom Urteil des

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Den deutlichsten Stilwechsel bringt aber das elfte und letzte Buch des Romans mit sich: Ging es in den ersten zehn Büchern überwiegend um Themen, die man mit dem Begriff "sex and crime" zusammenfassen könnte, so tritt in Buch XI das religiös-mystische Erleben des Helden in den Vordergrund; und so wie in Buch I - X die Hexen-, Räuber- und Ehebruchsgeschichten (und auch die erotischen Erlebnisse des Ich-Erzählers) „im wohlbekannten milesischen Stil" (vgl. 11,1: sermone isto Milesióf recht drastisch geschildert werden, so dominieren im elften Buch die Sprachformen religiöser Rede. Dieser Kontrast hat zu der Hypothese Anlaß gegeben, daß der ganze Roman als verschlüsselter Mysterientext aufzufassen sei - als Weg der irrenden Menschenseele zur Erlösung durch die Gottheit.7 Aber dagegen ist zu Recht eingewandt worden, daß die ersten zehn Bücher keinerlei Entwicklung des ,Helden' oder Anspielungen auf den mystischen Schluß erkennen lassen; und auch die unverhohlene Freude des Erzählers an burlesken und frivolen Elementen paßt kaum zu einem symbolischen Erbauungsbuch. Vor allem widerspricht einer religiös-symbolischen Deutung die ausdrückliche Ankündigung des Romanproömiums (11), das dem Leser Ohrenkitzel und Unterhaltung durch schlüpfrige Geschichten nach milesischer und griechischer Art verspricht.8 So lautet die Gegenposition, daß Apuleius die Idee zu dem „mystisch-erbaulichen Schluß" erst nachträglich gekommen sei und er diesen dann „unpassend und unorganisch" dem bis dahin fertigen „Sittenroman mit komisch-satirischer Tendenz" angehängt habe.9 Läßt also das Werk trotz aller eingestandenen Virtuosität der sprachlichen Gestaltung eine (konzeptionelle) literarische Einheitlichkeit vermissen?10

Paris; dazu siehe EICKE, Stilunteischiede 24-61); X I 3 - 4 (Erscheinung der Isis); X I 8 - 1 1 (Prozession zu Ehren der Isis); XI 24,3 (der Mantel des Mysten). 6 Der Ausdruck Milesia (sc. fabula bzw. historia) wird als Gattungsbezeichnung für erotische Geschichten oder „schlüpfrige Romane" (so GEORGES, Handwörterbuch Π, 918, s. v. Miletus) verwendet. Er knüpft an die seinerzeit berühmte (leider nicht erhaltene) Sammlung entsprechender Novellen des Aristeides von Milet (um 100 v.Chr.) mit dem Titel Μιλησιακά an, von der es auch eine lateinische Übersetzung gab. 7 Hierbei wird die Geschichte der Psyche (ψυχή!) aus I V 2 8 - V I 2 4 als Schlüsseltext gedeutet - so v.a. bei MERKELBACH, Roman und Mysterium 1 - 9 0 . 338f (vgl. aber zur mystischen Deutung schon REITZENSTEIN, Amor und Psyche; KERÉNYI, Romanliteratur). 8 Vgl. nur die ersten und die letzten Worte des Absatzes: At ego tibi sermone isto Milesio varias fabulas conseram auresque tuas benivolas lepido susurro permukeam ... Fabulam Graecanicam incipimus. Lector intende: laetaberis. („Ich will dir aber im wohlbekannten milesischen Stil allerlei Geschichten aneinanderreihen und deine geneigten Ohren mit anmutigem Geplauder [wörtl. ,Gesumme'] ergötzen [wörtl. .streicheln, kitzeln'] ( . . . ) Eine Geschichte nach griechischer Art beginnen wir. Leser, sei gespannt - du wirst dich amüsieren!" 9 S o HELM in der „ E i n f ü h r u n g " s e i n e r S Q A W - A u s g a b e , 3 0 - 3 2 .

10 Ein wichtiger Beitrag zu dieser Frage ist WLOSOK, Einheit. Die Verfasserin zeigt zahlreiche literarische Verbindungen zwischen Buch I - X und Buch XI auf und ist letzten Endes an ei-

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Wir haben im Zuge unserer Untersuchung gesehen, daß die literarische Verwendung der Hymnenform vielfache Möglichkeiten bietet und nicht immer Rückschlüsse auf den religiösen Ernst des Verfassers oder gar auf einen kultischen Hintergrund gestattet. Ein spielerisch-ironischer Umgang mit den überkommenen hymnischen Traditionen ist uns im griechischen Bereich etwa bei Kallimachos, im lateinischen etwa bei Horaz begegnet. 11 Vor allem ist hier aber auf Ovid hinzuweisen, der seine .Metamorphosen' immer wieder mit hymnischen Passagen schmückt und das ganze Werk mit einem drei- bzw. viermal sich überbietenden hymnischen Finale zu einem grandiosen Abschluß bringt - freilich nicht ohne ironische Brechungen. 12 Ich halte es daher nicht für undenkbar, daß Apuleius für seinen Roman, dessen Titel immerhin Assoziationen an Ovid wecken kann, ein grandioses Finale nach Art der ovidischen .Metamorphosen' schaffen wollte und deshalb das letzte Buch mit religiösen Motiven und Sprachformen geradezu überladen hat. Läßt sich bereits diese Überfrachtung als satirisches Element, zumindest als ironische Brechung verstehen, so muß ein Gang durch das ganze Buch XI erweisen, ob sich noch weitere Spuren von Ironie in und zwischen den religiös geprägten Formen finden lassen. Zu Beginn des Buches wird der noch eselgestaltige Lucius, dem die Flucht vor einem entwürdigenden Tod im Circus geglückt war und der sich jetzt am Gestade der zu Korinth gehörenden Hafenstadt Kenchreai befindet (vgl. X 35), durch den Aufgang des Vollmondes auf die Göttin Luna aufmerksam. Seine Reflexionen über die maiestas und Providentia dieser Göttin (XI l,2f) 13 münden in den Entschluß, „die majestätische Erscheinung der anwesenden Göttin anzuflehen" (augustum specimen deae praesentis ... deprecari). Bevor dies aber geschehen kann, vollzieht der Bittsteller erst eine rituelle Reinigung, indem er sein Haupt siebenmal in die Fluten des Meeres taucht (XI 1,4). Die Vorstellung von einem Esel, der eine rituelle Waschung vollzieht, dabei das siebenmalige Untertauchen mit einem Hinweis auf Pythagoras begründet und schließlich „mit tränenüberströmtem Antlitz" (lacrimoso vultu) zu einem Gebet anhebt, entbehrt nicht einer gewissen (Tragi-)Komik, wie sie auch an anderen Stellen des Romans zum Vorschein kommt.14

ner Aufwertung der ersten zehn Bücher (im Sinne von religiösem Ernst) interessiert. - Ich will im folgenden den genau entgegengesetzten Versuch unternehmen. 11 Siehe oben Kap. Π. la, S. 50 (Kallimachos) u. Π. le, S. 85ff, bes. ab 87 (Horaz). 12 Siehe dazu oben Kap. Π. 1 c, S. 98 ff. 13 Bereits hier finden sich Formulierungen, die auch in einem Hymnus stehen könnten darunter auch die Dreiteilung der Welt in Erde, Himmel und Meer (terra caelo marique), die uns schon mehrfach begegnet ist (Alexander Numeniu, p. 5,29f: s.o. S. 137 m. Anm. 135; Ailios Aristeides, Sarapisrede [or. 45] §23: s.o. S. 169 u. 172 m. Anm. 84). - Die übrigen Aussagen über das Wachsen und Verkümmern der Lebewesen im Rhythmus des Mondes erinnern an den Lobpreis der Sonne bei Kleomedes (siehe oben Kap. ΠΙ. 2c).

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Das Gebet an die „Himmelskönigin" Luna (XI2) verwendet die üblichen Topoi hymnischer Sprache, die aber mit allen Mitteln rhetorischer Kunst ausgestaltet werden15: Auf die Anrede Regina caeli folgen vier mit sive bzw. seu eingeleitete Sätze, die weitere göttliche Namen als Alternativen anbieten und die Funktionen und Kultorte der jeweiligen Göttin in Relativsätzen bzw. Partizipien hinzufügen (sive tu Ceres ..., quae ..., seu tu caelestis Venus, quae ..., seu Phoebi soror [= Diana], quae ..., seu ... Proserpina ... comprimens .. . cohibens... inerrans). Nach drei weiteren partizipialen Prädikationen, die sich speziell auf die Tätigkeiten der Mondgöttin beziehen (deren eigentlicher Name Luna übrigens im ganzen Gebet nicht fällt), wird dieser Teil mit der bekannten absichernden Formel abgeschlossen: „Mit welchem Namen, nach welchem Ritus, in welcher Erscheinung auch immer man dich anrufen muß" (iquoquo nomine, quoquo ritu, quaqua facie te fas est invocare). Die Bitte beginnt mit drei anaphorischen fw-Sätzen, deren Imperative noch recht allgemein um Hilfe, Wiederherstellung und Ruhe bitten (tu ... subsiste, tu ... adfirma, tu ... tribue)·, in zwei Konjunktiv-Sätzen wird die angerufene Gottheit beschworen: sit satis laborum, sit satis perìculorum (,Parallelismus' mit Anapher und Homoioteleuton!) - und dann konkretisiert der Beter sein Anliegen in drei weiteren Imperativ-Sätzen: „Nimm die unheilvolle Vierbeiner-Gestalt von mir, gib mich dem Anblick der Meinen wieder, gib mich meinem Lucius wieder!"

14 So resümiert etwa der Ich-Erzähler seine .Irrfahrten in Eselgestalt' mit Worten, die aus Homers .Odyssee' entnommen sind, vergleicht sich also - unpassenderweise - mit Odysseus (X 13). Nach einer Reflexion über die Bestechlichkeit der Richter formuliert er selbst den möglichen Einwand: „Schau, jetzt sollen wir uns (auch noch) einen philosophierenden Esel gefallen lassen!" (X 33,5). Tränen vergießt der Esel bereits in IV 24,2; VI 32,3 und VII 24,1. Tragikomisch ist es, wenn Lucius sich vor lauter Verzweiflung das Leben nehmen möchte, dies aber daran scheitert, daß er mit seinen Hufen unmöglich ein Schwert zücken könnte (X 29,1). - Interessant im Blick auf die hier mitgeteilte Anrufung der Mondgöttin ist auch der erste Versuch des verwandelten Lucius, in menschlicher Sprache zu reden (11129,1-3): Er will auf dem Markt seine Zuflucht zur staatlichen Hilfe nehmen (ad auxilium civile decurrere) und sich dazu auf den „ehrwürdigen Namen des Princeps" (venerabilis principes nomen) berufen, kommt aber über das O des angestrebten o Caesar (bzw., wie Lucius eigens betont, einer griechischen Anrede ώ Καίσαρ, die freilich lautlich identisch wäre) nicht hinaus, weil er eben ein Esel ist (das O entspricht hier offenbar dem deutschen ,I-ah'; vgl. auch VII 3,3; VIH 29,4). 15 Die Struktur dieses Gebetes ist im Kommentar von GRIFFITHS, 120f, veranschaulicht (unter Hinweis auf ältere Literatur). Das auffälligste Merkmal ist die fast durchgängige Gestaltung in triadisch aufgebauten Sätzen (oft mit .Parallelismus' verbunden); hinzu kommen die Stilmittel Alliteration, Anapher und Homoioteleuton, deren wohlproportionierter Einsatz das Pathos steigert. - Daß das ganze Gebet, auch wenn es den einschlägigen Konventionen folgt, von Apuleius für den vorliegenden Kontext geschaffen wurde, wird m.W. nirgendwo bestritten; das gilt auch für die beiden sehr ähnlich gestalteten Gebete der Psyche an Ceres und Hera (VI 2 bzw. VI 4). Eine regelrechte Parodie der Gebetsform bietet Apuleius 116 in der Ansprache an das Bett, dessen Laken dem Redenden als Strick dienen soll (vgl. die Analyse bei KLEINKNECHT, Gebetsparodie 202f).

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(idepelle quadrupedi diram faciem, redde me conspectui meorum, redde me meo Lucio.). Bescheiden, doch ebenfalls nicht ohne Pathos ist der abschließende Satz des Gebetes: „Und wenn mich irgendeine gekränkte Gottheit mit unerbittlicher Strenge verfolgt, dann sei mir wenigstens erlaubt zu sterben, wenn schon zu leben mir nicht erlaubt ist (mori saltern liceat, si non licet vivere)". Nach diesem inbrünstigen Gebet schläft der Esel erschöpft ein und erlebt sofort eine Erscheinung der Göttin, die ausführlich nach Art einer Ekphrasis geschildert wird (XI3-4). 16 Etwas kokettierend erscheint die einschränkende Bemerkung des Ich-Erzählers, er wolle versuchen, die „wunderbare Gestalt [oder: Vision]" (mirandam speciem) der Göttin zu beschreiben, wenn die „Armut der menschlichen Sprache" (paupertas oris fiumani) es ihm gestatte oder die Gottheit (numen) selbst ihm „Fülle der Ausdrucksfähigkeit" (copiam elocutilis facundiae) verleihen wolle (XI 3,3). Die nun mitgeteilte lange Rede der Göttin (XI5-6) besteht aus zwei Teilen: der Selbstvorstellung der Göttin (XI 5,1-3) und ihren Anweisungen an Lucius (XI 5,4-6,6). Deutlich anknüpfend an das vorangegangene Gebet (En adsum tuis commota, Luci, precibus), aus dem auch einzelne Stichwörter aufgegriffen werden, zählt die Göttin zunächst eine Reihe von Prädikationen auf jeweils in Dreiergruppen angeordnet (rerum naturae parens, elementorum omnium domina, saeculorum progenies initialis, / summa numinum, regina manium, prima caelitum usw.).17 Zielpunkt der Prädikationenreihe ist die Aussage, daß sie als „Erscheinung der Götter und Göttinnen in einer Gestalt" (deorum dearumque facies uniformis), also als henotheistische Allgottheit, auf der ganzen Welt verehrt wird - „in vielgestaltigem Bilde, in mannigfachem Ritus, unter vielerlei Namen" (multiformi specie, ritu vario, nomine multiiugo). Besonders die zuletzt zitierten Wendungen lassen die Selbstprädikation der Göttin als bewußte Überbietung der Gebetsanrede erkennen. Doch damit nicht genug: In einem erneuten Anlauf läßt Apuleius die Göttin aufzählen, unter welchen Namen sie von welchen Völkern verehrt wird. Die Reihe der insgesamt dreizehn genannten Völker, die z.T. ebenfalls mit Prädikationen versehen werden, geht von den „erstgeborenen (der Menschen), den Phrygern", über die „meerumfluteten Kyprier" und die „dreisprachigen Sizilier" bis hin zu den Äthiopiern als Empfängern der ersten Strahlen des göttlichen Sol und den Ägyptern als Besitzern uralter Weisheit. Unter den elf aufgezählten Namen der Göttin sind auch die vier im Gebet des Lucius genannten (näher spezifiziert als „Paphische Venus", „Diktynnische Diana", „Stygische Proserpina" und „alte Göttin Ceres"), die von weiteren Namen umrahmt werden. Die Aufzählung beginnt mit zwei Dreiergruppen, wird mit einer Vierergruppe fortgesetzt und findet ihren krönenden Abschluß in einem langen Satzgebil-

16 Vgl. zu den Ekphraseis in Apuleius' Roman oben S. 238 f mit Anm. 4 u. 5. 17 Die Struktur dieser Prädikationenreihe veranschaulicht GRIFFITHS in seinem Kommentar, 138 (im Anschluß an ältere Literatur).

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de aus sieben κόμματα, an dessen Ende der „wahre Name" der redenden Göttin steht: „Königin Isis".18 Auch die Wendung regina Isis am Ende der Selbstvorstellung ist ein deutlicher Rückbezug auf die Anrede Regina caeli am Beginn von Lucius' Gebet (XI 2,1). Erst nach dieser nicht enden wollenden Einleitung mit ihrer ,Überbietung der Überbietung' kann die Göttin sich dem Bittsteller Lucius wirklich zuwenden und auf seine Bitte eingehen. Sie zeigt sich ihm „günstig und gnädig" (adsum favens et propitia) und verspricht ihm ihre Fürsorge [providentia) (XI 5,4); konkretisiert wird dieses Versprechen in einer genauen Anweisung für den folgenden Tag: Im Rahmen eines Weihefestes zu Ehren der Isis werde einer der Priester einen Rosenkranz tragen; Lucius solle auf ihn zugehen und von den Rosenblättern essen, wodurch er seine menschliche Gestalt zurückerhalte (XI5,5-6,3). 1 9 Als .Gegenleistung' für diese Wohltat (beneficium) müsse er sein weiteres Leben in den Dienst der Isis stellen - freilich nicht zu seinem Nachteil, sondern im Schutz der Göttin als glücklicher und ruhmvoller Mensch ( Vives autem beatus, vives in mea tutela gloriosus.) (XI6,4 - 6). Mit solchen Aussichten sieht die Welt gleich ganz anders aus: Die Sonne geht auf, und der Ich-Erzähler findet seine eigene Heiterkeit in der ganzen Natur widergespiegelt, in die mit einem Schlag der Frühling einkehrt (XI7). Sogleich naht auch der große Festzug und gibt Anlaß für eine ausführliche Ekphrasis: Es beginnt mit einem fröhlichen Maskenzug (XI8), bei dem übrigens ein Esel mit angeklebten Flügeln (als Pegasus-Parodie) zusammen mit einem Greis (als jugendlicher Held' Bellerophon) für besonderes Gelächter

18 Vgl. zur Struktur der Aufzählung den Kommentar von GRIFFITHS, 145f. - Die Selbstprädikation der Göttin bei Apuleius lädt zu einem Vergleich mit den erhaltenen Isis-Texten ein (vgl. ebd. 146-148 u.ö.; die Texte sind bequem zugänglich in den von PEEK [Der Isishymnus von Andros] und T o m [Ausgewählte Texte] herausgegebenen Sammlungen, deren z.T. unreflektiert verwendete Gattungsbezeichnungen ,Hymnus', .Aretalogie' und .Enkomion' allerdings kritisch zu sehen sind). Dabei ergeben sich bezeichnende Unterschiede: Die sog. ,Isis-Aretalogien' in der 1. Person (,Ich-Stil'; vgl. z.B. die berühmte Inschrift von Kyme) nennen den .wahren Namen' gleich am Anfang (etwa Εισις έγώ είμι o.a.) und zählen v.a. Erfindungen und Taten der Göttin auf; die ,Isis-Litanei' (von T o r n als „Enkomion" bezeichnet) im Papyrus Oxyrhynchos 1380, die sogar mehr als 50 Götternamen und über 100 Orte aufzählt, ist in der 2. Person formuliert (,Du-Stil'). Zu beachten ist auch, daß es sich bei diesen Texten von meist beträchtlicher Länge nicht um Einleitungen zu einer Rede der Göttin handelt, sondern um literarisch selbständige Erzeugnisse mit einem völlig anderen ,Sitz im Leben' (dies ist von GRIFFITHS nicht genügend berücksichtigt). 19 Daß Rosenblätter das Gegenmittel gegen den Zauber sind, weiß Lucius schon seit seiner Verwandlung (vgl. ΠΙ 25,3); im Verlaufe der Handlung sind sie mehrmals zum Greifen nahe oder Gegenstand der Hoffnung (vgl. m 29,4-6; IV 2; VII 15,1; X29,2). Die RückVerwandlung hätte also strenggenommen keiner göttlichen Hilfe bedurft. Das Eingreifen der Isis besteht jedoch darin, daß sie tatsächlich Rosen zur Verfügung stellt. - Im griechischen Eselsroman (vgl. oben Anm. 3) kommt der Ich-Erzähler durch Zufall an die erlösenden Rosen.

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sorgt (XI 8.3).20 Der nächste Zug (XI9) wird von weißgewandeten Verehrerinnen der Isis angeführt, gefolgt von einem Lichterzug aus Feiernden beiderlei Geschlechts, Flötenspielern und einem „lieblichen Chor auserlesenster Jugend" ( a m o e n u s lectissimae iuventutis ... chorus). Letzterer singt wiederholt ein „anmutiges Lied ( c a r m e n venustum), das mit gnädiger Hilfe der Musen ein kunstfertiger Dichter in Töne gesetzt hatte" - also offenbar einen Hymnus.21 Auf die Gruppen von Laien folgen die Scharen der in die Isis-Mysterien Eingeweihten - Männer und Frauen - sowie die Kultpriester mit den Insignien der Götter (XI10) und unmittelbar darauf „die Götter", d. h. ein Zug mit Götterfiguren wie Anubis, einer Kuh und einer Schlange (XI11). Dies alles wird von Apuleius ausführlich und anschaulich beschrieben.22 Die Erzählhandlung wird vorangetrieben durch das Auftreten des einen, von der Göttin angekündigten und gleichfalls per Traum instruierten Priesters mit dem Rosenkranz (XI12); auch das ängstliche Hinschreiten des Esels, sein Verschlingen der Rosen und seine Rückverwandlung in menschliche Gestalt (XI13) werden in allen Einzelheiten geschildert und so dem Leser anschaulich ,vor Augen gestellt'.23 Das Wunder der Verwandlung wird stilgemäß mit einem ,Chorschluß' respondiert: „Das Volk bestaunt, die Frommen verehren die so augenscheinliche Macht der größten Gottheit (...), und laut und einstimmig, die Hände zum Himmel erhebend, bezeugen sie die so offenbar gewordene Wohltat der Göttin." (XI13,4).24

20 Der eselgestaltige Lucius war mehrmals im Verlaufe des Romans ironisch mit Pegasus verglichen worden; vgl. VI 26,3; 30,3; VII 26,2; v m 16,3. 21 GRIFFITHS weist in seinem Kommentar, 187, darauf hin, daß keine "festival hymns to Isis in the strict sense" überliefert sind: Die sogenannten ,Isis-Aretalogien', manchmal auch als .IsisHymnen' bezeichnet, haben zwar Bezug zum Kult, sind aber keine Hymnen (vgl. PEEK, Der Isishymnus von Andros 25 Anm. 1, zum Titel seines Buches: „ .Evangelium' wäre richtiger."); und die vier stilechten Hymnen des Isidoros auf Isis-Hermuthis sind keine kultischen, sondern literarische Gedichte, die die persönliche Frömmigkeit des Dichters in der Sprache der .Homerischen Hymnen' reflektieren (vgl. oben Kap. Π. l a , S. 51 f Anm. 75). 22 Die Beschreibung der Isis-Anhänger und ihrer Prozession in Buch XI der .Metamorphosen' läßt sich als Überbietung (bzw. positives Gegenbild) zur Passage über die Anhänger der dea Syria (Vili 2 4 - I X 10) verstehen, bei denen Lucius als Lasttier für eine Figur der Göttin dienen mußte: Diese .Priester* hatte Apuleius als sexuell pervers und ihren Bettelzug samt vorgetäuschter Ekstase als betrügerisches Plünderungsunternehmen dargestellt. 23 Zum rhetorischen Mittel des ,Vor-Augen-Stellens', das besonders der Erregung von Affekten dient, vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 1 1 , 1 - 4 (ενάργεια); Rhet. ad Her. IV 55,68f (demonstratio); Cicero, De orat. ΠΙ 202 (sub aspectum paene subiectio); Part. or. 6,20 (iUustratiolevidentia\ so auch Quint. Inst. VI 2,32 als lat. Wiedergaben von ενάργεια); Quint. Inst. VIH 3,61-71 (ενάργεια/evidentia/repraesentatio); IX 2,40 (evidentialsub oculos subiectiö). 24 Populi mirantur, religiosi venerantur tarn evidentem maximi numinis potentiam ... claraque et consona voce, caelo manus adtendentes, testantur tarn inlustre deae beneficium. — Vgl. zu der häufig anzutreffenden Abfolge von Wunder und staunender Akklamation etwa den Sarapishymnus des Maiistas; siehe oben Kap. Π. 1 a, S. 51 f (mit Anm. 77).

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Die Überlegungen des Lucius, mit welchen Worten er der Göttin angemessen Dank abstatten könne, werden wieder durch ein humorvolles Element jäh unterbrochen: Da er seit seiner Verwandlung nackt ist und nur „durch enges Zusammenpressen der Schenkel und sorgsames Vorhalten der Hände" seine Blöße notdürftig bedeckt hat, wird er auf einen Wink des Priesters mit einem Leinengewand verhüllt (XI14). Nun wendet sich der Priester mit einer feierlichen Rede an Lucius (XI15). 25 Diese verrät eine genaue Kenntnis seiner bisherigen Erlebnisse bis zur eben erfolgten Erlösung - ist also literarisch gesehen eine weitere Verknüpfung mit Buch I - X . Auf den .Indikativ der Heilzusage' (Aufnahme in den Schutz Fortunas)26 folgt ein Imperativ: Lucius soll ein fröhliches Gesicht machen und sich dem Dienst der Isis unterstellen. Aber nicht allein Lucius ist Adressat der flammenden Rede, sondern auch die (anwesenden?) .Unfrommen' sollen durch sein Beispiel zum Glauben an die Providentia der großen Isis gelangen.27 Der missionarische Eifer der .Predigt' erfährt wiederum eine ironische Brechung durch die anschließende Bemerkung des Erzählers, der „vortreffliche Priester" sei nach seiner prophetisch inspirierten Rede ganz außer Atem gewesen (XI16, l). 28 Darauf berichtet Lucius vom weiteren Verlauf der Prozession, der er sich nun anschließt (XI16-17) 2 9 : Beim Zug an das Meer sprechen alle von seiner

25 Die rhetorische Gestaltung ist z.T. wieder triadisch; Anapher, Alliteration und Homoioteleuton tragen zum feierlichen Pathos bei. 26 Diese Stelle (XI15,2f) kommt in ihren Formulierungen tatsächlich nahe an Paulus (vgl. Rom 8,31-39) heran: „Denn bei denen, deren Leben unsere erhabene Göttin zu ihrem Dienst erkoren, hat der feindliche Zufall keinen Ort. Was haben Räuber, was wilde Tiere, was Knechtschaft, was Irrfahrten hin und her auf rauhen Wegen, was tägliche Todesfurcht der ruchlosen [blinden] Fortuna genützt? Du bist nun in den Schutz Fortunas aufgenommen, aber der sehenden, die mit dem Glanz ihres Lichtes auch die übrigen Götter erleuchtet." (nam in eos, quorum sibi vitas servitium deae nostrae maiestas vindicavit, non habet locum casus infestus. Quid latrones, quid ferae, quid servitium, quid asperrimorum itinerum ambages reciprocae, quid metus mortis cotidianae nefariae Fortunae profuit? In tutelam iam receptus es Fortume, sed videntis, quae suae lucis splendore ceteros edam deos illuminât.) 27 Auch dies ist mit Pathos formuliert, wobei besonders die Anadiplosis zu beachten ist: Videant inreligiosi, videant et errorem suum recognoscant. (XI 15,4). - Die Abfolge von Wunder und ,Missionspredigt' erinnert wiederum an das Neue Testament, und zwar an die Apostelgeschichte. 28 Ad istum modum vaticinatus sacerdos egregius fatigatos anhelitus trahens conticuit. Dieselbe Wendung (fatigatus anhelitus) dient in X2,6 zur Beschreibung eines der krankheitsähnlichen Symptome der Liebesleidenschaft (hier der für ihren Stiefsohn entbrannten Stiefmutter); vgl. auch die satirische Darstellung der Bettelpriester der dea Syria (siehe oben Anm. 22), von denen einer, „aus tiefster Brust wiederholt aufseufzend" (de imis praecordiis anhelitus crebros referens), einen geistgewirkten .göttlichen Wahnsinn' simuliert (VIII 27,4). 29 Schon in ΠΙ 1 - 1 2 (also noch vor der Verwandlung in einen Esel) hatte Lucius als Hauptperson an einer Prozession teilgenommen: bei einem Scheinprozeß wegen Mordes, der sich im

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Das Phänomen des Stilwechsels in antiken Texten

Verwandlung und rufen ihm Seligpreisungen zu („Glücklich weiß Gott! und dreimal selig der, der..."), die aber sofort wieder durch einen Kontrasteffekt gebrochen werden: Die im Relativsatz angeschlossene Mutmaßung der Leute, er habe sich wohl in seinem „früheren Leben" durch „Unschuld und Treue" (innocentia fideque) ausgezeichnet (XI 16,2), muß bei einem Leser der Bücher I - X (aber auch von XI 15,1) zumindest ein Schmunzeln hervorrufen.30 - Im Zusammenhang der Abschlußkundgebung' am Tempel wird eine weitere Gattung religiöser Rede erwähnt: die von einem der Priester (von einer Kanzel aus) gesprochenen Fürbitten (vota) für Kaiser, Senat und Ritterstand sowie das ganze römische Volk und die ganze Welt (XI 17,2). Nach einem Wiedersehen mit seinen Verwandten und Freunden (XI18) quartiert sich Lucius in der Nähe des Tempels ein, verschiebt aber trotz allnächtlichen Erscheinungen der Göttin seine Einweihung, weil ihn das Gebot der Enthaltsamkeit noch abschreckt (XI19). Sein Entschluß wird durch einen wunderbaren Wahrtraum (XI20) herbeigeführt; und nun ist es der Priester, der einen weiteren Aufschub anordnet, bis die Göttin selbst den Tag der Weihe bestimmt (XI21-22). Die Einweihung selbst wird in ihrem öffentlichem Teil ausführlich geschildert (XI23 -24). Was jedoch den nichtöffentlichen und streng geheimen Teil im Innern des Tempels angeht, so weiß der Ich-Erzähler, wie neugierig sein „eifriger Leser" (studiose lector) darauf ist; nach einem ironisch-kokettierenden Hin und Her51 gibt er schließlich eine Schilderung, die absichtlich so formuliert ist, daß jener sie nicht versteht, aber doch eine Ahnung davon erhält (XI23,6-9). 32

letzten Moment als Spiel zu Ehren des Lachgottes entpuppt. Da Lucius hier nach seinem subjektiven Empfinden dem Tode nahegekommen ist (1119,4; 10,2f) und ihm aus berufenem Munde die Huld des verehrten Gottes zugesagt wird (ΠΙ 11,3), läßt sich die Passage durchaus als eine scherzhafte Antizipation der Ereignisse von Buch XI lesen (vgl. bes. XI 23,8; 24,4). 30 Dies ist allerdings nicht der Fall bei GRIFFITHS, der in seinem Kommentar, 257, den Widerspruch als "very strange" bezeichnet und zwei Lösungsvorschläge diskutiert: Entweder beziehe sich das „frühere Leben" auf die Zeit vor dem Einsetzen der Romanhandlung oder (für GRIFFITHS wahrscheinlicher) die ganze Seligpreisung sei eine geprägte Formel ("a set formula"). Daß GRIFFITHS hier wie auch an anderen Stellen eine von Apuleius bewußt kalkulierte komische Wirkung nicht einmal in Erwägung zieht (obwohl die eisten zehn Bücher voll von solchen Späßen sind), erscheint rm> wiederum "very strange". 31 Vgl. besonders den folgenden gezierten .Parallelismus' (mit Chiasmus und Klangspielereien): dicerem, si dicere liceret, cognosceres, si liceret audire (XI23, 6: „Ich würde es [dir] sagen, wenn ich es sagen dürfte; du würdest es erfahren, wenn du es hören dürftest."). Aber auch die Unteistellung eines „womöglich frommen Verlangens" beim Leser eines ,milesischen' Romans (XI 23,7) kann m.E. nur ironisch gemeint sein. 32 Dieser Textabschnitt ist unter Neutestamentlern allgemein bekannt (.klassische' Untersuchung: DIBELIUS, Isisweihe) und findet sich in allen einschlägigen Sammlungen mit Texten aus der Umwelt des frühen Christentums. Weniger bekannt ist der Kontext, in dem diese Isis-Weihe steht - eben die .Metamorphosen' des Apuleius als ganzes Werk. - Nach Abschluß des Manuskripts bin ich auf den 1973 erschienenen Artikel von KRÄMER (Isisformel) gestoßen, der bereits

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Mit erfolgter Einweihung ist für Lucius auch der Tag der Abreise gekommen (XI24,6f); so spricht er zu seiner Göttin unter Tränen ein hymnisches Dankgebet (XI25). Dieses ist stilistisch vor allem dadurch gekennzeichnet, daß die einzelnen Aussagen überwiegend in Vierergruppen zusammengefaßt sind - was im Vergleich zu den Dreiergruppen des Gebetes an die Mondgöttin (XI2) wieder als überbietendes Moment aufgefaßt werden kann. Gemäß dem lateinischen Gebets- und Hymnenstil findet auch das anaphorische Personalpronomen reichliche Verwendung: Das einleitende Tu quidem... wird in den Satzanfängen Te..., tu..., tibi..., tuo..., tuam... wiederaufgegriffen33, wobei sich die sehr bewußte Gestaltung der Reihe schon darin zeigt, daß außer dem deutlich herausgestellten tu keine Wortform zweimal vorkommt. Inhaltlich geht es um die Fürsorge und Allmacht der Göttin, die mit den konventionellen Topoi gepriesen wird: Nach der Anrufung als „heilige und ewige Retterin des Menschengeschlechts" (XI 25,1: Tu quidem, sancta et humani generis sospitatrix perpetua ...) beginnt der preisende .Mittelteil' mit einer ,These' nach dem Muster .Nichts ohne dich"34 (XI 25,2), die in den erwähnten anaphorischen Sätzen ausgeführt wird (XI25,3f). Mit der betonten Wendung zum Ich des Beters (At ego ...) beginnt der dritte Teil - hier nicht Bitte, sondern Treuegelöbnis gegenüber der Gottheit (XI25,5 f). In einem besonderen Kontrast zur kunstvollen rhetorischen Gestaltung des Gebetes steht dabei die Bescheidenheitsformel „Doch ich bin zu schwach an Geist, dein Lob erschallen zu lassen" (At ego referendis laudibus tuis exilis ingenio) - unterstützt durch das .Eingeständnis' des Betenden, die „Fülle der Sprache" (vocis ubertas) reiche ihm für die Herrlichkeit der Göttin nicht aus.35

die sog. ,Isisformel' in XI 23,7 im Kontext des ganzen Romans interpretiert und den religiösen Ernst der .Formel' unter Hinweis auf ironische Elemente in Buch XI in Frage stellt (vgl. bes. 101 ff). Seine Beobachtungen unterstützen also die oben vorgetragene Deutung. 33 Auf diese Stelle weisen bereits NORDEN, Agnostos Theos 157 („das beste Beispiel einer solchen Prosadoxologie") und WÜNSCH, Hymnos 180 („rhythmische Prosa, die wie aufgelöste Poesie klingt"), hin. 34 Hier kommen wieder Homoioteleuton und Alliteration zum Einsatz: Nec dies nec quies ulta ac ne momentum quidem tenue tuis transcunit beneficiis otiosum ... („Kein Tag und keine Nachtruhe, nicht einmal ein kurzer Augenblick vergeht ohne deine Wohltaten ..."). 35 In diesem Zusammenhang findet sich auch eine Wendung, die wieder das Motiv der Überbietung anklingen läßt und uns einmal mehr auf Ovid führt: die .Mangelanzeige', daß dem Beter nicht „tausend Münder und ebensoviele Zungen" (ora mille linguaeque totidem) zur Verfügung stehen. Hierbei handelt es sich um einen Topos, der von Homer in die Dichtung eingeführt wurde und im Laufe der Zeit immer weitere Steigerungen erfahren hat: Spricht Homer (Dias II 489) noch von zehn Zungen und Mündern, sind es bei Vergil (Georg. Π 43 = Aeneis VI 625) bereits hundert und bei Ovid sogar tausend (Fasti Π119 - im Proömium eines Augustuslobes). Zur Wirkungsgeschichte dieser Wendung gehört auch das bekannte Kirchenlied aus dem 18. Jh. (EKG 238 = EG 330): „O daß ich tausend Zungen hätte / und einen tausendfachen Mund". - Die Selbstverkleinerung als Bescheidenheitstopos war uns auch in dem Messalla-Enkomion aus dem corpus Tibuilianum (TV 1 bzw. ΙΠ 7) begegnet (siehe oben Kap. Π. le, S. 89f

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Auf das Gebet an die „höchste Gottheit" (summum numen) folgt - „mit vielen Küssen an seinem Halse hängend" - der Abschied von ihrem Priester Mithras, der für Lucius mittlerweile zum „Vater" geworden ist (XI 25,7). Ziel seiner Fahrt ist zunächst die Heimat; aber schon nach ein paar Tagen geht es „auf Antrieb der mächtigen Göttin" in Windeseile nach Rom, der „heiligen Stadt", wo der Ich-Erzähler zu einem der eifrigsten Verehrer der „Isis vom Marsfeld" wird (XI26, 1-3). Hier erfährt er nach Ablauf eines Jahres erneut die „Fürsorge der wohltätigen Gottheit" (numinis benefici cura), die in einer neuerlichen Erscheinung im Traum von seiner bevorstehenden Weihe spricht - und das, obwohl er doch längst die Isis-Weihe empfangen hat (XI26,4f). Aufklärung dieses Rätsels geben die von ihm zu Rate gezogenen ortsansässigen Priester (sacrati): Er sei eben nur mit den Weihen der Göttin versehen, aber noch nicht mit den - völlig unterschiedlichen - Weihen ihres göttlichen Gatten Osiris, „des großen Gottes und höchsten Göttervaters" (magni dei deumque summi parentis) (XI27,If). Eine weitere Traumoffenbarung legt die Einzelheiten fest: Die Weihe soll erfolgen durch einen Priester (pastophorus), der an seinem Hinken aufgrund eines verdrehten Knöchels zu erkennen ist; später erfährt Lucius auch seinen Namen: Asinius Marcellus. Die Kommentierung des Namens durch den Erzähler - reformationis meae alienum nomen - zeigt, daß hier wieder einmal das Motiv der Überbietung mit dem der ironischen Brechung in humorvoller Absicht verbunden ist36 (XI 27,3-6). Der Priester ist - wie der bei der ersten Weihe - bereits selber durch den Gott instruiert worden: Er werde ihm einen verhältnismäßig armen Mann aus Madaura37 für die Weihe zuweisen; und durch seine Providentia werde dem Initianden Ruhm in den Wissenschaften, dem Priester aber ein großer Gewinn beschieden sein (XI 27,7). Zu einer Verzögerung der vorgesehenen Weihe führt die ungünstige finanzielle Situation des Romanhelden; aber durch den Verkauf seiner Kleidung kann er schließlich die erforderliche Summe aufbringen und wird nach einem zehntägigen Fasten und einer Rasur des Kopfes - in den nächtli-

mit Anm. 26); dem Rhetor Apuleius ist dieser Topos natürlich auch von seinem rhetorischen Hintergund her vertraut, wie bereits die ironische Entschuldigung für das .ungeübte' Latein des Ich-Eizähleis im Proömium der .Metamorphosen' (11,3) zeigt (vgl. dazu NORDEN, Kunstprosa 595 Anm. 1, sowie oben Kap. HL la, Anm. 7). 36 Durch den Bezug auf Lucius' ehemalige Verwandlung in einen Esel (asinus) bekommt der an sich nicht ungewöhnliche Name Asinius Marcellus die Bedeutung .kraftloser Esel' (von marcere = ,matt, schlaff, kraftlos sein'). Apuleius verwendet in seinem Roman durchweg Namen, die den Charakter der Trägerin bzw. des Trägers offenbaren (sog. .sprechende Namen'). Gelegentlich weist er sogar ausdrücklich darauf hin; vgl. VII 5,5 (zu dem angeblichen Räuber Haemus = .der Blutige') und V m 8,1 (zu Thrasyllos = temerarius = .der Verwegene'). 37 Lucius stammt nach 11,2 eigentlich aus Griechenland. Die Bezeichnug als Madaurensis (Madaura liegt in Nordafrika) bezieht sich offenbar auf Apuleius selbst, der hier einmal augenzwinkernd die Maske lüftet.

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chen Feiern des „Hauptgottes" (principalis dei) zum „Erleuchteten" (inlustratus) gemacht. Und die Investition zahlt sich aus: Der regelmäßige Teilnehmer am Gottesdienst von Isis und Osiris hat plötzlich auch großen Erfolg und reichliche Einnahmen als professioneller Rhetor auf dem Forum... (XI28). Als aber schon nach kurzer Zeit die Götter eine weitere, nunmehr dritte Weihe für Lucius vorsehen, wird dieser doch etwas skeptisch und fragt sich, ob die beiden Priester der vorangegangenen Einweihungen ihn vielleicht falsch oder unvollständig beraten haben könnten (XI 29,1-3). Ein erneutes Traumbild zerstreut jedoch seine Zweifel und erklärt ihm in einer kleinen Rede, daß die dreimalige Weihe eine besondere Ehre darstelle - und außerdem sein Mystengewand von der Isisweihe, das er jetzt in Rom an hohen Festtagen eigentlich tragen müßte, im Tempel in der Provinz geblieben sei (XI29,4f). So nimmt also der Ich-Erzähler erneut die Mühe des Fastens (diesmal freiwillig noch strenger als vorgeschrieben) und die Kosten für das Weihefest auf sich und wird abermals belohnt durch nochmals steigende Einnahmen als Rhetor, die er auf die Providentia der beiden Gottheiten zurückführt (XI 30, lf). Aber auch die dritte Weihe, die schon eine .Überbietung der Überbietung' darstellt, wird zu guter Letzt noch einmal überboten: Schon nach wenigen Tagen erscheint unserem .Helden' „der Gott, der mächtiger (ist) als die großen Götter und der höchste von den größeren und der größte von den höchsten und der Herrscher über die größten", nämlich Osiris38, höchstpersönlich im Traum, ermutigt ihn zur Fortsetzung seiner Tätigkeit auf dem Forum (trotz auftretender Neider) und wählt ihn obendrein zum fünf Jahre amtierenden Vorsteher des Priesterkollegiums (XI 30,3-5). Mit der Bemerkung des Erzählers, er habe das Amt „freudig" (gaudens) angenommen und seinen dafür notwendigen Kahlkopf · offen zur Schau getragen, endet der Roman (XI 30,5). Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Sprachformen religiöser Rede im letzten Buch der .Metamorphosen' des Apuleius immer wieder mit den Motiven der Überbietung und der ironischen Brechung verbunden sind. Damit wird die oben ausgesprochene Vermutung bestätigt, daß der religiöse Ernst des Romanschlusses nicht überschätzt werden sollte, sondern Apuleius eher dem Geist der ovidischen .Metamorphosen' verpflichtet ist. Wenn er mit seinem Eselsroman eine Art .Sittengemälde' seiner Zeit schaffen wollte, dann gehörte in diesen . M i k r o k o s m o s ' natürlich auch der Bereich der Religion hin-

38 deus deum magnorum potior et maiorum summus et summorum maximus et maximorum regnator Osiris (XI 30,3). Zweifellos geht diese Prädikationenreihe im Kern auf die im ägyptischen und semitischen Raum gebräuchlichen superlativischen Wendungen wie .König der Könige' (vgl. lTim 6,15) oder .Gott der Götter' (vgl. Ps 49,1) zuriick (so GRIFFITHS in seinem Kommentar, 341). Aber die vorliegende, als rhetorische .Klimax' (vgl. oben Kap. ΙΠ. lb, Anm. 41) gestaltete Reihe mit ihrer dreifachen Überbietung erscheint mir doch hart an der Grenze zur Parodie.

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Das Phänomen des Stilwechsels in antiken Texten

ein. Dieser ist schon in den ersten zehn Büchern präsent, wird aber dort eher nach seiner negativen Seite entfaltet (III 1-12: das Fest des Lachgottes; VIII24-IX10: die Bettelpriester der dea Syria). Was eignet sich besser für das große Finale, als den religiösen Bereich nun - wenn auch augenzwinkernd nach seiner positiven Seite hin zu entfalten? Und so, wie Apuleius in seiner Darstellung der Spielarten und Verirrungen der menschlichen Sexualität in Buch I - X offenbar eine gewisse Vollständigkeit angestrebt hat, so häuft er im elften Buch die Gattungen religiöser Rede, als wolle er nur ja keine auslassen: Wir finden ein Bitt- und ein Dankgebet (jeweils mit hymnischen Zügen), eine Selbstprädikation der Göttin Isis, eine JMissionspredigt', eine Seligpreisung und die Erwähnung eines Fürbittgebetes; ausführlich werden eine Prozession (wiederum mit Hymnengesang), ein göttlich gewirktes Wunder (die Verwandlung als »Heilung') und ein Einweihungsritual geschildert sowie weitere Einweihungen erwähnt; und Traumerscheinungen (mehrfach sogar als .Doppelträume')39 mit Offenbarungsreden durchziehen das ganze Buch. So ist der für den ganzen Roman charakteristische Wechsel von Stilebenen und Gattungen auch in Buch XI in erster Linie ein literarisches Mittel, das der Unterhaltung dient40 und einen wirkungsvollen Abschluß ermöglicht.41 Gegen 39 Die sog. .Doppelträume' - die gleichzeitige Traumeischeinung derselben Gottheit bei zwei verschiedenen Menschen - sind „entschieden wunderbar" (KERÉNYI, Romanliteratur 166) und in der antiken Romanliteratur ein sehr beliebtes Motiv (siehe die Stellenangaben ebd.; vgl. auch MERKELBACH, Roman und Mysterium 132f Anm. 2. 198f. 221. 242 Anm. 1. 276. 284f, sowie, ausgehend von Apg 9,10 und mit Beispielen aus anderen literarischen Bereichen, WIKENHAUSER, D o p p e l t r ä u m e ) .

40 Auch in anderen antiken Romanen sind Stil- und Genoswechsel ein geradezu typischer Zug: Vor allem Ekphraseis und naturwissenschaftliche oder philosophische Exkurse unterbrechen des öfteren die Handlung; und wie in der Geschichtsschreibung werden zur Auflockerung Reden oder Briefe in die Erzählungen integriert. Regelrecht hymnische Passagen sind das Gebet an Priapus bei Petronius, Satyricon 133 (1.Jh.n.Chr.), das Enkomion auf Eros bei Longos, Daphnis und Chloë Π 7 (2. Jh. n.Chr.) sowie der (pentametrische) Hymnus auf Thetis und Peleus innerhalb der Schilderung einer Kultfeier bei Heliodor, Aithiopika ΠΙ 2,4 (3.Jh.n.Chr.). Interessant ist auch Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon Π 1, wo der Inhalt eines von der weiblichen Hauptfigur gesungenen Liedes zum Lob der Rose (also ein poetischer Text) explizit .sinngemäß' in Prosa wiedergegeben wird. Im jüdischen Bereich ist v. a. auf den schwer datierbaren Roman ,Joseph und Aseneth' hinzuweisen, der in 8,10f und 12-13 Gebete (z.T. mit hymnischer Struktur) und in 15,7f einen Preis der personifizierten Umkehr (Metanoia) enthält. 41 Für die .Gegenprobe' eignet sich etwa der wohl ebenfalls im 2.Jh. n.Chr. entstandene und ebenfalls in Ich-Form geschriebene Traktat .Poimandres' (= Corpus Hermeticum I) - eine gnostische Offenbarungsschrift, deren religiöser Ernst außer Zweifel steht. Hier bildet das abschließende hymnische Gebet (§ 30-32; vom Verf. als ευλογία bezeichnet) die folgerichtige Antwort (διό!) auf den vorangegangenen, in § 1 - 2 9 ausführlich berichteten, Offenbarungsempfang (§ 30: ευεργεσία!) durch die Mittlergestalt Poimandres und knüpft auch inhaltlich mehrfach an das eben Offenbarte an. Der hymnische .Mittelteil' ist hier besonders auffällig strukturiert durch 3 x 3 anaphorische αγιος-Sätze, die nach der ersten Dreiergruppe von der 3. Person in die 2. Person wechseln. In der hymnischen .Bitte' wird das Gotteslob als „vemünfti-

Beispiele für Stilwechsel in antiken Prosatexten

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diese Deutung42 spricht auch nicht die Beobachtung, daß Apuleius seinem Romanhelden im ,Isis-Buch' autobiographische Züge verleiht (vgl. XI 27,7 der „Mann aus Madaura")43: Die „zahlreichen Einweihungen", die Apuleius auch in seiner Apologia erwähnt (§ 55), müssen einige Zeit vor seinem Prozeß, also vielleicht um oder kurz nach 150 n.Chr., stattgefunden haben; die wahrscheinliche Abfassungszeit des Romans liegt jedoch etwa 20 Jahre später.44 Dieser zeitliche Abstand und der sophistische Charakter des Apuleius sollten ausreichen, die ironische Distanz zu den einst selbst erfahrenen Weihen zu erklären - zumal es nicht beim Dienst für die Universalgöttin Isis und ihren Gatten Osiris geblieben ist: In Karthago, wo Apuleius nach seinem Prozeß lebte, war er Priester des Heilgottes Aesculapius und bekleidete gleichzeitig das Amt des Provinzialpriesters (sacerdosprovinciae) im Kaiserkult.45

Fassen wir zusammen: An zahlreichen Beispielen läßt sich erweisen, daß die Empfehlung von Stil- und Genos-Wechseln innerhalb eines Textes, wie sie in der antiken Stiltheorie durchweg ausgesprochen wird, in der Praxis ihre Entsprechung findet. Die in diesem Kapitel näher analysierten Texte - ergänzt durch die in den Anmerkungen genannten - zeigen insbesondere, daß die Verwendungsmöglichkeiten von stilistisch gehobenen epideiktischen Passagen in Prosatexten ebenso vielfältig sind wie die entsprechende Verwendung der Hymnenform innerhalb von poetischen Werken. So haben wir .hymnische' Passagen auch in den eben untersuchten Prosatexten sowohl an herausragender Stelle (im Proömium, im Finale oder als Herzstück') als auch mitten innerhalb der Argumentation (als Teil derselben oder als Exkurs) angetroffen - immer jedoch fest im Kontext verankert. ge, reine Opfer" bezeichnet (δέξαι λογικάς θυσίας ά γ ν ά ς - vgl. dazu TestLev 3,6; Philon, Spec. Leg. I 272. 277; im NT: Rom 12,1; IPetr 2,2.5; Hebr 13,15); hier fallen auch drei negative Gottesprädikationen („Unaussprechlicher, Unsagbarer, nur im Schweigen zu Nennender"). In diesem Text ist der feierliche Abschluß nicht bloß literarisches Mittel, sondern liegt auf einer Linie mit dem Kontext. - Ähnliche Gebetshymnen finden sich auch als Abschluß anderer Traktate aus dem Corpus Hermeticum: siehe V 10-11; ΧΙΠ 1 5 - 2 2 (bzw. 17-20); Asclepius 41 (vgl. dazu die Anmerkungen in der Ausgabe von NOCK/FESTUGIÈRE; weitere Literatur zu diesen Stücken ist bei LATTKE, Hymnus 147, angeführt). 42 Recht instruktive Bemerkungen zur „Mischung von Scherzen, ja Schlüpfrigem mit Ernstem und Heiligem" bei Apuleius und generell in der Antike finden sich bei MERKELBACH, Roman und Mysterium 8 6 - 8 9 (Zitat: 89) - nur zieht der Verf. aus dieser Beobachtung genau die entgegengesetzte Schlußfolgerung wie ich. 43 Zu den autobiographischen Elementen siehe ausführlicher den ersten Abschnitt der "Introduction" im Kommentar von GRIFFITHS, 1 - 7 . 44 Siehe zur Datierung den Abschnitt Π der "Introduction" im Kommentar von GRIFFITHS, 7 - 1 4 , sowie die „Einführung" in der SQAW-Ausgabe von HELM, 34. 45 Vgl. Florida 16,38; siehe auch DÖRRIE, KP I (1964), 471f (nach Augustin, ep. 138,19).

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Das Phänomen des Stilwechsels in antiken Texten

Auch die Motivation für die epideiktischen Passagen ist durchaus unterschiedlich und erschließt sich erst bei angemessener Berücksichtigung des literarischen Zusammenhangs: Bei den .hymnischen' Abschnitten kann echte religiöse Ergriffenheit, aber auch literarisches Kalkül und Unterhaltungsabsicht ausschlaggebend sein; bei den ,enkomiastischen' (Menschen betreffenden) Partien ist im allgemeinen auch ein symbuleutisches Element enthalten, indem die gelobte Person zugleich als Vorbild hingestellt wird. Selbst die eindeutig parodistische Verwendung von hymnischen Topoi kann (wie in Ciceros Rede gegen Catilina) einen ernsten politischen Hintergrund haben und so in den Dienst der symbuleutischen Argumentation gestellt werden. Umgekehrt kann (wie in Philons .Legatio') das überschwengliche Lob eines Menschen oder Gottes innerhalb einer Schmähschrift ein positives Gegenbild darstellen und so die polemische Kritik verstärken. Da das rhetorische γένος έπιδεικτικόν eben aus Lob und Tadel besteht, bildet die Polemik gewissermaßen das natürliche Gegenstück zum Enkomion. A m weitesten geht in dieser Beziehung jedoch Kleomedes, der auf engstem Raum einen hochfeierlichen Lobpreis der Sonne und eine an Grobheit kaum zu überbietende Polemik gegen Epikur miteinander verbindet. Aus all diesen Fällen läßt sich lernen, daß die epideiktischen Passagen in neutestamentlichen Texten - und auch das Nebeneinander von lobenden und polemischen Abschnitten - ganz den literarischen Konventionen ihrer Zeit entsprechen und auf keinen Fall vorschnell von ihrem Kontext isoliert werden dürfen. Nun haben wir diese Erkenntnis an den unterschiedlichsten literarischen Prosagattungen gewonnen: philosophischen Dialogen und Vorträgen, politischen Reden und Schmähschriften, religionsphilosophischen Schriften biographischen und apologetischen Inhalts, naturwissenschaftlichen Lehrbüchern und erotischen Abenteuerromanen — ganz zu schweigen von unseren analogen Beobachtungen in der Dichtung (Kap. II. 1). Im Neuen Testament dagegen haben wir es überwiegend mit Briefen zu tun - einer möglicherweise ,unliterarischen' Gattung. Gilt unsere Erkenntnis zum literarischen Phänomen des Stilwechsels auch hier? Dies hat das folgende Kapitel anhand von Theorie und Praxis antiker Briefe zu erweisen.

IV. Zum literarischen Charakter der Gattung,Brief

1. Zur antiken Brieftheorie Seit H A N S D I E T E R B E T Z den Galaterbrief nach dem Dispositionsschema der antiken Rhetorik analysiert hat1, ist die Diskussion über die Berechtigung eines solchen Vorgehens nicht zum Stillstand gekommen. Auf der einen Seite ist das Verfahren grundsätzlich akzeptiert worden - unbeschadet der Kritik an manchen Punkten der von B E T Z vertretenen Analyse des Galaterbriefes2 - , so daß mittlerweile für alle neutestamentlichen Briefe entsprechende rhetorische Analysen vorliegen.3 Auf der anderen Seite ist jedoch darauf hingewie-

1 Zuerst 1974 in einem Vortrag auf der Jahrestagung der SNTS (Composition), ausgiebig durchgeführt dann in seinem 1979 auf englisch erschienenen Kommentar (Galaterbrief, 1988 in deutscher Übersetzung, hier bes. 54-72). Laut BETZ hat der Gal als „apologetischer Brief' nach Abzug des Briefpräskriptes (1,1-5) den Aufbau einer Verteidigungsrede mit den Redeteilen exordium (1,6-11), narratio (1,12-2,14), propositio (2,15-21), probatio (3,1-4,31), exhortatio (5,1-6,10) und einer conclusio (6,11-18), die zugleich als Briefpostskript fungiert. E b e n f a l l s 1974 u n d a n s c h e i n e n d u n a b h ä n g i g von BETZ h a t KLAUS BERGER aus d e m Vergleich

der Paulusbriefe mit hellenistisch-jüdischer Literatur (Prophetenbrief, Testament, Apokalypse) gefolgert, „daß die Apostelbriefe schriftlich fixierte, adressierte apostolische Rede sind" (Apostelbrief 231) - allerdings ohne diese These mit den Vorschriften der rhetorischen Lehrbücher zu verbinden. 2 Z u r Kritik vgl. n e b e n d e n R e z . von AUNE ( R S t R 7 [1981], 3 2 3 - 3 3 8 ) u n d HÜBNER ( T h L Z 109 [1984], 2 4 1 - 2 5 0 ) bes. KENNEDY, N T I n t e r p r e t a t i o n 1 4 4 - 1 5 2 ; SMIT, G a l a t i a n s .

Wider-

spruch erregte vor allem die Klassifizierung des Galaterbriefes als .apologetisch' (die genannten Autoren schlagen als Alternative die symbuleutische [beratende] Redegattung vor). Aber auch der paränetische Abschnitt 5,1-6,10 stellt für die rhetorische Analyse ein Problem dar, weil er in den antiken Rhetorik-Lehrbüchern nicht als Redeteil vorgesehen ist; BETZ verschleiert dieses Problem, indem er hier - in Abweichung von der rhetorischen Terminologie - die Bezeichnung exhortatio im Sinne eines Redeteiles verwendet. Umstritten ist darüber hinaus die Zuordnung von 5,1-12 (noch probatio oder schon Paränese?) sowie der Beginn der narratio (1,11? 1,12? 1,13? - vgl. die widersprüchlichen Aussagen bei BETZ selbst: Galaterbrief 118. 122. 124. 136). - Alle hier genannten Kritikpunkte erwachsen aus der Methode selbst und stellen sie nicht grundsätzlich in Frage. 3 Vgl. die Aufzählung bei STRECKER, Literaturgeschichte 89 f, die ausdrücklich als .Auswahl" bezeichnet wird und sich mühelos erweitern ließe. - Interesse verdienen daneben bes. die Festschrift für G. A. Kennedy, der als Altphilologe selbst die neutestamentliche Rhetorik-

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Zum literarischen Charakter der Gattung ,Brief

sen worden, daß sich bei den antiken Theoretikern keine Anweisungen für die Gliederung von Briefen nach dem Schema von Reden finden, sondern im Gegenteil Brief und Rede streng voneinander zu unterscheiden seien.4 Diese Debatte können wir im Zusammenhang unserer Untersuchung nicht in extenso führen. Wichtig erscheinen mir jedoch zwei Erkenntnisse: Erstens ist - wie wir oben auch in bezug auf Lobreden und Stilwechsel festgestellt haben - neben der Theorie auch die Praxis zu berücksichtigen. Dabei läßt sich nämlich zeigen, daß antike Briefe in der Regel tatsächlich einem rhetorischen Dispositionsschema folgen.5 Zweitens sind aber auch die Aussagen der antiken Theorie durchaus nicht einheitlich, was die angebliche strenge Trennung von Brief und Rede angeht. Auf den ersten Punkt kommen wir etwas später zurück; hier soll es zunächst um eine Durchsicht der theoretischen Aussagen zum Thema 3 n e f gehen. Dabei ergibt sich das Problem, daß für den von uns betrachteten Zeitraum (bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr.) keine eigenständige Brieftheorie überliefert ist. Es finden sich jedoch Reflexionen über den Brief als literarische Gattung an verstreuten Stellen in Stiltheorien, in Rhetorik-Lehrbüchern und nicht zuletzt in Briefen selbst.6 Auf den Exkurs zum Briefstil in der Schrift Περί ερμηνείας des Demetrios (§223-235) sind wir bereits im Zusammenhang der antiken Stiltheorien auf-

Forschung angeregt hat (Peisuasive Artistry, JSNT.S50, 1991), sowie der 1993 erschienene Sammelband "Rhetoric and the New Testament" (JSNT. S 90), der aus einer 1992 in Heidelberg abgehaltenen "Conference" zum Thema hervorgegangen ist. 4 So v. a. CLASSEN, Paulus und die antike Rhetorik, und ders., St. Paul's Epistles, sowie REED, Using Ancient Rhetorical Categories. 5 Vgl. dazu PROBST, Paulus und der Brief 5 5 - 1 0 7 (Kapitel 4: „Die Form des antiken Briefes"; Zusammenfassung ab 99), und die dort genannten Spezialuntersuchungen zu den einzelnen Briefcorpora. - Hierbei ist daran zu erinnern, daß auch die Vorschriften fur die Gliederung einer Rede nicht in allen Handbüchern - und dort wiederum nicht für alle Redegattungen! genau gleich sind: Aristoteles hält nur zwei Redeteile für notwendig (Angabe des Themas und Beweisführung), kennt aber fünf gängige Redeteile (keine Zweiteilung der Argumentation) und etliche weitere Untergliederungen (Rhet. ΠΙ 13; vgl. oben Kap. Π. 2a, S. 115ff mit Anm. 24); die Rhet. ad Alex, gibt für die beratende und die gerichtliche Rede ein fünfteiliges Schema (keine eigenständige Ankündigung des Beweiszieles), aber abweichende Varianten für epideiktische und prüfende Reden (vgl. oben Kap. Π. 2a, S. 120ff mit Anm. 57). Dagegen nennt die Rhet. ad Her. (I 3,4) sechs Redeteile (bei Zweiteilung der Argumentation), gesteht aber für die Lobrede einen Verzicht auf die narratio zu (vgl. oben Kap. Π. 2a, S. 124 mit Anm. 65). Nach Quintilian, der für die Gerichtsrede von fünf Redeteilen ausgeht (Inst. 1 9 , 1 ; ausführlich Inst. IV—VI), braucht die Beratungsrede weder ein Proömium noch eine narratio (Inst. ΠΙ 8,6.10), während die Gliederung der Lobrede ganz anderen Gesetzen folgt (Inst. ΠΙ 7,10-18; vgl. oben Kap. Π. 2a, S. 129f). 6 Von den bei SYKUTRIS, Epistolographie 189f, genannten Texten sind einige bei MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists 16-29, zusammengestellt (mit englischer Übersetzung).

Zur antiken Brieftheorie

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merksam geworden.7 Demetrios sieht den Brief als kurzen Freundschaftsbeweis (231) und fordert für ihn einen schlichten Stil, gepaart mit Anmut (223. 235). Er zitiert den Herausgeber der Briefe des Aristoteles, Artemon, der den Brief als „die eine Hälfte eines Dialoges" (τό ετερον μέρος του διαλόγου) angesehen und daher für beide den gleichen Stil gefordert habe (223), schließt sich dieser Meinung jedoch nur zum Teil an: Da der Dialog spontane Rede nachahme, der Brief aber in schriftlicher Form eine Art Geschenk (δώρον) darstelle, müsse dieser schon etwas sorgfältiger angefertigt werden (ύποκατεσκευάσθαι) (224). Manche Dialogpartien (wie etwa der Anfang von Piatons ,Euthydemos') seien auch eher für einen Schauspieler (υποκριτής) als für einen aufgeschriebenen Brief geeignet (226). Demetrios nimmt noch weitere Abgrenzungen vor: Einen Satz aus einem Brief des Aristoteles an Antipater kommentiert er mit der Feststellung, das klinge eher nach einer epideiktischen Rede als nach einem normalen Plauderton (έπιδεικνυμένω εοικεν μάλλον, ου λαλοΰντι) (225). In bezug auf die Länge warnt er vor zu großer Ausführlichkeit, damit nicht statt echter Briefe (την άλήθειαν έπιστολαί) Abhandlungen mit vorgesetzter Briefanrede (συγγραμματα, τό χαίρειν έχοντα προσγεγραμμένον) entstehen (228, vgl. 234, wo die Briefe des Aristoteles an Alexander und die des Piaton an Dions Angehörige [= ep. 7 u. 8] als Beispiele für dieses Vergehen genannt werden). Auch die Wortfügung (σύνταξις) sollte in Briefen etwas lockerer gehandhabt werden; geradezu lächerlich sei es, Perioden zu bauen, als wolle man nicht einen Brief, sondern eine Gerichtsrede schreiben (ώσπερ ούκ έπιστολήν, αλλά δίκην γράφοντα) (229). Wer sich über gelehrte und naturphilosophische Fragestellungen (σοφίσματα και φυσιολογίαι) äußere, der schreibe zwar - aber doch keinen Brief! (γράφει μεν, ου μην έπιστολήν γράφει) (231). Ein gewisses Maß an Sprichwörtern gesteht Demetrios dem Briefeschreiber zwar zu - aber wer sich in Sentenzen und Ermahnungen ergehe, der rede nicht mehr nach Art eines Briefes, sondern nach Art einer Zitiermaschine (ό δέ γνωμολογών και προτρεπόμενος ού δι' έπιστολής έ'τι λαλοΰντι έ'οικεν, άλλα μηχανής)8 (232). Demetrios hat also sehr klare - aber auch sehr enge - Vorstellungen davon, wie ein Brief auszusehen habe. Daß er gegen bestimmte Beispiele aus der Praxis (darunter Briefe so prominenter Autoren wie Piaton und Aristoteles) polemisiert, zeigt immerhin, daß seine Ansicht vom Brief mit ihrer scharfen Abgrenzung gegen alles Rednerische, Literarische und Theatralische nicht die einzig mögliche ist. Seine Bemerkung über Aristoteles' Brief an Antipater

7 Vgl. oben Kap. ΙΠ. 1 b, S. 186 (zur Datierung um 100 v. Chr. siehe ebd. S. 182 Anm. 17). 8 Mit μηχανή werden künstliche Vorrichtungen aller Art bezeichnet, vor allem aber im Bereich der Kriegführung die Belagerungsmaschine und im Bereich des Theaters die Vorrichtung, mit der bei Bedarf ein Gott von oben in die Handlung herabgelassen werden kann (der sprichwörtliche deus ex machina). Den Ausdruck ,Zitiermaschine' entnehme ich der Übersetzung von HOFMANN (Antike Briefe 125), die freilich insgesamt etwas zu frei bzw. ungenau ist.

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(225) gibt uns zudem einen ersten Hinweis, daß sich epideiktische Elemente auch in Briefen ausmachen lassen. Quintilian äußert sich in seiner Redelehre nur einmal (Inst. IX 4,19f) über den Stil von Briefen. Im allgemeinen sind auch für ihn Gespräch (sermo) und Briefe (epistulae) im Vergleich zu anderen Formen der Rede (oratio) ungebunden (soluta) oder doch zumindest lockerer (laxiora). Er nennt jedoch gleich die Ausnahme zu dieser Regel: „wenn diese nicht etwas behandeln, was über ihr eigentliches Wesen hinausführt, so etwa Fragen der Philosophie, der Staatsgemeinschaft und Ähnliches."9 - Wir sehen daraus, daß für Quintilian Briefe erstens eine Form der Rede (oratio!) darstellen und zweitens auch dann noch Briefe sind, wenn sie sich mit philosophischen, politischen und ähnlichen Fragestellungen befassen. Hier wird also die Gattungsfrage bei weitem nicht so restriktiv gehandhabt wie bei Demetrios. Äußerungen Ciceros in seinen Briefen10 zeigen zumindest seine Reflexi onsbereitschaft über grundsätzliche Fragen der Brieflichkeit, möglicherweise sogar Kenntnis einschlägiger Vorschriften.11 Er deutet an, daß es „viele Arten von Briefen" (epistularum genera multa) gebe, nennt dann jedoch nur drei: den Brief als Übermittlung von Informationen an Abwesende (weswegen die Gattung überhaupt erfunden worden sei) sowie zwei ihm besonders liebe genera: das eine freundschaftlich und scherzhaft, das andere ernst und gewichtig (unum familiare et iocosum, alterum severum et grave) - letzteres besonders für politische Fragen geeignet (Ad fam. II 4, l). u Für Cicero ist der Brief ebenfalls eine Form der Rede (bzw. ein halbiertes Gespräch), wie die immer wiederkehrenden Wendungen nach dem Muster ,als ob ich zu dir rede' (quasi tecum loquor o. ä.)13 zeigen (Ad. Att. I 16,8; VIII 14,1; IX 10,1; XII 39,2; 53; Ad fam. III 11,1; XII 30,1; Ad Quintum fratrem 11,45). Aber schon bei Isokrates läßt sich eine große Nähe zwischen seinen Reden und seinen Briefen feststellen. So kommt es vor, daß er seine Reden als Briefe verschickt: den ,Philippos' (or. 5) als Beratungsschreiben an den gleichnamigen König von Makedonien, den ,Busiris' (or. 11) als Lektion in Rhetorik

9 nisi cum aliquid supra naturarti suam tractant, ut de philosophia, de re publica similibusque. 10 Vgl. bes. die Zusammenstellung von MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists 20-27. Daß angesichts der Uneischöpflichkeit von Ciceros Briefwechsel in einem Zusammenhang wie dem unsrigen „nur der Faden vom Saum seiner Toga beschrieben" werden kann, hebt THRAEDE, Brieftopik 27 f Anm. 39, zu Recht hervor. 11 Das vermutet MALHERBE, a.a.O. in der "Introduction", 3; vgl. schon KOSKENNIEMI, Phraseologie 32f; THRAEDE, Brieftopik 27f. 12 Diese Zweiteilung deckt sich mit der Unteischeidung zwischen öffentlichen und privaten Briefen (publicae bzw. privatae litterae), die Cicero in seiner Rede Pro Fiacco (§ 37) vornimmt. 13 Vgl. dazu die Einleitungsformel zur fingierten Rede der patria in Ciceros erster Rede gegen Catilina, § 18: Quae [sc. patria] tecum, Catilina, sic agit et quodam modo tacita loquitur. (Zur darauf folgenden Rede, die eine Hymnenparodie darstellt, siehe oben Kap. ΙΠ. 2 a, S. 217f).

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an seinen älteren Kollegen Polykrates - letzteres zugleich ein Beispiel für eine epideiktische Rede innerhalb einer symbuleutischen.14 Brieflichen Charakter weist auch seine Rede ,Αη Nikokles' (or. 2) auf. Aus diesen Beobachtungen an der Praxis läßt sich erkennen, daß der Unterschied zwischen Brief und Rede für Isokrates nicht so erheblich sein kann. Dies wird durch die theoretischen Bemerkungen in seinen Briefen bestätigt15: In seinem zweiten Brief an Philipp betont er, daß seine brieflichen Äußerungen fast dieselben wie die der übersandten Rede (eben des .Philippos') seien - nur viel kürzer (ep. 3, l)16; in seinem ersten Brief an Philipp äußert er die (gespielte?) Befürchtung, bereits vom rechten Maß eines Briefes in die Länge einer Rede abgedriftet zu sein (ep. 2,13)17. Derselbe Brief beginnt mit der Feststellung, daß zwar alle den Lobrednern dankbarer seien als den Ratgebern (πάντες είώθασι πλείω χάριν ε χειν τοις έπαινοϋσιν η τοις συμβουλεύουσιν) — besonders wenn der Rat ungefragt erteilt werde - , Isokrates aber doch genau dies unternehmen wolle (ep. 2,1). Dieser Gedanke bestimmt in etwas ausführlicherer Form auch das Proömium des Briefes an Archidamos (ep. 9,1-7) - hier mit dem Gegensatzpaar έγκωμιάζειν und παρακαλεΐν und einer Skizze, wie die entsprechende Lobrede auf Archidamos (laut Isokrates die viel leichtere Aufgabe!) auszusehen hätte (§ 3-5). 18 Was das Ratgeben (συμβουλεύειν) betrifft, so gesteht Isokrates in seinem Brief an Dionysios von Syrakus (ep. 1) ein, daß die persönliche Anwesenheit

14 Zum .Busiris' siehe ausführlich oben Kap. Π. 2b, S. 150ff; die Frage der Brieflichkeit dieser Rede ist ebd. Anm. 26 besprochen (mit Hinweis auf den ,Philippos'). - Überhaupt sind fast alle Reden des Isokrates gar nicht für den mündlichen Vortrag, sondern zur Lektüre bestimmt, da ihn nach eigenen Aussagen mangelnder Mut und Schwäche der Stimme am öffentlichen Auftreten gehindert haben (vgl. Philippos 81; Panathenaikos 9f; ep. 8,7; anspielungsweise ep. 1,9). 15 Die brieftheoretischen Äußerungen in den Isokrates-Briefen sind nach meiner Wahrnehmung in der bisherigen Forschung zur antiken Brieftheorie so gut wie gar nicht berücksichtigt. 16 παραπλήσια μέν τοις έν τω λ ό γ ω γεγραμμένοις, πολύ δ' εκείνων συντομώτερα. Die Echtheit dieses Briefes ist in der Forschung gelegentlich bestritten worden, wird aber überwiegend akzeptiert; vgl. VAN HOOK in seiner Ausgabe (LCL 373), 401 u. 367f. 17 προς δέ τούτοις φοβούμαι την ά κ α ι ρ ί α ν και γ α ρ νυν κατά μικρόν προϊών ελαθον έμαυτόν ούκ εις επιστολής συμμετρίαν ά λ λ ' εις λόγου μήκος έξοκείλας. - Hierbei könnte es sich um eine rhetorische Floskel zur captatio benevolentiae handeln, da Isokrates auch in seinen Reden öfters entsprechende Bemerkungen zur Rechtfertigung ihrer Länge macht (vgl. Areopagitos 18; Antidosis 268; unter den Briefen auch 4,13 u. 8,10, die sogar etwas kürzer sind). - Übrigens entspricht die Länge dieses Isokrates-Briefes ungefähr der des paulinischen Philipperbriefes (also noch nicht einmal des längsten Paulus-Briefes!). 18 Vgl. zu dieser Stelle BURGESS, Epideictic Literature 130f, der im Anschluß an die spätere Theorie (.Menandros') von einem "βασιλικός λ ό γ ο ς in outline" spricht. Als typische Lobreden-Topoi fallen die Stichwörter ευγένεια, άνδρία, σωφροσύνη und φρόνησις, und durchgängig wird auf die Taten des Königs Bezug genommen. - Zur Echtheit des Briefes siehe VAN HOOK in seiner Ausgabe (LCL 373), 471 u. 367f.

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(συνουσία) dem brieflich erteilten Rat vorzuziehen sei; von den drei angeführten Gründen ist besonders der zweite interessant: Das Gesprochene werde eher geglaubt als das Geschriebene, weil ersteres als Vorschlag (είσηγημα), letzteres als sprachliches Kunstwerk (ποίημα) aufgenommen werde (§ 2).19 Daher betont er im selben Brief, er wolle keine Abhandlung (σύγγραμμα) und keine Erweise seiner Redekunst (επιδείξεις) vorlegen (§ 5Í).20 Isokrates betrachtet also den Brief in bezug auf seine sprachliche Gestaltung eindeutig als literarische Gattung21, von der Rede nur durch die geringere Länge unterschieden; inhaltlich geht es offenbar in erster Linie um Beratung, aber auch das Lob ist für ihn ein denkbarer Brieftopos - somit könnte man in den (freilich erst nach Isokrates entwickelten) Kategorien der Rhetorik von ,symbuleutischen' und ,epideiktischen' Briefen sprechen. Ausführlichere Äußerungen zur brieflichen Theorie sind erst nach dem 2. Jahrhundert n. Chr. zu finden und zeigen einen deutlichen Hang zur stärkeren Systematisierung - wie es für die spätere Zeit offenbar charakteristisch ist.22 So unterscheidet eine Brieftypologie, die unter dem Namen des Demetrios von Phaleron überliefert ist, aber in ihrer vorliegenden Form wohl aus dem 2./ 3.Jahrhundert n.Chr. stammt23, insgesamt 21 Τύποι έπιστολικοί (Titel), die an kurzen Beispielen illustriert werden. Uns braucht hier nur zu interessieren, daß unter den genannten Briefsorten auch Lob und Tadel vorgesehen sind: Außer einem regelrechten επαινετικός [sc. τύπος] (Nr. 10), der freilich mit seinem Lob des Adressaten vor allem dessen Ermunterung zu weiterem Wohlverhalten verfolgt (παρακαλώμεν), gibt es noch den .empfehlenden' (συστατικός) Brieftyp, der ein Lob (έπαινος) einer bestimmten Person enthält (Nr. 2); 19 Die anderen beiden Gründe sind: Ein Gespräch zu einem Thema bei Anwesenheit beider Partner (παρών προς παρόντα) sei leichter als die Darlegung per Brief (§ 2); und Zweifel oder Mißverständnisse könnten bei Abwesenheit des Schreibenden (απόντος του γράψαντος) nicht ausgeräumt werden (§ 3; vgl. dazu Piaton, Phaidros 275 e). - Vgl. auch ep. 3,4. 20 Von der έπίδειξις (als bloßer .Schaurede' im Gegensatz zum άγων) distanziert sich Isokrates auch in seinen Reden, z.B. Busiris 44; Philippos 17.93. Vgl. oben Kap. Π. 2b, Anm. 5. 21 Das zeigt sich auch an seiner Entschuldigung im Brief an Timotheos, er hätte sich „anmutige^' (χαριέστερον) ausgedrückt, wenn er den Brief nicht so ganz und gar in Eile hätte schreiben müssen (εί μή παντάπασιν εδει με δια ταχέων γράψαι την έπιστολήν) (ep. 7,10). - In dieselbe Richtung geht es, wenn (viereinhalb Jahrhunderte später) Plinius d. J. darüber klagt, daß er im Rahmen seiner Amtstätigkeit zwar sehr viele, aber leider völlig unliterarische Briefe (plurimas sed inlitteratissimas litteras) abzufassen habe (ep. 110,9; den Hinweis verdanke ich CURTIUS, Literatur 159). 22 Für die Theorie der Lobrede hatten wir dies oben Kap. Π. 2a, S. 141 ff festgestellt. 23 Vgl. KEYES, Letter of Introduction 2 8 - 3 0 , dem sich KOSKENNIEMI, Phraseologie 54f, und THRAEDE, Brieftopik 26, anschließen. - Der Text ist (nach der Ausgabe von WEICHERT) abgedruckt und übersetzt von MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists 30-41; vgl. auch Epìstolographi Graeci (ed. HERCHER) 1 - 6 .

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Lob im weiteren Sinne bieten auch der .gratulierende' (συγχαρητικός, Nr. 19) und der .dankende' (άπευχαριστικός, Nr. 21) Brieftyp. Während der ψεκτικός (τύπος) (Nr. 9) das Böse einer Person aufzeigt, geht der .klagende' (μεμπτικός) Typ (Nr. 3) in seiner Kritik offenbar nicht ganz so weit. Kritik, die nach Entschuldigung verlangt, übt der .zurechtweisende' (νουθετητικός) Typ (Nr. 7), eine Rüge für Fehlverhalten des Empfängers erteilt der επιτιμητικός (Nr. 6), und Vorwürfe werden im όνειδιστικός (Nr. 4) aufgestellt. - Eine regelrechte Anklage enthält der κατηγορικός (Nr. 17), und das impliziert natürlich das Gegenstück eines απολογητικός (Nr. 18), womit aber bereits die Begrifflichkeit eines anderen rhetorischen Genos eingeführt ist: des gerichtlichen (γένος δικανικόν). Daneben bildet auch der .beratende' (συμβουλευτικός) Brieftyp eine eigene Kategorie (Nr. 11). - Was die sprachliche Gestaltung betrifft, so ist der Verfasser der Ansicht, daß Briefe „so kunstvoll wie möglich" (ώς τεχνικώτατα) geschrieben werden sollten (Proöm.). Ebenfalls aus dem 3. Jahrhundert ist eine Anleitung zum Briefeschreiben erhalten, die aus der Feder des Philostratos von Lemnos (.Philostratos III.') stammt, aber in vielen Handschriften als einleitender Brief zu den erotischen Briefen seines Onkels Flavius Philostratos (philostratos II.') überliefert ist. Hintergrund des Beitrags ist eine längere Auseinandersetzung mit Aspasios von Ravenna, der als kaiserlicher Sekretär ab epistulis Graecis für die Abfassung griechischer (amtlicher) Briefe zuständig war.24 Philostrat spricht hier vom Brief als einer Art der Rede (ό επιστολικός χαρακτηρ του λόγου) und nennt als vorbildliche Briefautoren die Philosophen [Apollonios] von Tyana und Dion [von Prusa], den Politiker Brutus (bzw. seinen "Ghostwriter"), den Kaiser Marcus [Aurelius] und den Rhetor Herodes von Athen - obwohl letzterer oft durch übermäßigen Attizismus und übermäßige Geschwätzigkeit den einem Brief angemessenen Stil verfehle25. Von hier aus kommt Philostrat zu einer positiven Bestimmung des Briefstiles: Dieser müsse zwischen dem attizistischen Literaturstil und der Umgangssprache liegen; zierlich sein, ohne geziert zu wirken. Wohlabgerundete Perioden (hier als κύκλοι bezeichnet) seien nur in ganz kurzen Briefen am Platz; ein längerer wäre dadurch zu nah am Stil der öffentlichen Rede (άγωνιστικώτερον) - lediglich für den Schluß des Schreibens, wo das Gesagte zusammengefaßt oder der Gedanke auf einen Punkt gebracht werden soll, gesteht Philostrat eine Ausnahme zu.26 Deutlich24 Vgl. dazu BOWERSOCK, Greek Sophists 92 sowie 50-57; zu den verschiedenen Trägern des Namens Philostratos auch GÄRTNER, KP IV (1972), 779-784. - Der Text ist (nach der Philostrat-Ausgabe von KAYSER, Bd. Π, 257f) von MALHERBE, a.a.O. 42/43, abgedruckt und übersetzt (vgl. auch Epistolographi Graeci [ed. HERCHER] 14f). 25 ύπεραττικίζων δέ και ΰπερλαλών εκπίπτει πολλαχοΰ του πρέποντος έπιστολη χαρακτηρος. 26 πλήν εί μή που έπί τελευτης των έπεσταλμένων η ξυλλαβεΐν δέοι τα προειρημένα η ξυγκλεΐσαι το έπί πασι νόημα. - Vgl. dazu die Definition des Schlußteils der Rede (παλιλλο-γία/conclusici/peroratici) in den Rhetorik-Handbüchern.

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keit (σαφήνεια) aber, eine gute Führerin für jede Rede, sei dies besonders für einen Brief; denn mit ihr könne man bei jedem Anliegen leichter überzeugen (ραον πείσομεν).27 Offenbar in Kenntnis dieser Anleitung äußert sich am Ende des 4. Jahrhunderts der ,große Kappadokier' Gregor von Nazianz in einem Brief an Nikobulos (ep. 51) zur Frage des korrekten Briefstils.28 Er hebt drei Aspekte hervor: Kürze (συντομία) sei keine Tugend an sich, sondern die Länge eines Briefes müsse dem Thema entsprechen (§ 1-3) 29 , Deutlichkeit (σαφήνεια) bestehe im Treffen der richtigen Stilebene zwischen Redeton (τό λογοειδές) und Gesprächston (τό λαλικόν) (§ 4), und Anmut (χάρις) werde durch den sparsamen Gebrauch von Sentenzen, Sprichwörtern und rhetorischen Schmuckmitteln erzielt - wobei Gregor die αντίθετα και πάρισα καί ίσόκωλα (also die ,gorgianischen Figuren') lieber den Sophisten überlassen oder höchstens spielerisch (ώς καταπαίζοντες) verwenden möchte (§5-6). Mit einer kleinen Fabel verdeutlicht er noch einmal seine Ansicht, daß der Brief eine natürliche, ungekünstelte Schönheit aufweisen sollte (§ 7). Der gleichfalls im 4. Jahrhundert lebende Rhetoriker Julius Victor behandelt am Ende seiner Ars rhetorica die Gattungen Gespräch (Kap. 26: De sermocinatione) und Brief (Kap. 27: De epistulis).30 Das Gespräch (sermo) - viel häufiger im Gebrauch als die Rede (oratio) - sollte als höchste Tugend „Eleganz ohne Prunk" aufweisen.31 Das bedeute gemäßigte Verwendung von (nicht zu weit hergeholten) Metaphern, altertümlichen Ausdrücken oder hervorstechenden Figuren, Verzicht auf lange Sätze mit Periodenstruktur und alle rhetorischen Kunststücke (omnes rhetoricae palaestrae), die zwar der Rede Vollmacht (auctoritas) verleihen, aber dem Gespräch die Glaubwürdigkeit (fides) muben (p. 103,9-16). Viele der Vorschriften für das Gespräch treffen nun nach Julius Victor auch für den Brief zu (105, lOff). Er unterscheidet jedoch zweierlei Arten (species) von Briefen: offizielle bzw. geschäftliche (negotiales) und freund-

27 Die Forderung nach Deutlichkeit ist uns im Rahmen der Stiltheorie immer wieder begegnet und gilt für jede Art von Literatur; vgl. oben Kap. ΠΙ.lb, S. 181 (Aristoteles), 185 (Demetrios), 190 (Rhet. ad Her.; s. dort auch Anm. 56), 197 u. 197 (Dionysios v. Halik.). 28 Text (ed. GALLAY, GCS 53) und englische Übersetzung bei MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists 5 8 - 6 1 (vgl. auch Epistolographi Graeci[ed. HERCHER] 15f). 29 Dieser Gedanke wird mit einem Vergleich illustriert: Auch Bogenschützen können ihr Ziel auf zweierlei Art verfehlen - durch zu kurzes oder durch zu weites Schießen (1). 30 Beide Kapitel sind (mit deutscher Übersetzung) in der Sammlung .Antike Briefe' (ed. HOFMANN), 126-131, enthalten; Kap. 27 (mit englischer Übersetzung) auch bei MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists 6 2 - 6 5 (Text nach Rhetores Latini minores, ed. HALM, von 1863). Ich folge der inzwischen (1980) erschienenen neuen Edition von GIOMINI/CELENTANO (dort pp. 103-106).

31 Igitur sermonis est virtus elegantia sine ostentatione (p. 103, lOf).

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schaftliche (familiares)?2 Die ersteren seien durch ihren amtlichen und gewichtigen Gedankengang (argumento negotioso et gravi) gekennzeichnet, so daß „die Wucht der Sentenzen, der Glanz der Worte und das Hervorstechen der Figuren", ja „überhaupt alle Vorschriften für die Rede" hier am Platze seien - lediglich mit der Ausnahme, daß die extreme Fülle ein wenig reduziert werden müsse und ein persönlicher (Gesprächs-)Ton die Rede bestimmen solle.33 Auch historische oder wissenschaftliche Fragen sollten so behandelt werden, daß die Anmut (gratia) bzw. das Maß (modus) des Briefes nicht leide (105,16-18). Die freundschaftlichen Briefe sollten vor allem Kürze (brevitas) anstreben - allerdings nicht auf Kosten der Vollständigkeit der Sätze (105,18 -23). Deutlichkeit als nächste genannte Tugend (105,24ff) bezieht sich offenbar wieder auf alle Arten von Briefen34 (es sei denn, es handele sich um Geheimbriefe, wo sich aber die Deutlichkeit für den Empfänger durch die Kenntnis des vereinbarten "Codes" ergibt). Dasselbe gilt für die weiteren, kurz aufgelisteten Anweisungen (105,35ff): Der Ton des Briefes müsse (bei freundlichem Grundton) dem Rang und dem Bildungsstand des Empfängers sowie dem Grad der Vertrautheit Rechnung tragen; dies sei auch bei der Formulierung der brieflichen Rahmenteile (praefationes ac subscriptions) zu berücksichtigen (im Rahmen des Üblichen). Bei Scherzen in freundschaftlichen Briefen sei zu bedenken, daß sie auch in einem traurigen Moment gelesen werden könnten. Zanken sei niemals angebracht, aber in einem Brief besonders wenig. Beim Schreiben eines Antwortbriefes solle der Fragebrief auf dem Tisch liegen. „Die Alten" (veteres) hätten in bezug auf die nächsten Angehörigen (carissimis) den guten Brauch gepflegt, einen Brief oder doch wenigstens dessen Schluß mit eigener Hand zu schreiben. Empfehlungsbriefe sollten nur verfaßt werden, wenn sie auch ernst gemeint seien. Etwas Griechisch (im lateinischen Brief) sowie ein Sprichwort oder ein Verszitat mache sich gut, desgleichen auch gelegentliche direkte Anreden des Empfängers (,Was sagst du nun?' o. ä.; dies aber nur infamiliaribus litteris). Zusammengefaßt ist nach Julius Victor für Briefe dasselbe zu beachten wie für jede schriftliche Äußerung: die Qualität der Rede.35

32 Vgl. die entsprechende Zweiteilung bei Cicero, Ad fam. Π 4,1; Pro Fiacco 37 (s.o. S. 256 mit Anm. 12). 33 In hoc genere et sententiarum pondera et verborum lumina et figurarum insignia conpendii opera requiruntur atque omnia denique oratoria praecepta, una modo exceptione, ut aliquid de summis copiis detrahamus et orationem proprius sermo explicet (p. 105,12-16). 34 Diese Forderung wird umschrieben mit lucem vero epistulis praefulgere oportet (105, 24) der Gegenbegriff ist obscuritas (105, 27 f). 35 In summa id memento et ad epístolas et ad omnem scriptionem: bene loqui (106,19f). HOFMANN (Antike Briefe 131) übersetzt bene loqui (wörtlich: ,gut/trefflich zu reden') mit „Sprachkultur".

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Der letzte einschlägige Beitrag verbindet die briefliche Stiltheorie mit der Typologie. Er ist in zwei handschriftlichen Versionen überliefert: als Έπιστολιμαΐοι χαρακτήρες unter den Werken des Rhetors Libanios, und als Περί επιστολιμαίου χαρακτήρος unter den Schriften des neuplatonischen Philosophen Proklos. Beide unterscheiden sich geringfügig in Text und Anordnung und gehen offensichtlich auf dieselbe Schrift eines unbekannten Autors der Spätantike (4.-6. Jh.) zurück; dabei steht die (auch besser bezeugte) gibamos'-Version dem Original wahrscheinlich näher.36 .Libanios' gibt zunächst eine kurze Definition des Briefes ( § 1 - 2 ) und unterscheidet dann insgesamt 41 Arten (χαρακτήρες) bzw. deren Bezeichnungen (προσηγορίαι) (§3-4). Diese werden dann jeweils kurz definiert (§5-45), und nach ein paar grundsätzlichen Bemerkungen über den Briefstil (§46-51) folgt für jeden der genannten Brieftypen ein kurzes Beispiel (§52-92). Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, daß der Brief definiert wird als „eine Art aufgeschriebener Ansprache eines Abwesenden an einen Abwesenden" (ομιλία τις έγγράμματος απόντος προς απόντα), in der man aber „wie ein Anwesender zu einem Anwesenden sprechen muß" (έρεΐ δέ τις εν αύτή ώσπερ παρών τις προς παρόντα) (2). Der Verfasser meint, daß Briefe nicht einfach in kunstloser Weise drauflosgeschrieben werden sollten (προσήκει μή απλώς μηδ' ώς έ'τυχεν έπιστέλλειν)37, sondern „mit viel Sorgfalt und Kunstfertigkeit" (σύν άκριβεία πολλή και τέχνη) (3). Um den Brief auch mit stilistischer Tugend zu schmücken (και φράσεως αρετή την έπιστολήν κατακοσμεΐν), müsse ein gemäßigter Attizismus zur Anwendung kommen; denn eine über die Maßen hochtrabende Rede und ein übermäßiger Umfang derselben und ein übermäßiger Attizismus seien dem für Briefe festgelegten Stil fremd (46Í)38. Diese Forderung nach einem Stil zwischen Attizismus und Alltagssprache, ergänzt durch die Forderung nach Deutlichkeit, wird mit einem (leicht abgewandelten) Zitat des Philostratos von Lemnos untermauert, der es „am besten formuliert" habe (μάλιστα φησι) (47f). Der Verfasser fügt hinzu, daß die Deutlichkeit auf keinen Fall dem Bestreben nach Kürze (συντομία) zum Opfer fallen dürfe - es könne nämlich wie beim Bogenschießen das rech-

36 So das Urteil von MALHERBE (Ancient Epistolary Theorists 5), der diese Fassung auch ebd. 6 6 - 8 1 nach der Libanios-Ausgabe von FOERSTER, vol. IX, 2 7 - 4 7 , abdruckt (mit englischer Übersetzung). Dagegen halten SYKUTRIS, Epistolographie 191, KOSKENNIEMI, Phraseologie 56, und THRAEDE, Brieftopik 182, die .Proklos'-Version für ursprünglicher; diese Fassung b i e t e t z . B . HERCHER ( E p i s t o l o g r a p h i

Graeci6-13).

37 Mit fast denselben Worten äußert sich Theon in seinen ,Progymnasmata' über den Aufbau der Lobrede: ούχ άπλώς ούδ' ώς έτυχε τον λ ό γ ο ν διατιθέμενοι (IX, 59 BUTTS = p. I l l , 14f SPENGEL). BUTTS übersetzt ώς ετυχε (wörtlich: ,wie es gerade gekommen ist') mit "in chronological order" (unter Hinweis auf LSJ s. ν. τυγχάνω); das scheint mir jedoch dort eine unnötige Einengung und würde hier überhaupt nicht passen. 38 ή γ α ρ ύπέρ το δέον ύψηγορία και το ταύτης ϋπέρογκον και το ύπεραττικίζειν άλλότριον του των έπιστολών καθέστηκε χαρακτηρος (47).

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te Maß sowohl über- als auch unterschritten werden (49). Vielmehr müsse sich der Umfang eines Briefes nach dem Thema richten, und das könne manchmal eine gewisse Länge erforderlich machen.39 Die Forderung nach Anmut (χάρις) könne erfüllt werden durch die Erwähnung von Geschichtserzählungen und Fabeln und durch die Verwendung von berühmten Schriftwerken, treffenden Sprichwörtern und philosophischen Lehrsätzen - die aber nicht in disputierender Weise (διαλεκτικώς) gebraucht werden dürften (50). Von den aufgeführten Brieftypen sind für uns natürlich besonders die von Interesse, die dem rhetorischen γένος έπιδεικτικόν zugeordnet werden können. Das ist auf der lobenden Seite zunächst die (προσηγορία) επαινετική (Nr. 26, § 30 u. 77), in der jemand gelobt werde, der in bezug auf eine Tugend hervorsteche (έπαινετική δι' ής έπαινοϋμέν τινα έπ' άρετη τινι διαπρέποντα); dabei ist nach ,Libanios' sorgsam zwischen έπαινος und έγκώμιον zu unterscheiden: Im ersteren λόγος werde nur eine Tat (πραξις) gelobt, im letzteren dagegen mehrere Taten. Daher werde ein Brief, der nur eine Tat lobt, als (επιστολή) επαινετική bezeichnet und ein Brief, der mehrere Taten lobt, als (έπιστολή) εγκωμιαστική.40 - Daneben finden wir auch hier (wie schon bei .Demetrios') die »empfehlende' (συστατική) Kategorie (Nr. 4, § 8 u. 55), für die als Alternativbezeichnung .anvertrauend' (παραθετική) genannt wird. Um Lob im weiteren Sinne geht es auch im .dankenden' (εύχαριστκή: Nr. 6, § 10 u. 57), im .freundschaftlichen' (φιλική: Nr. 7, §11 u. 58), im .gratulierenden' (συγχαρητική: Nr. 16, § 2 0 u. 67), im diplomatischen' (πρεσβευτική: Nr. 25, §29 u. 76) und im ,erotischen' (ερωτική: Nr. 40, §44 u. 91) Brieftyp. - Die in den religiösen Bereich gehende (προσηγορία) ευκτική (Nr. 8, § 12 u. 59), in der um etwas gebetet wird, könnte wegen der Nähe zum Hymnischen ebenfalls hier genannt werden. Sehr zahlreich sind die Brieftypen, die eine Form von Tadel enthalten: Die (προσηγορία) μεμπτική (Nr. 2, § 6 u. 53), in der jemand getadelt wird41, die όνειδιστική (Nr. 13, § 17 u. 64), in der jemand Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit erhält, die παραλογιστική (Nr. 17, § 21 u. 68), in der jemand Verachtung erfährt, die άντεγκληματική (Nr. 18, § 22 u. 69), in der eine Anschuldigung mit der gleichlautenden Gegen-Anschuldigung beantwortet wird, die υβριστική (Nr. 22, § 26 u. 73), in der jemand beleidigt wird, die έλεγκτική (Nr. 28, § 32 u. 79), in der jemandem eine geleugnete Schandtat nachgewiesen 39 Dieser Gedanke -

einschließlich dem Bogenschützen-Vergleich -

findet sich auch in

dem oben (S. 260, mit Anm. 29) besprochenen Brief des Gregor von Nazianz (ep. 51,1). 40 Eine Differenzierung zwischen έπαινος und έγκώμιον war uns auch in der Lobredentheorie gelegentlich (in späterer Zeit zunehmend) begegnet: s.o Kap. Π. 2b, S. 113f (Aristoteles, Rhet. 19,33f), 135f (Alexander Numeniu, p. 2 , 8 - 4 , 7 ) , 142 (.Heimogenes', Progymnasmata 7, p. 15, 6 - 8 ) ; vgl. noch Aphthonios, Progymnasmata, p. 2 1 , 9 - 1 1 ; Nikolaos, Progymnasmata, p. 4 8 , 1 9 - 4 9 , 7 . 41 Diese entspricht offenbar dem τύπος ψεκτικός bei .Demetrios'; jedenfalls ist diese Kategorie bei ,Libanios' nicht vertreten.

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Zum titerarischen Charakter der Gattung .Brief

wird, die διαβλητική (Nr. 29, § 33 u. 80), in der eine dritte Person gegenüber dem Briefempfänger schlechtgemacht wird, die επιτιμητική (Nr. 30, § 34 u. 81), in der jemand für sein schamloses Verhalten gerügt wird, die αποφαντική (Nr. 34, § 38 u. 85), in der ein scharfes Urteil (απότομος κρίσις) über jemanden bekanntgegeben wird, und die σκωπτική (Nr. 35, § 39 u. 86), in der jemand verspottet wird. Hierher gehört auch der .ironische' Brieftyp (ειρωνική: Nr. 5, § 9 u. 56), der mit gespieltem Lob beginnt (έπαινοΰμέν τινα èv ύποκρίσει), sich aber am Ende als das Gegenteil herausstellt. Außer diesen rein lobenden oder tadelnden Brieftypen verdienen noch der erste und der letzte von den 41 aufgeführten Typen besondere Aufmerksamkeit: Der erste, als (προσηγορία) παραινετική (.paränetisch') bezeichnet (§ 5 u. 52), wird noch einmal in zwei Fälle unterteilt: das Zuraten und das Abraten (προτροπή und αποτροπή). Das erinnert an die gängige Definition des rhetorischen γένος συμβουλευτικόν, und tatsächlich erfahren wir von ,Libanios', daß diese Briefgattung von einigen als ,symbuleutische' bezeichnet werde - aber zu Unrecht; denn es gebe einen Unterschied zwischen παραίνεσις und συμβουλή: Die letztere lasse eine Gegenmeinung (άντίρρησις) zu, die erstere aber nicht (zum Beispiel die Aussage, daß man das Göttliche verehren müsse [οτι δει τό θείον τιμαν]). Im angeführten Beispiel wird der Empfänger aufgefordert, stets ein Nacheiferer der tugendhaften Männer zu sein.42 - Der letzte Brieftyp aber ist in Hinblick auf unsere Untersuchung wahrscheinlich der interessanteste: Er trägt der Erfahrung Rechnung, daß die ¿einen' Formen in der Praxis nur selten anzutreffen sind, und wird als (προσηγορία) μικτή, also als .gemischter* Typ, bezeichnet (Nr. 41, § 45 u. 92). Das angeführte Musterbeispiel äußert erst Lob, dann Tadel des Adressaten, bringt verschiedene Topoi wie Religion, Politik, Philosophie und Freundschaft ins Spiel und mündet in eine παραίνεσις, die wiederum mit einer Sentenz begründet wird.

Wir sehen also, daß das Verhältnis von Brief und Rede bei den antiken Theoretikern im Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz bestimmt wird. Als Pole dieses Spannungsfeldes bieten sich die Kategorien .privater' und .öffentlicher Brief an: Je mehr sich ein Brief von der rein privaten Mitteilung zu allgemeinen Fragen (politischer, philosophischer oder religiöser Natur) bewegt, desto größer wird seine Nähe zur Rede sein. Auch wenn keine konkreten Anweisungen für den Aufbau eines Briefes gegeben werden, läßt sich doch für einen Brief mit größerer Nähe zur Rede auch eine entsprechende Disposition erwarten. Diese Vermutung wird durch vereinzelte Aussagen bei Quintilian, Isokrates, Philostratos, Julius Victor und ,Libanios' zumindest bestärkt.43

42 Ζηλωτής άεί, βέλτιστε, γενοΰ των ενάρετων ανδρών (§ 52). 43 Quintilian, Inst. IX 4,19f: Brief ist „lockerer" als andere Formen der Rede - außer wenn er politische, philosophische u.a. Themen behandelt (s.o. S. 256). Isokrates, ep. 3,1: Unterschied

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Vorschriften für den Umfang eines Briefes lassen sich aus den betrachteten Äußerungen kaum ableiten: Der offenbar immer wieder aufgestellten Forderung nach Kürze wird mit gleicher Regelmäßigkeit entgegengesetzt, daß die Kürze nicht auf Kosten der Deutlichkeit oder der angemessenen Behandlung des Themas gehen dürfe - ganz abgesehen davon, daß .Länge' ein äußerst dehnbarer Begriff ist!44 Die für den Brief angemessene sprachliche Ebene wird durchweg in Begriffen beschrieben, die wir in der antiken Stiltheorie bei der Beschreibung des schlichten' Stils kennengelernt haben.45 Dieser wird auch dort einmal dem Brief zugewiesen (Demetrios, De eloc. 223-235)46, ist aber keineswegs für Briefe reserviert, sondern eine mögliche Stilart für alle Arten von Literatur. Damit ist ein weiterer Hinweis gegeben, daß die antiken Theoretiker den Brief als eine literarische Gattung neben anderen betrachtet haben. Das mögliche Vorkommen epideiktischer Rhetorik im Brief wird schon von Isokrates ausdrücklich erwähnt; in der späteren Theorie werden die Kategorien ,Lob' und ,Tadel' - entsprechend einer allgemeinen Tendenz - in unzählige Untergattungen eingeteilt, bleiben aber doch noch erkennbar. Während indes für Isokrates die Beratung vorherrscht (seine Briefe also primär symbuleutisch ausgerichtet sind), könnte die Vielzahl epideiktischer Brieftypen (gegenüber jeweils nur einem ,symbuleutischen' bzw. ,paränetischen') in der späteren Theorie auf eine Akzentverschiebung hindeuten.47 Die säuberliche Trennung der Brieftypologien wird an einer Stelle durchbrochen: in der letzten Kategorie des ,Libanios'. Durch die Einführung eines .gemischten' Brieftyps wird die in der Praxis schon längst anzutreffende Mischung und Abwechslung der rhetorischen und brieflichen Gattungen nun auch in der Theorie verankert. Somit können wir zumindest von der antiken Brieftheorie her sowohl mit rein .epideiktischen' Briefen als auch mit epideiktischen Passagen in .symbu-

zwischen Brief und Rede besteht lediglich im Umfang (s. o. S. 257). Philostratos, p. 258: Schluß des Briefes als redegemäße Zusammenfassung und Schlußfolgerung (s. o. S. 259 mit Anm. 26). Julius Victor 27: Bei .offiziellen' Briefen gelten „alle Vorschriften für die Rede" (s. o. S. 260). .Libanios' § 3: Briefe sollen nicht in zufälliger Gedankenabfolge, sondern „mit viel Sorgfalt und Kunstfertigkeit" geschrieben werden (s. o. S. 262 mit Anm. 37). - In dieselbe Richtung geht vielleicht auch die Forderung des .Demetrios' (Τύποι έπιστολικοί, Proömium), daß Briefe „so kunstvoll wie möglich" (ώς τεχνικώτατα) geschrieben werden sollten (s. o. S. 259). 44 Diese Diskussion war uns bereits im Zusammenhang des Redeteils der .Erzählung' (διήγησιζ/narratio) begegnet - siehe oben Kap. Π. 2a, S. 116 mit Anm. 29. 45 Vgl. oben Kap. ΙΠ. Ib. 46 Siehe oben S. 254f sowie bereits Kap. ΠΙ. 1 b, S. 186. 47 Der Befund ließe sich jedoch auch so erklären, daß die Vielfalt beratender Briefsituationen als nicht so groß angesehen wurde wie die Vielfalt lobender oder tadelnder Briefsituationen, ohne daß dies eine Schlußfolgerung über die Bedeutung oder Häufigkeit in der Praxis zuließe.

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Zum literarischen Charakter der Gattung .Brief

leutischen' Briefen rechnen. Diese Erwartung muß nun anhand der brieflichen Praxis überprüft werden.

2. Epideiktisches in antiken Briefen Der Brief des Isokrates an den makedonischen Regenten Antipater (ep. 4) stellt ein Empfehlungsschreiben zugunsten seines Schülers Diodotos und dessen Sohnes dar.1 Da Athen und Makedonien im Krieg liegen, ist dieser Brief, wie Isokrates eingangs betont, für ihn nicht ungefährlich, doch er hält es für richtig (δίκαιος), sich für alle seine Schüler einzusetzen - besonders aber für die, die sich als würdige Schüler erwiesen hätten; und unter diesen wiederum rage der hier in Frage stehende Diodotos wegen seiner Zuneigung (εύνοια) zu Isokrates und seiner Anständigkeit (επιείκεια) besonders hervor (§ 1). Damit ist Isokrates bereits beim Anliegen seines Briefes: Er will gegenüber Antipater für Diodotos, der sich bereits in Makedonien aufhält, Zeugnis und Bürgschaft ablegen (μαρτυρήσαι bzw. βεβαιώσαι) (§ 2). Zu diesem Zweck kommt er noch einmal auf seine vielen (πολλοί) Schüler zu sprechen, von denen etliche eine große Reputation (δόξα μεγάλη) hätten, und zieht sie für eine Synkrisis heran: Während alle anderen nur jeweils in bezug auf eine Fähigkeit besonders begabt gewesen seien - die einen in der Rede selbst, die anderen im Denken und Handeln, wieder andere in Besonnenheit der Lebensführung (charmant, aber ohne lebenspraktische Begabungen) - , sei dieser (ούτος) mit einer so ausgewogenen Natur gesegnet, daß er in allen genannten Eigenschaften der vollkommenste (τελειότατος) sei (§ 2f). Isokrates betont, daß dieses Urteil auf sorgfältigster Prüfung (ακριβέστατη πείρα) gründe und daß Antipater sicher zu der gleichen Meinung gelangen werde - so wie es niemanden gebe, der dem Gesagten nicht zustimmen (όμολογεΐν) würde, es sei denn aus Neid (§ 3 i f . Nun werden - syntaktisch abhängig vom Verb όμολογεΐν3 - die hervorragendsten Eigenschaften des Diodotos aufgezählt: Er stehe im Reden wie im Überlegen (καί ειπείν καί βουλεύσασθαι) niemandem nach; er sei der gerechteste (δικαιότατος) und der be1 Zur gelegentlich bestrittenen Echtheit des Briefes siehe VAN HOOK in seiner Ausgabe (LCL 373), 411 u. 367f. Als Datierung ergibt sich aus § 1 (Krieg zwischen Athen und Makedonien) das Jahr 340/339 v.Chr.; Antipater vertritt den König Philipp in seiner Abwesenheit (vgl. ebd. 411). Über Diodotos ist sonst nichts bekannt (vgl. ebd.). 2 Zum Neid als Hindemngsgrund für Lobreden vgl. Euagoras 6 (dazu siehe oben Kap. Π. 2b, S. 156) 3 Es gehört zum Wesen der Lobrede, daß sie keine strittigen, sondern allgemein anerkannte Sachverhalte thematisiert (vgl. etwa Aristoteles, Rhet. 11117,3; Rhet. ad Alex. 35,2; Cicero, Part. orat. 21,71; Quint. Inst. ΠΙ 4,8); siehe dazu ausführlich oben Kap. Π. 2a.

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sonnenste (σωφρονέστατος) und im Geldausgeben der enthaltsamste (χρημάτων εγκρατέστατος); dazu sei er im alltäglichen Zusammenleben der angenehmste und lebenslustigste (ηδιστος και λιγυρώτατος)4 Zeitgenosse (§ 4). Als hervorstechendste Tugend nennt Isokrates jedoch die Freimütigkeit (παρρησία) des Diodotos - diese sei keine unschickliche, sondern eine, die als größtes Zeichen der Zuneigung zu seinen Freunden (μεγιστον ση μείον της εύνοιας της προς τους φίλους) zu verstehen sei (§ 4). Daß diese Art von Freimütigkeit auch dem Staat nützlich sei, wüßten allerdings nur Herrscher mit ausreichender Herzensgröße zu würdigen, während diejenigen, deren Naturanlagen schwächer als die von ihnen ausgeübte Macht seien, sie verabscheuten (§ 5). Dabei sei schon oft ein gefährdetes Staatswesen - ganz gleich, ob Monarchie oder Demokratie - gerade durch die gerettet worden, die auch unbequeme Wahrheiten freimütig auszusprechen wagten. Diese sollten also bei den Monarchen eigentlich in hohem Ansehen stehen; aber das Gegenteil sei meist der Fall (§ 6). Diodotos habe diese Erfahrung bei einigen Herrschern in Kleinasien machen müssen, denen er oft mit Rat und Tat und Risikobereitschaft nützlich gewesen sei5: Wegen seines freimütigen Redens (δια το παρρησιάξεσθαι) seien ihm Ehrungen vorenthalten und stattdessen den ersten besten Schmeichelrednern zuerkannt worden (§ 7). Daher habe er auch lange gezögert, sich an Antipater zu wenden - in der Furcht, es könne ihm hier ebenfalls so ergehen (§ 8). Isokrates äußert gegenüber dem Regenten Zuversicht, daß die Begegnung der beiden Männer für beide zum Vorteil gereichen werde: Diodotos als Ausländer könne von der φιλανθρωπία des Antipater profitieren; und Antipater als Mann von politischer Klugheit wisse, daß er mit seinen Wohltaten loyale und zugleich nützliche Freunde gewinne (πιστούς αμα και χρησίμους φίλους κτάσθαι) und daß man jemanden, der mit den tüchtigen Männern auf gutem Fuße stehe, in gleicher Weise lobe und verehre6 (§ 9). Nach diesem hohen Lob des Diodotos und seines Gastgebers kommt Isokrates auf den Sohn des Diodotos zu sprechen, der aufgrund seiner Schüchternheit und auch wegen eines kleinen körperlichen Defektes nicht wage, Antipaters Freundschaft zu suchen (§ lOf). Ihn und seinen Vater legt Isokrates noch einmal abschließend dem Regenten ans Herz „wie ein anvertrautes Gut"

4 Das Adjektiv λιγυρός (gleichbedeutend mit λιγύς) ist hier schwer zu übersetzen; es bezieht sich noimalerweise auf den Wind oder die menschliche Stimme (,hell, schrill, tönend, laut') und kann in bezug auf einen Redner ein (zweifelhaftes) Kompliment darstellen (vgl. das Homerzitat - Ilias II 246f - bei Kleomedes Π 1, 4 9 1 - 4 9 4 ; oben Kap. ΙΠ. 2c, S. 231). An der vorliegenden Stelle ist es offenbar positiv gemeint, bleibt aber ambivalent. 5 . . . οίς περί πολλά χρήσιμος γενόμενος ού μόνον τω συμβουλεύειν ά λ λ α και τω πράττειν και κινδυνεύειν. 6 . . . τους τοις σπουδαίοις των ανδρών καλώς όμιλοδντας ομοίως έπαινοδσι και τιμώσιν...

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Zum literarischen Charakter der Gattung .Brief

(ώσπερ παρακαταθηκην), wobei er beschwörend auf seine eigene Reputation (δόξα) und Zuneigung (εύνοια) zu Antipater verweist (§ 12). Nach einer Entschuldigung, falls der Brief zu lang (μακροτέρα) geraten sei oder etwas zu Vorwitziges und zu Greisenhaftes (τι περιεργότερον και πρεσβυτικώτερον) enthalte, unterstreicht Isokrates im Schlußsatz noch einmal das rein epideiktische Anliegen seines Schreibens: „Alles andere habe ich beiseitegelassen und hatte einzig und allein im Sinn, meinen Eifer zu zeigen zugunsten von Männern, die meine Freunde sind und mir äußerst liebgeworden sind" (§ 13). Entsprechend seiner Definition der Lobrede stellt Isokrates seinen Schützling Diodotos nur im positiven Lichte dar. Eigenschaften, die möglicherweise auch eine andere Sichtweise zulassen würden, werden entweder nur kurz und euphemistisch gestreift (könnte die „Enthaltsamkeit im Geldausgeben" auch als Geiz, die „lebenslustige" Art auch als aufdringlich angesehen werden?)7 oder ausführlich in ihrer Nützlichkeit gerechtfertigt (so die offenbar nicht von jedem geschätzte παρρησία). Im Gegensatz zu den ausgeführten Lobreden des Isokrates8 beginnt sein briefliches Lob des Diodotos nicht mit dessen Abstammung, Kindheit und Jugend, sondern setzt erst beim Topos der παιδεία (in Form der rhetorischen Ausbildung bei Isokrates) ein. Dies kann jedoch verschiedene Ursachen haben: Wenig wahrscheinlich ist, daß Isokrates hier aus Unkenntnis schweigt; vielleicht ließ sich aus der Familie des Diodotos nichts Rühmliches berichten, oder diese Möglichkeit für ein abgeleitetes Lob wird von Isokrates mit Rücksicht auf den Umfang des Briefes übergangen. Immerhin deutet Isokrates die athenische Abstammung des Diodotos hier und da an, aber er verzichtet aus gutem Grund darauf, vor dem Vertreter der Monarchie die Vorzüge der athenischen Demokratie zu preisen (vgl. stattdessen die Gleichsetzung beider Regierungsformen in § 6). Überhaupt berücksichtigt Isokrates stets, vor wem er sein Lob ausspricht, und streut auch ein Lob des Adressaten mit ein (§ 5.9). Den Hauptteil des Diodotos-Lobes bildet die Aufzählung seiner Tugenden (§3-6), wobei unter den Steigerungsmitteln insbesondere der Superlativ und der Vergleich mit berühmten Männern zur Anwendung kommen. Im Zusammenhang der hauptsächlich betonten Tugend - seiner Freimütigkeit werden auch seine Taten erwähnt; zugleich kommen die Unannehmlichkeiten zur Sprache, die er infolge seiner Tugend zu erleiden hatte (§ 7). In der sprachlichen Gestaltung unterscheidet sich das briefliche Lob bei Isokrates nicht wesentlich von seinen Lobreden; insbesondere die langen, aus-

7 Vgl. die Bemerkungen zu λιγυρός oben Anm. 4. Über den euphemistischen Umgang mit Untugenden in der (sophistischen) Lobrede vgl. auch Aristoteles, Rhet. I 9,28 f; Quint. Inst. ΙΠ 7,25; über die Hinzuerfindung von Tugenden auch Rhet. ad Alex 3,1 und Isokrates, Busiris 4 (siehe dazu ausführlich oben Kap. Π. 2 a). 8 Siehe dazu oben Kap. Π. 2b, S. 146ff.

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geführten Perioden - von manchen (späteren) Brieftheoretikern abgelehnt - finden sich hier genauso wie dort. Allerdings zeigt sich die Rücksicht auf die Brieflichkeit möglicherweise darin, daß Isokrates auf ein weitausgreifendes Prooimion verzichtet und sehr schnell zur Sache kommt, wie ja auch der Schluß noch einmal das Anliegen des Verfassers explizit auf einen Punkt bringt.9 Auch in neutestamentlicher Zeit sind Briefe lobenden Inhalts anzutreffen. So lobt der Stoiker Seneca, ein Zeitgenosse des Paulus10, in seinen philosophischen Lehrbriefen an Lucilius besonders gern stoische Werte wie das einfache Leben (so ep. 86, ausgehend vom Landsitz des Scipio) oder die Genügsamkeit (so ep. 123). Diese Werte stehen sogar im Hintergrund, wenn Seneca den Stil eines Schriftstellers lobt: Brief 100 antwortet auf eine briefliche Äußerung des Lucilius, der den von Seneca sehr geschätzten Philosophen Fabianus Papirius gelesen und seinen Stil kritisiert hatte (§ 1: conpositionem eius accusas). Seneca übernimmt die Verteidigung, die indes mehr ein Lob darstellt. Nach Senecas Meinung ist der Stil des Fabianus nicht gewaltig hervorsprudelnd, sondern ruhig dahinfließend, nicht für die Ohren, sondern für die Seele gedacht, das Ganze, nicht die Einzelteile beachtend (§ 2f); die mächtig erregende Rede gehöre sich eben nicht für einen Philosophen (oratio sollicita philosophum non decet) (§ 4). Er sei in der Rede nicht nachlässig, sondern unbekümmert gewesen (non erat neglegerts in oratione, sed securus); seine Worte seien gewählt, aber nicht gesucht (electa verba sunt, non captata) (§ 5). Das einzige, was ihm .fehle', sei Genußsucht, die sich nicht mit einfachem Schmuck zufriedengebe (§ 6). Aber nicht, wie Lucilius behaupte, niedrig (humilia) seien die Formulierungen, sondern gefällig (placida) (§ 8). Auch dem Vergleich mit anderen (im weitesten Sinne) philosophischen Schriftstellern halte Fabianus stand: Zwar werde er von Cicero, Asinius Pollio und Titus Livius übertroffen - freilich auch den drei größten Stilisten (tribus eloquentissimis) - , aber wie viele übertreffe er! (die Seneca allerdings nicht nennt . . . ) ( § 9, vgl. 7). Wenn Lucilius sich indessen eine dem jeweiligen Thema angepaßte größere Stilvarianz wünsche - hier feurig nach Art der Rede, da erhaben nach Art der Tragö9 Da ein Empfehlungsbrief den Empfänger zu einer bestimmten Handlung zugunsten der gelobten Pereon veranlassen will, steht er an der Grenze zur symbuleutischen Redegattung. Nicht immer steht das Lob derart im Vordergrund wie im vorliegenden Beispiel. Weitere Empfehlungsbriefe enthält v.a. Buch ΧΠΙ von Ciceros Epistulae ad familiares; daneben siehe Nr. 1 5 - 2 1 in der Sammlung ,Antike Briefe' (ed. HOFMANN), 2 0 - 2 9 (darunter der Philemonbrief des Paulus), sowie die bei STOWERS, Letter Writing 153-165, angeführten Beispiele; zur Gattung auch KEYES, Letter of Introduction; KIM, Letter of Recommendation; COTTON, Formulae; dies., Mirificum Genus Commendationis. 10 Seneca lebte 4 v . - 6 5 n.Chr. - Neben seinen philosophischen Werken hat er auch Dramen (Tragödien) geschrieben; diese haben uns bereits im Zusammenhang hymnischer Passagen in der lateinischen Dichtung beschäftigt (siehe oben Kap. Π. 1 c, S. 103 ff).

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die und dort trocken nach Art der Komödie11 - , so verlange er, daß sich der Philosoph mit einer so belanglosen Sache wie der Wortwahl abgibt (§ 10). Die Qualität seiner Rede bestehe darin, daß alles auf die geistig-moralische Förderung des Lesers abziele, nicht auf seinen Beifall (§ 11). Nach diesem nicht ohne Pathos formulierten Plädoyer für Fabianus Papirius als Schriftsteller kommt Seneca zum Ende seines Briefes - und wieder ein wenig auf den Boden zurück - , indem er zugeben muß, daß er die Schriften des Fabianus schon vor längerer Zeit gelesen habe und jetzt aus seiner Erinnerung bewerten müsse, wie sie ihm stilistisch damals erschienen seien. Als letzten Pluspunkt (mit dem er gleichzeitig einräumt, daß der Stil des Fabianus eben doch nicht ganz perfekt ist) kann er anführen, daß dieser Autor für einen jungen Menschen genau der richtige sei, da er ihn zur Nachahmung ansporne, ohne ihm zugleich die Hoffnung auf noch bessere eigene Leistungen zu nehmen (§ 12). Tendiert das zuerst besprochene Beispiel (Isokrates, ep. 4) als Empfehlungsbrief in die Richtung der symbuleutischen Rhetorik12, so liegt dieses näher an der Apologie; bei beiden überwiegt jedoch das lobende Element, so daß die Einstufung als ,epideiktische Briefe' gerechtfertigt erscheint. Wenn wie hier bei Seneca der Stil eines Schriftstellers gelobt wird, können die Punkte Abstammung' und .Kindheit' natürlich entfallen; was bleibt, sind die Aufzählung der guten Eigenschaften und der Vergleich mit anderen hervorragenden Vertretern (Synkrisis). Beides führt Seneca auch durch, wobei er sehr darum bemüht ist (es aber offenbar nicht leicht hat), alle Stileigenheiten des Fabianus von der positiven Seite darzustellen. Die von ihm verwendeten Kriterien der Stilbeurteilung (Prinzip der Angemessenheit; Vorrang der Sache vor dem Redeschmuck) entsprechen den uns aus der antiken Stiltheorie geläufigen, wobei sich Fabianus der Beschreibung zufolge dem „ruhig dahinfließenden", eher ήθος als πάθος enthaltenden .eleganten' oder ,glatten' Stil zuordnen läßt.13

11 sit aliquid oratorie acre, tragice grande, cornice exile. - Die hier genannten Kategorien entsprechen genau dem χαρακτήρ δεινός, μεγαλοπρεπής und ισχνός des Demetrios; demnach würde der Stil des Fabianus dem hier fehlenden χαρακτήρ γλαφυρός entsprechen (vgl. oben Kap. ΙΠ. lb, S. 182ff). Dazu paßt auch die Definition der αρμονία γλαφυρά bei Dionysios v. Halik., Comp. 23,2, und des medius modus bei Quint. Inst. XII 10,60: Beide werden mit einem ruhigen Fluß verglichen (vgl. oben Kap. ΠΙ. 1 b, S. 198 u. 206 m. Anm. 126). 12 Vgl. oben Anm. 9. 13 Zur genauen Zuordnung der unterschiedlichen Stilarten bei den verschiedenen antiken Stiltheoretikern siehe ausführlich oben Kap. m . Ib. - Wenn Seneca hier über den Stil des Fabianus Papirius spricht, offenbart er damit wohl auch etwas über sich selbst: Schon früher (ep. 7 5 , 1 - 7 ) mußte er auf die Klage des Lucilius eingehen, seine Briefe seien zu wenig sorgfältig formuliert (§ 1: Minus tibi accuratas a me epistulas mitti quereris.); seine Antwort betont auch dort den absichtlichen Verzicht auf rhetorisches Pathos und gesuchte Formulierungen zugunsten der Übereinstimmung von sermo und vita. Die Bemerkungen scheinen mir daher weniger

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Ebenfalls in neutestamentlicher Zeit lebte der neupythagoreische Wanderphilosoph und Wundertäter Apollonios von Tyana. Unter seinem Namen ist eine Reihe von - meist fragmentarischen - Briefen überliefert, in denen viel Epideiktisches enthalten ist.14 Hier ist besonders das Lob von Städten zu finden15; so etwa in Brief 11, der an die Ratsmitglieder (πρόβουλοι) von Caesarea gerichtet ist: In einem kurzen Prooimion wird festgestellt, daß die Menschen an erster Stelle Götter, an zweiter aber Städte benötigten, so daß die Städte auch an zweiter Stelle, gleich nach den Göttern, geehrt werden müßten und jeder vernünftige Mensch das Wohl seiner Stadt anderen Interessen vorziehen müsse.16 Es folgt ein thesenartig formulierter Satz, der aber bereits die wesentlichen Punkte eines ausgeführten Enkomions enthält: Selbst wenn Caesarea nur eine gewöhnliche Stadt wäre und nicht die größte in Palästina (μεγίστη της Παλαιστίνης), die beste (αρίστη) in bezug auf ihre Größe, ihre Gesetze, ihre Betätigungen und die Tugenden ihrer Vorfahren im Kriege und noch mehr ihre Sitten im Frieden (μεγέθει καί νόμοις και έπιτηδεύμασι και προγόνων κατά πόλεμον άρεταΐς ετι τε ηθεσι καθ' είρήνην) - selbst dann also wäre sie für den Verfasser (und für jeden vernünftigen Menschen) immer noch mehr zu bewundern und zu verehren (θαυμαστέα τιμητέα) als jede andere Stadt. Caesarea würde also, wie der Verfasser nochmals betont, aufgrund allgemeiner Meinung im Vergleich mit der Masse anderer Städte am günstigsten dastehen.17 - Wenn aber nun eine solche Stadt damit beginne, als Stadt einen einzelnen Mann zu ehren - und noch dazu einen fremden und von weit her (ξένος καί απωθεν) - , wie könne dieser Mann das würdig vergelten? Vielleicht nur so: Wenn er zufällig ein Liebling der Götter (θεοφιλής) sei, dann könne er für die Stadt um das Eintreten des Guten (τα άγαθά τυγχάνειν) beten. Dies verspricht Apollonios auch beständig zu tun, da er sich gefreut habe, wie hier die griechischen Sitten ihr eigenes Gutes auch durch öffentliche Inschriften offenbarten (έπauf den Stil des Briefes als auf den Stil philosophischer Literatur schlechthin bezogen zu sein (vgl. auch ep. 40 [ganz!]; gegen MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists 28/29). 14 Die Echtheit dieser Briefe ist in der Forschung sehr umstritten. NORDEN, Agnostos Theos 337-342 ( = .Anhang ΠΙ. 1"), spricht sich (unter ausführlicher Wiedergabe eines Gutachtens von CONRAD CICHORIUS) für die Echtheit zumindest einiger der Briefe aus. Vgl. die Diskussion in der Ausgabe von PENELLA, 23-29. - In unserem Zusammenhang ist die Echtheitsfrage nicht so erheblich, da es hier um formale Fragen geht und auch fingierte Briefe den Gattungsgesetzen folgen müssen, um plausibel zu sein. 15 Anweisungen für das Lob von Städten gibt Quint. Inst. ΙΠ 7,26f (s.o. S. 130 m. Anm. 100); ausführlicher ist Traktat II des .Menandros' (Ende 3. Jh., s.o. S. 142f), p. 346-365. Berühmte Lobreden auf Städte sind or. 1 des Ailios Aristeides (auf Athen) und or. 11 des Libanios (auf Antiochia). 16 Πρώτον εις πάντα θεών άνθρωποι δέονται καί περί παντός, επειτα πόλεων, τιμητέον γαρ δεύτερον πόλεις μετά θεούς καί τα πόλεως προκριτέον παντϊ νουν εχοντι. 17 τούτο μεν ουν έκ λόγου κοινού τό προκριτικόν, αν f¡ τό κατά σύγκρισιν των πολλών.

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είπερ ησθην ήθεσιν Έλληνικοΐς φαίνουσι τό ϊδιον αγαθόν και δια γραμμάτων κοινών). Außerdem verspricht Apollonios, einen zuverlässigen jungen Mann namens Apollonides, Sohn des Aphrodisios, als vielleicht nützlichen Helfer der Stadt zur Verfügung zu stellen.18 Daß Apollonios das Lob einer Stadt auch mit einem Eigenlob zu verbinden weiß, zeigt Brief 47: Dieser ist an Rat und Volk der Stadt Tyana gerichtet, die den Philosophen zur Heimkehr überredet haben; Apollonios faßt das als besondere Auszeichnung auf, fügt jedoch - „wenn es vielleicht auch unbescheiden (επαχθές) ist" - hinzu, daß er während seiner Abwesenheit der Stadt „einen guten Ruf und Namen und die Zuneigung und Freundschaft hervorragender Städte und ebensolcher Männer" (ευκλειάν τε και ονομα και ευνοιαν και φιλίαν πόλεων επιφανών, ομοίως δέ καί ανδρών) erworben habe.19 Auf der anderen Seite stehen die Schmähbriefe des Apollonios an die Einwohner von Sardis. Den Ton gibt Brief 38 an, in dem es heißt, die Adressaten könnten nach eigener Aussage keinen Preis für ihre Tugend (αρετή), aber den ersten Preis für ihre Schlechtigkeit (κακία) gewinnen, und in dieser Stadt sei niemand niemandem ein Freund. Im selben Ton gehalten sind die Brieffragmente 39-41; etwas ausführlicher Brief 56, der von Kroisos als πρόγονος ausgeht und eine längere Aufzählung der κακίαι dieser Stadt enthält. Einen ,Tugendkatalog' innerhalb einer Polemik bietet Brief 52, der an Apollonios' Gegner Euphrates gerichtet ist: Der Philosoph gibt eine sich steigernde Aufzählung der überwältigenden Kenntnisse und Tugenden, die ein Pythagoreer erlangt (beginnend mit solchen Grundfertigkeiten wie Geome-

18 Ganz ähnlich ist die Situation von Brief 12 (an die Ratsmitglieder von Seleukia): Apollonios hat die Gunst (χάρις) dieser Stadt erhalten (in welcher Form, bleibt offen) und hält es für schwer, wenn nicht unmöglich, diese angemessen zu vergelten; so habe er einen Gott bitten müssen (θεόν α ν ά γ κ η παρακαλεΐν), diese Vergeltung zu übernehmen. Eine eben erfolgte Einladung der Stadt an den Philosophen sei ein weiterer Beweis ihrer Gunst, und er bete geradezu darum (εύξαίμην), sie einmal besuchen zu dürfen. - Eine ausgeführte Synkrisis findet sich noch einmal in Brief 69 (an die Trallianer): Apollonios habe bis heute noch keinen Landstrich kennengelernt, dessen Bewohner er den Trallianern vorziehen (προκρίνει/ν) könnte - darauf folgt eine längere Aufzählung verschiedener Völkerschaften. Nun stelle sich natürlich die Frage, warum denn Apollonios bisher noch nicht seinen Wohnsitz bei solch hervorragenden Männern (τοιούτοι άνδρες) aufgeschlagen habe; aber diese Frage müsse ein anderes Mal beantwortet werden: „Jetzt ist nur der Zeitpunkt, Euch zu loben" (νυν δέ μόνον ύμδς έπαινεΐν καιρός). 19 Ein sich steigerndes Eigenlob bietet Brief 48 (an Diotimos): Hier stellt Apollonios zunächst einige Mißverständnisse klar, daß er für seine Wohltaten keine Gegenleistungen annehme; dann kommt er zu der grundsätzlichen Erkenntnis, daß es über bedeutende Männer eben immer gegensätzliche Meinungen gebe - Pythagoras, Orpheus, Piaton und Sokrates sei es ja auch nicht anders ergangen, und selbst über Gott gingen die Meinungen auseinander. Er deutet noch an, daß sogar Götter ihn öffentlich als θείος άνήρ bezeichnet hätten, bricht aber dann das Eigenlob lieber ab, weil es „unbescheiden" wäre, noch mehr oder noch Größeres von sich zu sagen (επαχθές λέγειν τι περί αύτοΰ πλείον η μείζον).

Epideiktisches in antiken Briefen

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trie und Mathematik, über Heilkunst, Mantik und echte Gotteserkenntnis sowie allerlei Tugenden, bis hin zu Gesundheit und Unsterblichkeit), und fragt dann Euphrates in polemischer Absicht, was er denn demgegenüber seinen Schülern zu bieten habe.20 Neben diesen rein ,epideiktischen' Briefen21 interessieren uns nun aber noch epideiktische Passagen in ^ymbuleutischen' Briefen. Auch hierfür gibt es ein Beispiel unter den Briefen des Apollonios, das daher zunächst betrachtet werden soll. Brief 55 stellt einen Trost- und Beratungsbrief an Apollonios' Bruder dar, dessen Frau gestorben ist. Der Brief beginnt mit einer kurzen, sentenzartigen Feststellung über die Vergänglichkeit allen Lebens, wendet sich dann jedoch gleich dem Adressaten zu: Der Verlust seiner Frau, die noch in der Blüte ihrer Jahre (έν ακμή της ηλικίας) gestanden habe, solle ihn nicht betrüben (μη δή σε λυπείτω) oder zu der Annahme verleiten, das Leben wäre besser als der Tod, obwohl es doch für vernünftige Menschen (τοις νουν εχουσι) eindeutig schlechter als dieser sei. Vielmehr solle er sich als würdiger Bruder eines Philosophen - mehr noch: eines Pythagoreers, ja sogar: des Apollonios erweisen und sein Haus wieder in den alten Stand vernetzen (καί σου την οίκίαν την αύτην ποίησον). Damit ist, wenn auch zunächst etwas kryptisch formuliert, der Rat ausgesprochen, der im folgenden mit zwei Argumenten begründet wird: Der Adressat soll erneut heiraten. Das erste Argument für diesen Rat bezieht Apollonios aus dem Lob der verstorbenen Frau: Wenn nämlich an dieser irgend etwas auszusetzen gewesen wäre, dann hätte der Adressat wohl Grund, vor einer zweiten Ehe zurückzuschrecken. Wenn aber die erste Frau (wie im vorliegenden Falle) „ihr Leben lang ehrbar war und ihrem Mann in Liebe verbunden, und deshalb auch würdig ist, vermißt zu werden" (σεμνή τε διετέλεσεν ούσα καί φίλανδρος καί

δια τοΰτο έπιζητησεως αξία), wie sollte dann nicht angenommen werden, daß die zweite Frau ihr ähnlich (όμοία) wäre? Sie würde doch wahrscheinlich versuchen, die stets in Erinnerung bleibende Vorgängerin an Tugend noch zu übertreffen (άμείνονα γενέσθαι).

Das zweite Argument geht von der familiären Situation aus: Von den drei Brüdern habe keiner bisher (männliche) Nachkommenschaft; es sollten aber doch welche dasein, an die der Name (ονομα) weitergegeben werden könne, so wie er von den Vorfahren (πρόγονοι) übernommen sei.

20 Ein anderer Brief an Euphrates könnte als .apologetischer Brief eingestuft werden: Brief 8, in dem sich im Diatribenstil mögliche Vorwürfe und pointierte Antworten abwechseln. 21 Weitere Beispiele für "Letters of Praise and Blame" bietet STOWERS, Letter Writing 77-90, der übrigens auch darauf hinweist, daß "elements of praise and blame are components of nearly every type of letter" (80).

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Zum literarischen Charakter der Gattung,Brief

Der Brief schließt mit einem Hinweis auf die Tränen, die den Verfasser hinderten, noch mehr zu schreiben, und der Feststellung, daß das Dringendste nun auch mitgeteilt sei.22 Auch das nächste Beispiel dürfte in seiner vorliegenden Form der neutestamentlichen Zeit angehören, wenn auch vielleicht unter Verwendung älteren Guts: der unter dem Namen des Pythagoras-Schülers Lysis verfaßte (pseudepigraphische) Brief an Hipparchos.23 In diesem Brief geht es um die Bewahrung der .reinen Lehre' des großen Meisters, die nach Meinung des (fiktiven) Briefverfassers durch den (vorgeblichen) Empfänger gefährdet ist. Das Schreiben beginnt mit der Feststellung, daß nach dem Tod des Pythagoras die Schar Seiner Jünger (το άθροισμα των ομιλητών) sich zerstreut habe; in dieser Situation gebiete es wohl die Pietät, sich Seiner göttlichen und erhabenen Lehren zu erinnern (οσιόν κα μεμνασθαι των τήνου θείων καί σεμνών παραγγελμάτων), die nicht der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden dürften (§ 1). Im nächsten Schritt beruft sich der Verfasser gegenüber dem Empfänger auf die gemeinsame Erinnerung an die Zeit der Vorbereitung und Läuterung, bis sie endlich für die Aufnahme Seiner Worte bereit waren (§ 2, Z. 12-15). An dieser Stelle ist nun das Lob des Gründers in die Argumentation einbezogen24: So wie die Färber ihre Stoffe zunächst reinigen und beizen, damit sie die Farbe dauerhafter in sich aufsaugen, so habe auch „der göttliche Mann" (ό δαιμόνιος άνηρ) die Liebhaber der Philosophie mit einer Reinigung vorbereitet (§ 2, Z. 15-20). Denn Er habe nicht mit betrügerischen Reden Geschäfte gemacht (ού γαρ κιβδήλους ενεπορεύετο λόγους) und auch nicht, wie viele von den Sophisten, die jungen Leute in Schlingen verstrickt, sondern Er habe 22 Wesentlich weniger persönlich ist Brief 58 (an Valerius; vgl. dazu den Echtheitsbeweis bei NORDEN, a.a.O. [s.o. Anm. 14]), ebenfalls ein Trostschreiben (vgl. auch die Fragmente 93 u. 94). Weitere Trostbriefe sind z.B. Cicero, Ad fam. IV 6 u. V 16 (vgl. IV 5: Servius an Cicero; alle drei zum Tod der Tochter Tullia); Seneca, ep. 99 (zum Tod von Lucilius' kleinem Sohn); vgl. ep. 93 (zum Tod des Philosophen Metronax); darüber hinaus siehe Nr. 2 9 - 3 1 in der Sammlung .Antike Briefe' (ed. HOFMANN), 43-47, sowie STOWERS, Letter Writing 142-152 (mit Auflistung der Topoi und Beispielen). - Das Lob des bzw. der Verstorbenen gehört zu den typischen Elementen dieser Briefgattung (verbunden mit der Aufforderung, nicht betrübt zu sein); es ist jedoch nur selten in die Argumentation für einen so konkreten Rat (erneute Heirat) eingebunden wie im oben besprochenen Text. 23 In der Ausgabe der Pythagoreerbriefe von STÄDELE als ep. Π, p. 154-159 (vgl. auch Epistolographi Graeci [ed. HERCHER] 601; dort ep. ΙΠ). Zur komplizierten Überlieferungssituation dieses Briefes siehe STÄDELE, a.a.O. 203-212; zur Datierung ebd. sowie 215f (1./2.Jh. n.Chr.). - Die Großschreibung der auf den göttlichen' Pythagoras bezogenen Petsonalpronomina in der folgenden Paraphrase geschieht in Anlehnung an die Übersetzung von STÄDELE. 24 Auf diesen Abschnitt verweist auch BERGER, Gattungen 1173, der (oder dessen Setzerin?) freilich aus Lysis eine Frau macht („Brief der Lysis an Hipparchos [ . . . ] § 2 b - 3 " ) . Wer Zweifel hat, lese § 7, Z. 64!

Epideiktisches in antiken Briefen

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sich auf göttliche und menschliche Dinge verstanden (αλλά θείων τε και ανθρωπίνων πραγμάτων ην έπιστάμων) (§ 3, Ζ. 21-24). Dieses Lob des Pythagoras geht unmittelbar in eine Schmähung über: „die aber" (die Sophisten?) hätten Seine Lehre (τάν τηνου διδασκαλίαν) als Vorwand benutzt, um ihre Schüler zu verwirren - und damit gleichsam reines und klares Wasser (καθαρόν και διειδές ΰδωρ) in einen Brunnen voller Schlamm geschüttet, so daß dieser aufgewühlt, jenes aber verdorben sei (§ 3, Z. 24-32). Die Folgen für diejenigen, die nicht auf reine Art eingeweiht worden seien, werden vom Briefverfasser in einer stereotypen Erörterung geschildert; diese mündet in einen ,Lasterkatalog', dessen einzelne Punkte den füttern' 2 5 Zuchtlosigkeit (άκρασία) und Habsucht (πλεονεξία) zugeordnet sind (§ 4-5). Daher sei es notwendig, zuerst die Vernunft von solchen Leidenschaften freizumachen und ihr dann etwas Nützliches einzupflanzen - ein Verfahren, das der Adressat Hipparchos auch einst „mit Eifer" (μετά σπουδάς) gelernt habe, jetzt aber nicht mehr beachte, „da du, mein Bester, sizilisches Wohlleben (πολυτέλεια) gekostet hast, dem du nicht hättest erliegen dürfen" (§6). Ja, viele behaupteten sogar, daß Hipparchos in aller Öffentlichkeit Philosophie betreibe, was Pythagoras als unwürdig abgelehnt hatte (όπερ απαξίωσε Πυθαγόρας) (§ 7, Ζ. 57 f). Nun folgt, mit ος angeschlossen, wieder eine für uns sehr interessante Passage: Zunächst wird im Relativsatz, angehängt an den Namen des Meisters, daran erinnert, daß Er Seine Schriften Seiner Tochter Damo anvertraut habe mit der ausdrücklichen Anordnung, sie an keinen außerhalb der Familie (μηδενί των έκτος τάς οικίας) weiterzugeben (Ζ. 58-60). Dann aber wird diese Tochter (sprachlich mit relativischem Anschluß und Partizipien gestaltet) als vorbildlich dargestellt, weil sie auf die Möglichkeit des Verkaufs der väterlichen Schriften verzichtet und Seine eindringlichen Ermahnungen für wertvoller gehalten habe als Gold (Ζ. 60-62)26. Dieses vorbildliche Verhalten einer Frau wird nun noch einmal im Blick auf den Adressaten ausgewertet, wobei der Absender sich in einem ,Wir' zunächst diplomatisch in die Kritik einschließt: „Wir aber, obwohl wir Männer (άνδρες) und Schüler des Pythagoras sind, behandeln Ihn nicht wie echte Anhänger, sondern werden zu Übertretern der Übereinkünfte." (Z. 64-66). Daß aber die Kritik eigentlich allein auf den Adressaten zielt, macht der Schluß25 Die Bildung von ,Filiationsreihen' in bezug auf Tugenden bzw. Laster ist in der paränetischen Literatur der Antike recht verbreitet und auch im Neuen Testament anzutreffen (vgl. lTim 6,3-5; 2Petr 1,5-7). Vgl. dazu BERGER, Formgeschichte 151f, sowie Gattungen 1065. 26 Hier der griechische Wortlaut: α δε δυναμένα πολλών χρημάτων άποδόσθαι τώς λόγως ούκ έβουλήθη, πενίαν δέ και τάς τώ πατρός έπισκάψιας ένόμιζε χρυσοΰ τιμιωτέρας ήμεν. - Natürlich ist dieser Abschnitt - trotz Partizipien und relativischem Anschluß ebensowenig ein .Hymnus' auf Damo wie der vorangehende Relativsatz ein ,Pythagorashymnus' ist (so wäre ja die Logik mancher neutestamentlicher Hymnenforscher). Aber hier wird einmal mehr das Lob einer beispielhaften Peison für die Argumentation dienstbar gemacht.

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Zum literarischen Charakter der Gattung ,Brief

satz (Z. 66f) klar: „Wenn du also Reue zeigst, werde ich mich freuen, wenn aber nicht, bist du für mich gestorben." (εί μεν οΰν μεταβάλλοιο, χαρήσομαι, εί δε μή, τέθνακάς μοι.) Der letzte Satz mit seiner Betonung der Bußmöglichkeit (aber auch der gegenteiligen Entscheidungsmöglichkeit) macht deutlich, daß es dem Verfasser nicht um die Kritik als solche geht, sondern um eine eindringliche Mahnung (Paränese) des Adressaten (bzw. derer, die sich von diesem pseudepigraphischen Schreiben angesprochen fühlen). Der Brief ist also der symbuleutischen Redegattung zuzuordnen. Die beiden lobenden Passagen führen hervorragende Beispiele an und unterstützen so die Argumentation: Die Wahrung der /einen Lehre' konkretisiert sich gerade im Verzicht darauf, aus ihr materielles Kapital zu schlagen.27 Durch die geschickte Plazierung der beiden Partien (gegen Anfang und gegen Ende des Briefes) bilden sie eine Klammer für den eher stereotyp gehaltenen Mittelteil, der dadurch im Kontext an Farbe gewinnt. Zum Schluß soll noch einmal Seneca zu Wort kommen, dessen Brief 102 sich mit der Frage befaßt, ob der Ruhm ein Gut sei. Der Brief ist sehr klar strukturiert: Das Proömium ( § 1 - 2 ) benennt kurz die Situation, in der den Philosophen der jüngste Brief des Lucilius erreichte; er sei nämlich mitten im Sinnieren über die Unsterblichkeit der Seelen (de aetemitate animarum) gewesen und wie aus einem Traum herausgerissen worden, den er aber nachher weiterträumen wolle. Zunächst also stellt Seneca kurz dar, wonach Lucilius gefragt hat (§3-5: narratio): Seneca hatte in einer vorangegangenen Äußerung behauptet, daß der Ruhm nach dem Tode (claritas quae post mortem contingit) ein Gut sei. Nun gebe es aber den Lehrsatz, daß kein Gut aus getrennten Elementen bestehe (Nullum bonum ex distantibus), und Seneca hatte in seiner ersten Äußerung diesen Punkt für Lucilius nicht zufriedenstellend geklärt. Daraus ergibt sich die Ankündigung, was nun zunächst dargelegt werden solle (§ 6f: propositio), nämlich der Beweis, daß der Ruhm unter Anerkennung des genannten Lehrsatzes immer noch ein Gut sei. So befaßt sich der argumentierende Hauptteil des Briefes mit Reflexionen über Ruhm und Lob (§8-19), wobei nochmals die Gegenthese - jetzt präzisiert - vorangestellt wird (§ 8Í).28 Auf den Beweisgang müssen wir hier nicht im einzelnen eingehen - erwähnt sei nur, daß Seneca zwischen laus und lau-

27 Daß Pythagoras' Bedeutung für seine Anhänger sich nicht in seiner vorbildlichen Haltung erschöpft, dürfte selbst in diesem kurzen Text aus dem Kontext hervorgehen. Aber er wird hier eben auch als Vorbild dargestellt. Vgl. die entsprechende Diskussion zu Phil 2 , 5 - 1 1 ; unten Kap. V. 2c, S. 307ff. 28 Es handelt sich bei § 8 - 1 9 also, da hier gegnerische Argumente widerlegt werden, rhetorisch differenzierter um eine refutatio (Quint. Inst. 1119,1—5; V 1 3 , 1 - 6 0 ) bzw. (Rhet. ad Her. 13,4; 10,18).

confutatio

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datio differenziert: Das erstere sei ein Urteil und könne auch schweigend geschehen, das letztere eine Rede (§ 15 t).29 Mit dieser Differenzierung kann er dann die claritas als „Lob, das einem guten Menschen von guten Menschen gewährt wird" (laus bono a bonis reddita) definieren, die daher letzten Endes ein Gut für beide darstelle. Nach dieser lästigen Pflichtübung kommt Seneca im zweiten Hauptteil sozusagen zur ,Kür': den im Proömium angekündigten Gedanken über die Unsterblichkeit der Seele (§ 20-30).30 Die Aussicht, seinen Geist in die unermeßliche Weite schweifen zu lassen (in immensum mentem suam extendere), inspiriert den Philosophen zu feierlichen Worten: „Groß und edel ist die menschliche Seele31: Keine Grenzen läßt sie sich setzen außer denen, die sie mit Gott gemeinsam hat. Erstens nimmt sie ein niedriges Vaterland nicht hin (...): Vaterland ist ihr, was immer der Himmel und das All mit seinem Umfang umfaßt, das ganze Gewölbe, in dem die Meere mit den Ländern liegen, in dem der Äther vom Menschlichen das Göttliche trennt und doch wieder mit ihm verbindet, in dem so viele göttliche Wesen ihren Tätigkeiten obliegen. Zweitens läßt sie sich keine eng begrenzte Lebenszeit vorschreiben: .Alle meine Jahre', sagt sie, .gehören mir; kein Zeitalter ist großen Geistern verschlossen (...). Wenn gekommen ist jener Tag, der die Mischung aus Göttlichem und Menschlichem trennt, werde ich den Körper hier, wo ich ihn gefunden habe, zurücklassen, mich selbst den Göttern wiedergeben (...)'." (§ 21 f). Nach dieser geradezu hymnischen' Partie, in der Seneca sogar die Seele selbst hat sprechen lassen32, geht es im philosophisch-reflektierenden Ton weiter. Dabei wird das sterbliche Leben als Vorspiel zu einem besseren und längeren Leben aufgefaßt und mit dem Heranreifen des Ungeborenen im Mutterleib verglichen; beiden sei auch das Anstrengende und Schmerzhafte des Übergangs zum neuen Zustand gemeinsam (§ 23 -27). Die conclusio als Folgerung für das gegenwärtige Leben (§ 28-30) enthält eine Mahnung, eine Verheißung und eine Anknüpfung an den ersten Teil des Briefes: Der Empfänger wird aufgefordert, sich dem Körperlichen so gut es gehe zu entziehen und „schon hier auf Höheres und Erhabeneres zu sinnen" 29 Diese Bestimmung erinnert am ehesten an Aristoteles, Rhet. 19,33f (s.o. Kap. II. 2a, S. 113f); zur sonstigen Differenzierung von έπαινος und έγκώμιον siehe oben Kap. IV. 1, S. 263 mit Anm. 40 (zur Brieftheorie des .Libanios'; dort die weiteren Stellen). 30 Rhetorisch gesehen liegt hier der positive Teil der Beweisführung vor, also die probatio (Quint. Inst. ΠΙ 9,1 - 5 ; V 1 - 1 2 ) bzw. confirmatio (Rhet. ad Her. 13,4; 10,18). 31 Magna et generosa res est humanus animus. 32 Die προσωποποΰα gehört nach Cicero, Orator 85, zum .erhabeneren' Stil. Vgl. dazu die oben (Kap. ΠΙ. 2a, S. 217f mit Anm. 23) besprochene Rede der patria in Ciceros erster Catilinaria, § 18 - ebenfalls mit hymnischen Elementen, wenn auch ins Gegenteil verkehrt.

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Zum literarischen Charakter der Gattung ,Brief

(iam hitic altius aliquid sublimiusque meditare) sowie die Vorstellung in sich

aufzunehmen, daß der Tod mit der Enthüllung der letzten Geheimnisse und der Schau des göttlichen Lichtes verbunden sei (§ 28). Seneca versichert, daß eine Seele, die von dieser Vorstellung erfüllt sei, keinen Platz für Schmutziges, Niedriges, Grausames oder Furcht habe (§ 29). Und er führt - unterstützt durch ein Zitat aus Vergils .Aeneis133 - an, daß auch jemand, der nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaube, etwas für ihr Fortbestehen tun könne: indem er sich als tugendhafter Mann erweise, der im Leben durch seine Gegenwart, im Tode durch sein Andenken als Vorbild wirke (§ 30).

Die untersuchten Beispiele haben unsere Erwartungen in bezug auf Elemente epideiktischer Rhetorik in antiken Briefen voll bestätigt: Es gibt sowohl Briefe mit ,rein' lobendem oder tadelndem Inhalt als auch solche, die lobende bzw. tadelnde Abschnitte zur Unterstützung einer beratenden Briefabsicht verwenden. Dabei ist auch deutlich geworden, daß der Aufbau der behandelten Briefe je nach Umfang und Verfasser mehr oder weniger streng einer rhetorischen Disposition folgt: Vom eher lockeren Schema mit Einstieg, These, Begründung und Schluß bis hin zu einem sechsteiligen Redeschema war alles vertreten - nur kein längerer Brief mit völlig ungeordneter Gedankenabfolge. Weiter hat sich gezeigt, daß die ganze Spanne möglicher Objekte für Lob und Tadel, die wir in der Theorie und Praxis der epideiktischen Rede kennengelernt haben34, auch für Epideiktisches in Briefen gilt: Gelobt bzw. getadelt werden Menschen, Städte, ethische Werte, die (als göttliches Wesen dargestellte) menschliche Seele oder der Stil eines Schriftstellers. Bei den Menschen sind es sowohl lebende wie verstorbene, ranghöhere (etwa der Gründer der eigenen Bewegung) wie niedriger stehende (etwa ein Schüler des Schreibenden) oder gleichrangige (etwa ein Mitschüler oder Konkurrent).35 Das Lob kann sowohl dem Briefempfänger wie auch dem Absender selbst oder einer dritten Person gelten, während das Gegenteil (also Tadel, Kritik oder Schmähung) uns nur in der zweiten und dritten Person begegnet ist. Schließlich kön-

33 Der Zitatcharakter der 1 Vi Verse (Aen. IV 3 f) wird - auch ohne Zitationsformel - auf den ersten Blick deutlich: Das (hexametrische) Metrum weist die Worte als poetisch aus, und Vergils ,Aeneis' gehört für den gebildeten Römer zum Bildungskanon. 34 Siehe dazu ausführlich oben Kap. Π. 2. 35 Die Rangfrage kann aber auch in der Schwebe bleiben: Die Pythagoras-Tochter Damo im besprochenen Brief des Lysis an Hipparchos steht als Frau im Rang unter den beiden kommunizierenden Männern (§ 7, Z. 64!); als Tochter des Pythagoras sowie durch ihr vorbildliches Verhalten steht sie jedoch über ihnen. So können Lob und Tadel auch die gesellschaftlich vorgegebenen Hierarchien durchaus in Frage stellen, was vielleicht im Blick auf die Struktur der frühchristlichen Gemeinden ebenfalls nicht uninteressant ist.

Epideiktisches in antiken Briefen

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nen sich Lob und Tadel in bezug auf verschiedene Objekte sogar innerhalb eines Briefes abwechseln und mischen. Damit steht der Untersuchung eines neutestamentlichen Briefes auf dem Hintergrund der an antiker Literaturtheorie und -praxis (einschließlich der Gattung 3 n e f ) gewonnenen Erkenntnisse nichts mehr im Wege.

V. Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

1. Der Aufbau des Philipperbriefes a) Literarische Einheitlichkeit Der Brief des Paulus an die Gemeinde in Philippi wird heute von vielen Exegeten als eine nachträgliche Zusammenstellung von drei bzw. zwei kürzeren Paulusbriefen angesehen. Diese Sicht hatte zwar schon im vorigen Jahrhundert vereinzelte Vertreter1, stieg aber erst in den Rang der Mehrheitsmeinung auf, nachdem Ende der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts mehrere Forscher2 fast gleichzeitig und z.T. unabhängig voneinander ausführlich begründete Teilungshypothesen für den Brief vorgelegt hatten. Den Anlaß für eine solche Hypothese bildet insbesondere der Anfang des dritten Kapitels, der gewöhnlich etwa so übersetzt wird: „Schließlich, meine Brüder, freut euch im Herrn! (...) Nehmt euch in acht vor den Hunden..."

1 Diese sind bei CLEMEN, Einheitlichkeit 133-142, genannt. Freilich hat der a.a.O. 133 in die Diskussion eingeführte Stephanus Le Moyne (1685) entgegen CLEMENS Behauptung den Phil nicht literarkritisch geteilt. Das muß deshalb betont werden, weil die ungeprüfte Übernahme dieser Behauptung zu einem beliebten Einstiegstopos für die Behandlung der Einheitlichkeit des Phil geworden ist. Siehe dazu COOK, Stephanus Le Moyne and the Dissection of Philippians (mit Zitierung der einschlägigen Stellen im lateinischen Wortlaut); KOPERSKI, The Early History of the Dissection of Philippians. 2 SCHMITHALS, I r r l e h r e r (zuerst 1957); MÜLLER-BARDORFF, E i n h e i t (1957/58); RAHTJEN,

Three Letters (1959/60); sowie die 1959 erschienenen Kommentare von BEARE und ΒΕΝΟΓΓ. Großen Einfluß auf die weitere Forschung hatte auch BORNKAMM, Briefsammlung (zueist 1962; beim Nachdruck 1971 etwas modifiziert). - Gegenwärtig wird die Teilung des Phil am entschiedensten von WOLFGANG SCHENK vertreten, der die Literarkritik mit einer „textlinguistischen" Herangehensweise zu unterstützen und zu präzisieren versucht; siehe SCHENK, Philipperbriefe (Kommentar, 1984); deis., Philipperbrief (ANRW - Forechungsbericht, 1987). Vgl. dazu die ausführliche und gründliche Kritik von KOPERSKI, Textlinguistics and the Integrity of Philippians (1992; speziell zu SCHENK, Philipperbriefe) und die Erwiderung von SCHENK: Der Philipperbrief oder die Philipperbriefe des Paulus? (1994). Für eine Briefteilung votiert jetzt auch BORMANN, Philippi 8 7 - 1 2 6 (1995).

Literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefes

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(3,1 f)3. Man hat hier den Eindruck, daß Paulus mitten im Brief (nach der Ankündigung von Reiseplänen) zum Schluß ansetzt, dann aber unvermittelt zu einer scharfen Warnung vor Irrlehrern übergeht. Will man nicht zu offenkundigen Verlegenheitslösungen Zuflucht nehmen - ein Stimmungswechsel des psychisch labilen Apostels4 oder eine Diktierpause, in der neue Nachrichten eingetroffen sind5 - , so leuchtet die literarkritische Erklärung, daß mit Phil 3,2 das Fragment eines ursprünglich selbständigen Schreibens (des .Kampfbriefes' oder ,Warnbriefes') beginne, zunächst ein.6 Auch der Abschnitt Phil 4,10-20, in dem Paulus den Philippern für eine materielle Unterstützung dankt, könnte ein solches Brieffragment sein: Vielen Exegeten erscheint ein erst am Ende abgestatteter Dank unmöglich, so daß sie den Abschnitt als JDankbillett' an den Anfang der Korrespondenz setzen.7 Aber so elegant die Lösung der Probleme des Philipperbriefes mit dem Skalpell auf den ersten Blick auch erscheinen mag - bei näherem Hinsehen bringt sie doch neue Probleme mit sich. So kommt vor allem der Versuch, die Motive für die angenommenen Operationen an den ursprünglichen „Philipperbriefen des Paulus"8 (mit dem Resultat des heute vorliegenden Textes) zu benennen, den bereits erwähnten Verlegenheitslösungen wieder bedenklich nahe - nur eben von Paulus auf einen als .Redaktor* bezeichneten Großen 3 Tò λοιπόν, αδελφοί μου, χαίρετε έν κυρίω. ( . . . ) Βλέπετε τους κύνας, βλέπετε τους κ α κ ο ύ ς έργάτας, βλέπετε τήν κατατομήν. - Der hier ausgelassene Vers 3,1b, in dem Paulus eingesteht, daß er der Gemeinde „immer dasselbe" (τα αύτά) schreibe, kann entweder auf den vorangehenden Aufruf zur Freude oder auf die nachfolgende Polemik bezogen werden. MÜLLER-BARDORFF, Einheit 593, hält ihn für eine bei der Zusammenstellung von redaktioneller Hand hinzugefügte „Überleitung". 4 Klassisch kommt dies bei JÜLICHER/FASCHER, Einleitung 124, zum Ausdruck: „ . . . gewöhnen wir uns doch, Stimmungen des gefangenen, kränklichen, einsamen alten Mannes psychologisch zu würdigen!" (vgl. ähnlich noch 1983 HAWTHORNE, WBC 43, 122f). Über Versuche dieser Art urteilt SCHMITHALS, Irrlehrer 52, zutreffend: „Natürlich läßt sich auf solche Weise alles erklären, zumal dann, wenn man noch einige schlaflose Nächte, unverhofften Ärger, seelische Depressionen, Diktierpausen und plötzliche epileptische Anfälle mit in Rechnung stellt. Aber auf Wissenschaftlichkeit kann solches Verfahren keinen Anspruch erheben." 5 So bes. MENGEL, Philipperbrief, der seiner (schon von seinem Lehrer OTTO MERK, Handeln 187-189, vermutungsweise erwogenen) rein spekulativen Hypothese durch hochgestochene Begriffe wie „situativer Kontext" und die „Differenzierung zwischen .einheitlich' und .ganzheitlich'" (21) einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben versucht. Dieser „temporalen Teilungshypothese" schließt sich der Kommentar von U. B. MÜLLER (ThHK XI/1,1993), 4 - 1 4 , an. 6 Für BENOIT ist freilich nicht Phil 3,2ff, sondern 2,19-30 das nachträglich eingeschobene Fragment aus einem anderen Brief. Vgl. dazu unten, Kap. V. 1 b, S. 297 mit Anm. 29. 7 Der Ausdruck steht bei MERKEL, Art. Philipperbrief, RBL 399; in der Sache wird diese Sicht z.B. von den in Anm. 2 genannten Autoren vertreten (nur BEARE [Philippians 3f. lOOf] hält 3,2-4,1 für den ältesten, ursprünglich an eine andere Gemeinde gerichteten Brief). - Lediglich mit zwei Briefen rechnen FRIEDRICH, NTD 8 (zuerst 1962), GNILKA, HThK X/3 (1968 u.ö.) und BECKER, Paulus 322-350 (1989). 8 So der programmatische Titel des 1984 erschienenen Kommentars von SCHENK.

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Unbekannten verschoben. Diesem können offenbar ohne weiteres die vermeintlichen Brüche in der Gedankenfolge oder die späte Plazierung des Dankes zugetraut werden.9 Ein Schwachpunkt ist auch, daß die Vertreter der Teilungshypothesen keine Einigung über das Ende des mutmaßlichen .Kampfbriefes' erzielen konnten - vertreten werden als mögliche Nahtstellen Phil 3,21; 4,1; 4,3 und 4,9 (wobei Phil 4,1.2-3.4-7 wiederum auf unterschiedliche Briefe verteilt werden können). Ja, nicht einmal sein Beginn ist eindeutig lokalisierbar: Liegt der „auffallendste Bruch"10 des Briefes wirklich zwischen 3,1 und 3,2? Oder eher zwischen 3,1a und 3,1b?11 Oder liegt er gar zwischen 2,30 und3,l? 12 Natürlich ist die Feststellung der Uneinigkeit unter den Vertretern von Teilungshypothesen noch kein Beweis, „daß der Riß bei 3,1 so tief nun auch wieder nicht sein kann"13. Aber sie ist ein Indiz für das hohe Maß an subjektivem Ermessen, das die Diskussion hier bestimmt. Dieser Eindruck bestätigt sich bei einer kritischen Überprüfung der vorgebrachten Argumente: Schon der oben angeführte erste Satz von Kap. 3 bekommt seinen Abschluß-Charakter erst durch die tendenziöse Übersetzung der adverbiellen Wendung (τό) λοσιόν, die zwar auch die Bedeutung schließlich' haben kann, aber im Neuen Testament weit häufiger als Überleitungsformel (,im übrigen, außerdem, weiterhin') verwendet wird.14 In Phil 3,1 und 4,8 folgt auf dieses (τό) λοιπόν die Anrede αδελφοί15 und ein Imperativ - ein angeblich auch sonst bei Paulus anzutreffendes „dreiteiliges Schlußsignal"16. Aber diese Behaup-

9 Daß hier mit zweierlei Maß gemessen wird, zeigt sich besondere kraß bei MÜLLER-BARDORFF, Einheit (der auch die komplizierteste Teilungshypothese bietet, also mit den radikalsten Eingriffen des .Redaktors' rechnet): Der Verf. hält es einerseits für eine „Verlegenheitslösung", den „sogenannten Stimmungswechsel" Phil 3,2 in bezug auf Paulus psychologisch zu erklären (591; vgl. oben Anm. 4), zeigt sich aber andererseits in bezug auf den mutmaßlichen Redaktor sehr sensibel für „die Grenze unserer psychischen Verstehensmöglichkeiten fremden Innenlebens" (601). 10 G. BARTH, ZBK. NT 9 (1979), 10 (vertritt ebenfalls eine Dreiteilung). 11 FRIEDRICH, NTD 8 (161985), 126: „Daß zwischen 3,1a und 3,1b ein Einschnitt vorliegt, ist nicht zu bezweifeln." (Vgl. GNILKA, HThK X/3,185.) 12 So RAHTJEN, Three Letters. - Die genauen Abgrenzungen der wichtigsten Teilungshypothesen sind in übersichtlicher Form bei GARLAND, Composition and Unity 155 Anm. 50, aufgeführt. 13 LINDEMANN, Paulus 24; scharf kritisiert von SCHENK, Philipperbriefe 335. 14 V g l . BAUER, W ö r t e r b u c h 948F; THRALL, Particles 2 5 - 3 0 (bes. 2 8 ) .

15 Diese ist mit der gängigen Übersetzung .Brüder' nicht direkt falsch wiedergegeben; aber da Paulus in seinen Briefen explizit auch die weiblichen Gemeindeglieder anspricht (vgl. im Phil bes. 4,2f!), ist der generische Plural doch wohl angemessener mit der deutschen Entsprechung .Geschwister" z u ü b e r s e t z e n (vgl. FRIEDRICH, N T D 8 [ 1 6 1 9 8 5 ] , 1 4 1 u . ö . ; BEUTLER, E W N T I

[1980], 71, sowie die außerchristlichen Belege bei BAUER, Wörterbuch 31). 16 SCHENK, Philipperbriefe 334; ders. Philipperbrief (ANRW) 3282; vgl. SCHMITHALS, Irrlehrer 51; MÜLLER-BARDORFF, Einheit 593.

Literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefes

283

tung trifft lediglich für eine einzige Stelle im corpus Paulinum zu: Nur in 2Kor 13,11 wird mit λοιπόν, αδελφοί, χαίρετε17 tatsächlich ein Briefschluß eingeleitet. Dem steht auf der anderen Seite IThess 4,1 (vgl. 2Thess 3,1) gegenüber, wo das Briefende noch weit entfernt ist. Dasselbe gilt aber auch für die beiden Stellen im Philipperbrief (3,1 und 4,8) - wenn man dessen erst zu beweisende Uneinheitlichkeit nicht bereits voraussetzt!18 Auch der andere eingangs zitierte Satz (Phil 3,2) stellt in dieser Form eine Fehlübersetzung dar: Das Verb βλέπειν mit Akkusativobjekt heißt im Neuen Testament und der übrigen frühchristlichen Literatur stets .sehen'; eine warnende Bedeutung erhält es erst durch die Präposition άπό oder einen Nebensatz mit μή.19 Βλέπετε τους κύνας κτλ. ist demnach keine Warnung vor Irrlehrern, die plötzlich aus dem Nichts aufgetreten sind, sondern eine Aufforderung zum Hinsehen (vgl. Phil 3,17: σκοπείτε), ein Vor-Augen-Stellen von Leuten, die der philippischen Gemeinde schon bekannt sein müssen. Das mindert die angenommene Härte des Übergangs, wenngleich das dreimalige anaphorische βλέπετε mit der dreifachen, durch κ-Alliteration verstärkten Beschimpfung auffällig bleibt. Hierbei handelt es sich offenbar um bewußt eingesetzte rhetorische Mittel zur Erhöhung der Aufmerksamkeit, die bei Paulus auch sonst Verwendung finden.20 Eine weitere falsche Voraussetzung bei den Vertretern von Teilungshypothesen ist die Behauptung, daß konkrete personenbezogene Bemerkungen des Apostels - wie die mit empfehlender Nennung von Mitarbeitern verbun-

17 BEARE, Philippians 100. 145f, und RAHTJEN, Three Letters 171, gehen sogar so weit, den Ausdruck χαίρετε (Phil 3,1; 4,4) als Grußwendung ("farewell, goodbye") zu verstehen (dem ist die New English Bible gefolgt). Aber der Schlußgruß in allen paulinischen Briefen lautet ή χ ά ρ ι ς toù κυρίου κτλ.; die Grußformel 'goodbye in the Lord always' (4,4: χαίρετε έν κυρίω πάντοτε) wäre absurd; und das Motiv der Freude durchzieht den ganzen Philipperbrief (vgl. 1,4.18.25; 2,17f.28f; 3,1; 4,1.4.10), ist also auch in 3,1 und 4,4 wörtlich zu verstehen (.freut euch!', so auch schon 2,18). Vgl. dazu (schon 1960/61) MACKAY, Further Thoughts 167; im deutschsprachigen Raum hat diese Sicht m.W. keine Anhänger gefunden. 18 Eine verblüffende Konsequenz ziehen SCHMITHALS, Irrlehrer 51 Anm. 36, und SCHENK, Philipperbrief (ANRW) 3282 Anm. 7, aus dem Befund: Sie setzen auch hinter IThess 4,1 die literarkritische Schere an. So wird aus einer einzigen Stelle (2Kor 13,11) ein .formgeschichtliches Gesetz' abgeleitet, das dann auf alle anderen Stellen normativ angewandt wird - ein Verfahren, das wohl jeglicher methodischen Grundlage entbehrt. 19 Das hat KILPATRICK, ΒΛΕΠΕΤΕ, bereits 1968 unter Heranziehung aller einschlägigen Belege nachgewiesen. Trotzdem übersetzen WILCKENS, N T (1970 u.ö.), und G. BARTH, Z B K N T 9 (1979) die Stelle mit „Nehmt euch in acht vor den Hunden . . . " (so auch die LUTHER-Revison von 1984; noch stärker SCHENK, Philipperbriefe 327). Die meisten Übersetzungen haben „Gebt acht auf die H u n d e . . . " , was ebenfalls als Warnung aufgefaßt wird (so auch LUTHER 1956, während LUTHER 1912 noch ganz richtig „Sehet die Hunde . . . " hatte!). 20 Vgl. B - D - R § 491 (zur Anapher) und WEISS, Beiträge (passim). Für unsere Stelle besonders interessant ist das dreifache που IKor 1,20 (Hinweis von MACKAY, Further Thoughts 163).

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

denen Reisepläne in Phil 2,19-30 (vgl. auch Phil 4,2f) - in den Paulusbriefen immer den Briefschluß einleiteten: In Wirklichkeit können solche „Epistolaria"21 sowohl am Ende (vgl. Rom 15,22-29; 16,lf; IKor 16,5-18; Phlm 22) als auch an anderen Stellen der Briefe stehen (vgl. IKor 4,16-21; Gal 1,11-2,14; 4,12-20; IThess 2,17-3,11; Phlm 12).22 Am deutlichsten wird das subjektivistische Vorgehen wohl beim Umgang mit Phil 4,10-20: Wenn hier die Plazierung des Dankes für die Gabe der Philipper als ,zu spät' empfunden wird, werden damit schlicht die Höflichkeitsvorstellungen neuzeitlicher Exegeten zur Norm erhoben. Der Abschnitt selbst läßt jedoch erkennen, daß Paulus ein ambivalentes Verhältnis zur Gemeindespende hat: Ohne das Wort .Dank'23 - stattdessen in Ausdrücken des Geschäftslebens24 - bestätigt er deren Erhalt, betont aber gleichzeitig seine Unabhängigkeit. Diese Haltung findet sich auch in anderen Paulusbriefen.25 So dürfte die Stellung des ,danklosen Dankes'26 Phil 4,10-20 am Briefschluß eher ein absichtlicher Wink an die Gemeinde sein, die Angelegenheit nicht zu wichtig zu nehmen - zumal der Apostel bereits in Phil 1,3.5.7 und 2,25 auf die Gabe angespielt hat.27 Das einzige zwingende Argument für eine Teilungshypothese wäre der Nachweis, „daß in den verschiedenen Briefteilen unterschiedliche äußere Situationen vorauszusetzen sind"28. Auch hier wird wieder beim Dank angesetzt: Phil 2,25-30 lasse erkennen, daß zwischen dem Erhalt der Gabe und der

21 So die formgeschichtliche Benennung von BERGER, Formgeschichte 277-279. 22 Sein schematisches Vorgehen zwingt SCHENK, Philipperbriefe 253, dazu, auch in IKor 4 einen Briefschluß zu postulieren (vgl. oben Anm. 18 zu IThess 4,1). - Da eine Auseinandersetzung mit den Teilungshypothesen zum 2. Korintherbrief im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist (vgl. aber BEIER, Briefe 78-102; WITHERINGTON, Conflict and Community 328-339), habe ich hier auf 2Kor 7,5—16 als weiteres Beispiel für Korrespondenz mitten im Brief verzichtet. 23 Vgl. dagegen Rom 16,4 (ευχαριστώ). 24 Siehe die Aufzählung bei SCHENK, Philipperbriefe 63, und GARLAND, Composition and Unity 153 Anm. 45. 25 Vgl. IThess 2,5-12; IKor 4,11 f; 9,1-18; 2Kor 11,7-10; 12,14ff. 26 Dieses geflügelte Wort wurde m. W. von C. HOLSTEN, Der Brief an die Philipper (1876), 164, geprägt (vgl. MENGEL, Philipperbrief 282f). 27 Die Annahme eines eigenständigen .Dankschreibens' Phil 4,10-20 wirft außerdem wieder neue Probleme auf; Wenn Paulus der Gemeinde einen Dankbrief aus dem Gefängnis schreibt, warum teilt er ihnen nichts über seine Lage mit (analog zu Phil l,12ff)? Vgl. zu diesem Einwand BEIER, Briefe 19 (dort auch ein Hinweis auf das δέ in 4,10, das keinen Briefbeginn, sondern eine Weiterführung signalisiert), sowie GNILKA, HThK X/3, 10. 172f; MENGEL, Philipperbrief 307; GARLAND, Composition and Unity 152. - Auch SCHNIDER/STENGER, Briefformular 72 Anm. 8, müssen einräumen, daß die Literarkritik bei 4,10-20 Probleme offenläßt, bekommen so aber (ebd. 74) für 2,12-30; 3,1; 4 , 4 - 7 . 2 1 - 2 3 „einen schemagemäß vollständigen Briefschluß" (nicht ganz dagegen für 4,1 - 3 . 8 - 9 , wo der Schlußgruß „weggebrochen" sei). 28 CONZELMANN/DNDEMANN, Arbeitsbuch ( n 1995) 259 (zu IKor); vgl. 247f (zu Phil).

Literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefes

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Rücksendung des Epaphroditus ein ,,wiederholte[r] Nachrichtenaustausch"29 stattgefunden haben müsse. In der Tat wäre es merkwürdig, wenn Paulus die philippische Gemeinde durch einen Boten (oder Brief?) von der plötzlichen schweren Erkrankung des Epaphroditus informiert hätte (vgl. 2,26) und diese daraufhin ihrerseits durch einen Boten (oder Brief?) ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht hätte, ohne daß dabei ein Wort über die materielle Unterstützung gefallen wäre. Aber davon steht nichts im Text: 2,19 läßt eher auf einen Mangel an regelmäßigen Informationen schließen30, und in 2,20- 23 betont Paulus die Schwierigkeit, überhaupt einen geeigneten Boten zu finden31. Die Formulierungen in bezug auf die ασθένεια des Epaphroditus sprechen dafür, daß diese im Zusammenhang mit der „Erfüllung seines Auftrages" zu sehen ist.32 Somit ist es nicht unwahrscheinlich, daß ihm bereits auf der Reise zu Paulus etwas zugestoßen ist und Nachrichten bzw. Gerüchte über seine Lebensgefahr bereits nach Philippi gelangt sein können, bevor er bei Paulus eingetroffen ist.33 Und um sich zu denken, daß die Gemeinde sich daraufhin um ihren Abgesandten sorgte, bedurfte es wohl keines Briefes!34 - Die v. a. aus Phil 1,7.13.14.17 hervorgehende Gefangenschaft des Paulus35 wird zwar in 3,2-4,3 (bzw. 4,9) nicht erwähnt; daraus jedoch auf eine andere Abfassungssituation zu schließen, ist ein vorschnelles argumentum e silentio - es geht in der Passage (wie übrigens auch in 2,1-11) eben nicht um das gegenwärtige

2 9 BORNKAMM, B r i e f s a m m l u n g

199; vgl. SCHMITHALS, Irrlehrer 5 6 f ;

MÜLLER-BARDORFF,

Einheit 597; BEARE, Philippians 4. 30 Vgl. GARLAND, Composition and Unity 151. 31 MACKAY, Further Thoughts 169, weist auf das gleiche Problem bei Cicero hin. Vgl. auch Β EIER, B r i e f e 1 6 f .

32 So SCHENK, Philipperbriefe 239f, der besonders auf das ϊ ν α in 2,30 sowie ebd. die Wendungen μέχρι θανάτου (Zitat aus 2,8!) und παραβολευσάμενος (nach den inschriftlichen Belegen ,sein Leben [für einen Freund] aufs Spiel setzen') aufmerksam macht. 33 Vgl. MACKAY, Further Thoughts 169. 34 Das stellt zu Recht GARLAND, Composition and Unity 152, fest und verweist ebd. Anm. 39 auf einen antiken Brief eines Soldaten an seine Mutter, die gerüchtweise von der Krankheit ihres Sohnes gehört hatte. 35 Den Bemerkungen des Briefes läßt sich entnehmen, daß ein Todesurteil nicht auszuschließen ist (vgl. 1,12-26 und 2,17), Paulus aber noch auf eine Freilassung hofft (vgl. l,25f und 2,23 f). - Die Diskussion um den Ort der Gefangenschaft (Rom? Caesarea? Ephesus?) können wir im Rahmen dieser Arbeit nicht in ihrer ganzen Breite aufgreifen. Hier sei lediglich angemerkt, daß ein Hauptargument gegen Rom (bzw. Caesarea) und für Ephesus das aus 2,25-30 erschlossene „lebhafte Hin und Her" (VIELHAUER, Urchristliche Literatur 167) ist. Wie wir gerade gesehen haben, geht dies nicht zwingend aus dem Text hervor. (Die römische Abfassung vertreten in jüngster Zeit etwa SILVA, Philippians 5 - 8 ; O'BRIEN, Philippians 19-26, bes. 25f; SCHNELLE, Einleitung 159-162; WICK, Philipperbrief 182-185; FEE, Philippians 34-37.)

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

persönliche Ergehen des Apostels.36 Umgekehrt kann auch nicht aus der Heftigkeit der Polemik in 3,2ff geschlossen werden, daß hier eine neue Situation der Gemeinde eingetreten sei - damit wäre nämlich bereits vorausgesetzt, was eigentlich erst bewiesen werden soll: die unterschiedliche Situation der einzelnen Briefabschnitte.37 Vielmehr findet sich bereits in Phil 1,28 ein Hinweis auf „Widersacher" (αντικείμενοι), denen „Verderben" (απώλεια, vgl. 3,19!) prophezeit wird; und im selben Zusammenhang steht (1,27) das Verb πολιτεύεσθαι als paulinisches Hapaxlegomenon, wo man für den .Lebenswandel' das Wort περιπατεΐν erwarten würde. Letzteres findet sich auch tatsächlich in 3,17f gleich zweimal, während πολιτεύεσθαι seine Entsprechung in 3,20 mit dem (im NT nur hier vorkommenden) Begriff πολίτευμα erhält; hinzu kommt noch die Entsprechung von σωτηρία in 1,28 und dem (bei Paulus einmaligen) Christustitel σωτηρ in 3,20. Diese Querbezüge zeigen, daß Paulus in Phil l,27f die Polemik von 3,17-21 bewußt vorbereitet, mithin also schon hier über die in der Gemeinde agitierenden „Widersacher" informiert sein muß.38 Damit sind wir aber schon bei den literarischen Beobachtungen am Text, die für seine Einheitlichkeit sprechen.39 Der pauschale Hinweis auf Motive und Stichworte, die den ganzen Brief durchziehen40, reicht zwar für sich genommen noch nicht als Beweis aus - schon gar nicht, wenn eines der genannten Motive zum beherrschenden und damit einheitstiftenden ,Hauptthema' des Briefes erklärt wird41. Aber es gibt Stichwortverbindungen zwischen einzelnen Briefpassagen, die diese eng miteinander verknüpfen.

36 U.B.MÜLLER, Prophetie und Predigt 209, weist darauf hin, daß sich Phil 3,10f.l4 durchaus auf die drohende Hinrichtung beziehen lassen. 37

Gegen

SCHMITHALS,

Irrlehrer

57f;

MÜLLER-BARDORFF,

Einheit

5 9 1 f; BORNKAMM,

Briefsammlung 200. 204f; aber auch MENGEL, Philipperbrief 297; U. Β. MÜLLER, ThHK XI/1, 4—14 und passim. 38 Ausführlicher werden wir uns mit der Frage der Gegner unten S. 332ff befassen. 39 Als äußeres Indiz, das jedoch lediglich den Rang eines Zusatzarguments haben könnte, wird noch angeführt (besonders dezidiert von RAHTJEN, Three Letters 167, GNILKA, HThK X/3, 11; SCHENK, Philipperbrief [ANRW] 3282), daß Polykarp von Smyrna in seinem Brief an die philippische Gemeinde von mehreren „Briefen" des Paulus „an euch" spricht (3,2: ος και άπών ύμΐν εγραψεν έ π ι σ τ ο λ ά ς ) . Aber wenn auch richtig ist, daß Polykarp genau zwischen Singular und Plural differenziert (vgl. ebd. 13,2), so ist ebenso deutlich, daß er selbst nur einen Philipperbrief des Paulus kennt (vgl. ebd. 11,3). Der Plural ist entweder von Polykarp aus Phil 3,1b (τα αϋτά γράφειν ύμΐν) herausgelesen, oder er bezieht sich auf alle Paulusbriefe (dann wäre das ,euch' ekklesiologisch zu verstehen). Vgl. zu dieser Erklärung LINDEMANN, Paulus 88 f, dem sich der Kommentar von PAULSEN (HNT18,1985), 116, anschließt. 40 Etwa die Freude (1,4.18.25; 2,2.17f.28f; 3,1; 4,1.4.10), die Gemeinschaft (1,5.7; 2,1; 3,10; 4,14f), die herzliche Verbundenheit mit der Gemeinde (1,1.4.7.8.25; 2,17.19.24.26; 4,1.10.26;), das rechte φρονεΐν (1,7; 2,2.3.5; 3,15.19; 4,2.10), Bedrängnis und Leiden (1,18-26. 29f; 2,17.27f; 3,10; 4,14), der Tag Christi (1,6.10; 2,16; vgl. 3,20; 4,5). Vgl. z.B. die Zusammenstellungen bei GNILKA, HThK X/3, 9; JEWETT, Thanksgiving 51 f; EGGER, NEB 9/11/15 (1985), 48. - Unzutreffend ist GNILKAS Behauptung, der Hinweis auf das φρονεΐν fehle in Kap. 3.

Literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefes

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Hier ist zuerst auf die Danksagung im Briefeingang (Phil 1,3-11) hinzuweisen, die in dem Dankabschnitt am Ende (Phil 4,10-20) bemerkenswerte Parallelen hat42: Bereits die erste Aussage von 1,3 wird in 4,10 durch Synonyma wiederaufgegriffen43; die Verbindung φρονεΐν + ύπέρ (Phil 1,7 und 4,10) sowie die Wendung ό θεός μου (Phil 1,3 und 4,19) finden sich im NT nur hier. Eine enge Verknüpfung liegt auch zwischen 1,5 und 4,15 (die von Anfang an bestehende κοινωνία der Gemeinde in Hinsicht auf das εύαγγέλιον) sowie zwischen 1,7 und 4,14 (συγκοινωνούς - συγκοινωνηοαντες) vor. Das Stichwort περισσεύειν aus 4,12.18 (,Überfluß haben') klingt - wenn auch in etwas anderer Bedeutung - bereits in 1,9 an (die Liebe der Philipper soll .wachsen'); und 1,11 hat mit 4,19f die Begriffe πληρούν (vgl. auch 4,18), δόξα, Jesus Christus' (bzw. .Christus Jesus') und ,Gott' gemeinsam. Diese überdurchschnittlich große Anzahl gemeinsamer Begriffe und Wendungen - überwiegend solche, die selten vorkommen - spricht sehr dafür, daß Phil 1,3-11 und 4,10-20 von Anfang an zum selben Brief gehörten. Auch das Vokabular des sogenannten .Christushymnus' in Phil 2,5-11 einem trotz Divergenzen bezüglich Herkunft, Gattung und Struktur unbestritten zentralen Abschnitt des Philipperbriefes44 - wiederholt sich in anderen Teilen des Briefes: Bereits in den unmittelbar vorangehenden Versen (2,1-4) wird der Abschnitt 2,5-11 durch Vorwegnahme einiger Begriffe sorgfältig vorbereitet; das mag die folgende Übersicht verdeutlichen45:

41 So bei LOHMEYER, KEK K/1, 1 - 8 (und passini) das Martyrium; modifiziert von JEWETT, Thanksgiving 50f, der das Leiden als Hauptthema ansieht (so jetzt auch BLOOMQUIST, Suffering). SWIFT, Theme and Structure 237, hält das Motiv der G e m e i n s c h a f t für zentral ("the central theme of the epistle: the Philippians' partnership in the gospel.") Zur F r e u d e vgl. bereits BENGEL, Gnomon 498 (zu Phil 1,4): Summa epistolae: Gaudeo, gaudete. 42 Darauf hat m.W. zuerst SCHUBERT, Thanksgivings 76f, aufmerksam gemacht (gefolgt von JEWETT, Thanksgiving 53). Weiter ausgeführt wurde dieser Ansatz durch DALTON, Integrity 101 (gefolgt von SWIFT, Theme and Structure 249f) - allerdings zu einseitig auf den Aspekt der κοινωνία bezogen. 43 Phil 1,3: Ευχαριστώ τω θεώ μου έπί πάση τη μνείςί ύμών - Phil 4,10: Έχάρην δέ έν κυρίω μεγάλως οτι ηδη ποτέ άνεθάλετε τό ύπέρ έμοΰ φρονεΐν. - Daß die Wendung έπί πάση τη μνεία ύμών in 1,3 kausal als genetivus subiectivus zu verstehen ist (,für euer gesamtes Gedenken') und nicht temporal als genetivus obiectivus (.immer, wenn ich an euch denke'), hat SCHUBERT, Thanksgivings 71-82, ausführlich begründet. Vgl. schon EWALD/WOHLENBERG, KNT XI, 44-49; in neuerer Zeit O'BRIEN, Philippians 58-61, sowie SCHENK, Philipperbriefe 94f, gegen den allerdings festzuhalten ist: 1,3ff spricht keineswegs „dafür, daß 4,10ff als Gabenbrief schon vorausging" (94), sondern zeigt lediglich einmal mehr, daß Paulus die materielle Gabe nicht überbetonen will: Das .gesamte Gedenken' der Philipper umfaßt eben mehr als nur die Gabe (ebd. zu Recht betont)! Vgl. auch oben S. 284. 44 Zur Gattungsbestimmung der Passage, ihrer Struktur und ihrer Funktion im Kontext siehe unten Kap. V. 2c, S. 307ff. 45 Vgl. BLACK, Paul and Christian Unity 304.

288 2.1 2.2 2.3 2,3 2,3

Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

έν Χριστώ φρονητε / φρονουντες ήγούμενοι κενοδοξίαν ταπεινοφροσύνη

2,5 2.5 2.6 2.7 2.8

έν Χριστώ Ίησοΰ φρονείτε ήγήσατο εαυτόν έκένωσεν έταπείνωσεν έαυτόν

Einzelne Motive aus Phil 2,5-11 durchziehen dann auch die Fortsetzung: So knüpft das Zugeständnis πάντοτε ύπηκούσατε in 2,12 an das γενόμενος υπήκοος von 2,8 an; und das zweimalige εις κενόν in 2,16 läßt sowohl das εαυτόν έκένωσεν von 2,7 als auch die κενοδοξία von 2,3 wieder anklingen. Das Lob der Mitarbeiter Timotheus (2,19-24) und Epaphroditus (2,25 - 3 0 ) greift ebenfalls auf Wendungen aus dem Christuslob zurück, wenn Paulus über ersteren schreibt: σύν έμοί έδούλευσεν εις το εύαγγέλιον (2,22; vgl. 2,7: μορφήν δούλου λαβών), und über letzteren: δια το έργον Χρίστου μέχρι θανάτου ηγγισεν (2,30; vgl. 2,8: γενόμενος ύπήκοος μέχρι θανάτου)46. Wichtig für die Frage der Einheitlichkeit des Briefes ist aber die Beobachtung, daß sich die Anklänge an Phil 2,5-11 auch im umstrittenen dritten Kapitel finden lassen. Dies trifft in besonderem Maße für 3,20-21 zu47: 2,6.7 2.6 2.7 2.8 2,10 2.10 2.11 2,11

μορφή, μορφήν υπάρχων σχήματι έταπείνωσεν έαυτόν ϊ ν α . . . πάν γόνυ κάμψη κτλ. έπουρανίων κύριος Ίησοϋς Χριστός εις δόξαν

3,21 3.20 3.21 3,21 3,21 3.20 3.21 3,21

συμμορφον ύπάρχει μετασχηματίσει ταπεινώσεως ύποτάξαι αύτω τά πάντα τό πολίτευμα έν ούρανοΐς κύριον Ίησοΰν Χριστόν της δόξης αύτοΰ

Was an dieser Zusammenstellung besonders ins Gewicht fällt, ist die relativ große Zahl von Begriffen, die bei Paulus selten vorkommen.48 Deshalb und wegen der feierlich-gehobenen Sprache in Phil 3,20-21 rechnen etliche Exegeten bei diesen Versen - genau wie bei Phil 2,[5]6-ll - mit der Aufnahme eines ,Hymnus' (oder .Hymnenfragments') durch Paulus. Diese These wird

46 Der Riickverweis ist hier unbestreitbar, weil die Wendung μέχρι θανάτου im ganzen NT nicht noch einmal zu finden ist. 47 Zur folgenden Übersicht vgl. GARLAND, Composition and Unity 158 (von mir geringfügig modifiziert). 48 Μορφή ist neutestamentliches Hapaxlegomenon; σύμμορφος steht nur noch Rom 8,29 (vgl. das Hapaxlegomenon συμμορφίζεσθαι Phil 3,10). Auch σχήμα ist nur noch einmal anzutreffen (IKor 7,31); das Verb μετασχηματίζειν nur noch lKor 4,6; 2Kor 11,13.14.15. Zu ταπεινοΟν siehe unten Anm. 53; ταπείνωσις (3,21) ist Hapaxlegomenon (ταπεινός bei Paulus noch Rom 12,16; 2Kor 7,6; 10,1; ταπεινοφροσύνη Phil 2,3).

Literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefes

289

uns an anderer Stelle dieser Untersuchung noch beschäftigen49; für die Frage der Einheitlichkeit des Briefes ist hier nur wichtig, daß nicht nur in 3,20-21 Begriffe aus 2,5 - 1 1 aufgegriffen werden, sondern im ganzen dritten Kapitel50: 2,5

τοΰτο φρονείτε

2,6.7 2,6 2,7.8 2,7 2,8 2,8 2,10 2,11

μορφή, μορφήν ήγήσατο γενόμενος ευρεθείς θανάτου σταυροΰ επιγείων εις δόξαν

3,15

τοΰτο φρονώμεν... ε'ι τι έτέρως φρονείτε (3,19 τα επίγεια φρονοΰντες) 3,10 συμμορφιζόμενος 3,7.8 ηγημαι, ηγούμαι, ήγοΰμαι 3,6 γενόμενος 3,9 εύρεθώ έν αυτω 3,10 τω θανάτω αύτοΰ 3,18 έχθρούς τοΰ σταυροΰ 3,19 τα επίγεια φρονοΰντες 3,19 ή δόξα

Hierbei fällt wiederum besonders der Abschnitt 3,4b-11 auf, der nicht nur in der Wortwahl einige Parallelen zum Christuslob 2,5-11 aufweist, sondern als autobiographischer „Konversionsbericht"51 auch selbst den Regeln epideiktischer Rhetorik verpflichtet ist - uns also noch beschäftigen wird.52 Im vierten Kapitel des Philipperbriefes sind die Anklänge an 2,5-11 nicht so gehäuft, aber ebenfalls vorhanden: Es finden sich die Stichworte φρονείν (4,2 u. 4,10; vgl. 2,5), ονομα (4,3; vgl. 2,9) und δόξα (4,19.20; vgl. 2,11); und mit der Wendung οιδα και ταπεινοΰσθαι (4,12) ist auch eine der selteneren Vokabeln von 2,5-11 (έταπείνωσεν 2,8)53 wiederaufgegriffen. Insgesamt spricht die Wiederholung des Vokabulars von Phil 2,5-11 in den übrigen Teilen des Briefes - besonders im dritten Kapitel - nicht nur für dessen literarische Einheitlichkeit, sondern auch dafür, daß die Abfassungszeit der einzelnen Abschnitte nicht allzuweit auseinanderliegt.54 Einen weiteren Abschnitt, der durch Wiederaufnahme von Begriffen mit anderen Stellen des Briefes verknüpft ist, stellt Phil 1,27-30 dar. Auf die Ver-

49 Siehe zu Phil 3,20-21 unten Kap. V. 2f, S. 330ff. 50 Zur folgenden Übersicht vgl. GARLAND, Composition and Unity 159 (ebenfalls modifiziert). 51 BERGER, Formgeschichte 272; vgl. ebd. 345 (zu 2Kor 11,22-33 u. Phil 3,5-6): „abhängig vom Schema des Enkomions". 52 Siehe zu dieser .epideiktischen Passage' des Briefes unten Kap. V. 2f, S. 327f u. 334f. 53 Das Verb ταπεινοΰν kommt im Phil nur 2,8 und 4,12 vor, sonst bei Paulus nur noch 2Kor 11,7 und 12,21. - Das Verb φρονείν benutzt Paulus 21mal, davon lOmal im Phil. - Sehr häufig ist das Wort δόξα bei Paulus (53mal). 54 Vgl. DALTON, Integrity 100: "the thoughts and phrases of the Christ hymn were still fresh in Paul's mind." - Durch diese Beobachtung verliert die Annahme einer Diktierpause noch mehr an Wahrscheinlichkeit.

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

bindungen zwischen l,27f und 3,17-21 wurde oben bereits hingewiesen.55 Aber auch der Anfang des vierten Kapitels enthält einige auffällige Stichworte aus 1,27-30, und zwar genau die als mögliche Nahtstellen diskutierten Verse 4,1; 4,3 und 4,9: In 4,1 steht der Imperativ στηκετε (vgl. 1,27), in 4,3 die Aussage έν τω εύαγγελίω συνηθλησάν μοι (vgl. 1,27: ουναθλοΰντες τη πίστει του ευαγγελίου) 56 und in 4,9 die Formulierung ήκούσατε καί εϊδετε έν έμοί, in der die Wendung τον αυτόν αγώνα έχοντες οίον εϊδετε έν έμοί καί νυν άκούετε έν έμοί (1,30) wieder anklingt. Damit dürften wohl auch Phil 1,27-30 und 4 , 1 - 9 demselben Brief zuzurechnen sein. Als Ergebnis ist also festzuhalten: Die Teilungshypothesen zum Philipperbrief werfen selbst mehr Probleme auf, als sie zu lösen vorgeben; die für eine Teilung vorgebrachten Argumente halten der Überprüfung nicht stand. Auf der anderen Seite lassen sich vielfältige Stichwortverknüpfungen zwischen Phil 1,3-11 und 4,10-20, zwischen Phil 1,27-30 und (zumindest) 3,17-21 und 4 , 1 - 9 sowie zwischen Phil 2,5-11 und den übrigen Teilen - besonders dem dritten Kapitel - des Briefes beobachten, was die literarische (und wohl auch situative) Einheitlichkeit des Briefes zusätzlich wahrscheinlich macht. Somit ist im folgenden von der Einheit des Philipperbriefes auszugehen. Die zuletzt angeführten literarischen Verknüpfungen weisen zudem darauf hin, daß Paulus den Brief bewußt gestaltet hat; wie sie im Blick auf die Struktur des Philipperbriefes zu interpretieren sind, wird uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.

b) Rhetorische Gattung und Gliederung Wie wir bei der Untersuchung antiker Brieftheorie und -praxis gesehen haben1, lassen sich antike Briefe, zumal wenn sie den Rahmen rein privater Mitteilungen überschreiten, durchaus nach rhetorischen Kategorien analysieren. Auch der Philipperbrief des Paulus enthält zwar aktuelle persönliche Mitteilungen (v. a. 2,19-30; daneben vgl. l,12ff; 4,2f; 4,10ff) und betont die herzliche, ja familiäre Verbundenheit zwischen Absender und Empfängern durch die Anrede als „Geschwister" (αδελφοί, 1,12; 3,1.13.17; 4,1.8)2 und als „geliebte" (αγαπητοί, 2,12; 4,1 [2x]). Aber das Anliegen des Briefes erschöpft sich nicht im Privaten oder in der einfachen Informationsübermittlung; vielmehr geht es dem Absender Paulus um grundsätzlichere Dinge, nämlich die Verbreitung und Förderung des Evangeliums von Jesus Christus (vgl. nur die

55 Siehe oben S. 286. 56 Das Verb συναθλεΐν findet sich im NT nur Phil 1,27 und 4,3. 1 Siehe oben Kap. IV. 2 Zur Übersetzung der generischen Pluralform siehe oben Kap. V. 1 a, Anm. 15.

Rhetorische Gattung und Gliederung des Philipperbriefes

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Häufigkeit des Stichworts εύαγγέλιον: l,5.7.12.16.27[2x]; 2,22; 4,3.15), als dessen „Diener" bzw. „Sklave" (δούλος) er sich bezeichnet (1,1). Damit ist deutlich, daß Paulus sich nicht als Privatmann, sondern als Abgesandten Jesu Christi' versteht - auch wenn er den Titel απόστολος hier nicht ausdrücklich für sich reklamiert.3 Das aber erhebt ihn in den Rang einer Autorität über die Angesprochenen und verleiht seinem Brief einen offiziellen Charakter, so daß sich von unseren Erkenntnissen anhand antiker Brieftheorie und -praxis her eine gewisse Nähe zur Rede erwarten läßt.4 Als rhetorische Gattung des Philipperbriefes legt sich schon aufgrund der vielen Imperative das γένος συμβουλευτικόν (genus deliberativum) nahe, in dem es um Zu- und Abraten geht. Offensichtlich will Paulus die philippische Gemeinde von einer bestimmten Lebensweise überzeugen. Das ist direkt ausgesprochen in Phil 1,27 („Nur [eins ist wichtig]: Lebt als Gemeinschaft würdig des Evangeliums Christi!"), wodurch diesem Satz im Briefganzen eine zentrale Bedeutung zukommt.5 Er dürfte den Gegenstand formulieren, über den Paulus die Gemeinde beraten will - die Frage: ,Was heißt, würdig des Evangeliums zu leben?'. Diese Frage ist vermutlich in Philippi akut geworden, weil

3 Darauf konnte er vermutlich wegen des ungetrübten Verhältnisses zur Gemeinde verzichten (vgl. auch IThess 1,1; Phlm 1,1; anders Gal 1,1; IKor 1,1; 2Kor 1,1, wo Spannungen bestehen, und Rom 1,1, wo Paulus der Gemeinde noch unbekannt ist). Die den Mitarbeiter Timotheus einschließende Selbstbezeichnung δούλοι Χριστοί) Ίησοδ (1,1) konnte in Philippi zunächst als eine Art "understatement" aufgefaßt werden; sie antizipiert jedoch auch die im weiteren Briefverlauf geforderte Lebenshaltung (bes. zu beachten ist die Wiederaufnahme dieser Aussage in 2,22 und die ehrende Bezeichnung des Epaphroditus als „euer απόστολος" in 2,25). Vgl. zu den Implikationen der paulinischen Selbstbezeichnungen .Apostel' und ,Knecht/Sklave Christi Jesu' im Präskript auch SCHNIDER/STENGER, Briefformular 4 - 1 4 (bes. lOf). 4 Zumal wenn der Brief in der Gemeindeversammlung öffentlich vorgelesen, also wieder in das Medium der Mündlichkeit überführt wurde (vgl. IThess 5,27). - Das hier vom Philipperbrief Gesagte gilt mutatis mutandis für alle Paulusbriefe (die Nähe zur Rede betonen auch SCHNIDER/STENGER, Briefformular 26f. 51 f. 58f). Zu Recht ist heute die von DEISSMANN, Licht vom Osten 198, eingeführte Alternative „unliterarische Briefe oder literarische Episteln" (mit der Zuordnung der Paulusbriefe in die erstgenannte Kategorie), die in der antiken Brieftheorie keine Entsprechung hat, weitgehend aufgegeben (vgl. schon die zeitgenössische Kritik durch WENDLAND, Literaturformen 344-346): Auch .echte', d.h. auf eine konkrete Situation bezogene Briefe können literarisches Niveau aufweisen - und zwar um so mehr, je mehr sich das sprachliche Vermögen des Verfassers und die Thematik des Briefes vom Alltäglichen abheben. Wenn dies aber für die Paulusbriefe zutrifft - und zumindest für den Phil weisen die im vorigen Abschnitt aufgezeigten literarischen Querbezüge darauf hin - , dann kann der von einigen Exegeten geäußerte Hinweis auf die .echte Brieflichkeit' (aus der eben eine unsystematische Gedankenabfolge resultiere) kein stichhaltiges Argument für die Einheitlichkeit des Philipperbriefes sein (gegen DELLING, R G G 3 V [1961], 335; ERNST, Phil/Phlm/Kol/Eph [RNT], 29; DALTON, Integrity 98; HAWTHORNE, W E E 43, xxxi; BEIER, Briefe 214; vgl. modifiziert POLLARD, Integrity 59, und EGGER, NEB 9/11/15,48). 5 Vgl. schon FRIEDRICH, NTD 8 [161985], 146 (= 9 1962, 105): „Der Satz ist wie eine Überschrift über die ganzen folgenden Ermahnungen."

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von außen her eine Gruppe von Leuten in die Gemeinde gekommen war, die eine andere Antwort als Paulus propagierten - nämlich Beschneidung und Verpflichtung auf die Thora. Paulus stellt nun demgegenüber seine Position in werbender Absicht dar.6 Nur der Abschnitt 2,19-30 nimmt hier eine Sonderstellung ein: Er gehört als Lob der Mitarbeiter Timotheus und Epaphroditus dem γένος έπιδεικτικόν (genus demonstrativum) an und bildet im Gesamtaufbau des Briefes einen .Exkurs' (mit Gelegenheit für briefliche Mitteilungen).7 Nach Abzug der brieflichen Rahmung (Phil 1,1-2: Präskript, Phil 4,21-23: Postskript) weist unser Text m. E. die folgende rhetorische Disposition auf: In Phil 1,3-11 liegt eindeutig ein Proömium (προοίμιοvi exordium) vor.8 Dies ist zwar nach einigen antiken Rhetorik-Lehrbüchern für die Beratungsrede nicht unbedingt erforderlich9, aber doch ein naheliegender Anfang: Auch der Ratgeber will seine Hörer zunächst wohlwollend, aufmerksam und

6 Zu dieser Bestimmung von Redegattung und rhetorischer Situation vgl. WATSON, Rhetorical Analysis 58-60. Mit der Identität der Gegner werden wir uns ausführlicher im Zusammenhang von 3,2ff befassen (siehe unten Kap. V. 2f, S.332ff). - BLOOMQUIST, Suffering 119f, rechnet den Phil ebenfalls zum "deliberative or persuasive genus", betont aber die Möglichkeit der Gattungsmischung ("forensic and epideictic elements can also be found in it as well" ). Ähnlich jetzt auch BLACK, Discoure Structure 16: "Philippians is an integral composition whose primary rhetorical function is deliberative". - SCHENK, Philipperbrief (ANRW) 3282, nimmt für seinen .Brief B' (= Phil 1,1-3,1; 4,4-7) inzwischen gleichfalls das genus deliberativum an (anders noch ders., Philipperbriefe 278: genus demonstrativum - das hängt jedoch mit seiner damaligen Einschätzung des Rom zusammen, der wohl doch eher als „protreptische Mahnrede" [BERGER, Formgeschichte 217] und damit als beratender Text anzusehen ist). Zum rhetorischen Genos von 3,2ff siehe unten Kap. V. 2f, S. 334f. 7 Damit schließe ich mich WATSON, Rhetorical Analysis 60, an. - KENNEDY, NT Interpretation 77, bezeichnet den ganzen Philipperbrief als "largely epideictic", ohne diese pauschale Gattungszuweisung näher zu begründen. Obwohl die Bestimmung so m.E. nicht zutreffend ist, ist hier doch etwas Richtiges erkannt: die wichtige Funktion epideiktischer Elemente im gesamten Brief. Siehe dazu ausführlich unten Kap. V. 2. 8 So auch explizit unter rhetorischen Gesichtspunkten SCHENK, Philipperbriefe 278, und deis., Philipperbrief (ANRW) 3282 (allerdings bezogen auf den sog. .Brief B' = Phil 1,1-3,1; 4,4-7), sowie BLOOMQUIST, Suffering 121ff u. 145ff. - Die Bezeichnung von Phil 1,3-11 als ,Proömium' ist sogar in der exegetischen Literatur fast allgemein üblich, auch wenn der Brief ansonsten nicht nach rhetorischen Kategorien analysiert wird. Demgegenüber erweckt es den Anschein von Willkür und Iäßt alle Gliederungssignale des Textes außer acht, wenn WATSON, Rhetorical Analysis 61-65, das exordiumbis 1,26 gehen läßt. 9 Aristoteles, Rhet. ΠΙ 14,11; Cicero, Part. or. 4,13. - Dagegen wird bei Rhet. ad Alex. 29; Rhet. ad Her. 1114,7 auch für Beratungsreden ein Proömium vorausgesetzt. Ausführlich wird die Frage bei Quint. Inst. ΙΠ 8, 6-10, diskutiert.

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gelehrig stimmen.10 Im vorliegenden Fall ist das Proömium als Gebetsbericht (Danksagung an Gott/Fürbitte für die Gemeinde) und Betonung des .Gedenkens' als Zeichen der herzlichen Verbundenheit zwischen Absender und Empfänger(inne)n gestaltet11; es findet einen feierlichen Abschluß in der Erwähnung der „Gerechtigkeit durch Jesus Christus" und der Wendung εις δόξαν και επαινον θεοΰ(Ι,ΙΙ). Auch der nächste Abschnitt - Phil 1,12-26 - ist klar abgegrenzt: Die Anrede αδελφοί markiert einen Neueinsatz, und die Formel „Ich möchte aber, daß ihr wißt..." (Phil 1,12) weckt für antike Ohren die Erwartung einer .Erzählung' (διήγησις/ζιατταί/ο).12 Diese hat im genus deliberativum keinen Tathergang zu schildern, sondern handelt von vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Dingen, die äußerlich zum Beratungsthema gehören.13 Paulus nutzt die Gelegenheit, um der philippischen Gemeinde Informationen über seine Lage (1,12: τα κατ' έμέ) mitzuteilen. Er tut dies allerdings, indem er nicht eigentlich von sich, sondern vom Evangelium und dessen Fortschritt redet

10 Vgl. Quint. Inst. ΠΙ 8 , 6 - 1 0 . Zu den drei Aufgaben der Redeeinleitung vgl. Aristoteles, Rhet. m 14; Rhet. ad Alex. 29; 36, und bes. Rhet. ad Her. I 4,7; Cicero, De inv. I 15,20; Part, or. 8,28; Quint. Inst. IV 1,5. 11 Sowohl der Gebetsbericht als auch das μνεία-Motiv sind in Proömien antiker Briefe häufig anzutreffen. Allerdings ist die Kombination der beiden Motive wohl eine spezifisch paulinische Ausgestaltung des konventionellen Schemas und nicht selbst eine "common epistolary convention" (vgl. dazu - freilich nur anhand privater Papyrusbriefe - ARZT, The "Epistolary Introductory Thanksgiving", gegen SCHUBERT, Thanksgivings, u.a.). - Zum Verständnis der μνείαWendung in Phil 1,3 (kausal, nicht temporal), siehe oben Kap. V. l a , Anm. 43. 12 Formeln dieser Art werden für den Beginn der narratio von Quintilian (Inst. IV 2,21f) ausdrücklich empfohlen. Sie sind auch in antiken Briefen (v.a. in amtlichen Schreiben) häufig als Eröffnungsformel im Anschluß an die Danksagung belegt (vgl. MULLINS, Disclosure; GNILKA, HThK X/3, 55; SCHENK, Philipperbriefe 132f). Das wird von WATSON, Rhetorical Analysis 61-65, übersehen, wenn er 1,12-26 mit zum exordium rechnet (vgl. aber ebd. 61 bei der Untergliederung die zutreffende Charakterisierung von 1,12-26 als "personal narrative"). Als narratio wird Phil 1,12-26 auch von SWIFT, Theme and Structure 241, bezeichnet, der die Struktur des Briefes ansonsten ohne rhetorische Kategorien analysiert. - SCHNIDER/STENGER, Briefformular 5 3 - 5 9 , rechnen Phil 1,12-30 (sie!) zu der von ihnen vorgeschlagenen Kategorie „briefliche Selbstempfehlung", die zum Corpus überleite und „rhetorisch der Ethos-Beschaffung für den Redner" diene (51). Das ist jedoch genau eine der Aufgaben der rhetorischen .Erzählung' (vgl. oben Kap. ΙΠ. l a , S. 176), und so können SCHNIDER/STENGER, a.a.O. 57, den ebenfalls mit einer „Kundgabeformel" beginnenden Abschnitt Gal 1,11-2,14 als narratio ansehen. - BLOOMQUIST, Suffering 120ff, reißt Phil 1,12-26 auseinander, indem er nur 1,12-14 als „telegraphisch" kurze - narratio sieht (ebd. 123f, vgl. 147ff), in l , 1 5 - 1 8 a eine partitio findet (ebd. 124f, vgl. 150f) und mit 1,18b die argumentatio beginnen läßt (darin 1,18b—26 als confirmatio - ebd. 126, vgl. 152ff). 13 Vgl. Rhet. ad Alex. 3 0 - 3 1 (mit ausdrücklicher Erwähnug der drei Zeitstufen); zurückhaltender in bezug auf die (politische) Beratungsrede ist Aristoteles, Rhet. ΠΙ 16,11, der auch nur Erzählungen über Vergangenes gelten läßt. Siehe außerdem Rhet. ad Her. ΓΠ 4,7; Cicero, Part. or. 4,13; Quint. Inst, ffl 8, lOf (vgl. IV 2,11 f).

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(1,12-18a), und seinen Ausblick auf sein künftiges Ergehen stellt er unter dem Aspekt des Vorteils für die Adressaten dar (l,18b-26, bes. 24f). Damit führt er sich gleich zu Beginn selbst als Vorbild der Lebenshaltung ein, die er im Verlauf des Briefes als christusgemäß definiert: nicht das Eigene zu suchen, sondern das des Anderen (vgl. 2,4). Die in den Rhetorik-Handbüchern geforderten drei Tugenden der .Erzählung' (Kürze, Klarheit und Glaubwürdigkeit)14 sind hier ebenfalls erfüllt: Paulus erzählt nur das, was zum Verständnis des eigentlichen Gegenstandes erforderlich ist (d.h. .kurz')15; der Abschnitt ist klar aufgebaut (Gegenwart-Zukunft); und Glaubwürdigkeit wird außer durch die demonstrierte vorbildliche Lebenshaltung vor allem durch die Erwähnung von Zeugen (l,13f,16) und durch das Zugeben eines inneren Konfliktes (1,23) erzielt. Äußerlich zusammengehalten wird 1,1-26 durch die rahmende Wiederholung der Wendung εις προκοπην (,zur Förderung', 1,12.25) und des Stichworts »zuversichtlich' (1,14: πεποιθότας - 1,25: πεποιθώς).16 Wie oben bereits erwähnt, stellt der mit einem betonten μόνον einsetzende Abschnitt 1,27-30 das Hauptziel der brieflichen ,Rede' in knapper Form dar; er ist daher als propositio (griech. πρόθεσις) anzusprechen.17 Dabei wird der übergeordnete Imperativ πολιτεύεσθε (1,27) in den drei folgenden Verben 14 Siehe zu dieser Forderung Rhet. ad Alex. 30,4-11; Rhet. ad Her. I 9,14-16; Cicero, De inv. 120,28-21,30; De orat. Π 326-330; Quint. Inst. IV 2,31-60. 15 Zu diesem Verständnis der Forderung nach Kürze siehe Rhet. ad Alex. 30,8; Rhet. ad Her. I 9,14; Cicero, De inv. I 20,28; De orat. Π 326-328; Part. or. 6,19; 9,32; Quint. Inst. IV 2,40ff. Vgl. bereits die kritischen Bemerkungen bei Aristoteles, Rhet. ΠΙ 16,4. 16 Auf dieses Stilmittel der „Umrahmung" „durch bestimmte sich wiederholende Schlagworte und Wendungen" hat bereits BULTMANN, Stil 97f (vgl. 46f) aufmerksam gemacht; von GARLAND, Composition and Unity 159-162, wird es (unter der Bezeichnung inclusb) als Argument für die Einheitlichkeit des Philipperbriefes ins Spiel gebracht. Aber wenn auch seine Beobachtungen für die einzelnen Abschnitte (1,12-26. 27-30; 2,19-24. 25 - 3 0 ) zutreffend sind, so ist doch seine Interpretation der Wiederaufnahme von Begriffen aus 1,27-30 in 3,20; 4,1 und 4,3 als eine weitere, umfassendere inclusio nicht ganz befriedigend: Abgesehen davon, daß hier die Berührungen zwischen 1,30 und 4,9 übersehen werden (s.o. S. 290) - die literarische Einheit also wenigstens bis 4,9 gehen müßte - , wird mit der erinnernden Wiederholung der Hauptpunkte in diesem Fall (über eine so weite Entfernung!) doch wohl eher eine der Aufgaben des Schlußteils erfüllt (s.u. S. 298). Freilich könnte man die Rückbezüge des Schlußteils auf den Anfang schon als eine Art .Umrahmung' verstehen, sollte dies dann jedoch nicht auf 1,27-4,9 beschränken, sondern die Berührungen zwischen 1,3-11 und 4,10-20 (s.o. S. 287; vgl. unten S. 298) ebenfalls berücksichtigen. Der weiter gehende Versuch von Α. B. LUTHER/M. V. LEE, Philippians as Chiasmus (1995), den ganzen Phil als chiastische Ringkomposition zu erweisen, erscheint mir allerdings (auch wegen der eigenwilligen Abschnittseinteilung) zu gewaltsam. 17 WATSON, Rhetorical Analysis 65-67, bezeichnet 1,27-30 zwar zu Unrecht als narratio (im Gegensatz zu 1,12-26 wird in 1,27-30 überhaupt nichts .erzählt'!), sieht aber richtig, daß "the proposition that Paul will develop" in dem Abschnitt enthalten ist. BLOOMQUIST, Suffering 120ff, befindet sich bereits seit 1,18b in der argumentalio (vgl. oben Anm. 12) und sieht in 1,27-2,18 eine exhortatio als Unterabschnitt (a.a.O. 126ff, vgl. 157ff). - Zur πρόθεσις/propo-

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στήκετε, συναθλοϋντες und μή πτυρόμενοι ( l , 2 7 - 28a) näher bestimmt.18 Die dreifache Definition der Frage ,Was heißt, würdig des Evangeliums zu leben?' lautet also: (1.) Feststehen in einem Geiste, (2.) zusammen kämpfen für den Glauben des Evangeliums und (3.) sich nicht schrecken lassen von den Widersachern.19 Diese dreifache Bestimmung wird in den Abschnitten 2,1-11; 2,12-18 und 3,1-21 entfaltet, so daß die propositio zugleich eine gliedernde Aufzählung der zu behandelnden Punkte (partitio) darstellt.20 Die Dreiteilung wiederholt sich m. E. in l,28b-30 in umgekehrter (chiastischer) Form: (3'.) „für sie [= die Widersacher] ein Zeichen des Verderbens" (l,28ba), (2'.) „aber [ein Zeichen] eures Heils, und das von Gott" (l,28bß), und (Γ.) der Hinweis auf Leiden und Kampf „für Christus" als Gnadengabe und in Solidarität mit Paulus (l,29f).21 Durch diese chiastische Wiederaufnahme sowie den zweimaligen Hinweis auf das ,Sehen und Hören' am Anfang und am Ende erhält die Satzperiode 1,27-30 eine kunstvolle ringförmige Struktur.22

sitio siehe Aristoteles, Rhet. III 13,2.4; Rhet. ad Her. ΠΙ 3,8 (Beratungsrede) bzw. I 10,17 (Gerichtsrede) (divisio); Cicero, De inv. 122,31-23,33 (partitio); De orat. Π 331; Quint. Inst. IV 4. 18 Das hat SCHENK, Philipperbriefe 166f, m.E. richtig gesehen. Gegen seine rhetorische Disposition von ,Phil B' (= 1,1-3,1; 4,4-7) spricht aber, daß von den dus 1,27-30 herausgearbeiteten „drei grundlegenden Daueraufgaben" nur die erste (στήκετε) näher entfaltet wird (in 2,1-11; dazu ebd. 172ff), die zweite (συναθλοΰντες) immerhin in 2,12-18 anklingt (vgl. ebd. 222 die Deutung der Lichtmetaphorik von 2,15 unter dem Aspekt der Mission), die dritte (μή πτυρόμενοι) jedoch überhaupt nicht mehr erwähnt wird. Diese rhetorische Unvollständigkeit ist ein weiteres Argument gegen eine Teilung des Briefes. 19 Vom rhetorischen Blickwinkel aus läßt sich vielleicht auch das μή πτυρόμενοι in 1,28 (,sich nicht schrecken lassen von den Widersachern'; meist auf Verfolgungen bezogen) besser verstehen: Auch für die Judaisten in Philippi (aus der Sicht des Paulus: αντικείμενοι 1,28; vgl. die Steigerung 3,18!) ist anzunehmen, daß sie sich des genus deliberativum bedienten, um die Gemeinde für sich zu gewinnen. Der beratende Redner kann aber seinen Hörern nicht nur den möglichen Nutzen einer bestimmten Handlungsweise aufzeigen, sondern ihnen auch ausmalen, „was man zu befürchten hat, wenn man anders handelt. Denn ( . . . ) hierdurch [lassen] gerade die leichtfertigsten Köpfe sich am leichtesten schrecken (terretur)" (Quint. Inst. ΠΙ 8, 39f). 20 Zur Differenzierung der partitio von der propositio siehe Quint. Inst. ΠΙ 9,1-3; IV 5. Die Rhet. ad Her. I 10,17 spricht in diesem Falle von einer distributio als Teil der divisio und unterscheidet innerhalb der distributio noch einmal enumeratio (wenn die zu besprechenden Punkte durchnumeriert werden) und expositio (kurze Darlegung der zu besprechenden Punkte). Nach diesem Autor (und offenbar auch anderen) sollte die Anzahl der angekündigten Punkte die Zahl Drei nicht übersteigen; das wird als starre Regel von Quint. Inst. IV 5,3 abgelehnt (vgl. aber die in IV 5,11 f besprochenen Cicero-Beispiele). 21 SCHENK, Philipperbriefe 166 u. 169-171, sieht in l,28b-30 ebenfalls eine Dreigliedrigkeit; bei ihm werden jedoch 1,28b, 1,29 und 1,30 als „dreifacher Ermutigungsgrund" (nach E. HAUPT) lediglich auf 1,28 a („die vorangehend genannte dritte Aufgabe") rückbezogen. 22 Wie wir oben (Kap. I. 2, S. 29) gesehen haben, entspricht diese Anordnung in besonderer Weise dem Charakter der .Periode'. - Auf die inclusio durch die Schlüsselwörter .sehen' und .hören' hat bereits GARLAND, Composition and Unity 160, hingewiesen.

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Der argumentative Hauptteil des Briefes (níaxícjprobatio) besteht also aus Phil 2,1 -3,21.23 Als Mittel der Argumentation findet sich in erster Linie der Gebrauch von Beispielen (παραδ ε ίγ ματα/exempla), was wiederum typisch für die Gattung der 3eratungsrede' ist.24 Den ersten Schritt der Entfaltung von 1,27-30 stellt der Abschnitt 2,1-11 dar. Dabei ist 2,1-4 als Wiederaufnahme und Entfaltung von στηκετε έν ένί πνεύματι und μια ψυχή aus der propositio (1,27) anzusehen25, während 2,5-11 die in v. 1 - 4 geforderte Geisteshaltung durch das Beispiel Christi verdeutlicht.26 Hier ist m. E. auch die (oben als Γ gekennzeichnete) Verbindung von Leiden und Gnadengabe aus l,29f (ύμίν έχαρίσθη ... τό ύπέρ αύτοΰ πάσχειν) wiederzufinden (vgl. 2,9 nach 2,8: έχαρίσατο αύτώ τό δνομα). Im zweiten Schritt der Entfaltung - 2,12-18 - wird mit der Aufforderung την εαυτών σωτηρίαν κατεργάζεσθε· θεός γάρ έστιν ό ένεργών έν ύμΐν ... (2,12f) deutlich die Wendung [ενδειξις] υμών δέ σωτηρίας, και τοΰτο άπό θεοϋ aus l,28bß wiederaufgegriffen (oben als 2' bezeichnet).27 Aber auch die zweite Bestimmung des Imperativs aus 1,27 (συναθλοϋντες τη πίστει του εύαγγελίου) ist hier präsent. Denn sowohl das συναθλειν von 1,27 als auch das κατεργάζεσθαι von 2,12 beziehen sich auf das aktive Verhalten der Christen in der Welt als Antwort auf Gottes Heilshandeln. Daß dies für Paulus zugleich einen missionarischen Aspekt beinhaltet, zeigt die Lichtmetaphorik von 2,15 ebenso wie der Hinweis auf den Lauf und die Mühe des Apostels (2,16).28 Mit der Ankündigung der baldigen Sendung des Timotheus und den empfehlenden Bemerkungen über den Briefüberbringer Epaphroditus (2,19-30) wird die symbuleutische Entfaltung von 1,27-30 unterbrochen. Der Abschnitt

23 Mit WATSON, Rhetorical Analysis 67f (andere BLOOMQUIST, Suffering 120ff: l,18b-4,7 als argumentatio). - Zum argumentativen Hauptteil der Rede siehe Aristoteles, Rhet. ΙΠ 17 (πίστις); Rhet. ad Alex. 32 (βεβαίωσις); Rhet. ad Her. ΠΙ 4,8f (Beratungsrede) bzw. Π 18,27-29,46 (Gerichtsrede) (confirmatio bzw. argumentatio)·, Cicero, De inv. I 37,67; De orat. Π 331; Quint. Inst. V (probatio). 24 Vgl. Aristoteles, Rhet. ΠΙ 17,5; Rhet. ad Alex. 32,1-3; Rhet. ad Her. ΙΠ 5,9; Quint. Inst. ΙΠ 8,36.66 (vgl. ausführlicher Inst. V 11). 25 Vgl. WATSON, Rhetorical Analysis 68f, aber auch SCHENK, Philipperbriefe 172ff. 26 Vgl. WATSON, Rhetorical Analysis 69f. - Das früher vorherrschende Verständnis des Verhaltens Christi in Phil 2,5-11 als .Beispiel rechter Gesinnung' ist von KÄSEMANN, Kritische Analyse, „mit großer Wirkung auf die übrige Foischung" (U. B. MÜLLER, Christushymnus 17) in Frage gestellt worden. Seine Deutung bezieht sich jedoch einseitig auf Phil 2,6-11 als einen selbständigen Text und blendet die Einbindung in den Kontext bewußt aus. Siehe dazu ausführlicher unten Kap. V. 2c, S. 307f m. Anm. 15 u. S. 315 m. Anm. 49. 27 WATSON, Rhetorical Analysis 70, weist hier nur pauschal auf 1,28 hin. 28 Zum „missionarischen Akzent" der Lichtmetaphorik bei Paulus vgl. SCHENK, Philipperbriefe 222 (unter Hinweis auf 2Kor 4,4-6).

Rhetorische Gattung und Gliederung des Philipperbriefes

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stellt also einen Exkurs dar.29 Freilich ist dieser nicht völlig von Kontext losgelöst: Paulus verbindet an dieser Stelle des Briefes die Notwendigkeit, die Gemeinde über seine künftigen Pläne zu informieren, mit der Gelegenheit, die zwei Mitarbeiter als Beispiele für die von ihm geforderte christliche Lebensweise darzustellen. So wird der Abschnitt zu einer kleinen .Lobrede' auf Timotheus und Epaphroditus (γένος έπιδεικτικόν!), die aber durch mehrere Stichwortverbindungen in den größeren Zusammenhang eingebettet ist.30 Im Anschluß an diesen Exkurs wird mit der Passage 3,1-21 die propositio von 1,27-30 wieder aufgenommen (dritter Schritt der Entfaltung).31 Dabei stellt v. 1 eine Überleitung dar, die zum eigentlichen Gegenstand zurücklenkt (äcpobocjtransitiof2, während 3,2-4a als Proömium des neuen Abschnitts erneut die Aufmerksamkeit der Adressaten zu wecken sucht.33 Die ganze Passage wird zusammengehalten durch eine sorgfältige eigene rhetorische Struktur (3,2-4a: Proömium, 3,4b-7: narratio, 3,8-11: propositio, 3,12-14: probatio, 3,15-16: refutatio, 3,17-21: conclusiciperoratiof* und weist ein besonders ho-

29 So m.E. zutreffend WATSON, Rhetorical Analysis 71 f (digressio). - Wenn BENOIT in seiner Teilungshypothese zum Phil den Abschnitt 2,19-30 (und nicht Kap. 3) als Fremdkörper ausscheidet, so liegt das Körnchen Wahrheit darin, daß eben 2,19-30 (und nicht Kap. 3) - als Exkurs im genus demonstrativum - aus der Gedankenfolge des Briefes herausfällt. - Für BLOOMQUIST, Suffering 120ff (bes. 128f, vgl. 173ff), bildet 2,19-30 als etemp/a-Abschnitt das Zentrum der argumentatio (= l,18b-4,7), erfüllt aber gleichzeitig die Funktion einer digressio (so a.a.O. 173). 30 Siehe zur Einbindung und Funktion dieser epideiktischen Passage im Kontext ausführlicher unten Kap. V. 2e. 31 Mit WATSON, Rhetorical Analysis 72-76; gegen GARLAND, Composition and Unity 164 u. 173, der gerade Phil 3,1-21 als "digression" und als "epideictic or demonstrative discourse" bezeichnet - allerdings ohne dies mit einer rhetorischen Gesamtanalyse des Briefes zu untermauern (so in bezug auf Phil 3,2-11 auch SCHOON-JANSSEN, .Apologien" 142f). - BLOOMQUIST, Suffering 120ff, sieht - innerhalb der argumentatio (l,18b-4,7) - in 3,1-16 eine reprehensio (dazu ebd. 129ff u. 178ff) und in 3,17-4,7 eine exhortatio(ebd. 135f u. 183ff). 32 Vgl. WATSON, Rhetorical Analysis 72f, unter Hinweis auf Rhet. ad Her. IV 26,35; Cicero, Orator 137; De orat. ΠΙ 203; Quint. Inst. IX 1,28; 3,87.98. 33 Gegen WATSON, Rhetorical Analysis 84, der meint, Phil 3,1 könne neben seiner Überleitungsfunktion auch als "secondary exordium" betrachtet werden. Zur grundsätzlichen Möglichkeit mehrerer Proömien in einem rhetorischen Text siehe Quint. Inst. IV 1,73-75; 3,9. 34 Vgl. dazu die (geringfügig abweichenden) Analysen von SCHENK, Philipperbriefe 279 f, und BECKER, Paulus 328 -330, die allerdings beide eine ursprüngliche briefliche Selbständigkeit von 3 , 2 - 4 , 3 . 8 f (SCHENK) bzw. 3 , 2 - 2 1 ; 4,8f (BECKER) voraussetzen; vgl. a u c h DORMEYER, D a s

Neue Testament 195f, der 3,lb-4,1.8f als „deliberativen Freundschaftsbrief' mit exordium (3,2-3), narratio (3,4-11), argumentatio (3,12-21) und exhortatio (4,1-3.8-9) bestimmt. — Freilich ist das Vorhandensein des rhetorischen Dispositionsschemas innerhalb eines Unterabschnitts nicht als Indiz für ein literarkritisches Vorgehen zu werten: Auch im Galaterbrief, der als Paradigma für die rhetorische Analyse der Paulusbriefe gelten kann, findet sich das betreffende Schema in Unterabschnitten wieder - etwa in 2,14b-21 (vgl. BECKER, a.a.O. 292) oder 3,1-14 (vgl. BERGER, Exegese 43-45; dazu zustimmend SCHENK, a.a.O. 277 Anm. 164, der

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

hes Maß an rhetorischen Kunstmitteln auf.35 Aus der proposito des Briefes wird hier der Gedanke entfaltet, der den „Widersachern" das „Verderben" zuweist (1,28), wobei Paulus wiederum sich selbst als nachahmenswertes Beispiel darstellt.36 Mit dem folgernden ώστε und der auffälligen Häufung von Anreden (4,1) ist ein deutlicher Neueinsatz markiert. Da auch die in der propositio dargelegten Punkte bis hierhin alle entfaltet worden sind, ist 4 , 1 - 2 0 offenbar als Schlußteil (conclusi^peroratio) des Philipperbriefes anzusehen.37 Gemäß der doppelten Aufgabe dieses Redeteils - Erinnerung an die Hauptpunkte der Darlegung und Erregung der Gefühle zugunsten des Redners - läßt sich der Abschnitt noch einmal in 4 , 1 - 9 und 4,10-20 unterteilen.38 Daß in 4 , 1 - 9 zentrale Stichworte aus 1,27-30 (also der propositio) wiederaufgegriffen werden, ist bereits oben festgestellt worden39; dazu kommen noch die Mahnung zur Eintracht an die beiden Frauen Euodia und Syntyche (xò αΰτό φρονεΐν έν κυρίω 4,3) als konkretisierende Wiederaufnahme derselben Wendung in 2,2 (vgl. bereits έν évi πνεύματι und μια ψυχή 1,27) sowie die Wiederholung des Stichworts άγνός aus 2,15 in dem Tugendkatalog in 4,8.

die „Vielschichtigkeit der möglichen Verwendung rhetorischer Schemata" hervorhebt). In der rhetorischen Theorie finden sich entsprechende Empfehlungen (siehe Rhet. ad Her. III 9,16f; Π 18,28-19,30), und unsere Betrachtung antiker Beispieltexte hat mehrfach eine rhetorische Disposition in kleineren Abschnitten zu Tage gebracht (siehe bes. Ciceros Gebetshymnus an die Philosophie, oben Kap. ΙΠ. 2a, und Philons Enkomion auf Augustus, oben Kap. ΙΠ. 2b). 35 Eine eingehendere Analyse des Abschnitts unter der Leitfrage nach ,epideiktischen' Elementen wird unten Kap. V. 2f durchgeführt. 36 Dies wird explizit in 3,17 ausgesagt, wobei v. 17b im vorliegenden Briefkontext wohl nur auf Timotheus und Epaphroditus (vgl. 2,19-30) bezogen werden kann, mit denen der Apostel sich hier in eine Reihe stellt. - Zu den Stichwortverbindungen zwischen l,27f und 3,17-21 siehe bereits oben Kap. V. 1 a, S. 286f. 37 Mit WATSON, Rhetorical Analysis 76 (anders BLOOMQUIST, Suffering 120ff, bes. 136f, vgl. 187ff: nur 4 , 8 - 2 0 als peroratio). - Zum Schlußteil der Rede, seinen unterschiedlichen Benennungen und seiner weiteren Unterteilung siehe Aristoteles, Rhet. III 19 (επίλογος); Rhet. ad Alex. 36,45-51 ( π α λ ί λ λ ο γ ί α ) ; Rhet. ad Her. Π 30,47-31,50; Cicero, De inv. I 52,98 (conclusion Cicero, Part. or. 15,52-17,60; Quint. Inst. VI 1 (peroratio); vgl. zu diesen Stellen oben Kap. ffl. l a , S. 178f. 38 Das tut WATSON, Rhetorical Analysis 76-79. Freilich finden sich die von ihm verwendeten Bezeichnungen repetitio (= 4 , 1 - 9 ) und adfectus (= 4,10-20) so nicht in den antiken Rhetorik-Lehrbüchem; sie sind vermutlich von WATSON aus Quint. Inst. VI 1,1 abgeleitet, wo die aufzählende Zusammenfassung der Hauptpunkte (άνακεφαλαίωσις bzw. enumeratio) als rerum repetitio et congregatio definiert wird und in bezug auf die andere Funktion der peroratio von „Gefühlswirkungen" (adfectibus) gesprochen wird. - BLACK, Discourse Structure 46-49, faßt nur 4 , 1 - 9 als peroratio auf und will 4,10-20 als eine neuerliche narratio verstehen; eine so starke Abweichung vom vorgegebenen Dispositionsschema ist jedoch unnötig, da sich die narrativen Elemente in 4,10-20 ungezwungener von ihrer epideiktischen Funktion her erklären (siehe dazu unten Kap. V. 2g, S. 340ff). 39 Siehe oben Kap. V. 1 a, S. 290.

Rhetorische Gattung und Gliederung des Philipperbriefes

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Der Hinweis auf Paulus als Vorbild in 4,9 greift außer 1,30 auch 3,17 wieder auf. Somit wird in 4,1-9 nicht nur die propositio, sondern auch die probatio mit ihren drei Teilen durch Stichwortverbindungen wieder in Erinnerung gebracht. 4,10-20 dient demnach in erster Linie dem emotionalen Appell; die schon im Proömium (1,3-11) angedeutete enge Verbundenheit zwischen Apostel und Gemeinde, die ihren Ausdruck auch (aber nicht nur!) in der jetzt explizit thematisierten materiellen Unterstützung gefunden hat, wird in diesem Abschnitt voller entfaltet.40 Das entspricht genau den rhetorischen Vorschriften für diesen Redeteil. Die briefliche Rahmung schließlich (1,1-2; 4,21-23) unterstützt das Anliegen des ganzen Schreibens.41 Im Präskript, das wie das Proömium vor allem der Sympathiegewinnung (captatio benevolentiae) dient42, wird bereits Timotheus (als Mitabsender 1,1) eingeführt. Paulus bezeichnet ihn und sich selbst als δούλοι Χρίστου Ίησοΰ und führt damit einen Topos ein, den er besonders in 2,22 (vgl. 2,7) weiter entfaltet. Das Postskript richtet Grüße aus von denen „aus dem Haus des Kaisers" (4,22), womit ein Rückverweis auf die Lage des Apostels vorliegen dürfte (vgl. 1,13). Der Gruß an „ a l l e Heiligen" (4,21) und die drei letzten Worte des Briefes (του πνεύματος ύμών 4,23) bringen noch einmal den Wunsch des Verfassers nach der Einheit der Gemeinde (vgl. στήκετε έν évi πνεύματι 1,27) auf den Punkt.43 Der Philipperbrief läßt sich also als ein rhetorisch vollständiges Schreiben der beratenden Gattung (γένος συμβουλευτικόν/ge/iws deliberativum) verstehen, das nach Abzug der brieflichen Rahmung (Präskript 1,1-2; Postskript 4,21-23) folgende Disposition aufweist (der Übersichtlichkeit halber hier jetzt nur mit lateinischen Termini)44: ProoemiumJexordium (1,3-11), narratio

40 Zu den auffälligen Entsprechungen zwischen 1 , 3 - 1 1 und 4 , 1 0 - 2 0 siehe bereits oben Kap. V. l a , S. 287. 41 Vgl. WATSON, Rhetorical Analysis 65 (zum Präskript) und 79 (zum Postskript). 42 Diese Funktion erfüllen hier die Ehrenbezeichnung ά γ ι ο ι für die Gemeinde (1,1) und der Wunschgruß 1,2. 43 Das emphatische ,alle' findet sich bereits in 1,1.4.7.8 sowie 1,25 u. 2,17 (vgl. SCHNIDER/ STENGER, Briefformular 18). - Genau identisch mit Phil 4,23 ist der Schlußwunsch im Brief an Philemon (25); auch hier dürfte die Formulierung inhaltlich motiviert sein (vgl. Phlm 16). 44 Zum Vergleich hier noch einmal der Vorschlag von WATSON, Rhetorical Analysis 6 0 - 8 0 : Exordium

( 1 , 3 - 2 6 ) , narratio ( 1 , 2 7 - 3 0 ) , dreiteilige probatio

(2,1-3,21; mit digressio 2 , 1 9 - 3 0 )

und zweiteilige peroratio ( 4 , 1 - 2 0 ) . Meine Abweichungen sind oben ausführlich begründet (siehe bes. Anm. 8, 12 u. 17; kleinere Kritikpunkte Anm. 27, 33 u. 38). BLOOMOUTST, Suffering 1 2 0 - 1 3 8 , gliedert in exordium ( 1 , 3 - 1 1 ) , narratio (1,12-14), partitio ( l , 1 5 - 1 8 a ) , fünfteilige argumentatio

( l , 1 8 b - 4 , 7 ) und peroratio ( 4 , 8 - 2 0 ) , vgl. oben Anm. 8, 12, 17, 23, 29, 31 u. 37.

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

(1,12-26), propositio (1,27-30), dreiteilige probatio (2,1-3,21; darin enthalten eine digressio2,19-30) und zweiteilige peroratio(4,1 -20). 45 Die Bestimmung der übergeordneten Gattung als .beratend' oder ,symbuleutisch' schließt jedoch die Verwendung epideiktischer Elemente keineswegs aus. Das gilt insbesondere im Blick auf den .Exkurs' (2,19-30), für den sich als rhetorische Gattung das γένος έπιδεικτικόν ergeben hat (Lob der Mitarbeiter Timotheus und Epaphroditus). Aber auch in den anderen Teilen des Briefes sind Lob und Tadel vielfältig in die Argumentation verwoben. Dies im einzelnen aufzuzeigen, ist die Aufgabe des folgenden Abschnitts.

BLACK, Discourse Structure, gibt nach anfänglicher Skepsis gegenüber rhetorischen Gliederungsversuchen (20f) zunächst eine epistolographische Gliederung (43 f), fügt dann aber doch noch eine rhetorische Analyse hinzu (46-49), wobei er die Freiheit des Paulus gegenüber starren rhetorischen Konventionen betont: exordium (1,3-11), narratio (1,12-26), argumentatio (1,27-3,21; unterteilt in propositio 1,27-30, probatio 2 , 1 - 3 0 und refutatio 3,1-21), peroratio (4,1-9) und eine weitere narratio (4,10-20). Dies kommt meinem Vorschlag wohl am nächsten (zur zweiten narratio siehe jedoch oben Anm. 38). Der Gliederung von WATSON haben sich SNYMAN, Persuasion (mit weniger starrer Unterteilung von 4,1-20), und BASEVI/CHAPA, Rhetorical Function 346f, angeschlossen. Eine ausgiebige Kritik an WATSONS rhetorischer Analyse des Philipperbriefes findet sich bei REED, Using Ancient Rhetorical Categories 314-322, der an diesem .Fallbeispiel' die generelle Berechtigung für rhetorische Analysen von Paulusbriefen überprüfen will; er schließt zwar den Einfluß der Rhetorik auf andere Gattungen und auch auf die Briefe des Paulus nicht grundsätzlich aus, meint jedoch, daß die funktionalen Übereinstimmungen zwischen brieflicher und rednerischer Argumentation nicht zwangsläufig auch als formale Übereinstimmungen gesehen werden sollten (322-324; vgl. 316: "Why not describe Paul's discourses according to epistolary categories, without appealing to the terms of the rhetorical handbooks?"). Zu dieser Kritik siehe oben Kap. IV. - Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Analyse des Philipperbriefes nach rein epistolographischen Gesichtspunkten (Vergleich mit antiken Papyrusbriefen), wie sie LOVEDAY ALEXANDER bietet (Structure 94), gerade den Abschnitt 3,1-4,20 nicht im vorausgesetzten "pattern" der "family letters" unterbringen kann, so daß sich die Verfasserin mit der Annahme behilft, Paulus verlasse hier den Rahmen der Briefform und gehe zu einer Predigt ("a 'sermon-at-a-distance'" bzw. "a homily") - also einer Form der Rede! - über (a.a.O. 99f). 45 WICK, Philipperbrief 161-165 u. 180, lehnt alle rhetorischen Gliederungsversuche ab; er selbst sieht (ebd. 39ff) im „Briefkorpus" fünf „Gnindthemen" in jeweils zwei streng parallel stehenden Blöcken entfaltet (A: 1,12-26 // 3,1-16; B: 1,27-30 // 3,17-21; C: 2 , 1 - 4 [+ 5 - 1 1 ] // 4,1-3; D: 2,12-18 // 4 , 4 - 9 ; E: 2,19-30 // 4,10-20). Somit ergebe sich für den Brief ein großer „Parallelismus" (der Begriff wird „in einem sehr weiten Sinne verwendet" [41 Anm. 117; vgl. 61], aber nachher [173-178] auf die „liturgische, feierliche Sprache der alttestamentlichen Poetik" zurückgeführt, die Paulus hier nachahme; siehe dazu oben Kap. I. 2), der das „Korpus" in die beiden sich genau entsprechenden Hälften 1,12-2,30 und 3,1-4,20 teile. Diese Hypothese geht zweifellos von einigen richtigen Beobachtungen aus (z.B. die Entsprechungen zwischen 1,27-30 und 3,17-21), muß diese aber zugunsten eines künstlichen Schemas verabsolutieren und andere Entsprechungen zwischen den Briefteilen ausblenden (z.B. die zwischen 1,27-30 und 4,1-9); zu gezwungen wirkt v.a. die Parallelisierung von 2,12-18 und 4 , 4 - 9 (siehe ebd. 47-51). Der Abschnitt 1,3-11, der nun wirklich eine deutliche Verknüpfung mit 4,10-20 aufweist, bleibt in der Gliederung sogar völlig unberücksichtigt und wird nur nachträg-

Epideiktische Elemente in Phil 1,3-11

301

2. Elemente epideiktischer Rhetorik im Philipperbrief a) Das Proömium als lobende Eröffnung (Phil 1,3-11) In Übereinstimmung mit der rhetorischen Theorie, nach der Lob und Tadel schon im Redeeingang (προοίμιον/exordium) der Sympathiegewinnung dienen können1, enthält auch der Philipperbrief des Paulus bereits im oben als Proömium bestimmten Abschnitt (1,3-11) lobende Elemente: Die Angesprochenen - schon im Präskript (1,1) ehrenvoll tituliert als „alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind" - werden gelobt für ihr „gesamtes Gedenken" gegenüber Paulus (1,3)2 und für ihre „Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tag an bis heute" (1,5). Paulus betont, daß seine positive Meinung von der Gemeinde nur recht und billig (δίκαιος) sei, da er sie in seinem Herzen habe und sie an seiner Gnade (χάρις) teilhätten (1,7). Zugleich äußert er sich zuversichtlich (1,6) bzw. betet darum (1,9), daß sie in den bereits vorhandenen lobenswerten Eigenschaften weiterhin Fortschritte machen; und seine Aufzählung der zu entwickelnden Qualitäten läßt sich im vorliegenden Kontext auch als vorweggenommenes Lob lesen: „daß eure Liebe noch mehr und mehr wachse an Erkenntnis und aller Erfahrung, damit ihr prüfen könnt, worauf es ankommt, auf daß ihr lauter und unanstößig seid für den Tag Christi, erfüllt mit Frucht der Gerechtigkeit durch Jesus Christus" (1,9-11). Das ganze wird jedoch eingerahmt und damit relativiert durch das Lob Gottes: Er ist es, dem Paulus für das „Gedenken" der Gemeinde dankt (1,3: Ευχαριστώ τω θεώ μου έπί πάση τη μνεία ύμών); er hat das „gute Werk" in ihnen angefangen und wird es auch vollenden (1,6)3; ihm gilt das Gebet des Paulus um den Fortschritt der Angesprochenen (1,9); und ihm gebühren daher „Ehre und Lob" (1,11: εις δόξαν και επαινον θεού). Zum epideiktischen Charakter des Abschnitts, dessen feierliches Pathos seinen Höhepunkt in der abschließenden Häufung positiv besetzter Begriffe (bis hin zur Doxologie-artigen Schlußwendung) findet, tragen außerdem besonders die auffallend vielen Wörter vom πδς-Stamm bei (,all-').4

lieh auf Bezüge zum ganzen Brief untersucht (ebd. 139ff; hier wiederum inkonsequente Zuordnung „nicht zur Gattung Brief, sondern zur Gattung Rede", 139). 1 Siehe oben Kap. ΠΙ. 1 a, S. 174 ff. 2 Zu diesem Verständnis der Wendung έπί πάση τη μνεία ύμών (genetivus subiectivus) siehe oben Kap. V. 1 a, Anm. 43). 3 Hier ist die partizipiale Umschreibung zu beachten: ό έναρξάμενος έν ύμΐν έργον αγαθόν έπιτελέσει. - Daß Gott hier das gedachte Subjekt ist, geht eindeutig aus 2,13 hervor (θεός γάρ έστιν ό ενεργών έν ύ μ ΐ ν . . . ) . 4 Vgl. 1,3f: . . . έπί π ά σ η τη μνεία ύμών, π ά ν τ ο τ ε έν π ά σ η δεήσει μου ύπέρ π ά ν τ ω ν ύμών. 1,7: τούτο φρονεΐν ύπέρ π ά ν τ ω ν ύμών . . . συγκοινωνούς μου της χάριτος

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Damit sind freilich nicht alle von der Rhetorik bereitgestellten Möglichkeiten für epideiktische Motive im Proömium erschöpft: Außer dem Lob der Angesprochenen nennt die rhetorische Theorie ja noch das Lob der eigenen Person bzw. Partei, den Tadel der Gegenpartei und das Lob der eigenen bzw. die Abwertung der gegnerischen Sache. Läßt sich das Lob der eigenen Person auch angedeutet finden in der Bemerkung, daß Paulus das Evangelium verkündige und bekräftige (1,7), so tritt es doch ganz hinter der Betonung des xoivoma-Motivs zurück: Das Lob der Angesprochenen fällt mit dem Lob der eigenen Partei zusammen.5 Ähnlich verhält es sich mit dem Lob der eigenen Sache: Das Evangelium wird zwar zweimal erwähnt (1,5.7), tritt aber hinter das Lob Gottes als dessen Urheber zurück. Auffällig ist im Blick auf das Briefganze, daß Paulus die Möglichkeiten zum Tadel der Gegenpartei und zur Abwertung ihrer Sache nicht nutzt: Die Existenz einer solchen gegnerischen Gruppierung wie auch die Bereitschaft des Paulus zu einer scharfen Polemik gegen dieselben gehen ja aus dem weiteren Verlauf des Briefes deutlich genug hervor (vgl. bes. 1,28; 3,2-4.18f). Wenn er innerhalb des Proömiums auf jede Polemik verzichtet6, dürfte er dafür seine Gründe haben - jedoch ist hier noch nicht der Ort, darüber Mutmaßungen anzustellen. Wir kommen auf diese Beobachtung bei der Besprechung des Schlußteils zurück, da dieser im rhetorischen System wie auch im vorliegenden Text mit der Einleitung korrespondiert und deren Topoi entfaltend wiederaufgreift.

b) Die .Erzählung' als Beispiel .apostolischer Sachlichkeit' (Phil 1,12-26) Der Redeteil der .Erzählung' (báyf^aicjnarratió) bietet nach der rhetorischen Theorie ebenfalls Gelegenheit für epideiktische Elemente, etwa indem Personen wertend eingeführt werden oder der Redner durch Erwähnung seiner früheren Reden und Taten seine eigene Zuverlässigkeit herausstreicht.1

π ά ν τ α ς ύμδς όντας. 1,8: έπιποθώ π ά ν τ α ς ύμας. 1,9: έν έπιγνώσει και π ά σ η αίσθήσει (vgl. auch 1,1: π ά σ ι ν τοίς άγίοις έν Χριστώ Ίησοΰ . . . ) . - Zu den ,all-'-Formulierungen in Hymnen und Enkomien siehe oben Kap. Π. 1, S. 44 f, 67 u. 71. 5 Diese Beschwörung der Gemeinschaft zwischen Absender und Empfängern des Briefes ist natürlich auch eine emotionale Verstärkung für die Glaubwürdigkeit der nachfolgenden Argumentation (dient also ganz exordium-gemäß der captatio benevolentiae). Ein solches Verfahren sollte man jedoch nicht als „rhetorischen Trick" diffamieren und daher dem Apostel prinzipiell absprechen, wie es SCHOON-JANSSEN, .Apologien" 142, tut: Hier zeigt sich ein altes Mißverständis, das .Rhetorik' mit Demagogie gleichsetzt. 6 SCHENK, Philipperbriefe 278, spricht in bezug auf Phil 1,3-11 von einer „harmonistischen Exordium-Struktur".

Epideiktische Elemente in Phil 1,12-26

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Im entsprechenden Abschnitt des Philipperbriefes (1,12-26) ist beides zumindest in Spurenelementen anzutreffen - freilich auf eine eigentümliche Weise: Paulus' eigenes Ergehen und Verhalten, das Verhalten anderer am Ort seiner Gefangenschaft und auch seine ungewisse Zukunft interessieren hier nicht an und für sich, sondern werden unter dem Aspekt der „Förderung des Evangeliums" (so v. a. 1,12- 18a) bzw. der Förderung der Angesprochenen in bezug auf den Glauben (so v. a. l,18b-26) betrachtet. Indem der Apostel so gleich den Blick von sich selbst weg- und auf die ,Sache' - das Evangelium lenkt2, stellt er sich indirekt als Vorbild dar für die Lebenshaltung, die er nachher (bes. 2,1-4) als christusgemäß definieren wird. Auf der anderen Seite werden Personen aus dem Umfeld des gefangenen Apostels, die aus unterschiedlichen Motiven ebenfalls „Christus verkündigen", hier als Beispiele angeführt (1,14-18). Beide Motive - die persönliche Glaubwürdigkeit des Redenden (το ήθος του λέγοντος) und die Verwendung von Beispielen - sind wiederum besonders charakteristisch für die Gattung der .Beratungsrede'3, zu der der Philipperbrief insgesamt zu rechnen ist. Direkte Aussagen epideiktischer Natur sind in diesem Abschnitt nur sehr verhalten anzutreffen: Paulus sagt von sich selbst, daß er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu Christus in „Fesseln" (d. h. Gefangenschaft) sei (1,13) und daß er „zur Verteidigung des Evangeliums" dort liege (1,16) - beide Mitteilungen sind aber nicht als eigenständige Sätze formuliert, sondern abhängig von Hauptsätzen, in denen es um das Wissen anderer geht (φανερούς γενέσθαι bzw. είδότες); das kommt einer distanzierenden Formulierung in indirekter Rede nahe.4 1 Siehe oben Kap. ΙΠ. la, S. 176. - Beispiele für die Anführung eigener Verdienste des Redners in der ό\χ\γχ\αιςΙηαπαίίο einer Beratungsrede sind mehrfach in den politischen Reden des Demosthenes anzutreffen; vgl. etwa die Rede Περί ειρήνης (or. V), § 4-12. 2 KARL BARTH, Erklärung des Philipperbriefes 18, hat hierfür den treffenden (und daher gern zitierten) Begriff „apostolische Sachlichkeit" geprägt. - Daß in Phil 1 , 2 1 - 2 6 „eine kleine Synkrisis von Leben und Tod" vorliegt, arbeitet VOLLENWEIDER, Waagschalen, heraus (Zitat: 96).

3 Zur Wichtigkeit der persönlichen Autorität und Integrität gerade des beratenden Redners vgl. Aristoteles, Rhet. I 2,4; 8,6; Cicero, De orat. Π 333; Quint. Inst. ΠΙ 8,12f.48. - Zum besonders intensiven Gebrauch von Beispielen in beratenden Reden siehe die oben Kap. V. lb, Anm. 24, angeführten Stellen. 4 Selbst das oben angenommene (Maximal-)Verständnis der Wendungen als Aussagen über den Grund der Gefangenschaft ist nicht zwingend: In 1,13 heißt es τούς δεσμούς μου φανερούς έν Χριστώ γενέσθαι, so daß mit έν Χριστώ auch schlicht der Grund des Bekanntwerdens gemeint sein könnte (vgl. FRIEDRICH, NTD 8, 141: „daß durch Christus meine Gefangenschaft . . . bekannt wurde"; ähnlich GNILKA, HThK X/3, 54; im obigen Sinne dagegen SCHENK, Philipperbriefe 134.142; O'BRIEN, Philippians 88. 91f u. v. a.). Die Wendung εις άπολογίαν τοΰ εύαγγελίου κεΐμαι in 1,16 ist ebenfalls nicht eindeutig, da das Verb (wörtlich .liegen') auch die Bedeutung ,für etwas bestimmt sein' haben kann (so versteht es hier sogar die Mehrheit der Kommentare [unter Berufung auf IThess 3,3; Lk 2,34]; im obigen Sinne als ,hier [d.h.

304

Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Etwas ausführlicher als von sich selbst spricht der gefangene Apostel von den anderen „Geschwistern im Herrn" (αδελφοί έν κυρίω)5, von denen die meisten durch seine Gefangenschaft Zuversicht gewonnen hätten und daher mehr und mehr wagten, „das Wort [Gottes] furchtlos zu reden" (άφόβως τον λόγον λαλεΐν)6 (1,14). Unter diesen seien zwar einige, die Christus „aufgrund von Neid und Rivalität" (δια φθόνον και εριν) und einige, die ihn „aufgrund guter Absicht" (δι' εύδοκίαν) verkündigten - wobei letztere „aus Liebe" (έξ αγάπης), erstere dagegen „aus Eigennutz und nicht lauter" (έξ έριθείας ... ούχ άγνώς) Christus predigten (1,15-17) - , aber selbst diese Feststellungen veranlassen Paulus nicht zu einer klaren Verteilung von Lob und Tadel, sondern er betont ausdrücklich, daß jede Art der Christusverkündigung - sei es zum Vorwand, sei es in Wahrheit7 - ihn freue (1,18a).8 - Daß aber auch die beiden unterschiedlichen Gruppen von Christusverkündigern am Ort der Gefangenschaft nicht um ihrer selbst willen hier erwähnt werden, sondern als Beispiele zu Identifikation und Abgrenzung einladen sollen, zeigt die Wiederaufnahme des Gegensatzpaares αγάπη und έριθεία in 2,1-4, also im Rahmen der bereits erwähnten Definition eines christusgemäßen Lebens.

c) Der erste Entfaltungsschritt (Phil 2,1 - 1 1 ) Während der Abschnitt 1,27-30, den wir oben als propostilo (πρόθεσις) des (symbuleutischen) Briefes bestimmt haben1, ganz durch den übergeordneten Imperativ πολιτευεσθε dominiert wird und keine epideiktischen Elemente erkennen läßt, bietet der argumentativ-entfaltende Hauptteil (Phil 2,1-3,21) ein anderes Bild - vor allem durch die Verwendung von Beispielen zur Un-

gefangen] liegen' übersetzen LUTHER und WILCKENS). - Die Ambivalenz der Formulierungen bedeutet eine zusätzliche Distanzierung des Apostels gegenüber Selbstaussagen lobender Art. 5 Hier läßt sich das έν κυρίω auch auf das nachfolgende πεποιθότας beziehen, wie es viele Exegeten tun; ich halte den Bezug auf αδελφοί für wahlscheinlicher und schließe mich der ausführlichen Begründung bei SCHENK, Philipperbriefe 135f, an. 6 Die Lesart τον λ ό γ ο ν του θεοί) λ α λ ε ΐ ν ist zwar durch wichtige Handschriften (darunter v.a. Sinaiticus, Alexandrinus und Vaticanus) gestützt, dürfte aber dennoch eine sekundäre Erklärung darstellen; das absolut gebrauchte ό λόγος (hier bezeugt durch den Papyrus 46, D 2 und die Mehrheit der griechischen Minuskelhandschriften) findet sich immerhin schon IThess 1,6 u. Gal 6,6 (vgl. außerdem Mk 4,14ff). 7 είτε προφάσει είτε άληθεία. - Durch diese letzte Wiederaufnahme der beiden entgegengesetzten Haltungen ergibt sich eine doppelte chiastische Veischränkung (AB/BA/AB). 8 Das Fehlen von Polemik - im Gegensatz zu 3,2ff.l8f - spricht auch dagegen, in den hier beschriebenen zwei Gruppen von Verkündigern eine verschlüsselte Beschreibung der Verhältnisse in Philippi zu sehen (gegen SCHMITHALS, Irrlehrer 54 Anm. 45). 1 Siehe zu Phil 1,27-30 oben Kap. V. lb, S. 294f.

305

Epideiktische Elemente in Phil 2 , 1 - 1 1

terstiitzung der symbuleutischen Argumentation. Hier soll zunächst der erste Schritt der Entfaltung (Phil 2,1 - 1 1 ) betrachtet werden. Die Forderung einer bestimmten Geisteshaltung, die in 2,1-4 ausgesprochen wird, leitet Paulus mit einer vierfachen Bedingung ein, die aufgrund des nachfolgenden Imperativsatzes πληρώσατε μου την χαράν („macht meine Freude vollkommen") als bereits erfüllt verstanden werden muß. Die Mahnung beginnt also mit einem Lob, indem sie an „vier gute Voraussetzungen der Philipper" 2 anknüpft. Diese vier lobenswerten Voraussetzungen, jeweils mit ει τι(ς) eingeleitet (Anapher!), sind: „Ermunterung in Christus", „Zuspruch der Liebe", „Gemeinschaft des Geistes" sowie „Mitgefühl und barmherziges Verhalten" 3 (2,1). Die genannten Punkte bilden also die Basis für die folgenden paränetischen Mahnungen, die aus zwei Hauptgedanken bestehen: Einmütigkeit in der Gemeinde (2,2) und demütige Zurückstellung der eigenen Interessen zugunsten der anderen (2,3 f). Bemerkenswert ist an dieser Passage, die ja dem sog. .Christushymnus' in 2,5-11 direkt vorausgeht bzw. von ihm fortgesetzt wird, daß sie auch sprachlich schon auf diesen vorbereitet. Die Vorwegnahme einzelner Begriffe aus 2,5-11 in 2 , 1 - 4 ist uns bereits in anderem Zusammenhang aufgefallen 4 ; aber auch in der rhetorischen Stilisierung weist 2,1-4 eine besondere Sorgfalt auf: Gleich die einleitenden vier .Grundvoraussetzungen' (2,1) heben sich durch ihre anaphorische Gestaltung (viermal ε'ί τι[ς]) deutlich ab; da auch noch annähernd gleiche Silbenzahl vorliegt (10/10/9/8), haben wir es sogar mit Isokola zu tun.5 Die Aufforderung „macht meine Freude vollkommen" (2,2), zieht eine ebenfalls in Vierergruppen strukturierte nähere Erläuterung nach sich: zuerst die ringförmig oder chiastisch angelegte Aufforderung, „dasselbe zu sinnen" (2,2; ein finîtes Verb und drei Partizipien)6, danach die doppelt antithetisch formulierte Mahnung, nicht nur das eigene Interesse, sondern auch das der anderen im Blick zu haben. Der Text läßt sich also κατά κώλα και κόμματα etwa folgendermaßen darstellen:

2 SCHENK, Philipperbriefe 179 (Überschrift); vgl. O'BRIEN, Philippians 167, der von einer "fourfold basis" spricht. Andere etwa LOHMEYER, KEK IX/1, 84; DIBELIUS, H N T 11, 71; GNILKA, HThK X / 3 , 1 0 3 f , die hier ein Moment der .Beschwörung' für bestimmend halten. 3 D i e Pluralform οίκτιρμοί dürfte die „konkreten Erscheinungsformen" zum Ausdruck bringen (vgl. BAUER, Wörterbuch s. v.; B - D - R § 142); dies versucht die obige Übersetzung sichtbar zu machen. 4 Siehe oben Kap. V. 1 a, S. 287f. 5 Z u den verschiedenen Formen von .Parallelismus' siehe ausführlich oben Kap. I. 2. -

Ob

man in Phil 2,1 .synonymen Parallelismus' findet (so BLACK, Paul and Christian Unity 303), hängt von dem Verständnis des Wortes .synonym' ab. Wichtig scheint mir hier die Mahnung von KUGEL, Idea 57f: "All parallelism is really 'synthetic'." 6 Dabei stehen zwei Partizipien mit gleicher Endung am Kolon-Ende ( έ χ ο ν τ ε ς τες), so daß auch Homoioteleuton vorliegt (vgl. BLACK, Paul and Christian Unity 303).

φρονούν-

306

Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Ε'ί τις ούν παράκλησις έν Χριστώ, εϊ τι παραμύθιον αγάπης, ε'ί τις κοινωνία πνεύματος, ε'ί τις σπλάγχνα καί οίκτιρμοί, πληρώσατε μου την χαράν ίνα τό αύτό φρονητε, την αύτήν άγάπην έχοντες, σύμψυχοι, τό εν φρονοΰντες,7 μηδέν κατ' έριθείαν μηδέ κατά κενοδοξίαν, άλλα τη ταπεινοφροσύνη αλλήλους ηγούμενοι υπερέχοντας εαυτών, μή τα έαυτών έκαστος σκοποΰντες, άλλα [και] τά έτερων έ'καστοι.8

Angesichts der drei deutlich unterschiedenen Blöcke, die durch das Prinzip der Vierzeiligkeit bestimmt sind9, unterschiedliche Formen von ,Parallelismus' aufweisen und eine ganze Reihe von Partizipien enthalten, muß jedoch noch einmal betont werden, daß es sich hier nicht um JPoesie' handelt: Für diese Bestimmung fehlt das entscheidende Merkmal, nämlich die metrische Gestaltung. Daher sollten die drei Blöcke auch nicht als .Strophen' bezeichnet werden10, da dieser Begriff aus dem Bereich der Dichtung stammt und hier falsche 7 Dieser zweite Block bereitet der Kolometrie größere Schwierigkeiten als die anderen beiden: GNILKA, HThK X/3, 102, zieht σύμψυχοι mit zur vierten Zeile, wodurch sich sogar Isokola ergeben (8/8/9/8 Silben), aber der Chiasmus nicht zum Tragen kommt; BLACK, Paul and Christian Unity 301 ( = O'BRIEN, Philippians 165) läßt die erste Zeile bis φρονητε gehen, hat dann aber zwei Verben in dieser; beide Aufteilungen lassen unberücksichtigt, daß die Wendung π λ η ρώσατε μου την χ α ρ ά ν als Hauptsatz dem ganzen folgenden (bis v. 4) übergeordnet ist. So wird man sich von dem Wunsch nach einer strengen Vierzeiligkeit (hinter dem letzten Endes ein verschwommenes .Poesie'-Verständnis steht) freimachen müssen und dem Hauptsatz eine eigene Zeile zugestehen (so auch SCHENK, Philipperbriefe 172.178; SILVA, Philippians 99f; vgl. schon WINDISCH in seiner Rez. zu LOHMEYER, KEK IX/1: ThLZ 53 [1928], 514). 8 GNILKA, HThK X/3, 102f, teilt die beiden ersten Zeilen noch einmal auf, so daß sich sechs Zeilen ergeben; diese Gliederung schwächt jedoch die klare Antithetik ab. - BLACK, Paul and Christian Unity 303, macht noch auf das Stilmittel der Alliteration in diesem Block aufmerksam (ήγούμενοι υ π ε ρ έ χ ο ν τ α ς έαυτών . . . έαυτών έκαστος . . . ετέρων έκαστοι). 9 Die Gliederung von LOHMEYER, KEK IX/1, 80f, in „fünf Dreizeilei" (wie schon ebd. 72f für 1,27-30) ist reine Willkür und scheitert schon am vierfachen εΐ τι(ς); sein Korrekturzusatz zur 9. Aufl. (ebd. 193) ändert zwar die Textanordnung in dreimal 4 Zeilen, ist aber nur eine ,Verschlimmbesserung', weil sie den zweiten Einschnitt hinter κ ε ν ο δ ο ξ ί α ν setzt und damit die doppelt antithetische Struktur von v. 3 außer acht läßt.

10 Wie

es GNILKA, BLACK und O'BRIEN

(a.a.O.) tun.

Epideiktische Elemente in Phil 2 , 1 - 1 1

307

Assoziationen wecken könnte.11 Im Blick auf die bewußte rhythmische Gestaltung (Vierergruppen) und die recht intensive Verwendung rhetorischer Schmuckmittel (Isokolon, Chiasmus, Antitheton, Anapher, Alliteration, Homoioteleuton) ist es aber durchaus zulässig, von einem .gehobenen Stil' zu sprechen - zumal die erwähnten Stilmittel (insbesondere Anapher und Antitheton) zur Intensivierung des Pathos beitragen, das sich ansonsten vor allem in den durchweg stark emotional besetzten Substantiven zeigt. Es sind also beide in der antiken Stiltheorie möglichen Kennzeichen gehobener' Sprache (Pathosgehalt und ästhetisch-rhetorische Gestaltung)12 in dem Abschnitt anzutreffen.13 Damit kommen wir zu dessen Fortsetzung. Mit der Überleitung 2,5 nimmt Paulus das zentrale Stichwort φρονεΐν (vgl. 2,2 φρονητε/φρονοΰντες; aber auch 2,3 ταπεινοφροσύνη) wieder auf und stellt durch einen - freilich elliptischen - Relativsatz einen Bezug zu „Christus Jesus" her (vgl. 2,1 έν Χριστώ); der Satz besteht demnach aus zwei κώλα von je acht Silben Länge: Τούτο φρονείτε έν ύμΐν δ και έν Χριστώ Ίησοΰ. Das demonstrative τούτο läßt sich sowohl zusammenfassend auf das Vorige wie auch vorausweisend auf das Folgende beziehen14; und wie auch immer der

11 In der Chorlyrik impliziert der Begriff .Strophe' die Wiederkehr eines bestimmten metrischen Schemas. Siehe dazu oben Kap. Π. 1 b, S. 59f. 12 Zu den unterschiedlichen antiken Stiltheorien siehe ausführlich oben Kap. m . 1 b. 13 D a ß der Abschnitt eine „gehobene Sprache" (GNILKA, HThK X/3, 102) aufweist, gesteht auch G. BARTH, Z B K N T 9, 39, zu, der allerdings die Gliederung in Strophen für „überzogen" hält („nur so viel läßt sich sagen: er atmet ein gewisses Pathos, das die Eindringlichkeit der Bitte unterstreicht"). - BLACK, Paul and Christian Unity 306f, hält es aufgrund der sorgfältigen sprachlichen Komposition (ähnlich der von 2 , 5 - 1 1 ) für schwer vorstellbar, daß Paulus diese Zeilen erst beim Diktat des Briefes formuliert haben sollte; er vermutet daher eine vorherige Abfassung, vielleicht für einen anderen Anlaß. Obwohl (oder weil!) dieser Vorschlag reine Spekulation ist (wir wissen ja nicht genug über die Bedingungen, unter denen Paulus seine Briefe und besonders den Phil geschrieben hat; eine Gefangenschaft in einer römischen Mietwohnung [vgl. Apg 28,30f] ließe im Gegensatz zu einer strengen Kerkerhaft durchaus Pläne, Entwürfe und Skizzen für ein .apostolisches Schreiben' zu!), legt BLACK damit den Finger auf einen wunden Punkt, indem er die Analogie zu Phil 2 , 5 - 1 1 und dessen mutmaßlicher .vorpaulinischen' Abfassung aufzeigt. 14 Hier sollten aber keine falschen Alternativen aufgestellt werden, die eine Trennlinie zwischen 2,5 und 2,6 (so bei MICHAELIS, ThHK XI, 33) oder zwischen 2,4 und 2,5 (so bei KÄSEMANN, Kritische Analyse 90f; GNILKA, HThK X/3, 108; MARTIN, Carmen Christi xii-xix) oder gar zwischen 2,5a und 2,5b (so bei LOHMEYER, Kyrios Jesus 12; vgl. KEK IX/1, 91) ziehen: 2,5 ist eben eine echte Überleitung (vgl. SCHENK, Philipperbriefe 176; O'BRIEN, Philippians 204).

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

elliptische Relativsatz von 2,5 zu ergänzen ist15, so wird doch aus der Fortsetzung in 2,6-11 deutlich, daß hier das Verhalten des namentlich genannten „Christus Jesus" in eine Beziehung zu dem in 2 , 1 - 4 geforderten Verhalten der Christen gesetzt werden soll. Die enge Verbindung zum (symbuleutischen) Kontext wird auch daran sichtbar, daß das nun folgende ,Christuslob' mit einem Relativsatz angeschlossen ist. Geschildert werden zunächst sein Verzicht auf „göttliche Gestalt" und seine Selbsterniedrigung in der freiwilligen Annahme der „Sklavengestalt" menschlicher Daseinsweise, mit der er „gehorsam wurde bis zum Tode, ja zum Tod am Kreuz". Das ist in zwei Perioden zum Ausdruck gebracht, die sich am besten als vierzeilig (auch das eine Anknüpfung an das Vorausgehende) darstellen lassen16: δς έν μορφή θεού ύπαρχων ούχ άρπαγμόν ήγήσατο το είναι ίσα θεω, άλλα εαυτόν έκένωσεν μορφήν δούλου λαβών έν όμοιώματι ανθρώπων γενόμενος και σχήματι εύρεθεις ώς άνθρωπος έταπείνωσεν εαυτόν γενόμενος ύπηκοος μέχρι θανάτου, θανάτου δε σταυρού.

15 Die Alternativen sind „Habt untereinander eine solche Gesinnung, [wie sie] auch in Christus Jesus [anzutreffen war]" (.ethische' oder ,paradigmatische' Interpretation; so durchweg die ältere Auslegung) und „Habt untereinander eine solche Gesinnung, [wie es] auch [der Gemeinschaft] in Christus Jesus [entspricht]" (.kerygmatische' oder .soteriologische' Interpretation; so besonders vehement KÄSEMANN, Kritische Analyse 90f; übernommen von MARTIN, Carmen Christi 84-88, u.v.a.). Differenzierte Überlegungen zu den Interpretationsmöglichkeiten und ihren Nuancen finden sich bei DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 189-194, und als gründlicher Exkurs bei O'BRIEN, Philippians 253 -262; beide kommen vom Kontext her zu einem .paradigmatischen' Verständnis des Satzes. Vgl. auch unten Anm. 49. 16 Diese Gliederung des ersten Teils (2,6-8) entspricht weitgehend dem 1949 von JOACHIM JEREMIAS vorgelegten und 1963 präzisierten Vorschlag (Zur Gedankenführung; Zu Philipper 2,7), der sich in der deutschsprachigen Exegese inzwischen fast allgemein durchgesetzt hat allerdings mit einer Modifikation: Während JEREMIAS von zwei vieizeiligen „Strophen" ausgeht (und in 2 , 9 - 1 1 eine dritte, ebenfalls vierzeilige Strophe sieht), halten die meisten Forscher an einer Zweiteiligkeit des .Hymnus' (v. 6-8/v- 9 - 1 1 ) fest. Wegen der ,auffälligen Länge' der vierten Zeile streicht JEREMIAS (und ihm folgend etwa DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 122ff; HUNZINGER, Struktur 148ff; U.B.MÜLLER, Christushymnus 19ff) die Worte θανάτου ΔΈ σταυροΟ als paulinischen Zusatz. Dies hatte vor ihm schon LOHMEYER, Kyrios Jesus (bes. 44 ff; vgl. KEK IX/1, 96) getan, der den Text aber in sechs dreizeilige „Strophen" aufteilte (so noch heute die Zeilengliederung im NT Graece; für v. 6 - 8 auch von WENGST, Formeln und Lieder 148, übernommen). - An alternativen Gliederungsvorschlägen herrscht jedoch kein Mangel, weshalb z.B. HAWTHORNE, W E E 43, 77, und O'BRIEN, Philippians 188-193, lieber ganz auf eine kolometrische Darstellung verzichten und sich in bezug auf Streichungen skeptisch zeigen.

Epideiktische Elemente in Phil 2,1-11

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In beiden Blöcken ergibt sich eine ringförmige oder chiastische Struktur durch Wortwiederholungen zwischen der ersten und vierten Zeile (μορφή -μορφήν bzw. γενόμενος-γενόμενος); bei der ersten Periode wird der Chiasmus noch durch die Antithetik zwischen dem ersten und vierten (μορφή θεοί)-μορφήν δούλου)17 sowie dem zweiten und dritten Kolon (ούχ-άλλά) verstärkt. Beide Blöcke weisen außerdem eine Stichwortverknüpfung zwischen der ersten und zweiten Zeile auf (θεοΰ-θεω bzw. ανθρώπων-άνθρωπος)18; und in beiden steht der Hauptsatz in der dritten Zeile (εαυτόν έκένωσεν bzw. έταπείνωσεν εαυτόν). Die Synonymität zwischen den beiden Hauptsätzen läßt die beiden Perioden als eine Einheit erscheinen: Sie schildern dasselbe Ereignis, nur unter verschiedenen Aspekten (oder in zwei Stufen). Den Zielpunkt bildet der Kreuzestod, was rhetorisch verstärkt wird durch eine Anadiplosis (θανάτου, θανάτου δέ σταυροΰ)19; der Abschlußcharakter der Zeile wird auch durch ihre größere Länge (.Gesetz der wachsenden Glieder')20 sowie durch den feierlichen Kolonschluß mit vier langen Silben21 unterstützt. Mit dem Subjektwechsel beginnt der zweite Teil des ,Christuslobes': seine Erhöhung durch Gott. Als Folge seiner im ersten Teil geschilderten Selbsterniedrigung (διό!) wird Christus von Gott „über alle Maßen erhöht" und ihm „der Name, der über jedem Namen ist", verliehen, so daß jedes Wesen im gesamten Kosmos in das frühchristliche Bekenntnis zu Jesus als dem Kyrios einstimmt - und das wiederum „zur Ehre Gottes, des Vaters". Dieser Teil ist anders als der erste nicht in zwei Blöcken und nicht in Vierzeilern aufgebaut, sondern weist einen durchgehenden Spannungsbogen auf, der in Form einer konzentrischen chiastischen Ringkomposition stufenweise vor- und von der Mitte wieder zum Ausgangspunkt zurückläuft22:

17 Hier kommt auch noch Homoioteleuton (ύπάρχων-λαβών) hinzu. 18 In der zweiten Periode ist das Homoioteleuton zwischen dem ersten und zweiten Kolon (γενόμενος-άνθρωπος) zu beachten (vgl. auch den .Binnenreim' όμοιώματι-σχήματι). 19 Die Anadiplosis ist (neben anderen Formen der Wortwiederholung) in der antiken Stiltheorie durchweg als Kennzeichen .gehobeneren' Stils angeführt (s.o. Kap. ΠΙ. lb, bes. Anm. 23, 41 u. 75). In der Praxis war uns bei Philon, Quis rer. div. heres 290b, ein besonders instruktives Beispiel begegnet, in dem ebenfalls das Wort θάνατος wiederaufgenommen wird (s.o. S. 215 Anm. 15). - Vgl. auch unten Anm. 28. 20 Dazu siehe oben Kap. I. 2. 21 Dies stellt eine Art .Ritardando' vor dem neuen Gedanken dar und ist im näheren Umkreis ebenfalls im letzten Kolon von 2,1 (εϊ τις σ π λ ά γ χ ν α και οικτιρμοί) anzutreffen; strukturell bemerkenswert ist, daß auch dort das Schema Voraussetzung-Folge vorliegt. - Zum .feierlichen' oder .erhabenen' Charakter langer Silben s.o. Kap. Iii. lb. 22 Hier scheint mir die von MANNS, Philippians 2:6-11, 5, sowie von TURNER, Style 98, unabhängig voneinander vorgeschlagene (für 2 , 6 - 8 allerdings weniger überzeugende) chiastische Anordnung dem Text am ehesten gerecht zu werden, da die in der Mitte stehenden drei Genetive wegen der Parallelität von παν γόνυ und πάσα γλώσσα auf beide Wendungen zu beziehen sind und damit den ,Umkehrpunkt' markieren. - JEREMIAS, a.a.O. (s.o. Anm. 16), gliedert

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

διό και ό θεός αυτόν ύπερύψωσεν και έχαρίσατο αύτω τό ονομα τό ύπερ πάν ovo μα, ϊνα έν τω ονόματι Ίησοΰ πάν γόνυ κάμψη επουρανίων και επιγείων και καταχθόνιων, και πάσα γλώσσα έξομολογήσηται δτι Κύριος 'Ιησούς Χριστός εις δόξαν θεοΰ πατρός. Hier liegt allerdings keine strenge .Architektonik' des Zeilenbaus vor, da sich durch die Nennung des Namens „Jesus" ein weiterer, leicht asymmetrischer ,Ring' zwischen der dritten und der sechsten Zeile ergibt. Wie im ersten Teil gibt es auch hier zahlreiche Wortwiederholungen.23 Besonders wichtig erscheint mir jedoch die doxologische Schlußwendung, die durch die Erwähnung Gottes nicht nur auf den Anfang dieses Teils (2,9), sondern darüber hinaus auch auf den Anfang des ganzen Abschnitts (2,6) zurückverweist (èv μορφή θεού - εις δόξαν θεοΰ)24. Sie erinnert außerdem an den fast gleichlautenden Abschluß des Proömiums (1,11: εις δόξαν και επαινον θεοΰ), dem ebenfalls die Nennung des Namens „Jesus Christus" vorangeht. So wie im Proömium die Rahmung durch das Stichwort „Gott" zugleich eine Relativierung des Lobes der philippischen Gemeinde darstellt, dürfte auch das Lob Christi seinen angemessenen Rahmen für Paulus erst in der Anerkennung Gottes in seiner Position als handelndes Subjekt und als „Vater" finden. Damit sind wir aber bei der Frage nach dem Verfasser des Abschnitts, denn gerade die zuletzt besprochene doxologische Wendung gilt für viele Exegeten - neben der Erwähnung des Kreuzes in 2,8 - als ,paulinischer Zusatz' zum ursprünglichen .Hymnus': Beide Aussagen sollen formal aus dem mutmaßlichen Zeilenschema herausfallen (so auch die Trias der kosmischen Wesen in 2,10) und inhaltlich eine theologische .Korrektur* durch Eintragung typisch paulinischer Gedanken darstellen.25 Nun haben wir es aber in Phil 2,6-11 genausowenig wie in 2,1-4 mit einem .poetischen' Text zu tun - ein solcher müßte ja

auch diese „Strophe" in vier Zeilen, muß dafür jedoch die Trias έπουρανίων και επιγείων και καταχθόνιων (2,10) sowie die Worte εις δόξαν θεοΰ πατρός (2,11) als sekundär ausscheiden. Darin sind ihm DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 122ff, und HUNZINGER, Struktur 148ff, gefolgt, die allerdings v. 10 u. 11 jeweils noch einmal unterteilen (Chiasmus zwischen v. 10 u. v. 11; eigene Zeile für das Kyrios-Bekenntnis). Nur die Doxologie streicht U. B. MÜLLER, Christushymnus 19 ff. 23 Vgl. αΰτόν-αύτω (auch ύπερ- und ύπέρ), ονομα-ονομα-όνόματι, π ά ν - π δ ν - π δ σ α . Die beiden letzten Zeilen weisen außerdem Homoioteleuton auf (Χριστός-πατρός). 24 Weitere Bezüge zwischen dem ersten und zweiten Teil sind die antithetischen Begriffspaare έταπείνωσεν εαυτόν (2,8) und ό θεός αυτόν ύπερύψωσεν (2,9) sowie δούλος (2,7) und κύριος (2,11), so daß sich auch für 2,6-11 insgesamt eine chiastische Gedankenführung ergibt. 25 Vgl. zu dieser Sicht die in Anm. 22 genannten Vertreter der von JEREMIAS erstellten Gliederung; sie ist am ausführlichsten begründet bei HUNZINGER, Struktur 148 ff.

Epideiktische Elemente in Phil 2 , 1 - 1 1

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nach antikem Verständnis ein festes (quantitierendes) Metrum aufweisen26 - , sondern mit Prosa in gehobenem Stil (deshalb sollte man auch hier nicht von .Strophen' sprechen).27 Dieser Stil - schon durch die Erhabenenheit des Themas verlangt - zeigt sich hier besonders in der spannungsvollen Gesamtkomposition durch antithetische und chiastische Strukturen sowie durch Figuren der Wortwiederholung. Sowohl die Anadiplosis am Ende des ersten als auch der doxologische Rückbezug auf Gott am Ende des zweiten Teils passen somit stilistisch hervorragend in den Kontext; ihre Streichung hätte sogar einen Verlust an rhetorischer Intensität zur Folge.28 Gehören aber beide Wendungen zum ursprünglichen Textbestand der Passage, dann spricht ihr ,paulinischer' Charakter wohl eher für Paulus als Verfasser des ganzen Abschnitts. Auch die Trias der anbetenden Wesen in 2,10, die in ihrer weltumspannenden Universalität wiederum dem kosmischen HochstiP entspricht, läßt sich als „gut paulinisch" betrachten29; hinzu kommen außerdem die beiden ύπέρ-

26 Siehe dazu ausführlich oben Kap. 1.1. - Daß in Phil 2 , 6 - 1 1 tatsächlich keine quantitierende Metrik vorliegt, hat - wenn auch entgegen ihrer Absicht - 1980 BARBARA ECKMAN gezeigt: Ihr Versuch einer "Quantitative Metrical Analysis of the Philippians Hymn" (Titel) ergibt zwar durch willkürliche Zeilenabteilung und großzügige Ausnahmeregelungen fünf "metrical patterns"; diese verteilen sich jedoch völlig unregelmäßig über die von ihr vorgeschlagenen fünf „Strophen" ("stanzas"). Hinzu kommt, daß die Trias in 2,10 in keines der "patterns" paßt und das Wort ύπαρχων (2,6) ganz wegfallen muß. Damit dürfte der Versuch als gescheitert anzusehen sein. 27 Ausgehend vom Prosacharakter der Passage hat CHARLES ROBBINS (ebenfalls 1980) den Versuch unternommen, die "Rhetorical Structure of Philippians 2:6-11" (Titel) herauszuarbeiten. Er findet zwei „zusammengesetzte Perioden", die jeweils aus 4 + 2 Kola bestehen (a.a.O. 79f). Die zunächst bestechende Symmetrie verliert jedoch dadurch an Überzeugungskraft, daß die oben beobachteten chiastisch-antithetischen Entsprechungen überhaupt nicht berücksichtigt werden. - Als rhetorisch gestalteten Prosatext nimmt auch SCHENK, Philipperbriefe (bes. 193-195) den Abschnitt wahr; seine an Sinneinheiten orientierte „Textsegmentiening" (ebd. 172f) entspricht im großen und ganzen der von mir vorgeschlagenen Zeilengliederung. 28 Vgl. zur Anadiplosis oben Anm. 19. Darüber hinaus hat HOFIUS, Christushymnus 4 - 1 2 , nachgewiesen, daß auch bei Annahme eines „den Formgesetzen semitischer Poesie verpflichteten Hymnus" (ebd. 10) weder die unterschiedliche Zeilenlänge noch eine Anadiplosis formale Argumente für sekundäre Zusätze sein können. Für die Anadiplosis weist HOFIUS (ebd. lOff) auf Ri 5,5.11; Ps 68,25.29.34; Hld 2,15; Ps 113,8; Jes 26,6 (außerdem Joh 1,14; OdSal 11,3 sowie Ps 98,5; 135,12 u. Bar 4,15) hin (vgl aber zum .poetischen' Charakter von Psalmen und Propheten grundsätzlich oben Kap. I. 2). 29 Das hat HUNZINGER, Struktur 150-154, gezeigt, der auch deutlich macht, daß hier nicht eine „Dreiteilung der Geisterwelt" vorliegt (so GNILKA, HThK X/3, 132), sondern eine Betonung des universalen Charakters der Akklamation durch „die überirdischen Geistermächte, die Menschen auf Erden und die Toten im Hades" (154). - Im Zusammenhang dieser Untersuchung sind uns ähnliche dreigliedrige Wendungen in der Theorie und Praxis der Rede über Götter begegnet: bei Alexander Numeniu p. 5, 29f (s.o. S. 137 m. Anm. 135), bei Ailios Aristeides, Sarapishymnus 23 (s.o. S. 169 u. 172 m. Anm. 84), und bei Apuleius, Metamorphosen XI l,2f (s.o. S. 240 Anm. 13).

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Wendungen (2,9), die nicht nur gut zum überschwenglichen Stil epideiktischer Rhetorik passen, sondern ebenfalls als paulinische Charakteristika in den Verdacht sekundärer Zufügungen geraten sind.30 Der hier im Blick auf Christus verwendete δοΰλος-Begriff hat bei Paulus noch öfter eine entsprechend positive Wertung (vgl. nur Phil 1,1 !)31; die Vokabel ομοίωμα ist im NT fast nur bei Paulus32, das Verb κενοΰν ausschließlich bei ihm zu finden33. Geradezu typisch für Paulus ist die antithetische Struktur mit ούκ - αλλά, die hier den ersten Teil (2,6-8) bestimmt.338 Ein starkes Argument für paulinische Verfasserschaft von Phil 2,6-11 scheint mir auch die Einbindung der Passage in den Kontext zu sein. Dies gilt nicht nur für die bereits oben beobachteten Stichwortverknüpfungen zwischen Phil 2,6-11 und dem Rest des Briefes (bes. 2,1-4 und Kap. ß)34, sondern auch für den Anschluß mit dem Relativpronomen: Im Gegensatz zu einer unter neutestamentlichen .Hymnenforschern' verbreiteten Meinung ist ja der Beginn eines Textabschnitts mit ος kein Indiz für seine literarische Selbständigkeit, sondern im Gegenteil für seine Kontextabhängigkeit!35

30 So bei SCHENK, Philipperbriefe 190f, für den das nachgestellte Attribut το ύπέρ π α ν ονομα der „mit größter Sicherheit bestimmbare pl Zusatz" ist (im Gegensatz zu θανάτου δέ σταυρού); er verweist zur Begründung auf 2Kor 7,11; 9,3 (vorsichtig auch auf IKor 11,24). Das gleiche gilt für die Steigerung durch ύπερ- im {Compositum ύπερύψωσεν, da die überwältigende Mehrzahl der ύπέρ-Komposita im NT bei Paulus anzutreffen ist. Vgl. dazu auch DELLING, Zum steigernden Gebrauch von Komposita mit ύπέρ bei Paulus. 31 Vgl. noch Gal 1,10; 2Kor 4,5; Rom 1,1; sowie δουλεύειν in Phil 2,22 (IThess 1,9; Gal 5,13; Rom 7,6; 12,11; 14,18). Hier ist zwar nirgends von Christus als δούλος die Rede; vgl. aber Rom 15,8 die synonyme Bezeichnung Christi als διάκονος (zu dieser Stelle auch unten S. 317). 32 Außer in Phil 2,7 viermal im Römerbrief (1,23; 5,14; 6,5; 8,3) und einmal in der Offb. Die paulinischen Stellen verwenden den Ausdruck immer zur Kennzeichnung der sterblichen menschlichen Daseinsweise; dabei sind Rom 6,5 und 8,3 auf Christus bezogen. 33 IKor 1,17; 9,15; 2Kor 9,3; Rom 4,14 (allerdings immer im negativen Sinne). 33a Vgl. oben Kap. I. 2, S. 27 Anm. 14, wo bereits auf SCHNEIDER, Antithese 4 7 - 5 2 u. 6 8 - 8 9 hingewiesen ist. Als Argument für die paulinische Verfasserschaft von Phil 2,6ff wird die οϋκ-άλλά-Formulienjng von THEKKEKARA, Neglected Idiom, und FEE, Philippians 42 u. 196, ins Feld geführt. 34 Siehe oben Kap. V. 1 a, S. 287ff. 35 Das lehrt jede griechische Grammatik. Dementsprechend ist uns auch bei der Untersuchung selbständiger antiker Hymnen (und Enkomien) kein Text begegnet, der mit einem Relativpronomen beginnt (weder in griechischer noch in lateinischer noch in hebräischer Sprache). Anders sieht es bei lobenden Abschnitten in größeren Kontexten aus; vgl. nur das Lob des Pythagoras bei Isokrates, Busiris 28 (s.o. S. 152f m. Anm. 23), und im Brief des Lysis an Hipparchos, § 7, Z. 58 (s.o. S. 275). - Das Problem ist in bezug auf Phil 2,6 von einigen Auslegern gesehen worden: LOHMEYER, Kyrios Jesus 5 (m. Anm. 2) ersetzt das ος durch den Artikel Ò (wodurch aber der konzessive Sinn des Partizips verlorengeht); WINDISCH, ThLZ 54 (1929), 247 (Rez. zum vorigen), meint, ein einstrophiger Lobpreis Christi müsse vorangegangen sein; DEICHGRÄBER, Gotteshymnus 124f, erwägt als ursprünglich ein Ίησοΰς oder Χριστός oder beides oder ό κύριος oder ein einfaches αυτός, begnügt sich jedoch letzen Endes „mit einem non li-

Epideiktische Elemente in Phil 2 , 1 - 1 1

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Demgegenüber wiegt der Hinweis auf ungewöhnliche Wendungen36 nicht sehr schwer: Gerade die Hapaxlegomena ύπερυψοΰν (2,9) und καταχθόνιος (2,10) könnten paulinische Bildungen sein (s.o.); das Wort σχήμα (2,7) verwendet Paulus auch in IKor 7,31 (sonst nicht mehr im NT)37. Somit bleiben die im NT singulären Formulierungen άρπαγμόν ήγεΐσθαι (2,6; eine umgangssprachliche Wendung mit dem Sinn .(etwas) für ein gefundenes Fressen halten' oder ,als Beute betrachten')38, μορφή θεοΰ (2,6)39 und είναι ίσα θεώ (2,6)?° Nun ist aber die Verwendung ungewöhnlicher (z.B. veralteter, neugeprägter, metaphorischer oder alltagssprachlicher) Ausdrücke für die antiken Stiltheoretiker ein Merkmal gehobenen Stils41, der ja, wie wir gesehen haben, auch hier vorliegt; und außerdem gibt es auch in vielen unstrittig paulinischen Textabschnitten seltene oder einmalige Begriffe.42

quet"; HUNZINGER, Struktur 147ff, vermutet eine vorangestellte Zeile nach dem Muster εύλόγητος ό Ίησοΰς o.ä. - Während viele Exegeten anscheinend in dem Beginn mit ος überhaupt kein Problem sehen, betont WENGST, Formeln und Lieder 148, sogar ausdrücklich die Vollständigkeit des „Liedes", indem er auf „andere Lieder" verweist, „die ebenfalls mit ος beginnen" (womit wohl die ebenfalls hypothetisch erschlossenen neutestamentlichen ,Christuslieder' lTim 3,16; Kol l,15ff und Hebr 1,3 gemeint sind, also eine Hypothese mit drei weiteren Hypothesen gestützt wird). 36 Vgl. die immer wieder übernommenen Zusammenstellungen bei LOHMEYER, Kyrios Jesus 8, und KEK K / 1 , 9 1 Anm. 1. 37 Vgl. aber das μή συσχηματίζεσθε τω αίώνι τούτω in Rom 12,2 sowie das Verb μετασχηματίζειν/-ζεσθαι in IKor 4,6; 2Kor 11,13.14.15; Phil 3,21 (s.u. Anm. 39). 38 Siehe dazu die Belege bei FOERSTER, ThWNT I (1933), 422-424. Diese Bedeutung ist noch immer die wahrscheinlichste, auch wenn sie im Verlauf der Forschungsgeschichte mehrfach bestritten worden ist (zuletzt von BERGMEIER, Weihnachten 64-67); siehe dazu ausführlich HOOVER, HARPAGMOS; WRIGHT, άρπαγμός. - Das Verb ήγεΐσθαι ist dagegen bei Paulus - bes. im Phil - öfter anzutreffen (Phil 2,3.25; 3,7.8 [2x]; vgl. 2Kor 9,5; IThess 5,13). 39 An diese Wendung kommt Paulus freilich mehrmals nahe heran: 2Kor 4,4 bezeichnet er Christus als είκών του θεοΰ (vgl. dazu IKor 15,49), Rom 8,29 die Christen als σύμμορφους της εικόνος του υίοΰ αύτοΰ [sc. θεοΰ]. Vgl. im Philipperbrief 3,10 (συμμορφιζόμενος τω θανάτω αύτοΰ - ν. 11 mit der Hoffnung auf die Auferstehung verbunden) und 3,21 (μετασχηματίσει TÒ σώμα της ταπεινώσεως ημών σύμμορφον τω σώματι της δόξης αύτοΰ). 40 Wenn LOHMEYER, a.a.O., auch noch darauf hinweist, daß Paulus sonst nie έν τω ονόματι Ίησοΰ sagt, sondern ονσμα immer mit κυρίου oder κυρίου Ίησοΰ (Χριστοΰ) verbindet (IKor 1,2.10; 5,4; 6,11; außerdem Kol 3,17; 2Thess 1,12; 3,6), wird die Argumentation allerdings eine Spur zu spitzfindig: Der in Phil 2,10 vermißte Kyrios-Titel bildet doch in 2,11 den Inhalt und Höhepunkt der Akklamation, fehlt also an der ersten Stelle aus Gründen der Steigerung. 41 Siehe ausführlich oben Kap. ΙΠ. Ib. - Als besonders eindrückliches Beispiel möchte ich auf Kleomedes hinweisen, dessen Lob der Sonne wie auch seine Polemik gegen Epikur zahlreiche Wörter und Wendungen (aus den unterschiedlichsten Sphären der Sprache) enthalten, die im ganzen Werk nicht noch einmal vorkommen (s.o. Kap. m . 2c). 42 Dazu vgl. aus gegebenem Anlaß bes. IKor 13 sowie Rom 8,31-39 und 11,33-36. Alle drei Abschnitte werden (fast) allgemein als paulinisch angesehen und zeigen - wie auch Phil

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Schon im Grundsatz zweischneidig sind Argumente theologischer Art43: Würde die Theologie des mutmaßlichen .Hymnus' der Theologie des Paulus gänzlich widersprechen, dann wäre seine Aufnahme des Textes in seinen eigenen Brief kaum nachvollziehbar; es kann also nur um Nuancen gehen. Dabei wird hauptsächlich auf zwei Motive hingewiesen, die in dem Abschnitt fehlen: die Erwähnung des Kreuzes und die Herausstellung der „Heilsbedeutung des Todes Christi ύπέρ ήμών"44. Aber das Kreuz fehlt ja in unserem Text nur dann, wenn man es vorher als ,paulinischen Zusatz' gestrichen hat - diesem methodischen Vorgehen ist bereits oben widersprochen worden. Und wenn das Fehlen eines ,,Ausblick[s] auf die zu erlösenden Menschen bzw. auf die Gemeinde" für Paulus wirklich „nicht denkbar" ist45, warum fehlt dieser Gesichtspunkt (im Gegensatz zum Kreuzestod) auch noch nach seiner redaktionellen Bearbeitung' des vorgefundenen Textes? Offenbar war er Paulus in diesem Abschnitt seines Briefes nicht so wichtig - zumal er an späterer Stelle des Phil (unter deutlicher Wiederaufnahme von Motiven aus 2,5-11!) noch auf die Erlösungshoffnung der Christen zu sprechen kommt: in 3,20-21. So ist auch hier das angebliche Fehlen eines paulinischen Theologumenons nur das Resultat einer vorher getroffenen literarkritischen Entscheidung.46 Welchen Bezug hat denn nun aber der zweite Teil des Abschnitts (2,9-11) zu der umgebenden Paränese - ist er nicht bloß ein „Überhang"47 und somit doch ein Indiz für einen von Paulus fertig übernommenen Text? Auch das ist keine zwingende Schlußfolgerung. Das glaubenweckende Christusgeschehen endet ja nicht mit dem Kreuzestod, wäre also mit 2,6-8 nur unvollständig wiedergegeben.48 Wenn es sich bei dem Abschnitt um eine epideiktische Darstellung Christi als Beispiel handelt, dann entfaltet dieses Beispiel erst durch den zweiten Teil seine volle Überzeugungskraft: Seine freiwillige Annahme der Sklavenrolle, die der in 2,1-4 geforderten Einstellung entspricht, hat dazu geführt, daß er von Gott zum Kyrios erhoben und nun von allen Wesen angebetet wird; welches Beispiel sollte also mehr Autorität besitzen als das seine?

2 , 1 - 4 (s.o.) - , daß Paulus durchaus zu kunstvoll aufgebauten Prosastücken epideiktischen Charakters fähig ist. 43 Für GNILKA, HThK X/3, 132, sind dies „die entscheidendsten". Vgl. zu den folgenden A r g u m e n t e n a u c h R . P. MARTIN, C a r m e n Christi 4 8 - 5 2 ; NAGATA, Philippians 2:5-11, 9 3 - 9 5 . 4 4 GNILKA a . a . O . 4 5 S o GNILKA a . a . O . 133.

46 Mit den theologischen Argumenten gegen eine paulinische Autorschaft von Phil 2 , 6 - 1 1 setzt sich auch O'BRIEN, Philippians 2 0 0 - 2 0 2 , kritisch (und etwas ausführlicher) auseinander; er weist noch auf Rom 1 0 , 6 - 1 5 hin, wo vom Heilsgeschehen und vom Kerygma des Bekenntnisses die Rede ist, ohne daß das Kreuz oder das „für uns" ausdrücklich erwähnt würden. 47 So DIBEUUS, HNT 11, 80, der deshalb zwar „mit einem schon geprägten Stück" rechnet (ebd.), als Verfasser aber doch Paulus ansieht (ebd. 73). 48 Das läßt sich leicht nachprüfen: Man überspringe einmal probehalber 2 , 9 - 1 1 und lese nach 2,8 gleich bei 2,12 weiter!

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Epideiktische E l e m e n t e in Phil 2 , 1 - 1 1

Durch die göttliche Anerkennung und höchste Auszeichnung wird Christus auch zu mehr als einem bloßen allgemein-moralischen .Vorbild', dem die Gemeinde nacheifern soll - er wird zum "Lordly example"49. Daß hierin auch ein Moment der Hoffnung für die Christen liegt, zeigt der Zusammenhang mit Phil S.lOOOf.50 Ist also Paulus der Verfasser von Phil 2,6-II 5 1 , können (und müssen) wir jetzt nach den von ihm aufgenommenen Traditionen fragen. Für den Gesamtaufbau der Passage - also Selbsterniedrigung und Erhöhung durch Gott - ist mehrfach auf eine alttestamentlich-weisheitliche Regel hingewiesen worden52, die sich auch als Jesuslogion in der synoptischen Tradition findet: „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden" (Mt 23,12; Lk 14,11; 18,14).53 Auf der anderen Seite war der Mythos von einer ab- und wieder aufsteigenden Erlösergestalt im ganzen antiken Mittelmeerraum verbreitet und konnte auch auf historische Persön-

49 So HURTADO, Jesus as Lordly E x a m p l e in Philippians 2 , 5 - 1 1 . D e r Verf. setzt sich ausgiebig mit der scharfen Bestreitung einer ethischen I n t e r p r e t a t i o n von Phil 2 , 5 - 1 1 durch ERNST KÀSEMANN (Kritische Analyse von Phil 2 , 5 - 1 1 ) auseinander, als d e r e n systematisch-theologisches Anliegen er e i n e R e a k t i o n auf d e n „ethischen Idealismus" der Liberalen T h e o l o g i e des 19.Jh.s (Jesus als Beispiel einer allgemeinen sittlichen N o r m , dessen soteriologische B e d e u t u n g d a d u r c h aus d e m Blickfeld gerät) herausarbeitet. W ä h r e n d KÄSEMANN mit seiner generellen L e u g n u n g ethischer M o t i v e j e d o c h ,das Kind mit d e m B a d e ausschüttet' u n d Phil 2 , 5 - 1 1 von e i n e m so nicht h a l t b a r e n .gnostischen U r m e n s c h - M y t h o s ' her verstehen will, b e t r a c h t e t HURTADO als religionsgeschichtlichen H i n t e r g r u n d des Textes d e n Bereich frühchristlicher Paränese, w o sich speziell die δ ο ϋ λ ο ς / δ ι ά κ ο ν ο ς - M e t a p h o r i k im e n t s p r e c h e n d e n Sinne findet. D u r c h die E i n b e z i e h u n g von 2 , 9 - 1 1 e n t g e h t HURTADO m . E . der G e f a h r eines „ethischen Idealismus", ohne die paränetische K o n t e x t f u n k t i o n leugnen zu müssen. -

Vgl. zur ,paradigmatischen' D e u -

t u n g von Phil 2 , 5 - 1 1 a u c h o b e n A n m . 15 sowie FOWL, Story of Christ 9 2 f f , u n d MEEKS, T h e M a n f r o m H e a v e n in P a u l ' s L e t t e r t o t h e Philippians; jetzt a u c h BALZ, Philipperbrief 5 1 0 f . 5 0 D i e e n t s c h e i d e n d e n W o r t e sind o b e n A n m . 39 zitiert. Vgl. a u ß e r d e m R o m 6,5. 51 D i e s e A n n a h m e vertreten a u c h (mit unterschiedlichen Ansichten zur G a t t u n g und vormaligen literarischen Eigenständigkeit) DIBELIUS, H N T 11, 73; STAUFFER, T h e o l o g i e des N T 262 A n m . 372 (zu 97f);

FURNESS, Authorship; KÜMMEL, Einleitung 294; GOLLANGE, C N T [N]

X a , 8 3 - 8 5 ; HOOKER, Philippians 2 : 6 - 1 1 , 1 5 2 - 1 5 7 ; RIESENFELD, U n p o e t i s c h e H y m n e n 161ff; BLACK, Authoiship; WICK, Philipperbrief 178f; jetzt a u c h FEE, Philippians 3 9 - 4 6 u. 1 9 1 - 2 2 9 , auf dessen 1992 erschienenen A u f s a t z "Philippians 2:5-11: H y m n or E x a l t e d P a u l i n e P r o s e ? " ich erst durch d e n K o m m e n t a r a u f m e r k s a m g e m a c h t werde. -

E i n e R e i h e von Forschern, bes.

im englischsprachigen Bereich, hält die Verfasserfrage o f f e n (so, nach gründlicher Diskussion d e r A r g u m e n t e , O'BRIEN, Philippians 1 9 8 - 2 0 2 ; vgl. a u c h HURTADO, Jesus as Lordly E x a m p l e 123, WRIGHT, ά ρ π α γ μ ό ς 352, SILVA, Philippians 104f u. ö., sowie HENGEL, Christuslied 402). 52 A m nachdrücklichsten von U . B. MÜLLER, Christushymnus 3 5 - 4 4 . 53 D a ß Paulus diese Tradition g e k a n n t hat, läßt sich a u f g r u n d von 2 K o r 11,7 v e r m u t e n . Vgl. als weisheitliche P a r ä n e s e ( A u f f o r d e r u n g zur Selbsterniedrigung mit der

-

begründenden

V e r h e i ß u n g der E r h ö h u n g durch G o t t ) J a k 4,10 u n d I P e t r 5,6. - D e r s e l b e G r u n d g e d a n k e steht auch hinter d e r in M k 1 0 , ( 3 5 ) 4 2 - 4 5 p a r g r e i f b a r e n Jesustradition, die RIESENFELD, U n p o e t i sche H y m n e n 165ff, als H i n t e r g r u n d f ü r Phil 2 , 1 - 1 1 ansieht (mit Hinweis auf D a n 7,13f Θ).

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

lichkeiten übertragen werden.54 Daher dürfte bereits eine Verbindung beider Motive vorliegen, wenn im hellenistischen Judentum, nämlich bei Philon von Alexandria (VitMos I 148-162) 55 , Mose als Prototyp des idealen Herrschers dargestellt werden kann, der aufgrund seines Verzichts auf Macht und Reichtum von Gott zu seinem Teilhaber und Erben eingesetzt, mit der Macht über alle Elemente ausgestattet und mit dem Ehrennamen „Gott und König" ausgezeichnet wurde. Wenn dies, wie bei Philon, noch mit dem Gedanken der Präexistenz und der Aufforderung, diesem „vollkommenen Urbild der Tugend" nachzueifern, verbunden wird, sind im Grunde die wesentlichen Strukturmerkmale für Phil 2,6-11 beisammen - hier freilich mit viel größerer ^Amplitude', denn weder war Mose schon in seiner Präexistenz „in göttlicher Gestalt" (Phil 2,6)56 noch ging seine Selbsterniedrigung „bis zum Tode, ja zum Tod am Kreuz" (Phil 2,8); auch erstreckt sich sein Machtbereich nicht bis in den Hades (Phil 2,10), und selbst sein Ehrentitel θεός και βασιλεύς erreicht nicht ganz die Erhabenheit des sonst allein JHWH vorbehaltenen Namens κύριος (Phil 2,11). So überbietet das Christusgeschehen an allen Eckpunkten das bekannte Schema von Erniedrigung und Erhöhung, wodurch auch die Funktion der .paulinischen Interpretamente' deutlich wird: Sowohl die rhetorisch intensivierende Anadiplosis in Phil 2,8 als auch die ύπέρ-Wendungen in Phil 2,9 als auch die Trias der anbetenden Wesen in Phil 2,10 dienen der Überbietung des traditionsgeschichtlich und religionsgeschichtlich zugrundeliegenden Schemas.57 Für die konkrete Ausgestaltung des Textabschnitts hat Paulus ebenfalls auf Traditionen zurückgegriffen - und auf einige davon nicht zum ersten Mal. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die anderen paulinischen Briefstellen, an denen Christus als Beispiel dargestellt wird: IThess 1,6; IKor 11,1; 2Kor 4,7-15 58 ; 8,9 - die engste Parallele stellt aber Rom 15,1-13 dar. Genau wie in Phil 2,1-11 wird dort das Beispiel Christi angeführt, um die

54 Diesen Hintergrund betont besonders SCHENK, Philipperbriefe 206-209 (im Anschluß an TALBERT, Myth). Als Beispiele mythisierter historischer Größen nennt er Romulus, Alexander, Augustus und Mose. 55 Siehe zu diesem exkursartigen Enkomion ausführlich oben Kap. m . 2b, S. 222ff. 56 Das naheliegende und von der Forschungsmehrheit vertretene Verständnis von Phil 2,6 als Präexistenzaussage wird gelegentlich zugunsten einer Adam-Christus-Parallele bestritten (unter Hinweis auf Gen l,26f und 3,1-5). Vgl. dazu HURST, Re-enter the Pre-existent Christ; WONG, Problem of Pre-existence, sowie den Exkurs bei O'BRIEN, Philippians 263 - 2 6 8 . 57 Angesichts soviel superlativischer Erhabenheit Christi ist die doxologische Schlußwendung mit ihrem betonten Rückbezug auf Gott (Phil 2,11) wiederum als ein für Paulus notwendiges Korrektiv zu verstehen; vgl. IKor 15,23 - 2 8 (ähnlich 3,23); Rom 15,7. 58 In diesem Abschnitt ist auch der komplette Zusammenhang bis hin zur Mit-Auferstehung entfaltet; er endet wie unser Text mit εις την δόξαν του θεοΰ. - Zu den oben genannten Stellen, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, siehe MERK, Nachahmung Christi (dort weitere Lit.).

Epideiktische Elemente in Phil 2 , 1 - 1 1

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Mahnung zum gemeindlichen Für- und Miteinander zu untermauern; und die Ähnlichkeit ist frappierend: Die Aufforderung, jeder solle versuchen, dem Nächsten zu gefallen59, wird mit dem expliziten Hinweis auf das Verhalten des Christus (in einem ούκ-αλλά-Satz) begründet (Rom 15,3); das positive Gemeindebild wird mit den Wendungen το αύτό φρονεΐν έν άλλήλοις κατά Χριστόν Ίησοϋν (15,5) und ϊνα ομοθυμαδόν έν évi στόματι δοξάζητε τον θεόν και πατέρα του κυρίου ήμών Ίηοοΰ Χρίστου (15,6) beschrieben. So wie hier (vgl. Phil 2,11!) die Aussagen über Christus durch die Erwähnung von Gottes δόξα ihre Relativierung finden, so mündet auch in Rom 15,7 die Anführung seines Vorbildes wieder in der Doxologie („Darum [διό!] nehmet einander an, wie auch der Christus euch angenommen hat - zur Ehre Gottes"). Das Motiv des Gotteslobes - ausgeweitet auf die „Heiden" - wird von Paulus mit einem Psalmenzitat bekräftigt (Rom 15,9), das wiederum einige für Phil 2 , 9 - 1 1 interessante Stichwörter enthält; es lautet in der LXX-Fassung von 2 Sam (2 Bao) 22,50 ( = Ps 17,50): δια τοΰτο έξομολογήσομαί σοι, κύριε, έν τοις εθνεσιν καί έν τω ονόματι σου ψαλω.60 Die ebenfalls hier anzutreffende Bezeichnung Christi als διάκονος (Rom 15,8) kommt der Bezeichnung δούλος in Phil 2,7 sehr nahe.61 Im weiteren Kontext der genannten Römerbrief-Stelle ist außerdem Christi Herrschaft über Lebende und Tote erwähnt (Rom 14,9; vgl. Phil 2,10); vor allem aber findet sich dort (Rom 14,11) ein Jesaja-Zitat, das Paulus auch in Phil 2,10f verwendet (Jes 45,23 LXX): δτι έμοί κάμψει παν γόνυ καί έξομολογησεται πάσα γλωσσά τω θεω.62

5 9 Das Verb άρέσκειν kommt in 1 5 , 1 - 3 dreimal vor (Stilmittel der Wortwiederholung!). 6 0 Beachtenswert ist in diesem „Psalm Davids" auch der Umkreis des zitierten Verses: vgl. v. 49: υ ψ ώ σ ε ι ς με - v. 5 1 : . . . καί ποιών ελεος τω χ ρ ι σ τ ώ αύτοϋ. 61 Vgl. dazu bereits oben Anm. 31. - Aufgrund der Wendung μορφή δούλου in Phil 2,7 haben einige Exegeten den religionsgeschichtlichen Hintergrund von Jes 5 3 (der .leidende Gottesknecht') her eischlossen. Das ist jedoch in dieser Zuspitzung nicht überzeugend, da die Übereinstimmungen nicht präzise genug sind. Vgl. zur Kritik dieser Hypothese GNILKA, H T h K X / 3 , 140f, U . B. MÜLLER, Christushymnus 3 5 Anm. 86, sowie O'BRIEN, Philippians 2 6 8 - 2 7 1 . 62 Während die Jesaja-Stelle selbst und ihre Zitierung in R o m 14,11 eindeutig futurisch ausgerichtet sind, bleibt in Phil 2 , 1 0 f der Zeitpunkt der Akklamation in der Schwebe. Aufgrund des Gesamtaufbaus von 2 , 6 - 1 1

ist es m . E . naheliegend, hier einen weltumfassenden Span-

nungsbogen vom himmlischen zum unterirdischen Bereich und von Urzeit zu Endzeit wahrzunehmen; gleichwohl wird die eschatologische Unterwerfung des Alls durch die Ïva-Formulierong

und die Benennung der einzelnen Mächte anschaulich vor Augen gestellt und damit

gleichsam in die Gegenwart geholt (vgl. bereits LOHMEYER, K E K DÍ/1, 97). Dieses proleptische

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Stilwechsel im Neuen Testament am Beispiel des Philipperbriefes

Eine in den paulinischen Gemeinden bekannte Tradition ist schließlich auch das in Phil 2,11 aufgenomme Bekenntnis Κύριος Ίησοΰς (vgl. Rom 10,9; IKor 12,3; 2Kor 4,5), das Paulus hier um den (als Namen verwendeten) Christustitel erweitert.® Nachdem sich also Phil 2,6-11 als ein integraler Bestandteil des Philipperbriefes erwiesen hat, der in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht steht (Verankerung im Briefkontext, im corpus Paulinum, Einbindung in frühchristliche und hellenistisch-jüdische Traditionen einschließlich der griechischen Bibel), ist abschließend die Frage nach der Gattung der Passage erneut zu stellen. Will man sich nicht mit einer Charakterisierung der Kontextfunktion begnügen und dementsprechend von einem .Christusparadigma' (oder .paradigmatischen Christuslob') reden, so ist zu prüfen, ob die Merkmale der in dieser Arbeit untersuchten lobenden Gattungen in diesem Text zu finden sind. Für eine Bezeichnung als .Hymnus' spricht ganz sicher der überschwengliche Stil, in dem ein göttliches Handeln von kosmischer Tragweite entfaltet wird - das ist seit ERNST LOHMEYER oft genug betont worden. Nun steht aber einer solchen Gattungsbestimmung entgegen, daß hier das für antike Hymnen so typische dreiteilige Aufbauschema (Anrufung - Mittelteil - Bitte)64 nicht einmal in Ansätzen erkennbar ist. Ein Vergleich mit wirklich .hymnischen' Passagen innerhalb eines größeren Kontextes - etwa Ciceros .Gebetshymnus' an die Philosophie65 - macht deutlich, wie auch in solchen Fällen rein literarischer Verwendung die dreiteilige Hymnenstruktur konstitutiv bleibt.66 Da der Aufbau von Phil 2,6-11 durch die Abfolge von Selbsterniedrigung und Erhöhung bestimmt ist, liegt ein Vergleich mit Philons Enkomion auf Mose nahe, das wir eben wegen dieser strukturellen Abfolge für die Beleuchtung des traditions- und religionsgeschichtlichen Hintergrundes unseres TexMoment paßt nicht nur gut zum überschwenglichen Stil epideiktischer Rhetorik, sondern fügt sich auch in die paulinische Eschatologie, für die eine Spannung zwischen .Schon' und ,Noch nicht' geradezu charakteristisch ist - auch hier also kein Argument gegen die paulinische Verfasserschaft der Passage (mit FEE, Philippians 223 Anm. 29, vgl. ebd. 5 0 - 5 2 , gegen MARTIN, Carmen Christi 2 6 6 - 2 7 0 u.a.). 63 Vgl. zur „Kyrios-Akklamation" den betreffenden Abschnitt bei WENGST, Formeln und Lieder 131-135. - Zur Verbindung mit ονομα und Christustitel bei Paulus siehe bereits IKor 1,2.

64 Siehe dazu oben Kap. Π. 1 a. 65 Dazu siehe oben Kap. ΠΙ. 2a. 66 Dies gilt entsprechend auch für solche Textpassagen, die eindeutig in Anlehnung an alttestamentliche .Hymnen' gestaltet sind; vgl. dazu den Exkurs oben S. 72ff und innerhalb des Neuen Testaments Lk l,46ff; l,68ff; 2,29ff; Offb 4,11; 5,9; ll,17f; 15,3f; 19,lf.5.6ff (enthalten alle das charakteristische ΟΤΙ = Ό ) . So beschränkt sich denn auch der von HORGAN/KOBELSKI angestrebte Vergleich zwischen "The Hodayot (1QH) and New Testament Poetry" (Titel) für das NT auf Lk 1,47-55 u. Lk 1,68-79; erwähnt werden darüber hinaus nur noch Lk 2,14f und Offb 15,3 u. 19,1 (a.a.O. 192), mit keinem Wort jedoch die .Hymnen' der neutestamentlichen Briefe.

Epideiktische Elemente in Phil 2,1-11

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tes herangezogen haben. Können wir also - mit KLAUS BERGER - von einem ,Christus-Enkomionf. 47. 58. 59f. 6857. Ó958. 70. 74. 84. 8715. 97. 103f. 107. 225. 226. 244. 30711

Begriffe ,Chorschluß' 5277.244 conclusio 9439. 96. 12465. 125. 139142. 178. 214. 216. 220. 2285. 2531. 259*. 277. 297. 298. 329. 332. 334. 339. 340 (s. auch Epilog, παλιλλογία, peroratío, Schlußteil) (Daktylischer) Hexameter 24. 26. 3133·35. 46. 48. 5072. 51. 55. 56. 88. 90. 92. 101. 107.27833 Daktyloepitriten 60 Daktylus 23 3 .31 35 .46 61 .54 s4 .182 20 .203 Dichoreus 204 digressio/Digcession l 3 . 176f. 29729'31. 47 300.334 (s. auch Exkurs) dikanisch (γένος δικανικόν) 111. 114. 115. 11733. 135. 16042 174. 259. 344. 348. 3529 (s. auch Apologie, Gerichtsrede, Verteidigungsrede]) Disposition, rhetorische 138138. 213. 22 s 217 . 219. 228 . 253f. 264. 278. 292ff. 299f. 327.332.344.349 Distichon 46 61 .50 72 .51 75 .90.107 Dithyrambos 3135.37f. 59.61.170 76 divisio 124. 29417. 29520 (s. auch Redeteile) Doxologie/doxologisch 26. 2398. 24733. 301.310.311.317.343 Dysphonie (δυσφωνία) 183 Eigenlob 136. 137ff. 144. 174f. 176.182. 272.322.335.345.352 Ekphrasis 206126.238.242.243.25040 Emphase (έμφασης) 187 Enkomion (έγκώμιον/έγκωμιάζειν) IO47. 11. 17. 18. 19. 20. 37. 57ff. 9439. 106. 1129. 113. 118. 122". 131. 133f. 135f. 141. 142. 143. 145f. 150. 153. 155. 156. 159. 16146. 166. 16971. 170. 17179. 18429. 18740. 200. 218ff. 222ff. 226. 2352. 238. 24318. 24735. 25040. 252. 257. 263.271.277 29 .289 51 .297 M . 3024.31235. 31655. 318f. 327f. 335. 345. 348. 349. 3516.35310

395

Enthymem 114.121f.183 enumeratio 125.178.29520.29838 Epainos (έπαινος) 59. 1115. 112ff. 135f. 138. 141. 144. 147. 151. 155. 181. 225. 258. 263. 27729. 293. 301. 310. 319. 324. 334.335 52 .337.339.345.348.350 epideiktisch (γένος έπιδεικτικόν) passim (vgl. Eigenlob, Enkomion, Epainos, Eulogie, genus demonstrativum, laus, laudare/laudatio, Panegyricus sowie Invektive, Polemik, Schmähung, Tadel, vituperatio) Epilog (επίλογος) 116. 143. 191. 207130. 29837 (s. auch conclusio) Epinikion 57ff. 1129.348 Epipher 28.164.19058 Epiphonem 183 „Epistolaria" 284 Epitaph (επιτάφιος λόγος) 12257. 12891. 131106.142155.145.15940.2102 Epitheton 44f. 55. 96. 104. 166. 181. 213.215 18 .216.323.336.338 Epode 49™. 60.69 s8 .70 Epos/episch 201O3f. 3916. 40. 4124. 46. 47. 5175f. 56. 6227. 83. 90. 97. 98.100.10371. 106.107.167.17076.232 .Erzählung' (διήγησις/narrafio) 115 f. 124. 139142. 176. 177. 179. 189. 29582. 197. 202. 205. 207130. 219. 2285. 253 lf . 2545. 2Ó544. 276. 293f. 297. 299f. 302ff. 3263.327.3529 Esel/Maulesel 599.210.235.238ff Ethos/Charakter (ήθος) 111. 131109. 48 181. 187. 188 . 196. 198. 201. 208134. 270.303 Etymologie/etymologisch 36. 3918. 57. 36 118 .131.133 Eudaimonia (ευδαιμονία) 42. 113. 12052.132110 Eulogie (εύλογία) IO49. 131. 153. 25041. 350 Euphemismus/euphemistisch 122. 187. 268.333

396

Register

„exhortatio" 139142. 253lf. 29417. 29731. 297s4 Exkurs 21. 66. 90. 127. 15013. 176f. 179. 186. 193. 19479. 201. 202. 206. 209. 2102. 211. 222. 224. 226Í20 25040. 251. 254. 292. 297. 300. 31655. 321ff. 325. 345.350.352 exordium 10. 17. 12465. 139142145. 145. 1758. 178. 2531. 292. 29312. 29733f. 299. 301.3025f (s. auch Proömium)

Gesundheit/gesund 42. 59. 123. 132. 133.168.194.204.2285.273 .gorgianische Figuren' 30. 119. 159. 17179.18743.197.209.237.260

Harmonie/άρμονία 54. 168. 197ff. 203. 226.229f Heiland - s. Retter Herkunft/Abstammung (γένος) 11. 3914. 4971. 63. 86. 8716. 121. 123. 124. 127. 130100. 131. 133. 135. 137. 142155. 145. 83 146. 147. 151. 156. 159. 172. 17611. 222. Flötenspiel/-spieler(innen) 62. 66. 107 . 26 22620.24837.268.270.328 115.183 .186 f. 244 Heroen/heroisch 233. 36. 98.18220.18533. Freimütigkeit (παρρησία) 267f 43 209 Friede/friedlich 42. 49. 63. 65. 6T . 86. 90. 96. 10160. 102f. 142155. 161. 168. Herr (yd)QioçJbzanôvr\çldominus) 43. 49. 10267. 161. 169. 223. 225. 2444. 280. 200107.219.2204.2215.271.339.340 288. 304. 310. 31235. 31340. 316. 317. 6 9 37 73 318.320.324.325.336.340.345 Gebet 2 . 3 . 7 . 12. 14 . 15. 17. 35. 37. 6 38. 4020. 47. 48. 49. 56f. 65. 67. 7265. Herrin (domina) 84 .242 21 1 50 1 28 30f 72 . 76. 79 . 81. 83 . 85. 86. 90 . 91 . Herrlichkeit 234 .247.330.343.346 67 9234. 96. 97. 99. 101. 102. 103. 10474. Herrschaft 48 . 84. 132. 148. 156. 157. 76 105 .106.108.109.143.160.164.168. 164.169.172.221.222.317.328 171. 172. 21 Iff. 2204. 222. 231. 2378. Herrscher 10161.152.157.19345.220.267 240ff. 247f. 250. 263. 293. 29834. 301. - Gott/Götter als H. 43. 86. 99. 149. 318.33915 170.222.225.249 Gegenden (als Enkomien-Gegenstand) - Lob des H.s 49. 55. 6218. 89. 100. 130.206126 lOlff. 106. 142155. 157f. 161ff. 19345. 37 Gegenstrophe 60.65 .69.70 219ff. 222ff. 25718.316 15 Geldgier (φιλαργυρία) 69.233 Herz 74.93.94.95.96.267.301 Gemeinschaft (κοινωνία) 169. 175. 223. Hexameter - s. Daktylischer Hexameter Hiat(vermeidung) 18326. 19057. 19370. 291.301.305.34232 197 genus deliberativum 122. 128. 131. 291. 293. 29519. 299. 334 (s. auch symbuleu- Hindernisse 64.8926.25714.2662.274 tisch) Hochzeit(slied) 36. 53. 58. 84. 10371. 74 genus demonstrativum 122. 123. 125. 104 .142.184 128. 141. 145. 206129. 209. 292. 29729'31. Homoioteleuton 28f. 11942. 164. 187. 49f 59 334 189 . 190 . 19374. 213f. 238. 241. TAS75. 24734. 3056. 307. 30917f. 31023. genus iudiciale 122. 128 (s. auch Apolo33919.341 gie, dikanisch, Gerichtsrede) 30 34 Gerichtsrede 19. 111. 115. 116 . 117 . Homoioptoton 28f. 18949.19059.19374 12047. 12257. 123. 125. 128. 145. 154. Homoioprophoron 28 (s. Alliteration) 166. 174. 178. 180. 254s. 255. 259. Homologie/όμολογία/όμολογεΐν 29517.29Ó23.348 525.154.157.266.310.317.351

Begriffe Hummeln (als Enkomien-Gegenstand) 130102 Hymnus/hymnisch passim, bes. Iff. 36ff. 59. 60. 61. 64. 65. 70. 71f. 72ff. 83ff. 129. 131. 136f. 142. 149. 157. 159. 165ff. 210. 21 Iff. 217. 225f. 228f. 233. 235 ff. 240. 241. 244. 247. 250. 251f. 263. 277. 287. 288. 305. 310. 312. 314. 318.331f. 341.347ff Hyperbole (ύπερßoλή)/hyperbolisch 45. 114 19 .184.185.187.203.322 3 hypothesis' (ύπόθεσις) 134.135.214 inclusio 294 16 .295 22 Invektive 70 62 .85 s . 114 21 .221 6 .332 33 (s. auch Schmähung) Isokolon 26. 28f. 32. 3345. 35. 11942. 7 147 .159.187.193 74 .238.316f. 32813 Jambus/jambisch 18220

233. 49™. 53. 60. 167.

Kakophonie 186.187 .Kardinaltugenden' 12364. 12572. 12886. 96 129 .142.144 Kithara/kitharodisch 37.38 9 .62 27 .188 26 Klage(lied) 37. 58. 733. 75. 76. 77. 103. 10576 Klimax (κλιμαξ) 1365. 68. 187. 19375. 114 38 203 .249 Kolon (κώλον) 26ff. 182. 187. 198. 212. 225.305.318.307.309.311 27 .341.351 5 Komma (κόμμα) 26ff. 11941. 18323. 187. 212.243.305.328 13 .339.341.351 5 Kosmologie 23421 Kretikus 23 3 .53 Lampe (als Hymnen-Adressatin) 47 .Lasterkatalog' 137136.275 laus 107 83 .123 61 .126 75 .144.276f. 319 laudare/laudatio 9750. 12675. 127. 128. 42 13 160 . 164. 176 . 19162. 19479. 276f. 31968 Leier 87.106.107 83

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Libertinismus 33340 Lob passim (vgl. Epainos, Herrscherlob, laus, laudare/laudatio) locus amoenus 944O.206126 Logos (λόγος) (als Lob-Gegenstand) 210 2 .213 10 .351 4 Lyrik 20 104 .25 14 .38 8 .58ff Macht 40. 43. 44. 50. 51. 57. 62. 63. 64. 82. 96. 102. 123. 129. 137. 149. 151. 153. 154. 156. 157. 158. 169. 170. 172. 176. 217. 222. 223. 224. 225. 228. 230. 244.247.260.267.316 Makarismos/μακαρίζειν 113.120 Metonymie 194.326 Metapher/metaphorisch 6538. Ó749 6855. 156. 181.182 18 .183.184.185. 187. 189. 191. 19371·73. 194. 19582. 198. 203. 206. 207 131 .215 18 .260.295 18 .296.313.315 49 321 5 .323.336f Metrum/metrisch 17 96 .18. 23ff. 31ff. 35. 4445. 4661. 4970. 5072. 52ff. 56. 59f. 68. 70. 9027. 10371. 107. 156. 166f. 185. 250 40 .278 33 .306.311.331.341 27 .347 Mond 53. 55. 10371. 221s. 229. 240f. 247 (s. auch Luna) Mücke 52.54 Mythos/mythisch/Mythologie 40. 50. 54. 56. 60. 63. 65f. 68. 72. 86. 88. 90. 91. 9648. 99.100.103. 105.131 106 .145. 150. 156 30 .159.166.172.185.315 narratio - s. .Erzählung' Neid/neidisch 64. 67. 132. 138. 156. 166. 249.266.304 Neologismus (neugeprägter Ausdruck) 127. 156. 183. 184f. 189. 19688. 206129. 238.313 Päan (Liedgattung) 37f. 48. 4971. 5379. 59 11 .60 12 .61.166 Päon (Versmaß) 23 3 .53.182.204 118 παλιλλογία 12256f. 178.259 26 .298 37 (s. auch conclusiö)

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Register

Panegyricus 159ff. 172.211.348 Paränese/paränetisch 224. 226. 2532. 25 264. 265. 2Ί5 . 276. 305. 314. 31549. 317 59 .319 67 .320 1 .343 παράκλησις/παρακαλεΐν 131106. 159. 18 170.237.266.257f. 272 .306.337 παράλειψις (praeteritio) 1476 Parallelismus 1. 5. 6. 1265. 16. 18. 23. 25 ff. 67. 71. 11941. 127. 147. 164. 182. 18743. 18950. 193. 19479. 22720. 236. 241. 24631. 30045. 3055. 306. 30922. 331. 341.342 30 .347 παρέκβασις 177 Parenthese \ 9 f 9 . 2 U Parisosis/Parison 28.198 Parodie 3915. 47. 87. 15940. 170. 217. 241 15 .243.249 38 .252.256 13 Paromoiosis 26.28ff. 198 Paronomasie 28. 10885. 169™. 18949. 59 74 190 .193 .238.322 2 .326.339 16 (s. auch Wortspiel) partitio 293 12 .294 17 .295.299 44 Partizipien („Partizipialstil") 24. 5 ff. 45. 57.74. 77f. 80.84 6 .97.106.119 41 .152 23 . 16970. 17179. 218f. 241. 275. 3013. 305. 306.312 35 .326.330.331.342 29 Pathos (πάθος) 60. 67. 71. 179ff. 185. 187. 18848. 192. 197. 199ff. 207. 208. 209. 229. 232. 24115. 242. 24525·27. 270. 301.307.326.328.330.349 περιαυτολογία 136. 138. 139147 (s. auch Eigenlob) Periode 25f. 29. 3029. 33". 127.166.167. 17179. 182. 187. 191. 19266. 193. 197. 198. 206129. 207130. 228. 229. 255. 259. 260.269.295.308f. 31127 Periphrase 197.203 peroratio 178.259^. 297.298.299 44 . 300 (s. auch conclusici) Personalpronomen 4021. 8820. 91. 107. 73 24 170 .213.217.218 .247.274 B Pferd 59 9 .61 18 .63.90.93 37 .184 30 Pistis (πίστις) (als Lob-Gegenstand) 50 71 .353 10

Polemik/polemisch 69. 83. 858. 94 41 .122. 13098. 146. 19369. 2219. 226. 230ff. 252. 255. 272. 273. 2813. 286. 302. 3068. 31341.327®. 330.332.333 40 .344.353 10 .Polymetrie' 10371.10781 Predigt 4.245.250.300 44 .304.332 πρέπον - s. Angemessenheit Priamel 69.85.89.215 probatio 129. 2285. 253 lf . 27730. 296. 297. 299.300.329 (s. auch argumentatiö) πρόθεσις 115.122 57 .294.304.328 (s. auch propositio) Prokeleusmatikus 53.54 s4 πρόνοια 170. 231. 234 (s. auch Providentia) Prooimion/Proömium 46f. 4868. 5278. 54. 65f. 72. 84f. 89. 92ff. 9854. lOlff. 106. 115. 120f. 12257. 12466. 133. 139143. 142155f. 145. 146. 151. 16560. 170. 174. 197. 207130. 2102. 211. 2138. 214. 216. 219. 2285. 23318. 23421. 239. 247Í35. 251. 2545. 259. 26543. 269. 271. 276f. 292f. 297. 299. 301f. 310. 321. 327. 329. 332. 336. 340. 344. 348. 350. 3529 Prophet(en)/prophetisch 3030. 32f. 35. 48 m 75. 79 . 83 . 166. 222. 223. 245. 2531. 31128 Prophezeihung 88.90.98.286.333 propositio 139142. 140150. 207130. 209. 214. 219. 2285. 2531. 276. 294ff. 304. 322.325.328.344 Prosodion 38.59 n .61 προσωποποιΐα 217 23 .277 32 Providentia 240. 243. 245. 248 (s. auch πρόνοια) Prozeß 51f. 245 29 .251 Prozession ' 389. 5911. 61. 74. 97. 239s. 244 22 .245 Psalm(en) 25. 3. 945. 1051. 11. 31ff. 72ff. 10988. 17284. 215. 22519. 2364. 24938. 311 322 2 .331 27 .338 10 Psogos (ψόγος) 111 5 .114.143.144.187 40 . 221.335 (s. auch Tadel/tadeln)

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Begriffe Pyrrhichios 53.203Í Redeteil(e) 115f. 121f. 124 f. 142 156 . 174ff. 190. 195 82 . 207. 209. 253 , f . 254 5 . 298f. 302 Relativpronomen 6. 45f 55 . 57. 81 61 . 312. 321 4 .331.338.351 Relativsätze („Relativstil") 2 4 . 5ff. 1365. 45. 55. 57. 63. 74. 95. 97. 106. 15223. 214. 241. 246. 275. 275 26 . 307. 308. 328. 330.331 Retter/Heiland (σ