Herausforderungen für das Verwaltungsrecht [1 ed.] 9783428589777, 9783428189779

Lange Zeit bestand das Verwaltungsrecht im Wesentlichen aus Grundsätzen, die man im berühmten Werk von Otto Mayer und in

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Herausforderungen für das Verwaltungsrecht [1 ed.]
 9783428589777, 9783428189779

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Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

Band 241

Herausforderungen für das Verwaltungsrecht

Herausgegeben von Herrmann Hill und Veith Mehde

Duncker & Humblot · Berlin

HERRMANN HILL / VEITH MEHDE (Hrsg.)

Herausforderungen für das Verwaltungsrecht

Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Band 241

Herausforderungen für das Verwaltungsrecht

Herausgegeben von Herrmann Hill und Veith Mehde

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 2197-2842 ISBN 978-3-428-18977-9 (Print) ISBN 978-3-428-58977-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer beging im Jahr 2022 ihr 75-jähriges Jubiläum. Zu den Veranstaltungen, die aus diesem Anlass durchgeführt wurden, gehörte auch die Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist. Das öffentliche Recht und speziell das Verwaltungsrecht spielte in der Universität – ursprünglich: der „Hochschule“ – stets eine große Rolle. In den Anfangsjahren – auch nach der Gründung der Bundesrepublik – bestand das deutsche Verwaltungsrecht im Wesentlichen aus Grundsätzen, die man im berühmten Werk von Otto Mayer und in zahlreichen Gerichtsentscheidungen, nicht aber in Gesetzen finden konnte. Die Regelung des Verwaltungsverfahrens in verschiedenen Gesetzen hat seither Ausmaße angenommen, die man sich seinerzeit schwerlich hätte vorstellen können. Die technische, wissenschaftliche wie auch die soziale Entwicklung hat immer weitere Regelungsnotwendigkeiten bzw. -bedürfnisse nach sich gezogen. Die „VUCA-Welt“ (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) und die – wie auch immer genau bestimmten – „Grand Challenges“ fordern die Gesetzgeber auf den verschiedenen Ebenen heraus. Die Wissenschaft steht vor der Aufgabe, die Wirkungen dieser Herausforderungen auf das Allgemeine Verwaltungsrecht immer wieder zu reflektieren. Handlungsformen, die das Verwaltungsrecht seit langer Zeit prägen, stehen auf dem Prüfstand. Die Vorträge nahmen unterschiedliche dieser „Herausforderungen“ auf. Die Beiträge gehen auf die von den Autorinnen und Autoren gehaltenen Vorträge zurück. Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren sowie allen, die zum Gelingen der Tagung beigetragen und an der Herstellung dieses Bandes mitgewirkt haben, sehr herzlich. Besonderer Dank gebührt Herrn Dipl.-Jur. Lucas Haak, B.A. für die Erstellung einer druckfertigen Fassung des Textes. Speyer/Hannover, im Frühjahr 2023

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Veith Mehde Einführung: Herausforderungen für das Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thorsten Siegel Herausforderungen für das Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ariane Berger Flexibilisierung der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich Smeddinck Behavioral Administration. Begriff, Nudging, Wirksam Regieren, Standortauswahlgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Annette Guckelberger E-Government und Verwaltungsverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sönke E. Schulz Verwaltungsverfahrensrechtliche Relevanz von Cloud-Leistungen . . . . . . . . . . .

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Hannah Ruschemeier „Künstliche Intelligenz“ in der Verwaltung im Mehrebenensystem . . . . . . . . . . 111 Thomas Wischmeyer Die digitale Verantwortung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Sabine Schlacke und Miriam Köster Entwickelt sich ein Klimaschutzverwaltungsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Kai v. Lewinski Nachhaltigkeit und Resilienz. Herausforderungen für das Verwaltungsrecht – Wie geht das Verwaltungsrecht mit ökologischen und gesundheitlichen Herausforderungen um? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Tristan Barczak Der Einfluss der Pandemie auf die Handlungsformen des Verwaltungsrechts . . 177 Margrit Seckelmann Verwaltungshandeln in sozialen Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Hermann Hill Verwaltungshandeln und Verwaltungsrecht vor dem Hintergrund der Veränderung der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Einführung: Herausforderungen für das Verwaltungsrecht Von Veith Mehde

I. Einleitung Die Politik reagiert auf neu entstehende Herausforderungen typischerweise durch Rechtsetzung – und Herausforderungen gibt es eigentlich immer. Wann hätte es schon einmal eine Zeit gegeben, die von verantwortlich handelnden Personen in Politik und Verwaltung nicht als herausfordernd wahrgenommen worden wäre? Schon während des aus heutiger Sicht als „gute alte Zeit“ erscheinenden „Wirtschaftswunders“ war die Bundesrepublik von schwerwiegenden Konflikten geprägt – der im Nachhinein als klar und eindeutig empfundene Weg der Bundesrepublik ist nicht ohne Anfechtungen gangbar gewesen. Weder der „Kalte Krieg“ noch die Phase, in der dieser zu Ende ging, wurden, während sie sich vollzogen, als problemfreie Zeiten wahrgenommen. Warum erscheint es also sachgerecht, Herausforderungen gerade Mitte des Jahres 2022 zum Anknüpfungspunkt für eine Tagung über Verwaltungsrecht zu machen? Diese Frage führt zu der weiteren, was die derzeitige Situation von anderen Phasen in der Geschichte der Bundesrepublik unterscheidet und dabei – gleichzeitig – Auswirkungen auf das Verwaltungsrecht haben kann. Allgemein formuliert ist zu sagen, dass sich in der aktuellen Entwicklung Probleme beschreiben lassen, die es in dieser Verdichtung und in diesem Ausmaß in der Geschichte der bundesrepublikanischen Rechtsordnung nicht gegeben hat und in denen gerade das Verwaltungsrecht eine prägende Rolle spielt. Die Darstellung nimmt solche Beobachtungen, die vor allem das besondere Verwaltungsrecht betreffen, zum Anlass, über mögliche Auswirkungen auf das allgemeine Verwaltungsrecht zu reflektieren. Dies führt zu Fragen, zu deren Beantwortung die folgenden Texte in diesem Band beitragen sollten. Das Themenspektrum umfasst dabei ganz unterschiedliche Ebenen und weist ebenso unterschiedliche Bezüge auf.

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II. Das Besondere Verwaltungsrecht Das Verwaltungsrecht erfordert heutzutage schon aufgrund der Breite der behandelten Themen einen gewissen Grad der Spezialisierung.1 Realistischerweise lässt sich gar nicht mehr von dem besonderen Verwaltungsrecht als einem in einer aussagekräftigen Weise einheitlichen Rechtsgebiet sprechen. Praktiker wie Wissenschaftler kommen nicht umhin, sich auf einzelne Teilgebiete2 – also letztlich: Bruchteile des besonderen Verwaltungsrechts – zu konzentrieren oder notwendigerweise in Bezug auf die jeweiligen Teilgebiete bei einer oberflächlichen Beschäftigung zu verbleiben. Vor diesem Hintergrund müsste man es geradezu als anmaßend betrachten, über dieses Rechtsgebiet mit dem Anspruch zu sprechen, ein vollständiges Bild zu zeichnen. Dies vorausgeschickt fällt gleichwohl auf, dass es einige Aspekte der Entwicklung gibt, die sich auf einer höheren Abstraktionsebene betrachten und als spezifische Herausforderung umschreiben lassen, ohne dass zwingend die Kenntnis von Details der Rechtsgebiete selbst erforderlich wäre. 1. Neue und nicht so neue Querschnittsmaterien Ein Aspekt, der in diesem Zusammenhang Erwähnung verdient, betrifft die Zahl der Rechtsgebiete, die man dem besonderen Verwaltungsrecht zurechnen kann, die aber gleichwohl als Querschnittsmaterien zu betrachten sind und daher Auswirkungen auf ganz unterschiedliche Rechtsgebiete haben. Ein gewissermaßen schon „klassisches“ Gebiet in dieser Hinsicht ist das Datenschutzrecht. Schon das BDSG3, erst recht aber die Datenschutzgrundverordnung4 haben ein Rechtsgebiet ausgestaltet, dessen Wirkungen in der öffentlichen Verwaltung – und darüber hinaus – nachdrücklich zu spüren sind, unabhängig von der Frage, welchen Aufgabenbereich die jeweilige Behörde hat. Zu diesem klassischen Rechtsgebiet sind weitere hinzugekommen, über die sich Vergleichbares sagen lässt. Recht offensichtlich ist dies bei dem Recht der Digitalisierung und des E-Government und der damit einhergehenden Notwendigkeit einer weiteren Standardisierung. Ähnli-

1 M. Schmidt-Preuß (FS H. Maurer, München 2001, S. 777) spricht mit Blick auf die „legislative Gestaltungskonzeption“ von einem „Prinzip fachgesetzlicher Spezialität“. 2 Zu den verschiedenen „Referenzgebieten“ vgl. W. Kahl, in: Kahl/M. Ludwigs, HdbVwR I, 2021, § 12 Rn. 39 f.; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee – Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, 2. Aufl. 2004, S. 112 ff.; J. Ziekow, Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht, in: M.-E. Geis/D. C. Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle. Festschrift für Richard Bartlsperger zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 247 (250 f.); speziell zu neuen Referenzgebieten J. Kersten/S.-C. Lenski, Die Verwaltung 42 (2009), 501 (513 ff.). 3 Zu den historischen Wurzeln des Datenschutzes siehe H. P. Bull, Sinn und Unsinn des Datenschutzes, Tübingen 2015, S. 49 ff. 4 Verordnung (EU) 2016/679, ABl. L 119/1.

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ches wird man in Zukunft sicherlich über Regeln über den Einsatz künstlicher Intelligenz5 sagen können. Zu dem hier relevanten Zeitpunkt – Mitte 2022 – lassen sich zwei weitere Querschnittsmaterien identifizieren, die eine ganz neue Bedeutung verbunden mit einer besonderen Dringlichkeit erhalten haben. Dies betrifft zunächst einmal das Klimaschutzrecht. Die Erderwärmung und ihre Bekämpfung sind regelrecht das Musterbeispiel von Herausforderungen, die sich nicht fachspezifisch lösen lassen. Sein Kennzeichen ist, dass es nur dann die damit intendierte Effektivität erreichen kann, wenn es von allen Ressorts und allen Verwaltungen in die Entscheidungsfindung einbezogen wird.6 Der thematische Zuschnitt von Klimaschutzgesetzen auf Landesebene belegt die Querschnittseigenschaft.7 Jedenfalls vorübergehend erfüllte auch das Infektionsschutzrecht eine Rolle als – geradezu alle Bereiche des Verwaltungshandelns dominierendes – Querschnittsgebiet. Lange Zeit eine Spezialmaterie, mit der sich kaum einmal ein Verwaltungsgericht zu beschäftigen hatte, wurde es nun zu einer nicht nur unzählige Lebensbereiche erfassende, sondern auch die Verwaltung in der Breite beschäftigende Materie. Dabei gab es selbstredend Teile der Verwaltung mit größerer und solche mit kleinerer Betroffenheit. Die Hauptlast trugen die Gesundheitsämter8 und die Behörden, die die verschiedenen etablierten finanziellen Unterstützungsprogramme9 zu vollziehen hatten. Letztlich war aber in wohl fast allen Lebensbereichen, die von den entsprechenden Verordnungen auf Landesebene geregelt wurden, auch die öffentliche Verwaltung betroffen, die in unterschiedlichen Rollen – eigene Umsetzung, Aufsicht, Abmilderung der Folgen – damit befasst war. So musste sich etwa jeder Schulträger, jede Schulverwaltung, ja jede Schule mit Fragen beschäftigen, ob und wie Unterricht stattfinden und die Betreuung der Kinder erfolgen konnte. Die Arbeitsschutzverwaltungen mussten sich mit einer ganz neuen Gefährdungslage für die Beschäftigten auseinandersetzen. Die Liste ließe sich entlang der Gliederungspunkte der Corona-Bekämpfungsverordnungen fortsetzen.

5 Vgl. dazu den Entwurf der Europäischen Kommission für eine Verordnung über künstliche Intelligenz, COM(2021) 206 final. 6 Vgl. dazu den Beitrag von S. Schlacke in diesem Band, S. 149 ff. 7 Vgl. etwa § 1 des Hamburgischen Klimaschutzgesetzes (GVBl. 2020, 148), der die Überschrift trägt „Klimaschutz als Querschnittsaufgabe“ und dessen Satz 1 lautet: „Die Erfordernisse des Klimaschutzes einschließlich der Anpassung an den Klimawandel müssen bei allen Planungen, Maßnahmen und Entscheidungen der Freien und Hansestadt Hamburg und ihrer landesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts berücksichtigt werden“. 8 Vgl. dazu H. Meyer, VM 27 (2021), 210 (213). 9 Zu der Größe der Herausforderung in diesem Bereich vgl. etwa BT-Drs. 19/26320, S. 3.

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2. Die schwierige Ursachenforschung Insgesamt scheinen auch diese Tendenzen Ausdruck einer generellen Entwicklung zu sein. Nicht nur die Querschnittmaterien werden mehr, das gesamte besondere Verwaltungsrecht weitet sich aus. Dies stellt keine neue Entwicklung dar, aber im Lauf der Zeit vermehrt sich kontinuierlich die Menge und steigt die Komplexität. Dass diese Entwicklung nicht zu ändern sein dürfte, dafür spricht auch schon eine auch nur oberflächliche Betrachtung der Ursachen: Komplexität im Recht wird von der Komplexität der Herausforderungen bedingt – eine Behauptung, die sich noch weiter ausdifferenzieren ließe, was für die Zwecke dieses Beitrags aber als nicht zwingend erscheint. Wichtiger dürfte es demgegenüber sein hervorzuheben, dass es die Wahrnehmung der Herausforderung ist, die zu den Bemühungen führt, welche sich dann schließlich im Gesetz abbilden. Mitunter besteht mit guten Gründen Streit, ob es sich um eine tatsächliche oder nur wahrgenommene Herausforderung handelt. Die Auseinandersetzungen über verschiedene Gesetzesvorhaben – insbesondere solche, die mit Grundrechtseinschränkungen verbunden sind –, sind Ausweis dieser Tatsache. Daneben spielen die Anforderungen des höherrangigen Rechts eine ganz erhebliche Rolle. Der EU-Gesetzgeber ist hier ebenso zu nennen wie die Gerichte mit ihrer Auslegung des EU- wie des nationalen Verfassungsrechts. Wie das deutsche Recht weist auch das europäische eine erstaunliche Komplexität auf. Ansätze, die durchgreifende Veränderungen erwarten ließen, sind nicht ersichtlich. 3. Die Geschwindigkeit Ein Aspekt, der abschließend mit Blick auf das besondere Verwaltungsrecht einer besonderen Erwähnung bedarf, ist die Geschwindigkeit, mit der die Änderungen vollzogen werden. Das Infektionsschutzrecht mit den jeweils befristeten Änderungen des Gesetzes wie auch den ausführenden Verordnungen durch die Länder ist hier ein ins Extreme gesteigertes Beispiel,10 das in dieser Form wohl einmalig ist. Aber auch in vielen anderen Rechtsgebieten – nicht nur den Querschnittsmaterien – wird ein großer Anpassungsdruck gesehen, der sich in häufigen Gesetzesänderungen niederschlägt. Positiv gewendet zeigt sich darin, wie schnell die Gesetzgebungsmaschinerie laufen kann, wenn besondere Herausforderungen identifiziert werden. Negativ mag man auch von Kurzatmigkeit sprechen. Es ist festzustellen, dass „Interesse, Zeit und Kraft“ für „strukturelle Gesetzgebung“ fehlt, also für die Arbeit am Gesetz, die nicht unmittelbar mit einem politischen Ziel verbunden ist.11

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Zur Praxis siehe H. Meyer, VM 27 (2020), 210 (211 f.). K. Rennert, in: R. Rubel/J. Ziekow (Hrsg.), Die Verwaltung und ihr Recht, Baden-Baden 2019, S. 9 (14). 11

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III. Das Allgemeine Verwaltungsrecht Wenn man sich mit den Herausforderungen für jenen Teil des Verwaltungsrechts beschäftigt, den man als den „allgemeinen“ bezeichnet, so stellt sich sogleich die Frage, ob ein direkter Einfluss von Krisen oder sonstigen äußeren Vorkommnissen auf die Entwicklung des Rechtsgebiets überhaupt denkbar ist. Dabei kommt zunächst die immer wieder herausgestellte12 große Stabilität des Verwaltungsrechts in den Sinn. Auf diese Weise bildet gerade das allgemeine Verwaltungsrecht im gesamten öffentlichen Recht der Bundesrepublik den „ruhenden Gegenpol zu tagespolitischen Aufgeregtheiten und Sonderinteressen“13.14 Dies folgt nicht zuletzt aus der Tatsache, dass das Rechtsgebiet Strukturen liefert, auf denen dogmatische Erwägungen aufsetzen und somit Fälle klar argumentiert gelöst werden können. Eine solche Gewissheit sieht sich bei näherer Betrachtung aber immer wieder Fragen ausgesetzt: Könnte man etwa beim Aufräumen einer Bibliothek Studierenden guten Gewissens ein dreißig Jahre altes Lehrbuch des allgemeinen Verwaltungsrechts überlassen? Vermutlich würde man einen Vorbehalt machen, dass das Buch nur zum Lernen der Grundzüge verwendet werden sollte, aber verbunden mit dieser Einschränkung könnte man dies wohl ohne weiteres bejahen. In der Tat bleibt natürlich auch das allgemeine Verwaltungsrecht nicht frei von Veränderungen. Das Verwaltungsverfahrensgesetz als wesentlicher Anknüpfungspunkt für das allgemeine Verwaltungsrecht15 ist immer wieder angepasst worden, wie die nicht seltenen mit Buchstaben gekennzeichneten Paragrafen schon bei einem oberflächlichen Blick zu erkennen geben. Die auf diese Weise erfolgenden Ergänzungen lenken den Blick auf quantitative Erwägungen. Die Ausweitung des Rechts, mit der auch viele Diskussionen über den „Bürokratieabbau“ verbunden sind, betrifft zu einem ganz wesentlichen Teil solche Gesetze, die dem besonderen Verwaltungsrecht zugeordnet werden. Eine solche Ausweitung der besonderen Regeln gibt natürlich auch Anlass, über die gleichermaßen erfolgende Ausweitung des allgemeinen Verwaltungsrechts nachzudenken.16 Dies wiederum wirft die Frage der Identifizierung jener Vorschriften auf, die dem allgemeinen Verwaltungsrecht zuzurechnen sind.17

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Vgl. dazu etwa J. Ziekow (Fn. 2), S. 248. T. Groß, Die Verwaltung Beiheft 2, 1999, 57 (72). 14 Zur „Dauerhaftigkeit“ als Kriterium für die Zugehörigkeit zum allgemeinen Verwaltungsrecht W. Kahl (Fn. 2), § 12 Rn. 5. 15 M. Schmidt-Preuß (Fn. 1), S. 779 f. 16 Siehe dazu aber die Diagnose von E. Schmidt-Aßmann (Fn. 2, S. 145): „Von einer der Bedeutung der neuen Referenzgebiete angemessenen systematischen Einarbeitung der in ihren Lösungsansätzen erkennbaren Sachprobleme in die allgemeinen Lehren kann (…) noch nicht gesprochen werden“. 17 Vgl. dazu die „zwei Filter“ bei W. Kahl (Fn. 2), § 12 Rn. 5. 13

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1. Die Identifizierung des allgemeinen Verwaltungsrechts Das allgemeine Verwaltungsrecht vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen zu betrachten, scheint schon deswegen wissenschaftlich vielversprechend zu sein, weil es historisch gesehen eine „Erfindung“18 der Wissenschaft ist: Was zum allgemeinen Verwaltungsrecht gehört, wird wesentlich von der Wissenschaft herausgearbeitet.19 Die Grundlage bildeten dabei neben dem Gesetz natürlich in erster Linie gerichtliche Entscheidungen, also das Recht in der Praxis. Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit liefert20 die zentrale Methode21 der Identifizierung jener Aspekte des Rechts, die man zum allgemeinen Verwaltungsrecht zählen kann.22 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche Gerichte für sich den Anspruch erheben,23 an der Identifizierung der Grundsätze und Regeln ebenfalls mitzuwirken.24 Dies erfolgt dann vor allem durch das Erstellen von Leitsätzen.25 Diese werden typischerweise allen Entscheidungen, die in Zeitschriften oder Datenbanken veröffentlicht werden sollen, vorangestellt und zwar unabhängig von der Instanz, zu der das jeweilige Gericht zählt.26 Sie werden „Teil eines virtuellen Diskurses über die Auslegung und Anwendung der einschlägigen Rechtsnormen; welchen Einfluss sie entfalten, hängt vor allem davon ab, ob und inwieweit die Akteure damit rechnen müssen, im Konfliktfall den Leitlinien entsprechend behandelt zu werden“.27 Damit entsteht eine Ebene von Regeln,28 deren Anwendung sich von jener von Rechtsnormen nicht wesentlich unterscheidet. Schließlich geht es um „Verhaltens-

18 Zur Historie der Unterscheidung siehe T. Groß, Die Verwaltung Beiheft 2, 1999, 57 (58 ff.); W. Kahl, in: Kahl/Ludwigs, HdbVwR I, 2021, § 12 Rn. 12 ff. 19 Vgl. dazu etwa W. Kahl (Fn. 2), § 12 Rn. 4 („eine im Kern verwaltungsrechtswissenschaftliche Konzipierung und Systematisierung“); J. Kersten/S.-C. Lenski, Die Verwaltung 42 (2009), 501 (503). 20 Für K. Rennert (Fn. 11, S. 15) allerdings „zieht das Forschungs- und Forscherinteresse aus dem Allgemeinen Verwaltungsrecht aus“. 21 Vgl. J. Ziekow (Fn. 2), S. 249; differenziert W. Kahl (Fn. 2), § 12 Rn. 5. 22 M. Schmidt-Preuß (Fn. 1), S. 779. 23 K. Rennert (Fn. 11, S. 9, 15) berichtet sogar von einer gewissen Erwartungshaltung an die Rechtsprechung „für die nötige Einbindung in die verwaltungsrechtlichen Grundfiguren und Rechtsinstitute“ zu sorgen. 24 Vgl. dazu C. Möllers, in: Festschrift für Ulrich Battis, München 2014, S. 107 ff., mit kritischen „Nachfragen“ (ebd., S. 108). 25 Zur Funktion von Leitsätzen vgl. J. Berkemann, ZUR 2021, 585 (594 f.); J. Ziekow, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), HdbVwR I, § 14 Rn. 31 ff. 26 U. Ramsauer, in: R. Rubel/J. Ziekow (Hrsg.), Die Verwaltung und ihr Recht, BadenBaden 2019, S. 21 (43). 27 U. Ramsauer (ebd.), S. 43. 28 Für U. Ramsauer (ebd., S. 45) „fördert die steigende Zahl von Leitsatzentscheidungen die Entwicklung einer Art ,Case-Law‘“.

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sicherheit für zukünftige Verwaltungsentscheidungen“29, auch wenn im rechtlichen Sinne keine Bindungswirkung30 besteht und kein Recht gesetzt31 wird. Die Teilkodifikation, die das allgemeine Verwaltungsrecht insbesondere durch das VwVfG, die AO oder das SGB X erhalten hat,32 stellte sich einerseits vor allem als eine Verschriftlichung33 der in der Rechtsdogmatik entwickelten Grundsätze und Regeln dar,34 erlaubt aber andererseits nunmehr eine einfache Anpassung durch gesetzgeberische Aktivitäten. Der Gesetzgeber hat in der Tat über die Jahre hinweg solche Anpassungen vorgenommen, die unter ganz unterschiedlichen Überschriften, also auch mit ganz unterschiedlichen Zielen erfolgten. Eines der genannten Querschnittsthemen wurde dabei besonders deutlich übernommen, namentlich das E-Government, das sich in dem Text des VwVfG deutlich abzeichnet, ohne auch nur annähernd an eine Vollregelung zu erinnern. Ebenfalls ein klar im Normtext zu erkennendes Anliegen ist das Bemühen um Verfahrensbeschleunigung.35 Die Dominanz des Themas wurde – insbesondere als Spätfolge der Diskussion über das inzwischen als Schlagwort selbsterklärende „Stuttgart 21“ – vorübergehend und durchaus nicht ganz spannungsfrei durch eine stärkere Betonung der auf die Akzeptanz abzielenden Mittel abgelöst.36 Der Glaube an die Möglichkeiten der Akzeptanzsteigerung dürfte allerdings inzwischen deutlich geringer ausfallen. 2. Mechanismen und Metaphern Hinsichtlich der Beschreibung von konkreten Mechanismen, die bei der Identifizierung der Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts eine Rolle spielen, fällt zunächst die Bedeutung von Metaphern auf. Positiv formuliert ist das allgemeine Verwaltungsrecht danach etwa das, was bei der Anwendung des besonderen Verwaltungsrechts „vor die Klammer gezogen“ werden kann.37 Negativ könnte man die Vor29

J. Ziekow (Fn. 25), § 14 Rn. 32. U. Ramsauer (Fn. 26, S. 43) spricht davon, die Wirkung sei „keine unmittelbar rechtliche, sondern eine mittelbare, praktische“; zur fehlenden Bindungswirkung von Leitsätzen bei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen Berkemann, ZUR 2021, 585 (594). 31 J. Ziekow (Fn. 25), § 14 Rn. 33. 32 Vgl. T. Groß, Die Verwaltung Beiheft 2, 1999, 57 (70 f.); C. Möller (Fn. 24), S. 104; J. Ziekow (Fn. 2), S. 247. 33 Vgl. auch W. Kahl (Fn. 2, § 12 Rn. 9), der von der Kodifikation des VwVfG als einer „gesetzgeberische(n) Fixierung des Stands der Rechtsdogmatik“ spricht. 34 Zu dem Projektcharakter der kodifikatorischen Gesetzgebungsvorhaben C. Möller (Fn. 24), S. 105 ff. 35 Vgl. zu den unterschiedlichen „Phasen“ der Beschleunigungsgesetzgebung M. Roth, ZRP 2022, 82. 36 M. Deutsch, DVBl. 2019, 1437 (1442) mit dem Hinweis, die Rechtspolitik sei „wenig konsistent“; V. Mehde, DVBl. 2020, 1312 (1313). 37 Vgl. mit weiteren Nachweisen W. Kahl (Fn. 2), § 12 Rn. 4; kritisch zu dieser Beschreibung C. Möllers (Fn. 24), S. 103, der von einer „abgenutzten Metapher“ spricht. 30

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gehensweise aber so umschreiben, dass der „kleinste gemeinsame“ Nenner der unterschiedlichen Rechtsgebiete gesucht wird.38 Auch kann man davon sprechen, dass „(d)urch Reduktion bereichsspezifischer Erscheinungsformen (…) verallgemeinerungsfähige Grundmuster“ entstünden39 oder dass in der Systembildung auch eine „Speicherleistung“40 liege. Umschrieben ist damit also im Wesentlichen ein Vorgang der Analyse des Rechts und der Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit.41 Nüchtern betrachtet muss man wohl festhalten, dass dies schon aus Gründen der Menge der Normen und Entscheidungen stets nur einen kleinen Teil des Gesamtvolumens dieser Quellen ausmachen kann. Letztlich dürfte daher das Vertrauen eine Rolle spielen, dass weder der Gesetzgeber noch die Gerichte ein Interesse daran haben, in weniger im Fokus stehenden Rechtsgebieten diese Mechanismen zu durchbrechen, also stets geneigt sein werden, die durch das etablierte allgemeine Verwaltungsrecht gefundenen Regeln, wo immer möglich, auch dort anzuwenden.42 Hinzu kommt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung des höherrangigen Rechts.43 Auch das allgemeine Verwaltungsrecht speist sich erheblich aus den so gewonnenen Regeln.44 Zentrale Gegenstände, die heute dem allgemeinen Verwaltungsrecht zugeordnet werden, sind entstanden durch die Deduktion aus dem Verfassungsrecht.45 Die Vorgaben sind zum Teil noch als Hintergrund der konkreten einfachgesetzlichen Regeln erkennbar, zum Teil wirken sie noch ganz unmittelbar in die Entscheidung konkreter Fälle hinein. Das europäische Recht hat für lange Zeit unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten keine normprägende Rolle im allgemeinen Verwaltungsrecht gespielt. Den Alcan-Fall46 mag man insoweit als eine Art „Weckruf“ betrachten, wurde dort doch deutlich, dass das Europarecht auch ganz unmittelbar regelbildend für das allgemeine Verwaltungsrecht in Deutschland werden kann47 – und zwar auch in solchen Bereichen, in denen hinter der im Konflikt mit dem Europarecht stehenden Norm eine verfassungsrechtliche

38 C. Möllers (Fn. 24), S. 103; der hinzufügt, dass allgemeines Verwaltungsrecht „in diesem Sine weniger allgemeines als subsidiäres Verwaltungsrecht“ sei. 39 J. Ziekow (Fn. 2), S. 249. 40 T. Groß, Die Verwaltung Beiheft 2, 1999, 57 (71). 41 Siehe schon bei Fn. 21 f. 42 W. Kahl (Fn. 2, § 12 Rn. 27) spricht von „Orientierungspunkte(n) für Gesetzgeber und Verwaltungsrechtswissenschaft. 43 Vgl. dazu C. Möllers (Fn. 24), S. 110 f. 44 Vgl. etwa H. P. Bull/V. Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 10. Aufl. 2022, Rn. 134 ff. 45 Differenzierend dazu W. Kahl (Fn. 2), § 12 Rn. 23 ff.; siehe auch ebd., Rn. 29. 46 EuGH, C-24/95, Slg. 1997, I-1607; zu weiteren Fällen, die zu „Reibungen (…) zwischen europarechtlichen Vorgaben und konstitutionalisiertem Verwaltungsrecht“ führten: J. Kersten/ S.-C. Lenski, Die Verwaltung 42 (2009), 501 (512 f.). 47 Vgl. W. Kahl (Fn. 2), § 13 Rn. 43.

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Vorgabe steht.48 Zunehmend sind sowohl das allgemeine Verwaltungsrecht wie das Verwaltungsprozessrecht beeinflusst worden.49 Die resultierende Konfliktlage zwischen deutschem Verfassungs- und dem Europarecht war wiederum ganz unmittelbar normprägend in Deutschland. In der Folgezeit hat die Vorstellung einer abschließenden Kompetenz der Mitgliedstaaten für den Vollzug des europäischen Rechts und damit für die Schaffung des allgemeinen Verwaltungsrechts zunehmend an Überzeugungskraft verloren. Das Allgemeine Verwaltungsrecht als verbliebene Zuständigkeit der Mitgliedstaaten hat sich in zu vielen Konstellationen als relevant für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes erwiesen. Damit ergab sich aus kompetenzieller Sicht auch ein Anknüpfungspunkt für den europäischen Gesetzgeber. Als Beispiel mag in dieser Hinsicht die Dienstleistungsrichtlinie50 dienen, deren Umsetzung auch zur Aufnahme der Regelungen zur europäischen Amtshilfe in das VwVfG51 geführt hat.52 Eine ähnliche, für das allgemeine Verwaltungsrecht relevante Entwicklung vollzieht sich im Rahmen der Nutzung von Binnenmarktkompetenzen für die Schaffung von Anforderungen im Bereich des E-Government.53 Dies lässt sich durchaus als ein Erkenntnisprozess beschreiben, bei dem die Relevanz der allgemeinen Regeln für den Vollzug der spezifischen materiellen Vorgaben zunehmend erkannt wird. 3. Die Notwendigkeit des allgemeinen Verwaltungsrechts Die immer größer werdende Komplexität im Bereich des besonderen Verwaltungsrechts wirft zwangsläufig nicht nur die Frage der Möglichkeit eines allgemeinen Verwaltungsrechts auf, sondern auch jene nach seiner Notwendigkeit54. Beide Fragen sind eindeutig mit „Ja“ zu beantworten. Das allgemeine Verwaltungsrecht ist das Mittel, das dafür sorgt, dass unbekannte Rechtsgebiete, von denen es eine ständig wachsende Zahl gibt, nie vollständig unbekannt sind.55 Gäbe es nicht mehr die 48

Vgl. H. P. Bull/V. Mehde (Fn. 44), Rn. 832. W. Kahl (Fn. 2), Rn. 4, 43. 50 Richtlinie 2006/123/EG, ABl. EU Nr. L 376/36. 51 §§ 8a VwVfG, eingefügt durch Art. 4a des Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Gewerberecht und in weiteren Rechtsvorschriften vom 17. 7. 2009, BGBl. I., S. 2091. 52 Vgl. dazu etwa V. Mehde, in: S. Frenzel/W. Kluth/K. Rennert (Hrsg.), Neue Entwicklungen im Verwaltungsverfahrens- und -prozessrecht, Halle-Wittenberg 2010, S. 47 ff. 53 Zum unionalen Rahmen von E-Government V. Mehde, in: M. Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – Vernetztes E-Government, 3. Aufl. (i. E.). 54 Vgl. dazu auch W. Kahl (Fn. 2), Rn. 45 ff. 55 Vgl. dazu auch die Aussage bei C. Möllers (Fn. 24, S. 104) zur Vorgehensweise der „Disziplin“ mit Blick auf das allgemeine Verwaltungsrecht: „Sie konstruiert eine begriffliche Struktur, die den Rechtsstoff aufbereitet, die sich jedoch nicht einfach aus diesem ergibt. Sie tut dies zur Beschreibung und zur Erklärung des Verwaltungsrechts, nicht zu seiner Verbesserung oder Reformierung“; siehe auch J. Ziekow (Fn. 2, S. 255) zur „enorme(n) Integrationsund Systematisierungsfunktion“ der Institute des allgemeinen Verfahrensrechts: „Sie besteht 49

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Möglichkeit, sich über die Kenntnis des allgemeinen Verwaltungsrechts auch die Inhalte der verschiedenen Teile des besonderen zu erschließen, so würde damit eine wesentliche Erkenntnisquelle entfallen.56 Die Strukturierungsleistung57 bzw. die „Ordnungsidee“58 und der mit ihr einhergehende Gewinn an Verständlichkeit59 und Berechenbarkeit müssten in der einen oder anderen Weise ersetzt werden. Insofern kann man sagen, dass in einer „stürmisch sich entwickelnden Zeit gesetzgeberischer Aktivitäten (…) die Aufgabe des allgemeinen Verwaltungsrechts noch wichtiger als sonst“ ist.60 Ein Verzicht auf die beschriebenen Wirkungen würde dabei auch die umfassende Einsetzbarkeit von juristisch ausgebildetem Fachpersonal in Justiz und Verwaltung erheblich in Zweifel ziehen.61 Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das allgemeine Verwaltungsrecht auch die Anknüpfungspunkte für das Prozessrecht liefert.62 Die vom allgemeinen Verwaltungsrecht identifizierten und „rechtsdogmatisch reflektierte(n) Verwaltungsinstrumente“ sind „für den effektiven Rechtsschutz unmittelbar anschlussfähig“.63 Fällt die Möglichkeit einer Einordnung in die bekannten Handlungsformen der Verwaltung weg, so würde dies zwangsläufig auch Auswirkungen auf die davon geprägten Klagearten und den vorläufigen Rechtsschutz haben (wenn auch nicht auf die Möglichkeit des Rechtsschutzes als solche). Insofern bietet ausgerechnet die lange kritisierte Justizlastigkeit64 der juristischen Ausbildung eine gewisse Gewähr dafür, dass in den zunächst einmal – durchaus vordergründig – darin, daß auf die ,Faulheit‘ der Fachressorts gesetzt wird: Das Rad braucht nicht bei jeder Fachgesetzgebung neu erfunden, sondern allenfalls modifiziert zu werden“. 56 Zur „Entlastungsfunktion“ für Verwaltungspraxis und Rechtsprechung W. Kahl (Fn. 2), Rn. 26 57 Vgl. auch die Formulierung bei J. Kersten/S.-C. Lenski, Die Verwaltung 42 (2009), 501 (528): „Aufgabe des Allgemeinen Verwaltungsrechts ist es, die Entwicklung von Verwaltungsinstrumenten systematisch zu analysieren, dogmatisch zu reflektieren und konzeptionell zu begleiten“. 58 E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee – Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, 2. Aufl. 2004. 59 Vgl. dazu die Aussage bei W. Kahl (Fn. 2), Rn. 31: „In der Rezeption, Auslegung und Anwendung von Rechtvorschriften wird die Rechtsanwenderin bzw. der Rechtsanwender durch das allgemeine Verwaltungsrecht geleitet“. 60 M. Schmidt-Preuß (Fn. 1), S. 801. 61 Vgl. dazu die Aussage bei W. Kahl (Fn. 2), Rn. 31: „Die Systematik des allgemeinen Verwaltungsrechts festigt Konventionen, die (…) eine gewisse Homogenität des Selbstverständnisses des Verwaltungspersonals fördern“. 62 Vgl. J. Ziekow (Fn. 25), § 14 Rn. 4; vgl. auch C. Möllers (Fn. 24), S. 109, der in der „Kodifizierung des Verwaltungsprozessrechts“ den „praktisch wohl (…) wichtigste(n) Beitrag des Gesetzgebers zum Allgemeinen Verwaltungsrecht“ sieht. 63 J. Kersten/S.-C. Lenski, Die Verwaltung 42 (2009), 501 (528). 64 Zur aktuellen Kritik an der Juristenausbildung vgl. etwa S. Breidenbach, NJW 2020, 2862 (2862 f.).

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so geprägten Kategorien gedacht und Normen mit Blick auf diese prozessualen Implikationen entworfen werden. 4. Die Komplexitätstreiber Die immer größere Komplexität des besonderen, aber auch des allgemeinen Verwaltungsrechts65 ist nicht allein auf politische Entscheidungen zurückzuführen. Eine Reihe von Aspekten des Rechts selbst führt zwangsläufig zu Ansprüchen an die Gesetzgebung, die sich in der Praxis als Ursache von neuen – und in vielen Fällen fast zwangsläufig auch komplexeren – Regeln erweist. Die Gemeinsamkeit aller hier zu nennenden Ansätze liegt darin, dass es sich im Grundsatz um essentielle rechtsstaatliche Maßstäbe handelt, deren Anwendung im konkreten Einzelfall allerdings für einen erheblichen Komplexitätsschub sorgt. Erster Ansatzpunkt in dieser Hinsicht ist das Bestimmtheitsgebot mit seinen verschiedenen Ausprägungen.66 Vergleichbar wirkt im Bereich des Datenschutzrechts der Gesetzesvorbehalt in seiner konkreten Interpretation verbunden mit dem Grundsatz der Zweckbindung.67 In der Tat ist die Berechenbarkeit der möglichen Eingriffe durch die Exekutive ein elementares Gebot rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts. In Kombination mit einer sehr stark ausgeweiteten Schutzbereichsdogmatik – insbesondere im Bereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung –68 führt diese allerdings dazu, dass vielen Gesetzen zu kleinteilig ausfallen. Die Ermächtigungsgrundlagen für die Datenerhebung und -verarbeitung, etwa in den Polizeiund Ordnungsgesetzen69 – können als ein Beleg taugen. Es erweist sich dabei, dass die Spezialität der Ermächtigung nicht immer zur Verständlichkeit und damit erst recht nicht zur Berechenbarkeit des staatlichen Handelns führen muss. Im Polizei- und Ordnungsrecht hat der Fokus auf die möglichst spezielle Einzelermächtigung nicht zuletzt eine Vielzahl von sehr komplexen Ermächtigungsgrundlagen70 mit sich gebracht, die auch eine Abkehr von der klassischen Dogmatik zum Gefah65 Zu dem Mechanismus vgl. etwa J. Kersten/S.-C. Lenski, Die Verwaltung 42 (2009), 501 (517): „Das Allgemeine Verwaltungsrecht reagiert auf die Erschließung neuer Referenzgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts mit der weiteren Ausdifferenzierung der tradierten Handlungsformen, die damit langsam aus dem langen dogmatischen Schaffen des Verwaltungsakts heraustreten“. 66 Siehe dazu etwa BVerfGE 141, 220 (265 ff., Rn. 94 ff.). 67 Zum „überspannten Gesetzesvorbehalt“ siehe H. P. Bull (Fn. 3), S. 55 ff. 68 Vgl. BVerfGE 150, 244 (263 ff., Rn. 35 ff.); 150, 309 (330, Rn. 54). 69 Vgl. etwa M. Möstl (ZRP 2020, 26 [27]), der mit Blick auf die Klage über das immer kompliziertere Polizeirecht fragt, ob das nicht auch daran liege, „dass wir die verfassungsrechtlichen Anforderungen an polizeirechtliche Eingriffstatbestände immer höher geschraubt haben“. 70 H. Aden/J. Fährmann (ZRP 2019, 175 [176]) sprechen von einem „für Bürger und Polizeibeamte nur noch schwer durchschaubaren ,Patchwork‘ mit teils äußerst komplexen Vorschriften“.

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renbegriff71 wie zur polizeilichen Verantwortlichkeit mit sich bringen. Maßnahmen werden in diesem Zusammenhang nicht mehr typischerweise gegen „Störer“ getroffen, sondern gegen Personen, die auf ganz unterschiedliche Weise umschrieben werden, ohne dass hinter den Umschreibungen die traditionelle Kategorienbildung noch wahrnehmbar wäre. Ähnliche Wirkungen lassen sich anderen rechtsstaatlichen Errungenschaften attestieren: Zu nennen ist etwa die Rechtsschutzgarantie in ihren konkreten Ausprägungen. Die weitgehenden Klagemöglichkeiten in der deutschen Rechtsordnung führen dazu, dass Verwaltungen zwangsläufig Aufmerksamkeit auf die von Gerichten formulierten Anforderungen legen. Da diese anlässlich der Entscheidung in Einzelfällen entwickelt werden, besteht in vielen Bereichen eine sehr detaillierte, von einer erstaunlichen Vielzahl von Leitsätzen geprägte Dogmatik, die mitunter den Blick auf die Aufgabe zur eigenen Auslegung der gesetzlichen Vorgaben regelrecht verstellen kann. Aber auch an den Stellen, an denen die Rechtsprechung ausdrücklich Spielräume der Verwaltung anerkennt, namentlich wenn dieser Ermessen- oder Beurteilungsspielräume eingeräumt sind,72 führt die Art der Überprüfung der entsprechenden Erwägungen dazu, dass die Verwaltungen ihre Argumentation – unabhängig von der Zwangsläufigkeit des Ergebnisses – sehr detailliert auf alle möglichen denkbaren Aspekte ausweiten müssen. Die Unsicherheit, welche Erwägungen von den Gerichten als relevant und wessen Fehlen daher als fehlerhaft angesehen werden kann, führen zu komplizierten Argumentationen, die stets in der Gefahr sind, den Fokus auf die konkreten Ergebnisse der Überlegungen zu verlieren. Hinzu kommt, dass sich die Antwort auf die Frage, welche Maßnahmen letztlich als verhältnismäßig im engeren Sinne anzusehen sind, kaum an konkreten Maßstäben festmachen lässt, so dass hier stets eine Quelle von Unsicherheiten hinsichtlich der rechtlichen Maßstäbe verbleibt. Dies gilt im Übrigen auch für den Gesetzgeber selbst. Ausdruck dessen ist etwa die Tatsache, dass Gesetzgeber dazu übergegangen sind, Formulierungen aus Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – aber auch anderer Bundesländer oder aus Vorgaben der EU – wörtlich zu übernehmen,73 um so rechtssicher Ermächtigungsgrundlagen zu schaffen, die man für fachlich zwingend hält.

IV. Krisen und Krisenmodus Die Auseinandersetzung mit Herausforderungen wäre nicht komplett, wenn man nicht auf die Krisen und den damit einhergehenden Krisenmodus in der Staatstätigkeit einginge. Die Chronik der 2000er liest sich wie eine nicht enden wollende Ab71

H. Aden/J. Fährmann, ZRP 2019, 175 (176). Vgl. etwa J. Ziekow (Fn. 25), § 14 Rn. 65 ff. 73 H. Aden/J. Fährmann (ZRP 2019, 175 [177]) sprechen von einem „Trend zu einer ,Copy-Paste-Gesetzgebung‘“. 72

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folge stets neuer dramatischer Herausforderungen, die sich auch im Recht deutlich abbilden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann man eine Reihe benennen, die von der Gefahr des Terrorismus und der „Gefährder“74, die Staatsschulden- bzw. Bankenkrise, die sogenannte „Flüchtlingskrise“, den Klimawandel, die COVID-19-Pandemie hin zum Krieg in der Ukraine mit seinen unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen für die Bundesrepublik reicht. In allen diesen Fällen ergaben sich Änderungen an rechtlichen Vorgaben. Der Gesetzgeber fühlte sich – ob zu Recht oder zu Unrecht, ist in diesem Kontext irrelevant – gefordert, gesetzliche Vorgaben anzupassen. Für die Rechtsprechung ergeben sich dadurch ebenfalls vielfältige Herausforderungen. Insbesondere stellt sich die Frage, ob sich durch den Krisenbezug auch andere rechtliche Maßstäbe ergeben, man also letztlich die Besonderheit der Situation auch als einen Anlass für besondere dogmatische Konstruktionen ansieht. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz75 lässt sich in diesem Sinne als „Neuland“ beschreiben.76 Hinsichtlich der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur „Bundesnotbremse“,77 die in Reaktion auf hohe COVID-19-Inzidenzen verabschiedet wurde, ist jedenfalls das Ausmaß der akzeptierten Grundrechtseingriffe außergewöhnlich und die Weite der angenommenen Spielräume im Rahmen der Überprüfung der Angemessenheit bemerkenswert gewesen.78

V. Die Fragen Vor dem Hintergrund der genannten Herausforderungen stellen sich verschiedene Fragen. Eine davon ist, ob das allgemeine Verwaltungsrecht in Anbetracht der Herausforderungen seine integrative Kraft behalten kann. Sind die unterschiedlichen Neuerungen und das massiv ausgeweitete besondere Verwaltungsrecht möglicherweise zu viel, um einem „vor die Klammer gezogene“ Rechtsgebiet weiter die Möglichkeit zu geben, verallgemeinert Regeln aufzustellen? Sind also mit anderen Worten die Kategorien nach wie vor geeignet, auch in einem so umfangreichen Geflecht von sehr detaillierten Regeln Gemeinsamkeiten zu identifizieren? Sollte das allgemeine Verwaltungsrecht in seiner bisherigen Funktion erhalten bleiben, so stellt sich die Folgefrage, ob dies mit dem Preis zusätzlicher Komplexität verbunden 74

Vgl. dazu aus öffentlich-rechtlicher Sicht H. Hoyer, Der Begriff des „Gefährders“ – Dogmatische Einordnung, rechtliche Problemstellung sowie Analyse gesetzlicher Umschreibungen, Frankfurt 2021. 75 BVerfGE 157, 30. 76 Für T. Groß (ZPR 2022, 6), ist „(d)er eigentlich neue Aspekt der Entscheidung“ nicht die Schutzpflichtdogmatik oder jene zu Art. 20a GG, sondern die „Anerkennung der intertemporalen Wirkung von Freiheitsrechten“. 77 BVerfGE 159, 223; 159, 355. 78 Siehe dazu etwa V. Boehme-Neßler, NVwZ-Beilage 2022, 34 f.; K.-A. Schwarz, NVwZBeilage 2022, 3 f.

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ist. Dass die immer weiter voranschreitende Ausdifferenzierung der Regeln79 gestoppt werden kann, ist nicht zu erwarten. Dies ist in einem gewissen Umfang unvermeidlich, da sich immer wieder neue Fragen der Rechtsanwendung stellen, neue Fallgestaltungen weitere Antworten und damit auch zusätzliche Ausdifferenzierungen der Dogmatik verlangen. Nicht alles davon ist als Kern der Dogmatik des allgemeinen Verwaltungsrechts anzusehen. Immer wieder ergeben sich aber auch neue Antworten, die sich in Regeln niederschlagen, deren unzweifelhafte übergeordnete Relevanz dazu führt, dass sie als bekannt vorausgesetzt werden müssen. In einer längerfristigen Perspektive stellt sich die Frage, ob die etablierten Mechanismen für die Ergebnisse immer dieselben Auswirkungen behalten werden. Allgemeine Regeln, die in einem sich ständig veränderten und immer stärker ausdifferenzierten Umfeld angewendet werden, könnten durchaus auch neue Ergebnisse im Einzelfall mit sich bringen. Beispielhaft dafür können die konkreten Ausprägungen stehen, die die extensive Anwendung des Grundsatzes der speziellen Ermächtigung mit sich gebracht hat: Statt mehr Rechtssicherheit ergibt sich hier vor allem eine immer größere Unübersichtlichkeit. Letztlich führt dies auf die Frage zu: Wird das Verwaltungsrecht und insbesondere dessen allgemeiner Teil schlicht immer mehr oder wird es auch anders? Die folgenden Beiträge mögen dazu beitragen, diese Frage zu beantworten.

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Vgl. dazu auch W. Kahl (Fn. 2), Rn. 42.

Herausforderungen für das Verwaltungsverfahren Von Thorsten Siegel

I. Einführung Das Verwaltungsverfahren steht ständig vor neuen Herausforderungen. Dies gilt auch für das primär in der Verwaltungswissenschaft formulierte Postulat der Agilität. Vor diesem Hintergrund werden nach einer einleitenden begrifflichen Klärung kurz die Spielräume der Verwaltung bei der Gestaltung des Verfahrens erläutert. Nach einer Skizzierung der Steuerungsziele des Verwaltungsverfahrens werden sodann neue Verfahrensformen vorgestellt und auf ihre Übertragbarkeit auf das Verwaltungsverfahren untersucht. Schließlich werden das Verhältnis der Agilität zur Digitalisierung, die Auswirkungen auf die Handlungsformenlehre sowie das Erfordernis der Agilitätsbereitschaft thematisiert.

II. Begriffliche Klärungen 1. Agilität und Flexibilität Der Begriff der Agilität ist in der Rechtswissenschaft kaum verbreitet, oftmals sogar unbekannt. So taucht der Begriff in den „Grundlagen des Verwaltungsrechts“, welche gerade in der 3. Auflage erschienen sind und stattliche 4.000 Druckseiten aufweisen, lediglich an vier Stellen auf. Dabei wird der Begriff dreimal eher beiläufig im Zusammenhang mit der Digitalisierung1 erwähnt und lediglich an einer Stelle unter dem Oberbegriff der „Agilen Verwaltung“2, aber selbst dort lediglich im Fließtext. Anders verhält es sich mit Veröffentlichungen aus primär verwaltungswissenschaftlicher Sicht.3 Aber auch in der Politik bildet die Agilitätssteigerung in der öffentli1 Gabriele Britz/Martin Eifert, Digitale Verwaltung, in: Voßkuhle/Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 3. Aufl. 2022, Bd. I, § 26 Rn. 49 und Rn. 158; Mario Martini, Normsetzung und andere Forme exekutivischer Selbstprogrammierung, in: Voßkuhle/Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 3. Aufl. 2022, Bd. II, § 33 Rn. 138. 2 Wolfgang Hoffmann-Riem/Arne Pilniok, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: Voßkuhle/ Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 3. Aufl. 2022, Bd. I, § 12 Rn. 42. 3 Etwa bei Hermann Hill, Agiles Verwaltungshandeln im Rechtsstaat, DÖV 2018, S. 497 ff.

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chen Verwaltung immer häufiger ein Leitziel, etwa im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung aus dem Jahr 2021.4 Nähert man sich dem Begriff nach allgemeinem Verständnis an, so bedeutet agil „von großer Bewegung zeugend“ sowie „regsam und wendig“.5 Der Begriff der Agilität steht damit in engem Zusammenhang mit dem weitaus verbreiteteren Begriff der Flexibilität. Er setzt einerseits Flexibilität voraus. Andererseits geht er über diese hinaus und beschränkt sich nicht auf reaktives Handeln, sondern erfasst die proaktive Gestaltung. Aufgrund dieser positiven Konnotation könnte Agilität auch als kreative Flexibilität umschrieben werden. Daran anknüpfend, werden agile Methoden gekennzeichnet durch „kurze Entwicklungsschritte und Feedbackschleifen, funktionierende Zwischenversionen, eine iterative und kooperative Weiterentwicklung, flexible Rollen und Zusammenarbeit in Teams sowie direkte und wiederholte Kommunikation mit dem Nutzer“.6 2. Verwaltungsverfahren Darüber hinaus bedarf es einer Vergewisserung über den Begriff des Verwaltungsverfahrens. Dem Beitrag wird ein weiter Begriff des Verwaltungsverfahrens zugrunde gelegt. Erfasst werden damit nicht nur Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG, die auf den Erlass eines Verwaltungsakts oder eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet sind. Miteinbezogen werden auch Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne des § 1 VwVfG, die sich auf weitere Handlungsformen des öffentlichen Rechts erstrecken. Zu diesen gehören etwa Realakte, aber auch neue Handlungsformen. Schließlich können auch privatrechtlich verfasste Verwaltungsverfahren und damit Verwaltungsverfahren im weitesten Sinne nicht unberücksichtigt bleiben. Zu diesen gehören etwa grundsätzlich Vergabeverfahren.7

4 Abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koaliti onsvertrag-2021-1990800 (aufgerufen am 21. 4. 2023), dort S. 7: „Die Verwaltung soll agiler und digitaler werden.“ 5 https://www.duden.de/rechtschreibung/agil (aufgerufen am 21. 4. 2023). 6 Hermann Hill, Wirksam verwalten – Agilität als Paradigma der Veränderung, VerwArch 106 (2015), S. 397 (402). 7 Zu den unterschiedlichen Verfahrensbegriffen Thorsten Siegel, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2022, Rn. 171 f.

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III. Gestaltungsspielräume der Verwaltung 1. Verfassungsrechtliche Anerkennung einer Eigenständigkeit der Verwaltung a) Steuerung der Verwaltung durch Gesetze Das Grundgesetz billigt der Verwaltung eine gewisse Eigenständigkeit zu, die sich auch auf das Verwaltungsverfahren erstreckt.8 Zwar wird die Verwaltung insbesondere durch Gesetze gesteuert9, welche daher auch als „Ecksteine des demokratischen Rechtsstaats“ eingeordnet werden.10 Soweit der Vorbehalt des Gesetzes reicht, bedarf es zudem aus verfassungsrechtlichen Gründen einer Steuerung der Verwaltung durch den Gesetzgeber, die sich auch auf die Regelungsdichte erstreckt.11 Allerdings beschränken sich Parlamentsgesetze nicht selten auf eine Grobsteuerung, während die Feinsteuerung oftmals dem Rechtsanwender und damit insbesondere der Verwaltung vorbehalten bleibt.12 b) Anerkennung eines „Verwaltungsvorbehalts“ Darüber hinaus ist inzwischen überwiegend ein Verwaltungsvorbehalt anerkannt, der auch einer Steuerung durch den Gesetzgeber Grenzen setzt.13 Teilweise ist ein solcher Verwaltungsvorbehalt zwar auch auf Ablehnung gestoßen.14 Allerdings folgt aus dem Gewaltenteilungsprinzip, dass es für jede staatliche Funktion einen „Hauptträger geben muss, für den diese das eigentliche Lebenselement ist“.15 Zugleich sollen staatliche Entscheidungen von dem am Besten dafür geeigneten Organ getroffen werden.16 Und für die Verwaltung ist dies im verfassungsrechtlichen 8

Hierzu umfassend Hoffmann-Riem/Pilniok (Fn. 2), § 12. Horst Dreier, Hierarchische Verwaltung, 1991, S. 160 ff. 10 Fritz Ossenbühl, Gesetz und Recht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl. 2007, § 100 Rn. 19. 11 Zu diesem ausf. Annette Guckelberger, Gesetzesvorbehalte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 2022, § 83. 12 Horst Dreier, Zur „Eigenständigkeit“ der Verwaltung, Die Verwaltung 25 (1992), 137 (149 f.). Zur damit verbundenen Begrenzung des Steuerungspotentials Markus Pöcker, Das Parlamentsgesetz im sachlich-inhaltlichen Steuerungs- und Legitimationsverbund, Der Staat 41 (2002), 616 (619 ff.). 13 Hierzu insbesondere die Vorträge von Hartmut Maurer und Friedrich E. Schnapp auf der Jahrestagung der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 1984 in Göttingen, VVDStRL 43 (1985), S. 135 ff. und 172 ff. Ebenso etwa Fritz Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl. 2007, § 101 Rn. 68 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, Kap. 4 Tz. 36 f. 14 Etwa bei Christoph Degenhart, Der Verwaltungsvorbehalt, NJW 1984, S. 2184 (2187). 15 So die treffende Umschreibung bei Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. Band II, 1980, S. 542. 16 Gerhard Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2022, Art. 20 Rn. 3222. 9

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Gefüge der Gewaltenteilung nun einmal der Vollzug der Gesetze im Einzelfall.17 Allerdings bereitet die Auslotung eines normativen Verwaltungsvorbehalts18 Schwierigkeiten. So besteht er nicht aus einzelnen Sachaufgabenfeldern, sondern „in Handlungsweisen, Ressourcen, Verfahren und Organisationszusammenhängen, die für die Funktionsfähigkeit der Zweiten Gewalt unverzichtbar sind“.19 Die damit anzuerkennende Verwaltungsautonomie bildet letztlich das verfassungsrechtliche Fundament für ein flexibles und auch agiles Verwaltungshandeln. 2. Einfach-gesetzliche Gestaltungsspielräume Aber auch nach einfachem Recht verfügt die öffentliche Verwaltung über hinreichende Gestaltungsspielräume für das Verfahren. Zum Ausdruck kommt dies insbesondere im Verwaltungsverfahrensgesetz, das auch als „Grundgesetz der öffentlichen Verwaltung“ bezeichnet wird.20 Diese Gestaltungsspielräume erstrecken sich zwar nicht auf die Wahl von Verfahrensgrundtypen, deren Zuordnung nach dem Vorbehalt des Gesetzes dem Gesetzgeber obliegt. Innerhalb der einzelnen Verfahrensarten bestehen aber weitreichende Gestaltungsspielräume, die nach den einzelnen Verfahrensarten variieren. Besonders stark ausgeprägt sind diese Spielräume im einfachen Verwaltungsverfahren nach §§ 9 ff., VwVfG, das wegen der Verfahrensgrundsätze des § 10 S. 2 VwVfG oftmals auch als nicht-förmliches Verfahren bezeichnet wird. Zwar wird auch dieser Gestaltungsspielraum nicht unwesentlich eingeschränkt durch einzelne Verfahrensgebote, zu denen etwa das Anhörungsgebot nach § 28 VwVfG gehört. Diese Einschränkungen verfügen zudem über ein entsprechendes Gewicht, da sie oftmals ein verfassungsrechtliches Fundament aufweisen.21 Jenseits dieser Verfahrensgebote ist jedoch eine flexible und auch agile Gestaltung des Verwaltungsverfahrens zulässig. Zum Ausdruck kommt dies insbesondere in § 10 S. 2 VwVfG, der als Leitlinie für das einfache Verwaltungsverfahren die Einfachheit, Zügigkeit und Zweckmäßigkeit vorgibt.

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Ossenbühl (Fn. 13), § 101 Rn. 71. Zum normativen Verwaltungsvorbehalt in Abgrenzung zum faktischen Verwaltungsvorbehalt Hartmut Maurer (Fn. 13), VVDStRL 43 (1985), 135 (140). 19 Schmidt-Aßmann (Fn. 13), 4. Kap. Tz. 44. 20 Heribert Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 1 Rn. 1. 21 So etwa für die Anhörung Friedhelm Hufen/Thorsten Siegel, Fehler im Verwaltungsverfahren, 7. Aufl. 2021, Rn. 283. 18

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IV. Steuerung der Gestaltungsspielräume 1. Steuerungsziele für das Verwaltungsverfahren a) „Klassische“ Steuerungsziele Diese verfassungsrechtlichen und einfach-gesetzlichen Gestaltungsspielräume werden maßgeblich durch die Steuerungsziele des Verwaltungsverfahrens geprägt. Hier haben sich über einen längeren Zeitraum „klassische“ Steuerungsziele herausgebildet, die zwar im Ausgangspunkt verwaltungswissenschaftlicher Natur sind, aber häufig durch den Gesetzgeber konkretisiert werden und überwiegend auch eine verfassungsrechtliche Verankerung aufweisen.22 Zu diesen zählen die Informationsgewinnung und -verarbeitung, die Richtigkeit auch jenseits der Rechtmäßigkeit, die Effektivität, die Effizienz sowie die Transparenz des Verwaltungsverfahrens.23 Bereits lange etabliert ist auch das Steuerungsziel der Akzeptanz.24 b) „Moderne“ Steuerungsziele Hinzu kommen „moderne“ Steuerungsziele. Zu ihnen zählt zunächst die Bürgernähe, die jedoch in gewissem Umfange bereits in der Akzeptanz enthalten ist.25 Der Grundsatz der Bürgernähe ist ursprünglich ebenfalls lediglich als verwaltungswissenschaftliches Ziel anerkannt worden.26 Allerdings ist der Grundsatz der Bürgernähe inzwischen in immer mehr Landesverfassungen anzutreffen.27 Zudem häufen sich diejenigen Stimmen, welche die Bürgernähe im Kern als Bestandteil des Demokratieprinzips einordnen.28 Weiterhin kann auch die Digitalisierung als Steuerungsziel definiert werden.29 Im Grundgesetz sind sogar verschiedene Begründungselemente für einen entsprechenden Verfassungsauftrag anzutreffen, welche im Ergebnis die 22 Zur Unterscheidung zwischen verwaltungswissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Zielen Hermann Hill, Das fehlerhafte Verfahren, 1986, S. 199 ff. und S. 208 ff. 23 Übersicht bei Thorsten Siegel, Verwaltung, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 2022, § 46 Rn. 26 ff. 24 Jens Kersten, Konzeption und Methoden der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 2021, § 25 Rn. 16. 25 Hill (Fn. 22), S. 208; Rainer Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), S. 151 (147). 26 Hill (Fn. 22), S. 208. Ähnlich Hoffmann-Riem/Pilniok (Fn. 2), § 12 Rn. 72, mit einer Einordnung als „weiche“ Vorgabe. 27 Vgl. Art. 66 Abs. 1 VvB, Art. 56 S. 2 HmbVerf; Art. 52 Abs. 2 S. 2 Verf SH. 28 So etwa Utz Schliesky, in: Becker/Brüning/Ewer/Schliesky (Hrsg.), Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2021, Art. 52 Rn. 40. 29 Hierzu umfassend Annette Guckelberger, Öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung, 2019; des Weiteren Mario Martini, Digitalisierung der Verwaltung, in: Kahl/ Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 2021, § 28. Zu den verschiedenen Dimensionen siehe die einzelnen Beiträge in Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung, 2. Aufl. 2019 (3. Aufl. erscheint 2023).

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Annahme eines verfassungsrechtlichen Optimierungsgebots rechtfertigen.30 Dies hat zur Folge, dass die Vorzüge des elektronischen Verwaltungshandelns unter Abwägung der damit verbundenen Risiken so weit wie möglich zu nutzen sind. c) Grundrechtsschutzfunktionen im Verwaltungsverfahren Schließlich haben auch die Grundrechte erhebliche Auswirkungen auf das Verwaltungsverfahren. Dabei bezieht sich der Grundrechtsschutz im Verfahren auf die konventionelle Frage der Verhinderung verfahrensverursachter Grundrechtseingriffe. Darüber hinaus geht der Grundrechtsschutz durch Verfahren, der maßgeblich von der Mühlheim-Kärlich-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geprägt wurde.31 Er wirkt gestaltend auf das Verfahrensverfahren ein und hat insbesondere Anhörungs- und Akteneinsichtsrechte, Belehrungspflichten und Begründungserfordernisse zum Gegenstand. Der vergleichsweise wenig erkundete Grundrechtsschutz vor Verfahren besagt, dass aus Gründen der Verhältnismäßigkeit Verfahrensschritte auf das notwendige Maß zu beschränken sind. Er kommt im Rahmen von Eröffnungskontrollen zum Tragen, die als Grundrechtseingriffe dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen müssen.32 2. Steuerungsziele und Agilität a) Agilitätsbegünstigende und agilitätshemmende Steuerungsziele Diese Steuerungsziele stehen in einem unterschiedlichen Verhältnis zur Agilität und Flexibilität des Verwaltungsverfahrens. So wirken einige Ziele agilitätsbegünstigend. Dies gilt insbesondere für die Effektivität und Akzeptanz/Bürgernähe. Denn eine proaktive Gestaltung kann letztlich eine besonders wirksame Entscheidung produzieren und ist zugleich der Akzeptanz und Bürgernähe zuträglich. Andere Steuerungsziele stehen hingegen in einem Spannungsverhältnis zur Agilität. Dies gilt zunächst für die Effizienz. Denn proaktive Maßnahmen sind typischerweise mit erhöhtem Zeitaufwand verbunden und daher der – sowohl verfassungsrechtlich als auch einfach-gesetzlich vorgegebenen – Verfahrensbeschleunigung abträglich. Der Grundrechtsschutz erweist sich insoweit als „janusköpfig“. Einerseits kann es der Grundrechtsschutz durch Verfahren gebieten, auch für neue Verfahren offen zu sein. Andererseits wird nicht selten verkannt, dass die Grundrechte in gewisser Weise auch vor Verfahren schützen. Dieser Grundrechtsschutz vor Verfahren hat nach dem zuvor Gesagten insbesondere zur Folge, dass keine unnötigen Verfahrens30

Thorsten Siegel, Elektronisches Verwaltungshandeln, Jura 2020, S. 920 (921 f.). BVerfGE 53, 30 (65). Hierzu ausf. Martin Heidebach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung, 2014. 32 Hierzu Thorsten Siegel, Entscheidungsfindung im Verwaltungsverbund, 2009, S. 74 ff. Ausf. Jürgen Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1984. 31

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schritte produziert werden.33 Und gerade proaktive und neue Verfahrensformen können einen solchen Zusatzaufwand hervorrufen. b) Anerkennung eines Gestaltungsermessens Bei der Abwägung dieser Steuerungsziele ist jedoch eine Einschätzungsprärogative der federführenden Behörde anzuerkennen. Jenseits spezifizierter Gebote besteht daher ein Verfahrensermessen, das lediglich auf Ermessensfehler hin zu kontrollieren ist. Auch die agilitätsbegrenzenden Steuerungsziele weisen daher lediglich eine relative Wirkung auf. Aus Perspektive der Rechtsprechung lässt sie eine solche begrenzte Kontrolldichte auch mit den „Funktionsgrenzen der Rechtsprechung“ begründen, mit denen in jüngerer Zeit Entscheidungsspielräume der Verwaltung zunehmend begründet werden und die zugleich die klassische normative Ermächtigungslehre anreichern.34

V. Neue Verfahrensformen Nach dem zuvor Gesagten darf die Verwaltung das Verwaltungsverfahren grundsätzlich flexibel und zugleich agil gestalten. Daher wird nun der Frage nachgegangen, welche neuen Verfahrensformen, in denen die Agilität in besonderem Maße zum Ausdruck kommt, hierfür in Betracht kommen. Diese entstammen oftmals der Betriebswirtschaft oder den Naturwissenschaften. 1. Design Thinking a) Wesen Das sog. Design Thinking stammt aus der Betriebswirtschaft und umschreibt dort eine Verfahren zur Lösung komplexer Problemstellungen.35 Die Bezeichnung verdankt es der Orientierung an der Arbeit von Designern und Architekten. Das Design Thinking wird durch drei grundlegende Merkmale geprägt: Team, Prozess und Raum. Das Team muss sich aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammensetzen und sog. T-Shape-Persönlichkeiten enthalten, die sich durch außergewöhnliches Fachwissen auszeichnen.36 Der Prozess besteht idealtypischerweise aus sechs Schritten. Diese reichen vom (1.) Verständnis des Kontextes und der (2.) Beobachtung von 33

Siegel, Entscheidungsfindung (Fn. 32), S. 74 ff. Übersicht über diesen Begründungswandel bei Siegel, in: Stern/Sodan/Möstl (Fn. 23), § 46 Rn. 62. 35 https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/design-thinking-54120 (aufgerufen am 21. 4. 2023). 36 https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/design-thinking-54120 (aufgerufen am 21. 4. 2023). 34

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Menschen über die (3.) Definition der Sichtweisen und die (4.) Entwicklung von Ideen bis hin zur (5.) Entwicklung und (6.) Testung von Prototypen.37 Schließlich muss ein geeigneter Raum vorhanden sein, der viel Platz in sich birgt und in dem vielfältigen Hilfsmittel wie Stehtische, Whiteboards, Post-it-Zettel und eine große Auswahl an Materialien zur Verfügung stehen.38 b) Einsetzbarkeit im Verwaltungsverfahren? Diese kurzen Ausführungen verdeutlichen, dass das Design thinking in klassischen Verwaltungsverfahren nur begrenzt zum Einsatz kommen kann. Bereits dem Wesen nach möchte sich das Design thinking auf besonders komplexe Problemfelder beschränken. Dies wird durch die Steuerungsziele des Verwaltungsverfahrens bekräftigt. Denn die dargelegten hohen Anforderungen an Team, Prozess und auch Raum erfordern einen (sehr) hohen Aufwand und stehen damit in einem Spannungsverhältnis zu den Steuerungszielen der Effizienz sowie des Grundrechtsschutzes vor Verfahren. Daher verbleiben lediglich Verfahren mit einem hohen prognostischen Charakter als mögliches Anwendungsfeld. Im Management hat sich insoweit die Bezeichnung als VUCA-World herausgebildet. VUCA steht für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity, also Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit.39 Übertragen auf Verwaltungsverfahren, käme hier etwa ein Einsatz in komplexen Planungsverfahren in Betracht. Dabei gilt es aber, die einschlägigen rechtlichen Verfahrensbestimmungen nicht zu unterlaufen. Insbesondere dürfen Verfahrensrechte nicht durch informelle Verfahren relativiert werden.40 2. Nutzerzentrierung a) Wesen Einfacher gestaltet sich eine Integration der Nutzerzentrierung in das Verwaltungsverfahren. Denn sie bildet zwar auch ein Element des Design Thinking, kann aber von diesem entkoppelt werden. Sie ist insbesondere in den Naturwissenschaften entwickelt worden und hat zum Ziel, Prozesse entlang den Bedürfnissen von Nutzern zu gestalten.41 Die Nutzerzentrierung bildet damit das Gegenstück zur „Abfindung“ des Nutzers mit der endgültigen Lösung. Diese Ausrichtung auf den Nutzer trägt zu-

37 https://hpi.de/school-of-design-thinking/design-thinking/hintergrund/design-thinking-pro zess.html (aufgerufen am 21. 4. 2023). 38 https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/design-thinking-54120 (aufgerufen am 21. 4. 2023). 39 Zu dieser VUCA-World etwa Hill (Fn. 3), DÖV 2018, S. 497 ff. 40 Am Beispiel der Mediation Hufen/Siegel (Fn. 21), Rn. 163 ff. 41 https://www.ipa.fraunhofer.de/de/Kompetenzen/laborautomatisierung-und-bioproduktions technik/digital_lab_services/nutzerzentrierung.html (aufgerufen am 21. 4. 2023).

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gleich den Steuerungszielen der Akzeptanz und der Bürgernähe Rechnung, indem auch das Verfahren nutzerzentriert ausgestaltet wird. b) Relevanz im Verwaltungsverfahren Allerdings ist es gerade die Aufgabe von Verfahrensrechten, auch die Rechte und Interessen von Verfahrensbeteiligten und damit Nutzern von Verwaltungsleistungen hinreichend zu berücksichtigen. Und diese Rechte sind regelmäßig einer nutzerzentrierten Auslegung zugänglich. Dies gilt insbesondere für das Anhörungsrecht nach § 28 VwVfG. Es ist nach dem Wortlaut begrenzt auf belastende Verwaltungsakte. Bereits aus rechtlichen Gründen werden aber auch grundrechtlich fundierte Begünstigungen erfasst.42 Sofern man das Anhörungsrecht nicht bereits ebenfalls aus rechtlichen Gründen auch auf andere begünstigende Verwaltungsakte ausweitet43, kann der Gedanke der Nutzerzentrierung herangezogen werden und eine entsprechende Auslegung indizieren. Allerdings stößt auch der Gedanke der Nutzerzentrierung auf rechtliche Grenzen. Dies gilt insbesondere in bi- oder multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnissen, in denen der Vorteil für einen Nutzer typischerweise mit einem Nachteil für andere Nutzer korrespondiert.44 3. Experimente a) Ausdrückliche Zulassung durch Experimentierklauseln Die grundsätzliche normative Steuerung des Verwaltungsverfahrens wirft die Frage nach der Zulässigkeit von Experimenten im Verwaltungsverfahren auf, in denen bestimmte Verfahrensweisen zunächst erprobt werden sollen. Vergleichsweise einfach verhält es sich dann, wenn das betreffende Gesetz ausdrücklich eine Experimentierklausel enthält.45 Solche Klauseln sind in nicht wenigen Materien des Besonderen Verwaltungsrechts anzutreffen. So enthält etwa das Kommunalrecht in einigen Bundesländern solche Klauseln bei der Erprobung neuer Steuerungsmodelle.46 Darüber hinaus sind Experimentierklauseln auch in den Hochschulgesetzen einzelner Bundesländer verbreitet. So enthält etwa das Berliner Hochschulgesetz seit 2021 in § 7a eine so bezeichnete Innovationsklausel. Nach dessen S. 1 können die Hoch42 Friedrich Schoch, Das rechtliche Gehör Beteiligter im Verwaltungsverfahren, Jura 2006, S. 833 (836). 43 Hierzu Hufen/Siegel (Fn. 21), Rn. 288 m. w. N. 44 Zu den unterschiedlichen Verwaltungsrechtsverhältnissen Siegel (Fn. 7), Rn. 258 m. w. N. 45 Hierzu auch die Arbeitshilfen zur Formulierung von Experimentierklauseln „Recht flexibel“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, 2020, abrufbar unter https://www. bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Digitale-Welt/recht-flexibel-arbeitshilfe-experimentier klauseln.pdf?__blob=publicationFile&v=8 (aufgerufen am 21. 4. 2023). 46 Thomas Mann, in: Erbguth/Mann/Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 129.

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schulen entsprechend ihrer Aufgaben und Profile mit Zustimmung der für Hochschulen zuständigen Senatsverwaltung in ihren Grundordnungen von einzelnen Bestimmungen des Landeshochschulgesetzes abweichende Regelungen treffen, soweit diese der Verbesserung der Beteiligungsstrukturen, der Organisation, der Entscheidungsfindung oder der Wirtschaftlichkeit dienen.47 Schließlich sah auch § 10a des Glücksspielstaatsvertrags bis zum 30. Juni 2021 eine Experimentierklausel für Sportwetten vor.48 Im Bereich des Verwaltungsverfahrens sind Experimentierklauseln hingegen selten anzutreffen. Eine Ausnahme bildete die Experimentierklausel im Zusammenhang mit der Novellierung des Widerspruchsverfahrens.49 b) Zulässigkeit sonstiger „Experimente“? Schwierigkeiten bereiten hingegen Experimente, die nicht ausdrücklich zugelassen werden. Im Ausgangspunkt ist das Verwaltungsverfahren zwar grundsätzlich offen für neue und agile Verfahrensformen (s. o. III.1. und 2.). Experimente sind aber oftmals zeitaufwendig und stehen daher in einem Spannungsverhältnis zur Effizienz im Sinne einer Beschleunigung. Darüber hinaus mögen Experimente zwar Vorteile erbringen für künftige Verfahren, in denen die Erkenntnisse verwertet werden können, und damit der Richtigkeitsgewähr und der Effektivität zuträglich sein. Für das laufende Verfahren bergen sie jedoch die Gefahr in sich, dass durch sie ein zusätzlicher Verfahrensaufwand hervorgerufen wird, der bei Eröffnungskontrollen auch in einem Spannungsverhältnis zum Grundrechtsschutz vor Verfahren steht. Daher mögen Experimente jenseits von Experimentierklauseln zwar nicht schlechthin unzulässig sein. Sie bedürfen jedoch einer Rechtfertigung im Einzelfall. 4. Das Vergaberecht als „Impulsgeber“? Als Impulsgeber für agiles Verwaltungshandeln könnte sich das Vergaberecht erweisen. Nach einer immer noch gültigen Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2007 sind Vergabeverfahren grundsätzlich dem Privatrecht zuzuordnen.50 Dies hat zur Folge, dass Vergabeverfahren lediglich als Verwaltungsverfahren im weitesten, privatrechtlich verfassten Sinne einzuordnen sind.51

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§ 7a BerlHG v. 14. 9. 2021 (GVBl. 2021, S. 1039). Hierzu etwa OVG Bautzen, ZfWG 2019, S. 498 ff. 49 Hierzu etwa Karen Keller, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 79 Rn. 11. 50 BVerwGE 129, 9 ff. 51 Jan Ziekow/Thorsten Siegel, Das Vergabeverfahren als Verwaltungsverfahren, ZfBR 2004, S. 30 (35). 48

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a) Neue Verfahrensformen im Vergaberecht Die insoweit einschlägigen Verfahrensbestimmungen enthalten aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben zwei Verfahrensarten, die in besonderem Maße von Agilität zeugen, nämlich den Wettbewerblichen Dialog nach § 119 Abs. 6 GWB und vor allem die Innovationspartnerschaft nach § 119 Abs. 7 GWB. Der Wettbewerbliche Dialog ist ein Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge mit dem Ziel, diejenigen Mittel zu ermitteln und festzulegen, mit denen die Bedürfnisse des Auftraggebers am besten erfüllt werden können. Ziel ist also die Optimierung der Leistung im laufenden Verfahren.52 Allerdings wird der Wettbewerbliche Dialog bislang selten praktiziert.53 Die Innovationspartnerschaft geht im Hinblick auf die Agilität über den Wettbewerblichen Dialog hinaus und umschreibt ein Verfahren zur Entwicklung innovativer Leistungen, die noch nicht auf dem Markt verfügbar sind, und zum anschließenden Erwerb dieser Leistungen.54 Auch bei der Innovationspartnerschaft bleibt aber noch abzuwarten, ob sie sich jenseits von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben einen breiteren Anwendungsbereich erschließen kann.55 b) Übertragbarkeit auf andere Verwaltungsverfahren? Beide Verfahrensarten sind nach dem zuvor Gesagten zwar noch wenig verbreitet. Zudem sind sie zugeschnitten auf Beschaffungen und damit auf Leistungen für die öffentliche Verwaltung. Sie bilden jedoch ein anschauliches Beispiel für die Einführung innovativer Verfahrensarten durch den Gesetzgeber. Man könnte dies als „Agilitätssteuerung durch Recht“ beschreiben. Durch die sukzessive Entwicklung nach den Interessen des Beschaffers verkörpern sie zugleich anschaulich das Merkmal der Nutzerzentrierung, wenn auch zugunsten der öffentlichen Verwaltung. Damit nimmt das Vergaberecht bei der Erkundung neuer Verfahrensarten eine gewisse Vorreiterrolle ein.

VI. Agilität und Digitalisierung 1. Grundsätzliche Synchronität Die Digitalisierung nimmt im Rahmen dieser Jubiläumsveranstaltung einen gesonderten Block ein und soll daher nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Gleichwohl soll an dieser Stelle kurz auf das Verhältnis der Digitalisierung zur Agilität bzw. Flexibilität eingegangen werden. Auf den ersten Blick besteht hier ein 52 Übersicht bei Clemens Antweiler, in: Ziekow/Völlink (Hrsg.), Vergaberecht – Kommentar, 4. Aufl. 2020, § 119 GWB Rn. 29 ff. 53 Martin Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 13 Rn. 25. 54 Übersicht bei Antweiler (Fn. 52), § 119 GWB Rn. 33. 55 Burgi (Fn. 53), § 7 Rn. 29.

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hohes Maß an Synchronität. Ein prominentes Beispiel bildet die agile Softwareentwicklung.56 Bei ihr wird die Softwareentwicklung nicht von einem Pflichtenheft vorab gesteuert, sondern anhand von Prototypen mit kurzfristigen Zielen in regelmäßiger Abstimmung mit dem Kunden entwickelt.57 Zugleich bildet die agile Softwareentwicklung ein anschauliches Beispiel für eine Nutzerzentrierung. Eine Synchronität zwischen Flexibilität und Digitalisierung besteht allgemein auch dann, wenn man die Nutzung digitaler Verfahrenselemente als Option auffasst. Wird jedoch der elektronische Nutzungspfad verbindlich angeordnet, so kann dies umgekehrt auch der Flexibilität abträglich sein, da dann ein „Agilitätspfad“ versperrt würde (dazu auch VI.3.). 2. Handlungs- und Novellierungsbedarfe Erkennt man die grundsätzliche Synchronität zwischen Agilität und Digitalisierung an, so stellt sich die Anschlussfrage von Handlungs- und Novellierungsbedarfen. So gilt es zunächst den innerstaatlichen58 und europäischen59 Portalverbund umzusetzen. Darüber hinaus müssen weitere Hindernisse beseitigt werden. So bildet etwa die Einführung des E-Akte eine unerlässliche Voraussetzung für ein elektronisches Verwaltungsverfahren.60 Weiterhin gilt es, das VwVfG (weiter) zu reformieren.61 Hier könnten in einem ersten Schritt überholte Verfahrensbestimmungen aufgehoben werden. So stammt etwa das Absehen vom Begründungserfordernis bei teilautomatisierten Verwaltungsakten gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG nach Ermessen aus dem Jahre 1977 und damit der „digitalen Steinzeit“, die von Nadeldruckern geprägt war. Angesichts des inzwischen eingetretenen technischen Fortschritts bildet das Absehen von der Begründung typischerweise einen Ermessenfehler. Daher sollte die Norm aufgehoben werden.62 Weiterhin könnten die Bekanntgabemöglichkeiten nach § 41 Abs. 2a VwVfG erweitert werden.63 Denn die im Jahre 2017 eingeführte Bestimmung ist bislang begrenzt auf einen tatsächlichen Abruf. Würde man hier künftig eine zumutbare Abrufmöglichkeit gleichstellen, würde dies eine Synchroni56 Hierzu Marc Pauka/Julia Krüger, Verwendung der UfAB 2018, in: Osseforth (Hrsg.), Handbuch IT-Vergabe, 2022, § 9 Rn. 39 ff., m. w. N. 57 Helmut Redeker, in: Redeker, IT-Recht, 7. Aufl. 2020, Teil B Rn. 307. 58 Übersicht bei Marco Herrmann/Karlheinz Stöber, Das Onlinezugangsgesetz des Bundes, NVwZ 2017, S. 1401 ff. 59 Übersicht bei Thorsten Siegel, Der Europäische Portalverbund, NVwZ 2019, S. 905 ff. 60 Zur Verzögerung der Einführung wegen eines gescheiterten Vergabeverfahrens in Berlin Thorsten Siegel, Digitalisierung des Verwaltungsverfahrens in Berlin, LKV 2020, S. 529 (532). 61 Hierzu jüngst Thorsten Siegel, Digitalisierung des Verwaltungsverfahrens – Reformbedarf im Verwaltungsverfahrensgesetz?, NVwZ 2023, S. 193 ff. 62 Ulrich Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 39 Rn. 97 spricht insoweit sogar von „totem Recht“. 63 In diesem Zusammenhang enthält auch § 9 des Onlinezugangsgesetzes des Bundes eine Erweiterung der klassischen Bekanntgabemöglichkeiten.

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tät mit der herkömmlichen Bekanntgabe gleichstellen, bei der ebenfalls die zumutbare Möglichkeit der Kenntnisnahme ausreicht.64 3. Auf dem Weg zur obligatorischen Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel Schließlich wäre mittelfristig zu überlegen, ob die bislang lediglich fakultative Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel durch eine obligatorische ersetzt werden kann. Auch hier nimmt das Vergaberecht eine Vorreiterrolle ein. Denn während die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel in weiten Bereichen des Verwaltungsverfahrens noch fakultativ ist, ist sie im Vergaberecht seit Oktober 2018 grundsätzlich obligatorisch.65 Von der Begründung objektiver Pflichten zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob damit subjektive Reche korrespondieren. Ausdrückliche subjektive Rechte enthalten bislang etwa § 71e VwVfG für das Verfahren über eine einheitliche Stelle66 sowie allgemein Art. 2 S. 1 BayEGovG.67 Hinsichtlich des Vergaberechts ist hingegen zu differenzieren68 : Im Kartellvergaberecht oberhalb der Schwellenwerte ist zwar wegen § 97 Abs. 6 GWB ein subjektives Recht auf Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel anzuerkennen; es ist jedoch nicht gesondert durchsetzbar. Im Haushaltsvergaberecht unterhalb der Schwellenwerte vermittelt hingegen lediglich Art. 3 Abs. 1 GG einen grundsätzlichen Anspruch auf Gleichbehandlung hinsichtlich der Verfahrensgestaltung.

VII. Agilität und Handlungsformen 1. Aktuelle Herausforderungen für die Handlungsformenlehre Handlungsformen markieren den Abschluss eines Verwaltungsverfahrens. Hier können „klassische“ und „moderne“ Handlungsformen unterschieden werden. Zu den – zumindest vermeintlich – „neuen“ Handlungsformen gehören etwa Anreize69 oder Algorithmen.70 Allerdings besteht kein numerus clausus der Handlungsfor64

Thorsten Siegel, E-Government und das Verwaltungsverfahrensgesetz, DVBl. 2020, S. 552 (556 f.). 65 Ausf. Victor Vogt, E-Vergabe 2019, S. 59 ff. 66 Hierzu Heribert Schmitz/Lorenz Prell, Verfahren über eine einheitliche Stelle, NVwZ 2009, S. 1 (6). 67 Zu diesem Gesetz Johann Christian Felix Bähr/Wolfgang Denkhaus, Das Bayerische EGovernment-Gesetz, BayVBl. 2016, S. 1 ff. 68 Hierzu Thorsten Siegel, Elektronisierung des Vergabeverfahrens, LKV 2017, S. 385 (390 f.). 69 Hierzu umfassend Johanna Wolff, Anreize im Recht, 2021. 70 Zu deren dogmatischer Einordnung Annette Guckelberger, E-Government – Ein Paradigmenwechsel in Verwaltung und Verwaltungsrecht?, VVDStRL 78 (2019), 235 (270 f.).

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men.71 Vielmehr verfügt die öffentliche Verwaltung über eine grundsätzlichen Formenwahlfreiheit. Zugleich ist dies Ausdruck handlungsformbezogener Agilität. Bei der Wahl neuer Handlungsformen entsteht auch keine verfahrensrechtliches „Vakuum“. Denn infolge einer regelmäßigen Zuordnung zum Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne (s. o. II.2.) kommt eine analoge Anwendung des §§ 9 ff., VwVfG in Betracht.72 2. Regelungsbedarfe? Bei der sich anschließenden Frage nach Regelungsbedarfen ist einerseits zu berücksichtigen, dass die Rechtsordnung über eine Bereitstellungsfunktion verfügt und Recht die Nutzung neuer Handlungsformen steuern kann. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bereits bei den klassischen Handlungsformen ein Regelungsdefizit zu beklagen ist. So haben nach wie vor die Rechtsverordnung und die Satzung keine Regelung im VwVfG erfahren.73 Anders verhält es sich hingegen im ReNEUAL-Entwurf für ein europäisches Verwaltungsverfahrensrecht.74 Aber auch die Anerkennung neuer Handlungsformen setzt neben einer bereichsübergreifenden Verbreitung eine hinreichende Verselbständigung gegenüber den etablierten Handlungsformen voraus.75 Zudem könnte sich eine Standardisierung als „Agilitätshemmnis“ erweisen, da auf diese Weise zuvor informelle Verfahrensweisen in ein formelles „Korsett“ gezwungen würden. Daher ist gegenwärtig (noch) kein grundlegender Regelungsbedarf zu attestieren. Allerdings können bei einzelnen Handlungsformen Novellierungsbedarfe bestehen. So könnte etwa beim vollautomatisierten Verwaltungsakt nach § 35a VwVfG das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt werden. An die Stelle der ausdrücklichen Zulassung durch das Fachrecht76 könnte hier eine grundsätzliche Zulassung im VwVfG treten, sofern das Fachrecht dem nicht entgegensteht.

71 So bereits Fritz Ossenbühl, Handlungsformen der Verwaltung, JuS 1979, 681 (682); ebenso aus jüngerer Zeit Torben Ellerbrok, Die Handlungsformelehre: Bestand, Leistungsfähigkeit und Herausforderungen, DVBl. 2021, S. 1204 (1211). 72 Ziekow/Siegel (Fn. 51), ZfBR 2004, S. 30 (35). 73 Zur Satzung nunmehr umfassend Torben Ellerbrock, Die öffentlich-rechtliche Satzung, 2020. 74 Hierzu Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 61), EuR Rn. 171. 75 Thorsten Siegel, Verwaltungshandeln sui generis, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band V, 2023, § 157 Rn. 6. 76 Hierzu Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 61), § 35a Rn. 30 ff.

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VIII. Erfordernis einer Agilitätsbereitschaft 1. Von der Zulässigkeit zum Willen zur Agilität Bislang wurde lediglich der Frage nachgegangen, ob agiles Verwaltungshandeln zulässig und sinnvoll ist. Dabei wurde festgestellt, dass Agilität im Verwaltungsverfahren zwar grundsätzlich möglich ist und in bestimmten Konstellationen sogar durch die Steuerungsziele indiziert werden kann. Von dieser Frage, ob die Verwaltung agil handeln darf und möglicherweise auch soll, zu unterscheiden ist die Frage, ob die Verwaltung auch agil tätig sein kann und dies auch möchte. Nicht von ungefähr ist das Leitthema der ersten Veranstaltungsblocks „Kann das Verwaltungsrecht agil sein?“ mit einem Fragezeichen versehen. Hier ist es einerseits die Aufgabe der (Verwaltungs-)Wissenschaft, der Verwaltung neue, innovative und auch agile Verfahrensformen aufzuzeigen. Andererseits dürfen die Erwartungen an eine Rezeption aber auch nicht überspannt werden. 2. Erfahrungen aus einem Modellversuch zum Vergaberecht Dies belegen etwa Erfahrungen aus einem Modellversuch zum Vergaberecht, der am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung unter Beteiligung des Verfassers evaluiert wurde.77 In diesem wurden Lockerungen von bestimmten Anforderungen des Vergabeverfahrens ermöglicht, etwa flexiblere Fristen und die Zulassung von Nachverhandlungen. Nach der Vorstellung des federführenden Ministeriums sollte der Handlungsspielraum dazu genutzt werden, in Kooperation mit dem Auftraggeber die Leistung für die öffentliche Hand zu optimieren. Dieser angestrebte Idealzustand kann daher ebenfalls der Nutzerzentrierung und dem Leitbild der Agilität zugeordnet werden. Die Reaktion auf diese gewonnene Verfahrensfreiheit war jedoch der intensive Ruf nach Handlungsanleitungen zur Ausfüllung dieser Gestaltungsspielräume. Dieser mündete sodann in entsprechenden Verwaltungsvorschriften sowie diese weiter konkretisierenden „Handreichungen“. Da sich die vermeintlichen Nachverhandlungen nach den Ergebnissen der Evaluation oftmals auf die Frage eines Preisnachlasses beschränkten, wurde dieser Modellversuch weder fortgesetzt noch ausgeweitet. Dieser Modellversuch mag zwar nicht repräsentativ für die Agilitätsbereitschaft der öffentlichen Verwaltung sein. Er bildet jedoch ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Verwaltung zur Agilität auch bereit sein muss und zudem nicht überfordert werden sollte.

IX. Fazit und Ausblick Insgesamt lässt sich feststellen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen eine flexible und auch agile Gestaltung des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich zulas77

Hierzu Jan Ziekow/Thorsten Siegel, Flexibilisierung des Vergabeverfahrens, 2007.

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sen. Die Steuerungsziele können eine solche im Einzelfall sogar im Einzelfall indizieren. Andererseits setzen die Steuerungsziele einem solchen Verwaltungshandeln aber auch Grenzen. Neue Verfahrensformen wie das Design Thinking, die Nutzerzentrierung oder Experimente können im Verwaltungsverfahren zwar grundsätzlich zum Einsatz kommen, sind in ihrem Anwendungsbereich und in ihrer Ausgestaltung jedoch begrenzt. Da zwischen Digitalisierung und Agilität ein hohes Maß an Synchronität besteht, kann die Digitalisierung als „Leitbild“ für Agilität angesehen werden und löst zu ihrer Optimierung Handlungs- und Novellierungsbedarfe aus. Hingegen besteht bei den Handlungsformen derzeit (noch) kein grundlegender Regelungsbedarf. Unerlässliche Voraussetzung für den Einsatz neuer, agiler Handlungsformen ist und bleibt jedoch die Agilitätsbereitschaft der öffentlichen Verwaltung.

Flexibilisierung der Organisation Von Ariane Berger

I. Einleitung „Flexibilisierung der Organisation“ ist ein klassisches verwaltungswissenschaftliches Thema, auch und gerade in der 75jährigen Forschung der Universität Speyer. Verwaltungsmodernisierung und Bürokratieabbau1 gehören zu den Gründungsthemen der Universität Speyer. Dementsprechend vielfältig ist die Literatur zu diesem Themenfeld, auch und gerade unter dem Aspekt der Flexibilisierung. Zu nennen sind hier das Neue Steuerungsmodell,2 New Public Management3 und die Untersuchungen zu Good Governance4 oder kooperativen Handlungsformen der Verwaltung5. Insbesondere die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist maßgeblicher Treiber aktueller Flexibilisierungsansätze. Seit den 2000er Jahren beschäftigt sich die eGovernment-Forschung in ihrer maßgeblichen Speyerer Prägung6 mit den Wirkungen der Digitalisierung auf die öffentliche Verwaltung.7 Seitdem tritt auch der anglo1 Ausführlich zu jüngeren Diskussionen in der Verwaltungswissenschaft Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen, 2016, S. 152 ff., m. umfangreichen Nachweisen. 2 Vgl. nur Timm Christian Janda/Elisabeth Ahl, Kommunale Verwaltungsreform – 20 Jahre Neues Steuerungsmodell, DÖV 2014, S. 749 ff. 3 Vgl. nur Hermann Hill, Die Kunst des Entscheidens, DÖV 2017, S. 433 ff.; Utz Schliesky, Der rechtliche und verwaltungswissenschaftliche Handlungsrahmen für Gebiets-, Verwaltungs- und Verwaltungsstrukturreformen, NordÖR 2012, S. 57 ff. 4 Vgl. nur Arthur Benz/Nico Dose, Governance. Regieren in komplexen Regelsystemen, 2010; Helmut Görlich, Good Governance und Gute Verwaltung, DÖV 2006, S. 313 ff.; Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2005. 5 Arthur Benz, Kooperative Verwaltung. Funktionen, Voraussetzungen und Folgen, 1994. 6 Vgl. nur Jörn von Lucke/Heinrich Reinermann, Speyerer Definition von Electronic Government, 2000, abrufbar unter https://www.joernvonlucke.de/ruvii/Sp-EGov.pdf. 7 Zur verwaltungswissenschaftlichen Diskussion um „Government 2.0“ bzw. „E-Government“ aus der umfangreichen deutschsprachigen Literatur: Hermann Hill, Electronic Government – Strategie zur Modernisierung von Staat und Verwaltung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2002, S. 24 ff.; Martin Eifert, Electronic Government. Das Recht der elektronischen Verwaltung, 2006; Heinrich Reinermann/Jörn von Lucke (Hrsg.), Portale in der öffentlichen Verwaltung, Speyerer Forschungsberichte 205, 2000; Tino Schuppan, Strukturwandel der Verwaltung mit E-Government, 2006; Martin Brüggemeier u. a. (Hrsg.), Organisatorische Gestaltungspotentiale durch Electronic Government – auf dem Weg zur vernetzten Verwaltung, 2006.

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amerikanische Ansatz „Government as a Platform“ in das Blickfeld der deutschen Verwaltungswissenschaft.8 Dieser Organisations- und Aufgabenansatz hat maßgeblichen Einfluss auf die Verwaltungsreformen in den Vereinigten Staaten9 und in Großbritannien10 sowie auf weitere Verwaltungsreformen z. B. in Estland11 und Singapur12 genommen.13 Im Folgenden soll es im Schwerpunkt um die Organisation der öffentlichen Verwaltung gehen. Dies bedeutet nicht, dass das Thema Flexibilisierung der Organisation nicht auch Gesellschaft und Privatwirtschaft betrifft und beschäftigt. Auch lassen sich aus den Flexibilisierungsinstrumenten der Privatwirtschaft wertvolle Ableitungen für die öffentliche Verwaltung treffen, wie noch zu zeigen sein wird (II.1.). Der Begriff der Organisation ist für den Bereich der öffentlichen Verwaltung eng verknüpft mit dem Begriff der Zuständigkeit und bezeichnet derart eine nach Aufgaben und Kompetenzen grundsätzlich strikt getrennte öffentliche Verwaltung.14 Ihn begleiten Topoi wie das sog. Verbot der Mischverwaltung15 oder Trennungsgrundsätze verschiedener Art.16 Flexibilisierung im Sinne eines Mehr an Beweglichkeit bzw. Agilität17 erscheint derart als ein unmittelbarer Kontrastbegriff zum Begriff der Organisation.18 8

Tim O’Reilly, Government as a Platform, in: Innovations: Technology, Governance, Globalization, 2011, innovations Vol. 6, No. 1, S. 13. Ausführlich dazu Ariane Berger, (Keine) Föderalismusreform digital, in: Martin Burgi/Christian Waldhoff (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung im Bundes- und Finanzstaat. Festschrift für Hans-Günter Henneke zum 65. Geburtstag, 2022, S. 229 ff. (i. E.). 9 USA.gov, abrufbar unter https://www.usa.gov/. 10 UK Government Digital Services, abrufbar unter https://www.gov.uk/. 11 E-Estonia, abrufbar unter https://e-estonia.com/. 12 GovTech Singapore, abrufbar unter https://www.tech.gov.sg/. 13 Bereits zuvor hatte Eric S. Raymond in seinem Beitrag über „The Cathedral & The Bazaar“ auf die Vorteile von Open Source, offenen Schnittstellen und offenen Standards insbesondere auch für die öffentliche Verwaltung hingewiesen und eine Abkehr von „kathedralhaften“ staatlichen Datensilos und staatlichen IT-Produkten hin zu kooperativen „Basaren“ bzw. Marktplätzen für Staat und Gesellschaft angeregt: Eric S. Raymond, The Cathedral & The Bazaar, 2001. 14 Grundlegend zum Begriff der Zuständigkeit als i. d. R. ausschließliche Bezogenheit eines Gegenstandes auf ein Subjekt Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht, Bd. II, 3. Aufl. 1970, § 72 I S. 13. 15 Begriffsprägend Michael Ronellenfitsch, Mischverwaltung im Bundesstaat, 1975, S. 58. Ausführlich zu verfassungsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Ausprägungen in Literatur und Rechtsprechung Ariane Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat. Zum Verfassungsgrundsatz getrennter Verwaltungsaufgaben, 2016, S. 54 ff., m. w. N. 16 Ausführlich zu den verschiedenen Trennungstopoi in Literatur und Rechtsprechung Ariane Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat. Zum Verfassungsgrundsatz getrennter Verwaltungsaufgaben, 2016, S. 53 ff., m. w. N. 17 Der Begriff der Flexibilisierung bezeichnet in der Organisationstheorie den Prozess zur Erreichung einer erhöhten Agilität von Organisationen und Personen. Diese soll durch die Reduzierung fester Regeln und festgefügter Strukturen erreicht werden. Es handelt sich hier-

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Das Begriffspaar „Flexibilisierung der Organisation“ bezeichnet eine instrumentelle Beziehung, ohne die Funktion, den Zweck der Flexibilisierungsbemühungen zu benennen. Eine Flexibilisierung der Organisation um der reinen Flexibilisierung willen ist offensichtlich nicht gemeint, es sollen vielmehr bestimmte Wirkungen erzielt werden. In den thematischen Kanon dieses Begriffspaares lassen sich damit auch Zielbeschreibungen wie moderne, innovative, effektive, nachhaltige oder schlicht gute Organisation fassen, soweit diese auf das Instrument der Flexibilisierung zur Erreichung der Zielvorgabe rekurrieren. Ebenfalls einbezogen werden können all diejenigen Denkanstöße, die sich mit Bürokratieabbau bzw. Entbürokratisierung beschäftigen,19 wobei der Begriff der Bürokratie heutzutage nicht selten ein Zuviel an Stabilität, also eine Erstarrtheit oder sogar eine sog. Versteinerung kennzeichnen soll.20 Das Verhältnis von Flexibilität und Stabilität ist ein archetypisches Spannungsverhältnis, ein urmenschliches Anliegen. Die Lebensbereiche, die sich mit diesem Thema beschäftigen, sind mannigfaltig, nicht zuletzt die Sportwissenschaft sucht nach einem guten, gesunden, effektiven Bewegungsablauf als Ergebnis eines richtigen Verhältnisses, einer Ausbalancierung von Flexibilität und Stabilität.21 Der Verwaltungswissenschaftler, der Anleihen in Nachbardisziplinen sucht, um dortige Erkenntnisse für die Beschreibung von öffentlicher Verwaltung nutzbar zu machen, ist angesichts der Fülle von Denkanstößen begeistert, aber vielleicht auch ein wenig erschlagen. Festgestellt werden kann jedenfalls, dass es immer nur um eine Annäherung an das richtige Verhältnis von Stabilität und Flexibilität geht. Die Balance zwischen beiden Polen ist angesichts der Komplexität der Faktoren und Instrumente eine sehr flüchtige. Außerdem lassen sich Zyklen beobachten, das Pendel der wissenschaftlichen Mode und verwaltungspraktischen Erprobung schwingt mal in Richtung Stabilität und mal in Richtung Flexibilität. Das eine richtige Verhältnis zwischen beiden Polen scheint also nicht zu existieren. bei nicht selten um einen ökonomischen und politischen Kampfbegriff. Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur Hermann Hill, Prozessflexibilisierung und adaptive Prozessentwicklung, DÖV 2012, S. 249 ff. 18 In diesem Sinne Christoph Möllers, Materielles Recht – Verfahrensrecht – Organisationsrecht. Zur Theorie und Dogmatik dreier Dimensionen des Verwaltungsrechts, in: Trute u. a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 489 ff. 19 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen, 2016, S. 152 ff., m. umfangreichen Nachweisen. 20 Zur heutigen Bürokratiekritik vgl. nur Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen, 2016, S. 132 ff., m. w. N. Demgegenüber aber Max Weber, der am Ende des 19. Jahrhunderts Bürokratie in Zusammenhang mit dem „Prozess der Rationalisierung, d. h. mit der sich im Laufe der Geschichte steigernden Fähigkeit des Menschen, sich mit der natürlichen und sozialen Umwelt geistig auseinanderzusetzen und gestaltend in sie einzugreifen“ stellte: Alfred Kieser, Max Webers Analyse der Bürokratie, in: Kieser/Ebers (Hrsg.), Organisationstheorien, 2006, S. 63. 21 Vgl. dazu nur der jüngere, angloamerikanische Ansatz des „Natural Movements“, Erwan Le Corre, Natural Movement, 2019.

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Das Themenfeld ist nach alledem begrifflich und inhaltlich weit gesteckt. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung bedarf es daher eines Arbeitsbegriffs, der nicht mit finalen Definitionselementen überladen ist. Unter „Flexibilisierung der Organisation“ sei hier daher jede Anpassung der bestehenden Organisations- und Entscheidungsstruktur in der öffentlichen Verwaltung an neue Herausforderungen verstanden. Flexibilität ist mithin die Fähigkeit einer Organisation, sich im Rahmen neuer Herausforderungen anzupassen, um weiterhin gute Entscheidungen treffen zu können. Es stellt sich daher die Frage, welche Instrumente eine entsprechende Anpassung der öffentlichen Verwaltung an neue Herausforderungen ermöglichen. Bevor Balancierungsansätze und -instrumente in Wirtschaft und Politik skizziert und diese um konkrete Beispiele aus der kommunalen Praxis ergänzt werden, soll zunächst ein Blick auf diese neuen Herausforderungen, die „Schmerzpunkte“ der öffentlichen Verwaltung geworfen werden. In der Praxis der öffentlichen Verwaltung, und dies ist zu einem ganz überwiegenden Anteil kommunale Verwaltung, zeigen sich insbesondere drei Stressfaktoren: Verschiedene Krisen – Corona-Pandemie, Flüchtlinge, Naturkatastrophen und Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa – setzen die Verwaltung unter starken Handlungsdruck. Darüber hinaus befeuert nicht zuletzt der demographische Wandel den Fachkräftemangel in der öffentlichen Verwaltung. Und schließlich verlangen Querschnitts- und Innovationsthemen wie Digitalisierung, Klimaschutz und Nachhaltigkeit nach einer ressort- und ebenenübergreifenden Zusammenarbeit in der öffentlichen Verwaltung, die so regelmäßig nicht in den Organigrammen und Strukturen des ebenenübergreifenden Vollzugsföderalismus angelegt ist.22 In der Krise erweist sich, wie leistungsfähig eine Verwaltungsorganisation aufgestellt ist. Zugleich bieten Krisen die Chance, etablierte Strukturen zu überdenken und zu flexibilisieren. Das Thema „Flexibilisierung der Organisation“ ist aus Sicht der kommunalen Verwaltung also hochaktuell. Bevor nun einzelne Flexibilisierungsinstrumente vorgestellt werden, soll ein letzter Begriff eingeführt werden, der hilft, die verschiedenen Ansätze zu sortieren und Schwerpunkte zu setzen: Dies ist der Begriff der Entscheidung als Grundelement staatlichen Handelns.23 Es soll also im Folgenden um die Flexibilisierung der Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung gehen. Dies hat den Vorteil, dass neben Organisation auch Verfahren und Entscheidungsträger, d. h. das Personal der öffentlichen Verwaltung miteinbezogen werden können. Die verschiedentlich erörterten Flexibilisierungsinstrumente knüpfen dementsprechend neben der Organisationsgestaltung immer auch an Entscheidungsverfahren und Entscheidungsträgern an, 22 Dazu jüngst Ariane Berger, (Keine) Föderalismusreform digital, in: Martin Burgi/ Christian Waldhoff (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung im Bundes- und Finanzstaat. Festschrift für Hans-Günter Henneke zum 65. Geburtstag, 2022, S. 229 ff. (i. E.). 23 Zum Begriff der Entscheidung in der verwaltungswissenschaftlichen Literatur vgl. nur Gunnar F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft: Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, 2000, S. 740 ff.; Werner Thieme, Entscheidungen in der öffentlichen Verwaltung, 1981, S. 1 ff.

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wobei gerade letzteren eine zentrale Bedeutung zukommt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

II. Flexibilisierung in Wirtschaft und Politik 1. Flexibilisierung in der Privatwirtschaft Es ist gute Speyerer Tradition unter den Begriffen des Neuen Steuerungsmodells24 und des New Public Managements25 betriebswirtschaftliche Lösungsansätze für den Bereich der öffentlichen Verwaltung nutzbar zu machen. Es soll daher zunächst einen Blick auf die Diskussion um „Flexibilisierung von Organisation“ im Bereich der Privatwirtschaft geworfen werden. Flexibilität wird dort als Fähigkeit einer Organisation verstanden, sich im Kontext von „VUCA“ (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity)26 den Anforderungen von Kunden, Stakeholdern, Markt und Technologien anzupassen, um die disruptiven Potenziale in einer digitalen Welt nutzen zu können und wettbewerbsfähig zu sein.27 Die Privatwirtschaft teilt mit der öffentlichen Verwaltung die Erkenntnis, dass es in klassischen Strukturen, starren Hierarchien und funktionalen Silos schwerfällt, anpassungsfähig und beweglich zu sein und sich in diese Richtung zu entwickeln. Flexible Einheiten gelten demgegenüber als schnell, wendig und adaptiv, aber auch als weniger stabil. Diskutiert werden verschiedene Instrumente bzw. Aspekte für eine flexible Organisation:28 – Flexibler Organisationsaufbau. – Gemeinsame Kultur und Vision. – Arbeiten in vernetzen Teams. – Übergreifendes Systemdenken. 24 Vgl. nur Timm Christian Janda/Elisabeth Ahl, Kommunale Verwaltungsreform – 20 Jahre Neues Steuerungsmodell, DÖV 2014, S. 749 ff. 25 Vgl. nur Hermann Hill, Die Kunst des Entscheidens, DÖV 2017, S. 433 ff.; Utz Schliesky, Der rechtliche und verwaltungswissenschaftliche Handlungsrahmen für Gebiets-, Verwaltungs- und Verwaltungsstrukturreformen, NordÖR 2012, S. 57 ff. 26 Zum Ursprung und zum Gebrauch des Begriffs Nathan Bennett/G. James Lemoine, What a difference a word makes: Understanding threats to performance in a VUCA world, Business Horizons 2014, S. 311 ff. Vgl. ebenso Hermann Hill, Die Kunst des Entscheidens, DÖV 2017, S. 433 ff., m. w. N. Aus unternehmerischer Sicht Christoph H. Seibt, 20 Thesen zu Corporate Governance und Unternehmensorganisation in VUCA-Zeiten, DB 2018, S. 237 ff. 27 Hermann Hill, Die Kunst des Entscheidens, DÖV 2017, S. 433 (434 f.). Aus unternehmerischer Sicht Christoph H. Seibt, 20 Thesen zu Corporate Governance und Unternehmensorganisation in VUCA-Zeiten, DB 2018, S. 237 f. 28 Vgl. nur Christoph H. Seibt, 20 Thesen zu Corporate Governance und Unternehmensorganisation in VUCA-Zeiten, DB 2018, S. 237 ff.; Jochen Wallisch, Führung in einem Weltkonzern, NZA-Beilage Heft 4 (2018), S. 81 ff.

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– Umdenken im Führungsstil. – Agiles Vorgehen. – Talent- bzw. Mitarbeiterentwicklung. Ohne die Einzelinstrumente an dieser Stelle näher untersuchen zu wollen, zeigt sich bereits auf den ersten Blick, dass neben einem – im Einzelnen näher zu untersuchenden – „flexiblen Organisationsaufbau“ für Flexibilisierung in erster Linie am Mitarbeiter und dessen Entscheidungsfindung angesetzt wird. Entscheidungen sollen vernetzt, übergreifend und agil getroffen werden, der Mitarbeiter soll regelmäßig seinen Begabungen entsprechend weitergebildet und angemessen geführt werden. Flexibilisierung der Organisation besteht damit zu einem Großteil in einer Neugestaltung der Entscheidungsfindung und einer stärker auf Diversität ausgerichteten Personalauswahl.29 Damit liegen erste allgemeine Stellschrauben vor, mit denen auch die öffentliche Verwaltung versucht, Organisation flexibler zu gestalten. Dies gilt sowohl für die Ebene der Europäischen Eigenverwaltung und die Bundesebene (II.2.) als auch für die kommunale Praxis (III.). 2. Flexibilisierung auf Europäischer und Bundesebene Die Beobachtung, dass Organisationsflexibilisierung im Wesentlichen eine Neugestaltung der Entscheidungsfindung ist und im Wesentlichen personalbezogene Veränderungen umfasst, wird durch die aktuellen Flexibilisierungsansätze auf Europäischer Ebene und auf Bundesebene bestätigt. Die am Anfang dieses Jahres von Europäischen Kommission veröffentlichte neue Personalstrategie für die Kommission30 knüpft an die vorstehend genannten privatwirtschaftlichen Überlegungen an und rückt Personalgewinnung und Mitarbeiterentwicklung sowie moderne Führung in den Fokus der Innovationsbemühungen. Teamwork, Zusammenarbeit und Kreativität zwischen den Kommissionsdienststellen und mit den Exekutivagenturen sollen gefördert werden, um die Leistung der einzelnen Bediensteten sowie der Teams zu erhöhen.31 Offene und dynamische Arbeitsplätze, Arbeitsgruppen und IT-Tools, welche die Zusammenarbeit erleichtern, sollen eine integrierte europäische Reaktion auf die immer komplexeren politischen Herausfor29

Vgl. auch Martin Burgi, Intradisziplinarität und Interdisziplinarität als Perspektiven der Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung Beiheft 12 (2017), S. 33 ff. Ebenso Ariane Berger, Vielfalt und Verwaltung. Diversität als neue Rechtskategorie im Öffentlichen Recht, VerwArch 1 (2017), S. 71 ff. 30 Europäische Kommission, Eine neue Personalstrategie für die Kommission, Mitteilung an die Kommission vom 5. 4. 2022, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/ c_2022_2229_1_de_annexe_acte_autonome_cp_part1_v2.pdf. 31 Europäische Kommission, Eine neue Personalstrategie für die Kommission, Mitteilung an die Kommission vom 5. 4. 2022, S. 2, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/sites/default/ files/c_2022_2229_1_de_annexe_acte_autonome_cp_part1_v2.pdf.

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derungen ermöglichen, die über den Zuständigkeitsbereich einer einzelnen Dienststelle oder Generaldirektion hinausgehen.32 Es sollen flexiblere Strukturen, Systeme und Prozesse eingeführt werden, um sicherzustellen, dass die Kommission zum richtigen Zeitpunkt über die richtigen Fähigkeiten und die richtigen Fachkenntnisse verfügt, um auf sich verändernde Prioritäten zu reagieren. Ein moderneres Konzept für das Leistungsmanagement, die Nutzung neuer Technologien und ein umfassender Ansatz für das körperliche und geistige Wohlbefinden des Personals sollen vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen und einer intelligenteren Arbeitsteilung zwischen den Generaldirektionen ebenfalls von entscheidender Bedeutung sein.33 Der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien 2021 enthält vergleichbare Überlegungen:34 „Die Verwaltung soll agiler und digitaler werden. Sie muss auf interdisziplinäre und kreative Problemlösungen setzen. Wir werden sie konsequent aus der Nutzungsperspektive heraus denken. Wir wollen das Silodenken überwinden und werden feste ressort- und behördenübergreifende agile Projektteams und Innovationseinheiten mit konkreten Kompetenzen ausstatten. …. Von der Leitung der Ministerien und den Führungskräften im Öffentlichen Dienst erwarten wir, dass sie eine moderne Führungs- und Verwaltungskultur vorantreiben und für digitale Lösungen sorgen. Eigeninitiative und Mut der Beschäftigten müssen wertgeschätzt und belohnt werden. Die Modernisierung des Staates gelingt nur mit einem starken Öffentlichen Dienst. Diesen werden wir attraktiver gestalten. Der Staat muss bei Vielfalt, Gleichstellung und flexiblen sowie digitalen Arbeitsbedingungen Vorbild sein. Wir fördern und vereinfachen den Personalaustausch und die Rotation zwischen verschiedenen Behörden, zwischen Bund und Ländern sowie zwischen Verwaltung und Privatwirtschaft. …“35 Die aktuelle Flexibilisierungsdiskussion auf unionaler und nationaler Ebene wird nach alledem im Wesentlichen durch zum einen organisationsbezogene Bündelungsund Kooperationsansätze und zum anderen personal- und entscheidungsbezogene Innovationsansätze geprägt, wobei der Schwerpunkt bei personal- und entscheidungsbezogenen Instrumenten liegt.

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Europäische Kommission, Eine neue Personalstrategie für die Kommission, Mitteilung an die Kommission vom 5. 4. 2022, S. 2, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/sites/default/ files/c_2022_2229_1_de_annexe_acte_autonome_cp_part1_v2.pdf. 33 Europäische Kommission, Eine neue Personalstrategie für die Kommission, Mitteilung an die Kommission vom 5. 4. 2022, S. 2, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/sites/default/ files/c_2022_2229_1_de_annexe_acte_autonome_cp_part1_v2.pdf. 34 Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90 / Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), S. 7 f., abrufbar z. B. unter https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_20212025.pdf. 35 Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90 / Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), S. 7 f., abrufbar z. B. unter https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_20212025.pdf.

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III. Flexibilisierung in der kommunalen Praxis Auch die kommunale Ebene, Hauptvollzugsebene im Föderalismus, beschäftigt sich mit neuen Organisationsmodellen und Personalstrategien. Das Organisationsmodell des Kreises Soest (III.1.) und die Digitalisierungsstrategie der Landkreise in Rheinland-Pfalz (III.2.) sollen dies beispielhaft verdeutlichen. Auch auf kommunaler Ebene wird das Bedürfnis nach stärker vernetzter Arbeit in diversen Teams sowie nach „neuer Führung“36 gesehen. Dies erfolgt im Gegensatz zur Diskussion um Flexibilisierung von Bundes- und Landesbehörden allerdings mit einem etwas weniger dramatischen Zungenschlag: Die Kreisverwaltung ist als sog. Bündelungsbehörde seit jeher sehr viel weniger von Ressort-Eigengesetzlichkeiten abhängig. Sie ist von vornherein agiler und teamgeleiteter als die traditionelle Ministerialbürokratie in Bundes- und Landesministerien. Hinzu treten zwei Aspekte, welche im Wesentlichen die kommunale Vollzugsebene betreffen: Dies ist zum einen die Bündelung der kommunalen Verwaltungskraft durch horizontale Kooperation und zum anderen das klassische, überaus wirksame Instrument der Amtshilfe (III.3.). 1. Wirksame IT-Organisation im Kreis Soest Der Kreis Soest hat sich im Rahmen seiner Digitalisierungsstrategie mit wirksamer IT-Organisation in der Kreisverwaltung auseinandergesetzt. Es ging um die Frage, wie die Abteilung „IT und Verwaltungsdigitalisierung“ sinnvoll aufgestellt werden kann. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass Digitalisierungsprozesse in der Kreisverwaltung sowohl organisatorisch und fachlich als auch technisch unterstützt und begleitet werden müssen, die hierfür verantwortlichen unterschiedlichen Abteilungen innerhalb der Kreisverwaltung also kooperieren müssen. Letzteres gestaltet sich in der Praxis trotz der Bündelungsfunktion der Verwaltungsspitze nicht selten anspruchsvoll – eine Beobachtung, die ressortgeprägte Landes- und Bundesministerien in einem noch viel stärkeren Maße teilen. Der Kreis Soest begegnet dieser Herausforderung mit vier Instrumenten: Der Einführung einer Doppelspitze für die Abteilung IT und Verwaltungsdigitalisierung, dem Aufbau eines multiprofessionellen Teams, neuen Formen der verwaltungsinternen Zusammenarbeit sowie mit verwaltungsinternen Unterstützungsangeboten (sog. Nutzerorientierung). Die Abteilung wird von einer Verwaltungsexpertin und einem IT-Experten geleitet, die ITStrategie wird unter Berücksichtigung der Verwaltungsbelange und der IT-Möglichkeiten entwickelt und umgesetzt. Das Mitarbeiterteam ist multiprofessionell besetzt, es finden sich erfahrene Organisatoren und eine Servicedesignerin ebenso wie IT-Experten aus den Bereichen Geodatenmanagement, Process Design, Data Scientist, Programmierung und Anwendungsentwicklung. Daneben werden Fachinformatiker und Wirtschaftsinformatiker beschäftigt. Die verwaltungsinterne Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen wird mit Feedbackgesprächen, einem einheitlichen, 36 Z. B. Jochen Wallisch, Führung in einem Weltkonzern, NZA-Beilage Heft 4 (2018), S. 81 ff. Zur „Kunst des Führens“ Hermann Hill, Die Kunst des Führens, DÖV 2020, S. 915 ff.

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transparenten IT-Ticketsystem und einer multiprofessionellen Zusammensetzung der Projekte befördert. Und schließlich dienen Digitale Lotsen als einheitliche Ansprechpartner in den Fachabteilungen. Fortbildungen sollen die Mitarbeiter im Umgang mit der Kreis-IT unterstützen. 2. Digitalisierungsstrategie der rheinland-pfälzischen Landkreise Einen demgegenüber organisationsbezogenen Flexibilisierungsansatz verfolgen die 24 rheinland-pfälzischen Landkreise. Diese haben sich eine gemeinsame Digitalisierungsstrategie gegeben, um auf diese Weise wirksame IT-Organisation in den Landkreisen zu befördern. Die rheinland-pfälzischen Landkreise arbeiten bei der Umsetzung der gemeinsamen Digitalisierungsstrategie arbeitsteilig zusammen. Die Anschubfinanzierung für einzelne Projekte wird durch einen „Digitalisierungs-Euro“ je Kreiseinwohner in den Kreishaushalten sichergestellt. Für die Schulung bei gemeinsamen Vorhaben werden Formate des E-Learning, Webinare und Erklärvideos genutzt. Die Projektsteuerung liegt bei einem Lenkungsausschuss Digitalisierung, welcher der Landrätekonferenz berichtet. Die Umsetzung der Digitalisierungsstrategie erfolgt in Abstimmung und unter Einbindung des Landes, wo dies möglich und sinnvoll ist. Hierzu bildet der Landkreistag Rheinland-Pfalz einen Lenkungskreis, zu dem nicht nur das Land als ständiger Gast eingebunden wird, sondern auch sonstige Sachverständige oder Stakeholder eingeladen werden können. Mit diesem horizontalen Bündelungsansatz kontrastieren die rheinland-pfälzischen Landkreise die föderale Vollzugslogik im Mehrebenensystem zwischen Bund, Ländern und Landkreisen und zeigen das im Föderalismus bislang in weiten Teilen ungenutzte Potential des Kooperationsprinzips auf. Die beschriebene Kooperation ist auf die rheinland-pfälzischen Landkreise begrenzt, eine Bündelung der kreiskommunalen Verwaltungskraft aller 294 Landkreise über Landesgrenzen hinweg verspricht insbesondere im Bereich der Digitalisierung noch sehr viel größere Skaleneffekte.37 Das Kooperations- und Partnerschaftsprinzip zeigt am Beispiel der rheinland-pfälzischen Landkreise sein bislang noch nicht ausreichend genutztes Potential für die gesamte kommunale Ebene. 3. Amtshilfe als flexibles Kriseninstrument der Landkreise Kurz soll an dieser Stelle der Blick auf ein weiteres, verfassungsrechtlich geprägtes Flexibilisierungsinstrument für die öffentliche Verwaltung geworfen werden, i. e. die Amtshilfe gemäß Art. 35 GG. Gemäß Art. 35 Abs. 1 GG leisten sich alle Behör-

37 Vgl. nur Ariane Berger, Digitaler Plattformstaat oder dezentrale Verwaltung? Zu den Anforderungen an eine gute – digitale – Verwaltung, ZG 2018, S. 347 ff.

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den und der Länder – die Kommunen sind mitumfasst38 – gegenseitig Amtshilfe. Diese Hilfe erfolgt sowohl in Fällen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung und in Katastrophenfällen (Art. 35 Abs. 2 GG) als auch bei überregionalen Katastrophen (Art. 35 Abs. 3 GG) und beinhaltet auch den Einsatz der Bundeswehr im Wege der Amtshilfe. Die Landkreise haben mehrfach von der Amtshilfe durch Einsatz der Bundeswehr und auch THW sowohl in den Flüchtlingskrisen als auch in der Corona-Pandemie und im Rahmen der von Naturkatastrophen wie dem Oderhochwasser oder der jüngsten Flutkatastrophe 2021 Gebrauch gemacht.39 Art. 35 GG ermöglicht dem jeweiligen betroffenen Landkreis, die krisenbedingte Zunahme von Personalbedarf zu bewältigen. Es macht keinen Sinn, diese auch im Normalzustand aufrechtzuerhalten, es bedarf vielmehr zeitlich begrenzter und insoweit flexibler Personalaufwuchskonzepte. Die öffentliche Verwaltung erscheint vor dem Hintergrund des Art. 35 GG als ein atmendes System. Die Amtshilfe stellt sich damit aus Sicht der kommunalen Praxis als ein bewährtes, etabliertes Instrument dar, welches nicht überreguliert und flexibel einsetzbar ist. Lediglich die in Art. 35 GG nicht ausdrücklich geregelte Erstattung der Kosten der Amtshilfe40 kann im Einzelfall problematisch sein, aber auch hier haben Bund, Länder und Kommunen in der Corona-Pandemie und anderen Katastrophenfällen pragmatische Lösungen gefunden. Die Amtshilfe erscheint nach alledem als flexibles Recht für flexible Organisation. Überlegungen des Bundesgesetzgeber zu weiterer Verrechtlichung der Amtshilfe im Rahmen einer Reform des Katastrophenschutzes41 sind vor diesem Hintergrund untunlich.

IV. Schluss und Ausblick Die Aufgabe Flexibilisierung der Organisation wird die Rechts- und Verwaltungswissenschaft auch in den nächsten 75 Jahren beschäftigen. Es werden weitere wissenschaftliche Ansätze und Instrumente diskutiert werden und die Ausgestaltung des Balanceverhältnisses zwischen Stabilität und Flexibilität wird regelmäßig Zyklen durchleben, das eine Mal mehr in Richtung Flexibilisierung, das andere Mal mehr in Richtung Stabilisierung. Auf einen Aspekt soll zum Abschluss noch einmal mit besonderem Nachdruck hingewiesen werden: So setzt sich auch im öffentlichen 38 Allg. Ansicht, vgl. nur Laura Münkler, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 35 Rn. 16. 39 Vgl. am Beispiel der Flüchtlingskrisen der vergangenen Jahre Ulrich Lucks, Inhalt und Grenzen einer Amtshilfeleistung durch die Streitkräfte am Beispiel der Flüchtlingshilfe, NVwZ 2015, S. 1648 ff. 40 Nach § 8 VwVfG (Bund) ist die Amtshilfe im Anwendungsbereich des VwVfG (Bund) gebührenfrei, Auslagen über 35 Euro sind hingegen auf Anforderung zu erstatten. 41 Vgl. zur aktuellen Diskussion nur Deutscher Bundestag, Antrag der Fraktion der CDU/ CSU „Aus den Krisen lernen – Für einen starken Bevölkerungsschutz“, BT-Drs. 20/2562 v. 05. 07. 2022.

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Sektor die in der Privatwirtschaft bereits länger erprobte Erkenntnis durch, dass Kooperationen zwischen Organisationen und ihre Flexibilisierung eine wichtige Rolle für die Effizienz und Effektivität in der öffentlichen Verwaltung spielen. Das Kooperations- und Partnerschaftsprinzip bietet hier vielfach ungenutztes Potential.42 Beweisen muss sich jetzt, ob die öffentliche Verwaltung die Innovationskraft besitzt, mehr Bündelung und interkommunale Kooperation zu erproben, um Innovationsthemen wie Klimaschutz und Digitalisierung, demographischen Wandel und zukünftige Krisen besser bewältigen zu können. Diese Innovationskraft anzumahnen und zu befördern ist bleibende Aufgabe der Universität Speyer.

42 Instruktiv die vergleichende Darstellung verschiedener interföderaler Kooperationen von Harvey Lazar/Christian Leuprecht (Hrsg.), Spheres of Governance. Comparative Studies of Cities in Multilevel Governance Systems, 2007. Für eine stärkere kommunale Bündelung unter Nutzbarmachung digitaler Technologien Ariane Berger, (Keine) Föderalismusreform digital, in: Martin Burgi/Christian Waldhoff (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung im Bundes- und Finanzstaat. Festschrift für Hans-Günter Henneke zum 65. Geburtstag, 2022, S. 229 ff. (i. E.); Ariane Berger, Digitalisierung als Bewährungsprobe für den Föderalismus, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Kommunalrelevanz des Vertrages der Ampel-Koalition, 2022 (i. E.).

Behavioral Administration Begriff, Nudging, Wirksam Regieren, Standortauswahlgesetz Von Ulrich Smeddinck

I. Einleitung Es gibt keine streng rationalen Entscheidungen, „es geht nicht ohne Gefühl.“1 Die verhaltenswissenschaftliche Grundeinsicht, dass Rationalität in Emotionen wurzelt, wird mehr und mehr betont und beachtet – und wird dennoch von vielen als Zumutung empfunden, ja ignoriert: „Die Vernunft verhält sich zu den Gefühlen (…) wie ein Reiter zu einem Elefanten. Der emotionale Dickhäuter bestimmt den Weg, und der Reiter redet sich ein, dass er in dieselbe Richtung will, obwohl er keine Kontrolle hat.“2 Ihren Widerhall findet diese Einsicht etwa rechtswissenschaftlich, wenn auf die zeitliche Abfolge in der Entscheidungsfindung von Judiz, dem Rechtsgefühl,3 vor nachgelagerter akkurater Entscheidungsdarstellung und damit integral verbundener Überprüfung und Sicherung der „gefundenen“ Entscheidung verwiesen wird.4 Am deutlichsten wird die Bedeutung von Emotionen in den letzten Jahren für die Entwicklung und Praxis von Demokratie und Politik thematisiert.5 Der wissenschaft1 Bernd Matthies, Entscheide Dich! Der Tagesspiegel v. 26. 9. 2022, S. 3; Wolfgang Bonß, Von magischen Praktiken zu systemischen Risiken – Geschichte und Bedeutung des Risikobegriffs, APuZ 2022, 4, 11; Juliana Raupp, Reden über Risiken – Risikokommunikation in krisenhaften Zeiten, APuZ 2022, 12. 2 Jonathan Haidt, The Righteous Mind – Why Good People are Divided by Politics and Religion, New York 2012; zitiert nach: Philipp Hübl, Die aufgeregte Gesellschaft, München 2019, S. 81, unter Verweis auf David Hume; Hans-Joachim Maaz, Das gespaltene Land, München 2020, S. 210; Remo H. Largo, Zusammenleben, Frankfurt/M. 2020, S. 101. 3 Rainer Schützeichel, Zur Soziologie des Rechtsgefühls, in: Hilge Landweer/Dirk Koppelberg (Hrsg.), Recht und Emotion I – Verkannte Zusammenhänge, Freiburg, München 2016, S. 65 ff.; Jonas Bens/Olaf Zenker (Hrsg.), Gerechtigkeitsgefühle – Zur affektiven und emotionalen Legitimität von Normen, Bielefeld 2017. 4 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung – selbst bei der Anwendung von Recht, in: Arno Scherzberg u. a. (Hrsg.), Kluges Entscheidung. Disziplinäre Grundlagen und interdisziplinäre Verknüpfungen, 2006, S. 4 ff. 5 Eleanor Pykett/Jessica Jupp/Fiona M. Smith, Introduction, in: Jessica Jupp/Eleanor Pykett/Fiona M. Smith (Eds.), Emotional States, London 2017, p. 1; Frank Biess, Republik der Angst, Reinbek 2019; Martha Nussbaum, Politische Emotionen, Berlin 2014; vgl. auch Ulrich Smeddinck (Hrsg.), Emotionen bei der Realisierung eines Endlagers, Berlin 2018.

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liche Dienst der Europäischen Union hat im Anschluss daran ein integrierendes Leitbild formuliert: Emotionen, Werte und Identität sind – neben der Vernunft – die bestimmenden Faktoren für unser Denken, Reden und Entscheiden in politischen Fragen und Entscheidungen.6 Mit dem vorliegenden Text soll der Faden aufgenommen und ein Beitrag zur weiterführenden Diskussion in Deutschland geleistet werden. Dazu wird der Begriff Behavioral Administration ausgedeutet und diskutiert (II.), wird ein näherer Blick auf zwei Ansätze zur Operationalisierung, nämlich „Nudging“ und „Wirksam Regieren“, geworfen (III.). Im Schwerpunkt werden Ausprägungen der Behavioral Administration in Standortauswahlgesetz und Standortauswahlverfahren zur Findung eines Endlagers für Atommüll vorgestellt (IV.). Das Beispiel liegt nahe, da hier die Einbeziehung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse angelegt ist bzw. sich aufdrängt. Der Beitrag schließt mit Fazit und Ausblick (V.).

II. Behavioral Administration – Begriffsausdeutung und Diskussion Es gibt keine verbindliche Definition des Begriffs Behavioral Administration. Behavioral Public Administration etwa wird als die Analyse der öffentlichen Verwaltung aus einer Mikroebenenperspektive beschrieben, die individuelles Verhalten und Einstellungen in den Blick nimmt und auf Erkenntnisse aus der Psychologie über das Verhalten von Individuen und Gruppen zurückgreift.7 Demgegenüber lässt „Administration“ ja anders akzentuiert an die Regierungsmannschaft etwa in den USA denken. Mit Blick auf konkurrierende Begrifflichkeiten wird deutlich, dass es letztlich darum geht, keine engen Abgrenzungen vorzunehmen, sondern weiter ausgreifende Angebote zu machen oder Konzepte zu entwickeln, die eher im Sinne von „Exekutive“ oder „Staat“ sowohl Regierungs- wie Verwaltungshandeln mitumfassen, also insgesamt die Sphäre mit durchaus unterschiedlichen Akteuren umreißen.8 Will man auf Verwaltung als Bezugspunkt fokussieren, drängen sich vor allem 2 Dimensionen und Handlungsfelder auf: – Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse im Behördenalltag nach innen,

6 JRC, Understanding our Political Nature, 2019, https://ec.europa.eu/jrc/en/publication/ eur-scientific-and-technical-research-reports/understanding-our-political-nature-how-put-know ledge-and-reason-heart-political-decision, abgerufen am 29. 6. 2022. 7 Stephan Grimmelikhuijsen/Sebastian Jilke/Asmus Leth Olsen/Lars Tummers, Behavioral Public Administration: Combining Insights from Public Administration and Psychology, Public Administration Review May 2016, 1 ff. 8 Rosanvallon erfasst als Reaktion auf die starken gesellschaftlichen Veränderungen den Staat wie die Gesellschaft als Akteure mit unterschiedlichen Rollen die gemeinsam die „gute Regierung bilden“, vgl. Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, Berlin 2018.

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– Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse im Behördenhandeln nach außen. An die Stelle der Behörde lässt sich auch der Staat setzen. Der Vorschlag führt also die Linie eines offenen und übergreifenden Verständnisses fort.9 Offenheit sollte auch bei der Bezeichnung dieses Themenfeldes herrschen. Behavioral Administration, Psychological State, Emotional States, Psycho-Regulierung, Rechtsethologie, verhaltenswissenschaftlich-basierte Steuerungswissenschaft – wichtig ist ein Begriff, der die Aufmerksamkeit auf aktuelle Entwicklungen, große Herausforderungen und nützliche Potentiale lenkt und notwendige rechtswissenschaftliche Diskussionen anleitet und provoziert. Die eine gute Lösung scheint noch nicht gefunden. Der Themenstrang wird durchaus eingehend, aber von zu wenigen begleitet,10 um wissenschaftlich wie in der Praxis eine größere, die adäquate Wirkungsbreite zu erzielen. Getrieben wurde die neuere Entwicklung zunächst von der Verhaltensökonomie, die Erkenntnisse in neuer Qualität und großer Breite zur Verfügung stellt.11 Darauf setzt die Digitalisierung vielfach auf, was zu gewaltigen Veränderungen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und zu einem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit führt.12 Staat und Verwaltung bewegen sich mehr und mehr in einem „feindlichen Umfeld“. Gemeinsame Überzeugungen, Strukturen und Regeln einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, auf die Bezug genommen werden könnte, sind mehr und mehr verloren gegangen. Eine Vielzahl von Konflikten werden in den stetig sich erweiternden Spektren der Individualisierung und Digitalisierung ausgefochten (alt gegen jung, Stadt gegen Land, digital gegen analog, Freiheit gegen Sicherheit, Weltoffenheit gegen Fremdenhass, Auto vs. andere Verkehrsträger, Mietwohnung und Eigenheim, Kosmopolitismus vs. Ortsverbundenheit, Selbständigkeit vs. Familienbindung),13 West gegen Ost.14 Das Umfeld von Verwaltung wird immer mehr emotionalisiert (Funktionsweise der Medien).15 Angriffe auf den Staat, die Verwal-

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Vgl. auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010. Z. B. Hermann Hill, Die Kunst, in der Krise neu aufzubauen, DÖV 2021, 465 ff.; Ulrich Smeddinck, Psycho-Regulierung – Schrecknis, Ressource, Praxis, Aufgabe, DÖV 2020, 253 ff.; Peter Collin/Robert Garot/Timopn de Groot, Bureaucracy and Emotions – Perspectives across Disciplines, Administory 3/2018, 4 ff.; Margrit Seckelmann/Wolfram Lamping, Verhaltensökonomischer Experimentalismus im Politik-Labor, DÖV 2016, 189 ff. 11 Z. B. Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2016; Richard H. Thaler, Misbehaving, München 2018. 12 Utz Schliesky, Digitalisierung – Herausforderung für den demokratischen Verfassungsstaat, NVwZ 2019, 693 ff. 13 Thomas Heilmann/Nadine Schön, Neustaat – Politik und Staat müssen sich ändern, 2. Aufl., München 2020, S. 43; Hübl (Fn. 2), S. 133 ff. 14 Dirk Oschmann, Wie sich der Westen den Osten erfindet, FAZ v. 4. 2. 2022, S. 13. 15 Oscar W. Gabriel/Jürgen Maier, Regieren und Emotionen, in: Karl-Rudolf Korte/Martin Florack (Hrsg.), Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden 2021, S. 1 ff. 10

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tung und die Funktionsträger in Politik, Feuerwehr und Polizei nehmen dramatisch zu.16 Psychologische Angebote für Polizisten werden ausgeweitet.17 Der Soziologe Andreas Reckwitz hat eine Gegenwartsdeutung mit weitreichenden Konsequenzen formuliert: „Namentlich die tiefgreifende Digitalisierung der Alltagskulturen seit den 2000er-Jahren hat die ,Gesellschaft der Singularitäten‘ erst recht expandieren lassen. Jedes Individuum ist nun zum Zentrum seiner ganz eigenen, auf es zugeschnittene Kommunikationsströme geworden. Jeder einzelne hat seinen ganz eigenen Zugang zur Welt, den er höchstens mit ein paar Gleichgesinnten teilt. Dass sich hier alle auf eine gemeinsame Weltsicht einigen und Verpflichtungen füreinander empfinden könnten, scheint kaum realistisch.“18 In der Konsequenz nimmt der rationale Diskurs, das Interesse am rationalen Diskurs ab. Selbst Jürgen Habermas glaubt nicht mehr an die inklusive Wirkung des rationalen Diskurses, da es die gemeinsam geteilte Öffentlichkeit nicht mehr gibt.19 In Experimenten konnte belegt werden, dass zusätzliches Wissen eine vorhandene Polarisierung sogar verschärfen kann. Ein Mehr an Aufklärung kann zu gesteigerten Abwehrreaktionen führen.20 Der zwanglose Zwang des besseren Arguments wird vom universellen Anspruch zu einem Milieu- und Nischenphänomen unter anderen.21 Auch hier gilt es, eine Zeitenwende anzuerkennen – mindestens im Problembewusstsein – und nach Folgerungen zu fragen. Die Verwaltung ist darauf schlecht vorbereitet. Es wird Empathie erwartet, wo der Staat sich nicht zuständig sieht. Nach dem terroristischen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz an der Berliner Gedächtniskirche am 19. Dezember 2016 fühlten sich Betroffene von der Verwaltung allein gelassen, vermissten Zuwendung und Empathie. Noch fünf Jahre später wird von einem Anwalt der Opfer in einem Brief an Bundespräsident Steinmeier bemängelt, dass das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales „keine Hilfsangebote (unterbreitet, US) hat an die, die noch immer seelisch unter den Attentatsfolgen leiden. Keine traumathera-

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Morten Freidel, Beschimpft, bedrängt, bespuckt, FAS v. 6. 2. 2022, S. 4. Albes, Jens/Wolfgang Jung, Die Arbeit von Polizeipsychologen wird immer wichtiger, Tagesspiegel-Online v. 3. 2. 2022, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/tod-und-trauer-ge hoeren-dazu-die-arbeit-von-polizeipsychologen-wird-immer-wichtiger/28036474.html, abgerufen am 7. 2. 2022. 18 Andreas Reckwitz, Die Pflicht ruft, Die Zeit v. 16. 12. 2021, S. 6. 19 Jürgen Habermas, Überlegungen zu Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit, in: Martin Seeliger/Sebastian Sevignani (Hrsg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?, Leviathan Sonderband/37/2021, S. 470, 497; zu neuen Formen kollektiver Willensbildungsprozesse: Christine Lafont, Unverkürzte Demokratie, Berlin 2021. 20 Maaz (Fn. 2), S. 139 und 143; vgl. auch Bernhard Leidner/Linda R. Tropp/Brian Lickel/ Mengyao Li, Politische Psychologie von Gruppen, S. 295, 297 ff. und Leonie Huddy/Raynee Gutting/Stanley Feldman, Intergruppenvorurteile und Stereotype, S. 315, 323, beide in: Sonja Zmerli/Ofer Feldman (Hrsg.), Politische Psychologie, 2. Aufl., Baden Baden 2022. 21 Maximilian Probst/Ulrich Schnabel, Was Experten lernen müssen, Die Zeit v. 25. 4. 2022, S. 31. 17

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peutischen Möglichkeiten. Nicht mal Unterstützung in Streitereien mit den Krankenkassen um die Kosten therapeutischer Behandlungen.“22 Das ist ein extremes Beispiel. Aber es markiert einen Trend, dass der Staat direkter mit individuellen Erwartungen konfrontiert wird. Anliegen und Bedürfnisse, die der privaten Sphäre zugeordnet waren, werden an den Staat herangetragen, mit der Erwartung, eingehend zu reagieren.23 Der Staat soll Empathie zeigen, ja erlebbar machen. Aufgaben, an die keiner gedacht hat, werden in Reaktion auf gesellschaftlichen Wandel überraschend zu staatlichen Aufgaben (wie Heimat24 und Einsamkeit25). Vom Ausgangspunkt Gefahrenabwehr reicht das Spektrum nun bis zu „wo sich Menschen wohl, akzeptiert und geborgen fühlen“.26 Digitalisierung und Vereinzelung scheinen das Verlangen nach einem nahbaren Staat zu schüren, der wie ein privater Kontakt Zuwendung gewähren und individuelles Eingehen liefern soll. Die Politik nimmt diese Themen auf, trifft inhaltliche wie organisatorische Entscheidungen. Die Verwaltung unternimmt erste Versuche, darauf zu reagieren, versucht, wenn sie zeitgemäß handelt, sich in diese neue Erwartungswelt hinzufinden, fällt in alte routinierte Muster zurück, stolpert zuweilen, probiert neue Handlungsformen aus.27 So gibt es mittlerweile einen Gedenktag für Terroropfer und einen Beauftragten der Bundesregierung für die Anliegen von Terroropfern und Hinterbliebenen von terroristischen Straftaten im Inland.28 Insgesamt stehen Staat und Verwaltung vor einem großen Schritt, einer großen Herausforderung – Handlungsfelder und know-how zu erschließen, die neben der Kerntätigkeit liegen, verbindliche Entscheidungen zu treffen (Luhmann)29 – hin zur Behavioral Administration.30

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Werner van Bebber, Im Herzen, Der Tagesspiegel v. 18. 12. 2021, S. 3. Kritisch: Juli Zeh/Jochen Bittner, Warum sind Sie besorgt, Juli Zeh? Die Zeit v. 5. 1. 2022, S. 10. 24 Susanne Scharnowski/Maria Fiedler, „Die Politik hat auf Ängste reagiert“, Tagesspiegel-Online v. 20. 5. 2022; Largo (Fn. 2), S. 48 und 142. 25 Diana Kinnert, Die neue Einsamkeit, Hamburg 2022; Largo (Fn. 2), S. 128 f.; Manfred Spitzer, Einsamkeit – Die unerkannte Krankheit, 2. Aufl., München 2019. 26 Sandra Kegel, Das Gegenteil von Einsamkeit, FAZ v. 4. 2. 2022, S. 9. 27 Vgl. insbesondere unten unter IV. 28 Bundesbeauftragter, Abschlussbericht des Bundesbeauftragten für die Anliegen von Opfern und Hinterbliebenen von terroristischen Straftaten im Inland, Berlin 2021; zu den Konsequenzen bei der Polizei: Cay Dobberke/Alexander Fröhlich, Schnell im Einsatz, Der Tagesspiegel v. 10. 6. 2022, S. 7. 29 Niklas Luhmann, Die Grenzen der Verwaltung, Berlin 2021, S. 19. 30 Zur Bedeutung der Psychologie für die Verwaltungswissenschaft bereits vor knapp 60 Jahren: Luhmann (Fn. 29), S. 28. 23

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III. Nudging und Wirksam Regieren Nudging bezeichnet einen Ansatz der Verhaltensbeeinflussung, der von Regierungen in -zig Ländern/Demokratien weltweit genutzt wird. Es geht um Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne Verhaltensoptionen durch Verbote auszuschließen oder durch wirtschaftliche Anreize stark zu verändern. Es geht um ein Regulieren von Verhalten durch Impulse, die von den Adressaten zugleich leicht und ohne großen Aufwand zu umgehen sein sollen.31 Anlass sich dem Ansatz überhaupt aus rechtswissenschaftlicher Sicht zu widmen, ist der Umstand, dass der Staat mit anderen Ansätzen der Regulierung von Verhalten keineswegs im gewünschten Umfang die gewünschten Steuerungsziele erreicht. Deshalb ist vorschnelle Kritik ja auch so kurzsichtig.32 Beredtes Beispiel ist die Corona-Pandemie, in der in Deutschland keine Impfquote erreicht werden konnte, die einen unkomplizierteren und zeitlich weniger ausufernden und folgenreichen Umgang mit der Virus-Krankheit ermöglicht hätte. Die Folge davon war, dass die Politik ihre Ansage, auf eine Impflicht zu verzichten, wieder kassiert hat und dann nach dem Scheitern einer Impfpflicht in der Spätphase eine Info-Werbe-Kampagne fürs Impfen gestartet hat, von der man weiss, dass die Wirkung gering ist. „Doch wie erreicht man die Unsichtbaren? (…) Das geht nicht mit Plakatkampagnen, Infobroschüren oder Appellen, sondern nur durch persönlichen Kontakt und Vertrauen. ,Wir müssen in die sozialen Milieus rein, brauchen Mittler vor Ort, die Vertrauen genießen‘ (…).“33 Die Nutzung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse in einer großen Bandbreite in Deutschland leidet darunter, dass schnell nach bekannt werden der Ansatz als „Psychotricks“ gelabelt und als manipulativ skandalisiert wurde. Die zögerlichen und zunächst überwiegend ablehnenden Reaktionen in der Rechtswissenschaft verdeutlichen nur die effektive Wirkung einer ersten Setzung.34 Die Intention der Nudge-Erfinder, dem Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein, und dem Verhaltensökonomen Richard H. Thaler, dem für sein wissenschaftliches Werk zwischenzeitlich der Nobelpreis zuerkannt wurde, betont die Freiheitlichkeit 31

Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2009, S. 15; Ulrich Smeddinck, Regulieren durch „Anstoßen“ – Nachhaltiger Konsum durch gemeinwohlverträgliche Gestaltung von Entscheidungssituationen? Die Verwaltung 2011, 375 ff.; Ulrich Smeddinck, Der Nudge-Ansatz – eine Möglichkeit, wirksam zu regieren?, ZRP 2014, 245 f. 32 Vgl. Ulrich Smeddinck/Basil Bornemann, Verkehr, Mobilität, Nudging – Zugleich zum Stand von Regulieren durch Anstoßen in Deutschland, DÖV 2018, 513 ff.; kritisch: Friederike Simone Kunzendorf, Das Nudging-Konzept zwischen Selbstbestimmungsfreiheit und Rechtsstaatsprinzip, 2021. 33 Katharina Menke/Ulrich Schnabel, Streiten wir über die Falschen?, Die Zeit v. 16. 12. 2021, S. 35, 36. 34 Bertram Scheufele, Priming, Baden-Baden 2022; Christa Kolodej, Priming – Stärkende Räume entstehen lassen: Eine Kernkompetenz für Beratung, Verhandlung und Mediation, Wiesbaden 2022.

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und Transparenz des Ansatzes. Die Bundesregierung knüpft daran an und hält am Leitbild des Bundesbürgers fest, der mündig ist und überlegte Entscheidungen trifft. In dem Sinne sind eine Reihe von Forschungs-Aktivitäten durchgeführt worden.35 Über den zwischenzeitlich gemeldeten Aufbau einer Nudge-Unit im Bundesjustizministerium lässt sich im Internet kaum etwas finden. Am ehesten scheint sich die rechtspolitische Initiative zur Umgestaltung von Cookie-Bannern dem zuordnen zu lassen: „Wir wollen das Ablehnen von Cookie-Einstellungen künftig genauso leicht wie das Einwilligen machen.“36 In einer Zeit, in der Teile der Gesellschaft erhebliche Energien darauf verwenden, vermeintliche Verschwörungen zu enttarnen und über angebliche Manipulationen aufzuklären, liefe eine politische Agenda, die auf eine subtile Verhaltensbeeinflussung abzielt, angreifbar und zum Feindbild wird, Gefahr, delegitimierend und destabilisierend zu wirken. Vor dem Hintergrund ist der Nudge-Ansatz mit seinen Annahmen und Einsichten eher Inspirationsquelle und eine Regulierungsressource in dem Sinne, dass dieses Wissen zur Optimierung bestehender Regulierungsansätze genutzt wird.37 Offenbar zeitlich parallel setzte die letzte Bundesregierung mit dem Programm „Wirksam Regieren“ insofern anders an, als das Label Nudging vermieden, die Evidenzbasierung38 betont und die Resonanz von Bürgerinnen und Bürgern bereits in der Entwicklungsphase von Regulierungsansätzen gesucht wird. Unter den Vertrauenerweckenden Signalwörtern „Verstehen, Entwickeln, Testen“ wird vermeldet, dass „Wirksam regieren (…) seit 2015 als erstes Politiklabor in der Bundesregierung wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Politik (übersetzt, US). Das Referat setzt sich zusammen aus Implementationsexperten und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen wie Psychologie, Bildungsforschung, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Mit empirischen Methoden werden Lösungen entwickelt und unter realistischen Bedingungen praktisch getestet. ,Wirksam regieren‘ arbeitet dabei eng und partnerschaftlich mit Experten und Fachleuten aus Wissenschaft, Ministerien und Behörden sowie mit Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Das kommt dem Bedürfnis nach Beteiligung und Kontrolle am und im Regieren stärker entgegen.“39 Regu-

35 Vgl. auch Ulrich Smeddinck, Workshop „Nudge-Ansätze beim nachhaltigen Konsum: Konsultationen zu sechs Interventionen zum ,Anstoßen‘ nachhaltigen Konsums“ – ein Bericht zur Veranstaltung im Bundesumweltministerium am 16. März 2016 in Berlin, EurUP 2016, 160 ff. 36 So Staatssekretär Christian Kastrop. Vgl. Dpa/AFX, ’FAS’: Justizministerium will Cookie-Banner umgestalten, https://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2021-01/51750676 -fas-justizministerium-will-cookie-banner-umgestalten-016.htm, abgerufen am 29. 6. 2022. 37 Smeddinck/Bornemann (Fn. 32), DÖV 2018, 513 ff. 38 Eingehend Sabine Weiland, Evidenzbasierte Politik zwischen Eindeutigkeit und Reflexivität, TATuP 2013, 9, 10 ff. 39 Vgl. Rosanvallon (Fn. 8), S. 332 ff.

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lierung soll konsequent auf Daten und Erkenntnisse aufsetzen.40 Dazu zählen selbstverständlich auch verhaltenswissenschaftliche Einsichten. Die hier behandelten Regulierungsthemen sind denkbar breit: „Warnhinweis zum Kleinanlegerschutz, Klare Berufsbezeichnung für unabhängige Anlageberatung, Patientensicherheit im Krankenhaus, Masernschutz, Zufriedenheit mit behördlichen Dienstleistungen, Formularlabor Einkommensteuer, Lebensdauerlabel für Elektroprodukte, Recht verständlich machen.“41 Im Koalitionsvertrag der amtierenden Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP lauten einschlägige Passagen: „Die Verwaltung soll agiler und digitaler werden. Sie muss auf interdisziplinäre und kreative Problemlösungen setzen.“42 Und: „Wir wollen die Qualität der Gesetzgebung verbessern. Dazu werden wir neue Vorhaben frühzeitig und ressortübergreifend, auch in neuen Formaten, diskutieren. Wir werden dabei die Praxis und betroffene Kreise aus der Gesellschaft und Vertreterinnen und Vertreter des Parlaments besser einbinden sowie die Erfahrungen und Erfordernisse von Ländern und Kommunen bei der konkreten Gesetzesausführung berücksichtigen. Im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens soll die Möglichkeit der digitalen Ausführung geprüft werden (Digitalcheck). Wir werden ein Zentrum für Legistik errichten.“43 Wie das Zentrum ausgestaltet sein soll, konnte die Bundesregierung im Frühjahr 2022 (noch) nicht sagen.44 Ein solches Zentrum ist allerdings nicht denkbar, wenn dort nicht die Aktivitäten im Bereich „Nudge-Unit“ und „Wirksam regieren“ mit integriert werden.45 Die britische Regierung geht einen anderen Weg. In Großbritannien wurde die seit 2010 bestehende Nudge-Unit von der britischen Regierung gerade verkauft. Mit 250 Mitarbeitern, Zweigstellen in den USA, Singapur, Kanada und Frankreich, Beratungstätigkeit in mehr als 50 Ländern, einem Umsatz von 21 Millionen Pfund und 2,3 Millionen Pfund Gewinn in 2021 wird die Einheit von der Nesta-Stiftung/National Endowment for Science, Technology and the Arts übernommen, die zuvor schon Miteigentümerin war. Angestrebt wird die Verbindung der angewandten Verhaltenswissenschaft mit neuen innovativen Methoden wie Data Science, Sozialpsychologie und kollektiver Intelligenz.46

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Vgl. Heilmann/Schön (Fn. 13), S. 236; vgl. auch Dominik Kawa, Was steht dem Recht im Weg?, FAZ v. 26. 1. 2022, S. N 3. 41 BT-Drs. 19/13042, S. 4. 42 Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, Berlin 2021, S. 9, https ://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173ee f9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1, abgerufen am 29. 6. 2022. 43 Koalitionsvertrag (Fn. 42), S. 9; vgl. auch Armin Nassehi, Alles sofort? Das geht nicht, Die Zeit v. 24. 10. 2019, S. 54. 44 Vgl. hib – heute im bundestag Nr. 181 v. 21. 4. 2022, S. 4. 45 Vgl. auch unten unter V. 46 Philip Plickert, Schubser ins bessere Leben, FAZ v. 14. 12. 2021, S. 18.

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Das ist nicht eindeutig ein Vorbild. Beide Aktivitäten verweisen vielmehr auf die gestiegene praktische Relevanz dieser Ausprägungen einer weit verstandenen Behavioral Administration. So überrascht es nicht, dass der Soziologe Andreas Reckwitz Nudging bereits als Regierungstechnologie bezeichnet, die wie selbstverständlich als Option der Politik neben gesetzlichen Regelungen steht, die Regelungsadressaten direkt oder indirekt steuern. So beschreibt er Nudging: „Durch indirekte Anreize einerseits, Hemmnisse anderseits wird ein bestimmtes – zum Beispiel ökologisches oder gesundheitsbezogenes – Verhalten nahegelegt, ohne dass es jedoch unmittelbar normiert würde. Hier setzt man nicht auf die moralische Verpflichtung, sondern auf das rationale Kalkül der Individuen.“47 Die Einordnung deckt sich mit Empfehlungen von Verhaltensökonomen, die Nudging nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung herkömmliche Steuerungsformen betrachten und im weiteren kontrollierte Experimente empfehlen, um das enorme Potential zu erschließen und das kollektive Verhalten ohne Zwang und höhere Kosten zu verändern.48 Resümierend lässt sich hier sagen, dass die Aufmerksamkeit für praktische Anwendungen und der damit verbundenen Vorteile die erste Empörung und Skandalisierung weitgehend verdrängt hat. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien hat sich anderen Themen zugewendet. Regulierung verliert nach der Pandemie und unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges wieder an Interesse.

IV. Ausprägungen der Behavioral Administration in Standortauswahlgesetz und Standortauswahlverfahren Das Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle (Standortauswahlgesetz – StandAG)49 regelt nach § 1 Abs. 1 das Standortauswahlverfahren. Mit dem Standortauswahlverfahren soll in einem partizipativen, wissenschaftsbasierten, transparenten, selbsthinterfragenden und lernenden Verfahren für die im Inland verursachten hochradioaktiven Abfälle ein Standort mit der bestmöglichen Sicherheit für eine Anlage zur Endlagerung nach § 9a Abs. 3 S. 1 des Atomgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland ermittelt werden (§ 1 Abs. 2 S. 1). Auf ein Gesetz zu schauen, das verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt, dazu animiert und anregt, bietet die Chance, konkrete Beispiele zu liefern und die Frage zu reflektieren, ob zur Behavioral Administration gesetzlich verpflichtet werden sollte. 47

Reckwitz (Fn. 18), Die Zeit v. 16. 12. 2021, S. 6. Vgl. Christian Gravert, Ein Stupser für die Umwelt, FAZ v. 27. 9. 2021, S. 18; vgl. auch John Beshears/Harry Kosowsky, Nudging – Progress to date and future directions, Organizational Behavior and Human Decision Processes, 2020, 3 ff. 49 Vom 5. Mai 2017 (BGBl. I S. 1074), zuletzt geänd. durch Gesetz vom 22. März 2023 (BGBl. I Nr. 88). 48

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1. Partizipatives Verfahren und Narrative Die Verpflichtung auf ein Verfahren, das sich in besonderer Weise als partizipativ auszeichnet, drückt sich zum einen im Regelungsdesign des Standortauswahlgesetzes aus, dass eine große Zahl neuartiger Formate der Öffentlichkeitsbeteiligung aufbietet.50 Dahinter steht die Überzeugung, dass Konflikte, die viele betreffen und interessieren, besser in Formaten im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens mit seinen vielfältigen Einschränkungen und Beschränkungen bearbeitet werden können. Außerdem wird als Grund für das bisherige Scheitern, ein Endlager zu realisieren, ein allzu hoheitlich-technokratisches Herangehen in der Vergangenheit gesehen. Zum anderen wird aus der Zielsetzung eines partizipativen Verfahrens auch die Folgerung abgeleitet, die staatliche Seite bzw. die Akteure des Standortauswahlverfahrens dürften nicht darauf warten, wer kommt und sich in den gesetzlich vorgesehenen Formaten beteiligt. Vielmehr soll insbesondere das zuständige Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) auch dafür sorgen, dass mehr Menschen, viele, sich beteiligen. Die Ausweitung der Öffentlichkeitsbeteiligung ergibt bloß Sinn, wenn sie aktiv genutzt und gelebt wird. Immer wieder entstand der Eindruck, dass sich zu wenige beteiligen. Doch wie kann dem Beteiligungs-Paradox51 entgegengewirkt werden, wonach Gelegenheiten zur Einflussnahme versäumt und Beteiligungsforderungen erst gestellt werden, wenn die eigene Betroffenheit erlebt wird, es im Verfahren aber für Weichenstellungen eigentlich zu spät ist? Zudem wird es schwieriger von Entwicklungen und Projekten zu erfahren, je weniger eine gemeinsame nationale Öffentlichkeit noch existiert und je stärker der Einzelne durch Algorithmen von anderen, allgemeinen Themen abgeschnitten wird. Mit dem einladenden Slogan „Das letzte Kapitel schreiben wir gemeinsam“ suchte das BASE auf das laufenden Standortauswahlverfahren aufmerksam zu machen, Interesse zu wecken und zur Beteiligung der Öffentlichkeit zu motivieren. „Tafeln seien nach dem Zufallsprinzip in der Bundesrepublik verteilt worden, um die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, dass die Beteiligung nun losginge.“52 Im Interesse, Wirkung zu erzielen, wurden verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt und der Slogan als Narrativ formuliert. Ein Narrativ ist eine bewusst gewählte, sprachlich vermittelte Abfolge von Ereignissen, die auf andere wirken, deren Denken und Handeln beeinflussen soll. In einer Meta-Analyse von insgesamt 14 experimentellen Studien konnte bestätigt werden, dass Narrative insgesamt überzeugender auf die Meinungen und Handlungsabsichten der Probanden wirken als vergleichbare

50 Ulrich Smeddinck, Die Öffentlichkeitsbeteiligung im Standortauswahlverfahren – experimentell, resilient und partizipationsfähig?, in: Winfried Kluth/Ulrich Smeddinck (Hrsg.), Bürgerpartizipation – neu gedacht, Halle an der Saale 2019, S. 149 ff. 51 Ruthard Hirschner, Beteiligungsparadox in Planungs- und Entscheidungsverfahren, Forum Wohnen und Stadtentwicklung 2017, 323 ff. 52 Vgl. https://www.pnp.de/lokales/landkreis-freyung-grafenau/grafenau/Aufregung-umdas-letzte-Kapitel-3801572.html, abgerufen am 19. 4. 2022.

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konventionelle Kommunikation in Form von schlichter Faktenpräsentation, von Argumenten und Erklärungen.53 Ersichtlich geht es darum, auf Stimmungslagen in der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen und Menschen zur Beteiligung zu bewegen. Umgekehrt ist „eine Teilnahme der Regierung sowie der gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften am öffentlichen Diskurs nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern notwendig und gewünscht.“54 Zwar wird problematisiert, dass der „Staat (…) in einem horizontalen Verhältnis an den Bürger heran(tritt, US) – als scheinbar gleichberechtigter Kommunikator, ohne Machtgefälle, Befehl und Zwang.“55 Und weiter: „Dabei darf die rechtliche Unverbindlichkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesen Versuchen der geistigen Einflussnahme um eine Form staatlicher Herrschaftsausübung handelt, bei der rechtliche Konflikte vorgezeichnet sind.“56 Allerdings wird höchstrichterlich bestätigt, dass Aufklärung Teil der Kompetenz zur Staatsleitung ist.57 Der Einsatz von Narrativen kann geboten sein, um Menschen emotional anzusprechen, um überhaupt Öffentlichkeit herzustellen.58 Die Möglichkeiten erscheinen allerdings ambivalent: Es besteht die Chance, dass eine kritische Auseinandersetzung der Sicherheitsbehörde mit sich selbst stimuliert wird. Nicht auszuschließen ist aber auch das Risiko, dass die Kritik zu Frustrationen und Abschottung der Behörden-Mitarbeitenden führt. Anne Eckhard sieht als aufmerksame Beobachterin in diesem Themenfeld die Problematik, dass substanzielle Kritik durch Campaigning, Polemik, reine Emotionalität und Fake News verdrängt wird. Dem lässt sich mit Verweis auf Erfolge und Anerkennung entgegenwirken.59

53 Joachim Trebbe, Wie Framing und Storytelling Menschen beeinflussen, https://www.ta gesspiegel.de/gesellschaft/medien/wie-effektiv-sind-narrative-wie-framing-und-storytellingmenschen-beeinflussen/26079004.html, abgerufen am 8. 7. 2022. 54 Tristan Barczac, Staatliche Öffentlichkeitsarbeit aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Juliana Raupp/Jan Niklas Kocks/Kim Murphy (Hrsg.), Regierungskommunikation und staatliche Öffentlichkeitsarbeit, Wiesbaden 2018, S. 47, 51 unter Verweis auf BVerfGE 44, 125, 147; vgl. Maike Weißpflug/Lukas Kübler/Jochen Ahlswede/Ina Stelljes/Patrizia Nanz, Experimente erwünscht: Öffentlichkeitsbeteiligung und staatlichen Verantwortung bei der Endlagersuche in Deutschland, FJSB+plus 2/2022, 5. 55 Felix Drefs, Die Öffentlichkeitsarbeit des Staates und die Akzeptanz seiner Entscheidungen, Baden-Baden 2019, S. 29 m. w. N. 56 Drefs (Fn. 55), S. 79 mit Verweis auf BVerfGE 20, 56, 99; 44, 125, 140. 57 BVerfGE 138, 102, 114. 58 Eingehend: Ulrich Smeddinck/Maximilian Roßmann, Narrative als Regulierung? Grundlagen, Ansätze, Verfassungsrecht, DVBl. 2022, 137 ff. 59 Anne Eckhardt, Sicherheitsaufsicht bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle, Präsentation anlässlich des Tages der Vorträge der ITAS-Endlagerforschung, 21. Januar 2022 (unveröffentlicht).

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2. Sicherheitskultur vs. juristische Fehlersuche Aus organisationspsychologischer Sicht ist die Entwicklung einer Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft angezeigt, um bei der Auswahl eines Standortes und beim Betrieb eines Endlagers die bestmögliche Sicherheit zu gewährleisten. Nach § 1 Abs. 2 S. 1 StandAG soll mit dem Standortauswahlverfahren in einem partizipativen, wissenschaftsbasierten, transparenten, selbsthinterfragenden und lernenden Verfahren für die im Inland verursachten hochradioaktiven Abfälle ein Standort mit der bestmöglichen Sicherheit für eine Anlage zur Endlagerung nach § 9a Absatz 3 Satz 1 des Atomgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland ermittelt werden. Auch wenn sich dieser Zweckbestimmung60 rechtlich nicht die Forderung entnehmen lässt, dass eine Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft entwickelt werden müsste, regen die Wegweisungen durch die Attribute „lernend“ und „selbsthinterfragend“ jedenfalls dazu an, ein solches System in diesem Einsatzbereich zu etablieren.61 In diese Richtung weist auch die unverbindliche Gesetzesbegründung.62 Eine Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft umfasst mehr als eine Hochzuverlässigkeitsorganisation. Letztere ist durch „Anforderungen wie organisationales Lernen, Selbsthinterfragung sowie eine hohe Fehlerkultur gekennzeichnet.“63 Aus den Attributen partizipativ, wissenschaftsbasiert, transparent und selbsthinterfragend leitet der Organisationspsychologe Oliver Sträter als Konsequenz die Aufgabe der Entwicklung einer Hochzuverlässigkeitsgemeinschaft ab. Mit Blick auf den Gesetzeszweck argumentiert er, dass dem StandAG nicht zu entnehmen sei, „inwieweit diese Anforderungen spezifische Anforderungen an die Betreiberorganisation sind oder ob alle Akteure (des Standortauswahlverfahrens, US) nach den Prinzipien einer Hochzuverlässigkeitsorganisation agieren müssen.“64 Der Regelungsgehalt lässt sich im Sinne von erweiterten Funktionen prinzipieller Regelungen als Innovationsstütze interpretieren, die eben gerade zu Innovationen anregen soll.65 Aus sicherheitstechnischer Sicht argumentiert er, „dass eine Organisation innerhalb ihres Kontextes nur so gut funktionieren kann, wie das Umfeld es dieser Organisation erlaubt.“66 Demnach hätten alle Akteure des Standortauswahlverfahrens organisations60 Vgl. Ulrich Smeddinck, Zur Funktion normierter Prinzipien im Umweltrecht – untersucht am Beispiel der Produktverantwortung, NuR 2009, 304 ff. 61 Vgl. Ulrich Smeddinck, Lernen ohne Ende? Das lernende Standortauswahlverfahren nach § 1 Abs. 2 S. 1 StandAG (als Ausgangspunkt für Long-term-Governance), in: Ulrich Smeddinck/Klaus-Jürgen Röhlig/Melanie Mbah/Vinzenz Brendler (Hrsg.), Das „lernende“ Standortauswahlverfahren für ein Endlager, Berlin 2022, S. 85 ff. 62 BT-Drs. 18/11398, S. 47. 63 Oliver Sträter, Achtsamkeit und Fehlerkultur als notwendige Sicherheitsleistung, in: Bettina Brohmann/Achim Brunnengräber/Peter Hocke/Ana Maria Isidoro Losada (Hrsg.), Robuste Langzeit-Governance bei der Endlagersuche, Bielefeld 2021, S. 441, 453. 64 Sträter (Fn. 63), S. 441, 453. 65 Vgl. Smeddinck (Fn. 60), NuR 2009, 304, 310. 66 Sträter (Fn. 63), S. 441, 453.

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übergreifend an der Aufgabe mitzuwirken, gemeinschaftlich ein hohes, immer höheres Maß an Sicherheit zu gewährleisten. Das Kernelement der Fehlerkultur sei aber aus organisationspsychologischer Sicht infrage gestellt durch das juristische System. Nur wenn offen und rückhaltlos über Fehler gesprochen werden kann, kann optimal an der Sicherheit und damit verbundenen Fragen gearbeitet werden. Traditionell werden Fehler jedoch als Makel betrachtet und schamhaft verschwiegen.67 Dieser Effekt wird durch ein juristisches System verstärkt, dass an individuelle Verantwortlichkeit und Schuld anknüpft und ggf. sanktioniert.68 Im Verwaltungsrecht soll grundsätzlich die Vorwirkung des Rechtsschutzes dazu führen, dass Verwaltungsmitarbeiter besser arbeiten.69 Im Speziellen: „Durch Anordnung von Strafsanktionen versucht der Staat seine Präventionsmaßnahmen zu verstärken; gerade im Umgang mit dem Ungewissen oder nur teilweise Gewissen kann dies für die Beteiligten sehr gefährlich oder auch lähmend sein.“70 Da eine systemische Sichtweise auf Unfälle im juristischen System nicht verankert sei, fordert Sträter in der Konsequenz, „dass für den sicheren Betrieb eines Endlagers insbesondere das juristische System hinsichtlich des Umgang mit Fehlern und hin zu einem systematischen Verständnis von Fehlern entwickelt werden muss.“71 Das Thema variiert in inhaltlich zugespitzter Form das Verhältnis von Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz im Standortauswahlgesetz.72 Für die Akzentuierung der Öffentlichkeitsbeteiligung – und den Anspruch möglichst einen Konsens über die Standortauswahl zu erreichen –, hat die Mediation als Orientierung gedient. Möglichst viele Sachfragen und Konflikte sollen im Vorfeld einer gerichtlichen Entscheidung oder Überprüfung der Standortentscheidung geklärt und ausgeräumt werden. Dahinter steht die Überzeugung, dass komplexe konfliktbehaftete Projekte eher realisiert werden können, wenn der Kreis der Betroffenen größer gezogen wird und auf Augenhöhe nach Lösungen gesucht wird. Dazu braucht es eine gedeihliche At67 Sträter (Fn. 63), S. 441, 444 f. Illustrativ: „Bei den deutschen Behörden beklagt der Minister einen Mangel an Pragmatismus, einen Mangel an Mut. D ist ihm einfach gesagt, zu preußisch. Die Verwaltung ist zu ängstlich, immer in Sorge, etwas falsch zu machen. ,Wenn man das aufbrechen will, dann muss man die Verantwortung selber suchen‘, sagt er zu den CDU-Leuten. ,Also die Bereitschaft, selber Fehler zu machen, um die Dinge voranzubringen, und der Verwaltung damit ein Signal zu geben, wie weit man kommen kann, wenn man mutig ist.‘“ (Michael Bauchmüller/Roman Deininger, Ihr wollt es doch auch, SZ v. 11., 12. 6. 2022, S. 3). 68 Sträter (Fn. 63), S. 441, 455. 69 Martin Führ u. a., Evaluation von Gebrauch und Wirkung der Verbandsklagemöglichkeiten nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG), UBA-Texte 14/2014. 70 Fritz Nicklisch, Das Recht im Umgang mit dem Ungewissen in Wissenschaft und Technik, NJW 1986, 2287, 2288. 71 Sträter (Fn. 63), S. 441, 455; vgl. zum kommenden Hinweisgeberschutzgesetz: Andreas Austilat, Gepfiffen und verraten, Der Tagesspiegel v. 6. 7. 2022, S. 3. 72 Eingehend: Ulrich Smeddinck/Franziska Semper, Zur Kritik am Standortauswahlgesetz – Eine rechtswissenschaftliche Sicht auf gesellschaftliche Debatten, in: Achim Brunnengräber (Hrsg.), Problemfalle Endlager, Baden-Baden 2016, S. 235 ff.

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mosphäre, eine zugewandte Haltung, geeignete Formate der Begegnung. Typischerweise findet sich auch dieser Ansatz nicht in Reinform im Gesetz wieder. Allerdings würden die damit verbundenen Potenziale und Ressourcen zur Konfliktbewältigung gemindert, wenn – wie von einigen gefordert73 – auch diese Phase der Öffentlichkeitsbeteiligung von Gerichten auf etwaige Fehler durchkontrolliert werden könnte.74 Unweigerlich würden einzelne Beteiligte auf Fehler der Gegenseite „lauern“. Gerade eine solche strategisch-taktische Grundhaltung blockiert aber Vertrauen und Kreativität, die zur Lösung der eigentlichen Aufgabe (Sicherheit!) dringend gebraucht werden. Beide Beispiele unterstreichen eine wenig beachtete Problematik rechtlicher Regulierung. Nämlich, dass überkommene juristische Denk- und Vorgehensweisen gesetzlich geregelte Aufgaben konterkarieren – und dass die Problematik nicht aus der eigenen Disziplin heraus, sondern (nur) in der interdisziplinären Kooperation offengelegt und problematisiert werden kann. 3. Vertrauen und Misstrauen Das StandAG geht auch neue Wege, indem nicht mehr ausdrücklich nach Akzeptanz gefragt wird. Stattdessen wird Vertrauen und Konsens eine herausgehobene Stellung zugewiesen.75 In den Prinzipien der Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 5 Abs. 1 S. 1 wird als Ziel der Öffentlichkeitsbeteiligung festgeschrieben, eine Lösung zu finden, die in einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird und damit auch von den Betroffenen toleriert werden kann. Hierzu sind Bürgerinnen und Bürger als Mitgestalter des Verfahrens einzubeziehen (Satz 2). Die „Regelung“ resoniert mit der Aufgabenbeschreibung des pluralistisch zusammengesetzten Nationalen Begleitgremiums (NBG): die vermittelnde und unabhängige Begleitung des Standortauswahlverfahrens, insbesondere der Öffentlichkeitsbeteiligung, mit dem Ziel, so Vertrauen in die Verfahrensdurchführung zu ermöglichen. Angestrebt wird eine Übereinstimmung der Meinungen, die nicht nur faktisch vorliegen soll, sondern die aufgrund des Verbs „getragen“ auch in besonderer Weise qualifiziert sein soll. Es geht auch um die dahinterstehende innere Haltung, die im Grunde Zustimmung und Einwilligung voraussetzt. Insofern ist Vertrauen eine Ressource, die Zustimmung und Anerkennung vermittelt. Vertrauen ergibt

73 Volker Haug/Marc Zeccola, Neue Wege des Partizipationsrechts – eignet sich das Standortauswahlgesetz als Vorbild?, ZUR 2018, 75 ff. 74 Ulrich Smeddinck, Fn. 50, S. 149 ff. 75 Ulrich Wollenteit, StandAG, in: Walter Frenz (Hrsg.), Atomrecht, Baden-Baden 2019, § 5 Rz. 4 und § 8 Rz. 9; kontrastierend: Ursula Münch, Über den Umgang mit Risiken in der Politik, APuZ 2022, 40, 43.

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sich insbesondere aus (wiederholter) Begegnung, geteilten Werten und Identifikation.76 Vertrauen soll zu einer emotionalen wie rechtlichen Bindung führen.77 Auffällig ist, dass ein Begriff wie Vertrauen überhaupt im Gesetzestext auftaucht. Das ist vor allem als Reaktion auf die früheren konfliktbeladenen Auseinandersetzungen um die friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland zu verstehen. Auch mit dieser Formulierung, mit diesem innovativen Regelungselement NBG wollten Politik und Gesetzgeber belegen, dass das Standortauswahlgesetz nicht nur dem Namen nach, sondern in Haltung und Regelungsgehalt einen wirklichen Neustart der Endlagersuche bedeutet.78 Die Zielsetzung für die Tätigkeiten des NBG,79 Vertrauen in die Verfahrensdurchführung zu ermöglichen, ist allerdings ambivalent.80 Vertrauen wird gefasst als festes Überzeugtsein von der Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit einer Person bzw. einer Sache.81 Im Standortauswahlgesetz herrscht also die Grundüberzeugung vor, dass die Vertrauensbildung unterstützt werden soll. Zunächst soll damit anerkannt werden, dass es an Vertrauen mangelt82 bzw. der Gesetzgeber sich als lernend zeigt, wenn unter Beachtung der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen über die friedliche Nutzung der Kernenergie in Rechnung gestellt wird, dass staatliches Handeln für verbreitetes Misstrauen in der Bevölkerung verantwortlich gemacht wird. Damit unterstreicht der Gesetzgeber, dass durch die aufgeladenen und kontroversen Auseinandersetzungen um Kernenergie und Endlager durch Ausschreitungen und Exzesse auf staatlicher wie gesellschaftlicher Seite83 in der Vergangenheit die vertiefte Aufarbeitung des Geschehenen ein wünschenswertes Ziel ist, um als Gelingensbedingung die Realisierungschancen für ein Endlager zu verbessern. Misstrauische Regungen sind eher in einem Umfeld der Offenheit und Zugänglichkeit zu bezähmen.84 Das öffentliche Bekenntnis des ehemaligen Bundesumweltministers und seinerzeitigen Co-Vorsitzenden des NBG, Klaus Toepfer, „Gorleben hat Vertrauen zer76

Roman Seidl, Vertrauen bei der Entsorgung in Deutschland – Ergebnisse der bundesweiten Befragung, TRANSENS-Bericht 05, Hannover 2021, S. 38 f.; vgl. auch Probst/ Schnabel (Fn. 21), Die Zeit v. 25. 4. 2022, S. 31 f. 77 Kritisch: Florian Mühlfried, Misstrauen – Vom Wert eines Unwertes, Ditzingen 2019, S. 37. 78 Weißpflug/Kübler/Ahlswede/Stelljes/Nanz (Fn. 54), FJSB 2/2022, 1 ff. 79 Ulrich Smeddinck, Feigenblatt oder Wachhund mit Konfliktradar? – Das Nationale Begleitgremium nach § 8 Standortauswahlgesetz, in: Sabine Schlacke/Guy Beaucamp/Mathias Schubert (Hrsg.), Infrastrukturrecht – FS Erbguth, Berlin 2019, S. 501 ff. 80 Eingehend: Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, Frankfurt/M. 1994, S. 286, vgl. auch Mühlfried (Fn. 77), S. 27. 81 Vgl. Duden-Online, 26. 1. 2022. 82 Mittlerweile ein ubiquitäres Phänomen, vgl. Largo (Fn. 2), S. 162. 83 Anselm Doering-Manteuffel, Fortschrittsglaube und sozialer Wandel, in: Anselm Doering-Manteuffel u. a. (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss, Tübingen 2015, S. 83 ff. 84 Christoph Daniel Piorkowski, Zoom-Zombies, Der Tagesspiegel v. 19. 6. 2022, S. 17; Ute Frevert, Vertrauensfragen, München 2013, S. 16.

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stört“85 ist ein erster Schritt. Die Reaktionen auf die Verwendung des Begriffs Vertrauen in öffentlichen Veranstaltungen führt teilweise (noch) zu galligen Reaktionen.86 Weitergehend wird der Begriff des Vertrauens problematisiert und eine solche Zielsetzung angeprangert: „Der Regierte weiss keinen Unterschied mehr zu machen zwischen sich und der Regierung, einer Regierung, die seine Gedanken und Gefühle, seine Seele durchdrungen hat.“87 Außerdem fällt bei der wachen Wahrnehmung des Standortauswahlverfahrens auf, dass Ungeschicklichkeiten in Handlungen von Behördenmitarbeitern bzw. dann, wenn eigene Erwartungen von Vertretern der Zivilgesellschaft staatlicherseits nicht erfüllt werden, dass dann die Behauptung, wieder sei Vertrauen zerstört worden, als Munition in der Auseinandersetzung verwendet wird. Der Zerstörung von Vertrauen scheint die Ermöglichung von Vertrauen – permanent und deutlich im Obligo verharrend – hinterherzuhinken. Die Art und Weise wie das Vertrauen in den Gesetzestext eingeführt wird, deutet auch daraufhin, dass der Gesetzgeber – angesichts heftiger Kritik gegenüber dem Begriff der Akzeptanz und des damit negativ verknüpften Verdachtes der „bloßen“ Akzeptanzbeschaffung gegenüber dem StandAG 2013 lernend eine weniger anstößige, problembewusste Formulierung gewählt hat. Während in juristischen Zusammenhängen der Akzeptenzbegriff noch sorglos und unhinterfragt verwendet wird,88 wird in sozialwissenschaftlichen Publikationen demgegenüber der Begriff der Akzeptabilität stark gemacht.89 Akzeptabilität steht für ein Vorgehen, dass bestimmten fachlichen Standards gerecht wird und deshalb auf Anerkennung bzw. Vertrauen hoffen darf.90 Der sprachliche Gestus ist also weniger patriarchalisch-technokratisch.

85 Klaus Töpfer/Christoph Link, „Gorleben hat massiv Vertrauen zerstört“, Stuttgarter Nachrichten v. 10. 7. 2017, 27. 1. 2022, https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.klaus-toe pfer-im-interview-gorleben-hat-massiv-vertrauen-zerstoert.633e2ca3-aac3-49b6-9b6a-8fc12e b33ae5.html, abgerufen am 6. 7. 2022. 86 Vgl. Smeddinck (Fn. 79), S. 501, 506. 87 Mühlfried (Fn. 77), S. 37. 88 Vgl. Bodo Wiegand-Hoffmeister, Von der Akzeptanz des Rechts zum Recht der Akzeptanz? – Ein Diskussionsbeitrag mit Blick auf das Bürger- und Gemeindebeteiligungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern, in: Sabine Schlacke/Guy Beaucamp/Mathias Schubert (Hrsg.), Infrastrukturrecht – Festschrift für Wilfried Erbguth, Berlin 2019, S. 51 ff.; Alexander Schink, Bürgerakzeptanz durch Öffentlichkeitsbeteiligung in der Planfeststellung – Defizite und Verbesserungsvorschläge, ZG 2011, 226 ff. 89 Vgl. Elske Bechthold, Weshalb der Begriff der Akzeptabilität hilfreich ist, S. 82 ff.; Maria Rosaria Di Nucci, Akzeptanz oder Akzeptabilität? Plädoyer für eine Begriffsschärfung, S. 77, beide in: Ulrich Smeddinck (Hrsg.), Transdisziplinäre Entsorgungsforschung am Start – Basis-Texte zum transdisziplinären Arbeitspaket „DIPRO – Dialoge und Prozessgestaltung in Wechselwirkung von Recht, Gerechtigkeit und Governance“, TRANSENS-Bericht Nr. 2, Karlsruhe 2021. 90 Vgl. bereits Armin Grunwald, Zur Rolle von Akzeptanz und Akzeptabilität von Technik bei der Bewältigung von Technikkonflikten, TATuP 2005, 54 ff.

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Rechtswissenschaft91 wie Gesetzgeber haben diese neue Begriffswahl aufgenommen. Beachtlich ist, dass mit der Orientierung auf Vertrauen lediglich auf eine Traditionslinie der Demokratieentwicklung abgehoben wird.92 So wird andernorts Misstrauen durchaus als wichtige Ressource eingeordnet, die es gilt, anzuerkennen und im politischen System nutzbar zu machen.93 Ein stärkere Anerkennung des Misstrauens als durchaus berechtigte Haltung könnte womöglich zu einer Entkrampfung im Verhältnis der Akteure untereinander beitragen.94 4. Partizipationsbeauftragter Zu den weiteren Innovationen des Standortauswahlgesetzes, die aus der Sicht der Behavioral Administration bemerkenswert sind, gehört ein Partizipationsbeauftragter, der beim NBG angesiedelt und mit dem die Idee eines Konfliktradars eng verknüpft ist. Nach § 8 Abs. 5 beruft das Nationale Begleitgremium einen Partizipationsbeauftragten, der als Angehöriger der Geschäftsstelle die Aufgabe der frühzeitigen Identifikation möglicher Konflikte und der Entwicklung von Vorschlägen zu deren Auflösung im Standortauswahlverfahren übernimmt. Die Funktion ist angelehnt an die eines Mediators oder Konfliktmittlers, aus der Einsicht heraus, dass die Lösung von Konflikten unter Anleitung und Moderation eines neutralen Dritten sehr viel nachhaltiger zum Ziel führen kann als etwa die Entscheidung eines Konfliktes durch ein Gericht, wo im Normalfall eine Partei obsiegt und die andere verliert.95 Hier ist diese Rolle auf die Unterstützung und Entlastung der Öffentlichkeitsbeteiligung ausgerichtet. Dass der Partizipationsbeauftragte berufen wird, im Gegensatz zu anderen Menschen, die in der Geschäftsstelle arbeiten, verdeutlicht seine herausgehobene Position, die durch das Hinzuziehungsrecht nach Satz 2 und die Berichtspflicht nach Satz 3 konkretisiert wird. Auch wenn keine weiteren Ausführungen im Gesetz gemacht werden, kann auf konzeptionelle Vorarbeiten zurückgegriffen werden, die aus der Arbeit der Endlager-Kommission heraus entstanden sind. Konflikte werden nun von vornherein 91 Ulrich Smeddinck/Ulf Roßegger, Partizipation bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe – unter besonderer Berücksichtigung des Standortauswahlgesetzes, NuR 2013, 553; Rainer Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 2. Aufl., München 2012, § 42 Rz. 201 ff. 92 Vgl. Ute Frevert/Novina Göhlsdorf, Gefühle machen Geschichte, FAZ v. 28. 4. 2020, S. 9. 93 Vgl. Pierre Rosanvallon, Die Gegen-Demokratie, Hamburg 2017, S. 274; Lea Schulze, Nur zum Schein, Tagesspiegel v. 20. 4. 2022, S. 5. 94 Vgl. Ulrich Smeddinck, Standortauswahlgesetz und „Gegen-Demokratie“ – Der Rechtsrahmen der „Endlagersuche“ im Spiegel von Rosanvallons Demokratie-Analysen, VerwArch 2021, 490 ff. 95 Grundlegend: Wolfgang Hoffmann-Riem, Konfliktmittler in Verwaltungsverhandlungen, 1989, S. 20 ff., 47 ff.

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nicht als ungeliebte Störung, sondern als Treiber des Verfahrens aufgefasst.96 Sodann stellt die Tätigkeit des Partizipationsbeauftragten wohl den Gegenpol zur klassischen Konfliktentscheidung in Rechtsfragen vor den Gerichten dar. Mit dem Anknüpfen an psychische Befindlichkeiten und Emotionen wird der Blick geweitet. Die Psyche wird mit einem Eisberg verglichen, wo die sichtbare Spitze für die Faktenebene steht und unter der Wasseroberfläche ein riesiger, verborgener Teil – die Emotionen und Ängste – anzutreffen ist.97 Idealerweise unterstützt der Partizipationsbeauftragte die Konfliktbeteiligten dabei, aus dem strittigen Sachverhalt heraus eine bessere Lösung zu erarbeiten und so dem Gesamtziel der bestmöglichen Sicherheit noch näher zu kommen.98 Die Aktivitäten des Partizipationsbeauftragten sollen sich am Leitbild der stufenweisen Deeskalation ausrichten, wie es von der Endlager-Kommission entwickelt wurde.99 Der Partizipationsbeauftragte soll anstehende Konflikte in das nachfolgende Stufenmodell einordnen und die Beteiligten mit geeigneten Maßnahmen unterstützen, die Rückführung auf die jeweils niedrigere Eskalationsstufe zu ermöglichen.100 Interessant ist weitergehend noch das als Monitoring-Instrument gedachte sog. Konfliktradar.101 Es soll latente Spannungen sichtbar machen102 und auf diesem Wege zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen.103 Dessen Bedeutung wird aus der Einsicht heraus betont, dass Geschichte sich nicht einfach wiederholt, sondern dass von neuen Konfliktszenarien ausgegangen werden muss.104 Ggf. unterstützt der Beauftragte die Beteiligten mit Vorschlägen zum Umgang mit dem Konflikt. Die konkrete Aufgabe des Partizipationsbeauftragten besteht zunächst darin, die Verbindungen zwischen allen Akteuren des Standortauswahlverfahrens zu beschreiben. So sollen die vergangenen, gegenwärtigen und potenziellen zukünftigen Konflikte erkennbar werden. Dieses „Soziogramm“ soll der Partizipationsbeauftragte regelmäßig mit dem NBG besprechen und aktualisieren.105 Eine Abgrenzung der Aufgaben 96

Endlager-Kommission, Abschlussbericht, Berlin 2016, K-Drs. 268, S. 25; vertiefend: Smeddinck (Hrsg.), (Fn. 5). 97 Vgl. Alexei Makartsev, Das Virus des Misstrauens, Badische Neueste Nachrichten v. 4. 2. 2022, S. BLICKPUNKT; Hübl (Fn. 2), S. 73; Matthies (Fn. 1), Der Tagesspiegel v. 26. 9. 2022, S. 3. 98 Jörg Sommer, Der Partizipationsbeauftragte kommt, 24. 3. 2017, S. 2, http://www.bipar. de/der-partizipationsbeauftragte-kommt/. 99 Endlager-Kommission (Fn. 96), S. 126 f. 100 Sommer (Fn. 98), S. 3. 101 Vgl. auch Endlager-Kommission (Fn. 96), S. 126. 102 Vgl. auch Basil Bornemann/Thomas Saretzki, Konfliktfeldanalyse, in: Lars Holstenkamp/Jörg Radtke (Hrsg.), Handbuch Energiewende und Partizipation, 2018, S. 563 ff.; Sophie Kuppler/Elske Bechthold, Werte, Wissen und Interessen – Konflikte im Kontext der deutschen und Schweizer Endlagerpolitik, SuN 2022, 24 ff. 103 Hans Hagedorn, Die alte Konfliktschablone taugt nicht mehr, 27. 3. 2017, S. 1, http:// www.bipar.de/die-alte-konfliktschablone-taugt-nicht-mehr/. 104 Hagedorn (Fn. 103), S. 2. 105 Sommer (Fn. 98), S. 4.

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von NBG und Partizipationsbeauftragtem wird in dem Sinne vorgeschlagen, dass der Beauftragte dem NBG als neutrale Instanz berichtet. Das NBG dagegen soll in stärkerem Maße inhaltliche Positionen vertreten.106 Besonders hervorgehoben wird die Funktion des Partizipationsbeauftragten als Scharnier: Indem er mit allen Akteuren des Standortauswahlverfahrens zusammenarbeitet, fördert er die Einsicht, dass alle Schritte zur Beteiligung in einem jahrzehntelangen Prozess aufeinander aufbauen. Nur wenn das als gemeinsame Aufgabe begriffen wird, steigen die Chancen für eine gesellschaftliche Einigung.107 Ein hohes Maß an Transparenz soll durch einen regelmäßigen Partizipationsindex erreicht werden: Darin ist anhand fachlicher Kriterien jährlich nachzuweisen, dass das Verfahren den Anforderungen an eine gute Beteiligung genügt.108 Es wird interessant sein wie sich Partizipationsbeauftragter und Konfliktradar im Alltag bewähren. Im Konflikt zwischen der Fachkonferenz Teilgebiete und dem BASE über eine Fortsetzung der Öffentlichkeitsbeteiligung über die Teilgebiete-Konferenz hinausgehend – im Sinne von § 5 Abs. 3 S. 2 – wurde das Agieren des Partizipationsbeauftragten ambivalent wahrgenommen.109

V. Fazit und Ausblick Die Beispiele aus dem Standortauswahlgesetz belegen Einsatzmöglichkeiten für und Rückgriff auf verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse. In dem Politik- und Regulierungsfeld bestand und besteht eine Sondersituation, noch geprägt von den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen über die friedliche Nutzung der Kernenergie und verhärteten Fronten zwischen beteiligten Akteuren. Vor dem Hintergrund sind die innovativen und anspruchsvollen Maßgaben in der Zweckbestimmung und im Regelungsdesign des Gesetzes zu erklären. Die Politik war sensibilisiert und motiviert, neue Wege zu beschreiten. Dabei sind Anknüpfungspunkte und Mechanismen berücksichtigt worden, die auf verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse aufbauen.110 Der tiefgreifende Wandel von Gesellschaft und Kommunikation, insbesondere Individualisierung, Digitalisierung und Emotionalisierung, fordern Staat und Verwaltung nicht nur bei der Standortauswahl für ein Endlager, sondern auf breiter Front dazu heraus, neue, verhaltenswissenschaftlich-basierte Wege zu gehen. 106

Sommer (Fn. 98), S. 6. Sommer (Fn. 98), S. 4. 108 Sommer (Fn. 98), S. 6. 109 NBG, Breites Engagement bei der Standortsuche fördern, 3. Tätigkeitsbericht, Berlin 2021, S. 32. 110 Ulrich Smeddinck, Recht, Atommüll und Emotionen – eine Annäherung an verschiedene Facetten des Konfliktfeldes, in: Ulrich Smeddinck (Hrsg.), Emotionen bei der Realisierung eines Endlagers, Berlin 2018, S. 123 ff. 107

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Aktuelle Entwicklungen sind das im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung angekündigte Zentrum für Legistik und die Frage, ob die Behavioral Administration gesetzlich verankert werden sollte. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion erklärt die Bundesregierung im April 2022, dass sie zu Aufgaben und Ausgestaltung des Zentrums für Legistik sowie zu weiteren Maßnahmen zur besseren Rechtsetzung noch keine weiteren Angaben machen kann, da die Überlegungen dazu jeweils noch nicht abgeschlossen seien.111 Angesichts des erreichten Standes der Regulierungswissenschaft sollten verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse einen breiten und bedeutsamen Raum in der Arbeit des Zentrums einnehmen. Naheliegend ist es, die Arbeitseinheiten, die im Kanzleramt bisher im Bereich „Wirksam Regieren“ und im Bundesjustizministerium als „Nudge-Unit“ aktiv sind, in die Arbeit des Zentrums für Legistik einzubringen. Schließlich sollte ein eingängiger, gut verständlicher Name für das Zentrum gefunden werden. Zur Frage nach einer gesetzlichen Regelung zur Stärkung der Behavioral Administration empfiehlt sich nochmals ein Blick auf das Standortauswahlgesetz. Nach § 1 Abs. 2 S. 1 ist das Standortauswahlverfahren für ein Endlager auch lernend. Auch wenn über die Erwähnung in der Zweckbestimmung des Gesetzes als Hilfe zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe sowie eine Evaluierungspflicht in § 5 Abs. 3 S. 3 wenig auf einen darüberhinausgehenden Anspruch des Gesetzgebers zur Stärkung des Lernens in Standortauswahlgesetz und Standortauswahlverfahren hindeutet, so hat die bloße Erwähnung im Gesetz doch ein Argument geliefert und einen (ungewollten?) Startschuss für eine breite fachliche und öffentliche Diskussion markiert. In der Folge kam es zu einer, dem Gesetzesziel dienlichen und der Demokratie theoretisch begrüßenswerten Ausweitung informeller Formate der Öffentlichkeitsbeteiligung.112 Die Entwicklung ist nicht abgeschlossen. Angesichts grundsätzlich fehlender Lernbereitschaft von Verwaltung113 und Menschen114 ist damit eine erstaunlich dynamische Entwicklung in Gang gesetzt worden, die eben positive Wirkungen und Fortschritte zeitigt und auch die Akteure, insbesondere das zuständige Bundesamt zu Lernschritten animiert. Das Beispiel zeigt, dass eine enorme Schubkraft von einem „neuen“ Wort in einem Gesetz ausgehen kann. Recht, Organisation und Personal greifen als Steuerungsressourcen ineinander. Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse sind geeignet, Reibungsverluste abzubauen und zusätzliche Potenziale zu erschließen. Insofern erscheint eine gesetzliche Verpflichtung zur Behavioral Administration, die andere Formen der Verwaltungstätigkeit ergänzt, sinnvoll und wünschenswert. Das Wie wäre zu diskutieren! Denkbar ist die Aufnahme 111

hib – heute im bundestag Nr. 181 v. 21. 4. 2022, Ziff. 04. Eingehend: Smeddinck (Fn. 61), S. 85 ff. 113 Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen – Eine theoriegeschichtliche Einführung, 3. Aufl., Berlin 2017, S. 170. 114 Armin Nassehi/Maria Fiedler, „Der Mensch täuscht sich meistens selbst“ – Interview mit Armin Nassehi, Tagesspiegel-Online v. 18. 4. 2022. 112

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des Wortes „agil“ in § 10 S. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz in Ergänzung der Verpflichtung, dass Verwaltungsverfahren einfach zweckmäßig und zügig durchzuführen sind.115

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So Heilmann/Schön (Fn. 13), S. 261.

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I. Einleitung Schon kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes erschienen erste wegweisende Monographien, die sich mit dem Thema der elektronischen Verwaltung auseinandersetzten, damals aber vor allem unter den Begriffen der „Verwaltungsautomation“ oder „Verwaltungsautomatisierung“.1 Vor dem Hintergrund des zunehmenden Einsatzes von Großrechenanlagen zur Erledigung einzelner Verfahrensschritte der Massenverwaltung2 verwundert es nicht, dass erste Regelungen zum Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), die man als eher punktuell und reaktiv den damaligen technischen Erfordernissen entsprechend beschreiben kann,3 bereits im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes vom 25. 5. 19764 enthalten waren und im Wege der Simultangesetzgebung5 auch in die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder eingegangen sind. So beziehen sich die frühen § 28 Abs. 2 Nr. 4, § 37 Abs. 4 S. 1 a. F. (heute § 37 Abs. 5 S. 1) und § 39 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG

1 Zeidler (Über die Technisierung der Verwaltung, 1959, S. 18) teilte derartige Entscheidungen in eine rechtliche und technische Komponente auf und stufte letztere als „Verwaltungsfabrikate“ ein. Demgegenüber sprach sich Bull (Verwaltung durch Maschinen, 2. Aufl. 1964, S. 67) für eine einheitliche Sichtweise sowie die Zurechenbarkeit der Maschinenentscheidungen zur Verwaltung aus; so auch Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, S. 108 ff.; s. die damalige Diskussion zusammenfassend Gräwe, Die Entstehung der Rechtsinformatik, 2011, S. 35 ff. 2 Vgl. den Überblick mit Nachweisen zum Steuerrecht bei Bull (Fn. 1), S. 37 ff. und zur Rentenversicherung Brinckmann/Kuhlmann, Computerbürokratie, 1990, S. 53 ff.; s. a. Groß, VerwArch 95 (2004), 400 (401); Lazaratos, Rechtliche Auswirkungen der Verwaltungsautomation auf das Verwaltungsverfahren, 1990, S. 36; Kube, VVDStRL 78 (2019), 289 (291); Martini, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2021, § 28 Rn. 16. 3 So Britz/Eifert, in: Voßkuhle/Eifert/Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2022, § 26 Rn. 12. 4 BGBl. 1976 I S. 1253. 5 S. dazu Schmitz, Simultangesetzgebung von Bund und Ländern im Verwaltungsverfahrensrecht, in: Hill/Sommermann/Stelkens/Ziekow (Hrsg.), 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz, 2011, 253 (253 ff.).

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Bund auf Verwaltungsakte, die mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen werden,6 und beanspruchen bis heute Geltung.

II. Leitbild des E-Governments Erst als in den 1990er Jahren zunehmend leistungsfähigere und kostengünstigere PCs zur Verfügung standen und die Nutzung des Internets immer mehr voranschritt, wurde gegen Ende dieses Jahrzehnts auch in Deutschland das Leitbild des „EGovernment“ propagiert.7 Große Bekanntheit erlangte dabei die auf Reinermann und von Lucke zurückgehende Speyerer Definition von E-Government als „die Abwicklung geschäftlicher Prozesse im Zusammenhang mit Regieren und Verwalten (Government) mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechniken über elektronische Medien“.8 Dabei bestand von Anfang an Einigkeit über das Modernisierungspotenzial der neuen IKT.9 Durch eine Optimierung der Abläufe der Verwaltung lassen sich im Idealfall ihre Leistungsfähigkeit und Effizienz erhöhen und Verwaltungsleistungen schneller sowie bürger- und unternehmensfreundlicher erbringen.10

III. Recht als Steuerungsmedium in Bezug auf E-Government Zur Ermöglichung und später auch zur Forcierung des E-Governments wurden in der Folgezeit vermehrt Rechtsvorschriften erlassen. Je nach Materie ergeben sich diese aus dem Unions-, Verfassungs-, Fach- oder auch Verwaltungsverfahrensrecht. Da Deutschland ein Bundesstaat ist, bedarf es zur Digitalisierung der Verwaltung in besonderem Maße der Koordination und Kooperation der föderalen Ebenen für die Vernetzung der verschiedenen IT-Systeme.11 Um nicht mit dem Verbot der Mischverwaltung in Konflikt zu geraten, wurde deshalb im Jahr 2009 eine spezielle Regelung zu den informationstechnischen Systemen ins Grundgesetz eingefügt,12 damit sich 6 S. auch Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 31; Siegel, DVBl 2020, 552 (554); Spilker, NVwZ 2022, 680. 7 Ausführlich dazu Guckelberger, Öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung, 2019, Rn. 13 ff.; Kube, VVDStRL 78 (2019), 289 (293). 8 Reinermann/von Lucke, E-Government – Gründe und Ziele, in: dies. (Hrsg.), Electronic Government in Deutschland, 2. Aufl. 2002, S. 1. An dieser Definition hat sich der Berliner Landesgesetzgeber in § 2 Abs. 1 S. 1 EGovG Bln orientiert. 9 Zu den verschiedenen Begriffsverständnissen von E-Government Guckelberger, VVDStRL 78 (2019), 235 (238 ff.); Siegel, DVBl 2020, 552 (553). 10 S. etwa Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 3; Prell, NVwZ 2018, 1255 (1257); Saarl. LT-Drs. 16/ 1806, S. 153. 11 Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 7. 12 BGBl. 2009 I S. 2248; s. a. Guckelberger (Fn. 7), Rn. 257 ff.; Heckmann, Die elektronische Verwaltung zwischen IT-Sicherheit und Rechtssicherheit, in: Hill/Schliesky (Hrsg.),

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u. a. Bund und Länder auf gemeinsame Standards für die elektronische Kommunikation und Sicherheitsanforderungen ihrer Systeme verständigen können (Art. 91c Abs. 2 GG). Bis heute schneidet Deutschlands Verwaltung bei der Digitalisierung in internationalen Vergleichsstudien nur mittelmäßig ab.13 Beispiele für diesen Rückstand in Sachen Digitalisierung der Verwaltung sind Pressemeldungen über die Überlastung des Steuerportals Elster aufgrund des großen Andrangs infolge der Grundsteuerreform sowie befürchtete Verzögerungen beim Zensus 2022 wegen erheblicher Performanceprobleme der dafür eingesetzten Software.14 Auch wenn die hier geschilderten Probleme eher einen IT-Hintergrund haben, bildet das Recht doch ein wichtiges Steuerungsinstrument, um die Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben.15 Da heute für die Mehrzahl der Bevölkerung und Unternehmen die elektronische Erledigung und Abwicklung privatwirtschaftlicher Angelegenheiten selbstverständlich ist, bedarf es weiterer Anstrengungen bei der Digitalisierung der Verwaltung.16 Die zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen mit der Coronapandemie haben gezeigt, wie wichtig der elektronische Zugang zur Verwaltung und die elektronische Erbringung von Verwaltungsleistungen sein können.17 Es bleibt zu hoffen, dass die Digitalisierung der Verwaltung nicht angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und der damit verbundenen finanziellen Belastungen erneut in den Hintergrund rückt. 1. Änderungen des VwVfG im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Durch das dritte Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 21. 8. 200218 wurde unmittelbar am Anfang des VwVfG ein § 3a zur elektronischen Kommunikation eingefügt. Danach ist die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet Herausforderung eGovernment, 2009, S. 131; Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 17 ff.; Seckelmann, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Lfg. 3/18, Art. 91c Rn. 1 f., 12 ff.; Siegel, NVwZ 2009, 1128 ff. 13 S. Guckelberger, VVDStRL 78 (2019), 235 (250 f.); Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 13 ff.; zu damit verbundenen enttäuschten Erwartungen auch etwa Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 6. 14 N-tv, Massive Softwareprobleme – Beim Zensus 2022 läuft nicht alles rund, vom 18. 7. 2022, abrufbar unter: https://www.n-tv.de/politik/Komplikationen-beim-Zensus-2022-Bundesin nenministerium-raeumt-Softwareprobleme-ein-article23472684.html, abgerufen am 28. 7. 2022; Tagesschau, Steuerportal Elster überlastet vom 11. 7. 2022, abrufbar unter: https://www. tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/elster-grundsteuer-probleme-101.html, abgerufen am 28. 7. 2022. 15 Hoffmann-Riem, Recht im Sog der digitalen Transformation, 2022, S. 7. 16 Saarl. LT-Drs. 16/1806, S. 153; zutreffend weist Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 2 darauf hin, dass die Digitalisierung staatlichen Handelns aber kein Selbstzweck ist, sondern der Staat die verschiedenen konfligierenden Interessen untereinander auszubalancieren hat. 17 Spilker, NVwZ 2022, 680 (685). 18 BGBl. 2002 I S. 3322.

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hat (Abs. 1). Da die neuen Kommunikationstechniken im damaligen Zeitpunkt noch nicht flächendeckend verbreitet waren, wurde die elektronische Kommunikation mit der Verwaltung vom objektiven Vorhandensein einer technischen Kommunikationseinrichtung sowie der subjektiven Widmung für eine solche Kommunikation abhängig gemacht.19 Bei Vorliegen einer durch Rechtsvorschrift angeordneten Schriftform wurde in § 3a Abs. 2 S. 1, 2 VwVfG bestimmt, dass diese nur durch ein elektronisches Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur ersetzt werden kann. Ferner wurden in § 37 Abs. 2 – 4 VwVfG Regelungen zum elektronischen Verwaltungsakt und in § 41 Abs. 2 S. 2 VwVfG zur elektronischen Übermittlung von Verwaltungsakten erlassen.20 Zentrales Anliegen des damaligen Gesetzgebers war es, Hindernisse für die elektronische Kommunikation möglichst zu beseitigen und durch einen verlässlichen gesetzlichen Rahmen für Rechtssicherheit im elektronischen Rechtsverkehr zu sorgen.21 Zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie22 wurde durch das vierte Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 11. 12. 200823 in § 71e S. 1 VwVfG geregelt, dass Verfahren der Verfahrensart nach dem Abschnitt 1a über eine einheitliche Stelle auf Verlangen in elektronischer Form abgewickelt werden. Ausweislich der Materialien werden durch diese Vorschrift alle beteiligten Behörden zur Ermöglichung einer elektronischen Kommunikation verpflichtet und zwar bezogen auf alle Verfahrensaspekte, zu denen auch Auskünfte gehören.24 Zwar erfolgt die elektronische Verfahrensabwicklung nur auf Wunsch des Antragstellers,25 verleiht diesem aber auch insoweit ein subjektives öffentliches Recht.26 Anhand dieser Vorschrift kann man gut erkennen, dass das Unionsrecht oft bedeutsame Impulse zur Forcierung des elektronischen Verwaltungshandelns setzt.27 2. E-Government-Gesetze In Anknüpfung an das Leitbild „E-Government“ wurden in Deutschland EGovernment-Gesetze beschlossen, denen zumindest nach ihrer Bezeichnung eine 19

BT-Drs. 14/9000, S. 30 f. Dazu und zu weiteren Änderungen des VwVfG BT-Drs. 14/9000, S. 30 ff. 21 BT-Drs. 14/9000, S. 26. 22 BT-Drs. 16/10493, S. 20. 23 BGBl. 2008 I S. 2418. 24 BT-Drs. 16/10493, S. 20. 25 BT-Drs. 16/10493, S. 20. 26 Windoffer/Brosius-Gersdorf, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2019, § 71e Rn. 9; Reimer, in: Schoch/Schneider (Hrsg.), VwVfG, Lfg. 2/2022, § 71e Rn. 18; Eisenmenger, in: Fehling/Kastner/Störmer (Hrsg.), Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 71e VwVfG Rn. 1; Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 15; Siegel, DVBl 2017, 24. 27 Eingehend zu den unionsrechtlichen Impulsen Guckelberger (Fn. 7), Rn. 171 ff. 20

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wichtige Bedeutung in Sachen elektronische Verwaltung zukommt.28 Sie stellen eine Reaktion auf die verstärkte Nutzung moderner IKT in der Verwaltung dar.29 Bereits aus der Betitelung der Gesetze ergibt sich, dass diese Vorgaben für das elektronische Verwaltungshandeln enthalten. Im Jahr 2009 hatte erstmals das Land Schleswig-Holstein ein E-Government-Gesetz erlassen.30 Gem. § 1 S. 1 EGovG SH dient dieses Gesetz der Förderung der elektronischen Abwicklung von Verwaltungsabläufen, um mit Unterstützung der IKT die Geschäftsprozesse der öffentlichen Verwaltung zu optimieren und damit zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung des Landes beizutragen. In dem damals sehr kurz gehaltenen Gesetz waren neben Begriffsbestimmungen und dem Grundsatz der kooperativen Kommunikation als Maßnahmen des E-Governments Regelungen zur verwaltungsträgerübergreifenden Prozessgestaltung (§ 5), zur verwaltungsträgerübergreifenden Zusammenarbeit bei elektronischer Aufgabenerledigung (§ 6), zur verwaltungsträgerübergreifenden elektronischen Kommunikation (§ 7 a. F., heute § 11) sowie zu zentralen Diensten des Landes (§ 8 a. F., heute § 12) enthalten. Zwar bedient sich das EGovG des Bundes aus dem Jahre 2013 ebenfalls dieses Titels, unterscheidet sich aber in inhaltlicher Hinsicht deutlich von dem ersten Landes-E-Government-Gesetz. a) E-Government-Gesetz des Bundes Zur Beseitigung wesentlicher Hindernisse für die Gestaltung und Nutzung des EGovernments erließ der Bund im Jahre 2013 das Gesetz zur Förderung elektronischer Verwaltung vom 25. 7. 2013,31 dessen Kurzbezeichnung E-Government-Gesetz und die Abkürzung EGovG lautet.32 Aus dem Geltungsbereich des § 1 EGovG ergibt sich, dass dieses Gesetz nicht nur für die öffentlich-rechtliche Tätigkeit der Behörden des Bundes einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts gilt. Vielmehr beansprucht es nach Absatz 2 auch Geltung für die öffentlich-rechtliche Tätigkeit der Behörden der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände und der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Personen des öffentlichen Rechts, wenn sie Bundesrecht ausführen, und sich die nachfolgenden Vorschriften auf jede Behörde und nicht nur auf eine solche des Bundes beziehen. Indem in § 2 Abs. 1 EGovG festgelegt wurde, dass jede Behörde auch einen Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente, auch soweit sie mit 28 Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 37 spricht insoweit von einem „Meilenstein“ der Verwaltungsdigitalisierung. 29 SH LT-Drs. 16/2437, S. 17. Dagegen wegen der vielen fachrechtlichen Vorschriften kritisch Mehde, E-Government durch Gesetz?, in: FS Reinermann, 2017, S. 272. 30 GVBl. SH 2009, S. 398 ff.; dazu auch Bernhardt, E-Government-Gesetzgebung von Bund und Ländern im Vergleich und Best-Practices-Leitlinie, 2021, S. 9. Dazu, dass bereits deutlich früher ein E-Government-Gesetz in Österreich erlassen wurde, Beck, in: Stember/ Eixelsberger u. a. (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen zum E-Government, 2021, S. 3, 14. 31 BGBl. 2013 I S. 2749. 32 Kritisch gegenüber dieser Bezeichnung angesichts der Vielzahl an Regelungen außerhalb des VwVfG Mehde (Fn. 29), S. 272; dazu auch Guckelberger (Fn. 7), Rn. 716.

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einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sind, eröffnen muss, wird der Verwaltung in Abweichung zu dem Freiwilligkeitsprinzip in § 3a Abs. 1 VwVfG die Eröffnung eines solchen Zugangs vorgeschrieben. Für Behörden des Bundes wurde in § 2 Abs. 2 EGovG außerdem die Verpflichtung zur Eröffnung eines De-Mail-Zugangs und in Absatz 3 zum Angebot eines eID-Nachweises nach § 18 PAuswG, nach § 12 eID-Karten-Gesetz oder nach § 78 Abs. 5 AufenthG aufgestellt. Die §§ 3 ff. EGovG betreffen Informationen zu Behörden und ihren Verfahren in öffentlich zugänglichen Netzen, elektronische Bezahlmöglichkeiten und Nachweise. Indem das EGovG auf das Vorliegen öffentlich-rechtlicher Verwaltungstätigkeit bezogen ist und nicht auf ein Verwaltungsverfahren i. S. d. § 9 VwVfG abstellt, lassen sich in diesem Gesetzeswerk auch Regelungen zur internen Arbeitsweise unterbringen.33 Gem. § 6 S. 1 EGovG sollen die Behörden des Bundes ihre Akten ab 1. 1. 2020 elektronisch führen, weshalb § 8 EGovG die Gewährung der Akteneinsicht regelt. § 9 EGovG verpflichtet die Behörden des Bundes zur Verfahrensoptimierung sowie zur Angabe von Verfahrensinformationen. Darin wird deutlich, dass E-Government auch auf die Modernisierung der Verwaltung abzielt. Indem im EGovG der Verwaltung bestimmte Bausteine für das elektronische Verwaltungshandeln verbindlich aufgegeben werden, bedient sich der Gesetzgeber einer anderen Art und Weise der Steuerung der elektronischen Verwaltung, die auch als Wechsel „von einer bloßen Ermöglichungs- zu einer Aktivierungsfunktion des Rechts“ charakterisiert wird.34 Erklären lässt sich dieser Richtungswechsel damit, dass die alleinige Überantwortung etwa der Eröffnung eines elektronischen Zugangs zur Verwaltung in deren Verantwortung dazu beigetragen hatte, dass von dieser Möglichkeit zu wenig Gebrauch gemacht wurde und somit eine elektronische Kommunikation mit der Verwaltung oft schon am fehlenden Zugang zu dieser scheiterte.35 Andere Regelungen gehen nach § 1 Abs. 4 EGovG dem EGovG vor.36 Das EGovG geht allerdings nur in Abhängigkeit zur Reichweite der inhaltlichen Ausgestaltung den VwVfG-Regelungen vor.37 Aus kompetenzrechtlichen Gründen konnte der Bund für die Länder, wie schon beim VwVfG, keine umfassende Regelung treffen.38 Art. 84 Abs. 1 S. 7, Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG stehen Aufgabenübertragungen durch Bundesgesetz auf Gemeinden und Gemeindeverbände entgegen.39 Jedoch erhoffte sich der Bund durch den voranpreschenden Erlass seines EGovG eine Signalwirkung

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BT-Drs. 17/11473, S. 32; Guckelberger (Fn. 7), Rn. 713; Mehde (Fn. 29), S. 267. Denkhaus, in: Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung, Vernetztes E-Government, 2. Aufl. 2019, Kap. 1 Rn. 43. 35 S. auch Guckelberger (Fn. 7), Rn. 717. 36 Guckelberger (Fn. 7), Rn. 718. 37 BR-Drs. 17/11473, S. 33; dazu auch Denkhaus/Richter/Bostelmann, EGovG/OZG, 2019, § 1 EGovG Bund Rn. 2, 24; Guckelberger (Fn. 7), Rn. 718. 38 Näher zur Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen Kube, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2022, § 80 Rn. 98 ff. 39 Guckelberger (Fn. 7), Rn. 715. 34

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für die Länder zu entfalten.40 Weil der Bund mit seinem EGovG einen Anstoß und Impuls für eine flächendeckende elektronische Verwaltung setzen wollte, werden die dortigen Vorgaben auch als „Motornormen“ bezeichnet, um mit diesen die Landesgesetzgeber zur Nachahmung zu animieren.41 So ging der Bund davon aus, dass die Länder alsbald parallele oder zumindest ähnliche E-Government-Vorschriften für die Landes- und Kommunalverwaltung erlassen würden.42 b) E-Government-Gesetze der Länder Die Erwartungen des Bundes haben sich nur teilweise erfüllt. Auch wenn inzwischen mit Ausnahme von Hamburg alle Länder eigene Regelwerke erlassen haben, haben sich manche von ihnen damit lange Zeit gelassen.43 Während für einige Länder das EGovG Bund durchaus als Vorbild fungiert hat, ergibt eine rechtsvergleichende Betrachtung, dass sich gewisse Ausgestaltungen doch beträchtlich unterscheiden.44 Erklären lässt sich dieser Befund u. a. damit, dass die Länder selbstbewusst von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen und in diesem Bereich durchaus zu einem gewissen Wettbewerbsföderalismus neigen.45 Hinzukommt, dass sich in der Zeit zwischen 2013 und 2020 die IKT, aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen (z. B. Datenschutz- und IT-Sicherheitsrecht) weiterentwickelt haben.46 Ferner bot es sich geradezu an, in die landesrechtlichen Regelwerke Vorschriften zur Organisation und Informationstechnik aufzunehmen.47 Besonders hervorzuheben ist, dass Bayern und Hessen durch Gebrauch ihrer Abweichungskompetenz aus Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG48 die Anwendung des EGovG des Bundes auf den Vollzug von Bundesrecht im Auftrag des Bundes begrenzt haben. Dort findet beim Vollzug von Bundesrecht als eigene Angelegenheit und von Landesrecht also das Landes-E-Government-Gesetz Anwendung.49 Überdies werden 40

Mehde (Fn. 29), S. 273; in diese Richtung auch Müller-Terpitz/Rauchhaus, MMR 2013, 10, 16; s. auch Guckelberger (Fn. 7), Rn. 715, 722. 41 BT-Drs. 17/11473, S. 24; Bernhardt, BRJ Sonderausgabe 1/2018, 14 (15); Beck (Fn. 30), S. 13 spricht von der Funktion eines Schrittmachers für die Gesetzgebung der Länder und der Leitfunktion. 42 Bernhardt (Fn. 30), S. 7. 43 Näher dazu Bernhardt (Fn. 30), S. 7. 44 Eingehend dazu die Studie von Bernhardt (Fn. 30), S. 13 ff.; Bernhardt, RBRJ Sonderausgabe 1/2018, 14 (22). 45 Guckelberger (Fn. 7), Rn. 722. 46 So die Erklärung von Bernhardt (Fn. 30), S. 7. 47 Guckelberger (Fn. 7), Rn. 715 und näher zu den unterschiedlichen Regelungen in Rn. 328 ff. 48 Für eine solche Abweichungskompetenz Müller-Terpitz/Rauchhaus, MMR 2013, 10 (14); Schulz, in: Seckelmann (Hrsg.) (Fn. 34), Kap. 9 Rn. 5 f.; eingehend zur Kompetenzproblematik Denkhaus/Richter/Bostelmann (Fn. 37), Einl. EGovG Bund Rn. 44 ff. 49 Art. 1 Abs. 3 BayEGovG a. F., nunmehr geregelt in Art. 1 Abs. 4 BayDiG; § 1 Abs. 3 Nr. 1 HEGovG; Bernhardt (Fn. 30), S. 10.

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die Kommunen je nach Bundesland in unterschiedlicher Weise in das jeweilige EGovernment-Gesetz einbezogen.50 Bayern stach bei der Ausgestaltung seines EGovernment-Gesetzes dadurch hervor, weil es sein Gesetz subjektiv-rechtlich ausgerichtet hatte. Art. 2 S. 1 BayEGovG verlieh jedem das Recht, nach Maßgabe der Art. 3 – 5 elektronisch über das Internet mit den Behörden zu kommunizieren und ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Außerdem konnte jeder nach Art. 2 S. 2 BayEGovG verlangen, dass Verwaltungsverfahren nach Maßgabe des Art. 6 BayEGovG ihm gegenüber elektronisch durchgeführt wurden.51 Das BayEGovG trat mit Ablauf des 31. 12. 2022 außer Kraft (Art. 59 Abs. 4 BayDiG). Die ganz überwiegende Mehrzahl der E-Government-Gesetze beschränkt sich dagegen bislang auf die Aufstellung objektiv-rechtlicher Bestimmungen.52 Hier ist nicht der Ort, um umfassend über die verschiedenen E-Government-Gesetze auf Landesebene zu berichten. Festzustellen ist, dass es Landesgesetze gibt, welche die Verwaltung möglichst umfassend dem EGovG unterstellen, und andere, die viele Ausnahmen vom Anwendungsbereich machen.53 Bei den Zugangsregelungen wird in § 3 Abs. 1 S. 1 SaarlEGovG nicht nur eine Verpflichtung zur Eröffnung eines Zugangs für elektronische Dokumente mit einer qualifizierten Signatur, sondern auch mit einem qualifizierten elektronischen Siegel vorgesehen.54 Oftmals finden sich Bestimmungen zu einem verschlüsselten bzw. besonders geschützten Zugang.55 Die in manchen Gesetzen anzutreffenden Vorschriften über den Rückkanal sorgen für mehr Klarheit über den von der Verwaltung zu benutzenden Kommunikationsweg bzw. die Voraussetzungen für eine elektronische Rückmeldung.56 Solche Regelungen machen vor allem dann Sinn, wenn die Einführung der E-Akte bereits fortgeschritten ist. Ein Blick auf die diesbezüglichen Vorschriften ergibt jedoch, dass manche Landesgesetzgeber hier wenig ambitionierte Einführungszeitpunkte gewählt und dem Übergang zur E-Akte möglicherweise noch mit Vorbehalten versehen haben.57 Bernhardt spricht insoweit von einem „Flickenteppich in Deutschland bei der E-Aktenführung“, hinter dem sich unterschiedliche politische Priorisierungsvorstellungen verbergen.58 Auch wenn die meisten Regelungen zur Akteneinsicht an § 8 EGovG Bund angelehnt wurden, sei doch das in § 8 S. 2 SaarlEGovG vorgesehene Wahlrecht für den Einsichtbegehrenden hervorgehoben. Danach darf die Ak50

Bernhardt (Fn. 30), S. 12. Dazu Guckelberger (Fn. 7), Rn. 656. 52 S. auch Guckelberger (Fn. 7), Rn. 657 ff. 53 Bernhardt (Fn. 30), S. 14 ff. 54 Dafür, dass andere Gesetzgeber diese Erweiterung aufgreifen sollten, Bernhardt (Fn. 30), S. 18. 55 Bernhardt (Fn. 30), S. 18 f. 56 Bernhardt (Fn. 30), S. 26 f.; zum Rückkanal auch Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 70; Guckelberger (Fn. 7), Rn. 657. 57 Bernhardt (Fn. 30), S. 37. 58 Bernhardt (Fn. 30), S. 39. 51

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teneinsicht nur aus wichtigem Grund auf eine andere Art gewährt werden, wenn eine bestimmte Art des Zugangs beantragt wird. c) Zwischenfazit Obwohl die E-Government-Gesetze einen bedeutsamen Beitrag zur Förderung der elektronischen Verwaltung setzen, sind auch in diesem Bereich Umsetzungsdefizite zu verzeichnen. So hat sich etwa in Bezug auf die Bundesverwaltung gezeigt, dass trotz der Fristvorgabe zur Einführung der E-Akte diese Zielmarke nicht in allen Bereichen gleichermaßen erreicht wurde.59 Vor diesem Hintergrund wird darüber nachgedacht, wie man den Regelungen in den E-Government-Gesetzen mehr Durchschlagskraft verleihen könnte. Einerseits wird empfohlen, Personen, welche EGovernment-Dienste nutzen wollen, vermehrt subjektive Rechte auf bestimmte in den EGovG vorgesehenen Instrumente einzuräumen.60 Außerdem wird die Einführung von Berichtspflichten, etwa gegenüber dem CIO, vorgeschlagen, damit dieser mehr auf die Einhaltung der Vorgaben hinwirken kann.61 Eine Veröffentlichung solcher Berichte kann darüber hinaus dafür sorgen, dass mehr Anstrengungen in dieser Hinsicht unternommen werden. Last but not least hat – allerdings in Bezug auf das OZG – sich der Bundesrechnungshof als bedeutsamer Überprüfer und Mahner erwiesen. Angesichts der Defizite mancher E-Government-Gesetze, zwischenzeitlicher Entwicklungen im Bereich der Technik sowie teils geänderter rechtlicher Rahmenbedingungen könnte es durchaus sinnvoll sein, das eine oder andere EGovG einem Update zu unterziehen.62 3. Änderungen im VwVfG im zweiten Jahrzehnt Zeitgleich mit dem EGovG Bund wurden in § 3a Abs. 2 S. 1 VwVfG die Möglichkeiten zur Ersetzung der Schriftform durch die elektronische Form erweitert. Unter den in § 3a Abs. 2 S. 4 Nrn. 2, 3 VwVfG abschließend geregelten Vorgaben kann die De-Mail schriftformersetzend eingesetzt werden.63 Nach Satz 4 Nr. 1 kann die Schriftform auch durch unmittelbare Abgabe der Erklärung in ein elektronisches Formular ersetzt werden, das von der Behörde in einem Eingabegerät oder über öffentlich zugängliche Netze zur Verfügung gestellt wird. Voraussetzung ist jedoch, dass bei der Eingabe ein sicherer Identitätsnachweis nach § 18 PAuswG, nach § 12 eID-Karten-Gesetz oder nach § 78 Abs. 5 AufenthG verwendet wird (§ 3a Abs. 2 S. 5 VwVfG). 59

Bernhardt (Fn. 30), S. 10. Bernhardt (Fn. 30), S. 61; für solche subjektiven Rechte spätestens ab Realisierung der Umstellung Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 15. 61 Bernhardt (Fn. 30), S. 61. 62 S. die Handlungsempfehlungen bei Bernhardt (Fn. 30), S. 65 ff. 63 BT-Drs. 17/11473, S. 49. 60

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Weitaus bedeutsamer ist jedoch, dass in Ausscherung vom Prinzip der Simultangesetzgebung kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens (StModG)64 auch in das SGB X sowie VwVfG des Bundes Regelungen zum vollständig automatisierten Erlass eines Verwaltungsaktes aufgenommen wurden. Mit dem StModG hat man in den Worten von Mund „einen in Deutschland bisher beispiellosen Schritt in Richtung einer technischen Erzeugung von Verwaltungsentscheidungen ohne personelle Bearbeitungsschritte“ eingeschlagen.65 Dass § 35a VwVfG einer anderen Struktur als derjenigen in den beiden anderen Gesetzen folgt (s. § 31a S. 1 SGB X „sofern kein Anlass besteht, den Einzelfall durch Amtsträger zu bearbeiten“),66 dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sowohl im Bereich des Steuer- als auch Sozialrechts die Digitalisierung der Verwaltung weiter fortgeschritten ist. Gem. § 35a VwVfG kann ein Verwaltungsakt vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist und weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum besteht. Auf diese Weise wollte man klarstellen, dass auch derartige, nicht auf einer Willensbetätigung eines Amtswalters im Einzelfall beruhende Maßnahmen Verwaltungsakte sind.67 Als Grund für die Ausklammerung der Ermessensentscheidungen wurde genannt, dass die Ermessensausübung ebenso wie die individuelle Beurteilung eines Sachverhalts einer menschlichen Willensbetätigung bedürfen.68 Wertende Entscheidungen sollen menschlichen Amtswaltern vorbehalten werden.69 Das Erfordernis der besonderen Anordnung im Fachrecht berücksichtigt, dass sich nicht alle Verwaltungsverfahren – insbesondere hinsichtlich der Übersetzung der zu vollziehenden Rechtsvorschriften in die IT-Sprache und der Sachverhaltsaufklärung – für vollständig automatisierte Bearbeitungen eignen.70 Zugleich wird dadurch bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO Rechnung getragen.71 Je nach Lage muss die Zulassung durch den unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber selbst erfolgen.72 So meinte das BVerfG in seiner Entscheidung zur BND Ausland-Ausland-Aufklärung, dass ggf. 64 BGBl. 2016 I S. 1679; zum Gesetzgebungsverfahren Schmitz/Prell, NVwZ 2016, 1273 (1274). 65 Mund, Das Recht auf menschliche Entscheidung, 2022, S. 43. 66 Hornung, in: Schoch/Schneider (Fn. 26), § 35a Rn. 45. 67 BT-Drs. 18/8434, S. 122; Braun Binder, DÖV 2016, 891 (893); Schmitz/Prell, NVwZ 2016, 1273 (1275 f.). 68 BT-Drs. 18/8434, S. 122; Spilker, NVwZ 2022, 680 (681). Dazu, dass diese Vorschrift einerseits zu stark und andererseits zu schwach limitiert, Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 46. 69 Hornung (Fn. 66), § 35a Rn. 31; s. a. Mund (Fn. 65), S. 141 ff. Dazu, dass die Ausgestaltung Ausdruck der Vorsicht ist, Ziekow, NVwZ 2018, 1169 (1171). 70 BT-Drs. 18/8434, S. 122; Braun Binder, DÖV 2016, 891 (893); Siegel, DVBl 2017, 24 (25); ausführlich zu den Grenzen der Vollautomatisierung Guckelberger (Fn. 7), Rn. 409 ff., 436 ff.; s. a. Herold, Demokratische Legitimation automatisiert erlassener Verwaltungsakte, 2020, S. 31 ff.; Mund (Fn. 65), S. 66 ff. 71 Hornung (Fn. 66), § 35a Rn. 14 ff. 72 Hornung (Fn. 66), § 35a Rn. 42.

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auch der Einsatz von Algorithmen, insbesondere die Sicherstellung im Hinblick auf eine unabhängige Kontrolle, zu regeln ist.73 Zur Wahrung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, aber auch der Rechte der Betroffenen wurde in § 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG normiert, dass die Behörde beim Einsatz automatischer Einrichtungen zum Erlass von Verwaltungsakten die für den Einzelfall bedeutsamen tatsächlichen Angaben der Beteiligten berücksichtigen muss, die nicht im automatischen Verfahren ermittelt würden.74 Ferner wurde mit § 41 Abs. 2a VwVfG eine neue Möglichkeit für die Bekanntgabe elektronischer Verwaltungsakte zum Abruf über öffentlich zugängliche Netze eröffnet.75 Alles in allem stellen sich diese Neuerungen bis zu einem gewissen Maße als Schnellschuss dar. So stellt sich etwa die Frage, wie das Akteneinsichtsrecht bei vollständig automatisierten Verwaltungsakten gewährleistet werden kann.76 Außerdem wird bemängelt, dass man im VwVfG Regelungen zu den von Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO geforderten hinreichenden Garantien unterlassen hat,77 was aber unschädlich ist, sofern diese beim zulassenden Fachrecht vorgesehen werden.78 Insgesamt bilden die allgemeinen Regelungen zu vollständig automatisierten Verwaltungsakten ein Indiz für die Zunahme derartiger Entscheidungen aufgrund der erheblichen Fortschritte im IT-Bereich, aber auch um so u. a. Engpässe beim Verwaltungspersonal auffangen zu können. 4. Übergreifender informationstechnischer Zugang 2017 wurde Art. 91c GG ein Absatz 5 hinzugefügt,79 wonach der übergreifende informationstechnische Zugang zu den Verwaltungsleistungen von Bund und Ländern durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates geregelt wird. Seither verfügt der Bund insoweit über eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz und zwar auch für den Zugang zu Verwaltungsleistungen der Länder.80 Auf dieser Grundlage wurde das Onlinezugangsgesetz (OZG) erlassen,81 das vorrangig ein Or-

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BVerfGE 154, 152 (260 Rn. 192). Spilker, NVwZ 2022, 680 (681). Dazu sowie für ein Verständnis dieser Regelung auch i. S. e. subjektiven Rechts Guckelberger (Fn. 7), Rn. 447, 551. Dazu, dass die Instrumente in § 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG noch konkreter zu benennen sind, Berger, DVBl 2019, 1234 (1236). 75 Näher dazu Braun Binder, DÖV 2016, 891 (896 ff.); Guckelberger (Fn. 7), Rn. 699 ff.; Siegel, DVBl 2017, 24 (27 f.). 76 Näher dazu Guckelberger (Fn. 7), Rn. 510 ff.; s. a. Spilker, NVwZ 2022, 680 (684). 77 Hornung (Fn. 66), § 35a Rn. 18. 78 Hornung (Fn. 66), § 35a Rn. 18. 79 BGBl. 2017 I S. 2347. 80 Eingehend Starosta, Der Portalverbund zwischen Bund und Ländern, 2022, S. 22 ff.; Martini (Fn. 2), § 28 Rn. 25 spricht von einer verfassungsrechtlich gewollten, am Nutzen des Bürgers orientierten Anomalie. 81 BGBl. 2017 I S. 3122, 3138. 74

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ganisationsgesetz beinhaltet.82 Dessen Kernverpflichtung besteht in der Verknüpfung der Verwaltungsportale von Bund und Ländern zu einem Portalverbund (§ 1 Abs. 2 OZG), so dass die Nutzer über jedes dieser Portale einen barriere- und medienbruchfreien Zugang zu elektronischen Verwaltungsleistungen dieser Verwaltungsträger erhalten (§ 3 Abs. 1 OZG). Der in § 2 Abs. 3 OZG legaldefinierte Begriff der Verwaltungsleistung geht dabei über den Begriff des Verwaltungsverfahrens i. S. d. § 9 VwVfG hinaus. Denn Verwaltungsleistungen umfassen neben der elektronischen Abwicklung von Verwaltungsverfahren auch die dazu erforderliche elektronische Information und Kommunikation mit dem Nutzer über allgemein zugängliche Netze.83 Als Bezugspunkt der Digitalisierungsverpflichtung rückt infolge dieser Begriffsneuschöpfung das Verfahrensrechtsverhältnis in den Mittelpunkt der Betrachtungsweise.84 Insoweit bleibt abzuwarten, ob dies langfristig nicht möglicherweise auch zu einer anderen Ausrichtung der Verwaltungsverfahrensgesetze führen wird.85 Ausweislich § 1 Abs. 1 OZG waren bis Ende 2022 rund 575 Verwaltungsdienstleistungen bundesweit flächendeckend online über den Portalverbund anzubieten.86 Im April 2022 bemängelte der Bundesrechnungshof, dass das BMI in seinen Berichten den Umsetzungsstand des OZG beschönigt habe, wodurch den Entscheidungsträgern eine valide Grundlage zur Steuerung der OZG-Umsetzung und zur angemessenen Personalausstattung fehle und bei Bürgern und Unternehmen falsche Erwartungen geweckt würden.87 Laut den Angaben des Bundesinnenministeriums (BMI) waren Ende 2022 lediglich 33 der OZG-Leistungen flächendeckend online verfügbar, weshalb es Ende Januar 2023 einen Referentenentwurf zur Änderung des OZG vorgelegt hat.88 Außerdem lassen sich erste Zentralisierungstendenzen des OZG trotz seiner Eigenschaft als Organisationsgesetz feststellen. Durch das Gesetz zur Digitalisierung 82

Dazu Starosta (Fn. 80), S. 19, 179, 353, 647 f. Eingehend dazu Starosta (Fn. 80), S. 384 ff. 84 Starosta (Fn. 80), S. 391; s. auch Abromeit, in: Grewe/Gwiasda/Kemper et al. (Hrsg.), Der digitalisierte Staat – Chancen und Herausforderungen für den modernen Staat, 2020, S. 337, 348. 85 Starosta (Fn. 80), S. 652; dazu auch Guckelberger (Fn. 7), Rn. 730. Zweifelnd wegen der Skepsis gegenüber dieser Rechtsfigur Schoch, in: Schoch/Schneider (Hrsg.) (Fn. 26), Einl. Rn. 664. 86 Schulz, RDi 2021, 377 (378); Peuker, DÖV 2022, 275 (576); Proll, in: Stember/Eixelsberger u. a. (Hrsg.) (Fn. 30), S. 29, 43, 60. 87 Bundesrechnungshof, Verwaltungsdigitalisierung: BMI beschönigt Fortschritt, S. 1, abrufbar unter: https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/bemerkun gen-jahresberichte/jahresberichte/2021-ergaenzungsband/einzelplanbezogene-pruefungsergeb nisse/bundesministerium-des-innern-und-fuer-heimat/2021-43, abgerufen am 28. 7. 2022. 88 https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/online-zugangsgesetz-101.html, abgerufen am 24. 4. 2023; BMI, Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Onlinezugangsgesetzes sowie weiterer Vorschriften v. 20. 1. 2023, abrufbar unter: https://www.onlinezugangsge setz.de/SharedDocs/downloads/Webs/OZG/DE/ozg-2-0-referentenentwurf-ozgaendg.html, abgerufen am 24. 4. 2023. 83

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von Verwaltungsverfahren bei der Gewährung von Familienleistungen vom 3. 12. 202089 wurde in das OZG eine Vorschrift zur Bekanntgabe des Verwaltungsaktes aufgenommen. Nach § 9 Abs. 1 S. 1 OZG kann die Verwaltung mit Einwilligung des Nutzers elektronische Verwaltungsakte dadurch bekannt geben, dass dieser über öffentlich zugängliche Netze vom Postfach des Nutzers oder seines Bevollmächtigten abgerufen wird. Während bei der allgemeinen Bekanntgabevorschrift in § 41 Abs. 2a VwVG die Bekanntgabe des Verwaltungsakts erst mit dessen tatsächlichem Abruf eintritt (Sätze 3, 4, 5), gilt nach § 9 Abs. 1 S. 3 OZG der Verwaltungsakt am dritten Tag nach der Bereitstellung (!) zum Abruf als bekannt gegeben.90 Wie gesehen, ist der Bund beim übergreifenden informationstechnischen Zugang alleine regelungsbefugt und es fehlt den Ländern die Befugnis zur abweichenden gesetzlichen Ausgestaltung.91 Allerdings wird sich im Streitfall erst noch erweisen müssen, ob die Aufnahme einer solchen verfahrensrechtlichen Vorschrift in das OZG noch von der Kompetenz des Bundes aus Art. 91c Abs. 5 GG zur Regelung des übergreifenden informationstechnischen „Zugangs“ zu den Verwaltungsleistungen gedeckt ist.92 5. Zwischenfazit Die Verortung und Ausgestaltung von Regelungen zur elektronischen Verwaltung in verschiedenen Gesetzen führt zu einem Verlust an Übersichtlichkeit und auch Aufmerksamkeit für dieses zentrale Thema. Auch wenn dieser Befund teilweise auf einen selbstbewussten Gebrauch unterschiedlicher Gesetzgebungskompetenzen zurückzuführen sein mag, sollte man überlegen, ob nicht eine stärkere Vereinheitlichung mancher EGovG-Regelungen im Sinne einer Ausrichtung an Best-Practice Modellen möglich wäre.93 Auf diese Weise könnte die Erschließung und auch Handhabung des Rechts der elektronischen Verwaltung gefördert und insgesamt mehr Rechtssicherheit erzielt werden.94 Den zuständigen Rechtssetzern sei dringend angeraten, auf ein stimmiges Gesamtkonzept der einschlägigen Vorschriften zu achten. Die Länder müssen in ihrem Zuständigkeitsbereich für eine passende Verzahnung ihrer E-Government-Gesetze mit dem OZG sorgen.95 Da der übergreifende Onlinezugang zu den Verwaltungsleistungen vor allem dann sinnvoll ist, wenn auch in den Fachverfahren die Akten elektronisch geführt werden,96 sollten manche Landesgesetzgeber über eine Verkürzung der Zeitspanne für die Einführung der E-Akte in ihren E-Government-Gesetzen nachdenken. 89

BGBl. I S. 2668. Dazu Guckelberger/Starosta, NVwZ 2021, 1161 (1163); Starosta (Fn. 80), S. 631 f. 91 Starosta (Fn. 80), S. 639 f., 646. 92 Dazu eingehend und kritisch Starosta (Fn. 80), S. 641 f. 93 Bernhardt (Fn. 30), S. 70. 94 Bernhardt (Fn. 30), S. 70; mit Blick auf die Simultangesetzgebung beim VwVfG Bernhardt, BRJ Sonderausgabe 1/2018, 14 (22). 95 Bernhardt (Fn. 30), S. 35. 96 Schulz, RDi 2021, 377 (378). 90

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Durch die unterschiedlichen Bekanntgaberegelungen in § 9 OZG, in § 37 Abs. 2a S. 4 SGB X, der die Bekanntgabefiktion von der Absendung der Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsakts an abrufberechtigte Personen abhängig macht, sowie in der an einen tatsächlichen Abruf anknüpfenden Regelung in § 41 Abs. 2a VwVfG kommt es zu einer Rechtszersplitterung, die für Bürger und Unternehmen nur schwer verständlich ist.97 Langfristig wäre es daher ratsam, sich – ggf. nach einer Evaluierung der verschiedenen Ausgestaltungen – auf ein einheitliches Regelungsmodell oder gar eine einzige bereichsübergreifende Regelung zu verständigen. Ähnlich verhält es sich hinsichtlich der Regelungen zum vollständig automatisierten Erlass von Verwaltungsakten in § 35a VwVfG, § 31a SGB X und § 155 Abs. 4 AO, denen es bislang an einer einheitlichen Linie fehlt. Dies könnte zugleich zum Anlass genommen werden, für diese Kategorie von Verwaltungsakten einige verfahrensrechtliche Nachjustierungen, etwa beim Akteneinsichtsrecht oder in Bezug auf notwendige Schutzmechanismen, vorzunehmen.98 Sowohl in den E-Government-Gesetzen von Bund und Ländern als auch in § 3a Abs. 2 S. 4 Nrn. 2, 3 VwVfG wird die De-Mail als Mittel zum Schriftformersatz erwähnt. Nachdem der Bundesrechnungshof aber 2021 Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der De-Mail aufgeworfen hat, zumal Verwaltung, Bürger und Unternehmen diese fast gar nicht für die elektronische Kommunikation nutzen,99 sollte man sich von diesem Kommunikationsmittel verabschieden100 und stattdessen die Integration der OZG-Nutzerkonten in die Vorschriften über die elektronische Kommunikation in Erwägung ziehen. Bislang sind das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) und besondere elektronische Behördenpostfach (beBPO) zwar im elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten zu nutzen, die Einbindung sicherer Übermittlungswege in die Kommunikation mit der Verwaltung steht jedoch noch aus.101

IV. Leitbild Digitalisierung Der Begriff E-Government wird zunehmend von der Digitalisierung der Verwaltung im Sprachgebrauch verdrängt. So ist z. B. im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung von einer „umfassenden Digitalisierung der Verwaltung“ die Rede,102 und dass die Menschen vom Staat einfach handhabbare, zeitgemäße digitale Leistungen und zwar nutzerorientiert, medienbruchfrei und flächendeckend erwar97

(29). 98

Guckelberger/Starosta, Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit 2021, 20

Dazu bereits zum Akteneinsichtsrecht Guckelberger (Fn. 7), Rn. 520; für eine Anlehnung der Schutzmechanismen an § 88 Abs. 5 AO Spilker, NVwZ 2022, 680 (684 f.). 99 Bundesrechnungshof, De-Mail: Elektronisches Pendant zur Briefpost kostet 6,5 Mio. Euro und wird kaum genutzt. 100 Kritisch gegenüber der De-Mail auch Hoes, NVwZ 2022, 285 (289). 101 Hoes, NVwZ 2022, 285 (289). 102 Koalitionsvertrag 2021, Mehr Fortschritt wagen, S. 4.

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ten.103 Außerdem wird eine prioritäre Umsetzung von Lösungen durch Automation geplant.104 Dies deutet darauf hin, dass das Leitbild des E-Governments zunehmend durch das Leitbild des digitalen Staates und der digitalen Verwaltung ergänzt bzw. verdrängt wird.105 Dies dürfte damit zusammenhängen, dass im Unterschied zu den Anfangszeiten des E-Governments die Elektronifizierung der Verwaltung heute fortgeschrittener ist. Dazu hat sicherlich auch beigetragen, dass die Coronapandemie sowie die Folgen der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung mithilfe der digitalen Technologien in vielen Bereichen abgemildert werden konnten.106 Der Begriff der „Digitalisierung“ stellt einen Brückenbegriff dar, der in allen Bereichen verwendet wird und daher die Verständigung erleichtert.107 In den Worten von Hoffmann-Riem wird damit eine grundlegende technologische Innovation gekennzeichnet, nämlich die „Entwicklung einer auf besondere Soft- und Hardware gegründeten Informationstechnik, die digital vermittelte Daten in neuartiger und höchst vielfältiger Weise verarbeitet und zu neuen Produkten und Anwendungsmöglichkeiten führt“.108 Für Britz/Eifert bildet das Wort Digitalisierung „den umfassenden Medienwechsel der Informationsgrundlagen ab, der als solcher mittlerweile weitreichende neue Möglichkeiten der Verarbeitung und Vernetzung erschließt“.109 Der Wechsel in der Begrifflichkeit verdeutlicht, dass auch zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben vermehrt digitale Algorithmen eingesetzt werden, und dass die neuen Informationstechnologien erhebliche Veränderungspotenziale für die Aufgabenerfüllung beinhalten, obschon mit ihnen auch gewisse Risiken einhergehen können.110 Dies legt den Erlass von Regelungen zur Förderung der positiv bewerteten Potenziale dieser Entwicklung und zur Risikoverringerung nahe.111 Deshalb ist zu hinterfragen,

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Koalitionsvertrag (Fn. 102), S. 12. Koalitionsvertrag (Fn. 102), S. 12. 105 S. etwa den Titel des Werkes von Seckelmann (Hrsg.) (Fn. 34); s. auch das ursprünglich allein von Gabriele Britz verfasste Kapitel „Elektronische Verwaltung“, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 26, welches nunmehr in dem gemeinsam mit Martin Eifert verfassten Beitrag, in: Voßkuhle/ Eifert/Möllers (Fn. 3), § 26 mit der Überschrift „Digitale Verwaltung“ versehen wurde. Demgegenüber versteht Beck (Fn. 30), S. 9 unter E-Government einen hinreichend erfassbaren, eigenen Bereich der Digitalisierung. 106 Dazu Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 12. 107 Guckelberger (Fn. 7), Rn. 77. 108 Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 1 f.; dazu, dass dem Begriff der Digitalisierung ursprünglich eine andere Bedeutung beigemessen wurde und ebenfalls zu seiner aktuellen Bedeutung Guckelberger (Fn. 7), Rn. 77. Nach BayLT-Drs. 18/19572, S. 1 wird mit „Digitalisierung“ „im politisch-wissenschaftlichen Diskurs ein Prozess beschrieben, der auf der intelligenten Vernetzung von Prozessketten und einer durchgängigen Erfassung, Aufbereitung, Analyse und Kommunikation von Daten beruht“. 109 Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 1. 110 Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 3 f. 111 Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 7. 104

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ob bestehende E-Government-Regelungen möglicherweise anzupassen oder gar neue rechtliche Pfade einzuschlagen sind.112 Zunehmend werden auf Landesebene Digitalisierungsgesetze jedoch mit unterschiedlichem Inhalt erlassen. Während etwa im Fokus des saarländischen Digitalisierungsgesetzes nach wie vor der Abbau von Hürden für die elektronische Kommunikation mit der Verwaltung in Gestalt von Schriftform- oder persönliche Erscheinenserfordernisse im Vordergrund steht,113 verfolgen andere Bundesländer unter vergleichbaren Gesetzesnamen teils weitergehende Ziele. Darin zeigt sich, dass die Strategien der verschiedenen Bundesländer zur Digitalisierung und auch zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) differieren. 1. Bayern Im Juli 2022 hat der Bayerische Landtag das Bayerischen Digitalgesetzes (BayDiG)114 verabschiedet. Nachdem in den Materialien zu diesem Gesetzentwurf geschildert wurde, dass in der Digitalisierung auch eine Chance für die weitere Modernisierung von Staat und Verwaltung liegt, wird dargelegt, dass diese „durch einen einheitlichen und übergreifenden rechtlichen Rahmen abgesichert, flankiert und verstärkt werden“ soll.115 Ein solcher umfassender und allgemeiner Rahmen bilde „ein Novum auch auf Bundes- und EU-Ebene“.116 Das Gesetz gliedert sich in einen allgemeinen Teil sowie besondere, administrative Teile, die „inhaltlich an das bestehende E-Government-Gesetz an[knüpfen], dieses jedoch durch ein grundlegend neu konzipiertes, umfassend angelegtes Regelwerk“117 ablösen. Bayern hat also als erstes Bundesland ein sowohl das Verfahren als auch die Organisation betreffendes umfassendes übergreifendes Regelwerk in Sachen Digitalisierung erlassen, was in den Worten einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf „derzeit einzigartig in Deutschland“ ist.118 Laut den Materialien ist das BayDiG gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz spezieller. Letzteres bleibt aber anwendbar, wenn das BayDiG keine inhaltlichen oder entgegenstehenden Vorschriften enthält (Art. 3a

112 Guckelberger (Fn. 7), Rn. 703. Dazu, dass es bislang noch nicht zu einer grundlegenden Neukonzeption von Recht gekommen ist, Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 270. 113 Dies verdeutlicht bereits der Titel von Gesetz Nr. 2050 zur Förderung der Digitalisierung durch Abbau von Formerfordernissen im Landesrecht des Saarlandes (Saarländisches Digitalisierungsgesetz – SDigG) v. 8. 12. 2021, ABl. I Nr. 85, S. 2629; Saarl. LT-Drs. 16/1806, S. 153, 161. 114 Bay GVBl. 2022, S. 374 ff. 115 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 2. 116 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 2. 117 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 2 f. 118 Heckmann/Rachut/Besner, Gutachterliche Stellungnahme für den Ausschuss für Wirtschaft, Landesentwicklung, Energie, Medien und Digitalisierung im Bayerischen Landtag v. 17. 3. 2022, S. 3 und auf S. 5, 9 „Vorreiterrolle“.

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Abs. 2, 3 BayVwVfG), ebenso wenn die Behörden vom Anwendungsbereich des BayDiG ausgenommen sind.119 Im ersten Kapitel des Allgemeinen Teils finden sich nach der Aufstellung von 15 Digitalzielbestimmungen in Art. 2 BayDiG120 z. B. Regelungen zur digitalen Entscheidungsfähigkeit des Freistaates Bayern (Art. 3, s. auch die Sollregelung in Abs. 4 zur offenen Software), zur digitalen Daseinsvorsorge (Art. 4) sowie zur Digitalisierung von Staat und Verwaltung (Art. 5). Dort wird das Leitbild der Volldigitalisierung normativ verankert.121 Gem. Art. 5 Abs. 1 BayDiG sollen geeignete staatliche Prozesse vollständig digitalisiert und bereits digitalisierte Prozesse zur Verbesserung fortentwickelt werden. In den Materialien zu Art. 5 Abs. 2 S. 1 BayDiG, wonach bei vollständiger Durchführung von Verwaltungsverfahren durch automatische Einrichtungen diese regelmäßig auf ihre Zweckmäßigkeit, Objektivität und Wirtschaftlichkeit hin zu prüfen sind, heißt es, dass damit erstmals eine Algorithmenkontrolle im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht gesetzlich etabliert wird.122 Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde ein Satz 2 hinzugefügt, wonach der KI-Einsatz in der Verwaltung durch geeignete Kontroll- und Rechtsschutzmaßnahmen abzusichern ist. Weitere Vorgaben betreffen die Nachhaltigkeit (Art. 6) sowie Personal und Qualifizierung (Art. 7). Das zweite Kapitel des allgemeinen Teils enthält erstmals einfachgesetzliche Regelungen über digitale Rechte und Gewährleistungen, etwa zum freien Zugang zum Internet (Art. 8), zur digitalen Handlungsfähigkeit (Art. 9), um insbesondere die Möglichkeiten zur digitalen Ausübung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, der Beteiligten- und Handlungsfähigkeit im Verwaltungsverfahren zu verbessern,123 oder zur digitalen Selbstbestimmung und Identität (Art. 10 f.). Dass ein zentrales Anliegen des Gesetzgebers die nutzerfreundliche Gestaltung von Verwaltungsleistungen (Art. 2 Nr. 13) ist, belegt Art. 10 Abs. 1 S. 2, wonach die Nutzer in die Entwicklung neuer digitaler Angebote des Freistaates Bayern einbezogen werden sollen.124 Art. 12 trägt die Überschrift „Rechte in der digitalen Verwaltung“. Danach hat jeder das Recht, nach Maßgabe der Art. 16 – 18 digital über das Internet mit den Behörden zu kommunizieren und ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, sowie auf Durchführung digitaler Verwaltungsverfahren nach Maßgabe des Art. 19 (Art. 12 Abs. 1). In Konkretisierung des Art. 25 und Art. 28 BayVwVfG sieht Art. 12 Abs. 2 S. 1 BayDiG vor, dass die zuständigen Behörden den Beteiligten in digitalen Verfahren eine 119

Bay LT-Drs. 18/19572, S. 39. S. dazu Bay LT-Drs. 18/19572, S. 42 ff.; s. Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 3, welche insofern von einer „Digitalverfassung“ sprechen. 121 Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 12 f., die jedoch eine engere Ausgestaltung der Abweichungen empfehlen. 122 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 49. 123 Zur Bedeutung dieser Vorschrift im Hinblick auf den digital divide Heckmann/Rachut/ Besner (Fn. 118), S. 11 f. 124 Zum Aspekt der Nutzerfreundlichkeit auch Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 8 ff. 120

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nichtdigitale Beratung, Auskunft und Anhörung anbieten sollen.125 Der sofortige Vollzug vollständig automatisiert erlassener Verwaltungsakte ist gem. Art. 12 Abs. 3 BayDiG nur aufgrund gesetzlicher Ermächtigung zulässig. Art. 13 betrifft das Mobile Government, Art. 15 verankert ein Monitoring zur Erfolgskontrolle.126 Im zweiten Teil werden sodann im ersten Kapitel Anforderungen an die digitale Kommunikation und Dienste formuliert. Art. 19 BayDiG regelt das digitale Verfahren, das in Art. 20 BayDiG als Regelfall vorgegeben wird. Durch Art. 20 Abs. 1 BayDiG wird – so die Materialien – der „Grundsatz der digitalen Verfahrenswahlfreiheit“ (oder besser Formenwahlfreiheit) in Richtung auf das digitale Verfahren als Regelfall verengt.127 Während OZG und BayEGovG bislang nur digitale Optionen eröffneten, fehlten bislang rechtliche Regelungen zum digitalen Verfahren als Regelfall, wofür in den Materialien die Bezeichnung „Digital First“ verwendet wird.128 „Diese Lücke soll mit dem vorliegenden Gesetz geschlossen werden“,129 wobei sich jedoch aus dem Verweis auf Art. 12 Abs. 1 S. 3 BayDiG ein Recht auf nichtdigitale Verfahrensdurchführung für die Bürger/innen ergibt.130 Nach Absatz 2 können Verwaltungsverfahren, die über ein Organisationskonto abgewickelt werden, auch ausschließlich digital angeboten werden. Zur Vermeidung unbilliger Härten ist auf Antrag des Beteiligten jedoch auf eine digitale Abwicklung bei persönlicher oder wirtschaftlicher Unzumutbarkeit zu verzichten. Dahinter verbirgt sich die Erwägung, dass nur bei hohen Nutzungszahlen die wirtschaftlichen Vorteile und Effizienzeffekte digitaler Verwaltung sowohl der Verwaltung als auch den Adressaten des Verwaltungshandelns etwa in Gestalt von beschleunigter Bearbeitung usw. zugutekommen.131 Art. 21 BayDiG betrifft Assistenzdienste, Art. 22 BayDiG die Einwilligung im digitalen Verfahren, Art. 24 BayDiG die Bekanntgabe und Art. 25 BayDiG die Zustellung über Portale. Im Kapitel 3 finden sich sodann Vorschriften zwecks OZG-Verzahnung zum Portalverbund Bayern132 und in Kapitel 4 zu digitalen Akten und Registern. Kapitel 5 hat die Behördenzusammenarbeit und Rechenzentren zum Gegenstand.

125 Dazu Bay LT-Drs. 18/19572, S. 54, wonach jedoch eine persönliche Beratung nicht zwingend eine analoge Beratung sein muss, sondern auch per E-Mail und Telefon erfolgen kann. 126 Zu Letzterem Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 17. 127 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 64. 128 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 34, 64. 129 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 34. 130 Bay LT-Drs. 18/19572, S. 34. 131 Dazu Schulz, RDi 2021, 377 (378). 132 Näher dazu Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 13 f.

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2. Schleswig-Holstein Im Unterschied zum BayDiG bildet das Digitalisierungsgesetz Schleswig-Holstein vom 16. 3. 2022133 ein Artikelgesetz. Es enthält zur Förderung der OZG-Ziele Änderungen u. a. des Landesverwaltungsgesetzes (Einfügung eines § 52b Abs. 2 über die Eröffnung eines Zugangs über Konten), des E-Government-Gesetzes (§ 8 regelt nun u. a. die Einsatzzwecke der Automatisierung von Verwaltungsabläufen). Ferner wurde neben dem Offene-Daten-Gesetz ein Gesetz über die Möglichkeit des Einsatzes von datengetriebenen Informationstechnologien bei öffentlich-rechtlichen Verwaltungstätigkeiten (ITEG) eingeführt. Gem. § 1 Abs. 2 S. 2 ITEG soll das Gesetz sicherstellen, dass die Wahrnehmung der Verwaltungstätigkeit unter Wahrung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sowie der Prinzipien des Vorrangs des menschlichen Handelns, der menschlichen Aufsicht und Verantwortlichkeit, der Transparenz, der technischen Robustheit und Sicherheit, der Vielfalt, Nichtdiskriminierung, Fairness sowie des gesellschaftlichen und ökologischen Wohlergehens erfolgt. § 2 Abs. 1 ITEG statuiert den Grundsatz der Zulässigkeit des Einsatzes datengetriebener Technologien. § 2 Abs. 2 ITEG verbietet ihn bei der Ausübung unmittelbaren Zwangs gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Nr. 1), bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu bestimmten Beurteilungen (Nr. 2), zur massenweisen Identifikation von Personen bei Versammlungen und Veranstaltungen anhand von biometrischen Merkmalen (Nr. 3) sowie bei Verwaltungsakten mit Ermessen und Beurteilungsspielraum (Nr. 4). § 3 ITEG enthält Begriffsumschreibungen samt Festlegung von Automationsstufen (Assistenzsysteme, Delegation und autonome Entscheidung). § 6 ITEG normiert Transparenzanforderungen, insbesondere eine Hinweispflicht auf die teilweise oder vollständige Bearbeitung mittels datengetriebener Informationstechnologien. Wird ein Verwaltungsakt mithilfe der Informationstechnologien der Automationsstufen 2 und 3 ohne derartigen Hinweis erlassen, ist dieser gem. § 6 Abs. 5 ITEG nichtig. § 7 ITEG regelt die menschliche Aufsicht und den Vorrang menschlicher Entscheidung. In § 12 ITEG wird erstmals eine sog. KI-Rüge normativ ausgestaltet. Nach Absatz 1 kann bei Entscheidungen, die auf Informationstechnologien der Automationsstufe 2 oder 3 beruhen, innerhalb eines Monats ab Bekanntgabe der Entscheidung die Überprüfung durch eine natürliche Person verlangt werden. Im Falle einer KI-Rüge gegen einen Verwaltungsakt i. S. d. § 106 LVwVG gilt dieser nach Absatz 2 als nicht bekannt gegeben und darf ein neuer Verwaltungsakt ausschließlich durch eine natürliche Person erlassen werden. Bemängelt wurde an dieser Rechtsfolge in einer Stellungnahme, dass diese unüblich sowie dogmatisch nicht überzeugend und für die Bürger im Bereich der Leistungsverwaltung nachteilhaft ist.134

133

GVBl. SH 2022, S. 285 ff. Stellungnahme Lorenz-von-Stein-Institut v. 25. 6. 2021 zur Drs. 19/3267, S. 10, abrufbar unter: https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl19/umdrucke/06700/umdruck-19-06793. pdf, abgerufen am 28. 7. 2022. 134

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Mit dem ITEG SH wurde erstmals ein rechtlicher Rahmen für den Einsatz von KI innerhalb der Verwaltung eines Bundeslandes geschaffen.135 Man kann darüber streiten, ob dieses „Vorpreschen“ angesichts des seit geraumer Zeit veröffentlichten Vorschlags für ein KI-Gesetz durch die EU-Kommission sinnvoll gewesen ist.136 Sollte letzteres in Kraft treten, gehen die unionsrechtlichen Vorschriften vor und sind ggf. dortige Öffnungsklauseln auszufüllen. Andererseits ist der Abstimmungsprozess auf Unionsebene bislang noch nicht abgeschlossen und weist das ITEG ausweislich einer Stellungnahme zahlreiche Übereinstimmungen mit dem Unionsvorschlag auf, weil die Grundannahmen in Bezug auf die KI-Regulierung dieselben sind.137

V. Fazit In den letzten Jahren ist es zu einer erheblichen Verrechtlichung im Bereich des EGovernments gekommen,138 um die Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben. Auch wenn die Ziele des OZG bis Ende 2022 nicht vollständig erreicht werden und es trotz entsprechender Fristvorgaben zur Umstellung auf die E-Akte in den E-Government-Gesetzen noch so manche Defizite zu verzeichnen gibt, ist zu vermuten, dass ohne solche Fristvorgaben der Rückstand der Verwaltung in diesen Bereichen noch größer wäre. Aktuell ist sowohl im Bereich des OZG, aber auch den E-Governmentund Verwaltungsverfahrensgesetzen ein gewisser Nachjustierungsbedarf auszumachen. Auch sollte man zunehmend darüber reflektieren, ob angesichts der zwischenzeitlich deutlich gestiegenen Nutzung der IKT in der Bevölkerung samt damit einhergehender Verbreitung der IT-Kompetenzen noch die Notwendigkeit besteht, so hohe Anforderungen an die Widmung der IT-Systeme der Bürger für die elektronische Kommunikation mit der Verwaltung zu stellen und man diese Kommunikationsform nicht durch Anreize oder auch durch die Vorgaben zur verpflichtenden Nutzung mit Ausnahmen vorantreiben könnte.139 Jüngste Entwicklungen auf Landesebene belegen, dass es im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung noch weiteren Regelungsbedarf gibt. Dazu gehören etwa die Etablierung von Sicherungsmechanismen beim Einsatz vollständig automatisierter Entscheidungen140 sowie die Schaffung eines Rechtsrahmens für den Einsatz von

135 Heckmann/Rachut, Gutachterliche Stellungnahme für den Innen- und Rechtsausschuss sowie den Umwelt-, Agrar- und Digitalisierungsausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtags v. 30. 11. 2021, S. 5. 136 COM(2021) 206 final. 137 Heckmann/Rachut (Fn. 135), S. 15. 138 Eifert, Elektronische Verwaltung – von der Verwaltungsreform zum Verwaltungsreformrecht, in: FS Battis, 2014, S. 421 (422); Guckelberger (Fn. 7), Rn. 707 ff.; Maurer/ Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 18 Rn. 2 ff. 139 Dazu Schulz, RDi 2021, 377 ff. 140 Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 259.

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KI-Systemen.141 In zuletzt genannter Hinsicht ist aber der auf Unionsebene eingeleitete Prozess für ein KI-Gesetz im Auge zu behalten. Dabei können sich einzelne Regelungen im Landesrecht als Schrittmacher für die normative Ausgestaltung auf Bundesebene oder in anderen Ländern erweisen. Die von Schleswig-Holstein gesammelten ersten Erfahrungen mit seinem ITEG können für Regulierungsprozesse anderer Rechtssetzer von Bedeutung sein.142 Hierbei ist jeweils auch die Frage nach dem geeigneten Regelungsstandort zu klären. Mit Blick auf die Regelungskompetenzen verfügen die Landesgesetzgeber, wie das BayDiG zeigt, über die Möglichkeit zum Erlass eines übergreifenden Gesetzes zu Organisation und Verfahren der digitalen Verwaltung.143 Als Vorteile eines solchen umfassenden Gesetzeswerks werden die Anwenderfreundlichkeit sowie bessere Transparenz und Nachvollziehbarkeit für Bürger und Unternehmen ausgemacht,144 womit ein Mehr an Rechtssicherheit einhergeht. Stattdessen besteht die Möglichkeit, sektorspezifische Regelungen zu treffen,145 oder wird angesichts der unterschiedlichen Sensitivität der Verwaltungsaufgaben der Erlass horizontaler Regelungen, die sich auf wenige grundsätzliche Fragen beschränken, ergänzt um sektor- und aufgabenspezifische Regelungen vorgeschlagen.146 § 35a VwVfG lässt sich dem zuletzt genannten Regelungsmodell zuordnen, da die Vorschrift einerseits eine übergreifende Orientierung und andererseits für Einzelfälle hinreichend flexible Konkretisierungen ermöglicht.147 Angesichts der Dynamik des technischen Fortschritts handelt es sich bei der Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für das elektronische Verwaltungshandeln zumeist nicht um einen einmaligen, sondern iterativen Anpassungsprozess.148 Der Vorteil bereichsübergreifender Regelungen liegt in der besseren Erschließbarkeit der Rechtslage sowohl für die Rechtsanwender als auch die Bevölkerung aufgrund der Vereinheitlichung sowie in der damit verbundenen Entlastung des Gesetzgebers.149 Vergleichbar den Überlegungen zur Aufnahme von Regelungen in das VwVfG ist an den Erlass solcher Vorschriften zu denken, wenn sie über eine gewisse Dauerhaftigkeit und Modellwirkung verfügen und im Idealfall von einer Ordnungsidee getragen werden.150 Durch den Erlass solcher fachrechtlicher Vorschriften, aber auch von E-Government-Gesetzen oder des bereichsübergreifenden Bay141

Dazu etwa Herold (Fn. 70), S. 242, 258 ff., 295. Heckmann/Rachut (Fn. 135), S. 15. 143 Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 3. 144 Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 6. 145 So bezogen auf das Digitalisierungsgesetz Heckmann/Rachut/Besner (Fn. 118), S. 5 f. 146 Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 17. 147 So ohne Bezug zu § 35a VwVfG Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 136 ff. 148 Guckelberger (Fn. 7), Rn. 729; ohne spezifischen Bezug zur Verwaltung Michael, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 2022, § 28 Rn. 5. 149 Zum VwVfG Siegel, DVBl 2020, 552. 150 Bezogen auf das allgemeine Verwaltungsrecht Kahl, in: Kahl/Ludwigs (Hrsg.) (Fn. 2), § 12 Rn. 5 ff., sowie in Rn. 26 ff. zu dessen Funktionen. 142

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DiG werden je nach Regelung VwVfG-Vorschriften ergänzt, modifiziert oder sogar verdrängt, was insgesamt zu einer Verkomplizierung der Rechtslage führt.151 Angesichts des eingeschlagenen Pfades – dem bewussten Ausscheren aus der Simultangesetzgebung – ist im Moment nicht damit zu rechnen, dass dieser in allernächster Zeit verlassen und Regelungen zur elektronischen Verwaltung vermehrt in den VwVfG verortet werden,152 zumal dann u. a. auch darüber diskutiert werden müsste, ob nicht eine Abkehr von dem engen Verfahrensbegriff in § 9 VwVfG sinnvoll wäre und man dort nicht möglicherweise auch die deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahrenden, ausschließlich die Innenbeziehungen betreffenden Vorschriften regeln sollte.153 Dementsprechend prognostiziert auch Schoch, dass der Weg zur digitalen Verwaltung eher fachgesetzlich vorgezeichnet ist und für das VwVfG kaum mehr als eine erneute Modifizierung der Formerfordernisse übrig bleiben könnte.154 Letztlich resultiert daraus, dass man auch die Entwicklungen im Landesrecht stärker im Auge behalten muss und man bei der Lehre des allgemeinen Verwaltungsrechts auch solche bereichsübergreifenden Regelungen zur digitalen Verwaltung vermitteln sollte. Denn langfristig wird in vielen Bereichen die elektronische Kommunikation mit der Verwaltung der Normalfall sein.

151

Guckelberger (Fn. 7), Rn. 720 ff. Schoch, in: Schoch/Schneider (Hrsg.) (Fn. 26), Einl. Rn. 660. 153 Dazu Britz/Eifert (Fn. 3), § 26 Rn. 50 ff.; Guckelberger (Fn. 7), Rn. 720 ff. 154 Schoch, in: Schoch/Schneider (Hrsg.) (Fn. 26), Einl. Rn. 660. 152

Verwaltungsverfahrensrechtliche Relevanz von Cloud-Leistungen Von Sönke E. Schulz

I. Einführung: Eine Verwaltungscloud für Deutschland Es ist davon auszugehen, dass viele Verwaltungen in Deutschland in einigen Jahren, schon aufgrund des Fachkräftemangels, nicht mehr in der Lage sein werden, „ihre“ Informationstechnik (IT) selbst zu betreiben. Dies gilt auch und gerade für die kommunale Ebene. Mehr Kooperation hinsichtlich der „Verwaltung der Verwaltung“, zu der neben IT auch Personalwirtschaft, Beschaffung und anderes zählen, schwächt kommunale Selbstverwaltung aber nicht, sondern ist geeignet – wenn die Zusammenarbeit kommunal gestaltet wird und eine kommunale Steuerungsexpertise aufgebaut und gezielt genutzt wird –, Handlungsfähigkeit hinsichtlich der kommunalen Sachaufgaben zu stärken. Für viele Kommunen wird es in Zeiten des Fachkräftemangels schon eine große Herausforderung sein, für das neue (inhaltliche) Themenfeld der „digitalen Daseinsvorsorge“1 ausreichend qualifiziertes Personal zu finden, das zum Beispiel eine digitale Agenda oder Smart-City-Konzepte entwickelt und die konkrete Umsetzung steuert. Die Aufgaben eines Chief Digital Officers sind bereits jetzt vielfältig. In der Regel werden dann kaum noch ausreichend Ressourcen bereitstehen, um „daneben“ noch die digitale Verwaltungsinfrastruktur zu stemmen. Angesichts von Fachkräftemangel und der Komplexität der Herausforderungen dürfte der klassische „Eigenbetrieb“ der IT nur für große Kommunen überhaupt noch eine realistische Option sein. In den nächsten Jahren werden sich daher voraussichtlich größere Strukturen herausbilden, wobei diese – gerade in der öffentlichen Verwaltung – nicht in einen Wettbewerb untereinander treten, sondern bestimmte Themen gemeinsam, partnerschaftlich angehen sollten, z. B. den Betrieb redundanter Rechenzentren. Spezialisierungen der öffentlichen IT-Dienstleister sind angesichts des fehlenden Fachpersonals unausweichlich; ggf. auch über Bundeslandgrenzen hinweg. Es scheint ausgeschlossen, dass jeder Dienstleister die erforderliche Expertise in Sachen Künstliche Intelligenz, Cloud und Virtualisierung, Blockchain, Automatisierung (z. B. RPA), (Linked) Open Data oder anderer Spezialmaterien vorhält. 1 Exemplarisch dazu: Herdt, Die Gemeinde 2021, 92 ff.; vgl. auch Schulz, in: Klenk/ Nullmeier/Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, 2020, S. 565 ff.

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Hierbei wird es zukünftig immer mehr dazu kommen, dass die IT-Abbildung eines Verfahrens und damit letztlich das Verwaltungsverfahren selbst aus unterschiedlichen Modulen zusammengesetzt wird, die noch dazu in unterschiedlicher Verantwortung „erzeugt“ bzw. betrieben werden. Neben elektronischen Akten in großen Rechenzentren, Online-Diensten auf einem gemeinsamen kommunalen oder kooperativen Server der Verwaltung (im Sinne eines „Verwaltungs-Portals“) werden perspektivisch auch Fachverfahren nicht mehr „on premise“ als eigene Instanz für die öffentliche Verwaltung zur Verfügung gestellt werden (können), sondern als „containerisierte“ Dienstleistungen aus der Cloud angeboten. Zahlreiche Bestrebungen gehen in diese Richtung. Besonders exemplarisch die Aktivitäten des IT-Planungsrats zu einer Verwaltungscloud-Strategie2 sowie die Austauschplattformen FIT-Store und der Marktplatz der govdigital eG3, die zwar derzeit vor allem die im Zuge der OZG-Umsetzung entstehenden Einer-für-Alle-Dienste (EfA) für das Frontend betreffen, perspektivisch aber auch Fachverfahrensmodule integrieren werden. Während die Herausforderungen des Leistungsaustauschs über eine Cloud bei Online-Diensten oder auch Rechenzentrumsleistungen vor allem im Datenschutz, im Vergabe- sowie im Verwaltungsorganisationsrecht liegen (dazu II.), betrifft die Einbindung von Fachverfahrensmodulen massiv auch die verwaltungsverfahrensrechtliche Ebene, die bisher kaum betrachtet worden ist, letztlich also zum Beispiel die Fragen, – ob es einen Anspruch auf vollständige „Eigenerbringung“ durch die zuständige Behörde gibt, dies also Teil der verwaltungsrechtlichen Kategorie der „Zuständigkeit“ ist, – und wenn man die Automatisierung von Verfahren mitdenkt, ob ein Anspruch auf „menschliche Entscheidung“ existiert, der der Einbindung von vollständig automatisierten (KI-gestützten) Verfahrensbestandteilen in den zu einer Verwaltungsentscheidung führenden Prozess entgegenstehen würde.

II. Leistungsaustausch in der Cloud: Herausforderungen für das Vergaberecht, den Datenschutz und die Verwaltungsorganisation Für das EfA-Modell, wie es bei der OZG-Umsetzung realisiert wird, aber auch darüber hinaus, bedarf es zwingend einer „Drehscheibe“, die den Austausch der Leistungen konkret organisiert und die aus den vielen Akteuren – wenige Federführer und damit: Betreiber, viele unterschiedliche Nutzer – resultierende Komplexität redu2

Entscheidung 2020/54 des IT-Planungsrates v. 23. 10. 2020. Zur privatrechtlichen e. G. als Vehikel der Verwaltungskooperation Schliesky/Schulz/ Kuhlmann, VerwArch 108 (2017), 216 ff. 3

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ziert. Neben der Schaffung technischer und organisatorischer Rahmenbedingungen sind auch rechtliche Fragestellungen zu adressieren. 1. Vergaberecht: Inhouse-Vergabe im Konzern Die Koordinierung der OZG-Umsetzung erfolgt zunächst durch die Bund-Länder-Anstalt FITKO,4 die den operativen Unterbau für den IT-Planungsrat und ebenenübergreifende Kooperations- und Standardisierungsprojekte bildet, und mithilfe des sog. FIT-Stores, ggf. perspektivisch über die govdigital eG.5 Ursprünglich stand die Nachnutzung als Realisierungsvariante im Fokus, während im Kontext der Bereitstellung weiterer (Bundes-)Konjunkturmittel im Jahr 2020 allein auf die Mitnutzung im Sinne von „Software as a Service“ (SaaS), einschließlich der Betriebsleistungen und der erforderlichen Weiterentwicklung, gesetzt wird. Die Grundidee des FIT-Store besteht darin, dass im Verhältnis zwischen FITKO und ihren Trägern, d. h. Bund und Ländern, ein sog. Inhouse-Verhältnis vorliegt, welches es ermöglicht, dass einerseits FITKO von ihren Trägern mit einer Leistung im Wege eines vergaberechtsfreien vertikalen Inhouse-Geschäfts bei gemeinsamer Kontrolle gemäß § 108 Abs. 1 und 4 GWB beauftragt wird, andererseits die FITKO aber auch selbst einen oder mehrere Träger vergaberechtsfrei mit der Erbringung einer Leistung im Wege eines sog. inversen Inhouse-Geschäfts bei gemeinsamer Kontrolle beauftragen kann (§ 108 Abs. 1, 3 und 4 GWB).6 Betrachtet man die (vergaberechtliche) Konzeption des FIT-Stores näher, wird schnell deutlich, dass die kommunalen Gebietskörperschaften als diejenigen, die den größten Anteil der OZG-Leistungen verantworten und vor Ort umsetzen, nicht bedacht wurden. Dies mag auf den ersten Blick konsequent sein, sind die Kommunen doch staatsrechtlich Teil der Länder7 und FITKO eine Kooperation der Bundesländer unter Einbindung des Bundes. Der FIT-Store verfolgt jedoch nicht allein die Zielsetzung, die Nachnutzung zu organisieren, sondern will dieser gerade auch einen (vergabe-)rechtlichen Rahmen geben. Und vergaberechtlich sind die kommunalen Gebietskörperschaften nun mal kein Teil der Länder, sondern eigenständige öffentliche Auftraggeber nach § 99 Nr. 1 GWB. Der FIT-Store lässt hier eine Lücke, die schnellstmöglich, im Interesse der flächendeckenden Nachnutzung der EfA-Dienste und vor allem im Interesse der Kommunen geschlossen werden muss. Eine denkbare Variante ist die Kooperation von Land und Kommunen über einen gemeinsamen Dienstleister, wie sie sich z. B. in Schleswig-Holstein finden 4

Entscheidung 2018/36 des IT-Planungsrates v. 24. 8. 2018. Entscheidung 2020/40 des IT-Planungsrates v. 23. 10. 2020. 6 FITKO, Hinweise zur Nutzung des FIT-Stores – Praktische Hinweise zum FIT-Store, Version 1.0 (17. 03. 2021), S. 20; abrufbar unter: https://www.fitko.de/mm/Hinweise_zur_Nut zung_des_FIT-Stores_V1.0_Stand_17.03.2021.pdf; ausführlich Schulz, Vergaberecht 2021, 544 ff. 7 BVerfGE 119, 331 (364). 5

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lässt.8 Das Land Schleswig-Holstein wird durch den FIT-Store in die Lage versetzt, vergaberechtsfrei Leistungen anderer Bundesländer zu beschaffen und kann diese dann, quasi in einem 3. Schritt, vergaberechtsfrei an den gemeinsamen Dienstleister Dataport übertragen. Da auch die Kommunen Schleswig-Holsteins ihrerseits – über den ITVSH9 – als Träger an Dataport beteiligt sind, besteht die Option diese Leistungen wiederum inhouse und damit ohne Ausschreibung von Dataport zu beziehen (4. Schritt) und schließlich (inhouse) den Kommunen zur Verfügung zu stellen (5. Schritt). 2. Datenschutz: Föderale Verwaltungscloud und Hyperscaler SaaS, einschließlich der Nutzung fremder Infrastrukturen und Cloud-Dienste, muss immer auch datenschutzrechtlich zulässig sein, was derzeit wohl einer der Hauptgründe für die Konzeption einer föderalen Verwaltungscloud ohne unmittelbare Einbindung privater Hyperscaler10 sein dürfte. Die datenschutzrechtliche Beurteilung des Einsatzes von Cloud Computing in der öffentlichen Verwaltung bestimmt sich nach dem Regime der DSGVO, sodass der Umgang mit personenbezogenen Daten ähnlich zu beurteilen ist wie bei der Nutzung von Cloud-Technologien durch private Unternehmen.11 Lediglich fachspezifisch treten spezielle Datenschutzvorgaben hinzu. Kommt es bei der Nutzung cloud-basierter Dienste zur Verarbeitung personenbezogener Daten, was zumindest beim Einsatz in der öffentlichen Verwaltung der Regelfall sein wird, ist im Verhältnis des nutzenden Unternehmens bzw. der öffentlichen Verwaltung zum Anbieter von einer Auftrags(daten)verarbeitung i. S. d. Art. 28 DSGVO auszugehen. Der Auftraggeber bleibt datenschutzrechtlich verantwortlich; er ist zur sorgfältigen Auswahl und Überwachung des Anbieters verpflichtet. Entsprechende Aufträge sind schriftlich zu erteilen, wobei Verarbeitungsprozesse, technische und organisatorische Maßnahmen sowie etwaige Unterauftragsverhältnisse detailliert festzulegen sind. Gerade durch die exzessive Nutzung derartiger Unterauftragsverhältnisse treten Gefahren für den Schutz der personenbezogenen Daten ein – sie ist aber gerade für ein öffentliches Cloud-Angebot idealtypisch und prägend, zumal ein Cloud-Anbieter in der Regel zumindest in Zeiten einer Höchstauslastung zum Zukauf externer Server-, Rechen- und Softwarekapazitäten gezwungen ist. 8

So auch die Empfehlung des IT-Planungsrates; vgl. Entscheidung 2021/38 v. 29. 10. 2021. Schulz, in: Seckelmann/Brunzel (Hrsg.), Handbuch Onlinezugangsgesetz: Potenzial – Synergien – Herausforderungen, 2021, S. 295 ff. 10 Ein Hyperscaler ist ein Anbieter von IT-Ressourcen auf Basis des Cloud Computings, dessen Ressourcen sich horizontal in hohem Maß skalieren lassen. Oft sind tausende Server und Storage-Systeme über leistungsfähige Netzwerke miteinander verbunden. Zu den derzeit bedeutendsten Hyperscalern zählen die Amazon Web Services (AWS), Microsoft Azure, Google Cloud Platform (GCP) und IBM. 11 Zur alten Rechtslage umfassend Schulz, in: Roßnagel (Hrsg.), Wolken über dem Rechtsstaat, 2015, S. 99 ff.; s. auch Schulz, MMR 2010, 75 ff. 9

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Hinzu kommt insbesondere, dass personenbezogene Daten nicht ohne weiteres in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union übermittelt werden dürfen. Eine solche Übermittlung ohne Einschränkungen in Staaten außerhalb der Europäischen Union bzw. des Geltungsbereichs der Richtlinie 95/46/EG ist nur statthaft, wenn in den Drittstaaten ein angemessenes Datenschutzniveau sichergestellt ist. Aktuell können deutsche Behörden US-Konzerne wie Microsoft, Amazon oder Google nicht direkt mit dem Betrieb einer Cloud-Lösung beauftragen, in der auch personenbezogene oder vertrauliche Dokumente gespeichert werden. Der EuGH stellte in zwei Urteilen zum transatlantischen Datenaustausch (Safe-Harbour und EU-US-Privacy-Shield12) fest, dass in den USA kein mit der EU vergleichbares Datenschutzniveau vorhanden ist. Gleichwohl werden offenbar parallel zu den Überlegungen zu einer föderalen (privaten) Verwaltungscloud Angebote konzipiert, die Lösungen der großen Anbieter (insbesondere Microsoft Azure Cloud und Microsoft 365) auch aus einer öffentlichen oder hybriden Cloud verfügbar machen wollen. Arvato und SAP beabsichtigen, ein Angebot, dass gemäß den deutschen und europäischen Vorgaben technisch, operativ und rechtlich souverän ist.13 3. Verwaltungsorganisation: Gemeinsame Einrichtungen von Bund, Ländern und Kommunen Organisationsrechtliche Fragen stellen sich insbesondere, wenn die Realisierung einer verwaltungsebenenübergreifenden privaten Cloud beabsichtigt ist. Für ein solches Szenario ist zu bewerten, ob die Kooperation im Bereich der IT eine unzulässige (organisatorische14) Mischverwaltung darstellt. Das sog. Verbot der Mischverwaltung wird vom BVerfG in Art. 83 ff. GG verortet, allerdings ohne auf die Klarstellung zu verzichten, dass es sich bei der grundgesetzlichen Verteilung der Verwaltungskompetenz um eine Konkretisierung grundlegender Staatsstrukturprinzipien – nämlich Bundes- und Rechtsstaats- sowie Demokratieprinzip – handelt.15 Diese Erkenntnis ist für die Bewertung gesetzlich vorgezeichneter oder bloß tatsächlich (aufgrund informeller oder vertraglicher Absprachen) existenter Kooperationen zwischen Bund, Ländern und Kommunen von maßgeblicher Bedeutung.16 Weniger der FITStore, der von der FITKO und damit einer explizit von Art. 91c GG zugelassenen Bund-Länder-Kooperation (ohne institutionalisierte Beteiligung der Kommunen) betrieben wird, als Bestrebungen, in einer gemeinsamen Beschaffungs- und Austauschgenossenschaft möglichst alle Gebietskörperschaften zu bündeln, müssen unter diesem Aspekt genau analysiert werden.

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EuGH, Urt. v. 6. 10. 2015, C-362/14; Urt. v. 16. 7. 2020, C-311/18. https://news.sap.com/germany/2022/02/cloud-plattform-public-sector-arvato/. 14 Zur „funktionalen“ Mischverwaltung sogleich. 15 S. auch Burgi, ZSE 6 (2008), 281 (292 ff.). 16 Vgl. Schulz, DÖV 2008, 1028 ff.

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Das BVerfG hebt hervor, dass die Verwaltung des Bundes und die Verwaltungen der Länder, ungeachtet der ausdrücklich legitimierten Formen der Mischverwaltung, „organisatorisch und funktionell im Sinne in sich geschlossener Einheiten prinzipiell voneinander getrennt“ seien.17 Die allgemeine Verteilung der Verwaltungskompetenzen nach dem Grundgesetz steht nicht im Belieben der Beteiligten; es handelt sich dabei um eine zwingende Ordnung, die gerade nicht durch informelle Vereinbarungen oder einfachgesetzliche, von der Grundstruktur des Grundgesetzes abweichende Regelungen, abbedungen werden kann. Die verfassungsrechtlich unzulässige Preisgabe von Entscheidungskompetenzen beginnt dort, wo den beteiligten Verwaltungsträgern eine spontane Änderung des Verwaltungsverfahrens oder der Verwaltungsorganisation und damit eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung unmöglich gemacht wird.18 Eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung setzt nach dem BVerfG voraus, „dass der jeweils zuständige Verwaltungsträger auf den Aufgabenvollzug hinreichend nach seinen eigenen Vorstellungen einwirken kann“. Daran fehle es in der Regel, „wenn Entscheidungen über Organisation, Personal und Aufgabenerfüllung nur in Abstimmung mit einem anderen Träger getroffen werden können“.19 Angesichts der verfassungsrechtlichen Hintergründe von rechtsstaatlicher Verantwortungsklarheit und demokratienotwendiger Legitimation staatlichen Handelns erscheint es vorzugswürdig, als Mischverwaltung lediglich Verwaltungstätigkeiten zu klassifizieren, bei denen die sachlichen Entscheidungen in einem irgendwie gearteten Zusammenwirken getroffen werden. Art. 83 ff. GG beziehen sich in erster Linie auf den Gesetzesvollzug, also die Erledigung von Sachaufgaben.20 Nur wenn Sachentscheidungen nicht mehr einem (im demokratischen und rechtsstaatlichen Sinne) verantwortlichen Träger hoheitlicher Gewalt zugeordnet werden können, bestehen nämlich Gefahren für die Rechtsverwirklichung des Bürgers, z. B. bei Fragen des Rechtsschutzes oder der Haftung. Soweit sich also nur die zuständigen Behörden einer gemeinsamen Struktur zur Erfüllung des verwaltungstechnischen Vollzuges bedienen, können derartige Konflikte nicht auftreten. In Behörden müssen auch sonstige Funktionen erfüllt werden, wie etwa die erste Beratung und Betreuung im Front-Office, die Datenerhebung, -verarbeitung und -speicherung sowie zahlreiche Servicefunktionen. Die Wahrnehmung dieser Funktionen – einschließlich des Aufbaus und Betriebs von IT-Infrastrukturen21 – wirkt sich nicht auf den Inhalt des Gesetzesvollzugs aus, sodass in diesem Kontext eine echte Kooperation verfassungsrechtlich zulässig und mit dem Ziel der Nutzung von Synergieeffekten angezeigt ist.22

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BVerfGE 119, 331 (364). Vgl. Schliesky, LKV 2005, 89 (93). 19 BVerfGE 119, 331 (375). 20 v. Mutius/v. Mutius, KommJur 2008, 201 (203). 21 Burgi, ZSE 6 (2008), 281 (292); Schliesky, ZSE 6 (2008), 304 (320 f.). 22 v. Mutius/v. Mutius, KommJur 2008, 201 (203). 18

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III. Verfahrensrechtliche Relevanz von Leistungen „aus der Cloud“ Hinsichtlich der eingangs aufgeworfenen Frage, ob aus verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen ein Anspruch auf eine vollständige „Eigenerbringung“ durch die zuständige Behörde folgt, muss zunächst differenziert werden, welche Bestandteile „aus der Cloud“ bezogen werden/bezogen werden sollen: Dies sind in einer ganz groben Differenzierung Infrastrukturkomponenten (also Rechenleistung und Speicher), Online-Dienste (oder andere Teilelemente des Verfahrens, wie z. B. auch Identifizierungs- und Payment-Komponenten) sowie Fachverfahren. Auf den ersten Blick könnte man die verfahrensrechtliche Relevanz bezweifeln, weil die eigentliche Verwaltungsentscheidung zunächst nicht „aus der Cloud“ kommt, sieht man von automatisierten oder KI-gestützten Entscheidungen ab. 1. Einfluss der IT auf die Sachentscheidung Allein die Bildung von gemeinsamen Strukturen, z. B. FITKO oder govdigital eG, kann nicht als unzulässige (organisatorische) Mischverwaltung klassifiziert werden, da diese Einstufung immer einen konkreten Aufgabenbezug aufweisen muss, also funktional zu bestimmen ist. Rechtstaats- und Demokratieprinzip verlangen erkennbare Verantwortlichkeiten für konkrete Handlungen, wobei die organisatorische „Vermischung“ Indiz für eine „Vermischung“ von Zuständigkeiten und für unzulässige Beiträge unzuständiger Behörden zu „fremden“ Verwaltungsverfahren sein kann. Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung der Verwaltungsverfahren und der Verlagerung von (Teil-)Prozessen in gemeinsam genutzte Clouds ist zu beachten, dass die Sachentscheidung von solchen Strukturen nur im Grundsatz nicht berührt wird.23 „Es ginge jedoch zu weit, dem E-Government jegliche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sachentscheidung abzusprechen.“24 So sind Konstellationen denkbar, in denen die Vorgabe von Standards infrastruktureller Art, aber vor allem konkreter Softwareanwendungen das zulässige Maß an Selbstbindung überschreiten kann25. Der – sich auf die Sachentscheidung auswirkende – Steuerungseffekt von Workflow-Systemen und der softwaremäßigen Modellierung der Arbeitsabläufe26 kann nämlich nicht bestritten werden. So wird in Anlehnung an den Begriff der „Steuerung durch Recht“27 mittlerweile von einer „Steuerung durch IT“ gespro23

Schliesky, ZSE 2008, 304 (320 f.). Siegel, NVwZ 2009, 1128 (1129). 25 Schulz, MMR 2010, 75 (77 f.). 26 Britz, DVBl 2007, 993 (996). 27 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 1/ 33; Schuppert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Die Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 65 ff. 24

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chen.28 Auch das BVerfG ist sich den mit der Setzung verbindlicher IT-Standards einhergehenden Auswirkungen bewusst, wenn es in der ARGE-Entscheidung urteilt, dass die an den Arbeitsgemeinschaften beteiligten Landkreise „durch die softwarebedingten Vorgaben […] Entscheidungsspielräume [verlieren], die ihnen im Rahmen eigenverantwortlicher Aufgabenerfüllung zustünden“.29 Der zum Teil vermittelte Eindruck, es handele sich dabei um eine den damals aktuellen technischen Entwicklungen geschuldete Erkenntnis, erweist sich als unzutreffend:30 Bereits im Jahr 1979 hatte sich der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen mit einem Gesetz über kommunale Datenverarbeitungszentralen auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang wird aktueller denn je judiziert, dass „die Festlegung der Einzugsbereiche der Kommunalen Datenverarbeitungszentralen angesichts des faktischen Zwanges zur Automation den Entscheidungsspielraum der Gemeinden beschränkt und durch Zuordnung bestimmter Partnergemeinden Inhalt und Form der Wahrnehmung ihrer Aufgaben in zahlreichen Sachbereichen beeinflusst“.31 Insofern bedarf es einer Differenzierung zwischen den Einflüssen die Datenformat-Standards, Netzinfrastrukturen und Fachverfahren auf die Sachentscheidung haben können,32 wobei sich zur Ermittlung einer unzulässigen funktionellen (bzw. verfahrensrechtlichen) Verflechtung typisierend auf die Nähe zur eigentlichen Entscheidung, die Qualität der Beeinflussung und die Qualität der Entscheidung abstellen lässt.33 „Verfassungsrechtlich nicht zu monieren werden die gemeinsame Entwicklung von IT-Programmen und der gemeinsame Betrieb von IT-Netzen sein, wenn und soweit sich diese Kooperation auf den öffentlich-rechtlichen Innenbereich beschränkt und der jeweils zuständige Verwaltungsträger die Verfahrensherrschaft und die Entscheidungskompetenz behält.“34 Dies gilt bspw. auch für die IT-Beschaffung.35 Die informationstechnische Infrastruktur stellt lediglich ein Verwaltungsmittel dar, das von verschiedenen Trägern für ihre jeweils eigenen Aufgaben genutzt wird.36 Bei genauerer Betrachtung der Wirkungsweise informationstechnischer Systeme kann jedoch durch die konkrete Gestaltung der elektronischen Abwicklungsvorgänge, etwa durch den Ausschluss technischer Programme und Funktionen oder die Konfigurierung von Schnittstellen, die Sachaufgabenwahrnehmung inhaltlich beeinflusst werden.37 Problematisch wird die Zusammenarbeit, wenn ein Ver28

Siegel, DÖV 2009, 181 (183). BVerfGE 119, 331 (374). 30 Schulz, MMR 2010, 75 (78). 31 VerfGH NRW, NJW 1979, 1201 (1201). 32 Schulz, Die Gemeinde SH 2008, 272 (277 f.). 33 Schulz, in: Schliesky/Schulz (Hrsg.), Die Erneuerung des arbeitenden Staates, 2012, S. 113 (136 f.). 34 Gröpl, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Loseblatt-Sammlung, Art. 91c Rn. 7. 35 Brosius-Gersdorf, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Innovationen im und durch Recht, 2010, S. 23 (45). 36 Gröpl (Fn. 34), Art. 91c Rn. 7. 37 Brosius-Gersdorf (Fn. 35), S. 23 (45). 29

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waltungsträger bei gemeinsam genutzten IT-Systemen die materiell-rechtliche Handhabung des anderen Verwaltungsträgers beeinflussen kann,38 etwa wenn durch zu verwendende Software Entscheidungsmöglichkeiten vorstrukturiert, bestimmte Lösungsvarianten beschränkt oder „Antwortkorridore“ eingerichtet werden.39 Solche Umstände wären geeignet, die vom demokratischen Rechtsstaat geforderte eindeutige Zuordnung der (Letzt-)Entscheidungskompetenz verschwimmen zu lassen, was auf eine unzulässige funktionale Mischverwaltung hinausliefe.40 2. Grundsatz der Nichtförmlichkeit verlangt elektronische Verfahren Daneben ist, wenn man die verwaltungsverfahrensrechtliche Perspektive einnimmt, auch der Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verfahrens – niedergelegt in § 10 VwVfG – zu beachten. Erste Anhaltspunkte für allgemeine Verfahrensgrundsätze fanden sich bereits im „Teutschen Fürsten-Stat“ (1656) von Veit Ludwig von Seckendorff (1626 – 1692) in Form der Entwicklung von Regeln richtiger Regierungs- und Verwaltungskunst unter den Gesichtspunkten „schleuniger – ordentlicher – bequemer“, einem frühen Vorläufer des § 10 Satz 2 VwVfG.41 Die Vorschrift erklärt – vorbehaltlich besonderer Rechtsvorschriften – die Nichtförmlichkeit sowie die Verpflichtung zur einfachen, zweckmäßigen und zügigen Durchführung zu Grundsätzen des Verwaltungsverfahrens. Hierbei handelt es sich nicht um bloße Programmsätze, sondern um bindende Rechtssätze.42 Der Grundsatz der Nichtförmlichkeit ist gesetzlich nicht definiert. Sein Inhalt ist jedoch im Umkehrschluss abzuleiten aus den Anforderungen, die von den Verfahrensgesetzen an ein förmliches Verfahren gestellt werden. Insbesondere bedeutet dies, dass Anträge keiner Form bedürfen, dass in jedem Verfahrensschritt der Verwaltung ein Verfahrensermessen eingeräumt ist43 und formfrei kommuniziert werden kann sowie dass justizförmige Elemente fehlen. Die fehlende Bindung an bestimmte Formen gilt nur, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften eine bestimmte Form des Verfahrens vorschreiben. Was als „einfach“ und „zweckmäßig“ anzusehen ist, richtet sich nach den Erfordernissen des Einzelfalles. Es ist jedenfalls alles zu unterlassen, was nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht angemessen und erforderlich ist. Dieser Grundsatz verpflichtet die Verwaltung zur Vermeidung eines unnötigen Aufwandes für die Behörde selbst, für die Beteiligten und für alle unmittelbar oder mittelbar betroffenen Personen (z. B. auch Zeugen und Sachverständigen). Die Vorgabe des § 10 LVwG kann also auch die 38

Gröpl (Fn. 34), Art. 91c Rn. 8. Siegel, DÖV 2009, 181 (182). 40 Gröpl (Fn. 34), Art. 91c Rn. 7; ähnliche Differenzierung bei Suerbaum, in: Epping/ Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar GG Art. 91c Rn. 5; Brosius-Gersdorf (Fn. 35), S. 23 (44 ff.). 41 Schmitz, in: Hill/Pitschas (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, 2004, S. 23 (23). 42 Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 10 Rn. 21. 43 Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 10 Rn. 7. 39

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weitgehend elektronische Abwicklung von Verwaltungsverfahren nahelegen, soweit es nicht zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung anderer Medien und deren Nutzer kommt.44 Hinzu kommt, dass komplizierte Genehmigungsverfahren grundrechtsbeschränkend wirken können und daher die Vereinfachung durch den Einsatz elektronischer Kommunikation unter dem Gesichtspunkt eines milderen Mittels im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Regel geboten ist.45 Die Anwendung des § 10 VwVfG darf aber nicht dazu führen, dass die Prinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens verkürzt werden, sodass die weitgehende Digitalisierung und Automatisierung zwar von § 10 VwVfG gefordert sein kann, eine Einbeziehung externer Modulbestandteile aber nur zulässig ist, wenn rechtsstaatliche Verantwortungsklarheit als Element der (sachlichen) Zuständigkeit gesichert bleibt. 3. Anspruch auf automatisierte und KI-gestützte Verfahren Neben dem Grundsatz der Nichtförmlichkeit, der also auch die Forderung nach Schnelligkeit und Einfachheit und damit je nach Ausgestaltung elektronischer Verfahren entnommen werden kann, existiert auch ohne explizite Kodifikation im VwVfG ein Recht auf gute Verwaltung. Art. 41 GrCh verlangt eine unparteiische, gerechte Behandlung von Bürgeranliegen innerhalb einer angemessenen Frist. Alle drei Gewährleistungsgehalte (unparteiisch, gerecht, fristgerecht) können dafür fruchtbar gemacht werden, aus Art. 41 GrCh jedenfalls in konkreten Einzelfällen einen menschenrechtlichen Anspruch auf die Einführung von KI und algorithmen-basierter Entscheidungen zu begründen. „Wenn Algorithmen bestimmte Aufgaben viel schneller, einfacher und besser erledigen und andernfalls eine ineffiziente Verwaltung droht, könnte Art. 41 [GrCh] die Einführung von KI gebieten.“46 Der Mehrwert der menschlichen Entscheidung, die jedenfalls Defizite gegenüber automatisierten Entscheidungen hinsichtlich der Unparteilichkeit, ggf. auch der Gerechtigkeit aufweisen, kann, ist bisher – auch unter Geltung des Art. 22 DSGVO – nicht dargelegt worden.47 Es besteht lediglich ein subjektiv-rechtlicher, grundrechtlicher Anspruch darauf, dass rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze gewahrt werden. Neue Forschungserkenntnisse deuten einen Vorteil der technischen Abbildung von Entscheidungsprozessen selbst für Ermessens- und richterliche Entscheidungen an. Dass eine Verfahrensautomatisierung eine Beschleunigung gegenüber menschlicher Prüfschritte darstellt, dürfte außer Frage stehen. Wo Automatisierung und KI 44

Speziell zu diesem Aspekt Schulz/Hoffmann/Tallich, Die Verwaltung 45 (2012), 207 ff.; s. auch Schulz, RDi 2021, 377 ff. 45 Schliesky, in: Knack/Henneke (Hrsg.), VwVfG, 11. Aufl. 2019, § 3a Rn. 18. 46 Djeffal, Künstliche Intelligenz in der öffentlichen Verwaltung, S. 18; abrufbar unter: https://www.negz.org/_files/ugd/5aa84d_f44d6e9c57ab4996ac4458587af79ce2.pdf?index= true. 47 Umfassende Darstellung sowohl zu automatisierten als auch KI-gestützten Verwaltungsentscheidungen Guckelberger, Öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung, 2019, S. 364 ff., 484 ff.

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also die allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätze beachten und der Gesetzgeber grundlegende Anforderungen an den IT-Einsatz definiert hat,48 bestehen jedenfalls keine Bedenken gegenüber automatisierten Teilelementen eines Verwaltungsverfahrens. Für die Verwaltungsentscheidung ist allerdings derzeit die – einschränkende – Vorgabe des § 35a VwVfG zu beachten.49

4. Vereinbarkeit mit verwaltungsrechtlichen Grundsätzen Allerdings kann sich ein Anspruch auf eine elektronische oder gar KI-gestützte Verfahrensgestaltung, der sich auf das Gesamtverfahren beziehen kann, damit aber auch jedes Teilelement umfasst, das in der Regel nicht aus einer Hand bezogen wird, nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss seinerseits mit anderen verfahrensrechtlichen Grundsätzen, vor allem solchen mit verfassungsrechtlicher Fundierung in Einklang stehen oder gebracht werden. Als ein solcher soll hier vor allem die Zuständigkeit als verwaltungsrechtliche Kategorie betrachtet werden, die nämlich Aufgaben und Entscheidungen einem verantwortlichen Träger von Hoheitsgewalt zuordnet. Soweit Verbandskompetenz und sachliche, mit Einschränkungen (vgl. § 46 VwVfG) auch die örtliche Zuständigkeit betroffen sind, hat der Bürger nicht nur bei rechtsförmlichem, sondern auch bei schlicht hoheitlichem Verwaltungshandeln nämlich einen subjektiven Anspruch auf Einhaltung der Zuständigkeitsordnung.50 Diese dient objektiv der „guten Ordnung der Verwaltung“51 sowie subjektiv den Belangen des Bürgers.52 Zuständigkeit begründet nicht nur eine Vermutung für vergleichsweise größeren Sachverstand,53 die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung stellt auch sicher, dass ein Bürger nicht von mehreren staatlichen Stellen gleichzeitig wegen derselben Angelegenheit in Anspruch genommen wird.54 Sie sichert, dass dem Bürger die ihm gegenüber handelnde Behörde zweifelsfrei erkennbar ist und das Handeln einer verantwortlichen Stelle zugerechnet werden kann. Art. 30 und Art. 83 ff. GG bezwecken die lückenlose Abgrenzung der Zuständigkeitsräume von Bund und Ländern. Allgemein versteht man unter einer Zuständigkeit „die Berechtigung und Verpflichtung, eine bestimmte (Verwaltungs-)Aufgabe wahrzunehmen“.55 In diesem 48 Erste Ansätze zur Verrechtlichung finden sich auf nationaler Ebene im Gesetz über die Möglichkeit des Einsatzes von datengetriebenen Informationstechnologien bei öffentlichrechtlicher Verwaltungstätigkeit (IT-Einsatz-Gesetz) Schleswig-Holstein v. 16. 3. 2022. 49 Dazu Braun Binder, NVwZ 2016, 960 ff. 50 Heintzen, NJW 1990, 1448 (1448). 51 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, 10. Aufl. 1973, S. 229. 52 Heintzen, NJW 1990, 1448 (1448). 53 Heintzen, NJW 1990, 1448 (1448). 54 S. auch Mußgnug, Das Recht auf den gesetzlichen Verwaltungsbeamten?, 1970, S. 39. 55 Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 10 Rn. 2.

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Sinne ist die sachliche Zuständigkeit eine Aufgabenzuständigkeit.56 Die Festlegung sachlicher Zuständigkeiten, also die Abgrenzung inhaltlicher Aufgabenbereiche, ist verfassungsrechtlich unverzichtbar, da diese einerseits ggf. mit Eingriffen in die Rechte der Bürger verbunden sind (Rechtsstaat), andererseits den Gegenstand eines Kontroll- und Verantwortungszusammenhangs bilden (Demokratie).57 Dieser Umstand führt dazu, dass nicht klar abgegrenzte Zuständigkeiten und bestimmte Formen der kooperativen Aufgabenwahrnehmung ebenfalls verfassungsrechtlich bedenklich sein können. Damit muss bestimmt werden, welchen verfahrensrechtlichen Gehalt die „Zuständigkeit“ aufweist, konkret gefragt: welches Teilelement des Verfahrens ist der zuständigen Behörde vorbehalten und muss von ihr abschließend verantwortet werden. Vergegenwärtigt man sich die staatliche Aufgabenwahrnehmung – wie dargestellt – als einen ausdifferenzierten Prozess, der aus verschiedenen (zunehmend: ITgestützten) Modulen besteht, die in ihrer Zusammenschau ein Ergebnis (Output und Outcome) verwirklichen, sind – in Anlehnung an unternehmerische Zusammenhänge – lediglich die Kernkompetenzen weder auslagerungsfähig noch für eine Auslagerung geeignet. Angesichts der Tatsache, dass diese nicht zwingend hoheitlichen Charakter haben und der Begriff der Hoheitlichkeit ohnehin nicht abschließend definiert ist, kann in diesem Zusammenhang von vorbehaltenen Funktionen (nicht: Aufgaben) gesprochen werden. Auch wenn zum Teil ein anderer Eindruck vermittelt wird, ist dieser aus Rechtsgründen vorbehaltene Bereich eng umgrenzt. Inwieweit eine Einbindung anderer Akteure außerhalb der vorbehaltenen Funktionen in Betracht kommt, bemisst sich nach anderen Maßstäben.58 Maßgeblich ist, wer ein – auslagerungsfähiges – Modul am besten erfüllen kann.59 Die Vorbehaltsfunktionen bilden den Kern der Aufgabenträgerschaft und ihre (eigenhändige!) Ausübung ist notwendige Voraussetzung, um der Aufgabenverantwortung gerecht werden zu können. Sie decken sich mit dem Erfordernis demokratischer Legitimation von Staatshandeln und gehen über das überkommene „amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter“ hinaus. Vorbehaltene Funktionen in diesem Sinne sind:

56 Henkel, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 3 Rn. 8, nennt die Zuordnung „aufgabenspezifisch-fachlich“. 57 Schliesky (Fn. 44), Vor § 3 Rn. 18. 58 Bspw. nach dem Grundsatz funktionsgerechter Organisationsstruktur; dazu BVerfGE 68, 1 (86); 95, 1 (15); v. Danwitz, Der Staat 35 (1996), 329 (330); Kluth, VerwArch 102 (2011), 525 ff. Erstmals Küster, AöR 75 (1949), 397 (402 f., 404 ff.). 59 Berücksichtigt man diese Einschränkung, steht hinter einer engen Definition der Vorbehaltsfunktionen keineswegs die Forderung nach einem schlanken Staat. Die Selbstverständlichkeit, dass der Staat außerhalb dieses Vorbehaltsbereichs keine Funktionen unzweckmäßig oder gar unwirtschaftlich eigenerbringen sollte, muss angesichts mancher Entwicklungen (und Beharrungskräfte) gleichwohl betont werden. Die umfassende Modularisierung des Verwaltungshandelns und eine Neuzuordnung stehen noch aus.

Verwaltungsverfahrensrechtliche Relevanz von Cloud-Leistungen

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– die Steuerung und Koordinierung der unterschiedlichen Elemente, die in ihrem Zusammenwirken die Aufgabenwahrnehmung darstellen (Managementfunktion) sowie – alle hoheitlichen, öffentlich-rechtlichen Handlungsformen (Kernkompetenz der öffentlichen Verwaltung), insbesondere die Entscheidung in der Sache. Für die Vorbehaltsfunktionen muss – organisatorisch, insbesondere aber prozessual – ausgeschlossen werden, dass nicht legitimierte, außerhalb des Aufgabenträgers stehende Akteure Einfluss nehmen können. Dieses für die Kooperation im staatlichen Bereich entwickelte Prinzip der Kompetenzabgrenzung (im Sinne eines Verbots der Mischverwaltung) ist allgemein für arbeitsteilige Arrangements der öffentlichen Verwaltung, also auch für die Einbindung privater Akteure, anwendbar.60 Es besteht eine Pflicht, Organisations- und Verfahrensstrukturen zu schaffen, die dem Auseinanderfallen formaler und materieller Inhaberschaft von Entscheidungsgewalt bzw. der nicht legitimierten Ausübung von Vorbehaltsfunktionen entgegenwirken.61 Zur Ermittlung einer unzulässigen Einwirkung kann typisierend auf verschiedene Faktoren abgestellt werden: – Die Zulässigkeit der Einbindung Dritter im Vorfeld von Verwaltungsentscheidungen62 variiert in Abhängigkeit davon, ob die Phase der Informationssammlung, der Willensbildung und Diskussion, der Abwägung oder die eigentliche Entscheidung betroffen ist (Nähe zur Entscheidung). Die legitimierten Entscheidungsträger müssen sich der Einflüsse, bspw. durch Informationszulieferungen, bewusst sein, sich Meinungen ggf. zu eigen machen und auf Basis eines pluralen Prozesses, gleichwohl eigenverantwortlich entscheiden. – Insbesondere bei der Durchführung bzw. Umsetzung von Verwaltungsentscheidungen folgen Grenzen aus der Qualität der wahrgenommenen Funktion. Grundrechtsrelevanz, unmittelbarer Zwang und Reichweite der Maßnahme sind u. a. zu berücksichtigen. – Hinsichtlich der Qualität der Beeinflussung sind rechtlich verbindliche Einflüsse (ohne rechtliche Absicherung) unzulässig. Faktische Bindungswirkungen, bspw. durch einen Rechtfertigungsdruck der Entscheidungsträger gegenüber einer öffentlichen Meinung, müssen begrenzt werden. So sind bei der Informationszulieferung die Kenntnis über Herkunft und Zustandekommen der Information, Interessenverflechtungen des Zuliefernden und die Möglichkeit zur Plausibilitätskontrolle auf Seiten des Aufgabenträgers relevante Faktoren. Eine Konkretisierung dieser Managementfunktion für IT-gestützte, modularisierte Verwaltungsverfahren mit Bausteinen aus der Cloud bedeutet u. a., dass die Ent60

So zutreffend auch BVerwGE 140, 245 (251). Vgl. Burgi, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 10 Rn. 35. 62 Bei der Durchführung getroffener Entscheidungen ist eine Einflussnahme ausgeschlossen, bei allgemein-unterstützenden Funktionen weniger wahrscheinlich. 61

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scheidung über die eingesetzten IT-Lösungen (z. B. Online-Dienste und Fachverfahren) eigenverantwortlich getroffen werden muss (z. B. aus einem App-Store der Verwaltung mit zertifizierten Produkten) und dass – wo keine rechtliche Pflicht zur Nutzung bestimmter Angebote existiert – auch eine echte Auswahl bestehen muss. Die Zusammensetzung verschiedener Verfahrensbestandteile muss möglich und ebenfalls eigenverantwortlich seitens des Aufgabenträgers gesteuert sein, was zum Beispiel bedeutet, dass Abhängigkeiten zwischen den Modulen („wenn Du OnlineDienst A einsetzt, muss Du auch Fachverfahren B einsetzen“) auf ein Minimum reduziert werden müssen. Wenn eine menschliche Entscheidung am Ende steht, darf diese nicht vom IT-gestützten Verfahrensgang – z. B. durch den Ausschluss von Entscheidungsoptionen – vorgeprägt sein. Wenn automatisierte und KI-gestützte Elemente Eingang finden, z. B. Plausibilitätsprüfungen oder „Entscheidungsvorschläge und -korridore“ müssen Transparenz und Nachvollziehbarkeit (durch die zuständige Behörde) gewährleistet sein, damit seitens der zuständigen Behörde die Einhaltung der normierten (oder zu normierenden) Anforderungen an den KI-Einsatz überprüft werden kann. Hier bedarf es angesichts der Komplexität und des erforderlichen Fachwissens sicher einer Fortentwicklung: Denkbar wären eine Zurechnung der Expertise Dritter oder die Nutzung von Gütesiegeln. Im Interesse einer möglichst einfachen Lösung für die Verwaltungen vor Ort ließe sich ein App-Store für die öffentliche Verwaltung in diese Richtung weiterdenken, wenn nur Angebote eingestellt werden können, die bestimmte technische Anforderungen (z. B. Schnittstellen) erfüllen, aber zukünftig auch die Verwirklichung rechtlicher Vorgaben nachweisen müssen. In diesem Fall könnten Module „aus dem Store“ seitens der Behörden „guten Gewissens“ eingesetzt werden, ohne dass es eigener IT- und KI-Expertise bedarf.

IV. Handlungsaufträge an Gesetzgebung und Verwaltung Daraus folgen Handlungsaufträge an Gesetzgebung und Verwaltung: – das Verwaltungsverfahrensrecht muss reagieren, aber nicht im Sinne von Verhinderung (so leider § 35a VwVfG mit dem Erfordernis einer spezifischen Rechtsvorschrift), sondern im Sinne der Ermöglichung modularer Verwaltungsverfahren (gesetzliche Definition der Pflichten der zuständigen Behörde) und des Einsatzes von Automations- und KI-Lösungen (z. B. durch eine Klarstellung, dass Verfahrensgrundsätze selbstverständlich auch hier gelten), – die Steuerungskompetenz der öffentlichen Verwaltung muss ausgebaut werden (Stärkung der Managementfunktion), – es muss (gebündelt) Fachexpertise für den KI-Einsatz in der öffentlichen Verwaltung vorgehalten werden und – es müssen rechtliche Rahmenbedingungen für einen offenen App-Store der öffentlichen Verwaltung definiert werden.

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Letztlich geht es um die Stärkung der „digitalen Souveränität“, allerdings nicht des Staates in seiner Gesamtheit (in Abgrenzung zu privaten Marktakteuren) oder einiger weniger Akteure (im Sinne der Sicherung von Geschäftsmodellen), sondern um die die digitale Souveränität jedes einzelnen verantwortlichen Trägers der öffentlichen Gewalt, um diesem für IT-gestützte, modulare Verfahren die gleiche Verfahrensherrschaft zu erhalten, wie er sie im Rahmen der klassischen Verfahrensdurchführung hat.

„Künstliche Intelligenz“ in der Verwaltung im Mehrebenensystem Von Hannah Ruschemeier

I. Auftakt Folgt man der öffentlichen Wahrnehmung, vielen rechtspolitischen Vorstellungen1 und zahlreichen Studien2, ist die Frage, wie sich das Verwaltungsrecht durch Digitalisierung wandelt, wohl nicht ohne das Konzept der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) zu beantworten.3 Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit Chancen und Risiken des Einsatzes von „KI“ in der Exekutive.4 Dieser Fülle an wissenschaftlicher 1

Vgl. nur Bundesregierung, Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung, Dez. 2020, S. 23; https://www.denkfabrik-bmas.de/projekte/ki-in-der-verwaltung. Der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien thematisiert Digitalisierung in der Verwaltung an verschiedenen Stellen, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzes vorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800. Alle Internetquellen wurden zuletzt am 15. 8. 2022 abgerufen. 2 Jan Etscheid/Jörn von Lucke/Felix Stroh, Künstliche Intelligenz in der öffentlichen Verwaltung, 2020; Resa Mohabbat-Kar/Basanta E. P. Thapa/Peter Parycek (Hrsg.), (Un)berechenbar?, 2018; Oliver Gutermuth/Constantin Houy/Peter Fettke, Robotergestützte Prozessautomatisierung für die Digitale Verwaltung, 2020. 3 Das MeMoKI Projekt (Meinungsmonitor Künstliche Intelligenz) beobachtet die Einstellung der Bevölkerung zu Künstlicher Intelligenz; 48 % der Befragten waren im August 2021 der Meinung, dass Künstliche Intelligenz in der Verwaltung eingesetzt werden sollte, 22 % waren dagegen: https://www.cais.nrw/memoki/#1621436343590-3fd1101d-5133. 4 Wolfgang Beck, DÖV 2019, S. 648 (649 ff.); Natalia V. Blinova/Artem V. Kirka/Dmitriy A. Filimonov, in: Socio-economic Systems: Paradigms for the Future, 2021, S. 1679; Gabriele Buchholtz/Martin Scheffel-Kain, NVwZ 2022, S. 612; Barıs¸ C¸alıs¸kan, DÖV 2020, S. 1032; Andreas Ebert/Indra Spieker, NVwZ 2021, S. 1188 (1189 ff.); Jan Etscheid, in: Lindgren/ Janssen/Lee (Hrsg.), International Conference on Electronic Government, 2019, S. 248; Nadja Braun Binder, Schweizerische Juristen-Zeitung (SJZ) 2019, S. 467; Nadja Braun Binder, in: Wischmeyer/Rademacher (Hrsg.), Regulating Artificial Intelligence, 2020, S. 295 f.; Christian Djeffal, in: Klenk/Nullmeier/Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, 2020, S. 1, 6 ff.; Martin Ebers/Veronica Hoch/Frank Rosenkranz/Hannah Ruschemeier/Björn Steinrötter, RDi 2021, S. 528 (530 ff.); Stefan Els, DOeD 2021, S. 161; Christoph Engelmann/Nico Brunotte/Hanna Lütkens, RDi 2021, S. 317; Benjamin Fadavian, in: Mohabbat-Kar/Thapa/Parycek (Hrsg.), (Un)berechenbar?, Juni 2018, S. 294; Thomas Fleischer, KommunalPraxis, S. 111; Annette Guckelberger, Öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung, 2019, S. 486; Annette Guckelberger, DÖV 2021, S. 566; Leonid Guggenberger, NVwZ 2019, S. 844; Mayam Haeri/Pascal König/Tobias D. Krafft/Jürgen Sirsch,

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Analyse und rechtspolitischen Zielen steht in der tatsächlichen Verwaltungspraxis bisher allerdings noch keine staatliche „KI-Infrastruktur“ gegenüber. Vielmehr scheint die Umsetzung der Verwaltungsdigitalisierung flächendeckend defizitär.5 Die Corona-Pandemie hat zudem vielerorts die fehlende digitale Infrastruktur und zugehörigen Instrumente im Exekutivbereich schonungslos offengelegt.6 Wie fügt sich nun die als Hyper-Technologie gehandelte KI in die vermeintliche Kluft zwischen (rechts-)politischen Anspruch und tatsächlicher Verwaltungspraxis ein? Wie so oft lautet die Antwort aus juristischer Perspektive: es kommt darauf an. KI und Verwaltung bleibt in vielen Bereichen noch eine theoretische Überlegung. Bisher wird KI wohl vor allem für vorgelagerte Entscheidungen zur Informationsgewinnung eingesetzt, vollautomatisierte Verfahren finden sich nur in der Finanzverwaltung7, der Fahrzeugzulassung nach § 6g StVG und in § 10a Rundfunkbeitragsstaatsvertrag. Zudem fehlt schlicht ein umfassender Überblick über alle potenziellen und geplanten KI-Anwendungen8 im föderalen Verwaltungssystem der Bundesrepublik. Nach Auskunft der Bundesregierung9 kommen in ihrem Geschäftsbereich Stand et al., Denkanstöße zum Einsatz von ADM-Systemen in der öffentlichen Verwaltung, 2020; Amélie Heldt, NVwZ 2019, S. 862; Hermann Hill, VM 24 (2018), S. 287; Jürgen Lorse, NVwZ 2021, S. 1657; Jan Christopher Kalbhenn, ZUM 2021, S. 663; Jörn von Lucke, Smart Government – Intelligent vernetztes Regierungs- und Verwaltungshandeln in Zeiten des Internets der Dinge und des Internets der Dienste, 2016; Hans Steege, MMR 2019, S. 715 (720 f.); Felfernig/Stettinger et al., in: Handbuch E-Government, 2019, S. 491; Leo Wangler/ Alfons Botthof, in: Wittpahl (Hrsg.), Künstliche Intelligenz, 2019, S. 122; Mario Martini, Blackbox Algorithmus, 2019, S. 16 ff.; Mario Martini, JZ 2017, S. 1017; Basanta E. P. Thapa, in: Klenk/Nullmeier/Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, 2020, S. 209; Alexander Tischbirek, ZfDR 2021, S. 307; Gerold Haouache, in: Beck/Stember (Hrsg.), Der demographische Wandel, 2020, S. 21; Labinot Demaj, Informatik Spektrum 41 (2018), S. 123; Johannes Schmees/Stephan Dreyer, in: Arbeitswelt und KI 2030, 2021, S. 123; Alexander Windoffer, GewArch 2022, S. 130 (132 ff.); Thomas Wischmeyer, in: Ebers/Heinze/ Krügel/Steinrötter (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, S. 614; Meinhard Schröder, VerwArch 2019, S. 328 (334); Peter Ringeisen/Andrea Bertolosi-Lehr/Labinot Demaj, Jahrbuch der Schweizerischen Verwaltungswissenschaften 9 (2018), S. 51; David Roth-Isigkeit, DÖV 2020, S. 1018 (1019 ff.); Sabine Tönsmeyer-Uzuner, Expertensysteme in der öffentlichen Verwaltung, 2000. 5 Der Bericht des Bundesrechnungshofs zur Umsetzung des OZG, bei dem es nicht zwingend um „KI“ geht, rügte explizit die Beschönigung einer defizitären Lage: Bundesrechnungshof, Umsetzung des OZG in den Ressorts, https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroef fentlichungen/produkte/pruefungsmitteilungen/2021/umsetzung-des-ozg-in-den-ressorts (12. 08. 2022), S. 20 f., 30. 6 Sabine Rinck, in: Frevel/Heinicke (Hrsg.), Managing Corona, 2021, S. 361 (361 f.); Christopher Niederelz/Phillip Nguyen/Marco Wähner/Dennis Frieß et al., Verwaltung und Management 28 (2022), S. 186; Bettina Spilker, NVwZ 2022, S. 680 (685). 7 Nadja Braun Binder (Fn. 4); Nadja Braun Binder, DStZ 2016, S. 526 ff. 8 Zum Einsatz von KI im Bereich der Bundesregierung sogleich. 9 Deutscher Bundestag, Drucksache 20/430, 14. 01. 2022; Domscheit-Berg, Meine Anfrage zeigt: Bundesregierung ignoriert Risiken im Bereich Künstliche Intelligenz – Anke Domscheit-Berg, https://mdb.anke.domscheit-berg.de/2022/01/kleine-anfrage-ki-risiken-bundesregierung/ (12. 08. 2022).

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Januar 2021 immerhin 79 verschiedene „KI-Systeme“ zum Einsatz, zahlreiche Projekte in Forschung und Verwaltung laufen dazu. Abstraktes Ziel des KI-Einsatzes in der Verwaltung ist die Reduktion von Komplexität menschlicher Entscheidungen, die sich aus der Menge an zu verarbeitenden Informationen, Informationsdefiziten oder Verfahrensabläufen ergeben kann. Konkret liegt die Hoffnung in der Entlastung von menschlichen Arbeitsprozessen, die in einer Effizienzsteigerung des Verwaltungshandelns münden soll. An vielen Stellen bleibt jedoch offen, was der Maßstab für eine Effizienzsteigerung der Verwaltung eigentlich ist: Verfahrensdauer, Entscheidungsqualität im Sinne von Rechtmäßigkeit, oder Kostensenkung? Die aufgeworfenen Fragen des Einsatzes und der Umsetzung von KI in der Verwaltung bleiben höchstwahrscheinlich nicht theoretisch. KI in der Verwaltung kann neben der tatsächlichen Perspektive auch aus normativer Sicht betrachtet werden, wobei sich beide Aspekte wechselseitig beeinflussen. Denn faktische technische Gegebenheiten, wie die komplexe Entscheidungsfindung eines neuronalen Netzes aufgrund einer menschlich unübersehbaren Datengrundlage, kann sich auch auf die rechtliche Regulierung auswirken. Dies zeigt bspw. der Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission zur Regulierung Künstlicher Intelligenz10, der explizit die „Technik“ von „KI-Systemen“ adressiert und aufgrund des horizontalen Regelungsansatzes auch für die Verwaltung Relevanz entfaltet. Der Beitrag skizziert einen Überblick über KI in der Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der unionsrechtlichen Regulierungsbestrebungen. Er beginnt mit dem theoretischen Ausgangspunkt der schwierigen Begriffsfindung von ,,KI“ als Regulierungssubjekt (II.). Ausgehend von Anwendungsbeispielen (III.) werden die rechtlichen Grenzen des Einsatzes in der Verwaltung skizziert (IV.). Im letzten Teil liegt ein besonderer Schwerpunkt auf den Vorgaben des unionsrechtlichen Mehrebenensystems und ihren Implikationen für die Verwaltung (V.).

II. Grundfragen: Begriff und Regulierungstechnik Die Begriffsverwendung der Künstlichen Intelligenz suggeriert eine neuartige Technologie, deren Ursprünge aber tatsächlich historisch weit zurückreichen und in den Informatik- und Technikwissenschaften auch seit Jahrzehnten etabliert sind und erforscht werden.11 Künstliche Intelligenz hat sich als Begriff in der Alltagssprache, in politischen Diskursen und nun auch auf Rechtssetzungsebene etabliert. Im politischen Kontext ist dies vorteilhaft, da das Konzept „Künstliche Intelligenz“ die nötige Flexibilität ermöglicht, verschiedenste Argumentationen und Themenfelder abzudecken. Setzt man bestimmte technische Charakteristika voraus, fällt längst 10

COM(2021) 206 final – Stand vom 24. 4. 2021. Zur Historie statt aller: Gerard O’Regan, in: Introduction to the History of Computing, 2016, S. 249 ff. 11

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nicht alles, was unter diesem Schlagwort diskutiert wird, in die Kategorie KI. Oft wird zwischen logikbasierten, regelbasierten oder deterministischen Systemen, wie z. B. einem einfachen Entscheidungsbaum und Systemen maschinellen Lernens, unterschieden.12 Was KI in den letzten Jahren so erfolgreich gemacht hat, ist die Kombination mit Big Data, die ermöglicht wurde durch die digitale Transformation und die gesteigerte Rechenkapazität in Sinne der Hardwareleistung. Algorithmen sind deshalb nicht intelligenter als vor 30 Jahren, sie operieren nur mit anderen Grundlagen wie einer perfektionierten Hardware. KI wird oft mit maschinell lernenden Algorithmen gleichgesetzt. Maschinelles Lernen ist Mustererkennung durch enorme quantitative Datenanalyse, zu der Menschen nicht fähig sind. Die Grenzen haben sich immer wieder verschoben, z. B. durch parallel processing13. Das exponentielle Wachstum des Datenverarbeitungspotenzials lässt keine verlässliche Prognose darüber zu, was für Potenziale entsprechende Anwendungen in Zukunft noch entfalten können. 1. Juristische Begriffsverwendung Lernenden Systemen wird erhebliches Leistungspotenzial zugeschrieben. Ihr Ziel ist es, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, Muster zu erkennen und zu extrapolieren.14 Diese Funktionsweise kann aber dazu führen, dass der Systemoutput weder ex ante prognostiziert werden kann, noch eine Nachvollziehbarkeit ex-post gewährleistet ist. Dies schlägt auf die rechtliche Zuschreibung von Verantwortung durch und hat den Systemen den Titel „Black Box“ eingebracht.15 Für gute Ergebnisse maschinellen Lernens ist zudem die Datenzentriertheit entscheidend, die solche Systeme überhaupt ermöglicht. Die Rechtsfragen um KI berühren deshalb stets Aspekte von Datenmacht, Datenverarbeitung und Datenschutz.16 Die öffentliche Verwaltung verfügt über erhebliche quantitative und qualitative Datenmengen, und bietet daher rein vom technischen Ausgangspunkt erhebliches Potenzial für den Einsatz lernender Systeme. Auch die hierarchischen und verfahrensrechtlich uniform strukturierten Entscheidungsabläufe scheinen Automatisierungspotenzial in großem Umfang zu bieten. Dies führt zur Grundfrage der digitalen Transformation, was sich an Entscheidungsprozessen qualitativ und damit rechterheblich verändert, wenn sie durch 12

Alexander Tischbirek, ZfDR 2021, S. 307 (310 ff.). Behrooz Parhami, in: Encyclopedia of Big Data Technologies, 2019, S. 1253. 14 Andreas Häuselmann, in: Law and Artificial Intelligence, 2022, S. 43, 48 ff. 15 Frank Pasquale, The black box society, 2015; Mario Martini, Blackbox Algorithmus – Grundfragen einer Regulierung Künstlicher Intelligenz, 2019. 16 Christian Djeffal (Fn. 4), S. 59; Walter Frenz, in: Frenz (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0: Recht, Technik, Gesellschaft, 2020, S. 1473, 1486; Thomas Hoeren/Maurice Niehoff, RW 9 (2018), S. 47; Basanta E. P. Thapa (Fn. 4), S. 217; Lena Ulbricht, in: Klenk/Nullmeier/Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, 2020, S. 91, S. 98 f. 13

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nicht nachvollziehbare Big Data Analysen getroffen werden. Konsequenterweise sollten diese Herausforderungen dazu führen, sich mit impliziten Grundannahmen des Rechts auseinander zu setzen, die selten Gegenstand juristischer Betrachtungsweise sind, weil sie eben vorausgesetzt werden.17 Deshalb berührt der Einsatz von solchen Systemen in der Verwaltung nicht nur die verfassungsrechtlichen Grundlagen, sondern auch Grundannahmen des Verwaltungsrechts. Es ist überzeugend, an KI höhere Anforderungen zu stellen als an Menschen:18 Algorithmen können eine Vielzahl von Grundrechtsträger:innen betreffen, diese Hebelwirkung stellt höhere Anforderungen an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das damit einhergehende Diskriminierungspotenzial algorithmenbasierter Entscheidungen ist an anderer Stelle ausführlich behandelt worden.19 Die vielschichtigen und überzeugenden Überlegungen dazu gründen sich auf den besonderen Gefahren der Reproduktion versteckter und Entwicklung neuer Diskriminierungsmuster, die aufgrund der Hebelwirkung algorithmenbasierter Datenanalysen besondere Grundrechtsrelevanz entfalten. Die Frage nach Instrumenten eines strukturellen verfahrensbezogenen Diskriminierungsschutzes in der Verwaltung ist zudem unabhängig vom Einsatz von KI, z. B. bei ähnlich gelagerten Massenverfahren relevant. Gerade wenn es um die Verarbeitung großer Datenmengen geht, können aber auch vermeintlich einfache (logikbasierte) Entscheidungssysteme, wie Entscheidungsbäume, die nicht mit maschinell lernenden Algorithmen arbeiten, eine aus menschlicher Sicht erhebliche Komplexität aufweisen. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen KI- Systemen und logikbasierten Systemen nicht in allen Fällen zielführend.20 Die Unterscheidung zwischen vollautomatisierten und entscheidungsunterstützenden Entscheidungen, den die DSGVO de lege lata in Art. 22 DSGVO aufgreift, ist aus der Schutzperspektive unter Berücksichtigung der Erkenntnisse zur overreliance bzw. dem automation bias jedenfalls nicht generalisierbar.21 Der Begriff KI ist deshalb nicht falsch, aber im juristischen Kontext wenig gewinnbringend.22 Er suggeriert eine Distinktion zwischen vermeintlich intelligenten, z. B. maschinell lernenden Systemen oder neuronalen Netzen und automatisierten logik-basierten Verfahren; eine Differenzierung, die sich hinsichtlich der (potenziellen) Auswirkungen auf 17 Zu Begründungsnetzen in der Rechtswissenschaft aus physikalischer Perspektive: Josef Honerkamp, in: Die Idee der Wissenschaft, 2017, S. 143, 163 ff. 18 Timo Rademacher, in: Eifert (Hrsg.), Digitale Disruption und Recht, 2020, S. 45, 54. 19 Thomas Wischmeyer, AöR 143 (2018), S. 1 (26 ff.); Yoan Hermstrüwer, AöR 145 (2020), S. 479 ff.; Mario Martini (Fn. 15), S. 47 ff.; Hans Steege, MMR 2019, S. 715 (716 ff.); Gabriele Buchholtz/Martin Scheffel-Kain, NVwZ 2022, S. 612 f. 20 So auch bei Haftungsfragen logikbasierter Systeme, die sich durch Komplexität und Kollaboration im Rahmen der Entwicklung verkomplizieren. 21 Kate Goddard/Abdul Roudsari/Jeremy C. Wyatt, Journal of the American Medical Informatics Association 2012, S. 121; David Lyell/Enrico Coiera, Journal of the American Medical Informatics Association 24 (2017), S. 423. 22 Zur Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Disziplinen: Ruschemeier, AI as a challenge for Law, ERA Forum (i. E.).

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rechtliche Schutzgüter jedenfalls nicht präzise ziehen lässt. Entscheidend für eine rechtliche Regulierung können schon aus Gründen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht die Technologie, sondern nur die Auswirkungen der Technologie sein. Für die Auswirkungen entsprechender Technologien gelten im Verwaltungseinsatz besondere Vorgaben. Diese Grundthese schlägt somit die Brücke zur Verwaltung, in der für den Einsatz entsprechender Technologien besondere determinierte Rahmenbedingungen gelten.23 2. Regulierungstechnische Herausforderungen Es gibt bisher keine spezialgesetzlichen Vorgaben für den Einsatz von KI im staatlichen Bereich. Auch die DSGVO, die sich als Regelwerk für die Verarbeitung personenbezogener Daten zumindest mittelbar auf den Einsatz von algorithmenbasierten Systemen auswirken kann,24 normiert technologieneutrale Vorgaben.25 Art. 22 DSGVO betrifft zwar vollautomatisierte Entscheidungen und kann sich dadurch auf KI auswirken, die Norm ist dennoch technologieneutral formuliert. Zudem wurde sie zwar als „KI-Vorschrift“ gehandelt, hat aber aufgrund des restriktiven Tatbestandes einen höchst limitierten Anwendungsbereich.26 Dass sich Schwierigkeiten im Hinblick auf die bisherige Rechtslage ergeben können, verdeutlicht z. B. der Komplex der Staatshaftung für digitalisiertes Verwaltungshandeln.27 Andererseits ist es rechtsstaatlich weder erforderlich, noch geboten, jede technische Entwicklung in neue gesetzliche Vorgaben zu fassen. Den richtigen Weg zu finden, ist komplex – die Schwierigkeiten der Begriffsbildung28 zeigen sich aktuell auch anhand des Anwendungsbeispiels des unionsrechtlichen Verordnungsvorschlags (KI-VO-E).29 Die finale Fassung des KI-VO-E ist inhaltlich und zeitlich schwer abzuschätzen, bis zum 1. Juli 2022 sind 3312 Änderungsvorschläge eingegangen.30 Der hier zugrunde gelegte Entwurf lässt aber aufgrund des regulatorischen Designs wertvolle Rückschlüsse auf die rechtliche Einhegung von KI in der Verwaltung zu.

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Dazu auch eingehend: Mario Martini, in: Kahl/Ludwigs/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, 2021, Rn. 90 ff. 24 Zu den ethischen Implikationen: Rainer Mühlhoff, Ethics Inf Technol 2021, S. 675; zu den Schutzlücken der DSGVO bei prädiktiven Modellen: Mühlhoff/Ruschemeier, Predictive Analysis und DSGVO, Telemedicus Tagungsband 2022, S. 38 ff. 25 Vgl. nur Ergr. 15; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 136, 8 ff.; Albers/Veit, in: Wolff/ Brink (Hrsg.), BeckOK DatenschutzR, 40. Ed. 2022, Art. 6 DS-GVO, Rn. 13. 26 Dazu auch V.1. 27 Mario Martini/Hannah Ruschemeier/Jonathan Hain, VerwArch 2021, S. 1 ff.; David Roth-Isigkeit, AöR 2020, S. 321 ff. 28 Karl Larenz, in: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1969, S. 412. 29 COM(2021) 206 final – Stand vom 24. 4. 2021. 30 Benifei/Tudorache, Draft report, 13. 06. 2022.

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a) Anwendungsbereich und Relevanz für die Verwaltung Der KI-VO-E definiert harmonisierte Vorschriften für „KI-Systeme“: Sie normiert Verbote bestimmter Praktiken, besondere Anforderungen an Hochrisikosysteme und Verpflichtungen für die Betreiber:innen, harmonisierte Transparenzvorschriften sowie Vorschriften für Marktbeobachtung und -überwachung als Anwendungsgegenstand. Art. 1 KI-VO-E. Der KI-VO-E verfolgt einen risikobasierten Regulierungsansatz, der „KI-Systeme“ in verbotene, Hochrisiko und Systeme mit geringem Risiko einordnet.31 Wie die DSGVO32 differenziert der KI-VO-E nicht zwischen privaten und öffentlichen Anbieter:innen und Nutzer:innen, sondern gilt gleichermaßen im privaten und öffentlichen Sektor. Deshalb sind die Vorschriften auch für den Verwaltungseinsatz höchstrelevant.33 Der KI-VO-E verwendet den Begriff der KI-Systeme und definiert diese als Software, die in Annex I aufgeführte Techniken oder Ansätze verwendet, und die in Abhängigkeit von menschlich gesetzten Zielen bestimmte Ergebnisse hervorbringen kann, Art. 3 Nr. 1 KI-VO-E. Annex I wiederum umfasst Konzepte des maschinellen Lernens und des tiefen Lernens (a), Logik- und wissensgestützte Konzepte, einschließlich logischer Programmierung und anderer Schlussfolgerungen (b) sowie statistische Ansätze, Bayessche Schätz-, Such- und Optimierungsmethoden (c). Dadurch ist jedes Softwaresystem umfasst und die „KI-Verordnung“ ist in dieser Fassung eine „Software-Verordnung“. b) KI als nicht tauglicher regulatorischer Bezugspunkt Der Regulierungsgegenstand der KI-VO wird deshalb nicht durch den Bezug zur KI selbst definiert, sondern erst durch den risikobasierten Ansatz der Klassifikation in verbotene, Hochrisiko und nicht-risiko-relevanten KI-Anwendungen, Art. 5, 6 KIVO-E. Die Risikoeinstufung wiederum richtet sich nach der Schadens- und Bedrohungswahrscheinlichkeit für die zu schützenden Rechtsgüter, Art. 7 Abs. 2 KIVO-E. Art. 5 KI-VO-E verbietet KI-Systeme, wie die Echtzeit-Fernidentifizierung, also die biometrische Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Für die Grundrechtsrelevanz der davon betroffenen Personen spielt es keine Rolle mit welchen technischen Spezifika das jeweilige System arbeitet, sondern welche Rechtsgüter gefährdet sind. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf mittelbare Beeinträchtigungen, wie dem Absehen der Wahrnehmung grundsätzlich grundrechtlich geschützten Verhaltens. 31 Die mit natürlichen Personen interagieren sollen, für KI-Systeme zur Emotionserkennung und zur biometrischen Kategorisierung sowie für KI-Systeme, die zum Erzeugen oder Manipulieren von Bild-, Ton- oder Videoinhalten verwendet werden, Art. 1 lit. d) KI-VO-E. 32 Die Datenverarbeitung durch Polizei und Strafverfolgungsbehörden ist in der RL 2016/ 80 geregelt und vom Anwendungsbereich der DSGVO ausgenommen. 33 Insbesondere die verbotenen Praktiken des Art. 5 KI-VO-E normieren detaillierte Anforderungen an Verwaltungsverfahren und Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, dazu unten V.

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Die Gefährdungslage ergibt sich in diesem Fall durch die faktische Totalüberwachung des öffentlichen Raums, den damit einhergehenden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und mittelbar durch daraus entstehende Abschreckungseffekte34 auf die Wahrnehmung anderer Grundrechte. Ob sich diese Faktoren aus dem Einsatz von KI oder anderer Software speisen, ist nicht relevant. Das Ziel der future-proof legislation, die Grundrechte schützt, erfordert eine gewisse Technologieneutralität. Dies zeigt sich anschaulich am Referenzgebiet des Umweltrechts, seine Prinzipien der Verantwortung- und Vorsorge sind technikneutral. Das BImSchG in seiner jetzigen Fassung differenziert nicht danach, ob eine genehmigungsbedürftige Anlage durch Kohleöfen oder ein neuronales Netz betrieben wird, entscheidend sind die produzierten Emissionen und Immissionen; also der output. Der output wiederum ist für die umweltrechtlichen Schutzgüter relevant: die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, Schutz von Leib und Leben und Gesundheit. Juristische Lösungen sind in Bezug auf KI nur fruchtbar, wenn sie in ihrer Ausrichtung kontextbezogen sind. Der KI-basierte Chatbot, der Öffnungszeiten der Behörde in verschiedenen Sprachen mitteilen kann, ist nicht allein deshalb ein Rechtsproblem, weil KI verwendet wird und umgekehrt ist ein fehlerhafter Entscheidungsbaum der tausende von Bescheiden in der Leistungsverwaltung falsch berechnet nicht deshalb unproblematisch, weil es sich nicht um KI handelt. Konkrete Anwendungsszenarien für den KI-Einsatz sind schon bereits deshalb hilfreich, da sich daraus die kontextrelevanten Konsequenzen abschätzen lassen.

III. Anwendungsszenarien als Herausforderung Eine große Herausforderung mit der Beschäftigung von KI in der Verwaltung ist die Identifikation von Anwendungsszenarien der deutschen Verwaltung. Im Geschäftsbereich der Bundesregierung kommen verschiedenste Systeme in einer Breite von Anwendungsszenarien zum Einsatz.35 Bei der überwiegenden Mehrzahl der Anwendungsfälle handelt es sich um Systeme zur Berechnung, Analyse oder Bewertung, die nicht vollautomatisiert output produzieren, der sich bspw. unmittelbar auf die Rechtsstellung der Büger:innen außerhalb der Verwaltung auswirkt, sondern zur Unterstützung von Entscheidungen dienen. Dies dürfte auch für den Großteil der in anderen Behörden eingesetzten „KI-Systeme“ gelten. Ein Beispiel für den vollautomatischen „KI-Einsatz“ ist hingegen der Chatbot der Generalzolldirektion zur Beantwortung von allgemeinen Anfragen im Bereich KfZ34 Julian Staben, Der Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung, 2017, S. 24 ff., 30 f.; Johanna Zanger, Freiheit von Furcht, 2016, S. 65 ff. 35 BT-Drs. 20/430.

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Steuer und Zoll.36 Der Chatbot Viola kommt auch im Bundesministerium der Finanzen zum Einsatz. Die meisten Einträge verzeichnen das RKI und die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe mit jeweils acht KI-Anwendungsfeldern, was aufgrund der stark durch Daten geprägten Einsatzbereichen wie der Erkennung von statistischen Auffälligkeiten in gemeldeten Infektionskrankheiten oder bundesweiten Grundwasserstandsprognosen naheliegend ist. Wenig überraschend sind die weiteren Einsatzbereiche so divers wie die Tätigkeiten der Ministerien und Bundesinstitutionen: von der Pflanzenzüchtungsforschungsanalyse des Julius-Kühn-Instituts zur weltweiten Krisenfrüherkennung in militärisch relevanten Zusammenhängen des Verteidigungsministeriums.37 In der Diskussion stand aus dem Anwendungsbereich der Bundesregierung vor allem die Profilanalyse des BAMF bezüglich sicherheitsrelevanter Erkenntnisse und deren Weiterleitung an die Nachrichtendienste und das BKA.38 Dabei werden aus Anhörungsprotokollen potenziell relevante Textstellen extrahiert. Kritisiert wurde vor allem die signifikante Steigerung der Datenübermittlung an den Verfassungsschutz von 500 auf 10.000 Hinweise innerhalb von zwei Jahren.39 Zudem nutzt das BAMF Software, um Dialekte zu erkennen40 und Textnachrichten auf Smartphones auszulesen, um so die Angaben von Asylbewerber:innen zu überprüfen.41 Die Grundrechtsrelevanz dieser Anwendungsbeispiele ist evident und illustriert auch eine große Divergenz z. B. zum KfZ-Chatbot. Auch in diesem kritischen Anwendungsfall ging es weniger um die Besonderheiten der Technik, wie eine fehlende Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen, sondern um die Datenübermittlung und -auswertung an sich. Dabei sind in jedem Fall die rechtlichen Grenzen zu beachten, was zu den normativen Grundlagen führt.

IV. Rechtliche Vorgaben 1. Einfach-gesetzlicher Rahmen Die normativen Grundlagen für vollautomatisierte Verwaltungsentscheidungen hat der Gesetzgeber in § 35a VwVfG, § 31a SGB X und § 155 Abs. 4 AO bereits ge36

https://www.zoll.de/DE/Kontakt/Auskunft_Chatbot/auskunft_chatbot_node.html. BT-Drs. 20/430, S. 6, 7. Der Bereich der Gefahrenabwehr wurde dabei aus Geheimhaltungsgründen ausgeklammert. 38 Grds. ist das BAMF dazu gesetzlich verpflichtet. §§ 18 Abs. 1, 1a, 3 BVerfSchG; § 23 Abs. 3 BNDG, § 8 Abs. 3 BKAG. 39 https://netzpolitik.org/2019/asylbehoerde-sucht-mit-kuenstlicher-intelligenz-nach-auffael ligen-gefluechteten/. 40 Die Software wurde ohne Beteiligung von Sprachwissenschaftler:innen entwickelt. 41 Diese Datengrundlagen tauchen allerdings in der jüngsten Antwort der Bundesregierung nicht mehr auf. 37

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legt;42 prinzipiell können dabei in den gesetzlichen Grenzen und unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze43 auch KI-Systeme zum Einsatz kommen44 – rechtliches Kriterium ist das der Vollautomatisierung, nicht des Einsatzes einer bestimmten Technik.45 Hintergrund der gesetzlichen Regelung der Vollautomatisierung ist auch, dass Verwaltungsmitarbeiter:innen überdurchschnittlich viel mit Routineaufgaben befasst sind. Gerade in Massenverfahren birgt KI deshalb das Potenzial eine Verfahrensbeschleunigung zu bewirken, um personelle Ressourcen freizusetzen, die wiederum genutzt werden können, um atypische, komplexe Fallkonstellationen sachgerecht zu lösen.46 Effizienz- und Effektivitätssteigerungen der Verwaltung sind allerdings kein Selbstzweck, sondern müssen sich stets an den konkreten Aufgaben der Exekutive messen lassen. Das best case scenario wäre also eine Aufgabenverlagerung von Routineaufgaben auf algorithmenbasierte Systeme und die schwerpunktmäßige Befassung von komplizierteren Entscheidungen – auf Rechts- und Tatsachenebene – durch menschliche Mitarbeiter:innen. Ein passendes Beispiel ist die automatische Klassifikation von Studienbescheinigungen für die Familiengeldkasse, die bisher händisch geprüft werden mussten und nun ein Entscheidungsvorschlag durch ein algorithmenbasiertes System erfolgt.47 Das Ergebnis des Prüfverfahrens – richtiges Semester, richtige zugeordnete Person – wird angezeigt und muss durch eine Mitarbeiterin bestätigt werden. Ein solcher Einsatz von Systemen als Entlastungstool erscheint im Sinne einer effektiven Verwaltung sogar geboten. Die Trainingsdatengrundlage in diesem Fall war klar identifizierbar, abgrenzbar und datenschutzrechtlich unbedenklich. Dieses entscheidungsunterstützende System könnte zukünftig auch als vollautomatisierter Entscheidungsschritt erfolgen. Ein automatisierter Entscheidungsschritt ist aber noch keine vollautomatisierte Entscheidung. In vielen Antragsverfahren der Leistungsverwaltung, in denen es weniger um Prognosen, sondern schlicht um Sachverhaltsermittlungen geht, liegen zahlreiche potenzielle Anwendungsfälle für Automatisierung, z. B. durch Texterkennung und Abgleiche mit vorhandenen Informationen. Ein flächendeckender Einsatz von KI in der Verwaltung in Form vollautomatisierter Verwaltungsakte setzt darüber hinaus aber nicht nur entsprechende normative Vorgaben auch bzgl. sekundärer Haftungsfragen voraus, sondern eine Anpassung des Gesamtsystems des Verwaltungsverfahrens als Entscheidungssystem.48 42 Durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens, BGBl. I 2016, S. 1679. 43 Dazu auch unten IV.3. 44 Vgl. auch Thomas Wischmeyer, AöR 143 (2018), S. 1 (41). 45 Erforderlich ist die Zulassung durch Rechtsvorschrift; davon wurde bisher nur zurückhaltend in §§ 88 Abs. 5, 155 Abs. 4 AO, § 6g StVO und § 10a Rundfunkbeitragsstaatsvertrag Gebrauch gemacht. 46 Überblick bei Thomas Wischmeyer (Fn. 4), Rn. 3 ff. 47 Jan Engelmann/Michael Puntschuh, KI im Behördeneinsatz, Kompetenzzentrum Öffentliche IT, 2020, S. 23. 48 Dazu auch Margrit Seckelmann, Die Verwaltung 54 (2021), S. 251 (254 ff.).

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2. KI bei Ermessensentscheidungen? Technisch wird es zukünftig wohl keine Hindernisse geben, Systeme auch bei Ermessensentscheidungen anhand der durch Daten abgebildeten tatsächlichen Ausgangslage Muster erkennen und hinsichtlich der Rechtsfolge auf neue Fälle übertragen zu lassen.49 Argumentiert wird, dass Entscheidungen mit Beurteilungsspielraum durch den Einsatz entsprechender Systeme gleichförmiger und besser ausfallen könnten, als die von menschlichen Amtswaltern.50 Ob menschliche oder IT-gestützte Entscheidungen „besser“ sind, hängt entscheidend vom Maßstab ab, anhand dessen sie beurteilt werden.51 Für die Verwaltung gilt zunächst die strikte Gesetzesbindung, der Gleichbehandlungsgrundsatz sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Entsprechend wäre eine Änderung des § 35a VwVfG erforderlich und wünschenswert.52 Algorithmen sind effektiver und präziser als Menschen, wenn es um die Analyse großer Datenmengen und Berechnungen statistischer Modelle geht. Für den Verwaltungseinsatz ist deshalb weniger die Frage von Ermessens- oder gebundenen Entscheidungen eine sinnvolle Richtschnur, sondern der „situationsadäquate“ Einsatz53 der Systeme. Lernende Systeme können durch statistische Modelle Wissen erzeugen, entscheidend ist aber, wie dieses Wissen im Gesamtsystem der Entscheidungsfindung innerhalb der Verwaltung überhaupt eingesetzt wird. Zunächst ist erforderlich, dass die rechtlichen Entscheidungsparameter durch eine hinreichende Datengrundlage unterlegt sind. Vorfilter dieser hinreichenden Entscheidungsgrundlage ist zunächst das Datenschutzrecht54; prädiktive Analytik ist zudem in der Lage, Prognosen mit hohem Wahrscheinlichkeitsgehalt über Individuen zu erstellen, auch aus anonymisierten Daten oder aus Ableitung der Daten Dritter.55 Im staatlichen Bereich muss diese kollektive Datenausnutzung stets unzulässig bleiben, auch wenn Algorithmen daraus sachverhaltsergänzende Informationen über Antragsteller:innen gewinnen könnten. Für die juristisch relevante Frage der Kausalität in Bezug auf Fragen nach Adressat:innen oder Haftung scheiden vollautomatisierte Algorithmen aufgrund ihrer Konstruktionsweise, die allein Korrelationen abbildet, prinzipiell aus. Entscheidungsunterstützende Analysen sind jedoch denkbar und durch die Äquivalenz- und Adäquanztheorie bspw. auch nicht dogmatisch aus-

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Vgl. Annette Guckelberger (Fn. 4), S. 488. Martini Mario/David Nink, DVBl. 2018, S. 1128 (1128). 51 Einschränkend zur Subsumtionsfähigkeit von Algorithmen: Daniel Timmermann/Katharina Gelbrich, NJW 2022, S. 25 (27 f.). 52 Alexander Tischbirek, ZfDR 2021, S. 307 (318). 53 Thomas Wischmeyer, AöR 143 (2018), S. 1 (32). 54 Thomas Wischmeyer, AöR 143 (2018), S. 1 (35). 55 Zur prädiktiven Analytik und ihre Herausforderungen für die DSGVO eingehend: Mühlhoff/Ruschemeier, Predictive Analysis und DSGVO, Telemedicus Tagungsband 2022, S. 38 ff. 50

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geschlossen.56 Stützen sich Verwaltungsentscheidungen auf Wahrscheinlichkeiten und Prognosen oder Berechnungen, wie bereits in § 88 Abs. 5 AO reflektiert, ist ein Einsatz algorithmenbasierter Systeme z. B. in der Leistungsverwaltung nicht ausgeschlossen, auch im Ermessensbereich. Davon ausgeklammert werden muss das polizeiliche Gefahrenabwehrrecht57, einerseits aufgrund der besonderen Herausforderungen von Echtzeitentscheidungen als auch aufgrund der besonderen Grundrechtsrelevanz.58 3. Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip Der Einsatz von KI in der Verwaltung entbindet nicht von den rechtsstaatlichen Anforderungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips. Auch in der digitalen Transformation gelten die Argumente der verwaltungsrechtlichen Diskussion der 1990er Jahre, die sich auf die privaten Handlungsfolgen bezog. Das Ergebnis bleibt gleich: Der Staat ist verantwortlich, egal in welcher Form er handeln. a) Demokratische Legitimation Die Sicherung von Verantwortlichkeit ist rechtsstaatlich determiniert. Dies ist eng verbunden mit der demokratischen Legitimation digitalen Staatshandelns. Kommen „KI-Systeme“ perspektivisch in vollautomatisierten Verfahren zum Einsatz, ist die demokratische Legitimation der Verwaltungsentscheidung zu gewährleisten.59 Hier bestehen keine Unterschiede gegenüber anderen technischen Automatisierungen. Die Verwaltung verfügt Stand jetzt nicht über hinreichende Expertise innovative digitale Technologien für den „eigenen Dienstgebrauch“ selbst zu entwickeln, sondern kauft diese ein, lässt sich extern beraten oder lagert ganze Projekte schlicht aus. Dies macht die Entscheidungsfindung, sei es durch Einbindung Privater oder technischer Systeme oder beides, zwingend mittelbarer: der Verwaltungsoutput entfernt sich von der entscheidenden menschlichen Person in der Behörde. Die Frage der Legitimation kann sich auch auf das Handeln Privater beziehen, die, z. B. durch Programmierung des Systems, über eine mit der Verwaltung vergleichbare funktionale Macht verfügen.60 56 Roman Konertz/Raoul Schönhof, Technische Phänomen „Künstliche Intelligenz“ im allgemeinen Zivilrecht, 2020, S. 131, verneinen dies in Fällen der Fremdzurechnung des Verhaltens „Künstlicher Intelligenz“. 57 Alexander Tischbirek, ZfDR 2021, S. 307 (315 f.) nennt weitere Anwendungsszenarien im Bereich der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr, z. B. im Bereich der Hochwasserwarnung. 58 Timo Rademacher, AöR 2017, S. 366 (378). 59 Viktoria Herold, Demokratische Legitimation automatisiert erlassener Verwaltungsakte, 2020 – passim. 60 Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Unger/Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 130, 141.

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Jedes amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter ist Ausübung von Staatsgewalt und nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG legitimationsbedürftig. Zunächst ist die demokratische Legitimation der Exekutive an sich mittelbar durch Bindung aller – nicht gewählten, sondern ernannten – Amtswalter:innen an Recht und Gesetz gefordert. Die Idee der zwischen Gesetzgeber und Rechtsanwendung durchgehenden Legitimationskette passt nicht mehr, wenn es keine eindeutigen Vorgaben und linearen Zusammenhänge zwischen den Entscheidungselementen mehr gibt, woran es bei Ermessen, unbestimmten Rechtsbegriffen und Prognosen fehlen kann.61 Das erforderliche flexible demokratische Legitimationsniveau62 ist von der Bedeutung der wahrgenommenen Aufgabe abhängig, wobei letztlich die Effektivität der demokratischen Legitimation in der Zusammenschau – nicht der isolierten Wahrnehmung der Verwaltungsaufgabe – entscheidend sein soll.63 Nach dem Bundesverfassungsgericht soll die Legitimation „konkret erfahrbar und praktisch wirksam sein.“64 Davon macht das Bundesverfassungsgericht nur dann eine Ausnahme, wenn die übertragenen Aufgaben so unwichtig sind, dass sie auf Institutionen ohne ausreichende demokratische Legitimation übertragen werden könnten.65 Lediglich bei beratenden und informierenden Tätigkeiten kann die Kette durchbrochen werden, wie bei beratenden Gremien oder Kommissionen: bei lernenden Systemen ist dies offensichtlich nicht einschlägig. Diskutiert wird zudem, ob weitere Elemente eine Legitimation zumindest mitbewirken können oder ob sie als Kompensation für die klassischen Elemente dienen können.66 Relevant für den Einsatz von lernenden Systemen dürfte primär das Kriterium der Entscheidungsgewalt sein. Sobald ein System entscheidungsrelevanten output produziert, muss dieser demokratisch legitimiert sein. Dies ist auch bei einer nur faktischen Präjudizierung nachfolgender Behördenentscheidungen der Fall. Durch Effizienz, Präzision, Effektivität oder Sachkunde kann dieser Legitimationsstrang allein jedenfalls nicht ersetzt werden. Hinsichtlich der personellen demokratischen Legitimation kommt das System selbst als Zurechnungssubjekt nicht in Betracht. Der output des Systems muss sich vielmehr einem demokratisch legitimierten Subjekt zurechnen lassen. Die Amtswalterin genießt demokratische Legitimation, das technische System als solches nicht. Deshalb muss der Anknüpfungspunkt nach dem normativen personellen Legitimationsmodell stets eine menschliche Entscheidung sein. Dafür kommt die Entscheidung über den Einsatz des Systems per se oder die Daueraufgabe der Über-

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Wolfgang Hoffmann-Riem (Fn. 60), 142, 144. BVerfGE 93, 37 (75 ff.). 63 Wolfgang Hoffmann-Riem (Fn. 60), S. 145 spricht von einem „Legitimationsnetzwerk“. 64 BVerfGE 107, 59 (91). 65 BVerfGE 47, 253 (274), dort ging es um die Aufgabenwahrnehmung von Gemeinden. 66 Prüfung der Übertragbarkeit bei vollautomatisierten Entscheidungen bei Viktoria Herold (Fn. 59), S. 166 ff. 62

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wachung des Systems im laufenden Betrieb in Betracht, die sich stets dazu aktualisiert, das System weiter einzusetzen. Ob regelbasierte, fallbasierte oder hybride Systemtechnologien eingesetzt werden, ist für die Zurechnungsfrage und damit das Legitimationserfordernis nach den für die Verwaltung geltenden Anforderungen ebenso unbeachtlich wie die Frage, ob ein selbstlernendes System vorliegt. Jedes Automationssystem, das willentlich von der Verwaltung zum automatisierten Erlass eines Verwaltungsakts eingesetzt wird, unterliegt den für die Verwaltung geltenden Anforderungen an die demokratische Legitimation ihres Handelns.67 Auf eine Willensbildung der Verwaltung im Einzelfall kommt es nicht an, es genügt ein abstrakter Willenszusammenhang zur Verwaltung, der beispielsweise im nach außen erkennbaren Willen zur Verwendung eines Automationssystems zum Ausdruck kommen kann. Die tatsächliche Kontrollmöglichkeit der Exekutive verringert sich, je komplexer das eingesetzte System ist. Der Einsatz kann deshalb nur im Hinblick auf den betroffenen Sachbereich beurteilt werden können. In jedem Fall handelt es sich um eine Dauerpflicht, die bei lernenden Systemen auf eine output-Kontrolle hinauslaufen wird. b) Transparenz als rechtsstaatliche Anforderung Die Anforderungen an die Transparenz algorithmenbasierter Entscheidungssysteme wird rechtsgebietsübergreifend diskutiert. Im Zivilrecht spielen vor allem Haftungsfragen, im Strafrecht Verantwortungs- und Schuldaspekte eine Rolle.68 Letztlich geht es im Kern um den Nachweis und die Zuordnung rechtlicher Verantwortung, die zugleich Voraussetzungen für Rechtssicherheit und effektiven Rechtsschutz sind. Die Grundlagen der Forderung nach Transparenz (insbesondere des staatlichen Handelns) lassen sich deshalb im Rechtsstaatsprinzip verorten.69 Konkrete Anforderungen an Transparenz unterscheiden sich nach Einsatzkontext der algorithmenbasierten Systeme, ihre Formulierung ist anspruchsvoll.70 XAI (explainable AI) ist inzwischen ein eigener, interdisziplinärer Forschungsschwerpunkt.71 Transparenz kann im Verwaltungskontext aber nie Selbstzweck sein, sondern ist immer in Relation zu den schützenden Rechtsgütern zu bestimmen. Dass die Offenlegung des 67

Mario Martini (Fn. 23), Rn. 87. Vgl. nur Anna Lohmann, Strafrecht im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz, 2021, S. 81 ff. 69 Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 146; Felix Drefs, in: Dreier/Fischer/van Raay/Spiecker gen. Döhmann (Hrsg.), Informationen der öffentlichen Hand – Zugang und Nutzung, 2016, S. 90; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 134, 140. 70 Siehe nur die Debatte im Datenschutzrecht: Tae Wan Kim/Bryan R. Routledge, Bus. Ethics Q. 32 (2022), S. 75; Sandra Wachter/Brent Mittelstadt/Luciano Floridi, International Data Privacy Law 7 (2017), S. 76. 71 Z. B. Andreas Holzinger, Informatik Spektrum 41 (2018), S. 138; Michael Winikoff/Julija Sardelic, IEEE Internet Computing 25 (2021), S. 116. 68

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Quellcodes eines Algorithmus für die meisten Menschen keinen Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Entscheidungsfindung bringt, ist inzwischen ein Allgemeinplatz. Transparenz kann daher nur die Vorstufe zu Verständlichkeit sein. Algorithmenbasierte Systeme sind bei reiner input-output-Betrachtung nicht intransparenter als menschliche Entscheidungen, durch den Tenor des Verwaltungsakts allein, ist der Entscheidungsprozess der Amtswalterin noch nicht ersichtlich. Das Recht geht allerdings durch Begründungsanforderungen72 davon aus, dass Menschen ihre Entscheidungen ex-post erklären können, sich also Motive für einen bestimmten Entscheidungsprozess identifizieren lassen. Diese Motive sind nicht immer höchst-individuell und unvorhersehbar, sondern können auch typisiert werden, wie z. B. Befangenheitsvorschriften in verschiedenen Bereichen des Verwaltungsverfahrens zeigen, denen gerade die Annahme zugrunde liegt, dass bestimmte Motive Entscheidungen beeinflussen können.73 Algorithmenbasierte Entscheidungssysteme sind deshalb stärker als soziale und humanbezogene Technologie zu begreifen, was sich auch auf die Formulierung von Transparenz auswirkt. Wenn verständlich gemacht werden kann, in welchen Rahmen und aufgrund welcher input-Variablen das System entschieden hat, lassen sich Schlüsse ziehen, z. B. darüber, ob falsche Informationen verarbeitet wurden. Auf den genauen Prozess der Entscheidungsfindung kommt es dann weniger an. Detailliertere Erklärung führen zudem nicht zu einer linear steigenden besseren Möglichkeit der Rechtswahrnehmung der Betroffenen. Wie bei menschlich getroffenen Verwaltungsentscheidungen auch, kann die Transparenz nur darauf zielen, überhaupt von der automatisierten Entscheidung zu erfahren und sich gegen diese zur Wehr zu setzen. Schließlich läuft dies auf eine klassische Abwägung nach Risikosphären hinaus: lässt sich der Systemfehler nicht identifizieren oder aufklären, kann dies nur zulasten des Hoheitsträgers gehen, der das System einsetzt. c) Staatshaftung Ungeklärte Fragen der Staatshaftung erschweren den Einsatz von algorithmenbasierten Systemen in der Verwaltung. Denn aufgrund der Gesetzesbindung kann sich die Exekutive keinen offenen Haftungsfragen aussetzen, wenn es um die flächendeckende Implementation technischer Entwicklungen in den Verwaltungsalltag geht. Die Erwägungen zur Staatshaftung sind eng mit den Aspekten der demokratischen Legitimation verknüpft, da sie sich ebenfalls um Zurechnungsfragen drehen, die zwingend mittelbarer werden. Als haftungsbegründende Anknüpfungspunkte sind die Entscheidungen über die Zulassung des Systems („ob“) und die laufende Überwachung des Systems („wie“) naheliegend. Eine fehlerhafte Einsatzentscheidung entspricht in ihrer Struktur einem 72 Siehe auch Thomas Wischmeyer, AöR 143 (2018), S. 1 (46 ff.) zu den Begründungsanforderungen an intelligente Systeme. 73 Auch wenn es bereits ohne Kausalitätserfordernis um die „Vermeidung des bösen Scheins“ geht; statt aller: Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 21 VwVfG, Rn. 9.

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Fall des Organisationsverschuldens,74 die Überwachung eines Systems im Verwaltungseinsatz fordert laufende Kontroll- und Überwachungspflichten (IT-Verkehrssicherungspflicht), deren Dichte sich nach Einsatzgebiet und Komplexität des Systems richten.75 Die Herausforderungen des effektiven Rechtsschutzes zeigen die dogmatischen Schwächen der bisherigen Konstruktion des Staatshaftungsrechts deutlich auf. Die weitreichende Objektivierung des Fahrlässigkeitsmaßstabs hat dazu geführt, dass faktisch von der Amtspflichtverletzung auf das Verschulden geschlossen wird, auch wenn die Rechtsprechung eine Beweislastumkehr bisher nicht explizit anerkannt hat.76 Praktisch werden sich Erwägungen zu Amtspflichtverletzung und Verschulden nicht mehr differenzieren lassen: war trotz umfangreicher Testung und Kontrolle ein schadensverursachender output nicht erkennbar, liegt schon keine Amtspflichtverletzung vor, ein Verschulden scheidet ebenfalls aus.77 Wie schon oft in anderen Kontexten gefordert, sollte der Gesetzgeber eine originäre Staatsunrechtshaftung für schadensverursachenden Systemoutput digitaler Instrumente im staatlichen Einsatz schaffen.78 Die bisherige dogmatische Konstruktion des Amtshaftungsanspruchs stößt bereits ohne den Einsatz algorithmenbasierter Systeme an ihre dogmatischen Grenzen und speist sich größtenteils aus der Rechtsprechung. Es gelten zudem dieselben Erwägungen zur Risikoverteilung, Büger:innen haben keine Wahl, ob sie mit der Verwaltung interagieren oder nicht, das Haftungsrisiko für technisch begründete Unwägbarkeiten kann deshalb nur beim Hoheitsträger liegen. Dagegen spricht nicht, dass autonome Systeme keine abstrakte Gefahr verwirklichen, die eine Gefährdungshaftung rechtfertigen würde, sondern es letztlich um falsche Ergebnisse gehe, die jeder Verwaltungsentscheidung immanent sind. Generell kann keine allgemeine Betriebsgefahr speziell für Algorithmen angenommen werden, im staatlichen Bereich realisiert sich aber das Risiko ex ante nicht erkennbarer und ex post nicht nachvollziehbarer Fehler. Zwar kann algorithmenbasierten Entscheidungen ein anderer Risikocharakter zukommen, die Gefahrerhöhung ist aber allein abhängig vom Anwendungsfeld, da sie sich nur in Relation zu den betroffenen Rechtsgütern bestimmen lässt. Das Gefahrenprofil algorithmischer Fehler laufender Systeme in der Verwaltung entsteht nicht aufgrund einer falschen juristischen Bewertung, sondern aufgrund von Programmfehlern. Inhalt der staatlichen Entscheidung, 74 Mario Martini/Hannah Ruschemeier/Jonathan Hain, VerwArch 2021, S. 1 (13 f.). Zum Organisationsverschulden: BGH, Urt. v. 11. 1. 2007 – III ZR 302/05, NJW 2007, 830 (832). 75 Mario Martini/Hannah Ruschemeier/Jonathan Hain, VerwArch 2021, S. 1 (14). 76 Fritz Ossenbühl/Matthias Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 30. Dazu auch: David Roth-Isigkeit, AöR 145 (2020), S. 321 (343 ff.). 77 Ruschemeier, Haftung des Staates, in: Ebers (Hrsg.), Legal Tech Kommentar (i. E.). 78 Benno Degrandi, Die automatisierte Verwaltungsverfügung, 1977, 139 ff.; Papier/Shirvani, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), MüKo-BGB VI, 7. Aufl. 2017, § 839 BGB, Rn. 192; Hans Popper, DVBl 1977, S. 509 (513 f.); Günther Jaenicke, VVDStRL 20 (1961), S. 135 (175 f.); Mario Martini/Hannah Ruschemeier/Jonathan Hain, VerwArch 2021, S. 1 (33).

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die haftungsbegründend ist, ist dann nicht die juristische Bewertung des Einzelfalls, sondern die Entscheidung über den Systemeinsatz mit Autonomierisiko. Und dieses (Rest-)Autonomierisiko muss letztlich der zuständige Hoheitsträger tragen. Praktisch werden zudem regelmäßig rechtswidriger Systemoutput und Schadensfälle zusammenfallen.

V. KI in der Verwaltung im Mehrebenensystem KI basierte Verwaltungsentscheidungen müssen zudem den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechen. Sobald personenbezogene Daten verarbeitet werden – wie z. B. bei der Überprüfung der Studienbescheinigungen – greifen die Vorgaben der DSGVO, die für Private und die Öffentliche Hand gleichermaßen gilt. 1. Art. 22 DSGVO Relevant ist für den Verwaltungseinsatz neben den Verfahrensvorgaben und Betroffenenrechten für die Anwendung algorithmenbasierter Systeme vor allem der ursprünglich als „KI-Vorschrift“ gehandelte Art. 22 DSGVO, der ein Verbot vollautomatisierter Entscheidungen normiert. Allerdings muss die Entscheidung ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung beruhen. Aufgrund der überwiegenden Mehrheit der entscheidungsunterstützenden Systeme, hat die Vorschrift bisher wenig Praxisrelevanz entfaltet, insbesondere in der Verwaltung. Für viel Aufsehen hat des Österreichische AMS Arbeitsvermittlungsalgorithmus gesorgt, der Sachbearbeiter:innen anhand eines Punktesystems Fördermaßnahmen bzw. deren Ablehnung vorgeschlagen hat und dabei insbesondere alleinerziehende Frauen diskriminiert wurden- dabei handelte es sich zwar nicht um KI, die österreichische Datenschutzbehörde hat dies dennoch als „illegales Profiling“ gewertet.79 Ein Argument gegen den Vermittlungsalgorithmus war auch, dass Sachbearbeiter:innen aufgrund der Arbeitsbelastung keine zeitlichen und inhaltlichen Kapazitäten hätten, die Entscheidungsvorschläge tatsächlich zu überprüfen, sondern diese de facto automatisch übernehmen würden.80 Die Abgrenzung von vollautomatisierten und entscheidungsunterstützenden Systemvorschlägen ist deshalb nicht immer klar anhand von externen technischen Faktoren zu ziehen. Das Beispiel verdeutlicht, dass auch von teilautomatisierten Verfahren erhebliche Risiken ausgehen können, was bisher von der Risikobewertung des Art. 22 DSGVO nicht rechtlich reflektiert ist. 79 https://netzpolitik.org/2020/oesterreich-ams-datenschutzbehoerde-stoppt-jobcenter-algo rithmus/. 80 Das österreichische Bundesverwaltungsgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt, ÖBVwG, Urt. v. 18. 12. 2020 – W256 2235360 – 1/5E. Zurzeit prüft der Verwaltungsgerichtshof den Untersagungsbescheid der Datenschutzbehörde.

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a) Automation Bias Gerade in Massenverfahren besteht die Gefahr, dass sich zu sehr auf den Algorithmus „verlassen wird“, insbesondere, wenn dieser gezielt als Entlastungstool zum Einsatz kommt. Dieser Umstand hat hohe praktische Relevanz. Menschen tendieren dazu, die Leistungsfähigkeit von Algorithmen zu über- oder unterschätzen bzw. ihnen blind zu vertrauen. Dieses Phänomen ist als automation bias (bzw. overreliance) bekannt.81 Externe Faktoren wie Zeitdruck oder Aufwand der Algorithmus-Überprüfung können solch ein Verhalten begünstigen.82 Es entsteht das Risiko, dass rechtliche Entscheidungsspielräume aus verhaltenspsychologischen Gründen nicht mehr wahrgenommen werden, sondern die Empfehlung des Algorithmus unreflektiert übernommen werden. Mögliche Fehler des algorithmenbasierten Systems schlagen dann unmittelbar auf die Entscheidungsqualität durch. Völlig unklar ist, wie dies in der Praxis bewiesen werden kann. Denkbar erscheint eine Beweislastumkehr zu Gunsten der betroffenen Personen, wodurch zunächst nur der Anwendungsbereich des Art. 22 Abs. 1 DSGVO eröffnet würde. Lässt sich aber der (ggf. statistische) Nachweis führen, dass der Amtswalter den automatisierten Entscheidungsvorschlag weit überwiegend übernimmt, kann das jedenfalls ein Indiz für einen automation bias sein.83 Das Risiko des automation bias sollte deshalb verfahrensrechtlich abgebildet werden, die Vorschrift des Art. 22 DSGVO idealerweise Differenzierungen vorsehen, z. B. nach Einsatzbereichen und weniger zwischen Voll- und Teilautomatisierung. Neben normativen Vorgaben kann zudem die technische Ausgestaltung Risiken abmildern, indem z. B. in regelmäßigen Abständen zusätzliche Bestätigungen erforderlich sind, die den Unterstützungscharakter des Systems verdeutlichen.84 Auch sollte sichergestellt werden, dass Abweichungen von Systemvorschlägen keine negativen Konsequenzen haben, z. B. einen zusätzlichen Begründungsaufwand, wenn der zu81 David Lyell/Enrico Coiera, Journal of the American Medical Informatics Association 24 (2017), S. 423 (424 ff.); Raja Parasuraman/Victor Riley, Human Factors 39 (1997), S. 230 (232 ff.). Aus der Experimentalforschung Jaap Dijkstra, International Review of Law, Computers & Technology 15 (2001), S. 119 (122 f.); Paul Robinette/Wenchen Li/Robert Allen/ Ayanna M. Howard/Alan R. Wagner, in: Bartneck (Hrsg.), The Eleventh ACMIEEE International Conference on Human Robot Interaction, 2016, S. 101 (103 ff.). Weniger eindeutig bei Maria De-Arteaga/Riccardo Fogliato/Alexandra Chouldechova, A Case for Humans-in-theLoop: Decisions in the Presence of Erroneous Algorithmic Scores, 2020, S. 1 (3 ff.). 82 David Lyell/Enrico Coiera, Journal of the American Medical Informatics Association 24 (2017), S. 423 (428 ff.). 83 Je˛ drzej Niklas/Karolina Sztandar-Sztanderska/Katarzyna Szymielewicz, Profiling the unemployed in Poland: Social and political implications of algorithmic decision making, 2015, S. 28, haben aufgezeigt, dass im polnischen algorithmenbasierten Fördersystem von arbeitslosen Personen nur 0,58 % der Vorschläge durch die zuständige menschliche Sachbearbeiterin geändert wurden. 84 Dazu auch Mario Martini/David Nink, in: Automatisch erlaubt?, 2020, S. 41, S. 51 f.; David Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 424 ff.

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ständige Sachbearbeiter eine bestimmte Abweichungsquote überschreitet. Randomisierte Kontrollen durch Dritte85 als auch Kontrollalgorithmen86 selbst sind denkbar, um die Entscheidungsqualität zu kontrollieren. b) Unerkannte vollautomatisierte Entscheidungen? Einige Anwendungsbeispiele finden sich für Art. 22 DSGVO aber dennoch, auch wenn sie nicht auf den ersten Blick erkennbar scheinen. Im zweiten Jahr der Pandemie gab es nicht ausreichend Impfstoff, um diesen flächendeckend und gleichzeitig der Gesamtbevölkerung zur Verfügung zu stellen. Deshalb waren entsprechende Verteilungsentscheidungen erforderlich, die je nach Bundesland unterschiedlich erfolgt sind, z. B. durch algorithmenbasierte Terminvergabe aufgrund eines Scoringwertes.87 Die bayerische Software BayIMCO ordnete Scorewerte nach Lebensalter zu, bei dem ein Jahr einem Scorepunkt entspricht, jüngeren Menschen der höchsten Priorisierungsgruppe ein Zufallswert zwischen 80 – 100 Punkten durch ein ADM-System zugelost wurde.88 Dies führt wohl zu einer Benachteiligung älterer Personen, da die Zufallslosung der Werte zwischen 80 – 100 nicht der Altersverteilung der Impfberechtigten ab 80 Jahre entsprach.89 Die Zuteilung eines zeitlich nachrangigen Impftermins war zu diesem Zeitpunkt durchaus eine potenziell benachteiligende Entscheidung i. S. d. Art. 22 Abs. 1 DSGVO.90 Der konkrete Weg der Entscheidungsfindung war intransparent und nicht verständlich. In sensiblen Verteilungsfragen sollte deshalb offengelegt und begründet werden, nach welchen Kriterien der Scorewert genau ermittelt wird und auch, warum Impfberechtigten mit beruflicher Indikation ein fiktives Alter zugelost wird. Es hätte leicht sichergestellt werden können, dass die statistische Verteilung der Zufallsparameter nicht zu signifikanten Abweichungen der Verteilung innerhalb einer Priorisierungsgruppe führt.91 2. Einzelne Vorgaben des KI-VO-E mit Relevanz für die Verwaltung Der KI-VO-E normiert in Art. 5 bestimmte verbotene Praktiken „Künstlicher Intelligenz“ und adressiert ausdrücklich staatliche Stellen. Art. 5 lit. c) KI-VO-E verbietet „social scoring“, allerdings nur durch Behörden, was zu erheblicher Kritik ge85 Gabriele Buchholtz/Martin Scheffel-Kain, NVwZ 2022, S. 612 (617) schlagen bspw. Digitalisierungsbeauftragte vor. 86 Mario Martini, JZ 2017, S. 1017 (1022). 87 Hannah Ruschemeier, NVwZ 2021, S. 750 (751). 88 https://www.br.de/nachrichten/bayern/impftermin-vergabe-werden-aeltere-benachtei ligt,SSbbNJE. 89 Im Landkreis München lebten 2018 15.333 Personen zwischen 81 bis 90 Jahren, aber nur 2476 Personen über 90 Jahren, Kreisdaten des Planungsverbands äußerer Wirtschaftsraum München, Datengrundlage 2018, S. 36. 90 Hannah Ruschemeier, NVwZ 2021, S. 750 (752). 91 Hannah Ruschemeier, NVwZ 2021, S. 750 (755).

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führt hat.92 Denn bisher wird das allgegenwärtige scoring vor allem durch private Unternehmen durchgeführt. Darüber hinaus dürften solche Praktiken bereits nach den grundrechtlichen Vorgaben der meisten Mitgliedstaaten untersagt sein. Detaillierte Vorgaben sieht der KI-VO-E zudem für die Verwendung biometrischer EchtzeitFernidentifizierungssysteme, respektive der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum vor. Diese sind nach Art. 5 lit. d) grundsätzlich unzulässig. Das vermeintliche Verbot wird aber durch zahlreiche und weitreichende Ausnahmen ausgehöhlt,93 für die gezielte Suche nach potenziellen Opfern oder vermissten Kindern (i), zur Abwendung einer konkreten, erheblichen und unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben oder zur Verhinderung eines Terroranschlags (ii) sowie zwecks Erkennung, Aufspürung, Identifizierung oder Verfolgung eines Täters oder Verdächtigen nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI (iii). Art. 5 Abs. 2 lit. a) und b) regelt ausdrücklich die Verhältnismäßigkeitsanforderungen, Schwere und Wahrscheinlichkeit des Schadens sowie die Folgen für die betroffenen Rechtsgüter. Es sollen notwendige und verhältnismäßige Schutzvorkehrungen vorgesehen werden, insbesondere in Bezug auf zeitliche, geografisch und personenbezogene Beschränkungen. Zudem sieht die Vorschrift detaillierte Vorgaben für das Verfahren vor, nach Abs. 3 ist für den Einsatz der Gesichtserkennung eine Genehmigung einer Justizbehörde oder einer unabhängigen Verwaltungsbehörde erforderlich. Allerdings gibt es auch davon eine Ausnahme: in hinreichend begründeten dringenden Fällen kann die Genehmigung erst während oder nach der Nutzung eingeholt werden. Im Hinblick auf die Ausnahmen des Art. 5 Abs. 1 lit d) KI-VO-E, die rein gefahrenabwehrrechtliche Zwecke und Strafverfolgungszwecke erfassen, erscheint das Genehmigungserfordernis nicht viel wert, wenn davon in dringenden Fällen abgesehen werden kann. Diese Anforderung dürfte deckungsgleich mit dem Abwenden einer konkreten, erheblichen und unmittelbaren Gefahr sein. Endgültig entwertet wird das Verbot des Art. 5 Abs. 1 lit. d) KI-VO-E durch die Öffnungsklausel des Absatzes 4, wonach den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer vollständigen oder teilweisen Genehmigung innerhalb der vorherig aufgeführten Grenzen eingeräumt wird. Theoretisch können die Mitgliedstaaten damit eine vollständige Genehmigung von Gesichtserkennung im öffentlichen Raum erteilen, über den Hebel der konkreten Gefahr faktisch in einem sehr großen Bereich der Gefahrenabwehr und für die genannten Zwecke der Strafverfolgung. Die detaillierten Vorschriften zu Zuständigkeit und Verfahren der Genehmigung bereiten grundsätzlich Bedenken im Hinblick auf die Kompetenz der Union.94 Denn das Gefahrenabwehrrecht liegt in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Faktisch werden die Anforderungen aber ohnehin durch die generelle Genehmigungsmöglichkeit des Abs. 4 überlagert.

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Dan Svantesson, Alternative Law Journal 47 (2022), S. 4 (7). Martin Ebers/Veronica Hoch/Frank Rosenkranz/Hannah Ruschemeier/Björn Steinrötter, RDi 2021, S. 528 (531). 94 Allgemein zur Kompetenz der Union bzgl. des KI-VO-V: Michael Veale/Frederik Zuiderveen Borgesius, Computer Law Review International 22 (2021), S. 97 (108 ff.). 93

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Relevant für die Aufsichtsbehörden sind auch die in Art. 53 – 55 KI-VO-E vorgesehenen Reallabore oder Regulatory Sandboxes, in denen unter Aufsicht und Begleitung der zuständigen Behörde neue Technologien erprobt werden sollen. Wie diese im nationalen Recht im Detail ausgestaltet werden sollen, ist allerdings offen. Sie können nach Art. 53 Abs. 1 S. 1 KI-VO-E von den zuständigen Behörden eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder vom Europäischen Datenschutzbeauftragten eingerichtet werden, die genauen Modalitäten werden in Durchführungsrechtsakten festgelegt, Art. 53 Abs. 6 KI-VO-E. Die allgemeine Verwaltungsstruktur legt die KI-VO in Titel VI fest. In den Art. 56 ff., ist die Einrichtung eines Europäischen Ausschusses für Künstliche Intelligenz vorgesehen, der sich aus den nationalen Aufsichtsbehörden zusammensetzt. Um die Anwendung und Durchführung der Verordnung sicherzustellen, benennt jeder Mitgliedstaat zuständige nationale Behörden, Art. 59 KI-VO. Perspektivisch wird es also eine führende KI-Behörde in Deutschland geben bzw. die im VO-E vorgesehenen Aufgaben bei einer bestehenden Aufsichtsbehörde angesiedelt werden müssen.

VI. Ausblick Der Erfolg von „KI-Systemen“ liegt nicht nur darin begründet, dass sie durch technische Entwicklung disruptives Potenzial entfalten, in bestimmten Bereichen einen Qualitätssprung von analoger zu digitaler Tätigkeit herbeiführen können und durch die Kombination von großen Datenmengen und sich stets entwickelnder Hardwarekapazitäten exponentiell wachsen.95 Vielmehr handelt es sich um eine sozio-technische Entwicklung der kulturellen Mediengesellschaft, die zwingend auf menschliche Interaktion und Partizipation angewiesen ist.96 Denn Menschen erzeugen weit überwiegend die Grundlage von „KI-Systemen“: Daten. Übergreifend gilt zudem: Ohne Zugriff auf eine flächendeckende und zeitgemäße Infrastruktur (Hardware, Breitbandausbau), interoperable und modular anpassbare Softwaresysteme sowie angemessene personelle Ressourcen, ist der Einsatz von digitalen Technologien, insb. KI, nicht realisierbar. Qualifizierte, motivierte und innovationsoffene Mitarbeiter:innen in der Verwaltung sind erforderlich, um überhaupt sinnvolle Einsatzbereiche für digitale Technologien zu erschließen und neue Prozesse ausrollen zu können, andernfalls hilft auch der beste Algorithmus nicht weiter. Für weitere Erkenntnisse sollte das Instrument experimenteller Normsetzung genutzt werden,97 z. B. durch regulatory sandboxes, wie sie der KI-VO-E auch vorsieht. Neben den geschilderten Schwierigkeiten und Herausforderungen des Einsatzes disruptiver Technologie sollen best practice Beispiele Erwähnung finden. Das Pro95

Dazu Ruschemeier, AI as a challenge for law, ERA 2023, 361 ff. Rainer Mühlhoff, New Media & Society 22 (2020), S. 1868 (1874). 97 Wolfgang Hoffmann-Riem (Fn. 60), 155.

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jekt „KI4LSA: K.I. für Lichtsignalanlagen in Lemgo“ verwendet verstärktes Lernen und die Komponente eines neuronalen Netzes, ist also vollautomatisierte „echte KI“.98 Die Steuerung verkettet Ampelanlagen und soll Transitzeiten um 25 % reduzieren, Lärm- und Umweltbelastung verringern, anormale Verkehrssituationen sollen erkannt und Verkehrsteilnehmende in Echtzeit informiert werden. Die gesammelten Daten werden als Open Data zur Verfügung gestellt. Das System wurde im Rahmen eines „Cybersecurity by design“-Konzepts u. a. durch zwei zusätzliche Maßnahmen gesichert: Ein Teil der Rechenleistung erfolgt dezentral in Edge-Computern, sodass ein Angriff hier ggf. nur eine Ampel ausschaltet und nicht das gesamte Ampelnetz der Stadt. Außerdem können die lokalen Steuerungseinheiten der einzelnen Ampelanlagen jederzeit wieder von der zentralen KI-Steuerung entkoppelt werden, sodass sie auch bei Ausfall der Zentralsteuerung weiter funktionieren können. Simulationen sollen die Effekte des Systems für Bürger:innen nachvollziehbar darstellen.

98 https://www.iosb-ina.fraunhofer.de/de/geschaeftsbereiche/maschinelles-lernen/forschungs themen-und-projekte/projekt-KI4LSA.html.

Die digitale Verantwortung des Staates Von Thomas Wischmeyer1

I. Zum Begriff der digitalen Verantwortung des Staates Wie nähert man sich der mir vorgegebenen Frage nach der Verantwortung des Staates für die Digitalisierung? Nicht nur der Gegenstand dieser Frage ist denkbar breit, erfasst und verändert die Digitalisierung doch nahezu alle gesellschaftlichen und staatlichen Teilsysteme.2 Auch in methodischer Hinsicht verbindet die Verwaltungsrechtswissenschaft mit dem Verantwortungsbegriff ein anspruchsvolles Programm, nämlich einen Zugriff auf das Recht, der sich nicht strikt auf die Auslegung und Dogmatisierung des geltenden Rechtsstoffs beschränkt, sondern zusätzlich dessen Aufgabenadäquanz in den Blick nimmt.3 Faktische Gegebenheiten und außerrechtliche Maßstäbe sind so Teil der Frage nach der Verantwortung im und für das Recht.4 Eine Annäherung muss beim Begriff der Verantwortung ansetzen, der in einem ganz elementaren Sinne als Relationsbegriff zu verstehen ist: Fragt man nach der 1 Überarbeitete und um ausgewählte Nachweise ergänzte Fassung des Vortrags vom 5. 5. 2022. Alle angegebenen Links wurden zuletzt abgerufen am 1. 8. 2022. 2 Dazu grundlegend Floridi, Luciano (Hrsg.), Onlife Manifesto, Cham et al. 2015; Hildebrandt, Mireille: Smart Technologies and the End(s) of Law, Cheltenham et al. 2016, S. 41 ff. 3 Grundlegend Pitschas, Rainer: Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, München 1990, S. 264 ff. und passim. 4 Dazu im Überblick Klement, Jan Henrik: Rechtliche Verantwortung, in: Ludger Heidbrink/Claus Langbehn/Janina Loh (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, Wiesbaden 2017, S. 559 (568) m. w. N. Außer Acht bleiben soll hier, dass in der Rechtswissenschaft unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, wie groß das analytische Potenzial eines solchen methodischen Zugriffs im Allgemeinen und des als Methodenchiffre verstandenen Verantwortungsbegriffs im Besonderen ist. Zum analytischen und normativen Potenzial des „Schlüsselbegriffs“ der Verantwortung siehe nur Schuppert, Gunnar Folke: Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2000, S. 400 ff.; Dreier, Horst: Verantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, ARSP Beiheft 74 (2000), S. 9 ff., m. w. N. Zur Kontextabhängigkeit und Ausfüllungsbedürftigkeit des Verantwortungsbegriffs Voßkuhle, Andreas: Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (270 Fn. 9 m. w. N.). Kritisch zur (dogmatischen) Leistungsfähigkeit des Begriffs Röhl, Hans Christian: Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff?, Die Verwaltung Beiheft 2 (1999), S. 33 ff.

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Thomas Wischmeyer

Verantwortung, fragt man danach, in welchem Verhältnis die Träger:innen von Verantwortung zu denjenigen stehen, denen gegenüber sie einstandspflichtig sind, und zwar in Bezug auf eine konkrete Aufgabe. Das Verhältnis von Verantwortungsobjekt und Verantwortungssubjekt wird hier als Verantwortungsrelation und das Thema dieser Relation als Verantwortungsgegenstand – hier: die Digitalisierung – bezeichnet. Daraus ergibt sich zwanglos die Gliederung der folgenden Überlegungen. So ist in einem ersten Schritt den Relationen der digitalen Verantwortung nachzuspüren: Wer übernimmt wem gegenüber Verantwortung für die Gestaltung des digitalen Wandels bzw. sollte dies tun (II.)? Anschließend wird der Gegenstand der Verantwortungsrelation untersucht und gefragt, welche charakteristischen Facetten gerade die digitale Verantwortung aufweist (III.). Ein abschließender Hinweis zur Begrifflichkeit: Der Kompositbegriff der digitalen Verantwortung wird bisher selten im Kontext staatlichen Handelns verwendet. Er hat seinen Ursprung im „Corporate Social Responsibility“-Diskurs; dort werden mit dem Schlagwort der „Corporate Digital Responsibility“ (CDR) private Unternehmen für die nicht-intendierten Folgen ihrer digitalen und datengetriebenen Geschäftsmodelle sensibilisiert.5 „Verantwortung“ bezieht sich hierbei allerdings in erster Linie auf solche ethisch-moralischen Pflichten, die noch nicht durch den Gesetzgeber aufgegriffen worden sind, die also (noch) nicht rechtlich verbindlich sind.6 Im Falle des Staates kann es allerdings gerade Teil der verfassungsrechtlichen Regulierungsverantwortung für die Bürger:innen sein, dass zu einer genuin rechtlichen Gestaltung der Verhältnisse gegriffen wird. In Abgrenzung zum CDR-Diskurs blendet die vorliegende Untersuchung daher die rechtliche Dimension der digitalen Verantwortung nicht aus.

II. Relationen der digitalen Verantwortung des Staates Die verwaltungsrechtswissenschaftliche Literatur unterscheidet mit Blick auf die Relationen der staatlichen Verantwortung typischerweise drei Dimensionen, die auf-

5 Zahlreiche Institutionen und Initiativen entwickeln hierzu aktuell „Best Practice“-Dokumente und Selbstverpflichtungen, die Unternehmen Orientierung dabei geben sollen, wie sie – über die Compliance mit den rechtlichen Vorgaben hinaus – einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten, dem Einsatz von KI und automatisierten Entscheidungsprozessen pflegen und nachweisen können. Die Vielfalt der in diesem Zusammenhang diskutierten Themen ist groß. Aktuell scheint der Diskurs noch auf der Suche nach einem normativen Kern. Für einschlägige Initiativen vgl. den Überblick bei Anzinger, Heribert: § 27 Corporate Digital Responsibility, in: Michael Nietsch (Hrsg.), Corporate Social Responsibility Compliance, München 2021, S. 611 (617 ff.). Siehe dazu auch die Initiative des BMJ: https://www.bmj.de/Sha redDocs/Downloads/DE/News/Artikel/100818_CDR-Initiative.pdf. 6 Vgl. zu den Wechselbezügen zwischen Digitalethik und Digitalrecht Wischmeyer, Thomas/Herzog, Eva: Digitale Ethik in der Demokratie, JZ 2019, S. 696 ff.

Die digitale Verantwortung des Staates

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einander bezogen sind, aber separat analysiert werden müssen.7 In dieser Tradition gilt es auch hier in Bezug auf die Bewältigung der mit der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen zunächst zu klären, wie Staat und Gesellschaft die Verantwortung für die Erledigung bestimmter Aufgaben (ver-)teilen sollten (1.). Was die staatlichen Verantwortungsanteile betrifft, müssen diese anschließend den einzelnen staatlichen Gewalten zugeordnet (2.) und auch innerhalb dieser Gewalten verteilt werden (3.). Letzteres soll hier allein für die Verwaltung untersucht werden. Leitfrage für die Untersuchung der drei Verantwortungsrelationen ist, inwieweit sich gerade im Umgang mit der Digitalisierung Besonderheiten oder Defizite in den einzelnen Verantwortungsrelationen diagnostizieren lassen. Offensichtlich kann im vorliegenden Rahmen nur ein Problemaufriss, keine umfassende Analyse geleistet werden. 1. Angemessene Verantwortungsverteilung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft In der Staatsaufgabendiskussion, die sich dem Verhältnis von staatlicher und gesellschaftlicher Aufgabenwahrnehmung widmet, nimmt der Verantwortungsbegriff seit jeher eine zentrale Stellung ein. Mit dem Konzept der Gewährleistungsverantwortung liegt hier ein theoretisch umfassend reflektiertes und praktisch wirksames Regulierungsprogramm für jene Aufgaben vor, die durch die Privatisierung vormals staatlicher Monopole entstanden sind.8 Aber auch jenseits dieses speziellen Feldes ist anerkannt, dass den Staat aus verfassungsrechtlichen Gründen – auch und vor allem zum Schutz der Grundrechte – eine Regulierungsverantwortung treffen kann.9 Gerade technische Innovationen, die nicht nur neue Möglichkeitsräume eröffnen, sondern auch negative Externalitäten begründen und – besonders im Falle der Digitalisierung – konkrete Angst vor Kontrollverlusten erzeugen, können diese Verantwortung auslösen.10 Der Staat muss daher Verantwortung übernehmen und die technische Inno7 Vgl. Schmidt-Aßmann, Eberhard: Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Berlin et al., 2006, S. 170 f., m. w. N.; Pache, Eckhard: Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, VVDStRL 66 (2007), S. 106 (114). 8 Eifert, Martin: Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat, Baden-Baden 1998; Hermes, Georg: Staatliche Infrastrukturverantwortung, Tübingen 1998; Voßkuhle (Fn. 4), S. 266; Knauff, Matthias, Der Gewährleistungsstaat, Berlin 2004; Wißmann, Hinnerk: § 14 Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Andreas Voßkuhle/Martin Eifert/Christoph Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, München, 3. Aufl. 2022, Rn. 166. 9 Vgl. den konzisen Überblick über die Entwicklung des Begriffsgebrauchs bei Klement (Fn. 4), S. 579. 10 Vgl. Eifert, Martin: Staatliche Verantwortung für KI-Infrastruktur und Datensicherheit, in: Bitburger Gespräche Jahrbuch 2020, München 2021, S. 15 ff., mit der treffenden Charakterisierung der Digitalisierung als „ein besonders umfassendes, schnell verlaufendes und vielfältiges Experiment“ unserer Gesellschaft mit sich selbst (ebd., S. 16). Siehe auch grundlegend zur staatlichen Verantwortung für die Risiken der Technik Murswiek, Dietrich: Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, Berlin 1985. Vgl. zur Bewältigung der technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht die Beiträge von Jörn Ipsen, Dietrich

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vation regulatorisch begleiten und einhegen. An welchem Punkt der Staat die Digitalisierung nicht mehr dem freien Spiel des Marktes überlassen darf, sondern selbst tätig werden muss, lässt sich nicht abstrakt bestimmen. Die Aktualisierung der Verantwortung obliegt vielmehr in erster Linie dem Gesetzgeber. Angesichts der großen normativen Gestaltungsspielräume, die gerade die Grundrechte hier gewähren, und der oft noch größeren epistemischen Ungewissheit über die tatsächlichen Folgen der Digitalisierung ist die verfassungsrechtliche Determinierung der „Staatsaufgabe“ Digitalisierung vergleichsweise schwach.11 Zudem fallen die erforderlichen Abwägungen je nach Sachbereich – vom Zugang zur bis hin zur Sicherheit der Informationstechnik – ganz unterschiedlich aus. Konkrete Aussagen zur Verfassungsrechtslage lassen sich daher nur für präzise definierte Problemstellungen treffen.12 Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich jedoch festhalten, dass sich die Wahrnehmung, ob der Staat seiner Regulierungsverantwortung für das Digitale im angemessenen Umfang nachkommt, in jüngerer Zeit stark verändert hat. Europäische Union und Nationalstaaten sorgen derzeit im Tandem für einen massiven Regulierungsschub.13 Das überkommene Narrativ, wonach das Recht der inhärent-globalen und Murswiek und Bernhard Schlink, in: VVDStRL 48 (1990), S. 177 ff., 207 ff., 235 ff. Außerdem: Wahl, Rainer: Forschungs- und Anwendungskontrolle technischen Fortschritts als Staatsaufgabe?, UTR 14 (1991), S. 7 ff.; Preuß, Ulrich K.: Risikovorsorge als Staatsaufgabe, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, S. 523 ff.; Ossenbühl, Fritz: Die Not des Gesetzgebers im naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter, Wiesbaden 2000; Tettinger, Peter J.: Verfassungsrecht und Techniksteuerung, in: Klaus Vieweg (Hrsg.), Techniksteuerung und Recht, Köln et al. 2000, S. 287 ff. Den Themenkreis früh auf die digitale Technik erweiternd Roßnagel, Alexander et al.: Digitalisierung der Grundrechte?, Opladen 1990. 11 Für den vorliegenden Themenkreis präzise Eifert (Fn. 10), S. 18. Allgemein zur Schutzdimension der Grundrechte und den unterschiedlichen Spielräumen, die der Gesetzgeber bei der Umsetzung der hieraus resultierenden Pflichten hat Poscher, Ralf: Grundrechte als Abwehrrechte, Tübingen 2003, S. 380 ff.; Dietlein, Johannes: Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2005; Isensee, Josef: Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 2011, § 191; Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte, 2020, S. 420 ff. 12 Speziell für die IT-Sicherheit siehe Wischmeyer, Thomas: Informationssicherheit, Tübingen 2023, § 5. 13 Zu nennen sind hier etwa (i) für die Regulierung von KI der Vorschlag für eine VO zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz; COM(2021) 206 final); (ii) für das Datenschutzrecht die VO (EU) 2016/679 v. 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten (DSGVO), ABl. L 119, 4. Mai 2016, S. 1, und die RL (EU) 2016/680 v. 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung (DSRLJI), ABl. L 119, 4. Mai 2016, S. 89; (iii) für das IT-Sicherheitsrecht die RL (EU) 2022/2555 v. 14. September 2022 über Maßnahmen für ein hohes gemeinsames Cybersicherheitsniveau in der Union (NIS2-Richtlinie), ABl. L 333, 27. Dezember 2022, S. 1, sowie die VO (EU) 2019/881 v. 17. April 2019 über die ENISA (Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit) und über die Zertifizierung der Cybersicherheit von Informations- und Kommunikationstechnik (Rechtsakt zur Cybersicherheit),

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hoch-dynamischen digitalen Technik weitgehend machtlos gegenüberstehe, hat mit dieser Entwicklung den Rest seiner (ohnehin geringen) Plausibilität eingebüßt. Vielfach wird dieser Regulierungsschub begrüßt. Es mehren sich aber auch Stimmen, die – nicht nur im Datenschutzrecht, dort aber besonders scharf – davor warnen, dass die mit jeder hoheitlichen Regulierung verbundenen Kosten nicht mehr angemessen berücksichtigt werden.14 Ob insbesondere die Europäische Union hier über das Ziel hinausschießt, kann erneut nicht pauschal beantwortet werden. Hier sei nur festgehalten: Dass der Staat bzw. die Europäische Union ihrer Verantwortung für die Gestaltung der digitalen Gesellschaft über lange Zeit jedenfalls in bestimmten Bereichen zu zögerlich nachgekommen sein dürfte, darf jetzt nicht dazu verführen, der digitalen Gesellschaft jede Verantwortung zur Selbstorganisation abzusprechen.15 2. Angemessene Verantwortungsverteilung zwischen den staatlichen Gewalten Die Frage nach der angemessenen Teilung der Verantwortung für eine bestimmte Aufgabe zwischen den staatlichen Gewalten bzw. nach der richtigen Zuordnung der Staatsfunktionen zueinander ist Gegenstand der „klassischen“ Debatte um Verwaltungsverantwortung.16 Für die digitale Verantwortung des Staates gegenüber den Bürger:innen heißt das, dass sich die Untersuchung nicht auf die Frage beschränken darf, ob der Staat Verantwortung trägt; geklärt werden muss vielmehr auch, in welcher Gestalt der Staat diese Verantwortung konkret wahrnimmt. Während sich für die Frage der Verantwortungsverteilung zwischen Staat und Gesellschaft verfassungsrechtliche Maßstäbe primär aus den Grundrechten ableiten lassen, entfalten hier nun auch das Demokratieprinzip und der Gewaltenteilungsgrundsatz strukturierende Wirkung. Gerade wenn man mit Eberhard Schmidt-Aßmann Verantwortung als „Einstandspflicht im Sinne einer Kontroll- und Steuerungsabhängigkeit“ begreift, ABl. L 151, 7. Juni 2019, S. 15; (iv) für die sozialen Medien und den digitalen Wettbewerb die VO(EU) 2022/2065 v. 19. Oktober 2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste (Gesetz über digitale Dienste bzw. Digital Service Act) ABl. L 277, 27. 10. 2022, S. 1 und die VO (EU) 2022/1925 v. 14. September 2022 über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor (Gesetz über digitale Märkte bzw. „Digital Markets Act“) ABl. L 265, 12. Oktober 2022, S. 1; (v) für die Datenwirtschaft die bereits verabschiedete VO (EU) 2022/868 v. 30. Mai 2022 über europäische Daten-Governance (Daten-Governance-Rechtsakt), ABl. L 152, 3. Juni 2022, S. 1, und die geplante VO über harmonisierte Vorschriften für einen fairen Datenzugang und eine faire Datennutzung (Datengesetz bzw. „Data Act“; COM(2022) 68 final). 14 Vgl. exemplarisch Veil, Winfried: Die Datenschutz-Grundverordnung: des Kaisers neue Kleider, NVwZ 2018, S. 686 ff. Abgewogen etwa Bull, Hans Peter: Sinn und Unsinn des Datenschutzes, Tübingen 2015. 15 Zu verfassungsrechtlich gebotenen Akzentverschiebungen vgl. Krönke, Christoph: Öffentliches Digitalwirtschaftsrecht, Tübingen 2020. 16 Dazu grundlegend Schmidt-Aßmann, Eberhard: Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 34 (1976), S. 221 (227 ff.) m. w. N.; Scholz, Rupert: Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 34 (1976), S. 145 (149 ff.) m. w. N.; Pitschas (Fn. 3); Schuppert (Fn. 4), S. 400 ff.

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kommt es drauf an, dass die Wahrnehmung der digitalen Verantwortung gegenüber den Bürger:innen in einer hinreichend demokratisch rückgekoppelten Art und Weise erfolgt.17 Auch hier kann nur mit grobem Pinsel gezeichnet werden. Nimmt der Staat seine Verantwortung für die Digitalisierung der Gesellschaft in der Form wahr, dass er privates Handeln reguliert, ist dies in aller Regel grundrechtsrelevant. Die demokratische Legitimation entsprechender Rechtsakte wird dann durch den Vorbehalt des Gesetzes gesichert. Insoweit – also etwa bei der Regulierung der Digitalwirtschaft oder sonstiger privater Aktivitäten – gibt es damit keine strukturellen Legitimationsprobleme, jedenfalls aber keine Besonderheiten, die es erforderlich machen würden, dieser Verantwortungsrelation im vorliegenden Kontext speziell zu würdigen. Teilweise anders ist dies bei der rechtlichen Regulierung des staatlichen Binnenbereichs, insbesondere bei der Verwaltungsdigitalisierung. Auch wenn im Recht des E-Government alles seinen verfassungsmäßigen Gang gehen mag, lassen sich hier doch aus höherer Warte strukturelle Lücken in der digitalen Verantwortungsarchitektur diagnostizieren. Dabei ist es keineswegs so, dass der Gesetzgeber untätig wäre, die demokratische Rückbindung des E-Government also gänzlich vernachlässigen würde.18 Allerdings umfasst Verantwortung nicht nur die Gestaltungs-, sondern auch die Kontrolldimension. Insoweit ist es zumindest bemerkenswert, dass die für die Gestaltung des E-Government derzeit wohl einflussreichsten Kontrollinstanzen nicht die Parlamente, sondern expertokratische Institutionen wie der Bundesrechnungshof und der Normenkontrollrat sind. Gerade letzterer hat sich „in extensiver Interpretation seines auf Erfüllungskosten und bessere Rechtsetzung begrenzten Mandats (§ 1 Abs. 2 und 3 NKRG) zu einer zentralen Monitoringeinrichtung hinsichtlich der Fortschritte und Handlungsbedarfe bei der Digitalisierung der Verwaltung entwickelt“.19 Wie dies zu bewerten ist, ist hier nicht die Frage – und speziell für den Normenkontrollrat womöglich nur noch von rechtshistorischem Interesse.20 Der Punkt ist, dass die Verantwortung des Staates gegenüber den Bürger:innen in Sachen E-Government – trotz der hohen Relevanz der Thematik gerade aus Bürger:innen17

Schmidt-Aßmann (Fn. 16), S. 227 f. Vgl. aus jüngerer Zeit nur folgende Rechtsakte: E-Government-Gesetz des Bundes v. 25. Juli 2013, BGBl. I, S. 2749 sowie entsprechende E-Government- und Digital-Gesetze der Bundesländer; Gesetz zum Abbau verzichtbarer Anordnungen der Schriftform im Verwaltungsrecht des Bundes v. 29. März 2017, BGBl. I, S. 626; OZG v. 14. August 2017, BGBl. I, S. 3122, 3138; Registermodernisierungsgesetz v. 28. März 2021, BGBl. I, S. 2467; auf Unionsebene: VO (EU) 2018/1724 v. 2. Oktober 2018 über die Einrichtung eines einheitlichen digitalen Zugangstors zu Informationen, Verfahren, Hilfsmitteln und Problemlösungsdiensten und zur Änderung der VO (EU) 1024/2012 (Single Digital Gateway-Verordnung, SDGVO), ABl. L 295, 21. November 2018, S. 1. 19 Britz, Gabriele/Eifert, Martin: § 26 Digitale Transformation der Verwaltung, in: Andreas Voßkuhle/Martin Eifert/Christoph Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2022, Rn. 163. 20 Zum „Transfer“ des Normenkontrollrats vom BKAmt zum BMJ Fuchs, Michael: Gesetzesänderung durch Organisationserlass des Bundeskanzlers?, DÖV 2022, S. 335 ff. 18

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sicht – aktuell vorrangig durch demokratisch stark mediierte Institutionen wahrgenommen wird. Der Befund, dass dem exekutivföderal gesteuerten Recht des EGovernment etwas mehr parlamentarische Aufmerksamkeit und Kontrolle guttäte, erscheint nicht überzogen. Erstaunlich ist auch, dass Möglichkeiten zur direkten Partizipation der Bürger:innen, wie sie in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts, etwa dem Umweltrecht, seit langem erprobt werden,21 bislang kaum etabliert sind.22 Kritische Nachfragen muss sich die Verwaltungsdigitalisierung unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung aber nicht nur aus demokratischer, sondern auch aus rechtsstaatlicher Sicht stellen. So kennt das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht (abgesehen von § 71e VwVfG) bekanntlich keine subjektiven Rechte auf elektronische Interaktion mit den Behörden; auch die E-Government-Gesetze (EGovG) positionieren sich hier zurückhaltend und zumindest der Gesetzgeber hat beim Onlinezugangsgesetz (OZG) seine eindeutig abschlägige Auffassung zu Protokoll gegeben.23 Diese Zurückhaltung ist einer verantwortlichen Gestaltung der Verwaltungsdigitalisierung abträglich, fehlt doch mit den Gerichten eine wichtige Instanz, um den Prozess der digitalen Transformation der Verwaltung an die davon unmittelbar Betroffenen rückzukoppeln. Wenn demgegenüber das Unionsrecht – schon über die Dienstleistungsrichtlinie und jetzt über Art. 4 ff. SDGVO – einen Anspruch auf Durchführung eines digitalen Verfahrens einräumt, stärkt das die digitale Verantwortung des Staates.24

3. Verantwortungsverteilung im Verhältnis mehrerer an der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben beteiligter Stellen Fragt man drittens weiter danach, wie sich die Verantwortung für die Digitalisierung innerhalb der Verwaltung verteilt, ist damit in erster Linie die Frage nach der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben im föderalen bzw. im Mehrebenenkontext aufgeworfen.25 Die hiermit verbundenen Herausforderungen sollen noch einmal exem21

Dazu Smeddinck, Ulrich in diesem Band, S. 51 ff. Einen Sonderfall mögen die OZG-Digitalisierungslabore darstellen, die Partizipation in Form eines „Nutzer:innen-Referenz-Prozesses“ integrieren, vgl. die Darstellung unter https:// leitfaden.ozg-umsetzung.de/pages/viewpage.action?pageId=4621569. 23 Vgl. dazu ausführlich Guckelberger, Annette: Öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung, Baden-Baden 2019, S. 563 ff.; Denkhaus, Wolfgang/Richter, Eike/Bostelmann, Lars: EGovG/OZG, München 2019, OZG § 1 Rn. 17; Britz/Eifert (Fn. 19), Rn. 15 mit Fn. 41 ff.; anders Art. 2 S. 1 und 2 EGovG BY. Siehe auch Guckelberger, Annette in diesem Band, S. 73 ff. 24 Siehe zur Thematik auch Siegel, Thorsten: Der Europäische Portalverbund – Frischer Digitalisierungswind durch das einheitliche digitale Zugangstor („Single Digital Gateway“), NVwZ 2019, S. 905 (909). 25 Dazu grundlegend Pache (Fn. 7), S. 106 ff.; Groß, Thomas: Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, in: VVDStRL 66 (2007), S. 152 ff.; Schliesky, Utz: Legitimation und Verantwortung im komplexen, arbeitsteiligen Staat – eine Einführung, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Herausforderung e-Government, Baden-Baden 2009, S. 11 ff. 22

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plarisch mit Blick auf die Verantwortung für das bzw. im E-Government analysiert werden. Dort hat die Frage nach der Verortung der inneradministrativen Verantwortung seit jeher eine zentrale Rolle gespielt. Die Verkoppelung der Entscheidung über die informationstechnischen Infrastrukturen und Dienste des Verwaltungshandelns mit den allgemeinen Regeln über die Verteilung von Verantwortung im gegliederten Verwaltungsraum (Art. 83 ff. GG) hat hier zwar einerseits das „rechtsstaatlich wie demokratisch verwurzelte Gebot der Verantwortungsklarheit“ gesichert;26 dass auf diese Weise aber jedes Ressort, jeder Verwaltungsträger, ja letztlich jede Behörde für ihre IT selbst verantwortlich wurde, hat andererseits als Hemmschuh für Innovation gewirkt. Unter dem Hinweis auf „Verantwortungsdiffusion“ wurden – oft aus Partikularinteressen heraus – sinnvolle und notwendige Kooperationen in Frage gestellt. Daher war es über die konkrete rechtliche Regelungswirkung hinaus ein wichtiges politisches Signal, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber mit Art. 91c GG selbst bestimmte aufgabenbeeinflussende IT-Vorgaben vom Verdikt der unerlaubten Mischverwaltung freigestellt hat.27 Das Thema hat sich damit jedoch nicht erledigt. Heute begegnet etwa bei der ebenenübergreifenden Entwicklung von OZG-Leistungen in den Digitalisierungslaboren erneut die Sorge, Verantwortungsstrukturen würden „verwischt“, selbst wenn mit der Entwicklung noch keine Entscheidung über den Einsatz getroffen ist, diese vielmehr erst nachgelagert im Rahmen der etablierten Verantwortungsstrukturen erfolgen soll.28 Das bedeutet nicht, dass das Ideal der Verantwortungsklarheit aufgegeben werden sollte. Die eigentlichen Schwierigkeiten dürften insoweit allerdings weniger auf der konkreten Projektebene liegen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob die hyperkomplexe Gesamtsteuerungsstruktur für das E-Government bzw. für zentrale Projekte wie die OZG-Umsetzung, die jedenfalls in ihren bis in die kommunalen Verästelungen hineinreichenden Details allenfalls noch für Eingeweihte nachvollziehbar sind, nicht einem schlankeren und nachvollziehbareren Architekturmodell weichen sollte.29 Dies gilt gerade dann, wenn grundlegende Veränderungen bei der föderalen Kompetenzverteilung in Sachen E-Government auf absehbare Zeit nicht zu erwarten sind.30

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Pache (Fn. 7), S. 114 Fn. 28, unter Verweis auf Schmidt-Aßmann (Fn. 7), S. 309. Die Gesetzesbegründung hat sich nicht dazu verhalten, inwieweit Entscheidungen über die IT unabhängig von den damit erledigten Fachaufgaben sind, vgl. dazu näher Wischmeyer, Thomas, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 91c, Rn. 7 f. 28 Dazu wie hier Britz/Eifert (Fn. 19), Rn. 158. 29 Hierzu exemplarisch Kühn, Hannes: Monitor Digitale Verwaltung #4 – Director’s Cut, abrufbar unter: https://www.oeffentliche-it.de/-/monitor-digitale-verwaltung-4. 30 Für eine Neuorganisation der föderalen Beziehungen pointiert Schallbruch, Martin: Schwacher Staat im Netz, Wiesbaden 2018, S. 242 ff. 27

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4. Zwischenfazit Es hat sich gezeigt, dass die Frage nach der digitalen Verantwortung in allen drei hier untersuchten Relationen je von hoher Relevanz, jedoch unterschiedlich akzentuiert ist. Spitzt man die bisherigen Überlegungen thesenartig zu, lässt sich festhalten: Während im inneradministrativen Bereich einzelne Verwaltungseinheiten an ihrer Verantwortung übermäßig klammern, scheinen gerade im Bereich des EGovernment der Gesetzgeber und (mittelbar) die Gerichte die Übernahme von Verantwortung immer noch eher zu scheuen. Außerhalb des E-Government hingegen, im Verhältnis von Staat und Bürger:innen, sollte der Staat der Gesellschaft aktuell womöglich etwas mehr Eigenverantwortung zutrauen.

III. Facetten der digitalen Verantwortung des Staates Ich will an dieser Stelle weitergehen und den Gegenstand der digitalen Verantwortung näher betrachten. Erneut kann es hier nicht um eine umfassende Beschreibung gehen. Vielmehr sollen einzelne Facetten herausgegriffen werden. Der Gang der Darstellung orientiert sich am Lebenszyklus der digitalen Transformation von Staat und Gesellschaft. 1. Innovationsverantwortung Dementsprechend steht am Beginn die Innovationsverantwortung. Dieser Begriff hat seinerseits verschiedene Facetten. Er soll hier enger als in Teilen der Literatur verstanden werden und allein die Verantwortung des Staates für die Förderung und für die Ermöglichung von technischen Innovationen bezeichnen.31 Dass dies eine zentrale Aufgabe von Technikregulierung ist, dürfte heute konsentiert sein. Dies betrifft nicht nur die – heute ja regelmäßig stark verrechtlichte – allgemeine staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung. Vielmehr zeigen Sektoren wie das IT-Sicherheitsrecht, dass sich in bestimmten Feldern der digitalen Technik Fortschritt nur im Schatten bzw. unter dem Druck staatlicher Regulierung erzeugen lässt.32 Es ist primär eine ökonomische Frage, wo der Staat der Innovations-

31 Für ein deutlich umfassenderes Begriffsverständnis siehe nur Hoffmann-Riem, Wolfgang: Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht, AöR 131 (2006), S. 255 ff.; Eifert, Martin: Innovationsfördernde Regulierung, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung, Berlin 2008, S. 9 ff.; Scherzberg, Arno: Innovationen und Recht, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang, Offene Rechtswissenschaft, Tübingen 2010, S. 273 ff.; Hoffmann-Riem, Wolfgang: Innovation und Recht – Recht und Innovation, Tübingen 2016, S. 389 ff. 32 Dazu näher Wischmeyer (Fn. 12), § 6 II.

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kraft des Marktes auf die Sprünge helfen muss.33 Beim Wie der Regulierung kann und muss die Rechtswissenschaft jedoch mitreden. Hier ist unter anderem darauf zu achten, dass das Recht richtige Anreize setzt, zugleich aber eine Detailsteuerung vermeidet, um die Dynamik der technologischen Entwicklung offenzuhalten. Ausnahmen bestätigen, dass der Gesetzgeber insoweit in aller Regel die richtige Balance findet.34 Innovationsverantwortung bedeutet nicht nur, dass der Gesetzgeber auf eine inhaltliche Detailsteuerung verzichtet und durch Generalklauseln oder die Delegation von Entscheidungsmacht an Verwaltungen, Gerichte oder private Normungsinstanzen für ein hinreichend dynamisches Normprogramm sorgt. Vielmehr kann und sollte der Gesetzgeber vermehrt auch von der Möglichkeit zur Flexibilisierung und Temporalisierung rechtlicher Vorgaben Gebrauch machen. Insbesondere zeitliche Begrenzungen regulatorischer Interventionen zwingen den Gesetzgeber zur fortdauernden Befassung mit einer Materie. Nach wie vor dürfte auch das Potenzial der sog. experimentellen Regulierung nicht ausgereizt sein.35 In jüngerer Zeit sind hier vor allem im Finanzmarktrecht unter den Stichworten „Reallabor“ oder „regulatory sandbox“ rechtsexperimentelle Projekte angestoßen worden.36 Noch scheint freilich das Bewusstsein nicht sehr verbreitet, dass solche Regime bei einer guten gesetzli33 Zu den mit dieser Aussage verbundenen Grundannahmen siehe nur Hellgardt, Alexander: Regulierung und Privatrecht, Tübingen 2016, S. 34 ff. Anders ist dies im staatlichen Innenbereich. Hier nimmt die Verfassung in Gestalt von Art. 91c GG Gesetzgeber und Verwaltung in die Innovationsverantwortung für die Verwaltungsmodernisierung. 34 Eine Ausnahme stellt etwa der durch das Zweite Gesetz zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme (ITSiG 2.0) v. 18. Mai 2021, BGBl. I, S. 1122 eingeführte § 8a Abs. 1a BSIG dar, der die Betreiber Kritischer Infrastrukturen verpflichtet, ab dem Jahr 2023 zur Verteidigung ihrer Netzwerke „Systeme zur Angriffserkennung“ zu nutzen. Anders als sonst üblich werden diese Systeme in § 2 Abs. 9b S. 2 BSIG nicht technikneutral, sondern konkret über ihre Nutzung von Verfahren der Mustererkennung charakterisiert. Hier wird eine technische Detailregelung auf Gesetzesebene getroffen. Auch im Lichte der schlechten Erfahrungen mit § 9 BDSG a. F. ist dies eine allzu spezifische, mit Blick auf künftige Entwicklungen der Sicherheitstechnik möglicherweise sogar hinderliche Festschreibung des gegenwärtigen technischen Entwicklungsstands und sollte daher korrigiert werden. Abgewogen dazu Hornung, Gerrit: Das IT-Sicherheitsgesetz 2.0, NJW 2021, S. 1985 (1987). 35 Dazu allgemein Eifert, Martin: Regulierte Selbstregulierung und die lernende Verwaltung, Die Verwaltung Beiheft 4 (2001), S. 137 ff.; Sabel, Charles F./Simon, William H.: Minimalism and Experimentalism in the Administrative State, Georgetown LJ 100 (2011), S. 53 ff.; de Búrca, Gráinne/Keohane, Robert O./Sabel, Charles F.: Global Experimentalist Governance, British Journal of Political Science 44 (2014), S. 477 ff.; Seckelmann, Margrit: Evaluation und Recht, Tübingen 2018, S. 190 ff. 36 Vgl. hierzu Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen zu Reallaboren und Experimentierklauseln als Instrumente für einen innovationsfreundlichen, zukunftssicheren und resilienten Rechtsrahmen zur Bewältigung disruptiver Herausforderungen im digitalen Zeitalter v. 16. November 2020, ABl. C 447, 23. Dezember 2020, S. 1. Zur Reallaborstrategie der Bundesregierung siehe https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeumefuer-innovation-und-regulierung.html. Zu den verwaltungsrechtlichen Herausforderungen näher Krönke, Christoph: Sandkastenspiele – „Regulatory Sandboxes“ aus der Perspektive des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 76 (2021), S. 434 ff.; Ranchordas, Sofia: Experimental Regulations for AI: Sandboxes for Morals and Mores, Morals + Machines, 2021, S. 86 ff.

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chen Absicherung den Behörden durchaus den Verzicht auf bestimmte rechtliche Erfordernisse (Formerfordernisse, Zulassungsvoraussetzungen o. ä.) gestatten können, so dass Innovationen schneller in den Markt gebracht werden können, und gleichzeitig kompensatorische Schutzvorkehrungen vorsehen können, die die rechtlichen Interessen von Verbraucher:innen, Kund:innen etc. hinreichend wahren. Nachhaltig sind solche Vorhaben allerdings nur, wenn sie von Mechanismen zur Wissensgenerierung begleitet werden. Auch die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Evaluation derartiger Programme gehört daher zur Innovationsverantwortung des Staates.37 2. Infrastruktur- und Teilhabeverantwortung Regulatorische Maßnahmen zur Förderung digitaler Innovation in Staat und Gesellschaft müssen zweitens Infrastruktur-38 und Teilhabeaspekte39 berücksichtigen.40 Die Infrastruktur- und Teilhabeverantwortung setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen, die von der Infrastrukturebene (Breitband-Ausbau, Recht auf Versorgung etc.) über die Bereitstellung offener Standards41 bis hin zu hinreichenden Informationsangeboten für Bürger:innen reichen. Die diesbezüglichen Rechtsnormen sind entsprechend weit gestreut (TKG, SDGVO etc.). Landesverfassungsrechtliche Verankerung hat der Teilhabeaspekt seit 2014 in Art. 14 Abs. 1 LV SH gefunden. Ein einzelnes Problem aus dem hier aufscheinenden Zusammenhang sei herausgegriffen: die „fakultative Nutzung“ von E-Government-Diensten. Zu Recht ist die 37

Eifert (Fn. 10), S. 22. Zum Konzept der Infrastrukturverantwortung siehe Hermes (Fn. 8); Dörr, Oliver: Die Anforderungen an ein zukunftsfähiges Infrastrukturrecht, in: VVDStRL 73 (2014), S. 323 ff.; Wißmann, Hinnerk: Die Anforderungen an ein zukunftsfähiges Infrastrukturrecht, in: VVDStRL 73 (2014), S. 369 ff.; Gärditz, Klaus Ferdinand: § 11 Infrastruktursicherung, in: Gregor Kirchhof/Stefan Korte/Stefan Magen (Hrsg.), Öffentliches Wettbewerbsrecht, Heidelberg et al. 2014, S. 363 ff.; Voßkuhle, Andreas: Staatsaufgabe Infrastruktur, in: Mathias Habersack/Karl Huber/Gerald Spindler (Hrsg.), FS Stilz, München 2014, S. 675 ff. 39 Siehe dazu nur Klessmann, Jens/Löhe, Martin G./Müller, Lena-Sophie, Digitale Teilhabe, Berlin 2014, abrufbar unter: https://www.oeffentliche-it.de/documents/10181/14412/Digita le+Teilhabe; Roßnagel, Alexander: Zur Reichweite der staatlichen Verantwortung für Teilhabe in der digitalen Zeit, in: Michael Fehling/Utz Schliesky (Hrsg.), Neue Macht- und Verantwortungsstrukturen in der digitalen Welt, Baden-Baden 2016, S. 71 ff.; knapp auch Denkhaus, Wolfgang: Vom E-Government zur Digitalisierung, in: Margrit Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – Vernetztes E-Government, Berlin 2019, Kap. 1 Rn. 31. 40 Inhaltlich deckt sich diese Verantwortungsdimension weitgehend mit dem Konzept der „E-Daseinsvorsorge“, vermeidet jedoch auf begrifflicher Ebene den paternalistischen Anklang dieses Konzepts, vgl. Luch, Anika D./Schulz, Sönke E.: eDaseinsvorsorge – Neuorientierung des überkommenen (Rechts-)Begriffs „Daseinsvorsorge“ im Zuge technischer Entwicklungen?, MMR 2009, S. 19 ff.; Luch, Anika D./Schulz, Sönke E.: E-Daseinsvorsorge – staatliche Schutzpflichten und Sozialstaatsprinzip im Lichte der „Virtualisierung“ des Lebens, in: Hermann Hill/Utz Schliesky, Herausforderung e-Government, Baden-Baden 2009, S. 305 ff. 41 Hierzu näher Greve, Felix: Die staatliche Gewährleistungsverantwortung für offene Standards, Baden-Baden 2015. 38

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Literatur überwiegend skeptisch, was aktuell die Möglichkeit betrifft, außerhalb spezieller Fachverfahren wie dem Vergaberecht, in denen von einer hinreichenden Digitalkompetenz aller relevanten Nutzer:innen ausgegangen werden kann, die Nutzung von Online-Diensten der Verwaltung obligatorisch auszugestalten. Die maßgeblichen Normen, allen voran § 1 Abs. 1 OZG, sind in ihrer Absicht, die digitale Kommunikation nur als zusätzliche Nutzungsmöglichkeit einzuräumen, eindeutig.42 Und auch dort, wo – wie im Steuerrecht – die Digitalisierung weit fortgeschritten ist, besteht die Rechtsprechung bisher nachvollziehbar darauf, dass aus rechtsstaatlichen Gründen jedenfalls für Härtefälle auch ein analoger Zugang zur Verwaltung eröffnet werden muss.43 Mit der Zeit dürfte es allerdings immer weniger plausibel sein, den analogen Zugang als Normalfall und den digitalen Zugang als begründungsbedürftigen, weil potenziell exkludierenden Sonderweg einzustufen. Die durch die Pandemie erzwungene Improvisation hat gezeigt, welchen Gewinn an Inklusivität und Barrierefreiheit digitale Angebote schaffen können bzw. dafür sensibilisiert, welche faktischen Zugangshürden rein analoge Zugänge zur Verwaltung (etwa: Mobilitätserfordernis; physische Präsenz) darstellen können. Letztere werden in der Abwägung bisher nicht ausreichend berücksichtigt; die durch den Wechsel zur digitalen Kommunikation neu begründeten Zugangshürden erscheinen durch diese Verzerrung größer als sie sind. Unabhängig davon, sollte es in Zukunft weniger darum gehen, analogen gegen digitalen Zugang auszuspielen, sondern darum, wie die unterschiedlichen Kommunikationswege in einer möglichst große Inklusivität garantierenden Art und Weise kombiniert werden können. 3. Digitalisierungsfolgenverantwortung Wie erwähnt muss der Gesetzgeber unter bestimmten Bedingungen die Verantwortung für Risiken der digitalen Technik übernehmen.44 Hierzu steht ihm in erster Linie das bewährte Instrumentarium des Technikrechts sowie des speziell auf den Schutz der informationellen Selbstbestimmung fokussierten Datenschutzrechts zur Verfügung. Mustergültig lässt sich diese Form der gesetzgeberischen Risikoaneignung und -bewältigung im Kontext der gegenwärtigen Bemühungen um die Regulierung sog. Künstlicher Intelligenz (KI) beobachten.45 Die Frage, wer im konkreten Fall allerdings tatsächlich die Verantwortung trägt, ist im Digitalen nicht immer einfach zu beantworten. Denn (fast) jedes IT-System ist effektiv ein komplexes Ökosystem aus Komponenten, Anwendungen, Diensten, 42 Vgl. nur Siegel (Fn. 24), S. 905, der darauf hinweist, dass die SDGVO hier weniger eindeutig formuliert ist. 43 Vgl. näher Guckelberger (Fn. 23), S. 171 f.; Britz/Eifert (Fn. 19), Rn. 55 f. 44 Vgl. die Nachweise in Fn. 10. 45 Zum Risikokonzept siehe den Vorschlag für eine VO zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz), COM(2021) 206 final.

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Netzwerken etc.46 Dies gilt in nochmals gesteigertem Maße für KI-basierte Systeme.47 „Einsatz“ eines solchen IT-Systems heißt damit eigentlich In-Bewegung-Setzen eines hochkomplexen Netzwerks. Dies gilt auch für die IT-Systeme der öffentlichen Hand, an bzw. in denen regelmäßig auch Private auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine wichtige Rolle spielen. In einem solchen Ökosystem klare Verantwortungsstrukturen zu etablieren, ist eine große Herausforderung für das Verwaltungsrecht. Hier sollen nur, durchaus eklektisch, drei Bausteine genannt werden, die insoweit zu einer Verbesserung beitragen können: Notwendig ist erstens umfassende Transparenz im Verhältnis von Verwaltung und privaten Auftragnehmer:innen; ohne Transparenz lässt sich nicht erkennen, wo die wechselseitigen Verantwortungssphären beginnen und enden.48 Zweitens ist es unabdingbar, dass die Verwaltung hinreichende eigene IT-Kompetenz aufbaut. Diese wird benötigt, um zu prüfen, ob die Privaten ihrer Verantwortung nachkommen, und um zu gewährleisten, dass der Staat seine eigenen Verantwortungsteile angemessen umsetzt. Nur auf diese Weise lässt sich auch eine schleichende Privatisierung administrativer Entscheidungsverfahren verhindern. Die große Hürde hierfür ist die Gewinnung entsprechend qualifizierten Personals.49 Ein drittes, in seiner Bedeutung bisher wohl noch unterschätztes Element ist die strukturierte behördliche Abnahme aller Leistungen, die Private für die Verwaltung erbracht haben; für diesen Abnahmeprozess müssen klarere Kriterien und Verfahren definiert werden.50 Zu klären ist zudem vor allem für KI-basierte Systeme, was Verantwortung bzw. Verantwortungsübernahme hier genau bedeutet.51 Schon begrifflich verfehlt wäre es, Verantwortung als umfassende Kontrolle der Technik zu verstehen und speziell den 46

Hierzu aus Sicht der IT-Sicherheit Wischmeyer (Fn. 12), § 6 II.1.b. Vgl. dazu nur Datenethikkommission, Gutachten, 2019, S. 169, abrufbar unter: https:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/it-digitalpolitik/gutach ten-datenethikkommission.pdf. 48 Guckelberger, Annette: E-Government: Ein Paradigmenwechsel in Verwaltung und Verwaltungsrecht?, in: VVDStRL 78 (2019), S. 253 (271): „Schon aus Gründen der Kontrolle und Übernahme der Verantwortung muss sich die Verwaltung bei Beauftragung Privater zur IT-Ausarbeitung mit diesen über die Offenbarung von Informationen verständigen.“ 49 Zu diesem Punkt präzise Guckelberger (Fn. 48), S. 354 f. 50 Ansätze hierzu finden sich im Sicherheitsrecht, wo das BKA zur Einhegung des Einsatzrisikos des Staatstrojaners einen „Gesamtabnahmeprozess“ vorsieht. Dieser besteht jedoch im Kern aus einer auf der Homepage veröffentlichten sehr abstrakten Leistungsbeschreibung, vgl. Bundeskriminalamt, Standardisierende Leistungsbeschreibung für Software zur Durchführung von Maßnahmen der Quellen-Telekommunikationsüberwachung und der OnlineDurchsuchung (Stand: 5. Oktober 2018), abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/UnsereAufga ben/Ermittlungsunterstuetzung/Technologien/QuellentkueOnlinedurchsuchung/quellentkueOn linedurchsuchung.html. Siehe dazu auch, allerdings mit nur geringem Problembewusstsein, BVerfG, Beschl. v. 20. Januar 2022, 1 BvR 1552/19, Rn. 19. 51 Zu dieser Problematik aus unterschiedlichen Perspektiven näher Bieker, Felix/Bremert, Benjamin/Hansen, Marit: Verantwortlichkeit und Einsatz von Algorithmen bei öffentlichen Stellen, DuD 2018, S. 608 (611 f.); Martini, Mario/Nink, Dominik: Subsumtionsautomaten ante portas?, DVBl. 2018, S. 1128 ff.; Guckelberger (Fn. 48), S. 268. 47

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Einsatz von KI durch die Verwaltung nur dann zuzulassen, wenn wir – entweder durch ein human-in-the-loop-Erfordernis52 oder durch ein vollständig erklärbares System – mit dem System keinerlei Überraschungen erleben können. Gerade der Topos der vollständigen Erklärbarkeit scheint mir im Falle von KI deren spezifische Funktionalität und damit ihr Potenzial zu verfehlen.53 Wenn man zugleich nicht den – aus meiner Sicht nicht zielführenden – Weg gehen will, den Maschinen selbst die Verantwortung für ihr Handeln zuzuschreiben, kommt es darauf an, für den Umgang mit KI eine produktive administrative „Verantwortungsarchitektur“ zu etablieren, die über eine rein defensive Kontrollhaltung hinausgeht.54 Als Ziel einer solchen Verantwortungsarchitektur nennt Timo Rademacher, dass die menschlichen Nutzer:innen „wach und aufmerksam“ gehalten werden, „sodass sie auf das Unerwartete, Unberechnete und Kontingente nicht nur reagieren können […], sondern dem Unerwarteten einen positiven, eben weil Eigenverantwortung erhaltenden Mehrwert zuschreiben.“55 4. Verantwortung für die Sicherheit der digitalen Welt Der Staat trägt nicht nur die Verantwortung für die Risiken, die von der digitalen Technik ausgehen. Er hat, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, auch eine „Verantwortung für die Sicherheit informationstechnischer Systeme“, die sich bis zur Schutzpflicht verdichten kann.56 Geboten ist daher der Erlass und die Pflege eines leistungsfähigen IT-Sicherheitsrechts. Die regulatorische Entwicklung in diesem Bereich ist rasant.57 Allerdings liegt im geltenden Recht nach wie vor viel im Argen: Das reicht von der Ausblendung wichtiger Teilbereiche der Aufgabe „Informationssicherheit“ – namentlich der Internetsicherheit; auch die Komponentensicherheit ist immer noch defizitär geregelt –, über die begrenzte territoriale Reichweite, die teils unzureichende Operationalisierung der technischen Standards bis hin zum Wildwuchs der Behördenstrukturen.58 Nur am Rande sei bemerkt, dass auch die spezifischen IT-Sicherheitsrisiken von KI-getriebenen Produkten und Diensten – etwa die für diese Technologie typischen und überaus manipulationsanfälligen Lieferketten – noch gar keine adäquate regulatorische Einhegung erfahren 52

Dazu, dass ein solches Erfordernis die Verantwortungsproblematik nur teilweise entschärft, siehe u. a. Britz/Eifert (Fn. 19), Rn. 109 m. w. N. 53 Vgl. Wischmeyer, Thomas: Künstliche Intelligenz und neue Begründungsarchitektur, in: Martin Eifert (Hrsg.), Digitale Disruption und Recht, S. 73 ff. 54 Hierzu grundlegend Rademacher, Timo: Künstliche Intelligenz und neue Verantwortungsarchitektur, in: Martin Eifert (Hrsg.), Digitale Disruption und Recht, S. 45 ff. 55 Hierzu Rademacher (Fn. 54), S. 70 f. 56 BVerfG, Beschl. v. 8. Juni 2021, 1 BvR 2771/18, Rn. 26 (IT-Sicherheitslücken). 57 Vgl. zuletzt aus dem Bundesrecht das ITSiG 2.0. Aus dem Landesrecht vgl. etwa für Baden-Württemberg das am 17. Februar 2021 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Cybersicherheit (GBl. 2021, S. 182). Für das Unionsrecht vgl. die Nachweise in Fn. 13. 58 Hierzu ausführlich Wischmeyer (Fn. 12), § 6.

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haben.59 Als übergreifende Herausforderung der Materie erweist sich die Frage, wo die richtige Balance zwischen allgemeinen Vorgaben und bereichsspezifischen Sonderregeln liegt. Erstere tragen der Querschnittsnatur des IT-Sicherheitsproblems Rechnung. Letztere sind unerlässlich, da bei der Wahl der Regulierungsebene und des Regulierungsinhalts der jeweilige Sachkontext entscheidend ist. An dieser Stelle soll erneut nur ein Aspekt herausgehoben werden: Bekanntlich tritt der Staat nicht nur als Garant, sondern auch als Gefährder der Informationssicherheit auf. Er sorgt nicht nur durch regulatorische Vorgaben dafür, dass Private gefährliche Sicherheitslücken schließen. Vielmehr beschaffen sich staatliche Stellen selbst Lücken, um diese für Zwecke der Strafverfolgung, der Gefahrenabwehr oder der Vorfeldaufklärung zu nutzen. Intensiv wird diskutiert, unter welchen Bedingungen staatliche Stellen derartige Schadsoftware einsetzen dürfen. Stichworte sind hier Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ.60 Normativ unterbelichtet – und auch vom Bundesverfassungsgericht in zwei Beschlüssen aus diesem und dem vergangenen Jahr nur knapp abgetan – ist die Frage, ob und wie sich der Staat diese Lücken beschaffen und vorhalten darf.61 Diese Frage ist auch deswegen besonders relevant, weil derartige Aktivitäten in starker Spannung mit der staatlichen Schutzverantwortung für die IT-Sicherheit stehen. Um diese zu bewältigen, sind gesetzliche Regeln zum sog. „Schwachstellenmanagement“ notwendig, die im Koalitionsvertrag angekündigt werden.62 5. Nachhaltigkeitsverantwortung Mehr und mehr wird schließlich bewusst, dass die digitale Transformation auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten Fragen aufwirft. Gewiss können Technologien wie KI auch ihren positiven Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten; dies legen zumindest

59 ENISA: Artificial Intelligence Cybersecurity Challenges, 2020, abrufbar unter: https:// www.enisa.europa.eu/publications/artificial-intelligence-cybersecurity-challenges. 60 Aus technischer Sicht zu den Konzepten Freiling, Felix/Safferling, Christian/Rückert, Christoph: Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung als neue Maßnahmen für die Strafverfolgung, JR 2018, S. 9 (16 ff.); Hauser, Markus: IT-Grundrecht, Berlin 2015, S. 32 ff.; Schlegel, Arndt: Normative Grenzen internetbasierter Ermittlungsmethoden, Wiesbaden 2019, S. 99 ff. Siehe weiter insbesondere Roggan, Fredrik: Die strafprozessuale Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung, StV 2017, S. 821 ff.; Soiné, Michael: Die strafprozessuale OnlineDurchsuchung, NStZ 2018, S. 497 ff.; Martini, Mario, in: Ingo v. Münch/Philip Kunig (Hrsg.), GG, Bd. I, 2021, Art. 10 Rn. 197; von zur Mühlen, Nicolas: Zugriffe auf elektronische Kommunikation, Berlin 2019, S. 62 ff.; Martini, Mario/Fröhlingsdorf, Sarah: Catch me if you can: Quellen-Telekommunikationsüberwachung zwischen Recht und Technik, NVwZ-Extra 24 (2020), S. 1 ff. 61 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 8. Juni 2021, 1 BvR 2771/18 (IT-Sicherheitslücken); BVerfG, Beschl. v. 20. Januar 2022, 1 BvR 1552/19. 62 Herpig, Sven: Schwachstellen-Management für mehr Sicherheit, 27. 8. 2018, abrufbar unter: https://www.stiftung-nv.de/sites/default/files/vorschlag.schwachstellenmanagement.pdf; vgl. vertiefend Wischmeyer (Fn. 12), § 7.

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Thomas Wischmeyer

Studien zur Rolle von KI für den „European Green Deal“ nahe.63 Eindeutig ist dies jedoch nicht; und bei der Blockchain ist überaus fraglich, ob die negativen Umweltauswirkungen nicht alle Vorteile dieser Technologie überwiegen.64 Vor diesem Hintergrund gehört es zur staatlichen Verantwortung, Aspekte der „digitalen Nachhaltigkeit“ in den Regulierungsrahmen zu integrieren.65 Angeknüpft werden kann insofern an das ältere Konzept der Innovationsnachhaltigkeit, das Vorschläge präsentiert hat, die für den Umgang mit digitalen Innovationen zu aktualisieren sind.66

IV. Ausblick Das Fazit kann kurz ausfallen: Schon angesichts der zahlreichen hier betrachteten regulatorischen Maßnahmen wäre es verfehlt, dem Staat zu attestieren, er würde seiner digitalen Verantwortung nicht nachkommen. Dennoch bestehen, wie gesehen, an zahlreichen Punkten Optimierungspotenziale. Diese betreffen zum einen die Art und Weise, wie die Verantwortung für die Gestaltung der Digitalisierung in den drei hier betrachteten Relationen verteilt ist. Zum anderen verlangt eine verantwortliche Gestaltung der Digitalisierung auch in sachlicher Hinsicht teils andere Akzent-, teils neue Schwerpunktsetzungen.

63 Vgl. Bitkom e. V./Accenture Strategy, Klimaeffekte der Digitalisierung, 2021, abrufbar unter: https://www.bitkom.org/sites/default/files/2021-03/bitkom_studie_klimaeffekte-der-digi talisierung_final_210318.pdf; kritischer Gailhofer, Peter et al., The role of Artificial Intelligence in the European Green Deal, 2021, abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/RegD ata/etudes/STUD/2021/662906/IPOL_STU(2021)662906_EN.pdf. 64 Denga, Michael, Die Regulierung der Blockchain-Infrastruktur, JZ 2021, S. 227 (230 f., 235) m. w. N. 65 Siehe allgemein: Sühlmann-Faul, Felix/Rammler, Stephan: Der blinde Fleck der Digitalisierung, München 2018; Spraul, Katharina (Hrsg.), Nachhaltigkeit und Digitalisierung, Baden-Baden 2019. Aus rechtlicher Sicht Martini, Mario/Ruschemeier, Hannah: Künstliche Intelligenz als Instrument des Umweltschutzes, ZUR 2021, S. 515 ff.; Zech, Herbert: Nachhaltigkeit und Digitalisierung im Recht, ZfDR 2022, S. 123 ff. 66 Hoffmann-Riem, Wolfang/Fritzsche, Saskia: Innovationsverantwortung: zur Einleitung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Martin Eifert (Hrsg.), Innovationsverantwortung, Berlin 2009, S. 11 ff.

Entwickelt sich ein Klimaschutzverwaltungsrecht?1 Von Sabine Schlacke und Miriam Köster Während das Rechtsgebiet „Klimaschutzrecht“ mittlerweile als etabliert bezeichnet werden kann, ist das „Klimaschutzverwaltungsrecht“ noch im Entstehen. Es zeichnen sich jedoch klare Entwicklungstendenzen und -präzisierungen innerhalb des Rechtsgebiets des Klimaschutzrechts hin zu einem Klimaschutzverwaltungsrecht ab. Der Beitrag beschreibt die Grundlagen zur Begründung dieser Thesen, indem er zunächst einige theoretische Vorüberlegungen zur Bestimmung eines Rechtsgebiets abbildet (I.). Die Entwicklung der internationalen, europäischen wie deutschen Rechtsakte zum Schutz des Klimas zeigt zunächst, warum im Jahr 2022 von einem Rechtsgebiet des Klimaschutzrechts auszugehen ist (II.), wohingegen noch nicht von einem etablierten Klimaschutzverwaltungsrecht gesprochen werden kann (III.). Warum es dennoch für die Erreichung der im Klimaschutzrecht verankerten Ziele wichtig ist, das entstehende Klimaschutzverwaltungsrecht zu systematisieren und zu etablieren, begründet das Fazit (IV.)

I. Vorüberlegungen Ansätze, ein Rechtsgebiet zu definieren, gibt es verschiedene.2 In Fortsetzung eines früheren Beitrags3 wird hier folgende Definition zugrunde gelegt: Ein Rechts1 Bei dem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung des Vortrags von Prof. Dr. Sabine Schlacke anlässlich der Tagung „Herausforderungen für das Verwaltungsrecht“ am 5./ 6. Mai 2022 in Speyer. 2 S. z. B. Kloepfer, Michael, Systematisierung des Umweltrechts, Berlin 1978, S. 68; Erbguth, Wilfried, Rechtssystematische Grundfragen des Umweltrechts, Berlin 1987, S. 24; Schulze-Fielitz, Helmuth, Umweltrecht, in: Willoweit, Dietmar (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, München 2007, S. 989 – 1002 (990 – 993); hieran anknüpfend: Müller, Thorsten/Schulze-Fielitz, Helmuth, Auf dem Wege zu einem Klimaschutzrecht – Eine einleitende Problemskizze –, in: Schulze-Fielitz, Helmuth/Müller, Thorsten (Hrsg.), Europäisches Klimaschutzrecht, Baden-Baden 2009, S. 9 – 19; hierzu bereits: Schlacke, Sabine, Klimaschutzrecht – ein Rechtsgebiet? Begriffliches, Systematik und Perspektiven, in: Die Verwaltung 2010, Beiheft 11: Umwelt- und Planungsrecht im Wandel, S. 121 – 158 (152); Härtel, Ines, Energieeffizienzrecht – ein neues Rechtsgebiet?, in: NuR 2011, S. 825 – 833 (826), weist allerdings auf den Mangel an aktueller Auseinandersetzung mit rechtstheoretischen Kriterien für die Entstehung von Rechtsgebieten hin; nach Burgi, Martin, Klimaverwaltungsrecht angesichts von BVerfG-Klimabeschluss und European Green Deal, NVwZ 2021, S. 1401 – 1408 (1404), sind die Aufgaben für die Konstituierung eines Rechtsgebiets des Verwaltungsrechts entscheidend.

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gebiet im engeren Sinne zeichnet sich in Abgrenzung zu anderen Rechtsgebieten durch Gesetzeswerke und Regelungen aus, deren Eigenständigkeit sich anhand übergreifender Ziele, Grundsätze und Instrumente identifizieren lässt.4 Unter anderem der Erlass von Kerngesetzen kennzeichnet diese Eigenständigkeit.5 Weitere Indizien sind rechtsgebietsbezogene Institute, Austauschforen, Fachtagungen und -zeitschriften oder Schriftenreihen.6 Innerhalb als etabliert zu betrachtender Rechtsgebiete ergeben sich mitunter weitere Untergliederungen, die wiederum zu unterschiedlichen Systematisierungen führen können. Als Beispiel mag das Umweltrecht7 dienen. Ob als „Umweltfachrecht“8 oder als „Umweltrecht im engeren Sinne“9 systematisiert, ist hierunter solches (Gesetzes-)Recht zu verstehen, dessen primäres Ziel der Schutz der Umwelt ist.10 Daneben tritt aber auch als „Umweltrecht im weiteren Sinne“11 oder „Umweltrecht als Querschnittsmaterie“12 solches Recht, das nicht an erster Stelle auf den Umweltschutz abzielt, diesen aber dennoch miterfasst.13 Darüber hinaus lässt sich ein Rechtsgebiet auch anhand der Rolle seiner Adressatinnen und Adressaten und deren Rechtsbeziehungen zueinander kategorisieren. Um bei dem Beispiel des Umweltrechts zu bleiben, umfasst das Umweltverwaltungsrecht „sämtliche dem Schutz der Umwelt dienenden Vorschriften, die Rechte und Pflichten von Trägern hoheitlicher Gewalt untereinander und dem Bürger gegenüber regeln.“14 Das so definierte Umweltverwaltungsrecht besteht aus einem Mosaik von Einzelregelungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, das sich einer umfassenden Systema-

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Schlacke (2010) (Fn. 2), S. 152. Schlacke (2010) (Fn. 2), S. 152; vgl. Erbguth (Fn. 2), S. 24; Härtel (Fn. 2), S. 827 macht u. a. anknüpfend an Kloepfer (1978) (Fn. 2), Schulze-Fielitz (Fn. 2) und Müller/Schulze-Fielitz (Fn. 2) einen zusammenhängenden Lebensbereich, einen übergreifenden, gemeinsamen Sinn, ein gemeinsames Ziel vieler verschiedener Rechtsinstrumente, (verfassungs-)rechtliche Vorabentscheidungen und die Anerkennung durch die Forschung zusammenfassend als Kriterien für die Entstehung eines Rechtsgebietes aus. 5 Wustlich, Guido, Die Atmosphäre als globales Umweltgut – Rechtsfragen ihrer Bewirtschaftung im Wechselspiel von Völker-, Gemeinschafts- und nationalem Recht, Berlin 2003, S. 333; vgl. Müller/Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 10; Schlacke (2010) (Fn. 2), S. 156; nach Burgi (Fn. 2), S. 1404 kommt es hierauf gerade nicht entscheidend an. 6 Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 992 – 993; vgl. Müller/Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 10; vgl. Härtel (Fn. 2), S. 827; vgl. Kloepfer, Michael, Umweltrecht, 4. Aufl., München 2016, § 1 Rn. 98. 7 Zu dessen Systematisierung und Entwicklung z. B.: Kloepfer (1978) (Fn. 2); Erbguth (Fn. 2); Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 989 – 998; s. auch Wustlich (Fn. 5), S. 319 – 325. 8 Ramsauer, Ulrich, in: Koch, Hans-Joachim/Hofmann, Ekkehard/Reese, Moritz (Hrsg.): Handbuch Umweltrecht, 5. Aufl., München 2018, § 3 Rn. 8. 9 Schlacke, Sabine, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 2 Rn. 4; Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 1 Rn. 94. 10 Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 8. 11 Schlacke (2021) (Fn. 9), § 2 Rn. 4. 12 Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 8 – 9. 13 Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 9. 14 Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 10. 4

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tisierung nach wie vor entzieht.15 Gleichzeitig kennt das Umweltrecht die Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Umweltverwaltungsrecht.16 Ersteres beschreibt die „vor die Klammer gezogenen“ Regelungen, die in Form von übergreifenden Zielstellungen, Prinzipien, Verfahrensarten oder Instrumenten Gültigkeit für viele Bereiche des besonderen Umweltrechts entfalten.17 Das besondere Umweltverwaltungsrecht ist demgegenüber durch sektorale, materiell-rechtliche Regelungen gekennzeichnet.18 Dennoch gilt: „Die Abgrenzung des Umweltrechts als Rechtsgebiet und seine innere Gliederung können nicht abschließend oder mit Endgültigkeitsanspruch erfolgen.“19 Sieht sich zwar der Begriff der Verwaltung an sich gleichfalls Definitions- und Abgrenzungsschwierigkeiten ausgesetzt,20 definiert sich das Verwaltungsrecht gemeinhin als „der Inbegriff der (geschriebenen und ungeschriebenen) Rechtssätze, die in spezifischer Weise für die Verwaltung – für die Verwaltungstätigkeit, das Verwaltungsverfahren und die Verwaltungsorganisation – gelten. Es ist das der Verwaltung eigene Recht.“21 Welchen Sinn ergibt es nun vor diesem Hintergrund, ein Rechtsgebiet des Klimaschutzverwaltungsrechts vom Klimaschutzrecht, dessen Anerkennung als eigenes Rechtsgebiet auch eine neuere Entwicklung ist,22 abzugrenzen? Unter welchen Prämissen kann überhaupt von einem Klimaschutzverwaltungsrecht gesprochen werden? Kann bereits von einem allgemeinen und besonderen Klimaschutzverwaltungsrecht die Rede sein? „Die Voraussetzungen, unter denen es sinnvoll ist, Gesetze einem Rechtsgebiet zuzuordnen, sind […] nicht abschließend geklärt.“23 Nach Kloepfer bietet es sich aber an, sich den Zweck der Kategorisierung in ein Rechtsgebiet zu verdeutlichen.24 Zwecke können beispielsweise bestimmte Rechtsfolgen (z. B. die gerichtliche oder behördliche Zuständigkeit betreffend25), die Zuordnung zu einem Lebensbereich oder -vorgang, die didaktische Nützlichkeit oder der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn sein.26 Nach Härtel kann die Bestimmung eines Rechtsgebiets auch den Zweck verfolgen, exis15

Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 10. Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 16; Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 1 Rn. 113 spricht von Allgemeinem und Besonderem Umweltrecht. 17 Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 16. 18 Ramsauer (Fn. 8), § 3 Rn. 16. 19 Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 1 Rn. 95. 20 Waldhoff, Christian, Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Kahl, Wolfgang/Ludwigs, Markus (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band I: Grundstrukturen des deutschen Verwaltungsrechts, München 2021, § 11 Rn. 16 – 22. 21 Maurer, Hartmut/Waldhoff, Christian, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl., München 2020, § 3 Rn. 1; Waldhoff (2021) (Fn. 20), § 11 Rn. 25. 22 Vgl. Müller/Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 10; vgl. Schlacke (2010) (Fn. 2); Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 17 Rn. 1; s. u. unter II. 23 Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 1 Rn. 96. 24 Kloepfer (1978) (Fn. 2), S. 68; Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 1 Rn. 96; s. auch Härtel (Fn. 2), S. 826 – 827. 25 Hierzu auch Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 991. 26 Kloepfer (1978) (Fn. 2), S. 68; Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 1 Rn. 96. 16

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tierende Rechtsvorschriften zu ordnen.27 Zunächst wird im Folgenden dargestellt, warum unter Zugrundelegung der einleitend genannten Definition nunmehr das Klimaschutzrecht als etabliertes Rechtsgebiet zu bezeichnen ist (II.). Zwar entspricht das Klimaschutzverwaltungsrecht gerade dieser Definition zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht (III.), nicht nur der potenzielle wissenschaftliche Erkenntnisgewinn, sondern auch ein praktischer Zusatznutzen sprechen aber dafür, das Klimaschutzverwaltungsrecht als im Entstehen zu begreifen und sich ihm zukünftig verstärkt zu widmen (IV.).

II. Klimaschutzrecht als Rechtsgebiet „Das Klimaschutzrecht ist die Summe der Rechtsnormen, die dem Schutz des Klimas durch Vorbeugung und/oder Wiederherstellung dienen. Hauptzielrichtung des Klimaschutzrechts ist es, zur Verhinderung einer gefährlichen anthropogenen Störung des Klimasystems beizutragen.“28 Ebendieses Klimaschutzrecht ist im Jahr 2022 nicht mehr nur als Rechtsgebiet im Entstehen zu bezeichnen.29 Was sich im Gegensatz zu früheren Bestandsaufnahmen verändert hat, ist nicht der Befund, dass sich Recht mit klimaschützendem Zweck in diversen Regelungen verschiedener Sachmaterien abbildet und Klimaschutz eine Querschnittsmaterie ist.30 Vielmehr existieren – neben dem Indiz der Aufnahme in Lehrbücher zum Umweltrecht als eigenes Rechts27

Härtel (Fn. 2), S. 827. Kahl, Wolfgang/Gärditz, Klaus Ferdinand (Hrsg.), Umweltrecht, 12. Aufl., München 2021, § 6 Rn. 6 unter Verweis auf Sailer, Frank, Klimaschutzrecht und Umweltenergierecht – zur Systematisierung beider Rechtsgebiete, in: NVwZ 2011, S. 718 – 723 (720 ff.) und Hoffmann-Much, Susanna, in: Kluth, Winfried/Smeddinck, Ulrich (Hrsg.), Umweltrecht, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg 2020, § 6 Rn. 4, wobei die Autoren Klima als „die Gesamtheit meteorologischer Ursachen, die für den längerfristigen Zustand der Erdatmosphäre bzw. des Wetters an einem Ort verantwortlich sind“ definieren; ähnlich bereits Gärditz, Klaus Ferdinand: Schwerpunktbereich – Einführung in das Klimaschutzrecht, in: JuS 2008, S. 324 – 329 (324) sowie Sailer (Fn. 28), S. 718; zu den Definitionsschwierigkeiten in Bezug auf das Klimaschutzrecht im Überblick s. z. B. Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 17 Rn. 1 – 25. 29 So noch Müller/Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 10 und Schlacke (2010) (Fn. 2), S. 152; Kahl/ Gärditz (Fn. 28), S. 324 gingen bereits 2008, Sailer (Fn. 28), S. 721 und Koch, Hans-Joachim, Klimaschutzrecht – Ziele, Instrumente und Strukturen eines neuen Rechtsgebiets, in: NVwZ 2011, S. 641 – 654 (654) gingen bereits 2011 von einem Rechtsgebiet des Klimaschutzrechts aus; auch Winkler, Martin, Klimaschutzrecht – Völker-, europa- und verfassungsrechtliche Grundlagen sowie instrumentelle Umsetzung der deutschen Klimaschutzpolitik unter besonderer Berücksichtigung des Emissionshandels, Münster 2005 verwendet bereits den Begriff; a. A. bspw. Hoffmann-Much (Fn. 28), § 6 Rn. 4 und bezogen auf das Völkerrecht Bodansky, Daniel/Brunnée, Jutta/Rajamani, Lavanya, International Climate Change Law, Oxford 2017, S. 10 – 11. 30 Winkler (Fn. 29), S. 344; Kahl/Gärditz (Fn. 28), S. 328; Müller/Schulze-Fielitz (Fn. 2), S. 11; Schlacke (2010) (Fn. 2), S. 157; für eine ausführliche Analyse der einzelnen einschlägigen Materien sei beispielsweise verwiesen auf Kahl/Gärditz (Fn. 28), S. 324 – 329; Schlacke (2010) (Fn. 2), S. 127 – 151; Sailer (Fn. 28), S. 718 – 721; Koch (Fn. 29), S. 641 – 654. 28

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gebiet31 nunmehr auf allen Rechtsebenen im Mehrebenensystem systemprägende Kernabkommen und -gesetze32 sowie übergreifende Zielsetzungen, Prinzipien und Instrumente, die das Klimaschutzrecht gegenüber anderen Rechtsgebieten abgrenzen.33 1. Systemprägendes Regelwerk auf allen Rechtsebenen a) Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz Die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen34 wird seit 2015 durch das Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz35 konkretisiert. Während das KyotoProtokoll36 zur Klimarahmenkonvention zwar aufgrund seiner verbindlichen Treibhausgasreduktionsverpflichtungen für einen Teil der Vertragsstaaten ein höheres Maß an Verbindlichkeit bereitstellte,37 sprechen das hohe Maß der Rezeption seiner Zielsetzungen und seine nahezu allgemeine Verbindlichkeit in Bezug auf diese Ziele dafür, dass das Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz in Verbindung mit der Klimarahmenkonvention eher als das Kyoto-Protokoll als systemprägendes Kernabkommen auf internationaler Ebene fungiert. Erstens konkretisiert das Pariser Übereinkommen – anders als das Kyoto-Protokoll38 – die Klimarahmenkonvention auf Zielebene. Gemäß Art. 2 Klimarahmenkonvention ist es Ziel der Konvention, „die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird“. Das Pariser Übereinkommen etabliert in Konkretisierung dieses Ziels nicht nur als übergreifendes Ziel den „Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 8C über dem vorindustriellen Niveau [zu halten] und Anstrengungen [zu unternehmen], um den Temperaturanstieg auf 1,5 8C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, […]“39, sondern es drückt darüber hinaus das Bestreben aus, „so bald wie möglich den weltweiten Scheitelpunkt der Emissionen von Treibhausgasen zu erreichen, […], und da31

Bspw. Schlacke (2021) (Fn. 9), § 16; Kloepfer (2016) (Fn. 6), § 17. Schlacke (2010) (Fn. 2), S. 126, 156; Wustlich (Fn. 5), S. 333 zum Begriff Hauptgesetz. 33 S. die oben unter I. zugrunde gelegte Definition. 34 Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen v. 9. 5. 1992, BGBl. II 1993, S. 1783, 1784 (i. F.: Klimarahmenkonvention). 35 Übereinkommen von Paris v. 12. 12. 2015, BGBl. II 2016, S. 1082, 1083 (i. F.: Pariser Übereinkommen). 36 Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (Kyoto-Protokoll) v. 11. 12. 1997, BGBl. II 2002, S. 966, 967 (i. F.: Kyoto-Protokoll). 37 Art. 2 Abs. 1; Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Anlage I Kyoto-Protokoll (Fn. 36). 38 Eine Art. 2 Abs. 1 lit. a Pariser Übereinkommen (Fn. 35) vergleichbare Bestimmung enthält das Kyoto-Protokoll (Fn. 36) nicht. 39 Art. 2 Abs. 1 lit. a Pariser Übereinkommen (Fn. 35). 32

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nach rasche Reduktionen […] herbeizuführen, um in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken […] herzustellen.“40 Letzteres drückt das Streben nach Treibhausgasneutralität aus. Diese Zielkonkretisierung wird auf den Ebenen des Rechts der Europäischen Union (EU) wie des nationalen Rechts als Begründung zum Ergreifen klimaschützender Maßnahmen aufgegriffen und insbesondere auch zunehmend in der nationalen Rechtsprechung rezipiert.41 Auf EU-Ebene sei hier das EU-Klimagesetz42 beispielhaft genannt: „Diese Verordnung gibt das verbindliche Ziel vor, für die Verwirklichung des in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Übereinkommens von Paris festgelegten langfristigen Temperaturziels bis zum Jahr 2050 in der Union Klimaneutralität zu erreichen, […].“43 Auf nationaler Ebene bestimmt das Bundes-Klimaschutzgesetz44: „Grundlage bildet die Verpflichtung nach dem Übereinkommen von Paris aufgrund der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, wonach der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen ist, um die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels so gering wie möglich zu halten.“45 Darüber hinaus ist Netto-Treibhausgasneutralität hiernach bis zum Jahr 2045 zu erreichen.46 Und das Bundesverfassungsgericht ist nicht das einzige Gericht, das zur Begründung von Klimaschutzverpflichtungen auf das Pariser Übereinkommen rekurriert.47 Zweitens ist die Zielkonkretisierung des Art. 2 Pariser Übereinkommen für alle Vertragsstaaten gleichermaßen verbindlich,48 was das Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz vom Kyoto-Protokoll unterscheidet.49

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Art. 4 Abs. 1 Pariser Übereinkommen (Fn. 35). Franzius, Claudio, Ziele des Klimaschutzrechts, in: ZUR 2021, S. 131 – 140 (131): Die EU erweise sich zudem als Rechtsverbindlichkeitskatalysator für das Pariser Übereinkommen. 42 Verordnung (EU) 2021/1119 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30. 6. 2021 zur Schaffung des Rahmens für die Verwirklichung der Klimaneutralität und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 4091/2009 und (EU) 2018/1999 („Europäisches Klimagesetz“), ABl. EU L 243 v. 9. 7. 2021, S. 1 – 17 (i. F.: EU-Klimagesetz). 43 Art. 1 EU-Klimagesetz (Fn. 42). 44 Bundes-Klimaschutzgesetz v. 12. 12. 2019, BGBl. I 2019, S. 2513 i. d. F. des Gesetzes v. 18. 8. 2021, BGBl. I 2021, S. 3905 (i. F.: KSG). 45 § 1 S. 3 KSG (Fn. 44). 46 § 3 Abs. 2 S. 1 KSG (Fn. 44). 47 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 115, 159, 163, 180, 204, insb. 209 ff.; Hoge Raad der Niederlande, Urteil vom 20. 12. 2019 – 19/00135, Ziff. 4.5, 5.7.4, 7.2.3, 7.2.8, 7.4.4; Franzius (2021) (Fn. 41), S. 131; s. bereits Saurer, Johannes, Klimaschutz global, europäisch, national – Was ist rechtlich verbindlich?, NVwZ 2017, S. 1574 – 1579 (1576 – 1577). 48 Art. 3 i. V. m. Art. 2 Pariser Übereinkommen (Fn. 35); Saurer (Fn. 47), S. 1574. 41

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b) Das „EU-Klimagesetz“ Zwar schuf die Governance-Verordnung50 bereits im Jahr 2018 einen prozeduralen Rahmen für das europäische Energie- und Klimarecht, aber erst das EU-Klimagesetz aus dem Jahr 2021 fungiert auch in materieller Hinsicht als systemprägendes Kerngesetz auf EU-Ebene.51 In Anknüpfung an das Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz52 ist in der Union verbindlich Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 zu erreichen53 und im Jahr 2030 müssen die Treibhausgasemissionen gegenüber dem Jahr 1990 innerhalb der Union um mindestens 55 % gesenkt werden.54 Das EU-Klimagesetz setzt diese verbindlichen Ziele, sieht einen Mechanismus zur Festlegung des Zwischenziels für 2040 vor,55 überführt die Ziele in den Governance-Mechanismus,56 um die entsprechende unionale und mitgliedstaatliche Planung für die Erreichung der Ziele sicherzustellen, sieht Maßgaben für die Fortschrittsbewertung im Hinblick auf die Ziele vor57 und bestimmt, alle einschlägigen Rechtsvorschriften der Union zu überprüfen, um das 55 %-Ziel und das Klimaneutralitätsziel erreichen zu können.58 Es prägt so das Klimarechtssystem der Union, dem nicht nur verbindliche Klimaschutzziele hinzugefügt wurden, sondern für das auch ein umfassender Überarbeitungsfahrplan vorgesehen ist. Diese Überarbeitung ist mit dem „Fit for 55“-Legislativpaket in vollem Gange.59 49

Art. 2 Abs. 1; Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Anlage I Kyoto-Protokoll (Fn. 36); z. B. Bodansky, Daniel, The Paris Climate Change Agreement: A New Hope?, in: AJIL 2016, S. 288 – 319 (290). 50 Verordnung (EU) 2018/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11. 12. 2018 über das Governance-System für die Energieunion, ABl. EU L 328 v. 21. 12. 2018, S. 1 – 77, zuletzt geändert durch EU-Klimagesetz (Fn. 42); i. F.: Governance-VO. 51 Zum EU-Klimagesetz bereits ausf. Schlacke, Sabine/Köster, Miriam/Thierjung, EvaMaria, Das „Europäische Klimagesetz“ und seine Konsequenzen, in: EuZW 2021, S. 620 – 626; knapper: Schlacke, Sabine/Wentzien, Helen/Thierjung, Eva-Maria/Köster, Miriam, Implementing the EU Climate Law via the „Fit for 55“ package, in: Oxford Open Energy 2022, S. 1 – 13 (2 – 3); Schlacke, Sabine, Klimaschutzrecht im Mehrebenensystem, in: NVwZ 2022, S. 905 – 912 (907); Schlacke, Sabine, Klimaschutzgesetz und Klimaschutzplan: Kohärentes Schutzkonzept oder klimapolitisches Feigenblatt?, in: Bitburger Gespräche: Jahrbuch 2021, 2022, S. 71 (83); Köster, Miriam/Schlacke, Sabine, Energie- und Klimaverantwortung: Begriffsklärung, Zuständigkeiten und Rechtsetzung im Mehrebenensystem, VerwArch 2023, 47 (48). 52 S. o. II.1. 53 Art. 1 UAbs. 1, Art. 2 Abs. 1 EU-Klimagesetz (Fn. 42). 54 Art. 4 Abs. 1 EU-Klimagesetz (Fn. 42). 55 Art. 4 Abs. 3 EU-Klimagesetz (Fn. 42). 56 Art. 13 EU-Klimagesetz (Fn. 42); s. im Detail hierzu: Schlacke/Köster/Thierjung (Fn. 51), S. 624. 57 Art. 6 – 8 EU-Klimagesetz (Fn. 42). 58 Art. 4 Abs. 2 EU-Klimagesetz (Fn. 42). 59 Hierzu: Schlacke, Sabine/Köster, Miriam/Wentzien, Helen/Thierjung, Eva-Maria, Kursänderung der EU: Verschärfung der Klimaschutzziele – Konsequenzen für das EU- und deutsche Klimaschutz- und Energierecht, in: EnWZ 2021, S. 7 – 13; Schlacke/Wentzien/

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c) Das Bundes-Klimaschutzgesetz Unter Bezugnahme auf das Übereinkommen von Paris sowie die europäischen Zielvorgaben60 setzt das Bundes-Klimaschutzgesetz die verbindlichen Ziele, die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 bis zum Jahr 2030 um mindestens 65 % und im Jahr 2040 um mindestens 88 % zu mindern.61 Netto-Treibhausgasneutralität ist im Jahr 2045 zu erreichen.62 Konkreter als das EU-Klimagesetz gibt das BundesKlimaschutzgesetz darüber hinaus den Minderungspfad zur Erreichung der Klimaschutzziele vor, d. h. die Emissionsmengen, die in den Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft und Sonstiges jährlich ausgestoßen werden dürfen, werden gesetzlich vorgegeben.63 Die Einhaltung der Jahresemissionsmengen wird dem Bundesministerium überantwortet, das aufgrund seines Geschäftsbereichs für einen der aufgezählten Sektoren überwiegend verantwortlich ist (Rekurs auf das sog. Ressortprinzip64).65 Weiter bestimmt das Bundes-Klimaschutzgesetz konkrete Maßnahmen für den Fall, dass die Jahresemissionsbudgets in den einzelnen Sektoren nicht eingehalten werden: Ein Sofortprogramm muss sicherstellen, dass die Jahresemissionsmengen im darauffolgenden Jahr eingehalten werden.66 2. Würdigung Klimaschutzrecht ist erstens auf allen Rechtsebenen durch ein Kernabkommen bzw. -gesetz gekennzeichnet, das das bestehende Rechtsregime verklammert. HierThierjung/Köster (Fn. 51), S. 1 – 13 sowie Scheuing, Hannah/Kamm, Johanna, The EU on the road to climate neutrality – is the „Fit for 55“ package fit for purpose?, in: Renewable Energy Law and Policy Review (RELP) 2022, S. 4 – 18. 60 § 1 KSG (Fn. 44). 61 § 3 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 KSG (Fn. 44); zum Bundes-Klimaschutzgesetz z. B. Scharlau, Jan/v. Swieykowski-Trzaska, Lilly/Keimeyer, Friedhelm/Klinski, Stefan/Sina, Stephan, Das Bundes-Klimaschutzgesetz, in: NVwZ 2020, S. 1 – 8 oder Albrecht, Juliane, Das Klimaschutzgesetz des Bundes – Hintergrund, Regelungsstruktur und wesentliche Inhalte, in: NuR 2020, S. 370 – 378 sowie durch die Verf. bereits behandelt in: Schlacke, Sabine, Klimaschutzrecht im Mehrebenensystem – Internationale Klimaschutzpolitik und aktuelle Entwicklungen in der Europäischen Union und in Deutschland, in: EnWZ 2020, S. 355 – 363 (359 – 361); Schlacke, Sabine, Bundes-Klimaschutzgesetz: Klimaschutzziele und -pläne als Herausforderung des Verwaltungsrechts, in: EurUP 2020, S. 338 – 345; Schlacke/Köster/ Wentzien/Thierjung (Fn. 59), S. 12; Schlacke (2022) NVwZ (Fn. 51), S. 908 – 909; Köster/ Schlacke (Fn. 51), S. 47 ff. 62 § 3 Abs. 1 S. 1 KSG (Fn. 44). 63 § 4 Abs. 1 S. 1, S. 3 i. V. m. Anlage 2 KSG (Fn. 44). 64 Scharlau/v. Swieykowski-Trzaska/Keimeyer/Klinski/Sina (Fn. 61), S. 4; vgl. Franzius, Claudio, Auf dem Weg zum Klimaschutzgesetz, Instrumente zur Einhaltung der Klimaschutzziele, in: EnWZ 2019, S. 435 – 442 (436): „Ressortverantwortlichkeit“. 65 § 4 Abs. 4 S. 1 KSG (Fn. 44). 66 § 8 KSG (Fn. 44).

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bei handelt es sich um Regelwerke, die rechtsverbindlich Klimaschutz- respektive Treibhausgasminderungsziele für die jeweilige Regierung festlegen. Darüber hinaus werden zweitens bestimmte Instrumente mittlerweile auf allen Ebenen des Klimaschutzrechts rezipiert: Das Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz etabliert als Instrument einen Planungs-, Berichts- und Monitoring-Mechanismus, der beispielsweise im Recht der Europäischen Union über die Governance-Verordnung67 eine Spiegelung erfährt.68 Nach dem Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz müssen alle Vertragsparteien national festgelegte Beiträge (engl. Nationally determined contributions, NDCs) übermitteln, um die Ziele des Übereinkommens zu erreichen.69 Die Konferenz der Vertragsparteien führt basierend auf diesen NDCs alle fünf Jahre eine weltweite Bestandsaufnahme durch, um die Fortschritte im Hinblick auf die Ziele des Übereinkommens zu bewerten.70 Sie soll als Grundlage für die Aktualisierung des NDCs dienen.71 Im EU-Recht wird dieser Mechanismus rezipiert:72 Die Mitgliedstaaten der Union reichen zur Erreichung der EU-Energie- und Klimaziele nationale Energie- und Klimapläne (engl. National energy and climate plans, NECPs) bei der EU-Kommission ein, die diese im Hinblick auf die Fortschritte bewertet.73 Der Mechanismus wird durch das EU-Klimagesetz um die neuen Klimaschutzziele der Union ergänzt.74 Ähnlich wie das Pariser Übereinkommen für den Klimaschutz und das EU-Klimagesetz enthält aber auch das Bundes-Klimaschutzgesetz eine Planungskomponente: Mindestens nach jeder Fortschreibung des Klimaschutzplans75 muss die Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm beschließen, das Maßnahmen für die einzelnen Sektoren zur Erreichung der 67

Governance-VO (Fn. 50). Kulovesi, Kati/Oberthür, Sebastian, Assessing the EU’s 2030 Climate and Energy Policy Framework: Incremental change toward radical transformation, in: RECIEL 2020, S. 151 – 166 (153). 69 Art. 3, Art. 4 Abs. 2, 3, 8, 9 Pariser Übereinkommen (Fn. 35). 70 Art. 14 Abs. 1 Pariser Übereinkommen (Fn. 35). 71 Art. 14 Abs. 3 Pariser Übereinkommen (Fn. 35). 72 Diesen Mechanismus als Politikplanungsrecht bezeichnend: Reese, Moritz, Das EUKlimagesetz – Nachhaltigkeit durch Umweltpolitikplanungsrecht?, in: ZUR 2020, S. 641 – 642; s. oben Kulovesi/Oberthür (Fn. 68). 73 Art. 1 Governance-VO (Fn. 50); hierzu ausf. Schlacke, Sabine/Lammers, Simon, Das Governance-System der Europäischen Energieunion, Erreichung der energie- und klimapolitischen Ziele durch weiche Steuerung?, in: EurUP 2018, S. 424 – 436 (426); Schlacke, Sabine/ Knodt, Michèle, Das Governance-System für die Europäische Energieunion und für den Klimaschutz, in: ZUR 2019, S. 404 – 412; Schlacke, Sabine/Knodt, Michèle, The Governance System of the European Energy Union and Climate Action, in: JEEPL 2019, S. 323 – 339; Schlacke, Sabine/Pause, Fabian/Knodt, Michèle/Thierjung, Eva-Maria/Köster, Miriam, Governance-Mechanismus stärken: 2030er-Klimaziele erreichen und Lücke des EU Green Deal schließen (2022), abrufbar unter: https://ariadneprojekt.de/publikation/kurzdossier-gover nance-mechanismus-starken/. 74 S. o. II.1.b). 75 Gemäß § 2 Nr. 7 KSG „die deutsche Langfriststrategie nach dem Übereinkommen von Paris und nach Artikel 15 der Europäischen Governance-Verordnung“. 68

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Klimaschutzziele enthält.76 Ein weiteres Beispiel für die Nutzung eines gemeinsamen Instrumentariums ist die Bezugnahme auf wissenschaftlichen Sachverstand, die im Pariser Übereinkommen über die Referenz auf die besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse erfolgt,77 im EU-Klimagesetz und dem Bundes-Klimaschutzgesetz über die Schaffung eigenständiger wissenschaftlicher Gremien aber noch ausgeprägter ist.78 Bezüglich spezifischer neuer Prinzipien lässt sich drittens bislang lediglich feststellen, dass neue Prinzipien als im Entstehen befindlich verstanden werden können, wenn beispielsweise das Ressortprinzip, das besagt, dass einzelne Ministerien in ihren Aufgabenbereichen für die Treibhausgasreduktion zuständig sind, im Kontext des Klimaschutzrechts zur Anwendung gebracht wird.

III. Klimaschutzverwaltungsrecht als Rechtsgebiet? Dass ein eigenständiges Rechtsgebiet des Klimaschutzverwaltungsrechts besteht, ist im Gegensatz dazu nicht evident, wenngleich vertreten wird, dass es sich bereits herleiten lässt79 oder auch, dass die soeben dargestellten Klimaschutzziele ein Instrument des Verwaltungsrechts seien80. Die Durchführung der europäischen Rechtsakte und Bundesgesetze erfolgt naturgemäß auf mitgliedstaatlicher Verwaltungsebene. Dies rechtfertigt anhand der obigen Definition jedoch noch nicht die Qualifizierung als ein entwickeltes Rechtsgebiet. Dies zeigt die Analyse von Rechtssätzen im europäischen und nationalen Klimaschutzrecht, die für die Verwaltung gelten, also Verwaltungstätigkeit, -verfahren und -organisation regeln.81 1. Europäische Ebene Europäische Rechtsakte, die dem Klimaschutzrecht zuzuordnen sind, setzen Regelungen, die die öffentliche Verwaltung betreffen. Der Begriff des Betreffens ist hier bewusst gewählt. Denn die Rechtsakte mit unmittelbarer Geltung, wie die Governance-Verordnung82 oder das EU-Klimagesetz83 als weitere Verordnung, treffen keine unmittelbaren Regelungen zur Verwaltung an sich. Vielmehr betreffen Richtlinien, die noch einer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedürfen, nur mittelbar die Verwaltung. Adressiert an die Mitgliedstaaten fordert beispielsweise die Erneu76

§ 9 Abs. 1 KSG. Art. 4 Abs. 1, Art. 7 Abs. 5, Art. 14 Abs. 1 Pariser Übereinkommen (Fn. 35). 78 Art. 3 EU-Klimagesetz (Fn. 42); § 11, § 12 KSG. 79 Burgi (Fn. 2), S. 1401 – 1408. 80 Franzius (2021) (Fn. 41), S. 139 – 140. 81 S. o. unter I. 82 Fn. 50. 83 Fn. 42. 77

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erbare-Energien-Richtlinie84 diese dazu auf, ihre Verwaltungsverfahren bezüglich des Ausbaus erneuerbarer Energien zu beschleunigen.85 Sie stellt Anforderungen an die Planung, etabliert eine Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude und trifft Aussagen zur Verfahrensorganisation und -dauer.86 Der Entwurf für eine neue Erneuerbare-Energien-Richtlinie aus dem „Fit for 55“-Paket spezifiziert die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude weiter.87 Ein ähnlicher Befund ist im Rahmen der Energieeffizienz-Richtlinie88 zu verzeichnen: Auch sie stellt auf den Vorbildcharakter der Gebäude öffentlicher Einrichtungen ab.89 Insbesondere enthält sie Anforderungen an die Beschaffung öffentlicher Einrichtungen: Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass die Zentralregierungen nur Produkte, Dienstleistungen und Gebäude mit hoher Energieeffizienz beschaffen.90 Sie sollen außerdem Stellen auf Landes- und kommunaler Ebene hierzu ermuntern.91 In Summe nehmen die hier analysierten EU-Rechtsakte in Teilen Bezug auf die Tätigkeit und das Verfahren der Verwaltung. Dies spricht für eine Europäisierung des Verwaltungsrechts92, rechtfertigt aber noch nicht die Feststellung eines europäischen Klimaschutzverwaltungsrechts als Rechtsgebiet, das sich von anderen Rechtsgebieten durch eigene Instrumente oder Prinzipien abgrenzt, die sich z. B. in einem Kerngesetz abbilden.93

84

Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11. 12. 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen, ABl. EU L 328 v. 21. 12. 2018, S. 82 – 209, zuletzt geändert durch Delegierte Verordnung (EU) 2022/759 der Kommission v. 14. 12. 2021, ABl. EU L 139 v. 18. 5. 2022, S. 1 – 12 (i. F.: Erneuerbare-EnergienRichtlinie). 85 Art. 15 Erneuerbare-Energien-Richtlinie (Fn. 84). 86 Art. 15, Art. 16 Erneuerbare Energien-Richtlinie (Fn. 84). 87 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnung (EU) 2018/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 98/70/EG des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Aufhebung der Richtlinie (EU) 2015/652 des Rates, COM(2021) 557 final, Art. 15a Abs. 3. 88 Richtlinie 2012/27/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25. 10. 2012 zur Energieeffizienz, zur Änderung der Richtlinien 2009/125/EG und 2010/30/EU und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG, ABl. EU Nr. L 315 v. 14. 11. 2012, S. 1 – 56, zuletzt geändert durch Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5. 6. 2019, ABl. EU L 158 v. 14. 6. 2019, S. 125 – 199 (i. F.: Energieeffizienz-Richtlinie). 89 Art. 5 Energieeffizienz-Richtlinie (Fn. 88). 90 Art. 6 Energieeffizienz-Richtlinie (Fn. 88). 91 Art. 6 Abs. 3 Energieeffizienz-Richtlinie (Fn. 88). 92 Ludwigs, Markus, Europäisierung des Verwaltungsrechts, in: Kahl, Wolfgang/Ludwigs, Markus (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band I: Grundstrukturen des deutschen Verwaltungsrechts, München 2021, § 8. 93 Vgl. Definition oben unter I.; a. A. Burgi (Fn. 2), S. 1404.

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2. Nationale Ebene Auf Bundesebene werden bislang der Budgetansatz des Bundes-Klimaschutzgesetzes (a)), das Berücksichtigungsgebot desselben (b)) und der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts (c)) als Ansatzpunkte für die Etablierung eines Rechtsgebiets des Klimaschutzverwaltungsrechts diskutiert. a) Der Budgetansatz des Bundes-Klimaschutzgesetzes Der Budgetansatz des Bundes-Klimaschutzgesetzes, d. h. die jährliche Zuteilung von Emissionsmengen für die einzelnen Sektoren, kann als Instrument des Verwaltungsrechts verstanden werden,94 denn die Sektorziele binden mit den Ministerien die Exekutive.95 Bei einer Verfehlung müssen die Ministerien Verbesserungsvorschläge machen.96 Zu bedenken ist aber, dass diese Verbesserungen auch vom Gesetzgeber beschlossen werden müssen.97 Dieser Budgetansatz ist zudem kein Instrument für die gesamte Verwaltung in Deutschland.98 An dieser Stelle steckt die Rechtsentwicklung in gewisser Weise fest, denn eine Übertragung dieser CO2-Emissionsreduktionsbudgets auf die Landesund kommunale Ebene existiert bislang nicht. Denkt man einen Budgetansatz konsequent zu Ende, müsste eigentlich auch die Frage nach Länder- und kommunalen Budgets geklärt werden. Allerdings wird dies in Teilen auch zurecht als schwierig qualifiziert, da in den Ländern unterschiedliche Rahmenbedingungen vorherrschen.99 Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Nichtannahmebeschluss im Januar 2022100 außerdem ausdrücklich festgestellt, dass es einen für die Länder geltenden Budgetansatz bislang nicht gibt. Mehrere Verfassungsbeschwerden zielten darauf, 94

Franzius (2021) (Fn. 41), S. 135 ff.; Burgi (Fn. 2), S. 1405. S. o. unter II.1.c). 96 S. o. unter II.1.c). 97 § 8 Abs. 2 KSG. 98 Vgl. Köck, Wolfgang/Kohlrausch, Lena, Klimaschutzgesetzgebung im Bundesstaat – Zur Zukunft der Landesklimaschutzgesetze, in: ZUR 2021, S. 610 – 617 (612). 99 Köck/Kohlrausch (Fn. 98), S. 615; Wickel, Martin, Das Bundes-Klimaschutzgesetz und seine rechtlichen Auswirkungen, in: ZUR 2021, S. 332 – 339 (337). 100 BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 18. 1. 2022 – 1 BvR 1565/21 u. a.; ausf. und krit. hierzu: Wiedmann, Jan-Louis, Klimaziele im föderalen Staat – Zugleich eine Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 18. 1. 2022 – 1 BvR 1565/21, in: ZUR 2022, S. 358 – 364; zudem Britz, Gabriele, Klimaschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: NVwZ 2022, S. 825 – 834 (insb. 832) und Franzius, Claudio, Der Klimabeschluss des BVerfG – Eine verfassungsrechtliche Einordnung, in: KlimR 2022, S. 102 – 107 (105) sowie bereits Schlacke (2022) NVwZ (Fn. 51), S. 910, 911 sowie Schlacke, Sabine, Klimaschutz und Städte – Perspektiven des öffentlichen Rechts, in: EurUP 2022, 341 – 351 (343); Schlacke, Sabine, Der Klimabeschluss – ein Konzept für intergenerationelle Krisenvorsorge?, in: Rixen, Stefan/ Welskop-Defaa, Eva-Maria (Hrsg.), Klimasozialpolitik, 2023, S. 72 ff. 95

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Bundesländer, die bislang kein Klimaschutzgesetz erlassen haben, hierzu zu bewegen. Diese waren erfolglos, da weder Art. 20a GG noch dem Bundesrecht eine Gesamtreduktionsgröße, m. a. W. ein Budget, für die Länder entnommen werden können, sodass die vom Bundesverfassungsgericht im Klimabeschluss entwickelte Konstruktion der Verpflichtung zur intertemporalen Freiheitssicherung nicht auf die Länder übertragen werden konnte.101 Hierzu fehlten auf die einzelnen Länder bezogene Gesamtreduktionsvorgaben, in deren Rahmen landesrechtliche Emissionsregelungen eingriffsähnliche Grundrechtsvorwirkung entfalten könnten, wenn sie kurzfristig zu große Mengen an CO2-Emissionen zuließen.102 Es sei dem Gesetzgeber überlassen zu entscheiden, welche Regelungen er diesbezüglich treffen wolle, etwa durch eine stärkere vertikale oder horizontale Koordinierung, eine Lastenteilung zwischen Gliedstaaten oder sektorenbezogene Regelungen.103 b) Das Berücksichtigungsgebot des § 13 KSG Das Berücksichtigungsgebot des § 13 Abs. 1 KSG bedeutet, dass Träger öffentlicher Aufgaben bei ihren Planungen und Entscheidungen den Gesetzeszweck des Bundes-Klimaschutzgesetzes104 und die zu diesem Zweck festgelegten Ziele zu berücksichtigen haben.105 D. h., jeder Träger einer öffentlichen Aufgabe muss beim Vollzug von Bundesrecht zwingend, beim Vollzug von Landes- oder Kommunalrecht nach dieser Bestimmung appellativ106 bei jedweder Entscheidung, die einen Spielraum einräumt,107 die Klimaschutzziele des Bundes-Klimaschutzgesetzes insofern berücksichtigen, als dass die Klimaauswirkungen der Entscheidung eruiert und in die Abwägung eingestellt werden müssen, wobei § 13 Abs. 1 KSG keinen Vorrang des Klimaschutzes in der Abwägung etabliert108. Gerade in Bereichen, in denen der Klimaschutz nicht bereits gesetzlich als Ziel normiert ist, spielt das Berücksichti-

101

BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 18. 1. 2022 – 1 BvR 1565/21 u. a., Rn. 9, 14, 15 – 17. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 18. 1. 2022 – 1 BvR 1565/21 u. a., Rn. 4, 14, 15 – 17. 103 BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 18. 1. 2022 – 1 BvR 1565/21 u. a., Rn. 16 – 17. 104 § 1 S. 1 KSG (Fn. 44): „Zweck dieses Gesetzes ist es, zum Schutz vor den Auswirkungen des weltweiten Klimawandels die Erfüllung der nationalen Klimaschutzziele sowie die Einhaltung der europäischen Zielvorgaben zu gewährleisten.“ 105 Hierzu bereits Schlacke (2020) EurUP (Fn. 61), S. 342 ff., sowie Schlacke (2022) NVwZ (Fn. 51), S. 911; Schlacke (2022) EurUP (Fn. 100), S. 344. 106 Scharlau/Swieykowski-Trzaska/Keimeyer/Klinski/Sina (Fn. 61), S. 5; Schink, Alexander, Das Berücksichtigungsgebot des § 13 Klimaschutzgesetz, in: NuR 2021, S. 1 – 7 (2); besteht beispielsweise ein landesrechtliches Berücksichtigungsgebot entfaltet dieses natürlich auch für den Vollzug von Landesrecht Geltung. 107 BT-Drs. 19/14337, S. 36. 108 Scharlau/Swieykowski-Trzaska/Keimeyer/Klinski/Sina (Fn. 61), S. 6; Schlacke (2020) EurUP (Fn. 61), S. 343; Kment, Martin, Klimaschutzziele und Jahresemissionsmengen – Kernelemente des neuen Bundes-Klimaschutzgesetzes, in: NVwZ 2020, S. 1537 – 1544 (1544). 102

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gungsgebot für Verwaltungsentscheidungen eine wichtige Rolle.109 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich 2022 erstmalig zu § 13 KSG geäußert:110 Zwar hat es die Klage einer Umweltvereinigung gegen den Planfeststellungsbeschluss für den Neubau der Bundesautobahn A14 abgewiesen. Allerdings hat der Kläger zu Recht gerügt, dass der Planfeststellungsbeschluss die Ziele des Bundes-Klimaschutzgesetzes berücksichtigen müsse, weil § 13 Abs. 1 S. 1 KSG dazu verpflichtet. Der Mangel wurde im Verfahrensverlauf behoben. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber auch festgestellt, dass das Bundes-Klimaschutzgesetz das Berücksichtigungsgebot bislang nicht konkretisiert: Entsprechende Vorschriften oder sonstige Leitfäden hierfür fehlten. Auch das Berücksichtigungsgebot kann mithin ein wichtiges Instrument des Klimaschutzverwaltungsrechts sein;111 es bedürfte aber einer weiteren Konkretisierung, um es für die Anwendung operabel zu machen. c) Der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts Weiterhin ist in der rechtswissenschaftlichen Forschung die Frage aufgeworfen, ob sich aus den Schwerpunktsetzungen des Green Deals der Europäischen Union und dem Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts112 ein eigenes Rechtsgebiet des Klimaschutzverwaltungsrechts ableiten lässt.113 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 24. März 2021 das Bundes-Klimaschutzgesetz in der Fassung aus dem Jahr 2019 für teilweise verfassungswidrig erklärt, weil es hat nicht hinreichend den Reduktionspfad für Treibhausgase ab dem Jahr 2031 aufgezeigt hatte.114 Um zu diesem Resultat zu gelangen, lei109 110

71 ff. 111

Schlacke (2020) EurUP (Fn. 61), S. 344. Hierzu und zum Folgenden: BVerwG, Urt. v. 4. 5. 2022 – 9 A 7/21, NVwZ 2022, 66 ff.,

Vgl. Burgi (Fn. 2), S. 1404. BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a.; hierzu bereits ausf. Schlacke, Sabine, Klimaschutzrecht – Ein Grundrecht auf intertemporale Freiheitssicherung, in: NVwZ 2021, S. 912 – 917; knapper Schlacke (2022) NVwZ (Fn. 51), S. 909 – 911; Schlacke (2022) Klimaschutzgesetzgebung (Fn. 51), S. 71; Schlacke (2022, i. E.) EurUP (Fn. 100); Schlacke (i. E.) (Fn. 100) und Köster/Schlacke (Fn. 51), S. 349; aus der vielzähligen Literatur hierzu z. B. Berkemann, Jörg, „Freiheitschancen über die Generationen“ (Art. 20a GG) – Intertemporaler Klimaschutz im Paradigmenwechsel, in: DÖV 2021, S. 701 – 715; Ruttloff, Marc/ Freihoff, Lisa, Intertemporale Freiheitssicherung oder doch besser „intertemporale Systemgerechtigkeit“? – auf Konturensuche, in: NVwZ 2021, S. 917 – 922; Calliess, Christian, Das „Klimaurteil“ Des Bundesverfassungsgerichts: „Versubjektivierung“ des Art. 20a GG?, in: ZUR 2021, S. 355 – 358; Faßbender, Kurt, Der Klima-Beschluss des BVerfG – Inhalte, Folgen und offene Fragen, in: NJW 2021, S. 2085 – 2091; Britz (Fn. 100), S. 825 – 834; Franzius (2022) (Fn. 100), S. 102 – 107; Abel, Patrick, Parlamentarische CO2-Budgethoheit und -Budgetverantwortung, in: ZUR 2022, S. 333 – 341. 113 Burgi (Fn. 2), S. 1404. 114 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 256 – 268. 112

Entwickelt sich ein Klimaschutzverwaltungsrecht?

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tete es aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20a GG mit dem Grundrecht auf intertemporale Freiheitssicherung einen neuen Maßstab ab.115 Die gegenwärtige menschliche Freiheitsbetätigung sei nur so lange verfassungsgemäß, als sie nicht das „verfassungsrechtlich vorgezeichnete Restbudget“116 an CO2-Emissionen unumkehrbar schmälere und schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen in der Zukunft riskiere („eingriffsähnliche Vorwirkung“).117 Zur Bestimmung des Restbudgets greift das Bundesverfassungsgericht auf ein vom Sachverständigenrat für Umweltfragen berechnetes Budget zurück, welches auf einem Budgetansatz basiert, der das nach dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verbleibende weltweite Treibhausgasbudget für die Einhaltung des 1,5 8C-Ziels des Pariser Übereinkommens für den Klimaschutz mittels eines Pro-Kopf-Ansatzes auf die einzelnen Staaten herunterbricht.118 Dies mache die Transformation zur Klimaneutralität in allen Lebensbereichen erforderlich.119 Die Last der Treibhausgasminderung müsse nach dem Bundesverfassungsgericht gerecht über die Zeit verteilt werden.120 Ergibt sich also bereits aus der Erforderlichkeit dieser Transformation die Konsequenz eines Klimaschutzverwaltungsrechts? Dies ist noch keine zwingende Schlussfolgerung. Zwar bestärkt der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts die Wichtigkeit der Aufgabe des Klimaschutzes in allen Lebensbereichen, die für ein Klimaschutzverwaltungsrecht erforderliche Übersetzungsleistung des Gesetzgebers ist aber noch nicht umfassend erfolgt. Dies ergibt sich deutlich aus der Betrachtung des Budgetansatzes, wie ihn das Bundesverfassungsgericht betont hat und wie er im Bundes-Klimaschutzgesetz in Teilen umgesetzt ist. Hier fehlt es ebenso an einem Transfer für andere Verwaltungen als die Bundesverwaltung wie bei den Anforderungen des Berücksichtigungsgebotes des § 13 KSG. Nichtsdestotrotz hat das Bundesverfassungsgericht die perspektivische Entwicklung auch schon aufgezeigt: Je mehr des Restbudgets verbraucht wird und je weiter der Klimawandel fortschreitet, desto stärker nimmt das Gewicht des Klimaschutzes in der Abwägung zu.121

IV. Fazit und Ausblick Es sind klare Entwicklungstendenzen und -präzisierungen im Rechtsgebiet des Klimaschutzrechts hin zu einem Klimaschutzverwaltungsrecht zu erkennen, wobei dieses noch als im Entstehen zu bezeichnen ist. Die Unterscheidung zwischen 115

BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 116 – 122, 182 – 194. BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 186. 117 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 130, 186, 187. 118 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 215 – 229. 119 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 198, 255 (Klimaneutralität); 247 – 250. 120 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 183; 245 – 255. 121 BVerfG, Beschluss vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., Rn. 198. 116

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Sabine Schlacke und Miriam Köster

Klimaschutzrecht und Klimaschutzverwaltungsrecht ist nicht nur eine semantische: Das Klimaschutzrecht etabliert übergreifende Ziele, die auch für ein Klimaschutzverwaltungsrecht Geltung entfalten müssen. Es schafft darüber hinaus Instrumente, wie beispielsweise die aufgezeigten Planungsinstrumente. Der Raum, den ein Klimaschutzverwaltungsrecht daneben wird ausfüllen müssen, ist aber ein solcher, der die Anwendung dieser Ziele auch für die Verwaltung praktikabel macht. Die Verwaltungsrechtswissenschaft ist prädestiniert, diese Lücke zu füllen. Die Herausarbeitung, Analyse und Bündelung und Systematisierung von Rechtssätzen, die die Verwaltungstätigkeit, das Verwaltungsverfahren und die Verwaltungsorganisation betreffen, ist ureigene Aufgabe der Verwaltungsrechtswissenschaft. Diese Systematisierung stellt einen Mehrwert gegenüber der bloßen Feststellung, dass mittlerweile ein Rechtsgebiet entstanden ist, dar. Sie fokussiert auf die Verwaltung und deckt aufgrund der dogmatischen Durchdringung Inkohärenzen oder Ineffizienzen auf.122 Das so gefundene Ergebnis des Bestandes an Rechtssätzen, die ein Gebiet des besonderen Verwaltungsrechts kennzeichnen, kann dann auch anhand verfassungsrechtlicher Vorgaben bewertet werden. Nimmt der Staat, respektive Gesetzgeber die ihm verfassungsrechtlich übertragenen Aufgaben durch die Etablierung von Verwaltungsrecht ausreichend wahr? Diese Frage stellt sich insbesondere im Lichte des Klimaschutzbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts, das aus der intertemporalen Freiheitssicherungspflicht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20a GG die neue Aufgabe des Staates, eine Transformation aller Lebensbereiche hin zur Klimaneutralität zu bewerkstelligen, ableitet.

122

Vgl. Härtel (Fn. 2), S. 826; Burgi (Fn. 2), S. 1404.

Nachhaltigkeit und Resilienz Herausforderungen für das Verwaltungsrecht – Wie geht das Verwaltungsrecht mit ökologischen und gesundheitlichen Herausforderungen um? Von Kai v. Lewinski1 Was ökologisch und in Seuchenhinsicht alles schiefgehen kann, muss man heute niemandem erläutern. Aus der satten Nachkriegszeit und der glücklichen Nachwendezeit – so scheint es uns als Zeitgenossen – sind wir in eine raue Welt geraten, in der kein Konrad Adenauer, kein Helmut Kohl und keine Angela Merkel die Weltenstürme von uns fernhält. Stattdessen markieren die Ansagen von Greta Thunberg, Christian Drosten und Wladimir Putin neue und gewendete Zeiten.

I. Nachhaltigkeit und Resilienz als Elemente von Bewahrung Nachhaltigkeit und Resilienz sind zwei Großbegriffe, an denen man sich lange abarbeiten kann, ohne für die juristische Analyse viel zu gewinnen.2 Für unsere Zwecke möchte ich mich den Begriffen nicht einzeln zuwenden, sondern ihren Oberbegriff zum Ausgangspunkt nehmen. „Nachhaltigkeit“ und „Resilienz“ sind jeweils strukturkonservative Begriffe, die das, was ist, entweder gegenüber den Veränderungen der Zeit bewahren wollen (Resilienz) oder einen Zustand herstellen, der auch über kommende Veränderungen hinweg bestehen bleibt (Nachhaltigkeit). – Es geht also um das „Bewahren“.

1

Der Vortrag wurde später auch bei Veranstaltungen zu „Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung“ des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) gehalten. Die Vortragsform ist weitgehend beibehalten. 2 Allgemein zuletzt Markus Brunnermeier, The Resilient Society, 2021; vgl. im juristischen Kontext zu „Resilienz“ die Beiträge in Kai v. Lewinski (Hrsg.), Resilienz des Rechts, 2016 und Hans-Helmuth Gander/Walter Perron/Ralf Poscher/Gisela Riescher/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012 sowie Kai v. Lewinski, Resilienz der Verwaltung in Unsicherheits- und Risikosituationen, in: Hermann Hill/Utz Schliesky, Management von Unsicherheit und Nichtwissen, 2016, S. 239 (240 f.) m. w. N. und nun etwa Matthias Fahrner, Vulnerabilität und Resilienz der freiheitlichen Demokratie, 2022. – Zu „Nachhaltigkeit“ s. insb. die Zeitschrift Nachhaltigkeitsrecht“ (NR).

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Kai v. Lewinski

II. Bewahrung in den Krisen unserer Zeit Es ist danach zu schauen, wie das Recht mit Krisen und Katastrophen umgeht, ja, wie es mit Krisen umgeht, damit es keine Katastrophen werden, und wie man mit Katastrophen umgeht, dass sie nicht als Krisen enden. Ich wähle den Begriff „Katastrophe“ wegen und in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung als „Um-Wendung“ oder „Herabwendung“, bei dem es um einen Wendepunkt geht, nach dem die Dinge erst einmal anders sind, also keine Bewahrung des Vorherigen stattfindet. Und für den Umgang mit solchermaßen verstandenen Katastrophen greife ich auf die eingängige, für das deutsche Juristenohr freilich sehr bildhafte Kategorisierung von Katastrophen des britisch-amerikanischen Historikers Niall Ferguson zurück, der zwischen „grauen Nashörnern“, „schwarzen Schwänen“ und „Drachenkönigen“ unterscheidet.3 Damit sind Szenarien gemeint, die man entweder schon aus der Ferne herannahen sieht (= „graues Nashorn“)4 oder die man so nicht erwartet hat, die aber kategorial erfasst werden können (= „schwarzer Schwan“), oder die insgesamt jenseits des Vorhergesehenen liegen („Drachenkönig“). 1. Steuerung von Transformationen („Graues Nashorn“) Als ein „graues Nashorn“ kann man also ein Ereignis bezeichnen, das man schon aus der Ferne wuchtig herannahen sieht. Sicherlich wird dieses Ereignis aus politischen Opportunitäten oder weltanschaulicher Verblendung oder ökonomischer Kurzsichtigkeit in der Praxis oft verkannt und – noch häufiger – seine Entfernung über- und seine Geschwindigkeit unterschätzt. Jedenfalls aber sind solche Ereignisse bei rationalem und evidenzbasiertem Herangehen ohne weiteres beherrschbar. Hierfür gilt es, Entscheidungen zu treffen, um von dem Nashorn (= herannahendes Ereignis) nicht niedergetrampelt zu werden. Regelmäßig wird man mehrere Optionen und Wege haben, mit der Gefahr umzugehen (auf einen Baum klettern, einen Graben ziehen, ein Gewehr holen, ein Betäubungsgewehr holen, …). Allen diesem Vorgehen ist gemein, dass sie planvoll umgesetzt werden können. a) Planung als Umgang mit Herausforderungen Wenn man ein Ziel – oder eine Gefahr, dann mit dem Ziel deren Vermeidung – erkannt hat, kann man schauen, mit welchen Schritten man dies erreicht.

3 Niall Ferguson, Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft, 2021, S. 109 ff. et pass.; dazu Kai v. Lewinski, GZS 2021, S. 248 (250). 4 Als Leerstelle bei diesem Triptychon von Ferguson kann man die Nicht-Erfassung der „schleichenden Katastrophe“ anmerken, die aber vielleicht doch als ein in hohem Gras und auf weichem Boden leise herantrabendes Nashorn in dieses Bild eingeordnet werden kann.

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– Das Allgemeine Planungsrecht hat hierfür Planungskaskaden und Plankoordinationsmechanismen entwickelt, in Frankreich etwa in der umfassenden Gestalt der planification. In der Umwelt- und Klimaplanung5 ist für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft eine „Renaissance der Planung“ und „Bewirtschaftungsregime“6 vonnöten, damit all’ die verschiedenen Änderungen und angereizten Akteure im gewünschten Sinne ineinandergreifen. Gesprochen wird von übergreifender und umfassender „Systemplanung“ (§ 112b EnWG)7 bzw. „Systementwicklungsplanung“8. Es gilt, Entwicklungsdruck und Planungssicherheit9 sowie die intertemporale Lastenverteilung miteinander zu vereinbaren. Instrumente hierfür sind z. B. der Klimaschutzplan10 (§ 2 Nr. 7 KSG) und das Klimaschutzprogramm (§ 9 KSG). Daneben gibt es umwelt- und klimabezogene Planung in anderen Bereichen, etwa der Stadt- und Raumplanung. – An der Pandemie der vergangenen Jahre haben wir die Möglichkeiten und Grenzen der Gesundheits- und Pandemieplanung gesehen.11 – Zu bedenken ist immer auch, dass Transformationen zusätzliche (Verwaltungs-) Prozesse sind, deren Vorbereitung und Durchführung zusätzliche Personalressourcen erfordern. Ob und in welchem Maße eine Verwaltung hierzu in der Lage ist, hängt auch von der finanziellen12 und haushalterischen Situation ab.13 Insoweit ist eine nachhaltige Personal- und Finanzplanung – so könnte man sagen – eine Voraussetzung für die Planung der Nachhaltigkeit. b) Planungshorizont in Demokratien Allerdings darf Planung, v. a. wenn sie beständig sein soll, also in ihrem Ergebnis nachhaltig und resilient, nicht nur von der Ebene des Verwaltungsrechts gedacht werden. Denn Planung ist die gesellschaftliche Verhandlung von Veränderungen, und die erfolgt in einer demokratisch verfassten Gesellschaft im Rahmen der Verfassung. 5

Dazu der Beitrag von Sabine Schlacke in diesem Band, S. 149 ff. Georg Hermes, EurUP 2021, S. 162 f. 7 Dazu BT-Drucks. 19/27453, S. 137. 8 Dazu Georg Hermes, EurUP 2021, S. 162 (167) m. w. N. 9 BVerfG, Beschl. v. 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., NJW 2021, S. 1723 ff., LS. 4 – Klima-Entscheidung. 10 Dabei soll hier die Frage unerörtert bleiben, ob Klimaschutzpläne verwaltungs- und umwelt- und planungsrechtlich überhaupt als „Pläne“ eingeordnet werden können (so etwa Sabine Schlacke, EurUP 2020, S. 338 (341); skeptisch Georg Hermes, EurUP 2021, S. 162 et pass.: „eher im Bereich der politischen Planung anzusiedeln“). 11 Dazu der Beitrag von Tristan Barczak in diesem Band, S. 177 ff. 12 Die „Klimawende“ soll in Deutschland 5 Billionen Euro kosten (Prognos-Studie im Auftrag des KfW (F.A.Z. v. 2. 11. 2021, S. V4). 13 Konkret am Beispiel von Kommunen F.A.Z. v. 2. 11. 2021, S. V5. 6

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aa) Reversibilität In diesem Zusammenhang gibt es einen Aspekt von nachhaltiger Planung, die mit Demokratie in einem Spannungsverhältnis steht: Demokratie beruht auf der Reversibilität aller Entscheidungen,14 während Planung ohne ein festes Ziel recht sinnlos ist. Bei der Planung in einem demokratischen System besteht deshalb und auch jenseits der gegenwärtigen Krisen das strukturelle Problem der zeitlichen Inkongruenz von Problem und Lösung. Denn es ist ja gerade das Wesen der Planung, dass sie langfristig steuern soll, während Demokratie auf der steten Reversibilität beruht. Zwar balanciert das Planungsrecht durch partizipative Elemente und gestufte Verbindlichkeit der Planentscheidungen Rechtssicherheit und Demokratie aus. Nicht im Planungsrecht abgebildet ist die Änderung von Planungszielen, die in Demokratien jederzeit oder doch jedenfalls periodisch möglich ist. bb) Umgang mit kalkulierten Rechtsbrüchen Gerade wegen der starken Verfahrensorientierung und der Ausrichtung auf ein in den Blick genommenes Planungsziel geraten Planungsentscheidungen über die Zeit und bei sich ändernden Mehrheiten politisch in die Kritik. Weil einmal in Gang gesetzte Planungen und Planungsprozesse verfahrensmäßig nur schwer zu ändern sind – und Planungsziele schon mal gar nicht –, haben sich in diesem Bereich verschiedene Praktiken zivilen Ungehorsams etabliert, die durch die pragmatisch Nichtund Mindersanktionierung, die mit der Mutlangen-Rechtsprechung begann, rechtlich faktisch anerkannt sind: Baumbesetzungen, Castor-Behinderungen, „Skolstreijk för Klimatet“, Autobahnblockaden, Klimakleber, auch Corona-Spaziergänge usw. cc) Verankerung von Zielen der Planung in der Verfassung Für die Nachhaltigkeit „großer Planungsziele“ ist deshalb eine Verankerung in der Verfassung sinnvoll. Ob ein Planungsziel als Staatsziel hinreichend konkret festgeklopft ist, will ich hier nur als Frage in den Raum stellen. Jedenfalls hätte eine legistische Hochzonung15 eine Reihe von Vorteilen: – Zum einen steuert und lenkt eine verfassungshohe Verankerung von Gesichtspunkten und Zielen Abwägungs- und Ermessensentscheidungen. Die allgemeine Berücksichtigungspflicht (§ 13 Abs. 1 S. 1 KSG)16 ist eine originäre planungs14 Der Sonderfall einer durch entsprechende Verfassungsbestimmungen – in Deutschland etwa Art. 79 Abs. 3 GG – der Änderung entzogenen Aspekte sei hier außen vor gelassen. 15 Zur Hochzonung der Handlungsformen (vom VA zu RVO und Gesetz) in der Pandemie Tristan Barczak in diesem Band, S. 177 ff. (III.2.), der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass mit dieser Hochzonung der Zugang zu Rechtsschutz abnimmt bzw. erschwert wird – auch dies lässt sich als Krisenbewältigungsinstrument verstehen. 16 Z. B. BVerwG, Urt. v. 4. 5. 2022 – 9 A 7.21, becklink 2023247.

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rechtliche Kategorie17 (vgl. § 4 ROG). Der impact von Art. 20a GG in vielen Bereichen unterstreicht die Wirkbreite von Umweltschutz von einem Staatsziel bis zu einer gesamthaften Umweltstaatlichkeit.18 – Auch wird das Reversibilitätsproblem dadurch etwas (und in der Praxis wohl entscheidend) entschärft, indem es der Änderung durch den einfachen Gesetzgeber mit einfachen Mehrheiten entzogen wird. (Der Preis freilich ist, dass sich für die Verankerung eines solchen Zieles auch eine entsprechende Mehrheit erst einmal finden muss. Doch eine Gesellschaft, die es nicht schafft, zu ihrem überwiegenden Teil ein herankommendes Nashorn zu erkennen, muss nicht nachhaltig bedauert werden.) Daneben kann man verfassungsästhetisch wie rechtspraktisch eine „Vermüllung“ wie eine Versteinerung der Verfassung befürchten. c) Zwischenergebnis Nachhaltiger Umfang mit absehbaren Krisen kann mit den Mitteln der Planung erreicht werden. Hier ist auf der Ebene des Verwaltungsrechts – neben natürlich immer möglichen Verbesserungen im Detail und v. a. im Hinblick auf die Beschleunigung von Verfahren – wenig grundsätzliches zu ändern. Das eigentliche Problem liegt in dem Spannungsverhältnis zwischen dauerhafter Planung und wechselnden politischen Stimmungen und Mehrheiten in der Demokratie. 2. Umgang mit Unvorhergesehenem („Schwarzer Schwan“) Im Unterschied zu dem Umgang mit „grauen Nashörnern“, bei dem man sieht, was kommt, ist es bei „schwarzen Schwänen“ so, dass man nicht weiß, dass es sie gibt.19 Sie sind zwar unvorhergesehen, aber kategorial erfassbar, weil auch ein schwarzer Schwan sich abgesehen von seiner Farbe20 nicht grundsätzlich vom hierzulande bekannten Schwan unterscheidet.

17

Georg Hermes, EurUP 2021, S. 162 (165). Allerdings ist zu bemerken, dass in der Klimaentscheidung des BVerfG (Beschl. v. 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., NJW 2021, S. 1723 ff.) nicht nur auf das Staatsziel des Art. 20a GG abgestellt wird, sondern (zusätzlich) eine durchaus kunst- und voraussetzungsvolle grundrechtliche Konstruktion entwickelt hat. 19 Das Bild des Schwans wurde mit dem Titel des Buches von Nassim Nicholas Taleb, Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, 2008 (engl.: The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable, 2007) populär. 20 Dass der australische Trauer- oder Schwarzschwan (Cygnus atratus) den längsten Hals aller Schwanenarten hat, sei hier nur am Rande erwähnt. 18

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a) „Gefahrerforschungsmaßnahmen“ Die Erkundung der „Siedlungsgebiete“ der „schwarzen Schwäne“ macht aus ihnen „weiße“, jedenfalls in dem Sinne, dass sie so bekannt und gewöhnlich sind wie weiße. Der nachhaltigste Umgang mit dem (ansonsten) Unvorhergesehenen ist seine Erforschung, um von seinem Eintritt nicht überrascht werden zu können. Grundlagenforschung und Grundlagenforschungsfähigkeit sind deshalb unerlässlich. An sich ist das eine wissenschafts- und forschungspolitische Frage, ob man katastrophen- und nachhaltigkeitsorientierte (Master-)Studiengänge21 schafft. Im Rahmen von Ressortforschung der Verwaltung22 kann aber auch diese einen Beitrag zum whitewashing schwarzer Schwäne leisten. (Das vielbelächelte UFO-Forschungsprogramm der US-amerikanischen Nachrichtendienste kann hier vielleicht sogar als Beispiel leuchten …). b) Verwaltungshandeln ohne Normprogrammierung Die Schlachten, auch die dogmatischen, um die Verteidigungs- und Notstandsverfassung sind seit Jahrzehnten geschlagen. Herausgeschält hat sich die Erkenntnis, dass sich der unvorhergesehene Ausnahmefall schwer regeln lässt. Zwar lässt sich der Notstand durchaus normieren (und dadurch normalisieren),23 es verbleibt aber hinter dem geregelten Notstand immer noch und notwendigerweise eine Dunkelfeld.24 Es ist deshalb ein elfenbeinernes und letztlich auch nur sprachlogisches Glasperlenspiel, den Satz „Not kennt kein Gebot“25 in der Luft herumzuwirbeln, zu räsonieren, dass es sich dabei selbst um ein Gebot handele, oder sich am eigenen Erschaudern bei Schmitt’schen Kategorien zu beobachten. Im hiesigen Kontext geht es ja auch nicht um die Elastizität der Verfassung,26 sondern um die Frage, wie das Verwaltungsrecht bei fehlenden Vorgaben reagiert; dies ist insbesondere im Zusammenhang mit dem verfassungs- und grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt relevant.

21

Überblick bei F.A.Z. v. 16. 4. 2022, S. C 4. Hierzu Laura Münkler, Expertokratie, 2020, S. 559 ff. 23 Hierzu Angela Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, 2018. 24 Das German over-engineering des Inneren Notstands und v. a. des Verteidigungsfalls – etwa die Notverkündung mittels Lautsprechers o. ä. (Art. 115d Abs. 3 i. V. m. Art. 115a Abs. 3 S. 2 HS. 1 GG) – ist erkennbar nicht der Weisheit letzter Schluss, ebenso nicht die NichtRegelung etwa der medialen Wehrverfassung (Dirk Freudenberg, Wehrhaftigkeit der Medienordnung, 2022). 25 Zu diesem Satz Michael Koller, Not kennt kein Gebot, 2009. 26 Dazu Josef Isensee, in: Kai v. Lewinski, Resilienz des Rechts, 2016, S. 33 ff. 22

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Gemeinhin schlägt in Zeiten der Not die „Stunde der Exekutive“27 und damit die der Verwaltung. Gesprochen wird dann von „nützlicher Illegalität“28 oder gar „notwendiger Illegalität“. Wenn aber mit und im Rahmen des polizei- und sicherheitsrechtlichen Modells der Kombination von Standardmaßnahmen mit Generalklausel gearbeitet wird, hat man ein recht elastisches Modell. Und es erweist sich, dass die „Illegalität“ im wesentlichen Verfahrensaspekte und andere Bürokratismen betrifft.29, 30 c) Krisenvorsorge Und dann kann auch noch für den Fall der unvorhergesehenen Krise vorgesorgt31 werden. Auch wenn und weil es um das Unvorhergesehene geht, ist eine Vorsorge nicht ausgeschlossen. Denn man kann Vorsorge nicht nur hinsichtlich einer (notwendigerweise dann bekannten) Krisenursache treiben, sondern auch hinsichtlich denkbarer Wirkungen. aa) Schuldenbremse und finanzielle Solidität Die allgemeinste Art der Ressourcenvorsorge ist Schaffung finanzieller Schlagkraft. Insoweit ist die Schuldenbremse ein sehr geeignetes Mittel der Krisenvorsorge.32 Denn welche Farbe ein „schwarzer Schwan“ auch immer hat, der Umgang mit ihm wird wohl Geld kosten. Und wenn mal welches hat (oder jedenfalls Kredit zu guten Konditionen), wird vieles einfacher.

27 Isensee unterscheidet (bei dem Umgang mit Corona) mehrere Phasen: „Notlösung des Anfangs“, „Renormalisierung“ und „Ende des Notregimes“ (Josef Isensee, Corona und die Normalität der Verfassung, in: Stefan Mückl, Religionsfreiheit in Seuchenzeiten, 2021, S. 85, 100 – 104). 28 Niklas Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, 1964, S. 304 ff. 29 Umgekehrt aber, dass nämlich prozessuale Normen zur Resilienz des Rechts beitragen können, Lorenz Kähler, in: Kai v. Lewinski, Resilienz des Rechts, 2016, S. 57 (76 f.). 30 Grundrechtsschutz durch Verfahren soll hier nicht kleingeredet werden. Doch waren etwa die praktischen Probleme der Anfangszeit der Corona-Pandemie (Distanzbeschulung, Homeoffice) recht gut zu bewältigen, als die Datenschützer ein Vollzugsmoratorium signalisiert hatten (Kai v. Lewinski, in: Kai v. Lewinski/Giselher Rüpke/Jens Eckhardt, Datenschutzrecht, 2. Aufl. 2022, § 2 Rn. 98). 31 Der Begriff der Gefahrenvorsorge stammt – wie allgemein bekannt – aus dem Polizeiund Sicherheitsrecht. 32 Es ist allerdings auch zu bemerken, dass die Schuldenbremse des Grundgesetzes die Aufrüstung der nach Ukraine-Invasion Russlands („100-Millarden-Programm“) erschwert (Florian Meinel, F.A.Z. v. 30. 3. 2022, S. 11).

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bb) Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze Konkreter wird die Krisenvorsorge durch Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze.33 Sie – in systematischer Hinsicht zwischen Katastrophen- und Kriegsfall unterscheidend – sichern die Versorgung mit jeweils bestimmten Gütern und Dienstleistungen (Wasser, Ernährung, Energie, Transport usw.). Sie gehen über das Finanzielle und das über den Markt Beschaffbare hinaus, indem sie etwa auch die Inpflichtnahme von Privaten regeln. Auch wenn situative Anpassungen und Aktualisierungen notwendig waren, zeigt sich doch das Energiesicherstellungsgesetz als grundsätzlich geeignetes Kriseninstrument für einen möglichen Gas- und Öllieferungsstopp aus Russland. cc) Organisationsanpassungsfähigkeit Ebenfalls zur Vorsorge kann die Gestaltung der Verwaltungsorganisation34 gezählt werden. Es ist bezeichnend, dass das Katastrophenrecht im wesentlichen Organisationsrecht ist. Es geht nämlich darum, für den Fall des Unvorhergesehenen, der sich in der Verwaltungsstruktur notwendigerweise nicht abbilden kann, reagieren zu können. Hier kommt in der Praxis häufig (und meist kritisch) zur Sprache, dass das Sicherheits- und Polizeirecht in Deutschland Ländersache ist, was aus der Geschichte und geschichtlicher Erfahrung mehr als erklärlich ist, bei großen Krisenlagen aber als kleinräumig erfahren wird. Richtig ist, dass die Zuständigkeit für die Lösung eines Problems immer kongruent mit dem Problem sein wird, jedenfalls darf sie nicht kleiner sein. Dies kann auf drei Arten und Weisen erreicht werden: Entweder man zont die Lösungszuständigkeit hoch, bis sie kongruent mit dem Problem ist. Oder man grenzt das Problem ein, dass es in die vorhandenen Lösungsstrukturen hineinpasst. Oder man vernetzt die an sich zu kleinen und zu kleinräumigen Lösungsstrukturen, so dass sie insgesamt groß genug für die Problemlösung sind. – Erstere Lösungsstruktur – das Hochzonen – hört man oft, gerade wenn Diskussion und Diskutanten für eine anspruchsvollere Organisationsform nicht bereit sind. Allen Stärken des Föderalismus zum Trotz erschallt gerade in Deutschland der 33 Überblick bei Michael Kloepfer, Handbuch des Katastrophenrechts, 2015, § 8 IX.; speziell zu den Sicherstellungsgesetzen zuletzt Harald Erkens, BWV 2020, S. 147 ff., 169 ff., 193 ff., 217 ff., 241 ff., 265 ff. 34 So sind Einsatzpläne (z. B. Art. 3 Nr. 1 BayKSG) ein Kernelement des Katastrophenrechts, insbesondere dann durch die Seveso-Richtlinien (Umsetzung z. B. in Art. 3a, Art. 3b BayKSG); allgemeiner zur Bedeutung der Organisationsanpassung zur Krisenbewältigung Kai v. Lewinski/Raphael de Barros Fritz, Verwaltung in der (Flüchtlings-)Krise – Zuständigkeitsveränderung als Instrument und Element, BayVBl. 2016, S. 469 – 477; zu diesbezüglichen „Schubladengesetzen“ (speziell für den Bereich der Kriegsgerichtsbarkeit) Ulrich Vultejus, Kampfanzug unter der Robe, 1984.

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Ruf nach dem einen „starken Mann“ oft. Nicht nur im zunehmend unitarischen Bundesstaat ist diese Entwicklung zu beobachten, sondern auch bei der Bewältigung von Finanzkrisen, wo dann nach „der einen starken Kommission“ gerufen wird. Das Grundgesetz jedenfalls anerkennt im Katastrophen- und Krisenrecht ausdrücklich, dass es Bedrohungslagen geben kann, die größer sind als die Möglichkeiten eines Landkreises oder Bundeslandes (Art. 35 Abs. 2 u. 3, Art. 91 GG; V-Fall). Hier ist die Offenheit des Grundgesetzes zur Organisationsveränderung im Angesicht einer großen Krise sichtbar. – Man kann aber auch versuchen, das Problem so zu zerteilen, dass vorfindliche Lösungsstrukturen wieder passen. Grenzschließungen und -kontrollen bei der Corona-Bekämpfung sind hierfür ein gutes Beispiel, als cordon sanitaire ist das Konzept aber auch schon aus Pest- und Cholera-Zeiten bekannt. – Und schließlich ist auch noch eine Koordination von Regelungen in unterschiedlichen Gebieten, Ländern und Weltgegenden möglich, etwa über eine Anerkennung des Genesenenstatus o. ä. dd) Inanspruchnahme von jedermann Und gewissermaßen eine Kombination aus Sicherstellung (! bb)) und Organisationsanpassungsfähigkeit (! cc)) ist die Verpflichtung(smöglichkeit) von jedermann zu Unterstützung und Hilfstätigkeiten. Solche Möglichkeiten erhöhen die Skalierbarkeit und Agilität, sind aber nicht ohne weiteres möglich (vgl. Art. 12 Abs. 2 u. 3 GG; Arbeitssicherstellungsgesetz [ASG]) und im Bundesleistungsgesetz (BLG) und den übrigen Sicherstellungsgesetzen auch nur als eine Leistungs-, nicht als Arbeitspflicht ausgestaltet (vgl. § 3 BLG). Nach den allgemeinen polizei- und sicherheitsrechtlichen Regeln können Nichtstörer nur in konkreten Fällen und einem konkreten Bedarf in Anspruch genommen werden (z. B. Art. 9 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BayKSG), nicht aber als allgemeine „Personalreserve“. d) Zwischenergebnis Der „schwarze Schwan“ kann mit den Mitteln, die – etwas angestaubt, im Wesentlichen35 aber vorhanden – die Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze bereithalten, eingefangen werden. Situative Organisationsanpassungen erleichtern ebenfalls den Umgang mit dem „schwarzen Schwan“. Eine Levée en masse, um den „schwarzen Schwan“ zu bezwingen, ist nach heutigem Recht nicht ohne weiteres möglich.

35

In der Reihe der Sicherstellungsgesetze fehlen z. B. (nur) ein Medien- (hierzu Kai v. Lewinski, Medienrecht, 2020, § 21 Rn. 18) und Justizsicherstellungsgesetz (nicht angesprochen bei Fabian Wittreck, VVDStRL 74 (2015), S. 115 ff.). Zum Verständnis einer verwaltungsverfahrensrechtlichen Krisenvorsorge durch „Handlungsformenlehre für Krisenzeiten“ Tristan Barczak in diesem Band, S. 177 ff. (IV.).

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3. Umgang mit Unvorstellbarem („Drachenkönig“) Als „Drachenkönig“ bezeichnet Niall Ferguson Ereignisse, die man nicht nur nicht erwartet hat, sondern die in ihrer Auswirkung die Vorstellungen übersteigen.36 Sie begegnen uns von (ziemlich am) Anfang bis Ende der Bibel (Sintflut, Sodom und Gomorra, Apokalypse), und sind auch als „X-Event“ bekannt.37 a) (Grundlagen-)Forschung und Nachdenken über postapokalyptische Zeiten Das Unvorstellbare kann man sich vorstellen – man muss nur phantasievoll genug forschen und lange genug nachdenken (und gut genug zuhören).38 Zwar wird die Menge des Nicht-Gewussten mit zunehmendem Wissen immer größer (sog. „Known Unknown“), dieses hermeneutische und erkenntnistheoretische Problem soll uns aber nicht entmutigen. Denn nur wenn wir uns mit Corona-Viren und ihren viel gefährlicheren Varianten, die auf den Wildtiermärkten dieser Welt lauern, beschäftigen und mit den Schwarzen Löchern und dem Weltuntergang, können wir gegebenenfalls den „Drachenkönig“ auf die Größe eines Schwans schrumpfen oder doch jedenfalls in der Steppenweite als bloßes Nashorn schon ausmachen. Allerdings bleiben die verbleibenden unerforschten „Drachenkönige“ bis zu ihrem Erscheinen ein „Unknown Unknown“. Überlegungen (und Maßnahmen) können also nur bei den bekannten Verhältnissen anknüpfen, also bei Staat, Gesellschaft und Menschheit. b) Vorbereitung der Renaissance Es ist eine Beobachtung, dass Menschen in ihre Heimat zurückkehren, auch wenn sie dort einer Katastrophe entronnen sind;39 das in der Nachbarschaft von Pompeji liegende Neapel ist hierfür das klassische Beispiel, das Ahrtal ein aktuelles. Zur Vorbereitung einer „Renaissance“40 i. S. e. Wiedergeburt nach einem apokalyptischen Ereignis können wir versuchen, durch Schaffung tiefwurzelnder Strukturen und Pfadabhängigkeiten Voraussetzungen zu schaffen, nach einer Apokalypse an das Vorher anzuknüpfen. 36

Überblick bei Johannes Fried, Dies irae, 2016. Mit freilich einem spezifischen systemtheoretischen Ansatz John Casti, X-Events: The Collapse of Everything, 2012. 38 Zum Center for Apocalyptic and Post-Apocalyptic Studies (CAPAS (Käte Hamburger Kolleg der Universität Heidelberg)) F.A.Z. v. 20. 10. 2021, S. N3. 39 Niall Ferguson, Doom – Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft, 2021, S. 126. 40 Zu der Doppeldeutigkeit dieser Begrifflichkeit, die landläufig ja auf die Wiederentdeckung der kulturellen Leistungen der Antike Bezug nimmt, aber auch auf die Pest- und Hungerzeiten im Spätmittelalter gemünzt sein kann, Thomas Meier, zit. in: F.A.Z. v. 20. 10. 2021, S. N3. 37

Nachhaltigkeit und Resilienz

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Allerdings mag eine andere, gewissermaßen entgegengesetzte Strategie noch erfolgversprechender sein, nämlich die Lösung von vorhandenen Strukturen und das Vertrauen auf die Autopoiesis.41 Denn wenn wer den unvorstellbaren „Drachenkönig“ überlebt, dann sollte er nicht durch die Toten und deren Vorstellungen gebunden sein, sondern eine passende neue Ordnung dann selbst erschaffen. c) Zwischenergebnis Wie das aber gehen soll, ist angesichts der Unvorhersagbarkeit eines „Drachenkönigs“ nicht zu sagen – „Staatsrecht hört hier auf.“ Und auch Otto Mayers „Verfassung vergeht, Verwaltung besteht.“ hilft beim Weltuntergang wohl nicht. Immerhin aber ist bemerkenswert, dass das BGB sowohl das Dritte Reich als auch die Hälfte der DDR überlebt hat.

III. Wandel und Beständigkeit im Verwaltungsrecht Nachhaltigkeit und Resilienz sind nicht Ziele des Verwaltungsrechts, sondern (verfassungsrechtlich abgesicherte) gesellschaftliche Ziele, die mithilfe des Verwaltungsrechts erreicht werden sollen/müssen. Wenn man Nachhaltigkeit und Resilienz nun auf die drei Ferguson’schen Kategorien von Katastrophen anwendet, dann zeigt sich, dass „grauen Nashörnern“ am besten mit Nachhaltigkeit begegnet wird und dem „Drachenkönig“ mit Resilienz. Für den „schwarzen Schwan“ am besten geeignet ist ein Mix von Nachhaltigkeit und Resilienz, nämlich das vorsorgende Bilden von Reserven.

41 In diesem Sinne ausdrücklich Rüdiger Korff, in: Kai v. Lewinski, Resilienz des Rechts, 2016, S. 23 (31 f.).

Der Einfluss der Pandemie auf die Handlungsformen des Verwaltungsrechts Von Tristan Barczak1

I. Das Studium des Verwaltungsrechts in der Pandemie 1. Verwaltungsrecht zwischen Ausnahme- und Normallage Die Pandemie hat dem Öffentlichen Recht – so jedenfalls die Selbstwahrnehmung unserer Disziplin – „großen Auftrieb“2 beschert. Die Krise bot Gelegenheit zu einem Studium des Verfassungsrechts „am lebenden“ oder vielleicht besser „leidenden Objekt“.3 Nie zuvor gab es so umfassende und tiefgreifende Verschiebungen des staatsrechtlichen Gefüges, nie zuvor so zahlreiche und weitstreuende additive wie kollektive Grundrechtseinschränkungen. Nie zuvor mussten in so kurzer Zeit Antworten auf so viele Fragen gefunden werden, die bisher nicht gestellt wurden oder noch vor Kurzem gänzlich undenkbar schienen. Als die viel bemühte „Katastrophe in Zeitlupe“4 war die Pandemie zugleich ein Studium des Verwaltungsrechts, an dessen Ende Entwürfe für ein vom Prinzip der Risiko-, Gesundheits- und Katastrophenvorsorge her gedachtes „Verwaltungsrecht im Krisenmodus“5, „Krisenverwaltungsrecht“6, „Ausnahmeverwaltungsrecht“7, „Pandemieverwaltungsrecht“8 oder ein „Verwaltungsrecht der vulnerablen Gesellschaft“9 stehen.

1 Überarbeitete Fassung des Vortrags vom 6. Mai 2022 im Rahmen des 75-jährigen Jubiläums der Universität Speyer. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. Sämtliche Internetquellen wurden letztmalig abgerufen am 15. August 2022. 2 A. Klafki, Verwaltungsrechtliche Anwendungsfälle im Kontext der Covid-19-Pandemie, JuS 2020, S. 511 (515). 3 Angelehnt an T. Kingreen, Das Studium des Verfassungsrechts in der Pandemie, Jura 2020, S. 1019 – 1035. 4 So etwa der Virologe Christian Drosten, zitiert nach: https://www.tagesspiegel.de/politik/ coronavirus-als-naturkatastrophe-in-zeitlupe-deutschland-hat-das-virus-erst-viel-zu-spaet-ernstgenommen/25643008.html. Von einer „schleichenden Katastrophe“ spricht A. Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 44 f.; Klafki, Anwendungsfälle (Fn. 2), S. 511; A. Klafki, Coronavirus und Reformbedarf des „Pandemierechts“, VerfBlog 2020/3/05. 5 T. Siegel, Verwaltungsrecht im Krisenmodus, NVwZ 2020, S. 577 – 583. 6 J. Schwind, Verwaltungsrechtliche Aspekte der Corona-Krise in Niedersachsen, NdsVBl. 2020, S. 293 (297).

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Die Frage, welchen Mehrwert ein vom Ausnahmefall her gedachtes und konstruiertes Verwaltungsrecht jenseits der ohnehin existierenden infektionsschutz- und seuchenpolizeilichen Regime besitzt, kann und soll hier nicht beantwortet werden. Wichtiger erscheint mir eine andere Erkenntnis: Gerade weil unsere Rechtsordnung keine klare Trennlinie zwischen Ausnahme- und Normallage einzieht und auf ein Ausnahmeverfassungs- und Notstandsverwaltungsrecht weitgehend verzichtet,10 hat die Krise den Blick auf das Normale und Alltägliche gelenkt. Grundlegende verfassungsrechtliche und staatstheoretische, verwaltungsdogmatische wie auch administrativ-praktische Fragen werden in Krisenzeiten aufgeworfen und müssen – notgedrungen – neu gedacht, anders gewendet und gegebenenfalls abweichend beantwortet werden, als dies in Normalzeiten der Fall wäre.11 Auf diese Weise sorgt die Verschiebung von Normalität und Ausnahme in Krisenzeiten jedoch zugleich für eine kontrafaktische Stabilisierung der Normallage. Die umfassende Einschränkung von Freiheitsgrundrechten stabilisiert mit anderen Worten die Freiheit als solche; krisenbedingte Verschiebungen im Gefüge der Gewalten sowie im Verhältnis von Bund und Ländern stabilisieren – zumindest auf lange Sicht – den Wert der Gewaltenteilung und den Primat der Länderhoheit an sich. Diese kontrafaktische Stabilisierung der Normallage mag – zugegebenermaßen – idealisiert erscheinen; ein ebenso kritischer wie konstruktiver Idealismus tut jedoch nicht zuletzt in Krisenzeiten und nicht nur für die Verfassungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft not.12 In gewisser Weise lässt sich die angesprochene kontrafaktische Stabilisierung des Normalen auch für die Handlungsformen des Verwaltungsrechts ausmachen, von denen im Folgenden die Rede sein wird. Eine spezifische Handlungsformenlehre für Krisenzeiten kennt das deutsche Verwaltungsrecht nicht. In seinen Rechtsfiguren und Instituten, Wertungen und Maßstäben, Rechts- und Handlungsformen ist es seit jeher normalitätsbezogen.13 Krisenhafte Umwälzungen von Staat und Gesellschaft hat es traditio7 A.-B. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 66; L. Leitmeier, Corona und „Ultravires“: Recht an der Grenze, DÖV 2020, S. 645 (646 f.), unter Bezugnahme auf die einfachrechtlichen Notstandsgesetze und das Katastrophenrecht. 8 M. Goldhammer, Rechtsstaat statt Ausnahmezustand, ZöR 77 (2022), S. 93 (99 ff.); vgl. auch M. Burgi, Mehr Rechtsschutz wagen in und nach dieser Pandemie, GewArch 2021, S. 217: „Pandemie-Verwaltungsrecht“; S. Rixen, Grenzenloser Infektionsschutz in der Corona-Krise?, RuP 56 (2020), S. 109 – 117: „Pandemie-Krisenrecht“. 9 S. Rixen, Verwaltungsrecht der vulnerablen Gesellschaft, VVDStRL 80 (2021), S. 37 – 67. 10 Dazu knapp T. Barczak, Der Pandemiestaat als nervöser Staat, APuZ 32 – 33/2022, S. 25 (30); eingehend T. Barczak, Der nervöse Staat – Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2. Aufl. 2021, S. 285 ff., 619 ff. 11 Vgl. auch M. Marquardsen, Verwaltungshandeln in der Corona-Pandemie, in: W. Kahl/ M. Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts V, 2023, § 158 Rn. 13: „Die Exekutive erfährt so viel Beachtung wie außerhalb der Pandemie nur selten“. 12 Barczak, Pandemiestaat (Fn. 10), S. 31. 13 Exemplarisch L. Zwiffelhoffer, Die Figur des Durchschnittsmenschen im Verwaltungsrecht, 2020, S. 208 f.

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nell annähernd bruch- und schadlos überdauert. In den Worten Otto Mayers: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“.14 Als Beleg für diese Normalitätsorientierung des Verwaltungsrechts sei hier zum einen auf das Institut des polizeilichen Notstands verwiesen, das den Gefahrenabwehrbehörden weder einen eigenständigen Eingriffstitel verschafft noch eine besondere Handlungsform für kritische Zeiten zur Verfügung stellt. Dass im Infektionsschutzrecht – rein quantitativ – mehr gesunde und somit „nichtstörende“ Personen in Anspruch genommen werden als Kranke, Krankheitsverdächtige oder sonstige „Störer“ im seuchenpolizeilichen Sinne,15 ändert daran nichts. Zum anderen zeigt sich das Fehlen einer Handlungsformenlehre für Krisenzeiten bei einem Blick auf die ebenso notstandsaffine wie atypische Handlungsform des Maßnahmegesetzes.16 Das Maßnahmegesetz wurde von der Staatsrechtswissenschaft der jungen Bundesrepublik mit großem Aufwand entworfen und gehegt,17 es hat sich jedoch als dogmatischer Rohrkrepierer erwiesen. Bis heute ist man auf der Suche nach der Frage, auf die es eigentlich eine Antwort geben soll. Für das hier behandelte Thema ist das Maßnahmegesetz gleichwohl nicht bedeutungslos; darauf wird zurückzukommen sein.18 2. Verwalten zwischen Normieren und Handeln Es waren danach die Handlungsformen der Normallage, die sich in der jüngsten Krise bewähren und an der Elle des Normalen (Verhältnismäßigkeit, Bestimmtheit, etc.) messen lassen mussten. Im Folgenden soll zunächst ein Blick auf die verfassungsstaatliche Bedeutung und den verwaltungswissenschaftlichen Eigenwert der Handlungsformen geworfen werden (siehe II.), bevor im nächsten Schritt auf die einzelnen Handlungsformen und ihre praktische Anwendung während der COVID-19Pandemie eingegangen wird (siehe III.). Die jeweiligen Vorzüge und Nachteile von unterschiedlichen Handlungsformen und Entscheidungsverfahren in Krisenzeiten auszuleuchten, ist eine „originäre Auf14

O. Mayer, Verwaltungsrecht I, 3. Aufl. 1924, Vorwort. Marquardsen, Pandemie (Fn. 11), § 158 Rn. 58 f.; J. Kersten/S. Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl. 2021, S. 83 f. 16 Aus der verfassungsgerichtlichen Judikatur vgl. nur BVerfG, Urt. v. 25. Juni 1968 – 2 BvR 251/63 –, BVerfGE 24, 33 (52): „aus bestimmtem Anlaß vorgesehen […]; bezieht sich auf in der Vergangenheit abgeschlossene Vorgänge und erfaßt lediglich einen sachlich und persönlich eng beschränkten Bereich“; Beschl. v. 18. Dezember 1968 – 1 BvL 5/64 u. a. –, BVerfGE 25, 1 (14): „sucht eine augenblickliche Krisensituation zu bewältigen“. 17 Vgl. nur auszugsweise C.-F. Menger, Das Gesetz als Norm und Maßnahme, VVDStRL 15 (1957), S. 3 – 34; K. Zeidler, Maßnahmegesetz und „klassisches“ Gesetz, 1961; K. Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 1963; E. Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, in: O. Bachof/M. Drath/O. Gönnenwein et al. (Hrsg.), Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 2. Aufl. 1974, S. 221 – 236; K. Meessen, Maßnahmegesetze, Individualgesetze und Vollziehungsgesetze, DÖV 1970, S. 314 – 321. 18 Siehe unten IV.2. 15

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gabe unserer Wissenschaft“.19 Dabei wird gezeigt, dass die Pandemie sowohl vertikal als auch horizontal auf die zur Krisenbewältigung eingesetzten Handlungsformen eingewirkt hat: In vertikaler Hinsicht lässt sich eine phasenweise Hochzonung der normhierarchischen Handlungsebene vom Verwaltungsakt über die Rechtsverordnung zum Parlamentsgesetz ausmachen. In horizontaler Hinsicht oszillierten die Handlungsformen demgegenüber zwischen zwei verfassungsrechtlichen bzw. verfassungsdogmatischen Polen, namentlich dem von der Wesentlichkeitsdoktrin angeleiteten Parlamentsvorbehalt einerseits und einem immer wieder eingeforderten Verwaltungsvollzugsvorbehalt andererseits. Die Folge war eine schleichende Entwertung der Handlungsform als rechtsstaatliches wie verwaltungsdogmatisches Bauprinzip: Mag die Pandemie die Handlungsformen als solche jeweils unberührt gelassen haben, so war ihr Einsatz während der Krise von einer frappierenden Beliebigkeit20 und Austauschbarkeit21 über Staatsfunktionen und Staatsgewalten hinweg geprägt, obschon sie sich in Tatbestand und Regelungsgehalt wechselseitig ausschließen. Im Zuge dessen verlor die Differenzierung zwischen Normieren und Handeln, zwischen Gesetz und Maßnahme, ihre gewaltenteilige und freiheitssichernde Prägnanz (siehe IV.).

II. Bedeutung und Eigenwert der Handlungsformen des Verwaltungsrechts 1. Die „Logik der Form“ als Grundmuster des demokratischen Verfassungsstaats Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf Bedeutung und Eigenwert der Handlungsformen. Nachdem die Handlungsformenlehre zuletzt eher ein Schattendasein in der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit fristete und durch die Rechtsverhältnislehre zunehmend Konkurrenz erhielt,22 hat die Pandemie zu einer „Renaissance“23 einzel19

H. M. Heinig, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 80 (2021), S. 210 (211). Vgl. M. Herold, Kollektiver Rechtsschutz gegen Allgemeinverfügungen, DVBl. 2021, S. 1604 (1610): „Zufälligkeit“. 21 Marquardsen, Pandemie (Fn. 11), § 158 Rn. 41; P. Schulte, Zwei Jahre Pandemierecht: Reflexion der Rechtsformenwahl, JuWissBlog 7/2022; S. Kluckert, Infektionsschutzmaßnahmen in der Schnittmenge von Verwaltungsanordnung und Gesetzesbefehl: Die Austauschbarkeit der Handlungsformen im Rahmen der Corona-Bekämpfung, VerfBlog 2021/4/27: „Dem rechtswissenschaftlichen Beobachter bietet sich bei infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen mittlerweile das Bild einer völligen Austauschbarkeit der Handlungsformen Verwaltungsakt (Allgemeinverfügung), Rechtsverordnung und Parlamentsgesetz. Anordnungen, die als (konkret-generelle) Einzelfallregelungen beurteilt werden, wenn sie in einer Allgemeinverfügung stehen, finden sich inhaltlich identisch in Rechtsverordnungen und nunmehr auch im IfSG“. 22 Grundlegend N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1982 (2. Aufl. 1986), § 19 Rn. 1 ff. Die Formen des Verwaltungshandelns werden durch das Verwaltungsrechtsverhältnis nicht verdrängt, sie treten aber in ihrer systematisierenden und typologisierenden Bedeutung 20

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ner Handlungsformen (Allgemeinverfügung, Rechtsverordnung) wie auch zur Wiederentdeckung bestimmter rechts- und handlungsformbezogener Vorgaben (Art. 80 Abs. 4 GG24) geführt. Die Handlungsformenlehre erfährt hierdurch – dies lässt sich schon der Vielzahl der einschlägigen Veröffentlichungen entnehmen – ebenfalls eine Revitalisierung. Die Lehre von den Handlungsformen gehört dogmengeschichtlich zu den ältesten Teilen des Verwaltungsrechts und zählt zu den Kernelementen des administrativen Handlungssystems.25 Die Handlungsformen fungieren als fundamentale Bauprinzipien26 und feste Orientierungspunkte27 des Verwaltungsrechts, indem sie – um nochhinter das Rechtsverhältnis zurück (vgl. Achterberg, ebd., § 20 Rn. 1 ff.). Man geht üblicherweise von wechselseitiger Ergänzung („Komplettierung“) aus, vgl. statt aller D. Ehlers, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, DVBl. 1986, S. 912 (915), m. w. N. Zum Verhältnis von Handlungsformen- und Rechtsverhältnislehre ausführlich H. Bauer, Verwaltungsrechtslehre im Umbruch?, DV 25 (1992), S. 301 – 326. 23 Mit Blick auf die Allgemeinverfügung Siegel, Krisenmodus (Fn. 5), S. 577, 579; T. Siegel, Verwaltungshandeln sui generis, in: W. Kahl/M. Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts V, 2023, § 157 Rn. 15; zustimmend U. Hildebrandt, Die Allgemeinverfügung als zulässiges Steuerungsinstrument in der Corona-Krise, in: B. Frevel/T. Heinicke (Hrsg.), Managing Corona – Eine verwaltungswissenschaftliche Zwischenbilanz, 2021, S. 23 (23): „eine wahre ,Renaissance‘“; B. Stepanek, Reichweite verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen gegen Allgemeinverfügungen, NVwZ 2021, S. 778 (778 f.): „stärker in den öffentlichen Fokus gelangt“; D. Mengeler, Allgemeinverfügung und nächtliche Ausgangssperre, in: Franz von Liszt Institute Working Paper 2021/01, Pandemie im offenen Grundrechtsstaat, 2021, S. 28: „das Mittel der Wahl“. 24 Die Vorschrift ermächtigt zum Erlass verordnungsvertretender Gesetze und somit zu einem „Rechtsformentausch“, vgl. BVerwG, Urt. v. 12. April 2018 – 3 A 10/15 –, NVwZ 2018, S. 1799 (1801, Rn. 33); zur Wiederentdeckung der Norm in der COVID-19-Pandemie nur A. Klafki, Mehr Parlament wagen? – Die Entdeckung des Art. 80 Abs. 4 GG in der Corona-Pandemie, NVwZ 2020, S. 1718 (1719): „Norm, die bislang ein Schattendasein in der Verfassungsrealität fristete“; J. Rauber, Die modifizierende Subdelegation von Verordnungsermächtigungen durch verordnungsvertretendes Gesetz, VerwArch 112 (2021), S. 205 (206): „bisher kaum mehr als eine Statistenrolle“; S. Dersarkissian, Originäre oder derivative Zuständigkeit der Länder? Drei Szenarien für Verordnungsermächtigungen bei konkurrierender Gesetzgebungszuständigkeit, DVBl. 2022, S. 696 (696): „verstärkt in den Fokus des rechtswissenschaftlichen Diskurses gerückt“. 25 E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 297; vgl. auch J. Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 285: „Zentrum der Verwaltungsrechtsdogmatik“; H. Bauer, Informelles Verwaltungshandeln im öffentlichen Wirtschaftsrecht, VerwArch 78 (1987), S. 241 (258): „zentrale[s] Schwerpunktthem[a] und […] Kernbestandteil“. Zur Bedeutung der Handlungsformenlehre als zentralem Forschungsgegenstand der Verwaltungsrechtswissenschaft vgl. etwa P. Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns, 1974; F. Ossenbühl, Die Handlungsformen der Verwaltung, JuS 1979, S. 681 – 687; E. Schmidt-Aßmann, Die Lehre von den Rechtsformen des Verwaltungshandelns, DVBl. 1989, S. 533 – 541; W. Pauly, Grundlagen einer Handlungsformenlehre im öffentlichen Recht, in: K. Becker-Schwarze/W. Köck/T. Kupka et al. (Hrsg.), Wandel der Handlungsformen im öffentlichen Recht, 1991, S. 25 – 45. 26 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 25), S. 298; Schmidt-Aßmann, Lehre (Fn. 25), S. 534.

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mals mit Otto Mayer zu sprechen – in der „flutende[n] Masse der Verwaltungstätigkeit […] dem Einzelnen Halt gewähren und ihn darüber sicherstellen, wohin es geht“.28 Dies ist zugleich von verfassungsrechtlicher Relevanz: In den Handlungsformen der Verwaltung werden die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für ein gutes, effektives und effizientes Handeln des Staates bereits grundlegend verarbeitet und internalisiert.29 Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes ist ein Staat, der die Bedeutung seiner Rechtsform bereits im Titel führt. Das Grundmuster seines Handelns folgt einer „Logik der Form“ und nicht einer „Logik der Tat“.30 Er denkt nicht vom Ausnahmezustand, sondern vom Normalzustand her. Während krisenhafte Situationen regelmäßig schnelle Reaktionen, die Bündelung von Zuständigkeiten und Kompetenzen sowie einen flexiblen Einsatz von Personal und sachlichen Mitteln erfordern, lebt der demokratische Verfassungsstaat von einem schwerfälligen parlamentarischen Prozess ebenso wie von langwierigen gerichtlichen Verfahren und der rechtsstaatlichen Ausformung seines Handelns in mal mehr, mal weniger standardisierten Rechts- und Handlungsformen.31 2. Die Handlungsformen als Bauprinzipien und Spiegel des Rechtswesens in Normal- und Krisenzeiten a) Rechtssystematischer Auftrag Die Handlungsformen – und vielleicht gerade sie – sind „ein Spiegel unseres Rechtswesens“.32 In der Zuweisung bestimmter definierter Rechtswirkungen liegt ein wesentliches Rationalitätspotential der administrativen Handlungsformen. Diese Rechtswirkungen kommen einem Verwaltungshandeln kraft seiner Handlungsform zu, ohne dass sie in jedem einzelnen Fall erst festgelegt oder gesetzestextlich expliziert werden müssten.33 Die sogenannte Freiheit der Formenwahl belässt der Verwaltung zwar Spielräume bei der Formung ihres Handelns, sodass die Hand27 Durch die Typisierung prägender Formen des Verwaltungshandelns wird dieses insgesamt berechenbarer und vorhersehbarer. Überdies wird die Einordnung von Handlungen, die nicht unmittelbar einer etablierten Handlungsform zuzuordnen sind, durch Möglichkeiten der Abgrenzung oder der Analogie erleichtert, vgl. F. v. Alemann/F. Scheffczyk, in: J. Bader/ M. Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, Stand: 1. April 2022, § 35 Rn. 27. 28 Mayer, Verwaltungsrecht I (Fn. 14), S. 92 f. 29 W. Kluth, Pandemierecht 4.0: Schlussfolgerungen aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 19. 11. 2021, VerfBlog, 2021/12/10. 30 U. Volkmann, Von der Logik der Form zur Logik der Tat, in: Bitburger Gespräche – Jahrbuch 2022, 2023, S. 51 – 67. 31 T. Barczak, Die Handlungsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaates in Krisenzeiten, in: Bitburger Gespräche – Jahrbuch 2022, 2023, S. 3. 32 Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 52. 33 A. Glaser, Die Entwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts aus der Perspektive der Handlungsformenlehre, 2013, S. 62; A. v. Bogdandy/J. Bast/F. Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, ZaöRV 62 (2002), S. 77 (111).

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lungsformen bis zu einem gewissen Grad als austauschbar erscheinen: Die Formenlehre zielt auf funktionale Zuordnung, nicht auf trennscharfe Abgrenzung.34 Neben rechtsverbindlichen Handlungsformgeboten und -verboten können aber die rechtstatsächlichen Rahmenbedingungen (konkreter oder abstrakter Sachverhalt, individueller oder genereller Adressatenkreis35) das Auswahlermessen steuern und die Wahl einer bestimmten Handlungsform einerseits rechtlich indizieren oder andererseits grundsätzlich ausschließen.36 Rechtssystematisch verfolgt die Handlungsformenlehre somit einen Doppelauftrag: Sie will zum einen das Verwaltungshandeln durch rechtliche Handlungsformen kanalisieren und rechtlich disziplinieren,37 zum anderen will sie der Verwaltung geeignete und flexibel einsetzbare Mittel zur recht- und zweckmäßigen Erfüllung ihrer Aufgaben an die Hand geben.38 Die Formenlehre zielt demnach sowohl auf die Rigidität als auch auf die Flexibilität des Verwaltungshandelns. Sie ermöglicht es der Verwaltung, Spannungszustände auszuhalten, und erhält die administrative Steuerungsleistung in Krisenzeiten aufrecht. Diese Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Rigidität und Flexibilität ist erforderlich, um eine Ausnahmelage rechtlich zu bewältigen und gleichzeitig die Stabilität des Gesamtsystems zu gewährleisten.39 In der Gleichzeitigkeit von Rigidität und Flexibilität bewährt sich das Verwaltungsrecht als resilientes Recht.40 b) Rechtskonstruktive Schlüsselstellung Das Institut der Handlungsform ist eine dogmatische Errungenschaft, durch welche sich der moderne Rechtsstaat von der Formenbeliebigkeit in absolutistischer Zeit abhebt.41 Die Form firmiert als „Feindin der Willkür“ und „Zwillingsschwester der 34 35

(26). 36

H. Hill, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, NVwZ 1989, S. 401 (406). Statt aller F. Schoch, Die Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 VwVfG), Jura 2012, S. 26

Zu den Grenzen der Formenwahlfreiheit statt vieler Siegel, Verwaltungshandeln (Fn. 23), § 157 Rn. 3. Infolgedessen von einer „wenig glücklich[en]“ Bezeichnung ausgehend Schmidt-Aßmann, Lehre (Fn. 25), S. 535. 37 M. Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 286 (292): „rechtliche Disziplinierung von Herrschaft durch Formgebung“. 38 Ossenbühl, Handlungsformen (Fn. 25), S. 681. 39 K. Harms, Verfassungsrecht in Umbruchsituationen, 1999, S. 262 f.; zustimmend G. F. Schuppert, Verfassungsverwirklichung, Verfassungsvoraussetzungen, Verfassungsverständnisse, in: J. J. Hesse/G. F. Schuppert/K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 297 (300 f.). 40 Im Einzelnen Barczak, Staat (Fn. 10), S. 605 ff., 612 ff., m. w. N. 41 H. Kube, Vom Gesetzesvorbehalt des Parlaments zum formellen Gesetz der Verwaltung?, NVwZ 2003, S. 57 (57). Ob der Landesherr die Wohlfahrt seiner Untertanen durch Edikte, Patente, Mandate, Deklarationen oder eben durch Gesetze beförderte, war ohne wesentliche Bedeutung.

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Freiheit“.42 Bei den Formungen administrativen Handelns geht es nicht um bloße Förmelei. Vielmehr verbinden sich mit den Handlungsformen der Verwaltung von der Verwaltungsvorschrift über den Einzelverwaltungsakt bis hin zur Rechtsverordnung sowohl grundlegende rechtsstaatliche Anforderungen als auch Grundfragen demokratischer Legitimation.43 Selbst das informale bzw. informelle, im Wortsinne „formlose“ Verwaltungshandeln ist mittlerweile von Rechtsprechung und Dogmatik in einer Weise systematisiert und strukturiert („formalisiert“) worden, dass man wie selbstverständlich von einer eigenständigen Handlungsform der Verwaltung spricht.44 Rechtskonstruktiv tragen die Handlungsformen mit ihrer Entlastungsfunktion zur Komplexitätsreduktion bei.45 Weil die Lehre von den Handlungsformen die administrativen Handlungsweisen dogmatisch typologisiert und typisiert hat, müssen die für die jeweilige Maßnahme geltenden Rechtmäßigkeitsanforderungen, Fehlerfolgen und Rechtsschutzmöglichkeiten nicht in jedem einzelnen Fall neu erarbeitet werden. Auf diese Weisen bilden die Handlungsformen den Schlüssel zur Fehlerfolgen- und Bestandskraftlehre46 genauso wie zu unserem handlungsformakzessorischen Rechtsschutzsystem, sei es im Bereich des Primärrechtsschutzes,47 sei es – zumindest cum grano salis – im Bereich des Staatshaftungsrechts: Zwar liegt dem öffentlichen Re-

42

Beide Zitate nach R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung 2,2, 3. Aufl. 1875, S. 471. 43 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch T. I. Schmidt, Das Parlament in der Pandemie zwischen Notverordnungsrecht und Notausschuss, DVBl. 2021, S. 231 (234). 44 Nur beispielhaft B. Remmert, Handlungsformen der Verwaltung, in: D. Ehlers/H. Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 17 Rn. 3; M. Fehling, Informelles Verwaltungshandeln, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 3. Aufl. 2022, § 37 Rn. 1 ff.; zurückhaltender noch Bauer, Wirtschaftsrecht (Fn. 25), S. 258: „[B]egrifflich sperrt sich informales Verwaltungshandeln […] gegen eine Einordnung in das Gefüge der administrativen Handlungsformen, was Anlaß zu der Frage gibt, ob entsprechende Bemühungen nicht auf eine contradictio in adjecto hinauslaufen“ (Hervorhebungen im Original). 45 Remmert, Handlungsformen (Fn. 44), § 17 Rn. 13; Ossenbühl, Handlungsformen (Fn. 25), S. 681 f. 46 Allgemein U. Di Fabio, System der Handlungsformen und Fehlerfolgenlehre, in K. Becker-Schwarze/W. Köck/T. Kupka et al. (Hrsg.), Wandel der Handlungsformen im öffentlichen Recht, 1991, S. 47 – 65; exemplarisch R. Brinktrine, Fehlerfolgen bei Verwaltungsakten und Satzungen, Jura 2021, S. 1036 – 1053; zusammenfassend VGH Mannheim, Urt. v. 13. März 1987 – 5 S 2079/86 –, VBlBW 1987, S. 377 (380). 47 Allgemein Remmert, Handlungsformen (Fn. 44), § 17 Rn. 10 ff.; D. Ehlers, Systematik der verwaltungsgerichtlichen Klagetypen, Klagearten und Entscheidungsvarianten, in: D. Ehlers/F. Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, § 26 Rn. 10; W. Erbguth/A. Guckelberger, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 2020, § 11 Rn. 3 f.; für den vorliegenden Kontext speziell Klafki, Anwendungsfälle (Fn. 2), S. 511; M. Marquardsen/ J. Gerlach, Die Corona-Pandemie in der verwaltungsrechtlichen Prüfung, JA 2020, S. 721 (722).

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aktions- und Haftungsrecht48 grundsätzlich eine allgemeine, nicht originär handlungsformakzessorische Verletzungsreaktionsdogmatik zugrunde;49 die handlungsformspezifische Positivierung des Primärrechtsschutzes hat jedoch maßgeblich auf die Dogmatisierung des Sekundärrechtsschutzes zurückgewirkt.50 Dies zeigt sich etwa beim Ausschluss der Haftung für normatives (legislatives) Unrecht, welcher zwar bei Rechtsverordnungen, nicht jedoch bei Allgemeinverfügungen zum Tragen kommt.51 Von der Wahl der Handlungsform hängt das Maß der normativen Regelungsdichte ab, das traditionell beim Verwaltungsakt besonders hoch ist.52 Sie ist darüber hinaus maßgeblich für die Frage der Vollstreckbarkeit: Während etwa die Anordnung der Maskenpflicht im Wege einer Allgemeinverfügung – als Verwaltungsakt (vgl. § 35 Satz 2 VwVfG) kommt ihr Titelfunktion zu – nur mit den Mitteln und unter den strengen Voraussetzungen (Androhung, Fristsetzung, Festsetzung) des Vollstreckungsrechts zwangsweise durchsetzbar ist, wird eine Maskenpflicht auf der Grundlage einer Rechtsverordnung Teil des Schutzguts „öffentliche Sicherheit“ und lässt sich bereits durch gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen wie einen Platzverweis53 oder eine Ingewahrsamnahme54 behördlich „vollstrecken“.55

48 Programmatisch B. J. Hartmann, Öffentliches Haftungsrecht, 2013 und H. Sauer, Öffentliches Reaktionsrecht, 2021. 49 Für den spezialgesetzlichen Entschädigungsanspruch wegen eines Betätigungsverbots nach § 56 Abs. 1 IfSG vgl. B. M. Quarch/D. Geissler, Entschädigungsregelungen nach dem IfSG unter Berücksichtigung der COVID-19-Maßnahmen, in: B. M. Quarch/D. Geissler/ P. Plottek et al. (Hrsg.), Staatshaftung in der Coronakrise, 2021, § 3 Rn. 25 ff.; für die ergänzend anwendbare, vom IfSG nicht gesperrte (a. A. LG Heilbronn, Urt. v. 29. April 2020 – I 4 O 82/20 – COVuR 2020, S. 142 [143, Rn. 21]; offenlassend F. Shirvani, Staatshaftung in der Pandemie, in: M. Schmoeckel [Hrsg.], Herausforderung der Rechtsordnung durch die Pandemie, 2021, S. 127 [132 f.]) Haftung nach allgemeinem Sicherheits- und Ordnungsrecht vgl. T. Dünchheim/S. Gräler, Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche wegen COVID-19bedingter Anordnungen zur Schließung von Verkaufsstätten in der Bundesrepublik Deutschland, VerwArch 112 (2021), S. 38 (46). 50 Allgemein B. Grzeszick, Rechte und Ansprüche, 2002, S. 61 ff., 168. 51 Vgl. im Kontext der Pandemie M. Gerhold/T. Öller/S. Strahl, Kommt die öffentliche Hand ungeschoren davon?, DÖV 2020, S. 676 (679 f.). 52 Statt vieler Ipsen, Verwaltungsrecht (Fn. 25), Rn. 285. 53 Beispielhaft VG München, Beschl. v. 9. Oktober 2020 – M 7 S 20.4171 –, BeckRS 2020, 27794, Rn. 20 ff. 54 Für den Fall eines beharrlichen Maskenpflichtverstoßes BGH, Beschl. v. 8. Februar 2022 – 3 ZB 4/21 –, COVuR 2022, S. 303 (305 f., Rn. 13 ff.). 55 Vgl. R. Poscher, Das Infektionsschutzrecht als Gefahrenabwehrrecht, in: S. Huster/ T. Kingreen (Hrsg.), Handbuch Infektionsschutzrecht, 2. Aufl. 2022, 4. Kap. Rn. 85.

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c) Rechtspraktische Bedeutung Rechtspraktisch kommt den Handlungsformen eine viel zitierte Speicherfunktion56 zu: Danach müssen die Handlungsformen aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht vor allem praktikabel und effizient, wirtschaftlich, zeitgerecht und situationsangemessen sowie flexibel und akzeptabel sein.57 Die Pandemie hat schonungslos offengelegt, dass gerade diese weichen Maßstäbe des Verwaltungshandelns – mehr als jede „harte“ verwaltungs- oder verfassungsgerichtliche Kontrolle am Maßstab der Recht- und Verfassungsmäßigkeit – über den Fortbestand einer Corona-Beschränkung entschied. In Anbetracht eines hoch dynamischen Infektionsgeschehens sowie aufgrund der Abhängigkeit vom wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, der letztlich die rationalisierende Taktung der Maßnahmen vorgab, gewannen insbesondere die Aspekte der Flexibilität, Situationsangemessenheit und Akzeptabilität, d. h. der Akzeptanzfähigkeit bei den jeweiligen Maßnahmenadressaten, eine herausgehobene Bedeutung. So war das Narrativ, dieser oder jener regionale Unterschied im Instrumentenkasten des Krisen- und Notstandsrechts sei „den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr vermittelbar“,58 ein wesentliches Argument für die Einführung der bundeseinheitlichen Notbremse in § 28b IfSG.59 Bedeutung und Tragweite der Handlungsformen stehen dabei allerdings nach wie vor in einem erstaunlichen Kontrast zur mangelnden Einigkeit über ihren Inhalt und ihre Abgrenzung von Komplementärbegriffen wie Rechtsform oder Bewirkungsform.60 Wenn im Folgenden die Begriffe „Handlungsform“ und „Rechtsform“ weitgehend synonym gebraucht werden, so wird damit die von der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft vorgeschlagene begriffliche Differenzierung zwischen diesen beiden Facetten bewusst nicht aufgegriffen. Die begriffliche Differenzierung zwi56 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 25), S. 298; aufgegriffen von Glaser, Entwicklung (Fn. 33), S. 62; v. Alemann/Scheffczyk (Fn. 27), § 35 Rn. 27; M. Meier, Verhaltenswissenschaftlich inspiriertes Verwaltungshandeln, 2021, S. 86; W. Pauly, Der Regelungsvorbehalt, DVBl. 1991, S. 521 (522); Bauer, Verwaltungsrechtslehre (Fn. 22), S. 310; v. Bogdandy/Bast/ Arndt, Unionsrecht (Fn. 33), S. 111. 57 R. Stober/S. Korte, Zur Vielfalt und Typisierung des Verwaltungshandelns, in: H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober/W. Kluth, Verwaltungsrecht I, 13. Aufl. 2017, § 44 Rn. 8. 58 Dazu nur H. Kühne, Corona und Bundesstaat: Wie der deutsche Föderalismus in der Krise unter seinen Möglichkeiten bleibt, VerfBlog 2021/2/25. 59 Eingefügt mit Wirkung v. 23. April 2021 durch Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 22. April 2021 (BGBl. I S. 802). Zu den Erwägungsgründen vgl. BT-Drs. 19/28444, S. 8: „Festzustellen ist gegenwärtig eine bundesuneinheitliche Auslegung der gemeinsam von den Ländern in der regelmäßig stattfindenden Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Maßnahmen“. 60 W. Hoffmann-Riem/M. Bäcker, Rechtsformen, Handlungsformen, Folgenformen, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 3. Aufl. 2022, § 32 Rn. 1 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 66 ff.; Stober/Korte, Vielfalt (Fn. 57), § 44 Rn. 6; Meier, Verwaltungshandeln (Fn. 56), S. 86 ff.; eingehend zum Begriff der Handlungsform auch P. Reimer, Zur Theorie der Handlungsformen des Staates, 2008, S. 18 ff.; K. Lehr, Staatliche Lenkung durch Handlungsformen, 2009, S. 7 ff.

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schen Handlungs- und Rechtsform erscheint zwar heuristisch nützlich, sie würde jedoch im vorliegenden Kontext wichtige Erkenntnisse verschließen. Während der Pandemie ließ sich gerade beobachten – so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen –, dass sich die sachliche und grundbegriffliche Unterscheidung der Handlungs- und Rechtsformen bereits frühzeitig aufzulösen begann. Die Formen wurden untereinander weitgehend austauschbar und vermischten sich bis zur vollständigen Unkenntlichkeit.

III. Die Pandemie als „Krise der Handlungsformenlehre“ 1. Die phasenweise Hochzonung der Handlungsform: Von der Normenhierarchie zur Rechtsschutzgarantie Damit sind wir bei den eigentlichen Handlungsformen der Krisenbewältigung während der Pandemie angelangt.61 Die verwaltungsrechtliche Formenlehre ist als ein „Gefüge von Instrumenten“62 zu verstehen, bei dem die spezifische Leistungsfähigkeit der einzelnen Formen – jeweils für sich als auch im Verhältnis untereinander – in den Blick genommen wird. Der arbeitende Verfassungsstaat konnte und kann für die Bewältigung der Corona-Krise auf eine ganze Reihe von formellen und informellen, gestaltenden und verfügenden, „harten“ und „weichen“, vollziehenden und kompensierenden, personellen und sachlichen, organisatorischen und verfahrensförmigen, privaten und öffentlichen, finanziellen und wirtschaftlichen Werkzeugen zurückgreifen. Diese Instrumente stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern ergänzen sich zu einem mehrstufig-verflochtenen und flexibel einsetzbaren Handlungssystem.63 Im Zentrum dieses komplexen Instrumentenmixes stehen nach wie vor die rechtsverbindlichen Handlungsformen und hier insbesondere das Zusammenspiel von Gesetz, Rechtsverordnung und Allgemeinverfügung.64 Informelles Verwaltungshandeln in Form von Verhaltensempfehlungen und -anreizen 61

Gesamtüberblick bei Marquardsen, Pandemie (Fn. 11), § 158 Rn. 34 – 50; für die Schweiz M. Wilhelm/F. Uhlmann, Handlungsformen in der Covid-19-Pandemie, Sicherheit & Recht/Sécurité & Droit 2021, S. 56 – 65; für Österreich H. Eberhard, Alte und neue verfassungs- und verwaltungsrechtliche Strategien zur Ermöglichung und Bändigung von Verwaltungsspielräumen in der Krise, ZöR 77 (2022), S. 137 (144 – 150); rechtsvergleichend zu den Handlungsformen auch M. Becker, Europa der Pandemie, in: M. Schmoeckel (Hrsg.), Herausforderung der Rechtsordnung durch die Pandemie, 2021, S. 43 (46 – 59); P. Schafmeister, Handlungsformenwahl in der Pandemiebekämpfung: verloren zwischen Rechtsverordnung, Allgemeinverfügung und Einzelverfügung?, in: E. J. Lohse/V. Derka/J. Grinc (Hrsg.), Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen der COVID-Pandemie in Europa, 2022, S. 69 – 84. 62 Schmidt-Aßmann, Dogmatik (Fn. 60), S. 67. 63 Kersten/Rixen, Verfassungsstaat (Fn. 15), S. 75 f. 64 Kersten/Rixen, Verfassungsstaat (Fn. 15), S. 76; Marquardsen, Pandemie (Fn. 11), § 158 Rn. 35; J. Röttger, #WirBleibenZuhause – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Ausgangsbeschränkungen als Mittel zur Pandemiebekämpfung, 2022, S. 49 ff., 61 ff., 68 ff.

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gab es während der COVID-19-Pandemie zwar ebenfalls zuhauf;65 es wurde jedoch im Laufe der Krise regelmäßig in rechtlich zwingende Handlungsanweisungen überführt.66 Dies gilt für das obligatorische Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes67 genauso wie für die – zumindest „einrichtungsbezogene“ – Impfpflicht.68 Mit dem in Reaktion auf die SARS-Pandemie 2002/2003 und die weltweite Verbreitung von H5N1 aufgestellten Nationalen Pandemieplan (NPP) stand schließlich ein planerisches Mittel der Infektionsschutz- bzw. Katastrophenvorsorge zur Verfügung.69 Der Plan bildet jedoch weder eine selbstständige Handlungsformenkategorie noch lässt er sich generell einer der verwaltungsrechtlichen Handlungsformen zuordnen. Die Regelungskraft des NPP erschöpfte sich vielmehr in einer unverbindlichen Handlungsempfehlung.70 Das Zusammenspiel von Gesetz, Rechtsverordnung und Allgemeinverfügung ist geprägt vom Stufenaufbau unserer Rechtsordnung: So rangiert der Verwaltungsakt, auch in seiner Spielart als Allgemeinverfügung, nach dem rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes auf der untersten Ebene und muss somit sowohl gesetzes- als auch verordnungskonform sein, während der Vorrang des Parlamentsgesetzes vor der Rechtsverordnung verfassungskräftig aus Art. 80 Abs. 1 GG folgt.71 Steigt man diese drei 65

Dazu stellvertretend L. C. Kaiser, Public Nudging und Corona, in: B. Frevel/T. Heinicke (Hrsg.), Managing Corona – Eine verwaltungswissenschaftliche Zwischenbilanz, 2021, S. 193 – 201; J. Kruse/S. Maturana, Nudging COVID-19: Die sanfte Alternative zum infektionsrechtlichen Zwang, NVwZ 2021, S. 1669 – 1673. 66 Marquardsen, Pandemie (Fn. 11), § 158 Rn. 50 f. 67 Im Frühsommer 2020 in sämtlichen Bundesländern für bestimmte Situationen im öffentlichen Raum eingeführt, vgl. exemplarisch § 4 Abs. 2 Satz 3 (Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime), § 6 Satz 1 Nr. 2 (Gottesdienste), § 8 Satz 1 (ÖPNV) und § 13 Abs. 4 Satz 2 (Gastronomie) der Vierten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (4. BayIfSMV) v. 5. Mai 2020 (BayMBl. Nr. 240, Nr. 245). 68 Vgl. § 20a IfSG, eingefügt mit Wirkung v. 12. Dezember 2021 durch Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie v. 10. Dezember 2021 (BGBl. I S. 5162). Zur Verfassungskonformität der Norm BVerfG, Beschl. v. 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, NVwZ 2022, S. 950 (954 ff., Rn. 108 ff.). 69 Näher M. Pflug, Pandemievorsorge – informationelle und kognitive Regelungsstrukturen, 2013, S. 175 ff. 70 T. Kingreen, Grundlagen des Infektionsschutzrechts, in: S. Huster/T. Kingreen (Hrsg.), Handbuch Infektionsschutzrecht, 2. Aufl. 2022, 1. Kap. Rn. 114; Pflug, Pandemievorsorge (Fn. 69), S. 178; M. Kloepfer/S. Deye, Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung, DVBl. 2009, S. 1208 (1215); A. Walus, Pandemie und Katastrophennotstand, DÖV 2010, S. 127 (132): weder Verwaltungsakt noch Verwaltungsvorschrift, sondern rechtlich unverbindliche Handlungsempfehlung und Instrument indirekter Verhaltenssteuerung. 71 Eine Regelung wie § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG (in der Fassung des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 27. März 2020 [BGBl. I S. 587]), die zu gesetzesändernden bzw. gesetzesverändernden Rechtsverordnungen ermächtigte, ist vor diesem Hintergrund verfassungsrechtlich besonders rechtfertigungsbedürftig, vgl. A. Guckelberger, Flexiblere Abänderung von Rechtsvorschriften aufgrund der Corona-Pandemie?, DVBl. 2021, S. 1441 (1443 ff.); T. Kingreen, Der demokratische Rechtsstaat in der Corona-Pandemie, NJW 2021, S. 2766 (2767).

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Stufen der Normenpyramide empor, so nimmt spiegelbildlich mit jedem Schritt der Umfang des möglichen fachgerichtlichen Rechtsschutzes ab: Auf der untersten Ebene des Verwaltungsakts steht mit Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) und einstweiligem Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO noch der gesamte Instanzenzug der richterlichen Kontrolle samt allfällig vorgeschalteter Selbstkontrolle der Behörde im Widerspruchsverfahren (§ 68 VwGO) und anschließender verfassungsgerichtlicher Überprüfung im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) oder konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) der zugrundeliegenden Ermächtigungsgrundlage zur Verfügung. Demgegenüber beginnt die fachrichterliche Kontrolle von Rechtsverordnungen nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO erst in der zweiten Instanz mit zugangserschwerendem Anwaltszwang (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO).72 Gegen Parlamentsgesetze steht der Rechtsweg hingegen prinzipiell nicht offen (vgl. § 93 Abs. 3 BVerfGG, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG73). Fachgerichtlicher Rechtsschutz existiert auf dieser Ebene nur noch in der apokryphen und prozessual alles andere als gesicherten Form atypischer Feststellungsund Unterlassungsklagen (vgl. § 43 Abs. 1 und 2 VwGO),74 im Übrigen bleibt hier nur die Verfassungsbeschwerde.75 An der Spitze der Normenpyramide wird die Luft spürbar dünner. Dieses „Dreistufen-Modell“ von Normenhierarchie und korrespondierendem Rechtsschutz hat im Kontext der COVID-19-Pandemie eine herausgehobene Bedeutung erlangt. So lässt sich die staatliche Krisenbewältigungsstrategie relativ klar in drei Phasen einteilen, in denen jeweils eine Handlungsform dominierte (dazu sogleich 2.).76 Dies war zunächst die lokale, regionale oder landesweite Allgemeinverfügung, sodann folgte die Landesrechtsverordnung, die schließlich vom Bundesparlamentsgesetz abgelöst wurde. In der zusammenfassenden Rückschau lässt sich eine zunehmende Verlagerung von den unteren auf die oberen Ebenen feststellen, also von der Allgemeinverfügung zur Rechtsverordnung und von hier in das Parlamentsgesetz 72 Für den vorliegenden Kontext A. Guckelberger, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote anlässlich der Corona-Pandemie, NVwZ-extra 9a/2020, S. 1 (13); Herold, Rechtsschutz (Fn. 20), S. 1604 f. 73 Zur engen Auslegung des Begriffs „öffentliche Gewalt“ in diesem Kontext und dem Ausschluss parlamentarischer Gesetzgebung aus der Rechtsschutzgarantie statt aller E. Schmidt-Aßmann, in: G. Dürig/R. Herzog/R. Scholz (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4 (August 2020) Rn. 93 ff., m. w. N. 74 Explizit betont anlässlich der Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht nach § 20a IfSG, vgl. BVerfG, Beschl. v. 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 –, NVwZ 2022, S. 950 (953 f., Rn. 103), m. w. N. aus der Rspr. 75 Dazu jeweils m. w. N. T. Barczak, Feststellungsklage gegen Parlamentsgesetze und Subsidiarität der Rechtssatzverfassungsbeschwerde, in: M. Modrzejewski/K. Naumann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts V, 2019, S. 17 – 49; T. Barczak, Die negative Feststellungsklage als allgemeine Normenabwehrklage, DVBl. 2019, S. 1040 – 1049. 76 Entsprechende phasenweise Betrachtung bei Kingreen, Studium (Fn. 3), S. 1021 f.; mit anderweitiger Untergliederung der normativen Krisenbewältigung Kingreen, Grundlagen (Fn. 70), 1. Kap. Rn. 25 – 51 („sechs Etappen“).

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hinein, dies aber jeweils in einer Weise, die die charakteristischen Elemente der jeweils unteren Ebene in sich aufgenommen hat.77 Die staatliche Krisenbewältigung war von einer schleichenden Hochzonung und Zentralisierung der Maßnahmen geprägt, obschon Inhalt und Adressaten dieser Maßnahmen ebenso weithin deckungsgleich blieben wie der jeweilige Anlass. In der Pandemie dominierte eine „Logik der Tat“, welche die „Logik der Form“ vollständig beiseiteschob.78 Diese Indifferenz gegenüber der Handlungsform ist mit der Freiheit der Formenwahl weder zu erklären noch zu rechtfertigen. Sie erinnert an die „absolutistische Formenbeliebigkeit“79 und kann eine auf Systematisierung und Typologisierung bedachte Formenlehre nicht unberührt lassen. Die Handlungsformen orientieren sich am Idealbild der gesetzlich gebundenen Verwaltung und der regulativen Idee der einzig richtigen Entscheidung.80 Infolge der mit ihr einhergehenden Entgrenzung und Entwertung der Handlungsform als verwaltungsrechtliches Grundmuster muss die Corona-Krise demnach zugleich als neuerliche „Krise der Formen-Lehre“81 erscheinen. Darin bestätigt sich jedoch nicht die vielbeschworene „Krise des regulativen Rechts“82 in der Risiko- und Sicherheitsgesellschaft, sondern lediglich die „Krise der gesellschaftlichen Erwartungen“83 an die Leistungsfähigkeit normativer Steuerung und Formung staatlichen Handelns. 2. Die schleichende Entwertung der Handlungsform: Von „verkleideten Rechtsnormen“ und „kostümierten Polizeiverfügungen“ Die Systematik der regelnden Handlungsformen orientiert sich im Verwaltungsrecht an den Unterscheidungen von konkretem oder abstraktem Ereignisbezug einer77

Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 53. Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 56 ff.; vgl. auch Schulte, Pandemierecht (Fn. 21): „als reine ,Förmelei‘ verstanden“. 79 Kube, Gesetzesvorbehalt (Fn. 41), S. 57. 80 A. Voßkuhle, Allgemeines Verwaltungs- und Verwaltungsprozeßrecht, in: D. Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 935 (939). Zu der „These von der einen richtigen Entscheidung“ als „fromme[r] Lebenslüge der Verwaltungsgerichtsbarkeit“ vgl. H. Meyer, Die Kodifikation des Verwaltungsverfahrens und die Sanktion für Verfahrensfehler, NVwZ 1986, S. 513 (521), unter Verweis auf R. A. Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, 1979, S. 20 ff. 81 B. Kempen, Die Formenwahlfreiheit der Verwaltung, 1989, S. 89; vgl. auch R. SchmidtDe Caluwe, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers, 1999, S. 9. 82 Vertreter dieser „These von der Krisis des Ordnungsrechts“ (J. P. Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016, S. 91) sind K. Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 51 – 68; R. Wolf, Zur Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft, Leviathan 15 (1987), S. 357 – 391; U. K. Preuß, Krise des regulativen Rechts, KJ 32 (1999), S. 126 – 132. 83 O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, S. 19. 78

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seits und individuellem oder generellem Adressatenkreis andererseits.84 Während der Corona-Pandemie reagierten die Behörden auf ein konkretes, aber zugleich kaum eingrenzbares Pandemiegeschehen, das generelle Auswirkungen zeitigte, da es potenziell jedermann betreffen konnte. Da namentlich die Abgrenzung zwischen Allgemeinverfügung und Rechtsverordnung traditionell schwierig ist,85 verwundert es im Ansatz nicht, dass Unsicherheiten hinsichtlich der zu treffenden Handlungsform aufkamen. a) Erste Phase: Die Allgemeinverfügung als spezifisch seuchenpolizeiliche Handlungsform In der ersten Phase der Corona-Pandemie ab dem März 2020 haben zunächst Landkreise, die besonders früh von der Ausbreitung des Virus betroffen waren, die Handlungsform der Allgemeinverfügung genutzt, um Corona-Maßnahmen zu erlassen, also beispielsweise Ausgangsbeschränkungen zu verhängen oder kulturelle, soziale, sportliche und wirtschaftliche Veranstaltungen mit dem Ziel der Pandemieeindämmung zu verbieten.86 Auch einzelne Landesregierungen griffen zunächst zu Allgemeinverfügungen, mit denen etwa flächendeckende Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen verhängt wurden. Individuelle Maßnahmen im Sinne des klassischen Einzelverwaltungsakts nach § 35 Satz 1 VwVfG – etwa in Gestalt von Quarantäne- und Absonderungsanordnungen – gab es zwar auch, sie traten aber in ihrer praktischen Bedeutung wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung fast vollständig hinter die generellen und in die Breite wirkenden Maßnahmen zurück.87 Das entspricht der allgemeinen Wahrnehmung der Pandemie als ein gesamthaftes, diffuses und im Kern subjektloses Geschehen, das folgerichtig auch nur durch gleichermaßen gesamthafte, auf die Bevölkerung im Ganzen zielende Regeln in Schach gehalten werden kann.88 Die rechtliche Grundlage für landesweite Allgemeinverfügungen bildete § 28 Abs. 1 IfSG. Die generalklauselartige Fassung der Norm wurde dabei von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zumindest „vorübergehend“,89 „innerhalb eines be84

Siehe oben II.1. Vgl. BT-Drs. 7/910, S. 57 (VwVfG-Entwurf): „Besondere Schwierigkeiten bereitet in der Praxis die Abgrenzung zwischen Rechtsnorm und Allgemeinverfügung, die ein Verwaltungsakt ist“. Geradezu „klassisch“ ist der Streit um die Einordnung von Verkehrszeichen als Rechtsverordnung (so noch VGH München, Urt. v. 21. Dezember 1977 – Nr. 141 XI/76 –, NJW 1978, S. 1988 [1989 ff.]) oder Allgemeinverfügung (so mittlerweile BVerwG, Urt. v. 11. Dezember 1996 – 11 C 15/95 –, BVerwGE 102, 316 [318], m. w. N.). 86 Kersten/Rixen, Verfassungsstaat (Fn. 15), S. 76; Mengeler, Ausgangssperre (Fn. 23), S. 29 ff.; mit eigenen empirischen Erhebungen auch Schulte, Pandemierecht (Fn. 21). 87 Marquardsen, Pandemie (Fn. 11), § 158 Rn. 18. 88 Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 53. 89 H.-J. Papier, Freiheitsrechte in Zeiten der Pandemie, DRiZ 2020, S. 180 (183). Als Daumenregel mögen hier drei bis sechs Monate gelten. 85

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grenzten Zeithorizonts“90 bzw. für einen „gewissen Erstreaktionszeitraum“91 hingenommen,92 wobei man sich auf den gleitenden Charakter der Wesentlichkeitslehre stützen konnte.93 Die Wahl der Allgemeinverfügung führt zu einer Modifizierung verwaltungsverfahrensrechtlicher Gebote; sie gestattet ein Absehen von der Anhörungs- (§ 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG), Begründungs- (§ 39 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG) und individuellen Bekanntgabepflicht (§ 41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG), was sie als Krisenreaktionsmaßnahme besonders geeignet erscheinen lässt.94 Die Allgemeinverfügung schien aber auch darüber hinaus zur Pandemiebewältigung geradezu prädestiniert, wurde ihre Ausformung zu einer eigenständigen Handlungsform des Verwaltungsrechts doch maßgeblich mit seuchenpolizeilichen Erwägungen begründet. Richard Thoma, der als Schöpfer dieser Handlungsform firmiert, nennt im Jahr 1906 als paradigmatischen Anwendungsfall der Allgemeinverfügung eine Viehseuche, anlässlich derer allen Viehbesitzern zur Verhütung einer konkreten Gefahr allgemeine Vorgaben gemacht werden.95 In seinem berühmten Endiviensalat-Fall aus dem Jahr 1961 hatte sich das Bundesverwaltungsgericht96 ebenfalls mit einer seuchenpolizeilichen Thematik – dem epidemischen Auftreten von Typhus im Großraum Stuttgart – zu befassen und sah die Allgemeinverfügung als taugliche Handlungsform an: Gegenstand und Anlass des an alle Groß- und Kleinhändler gerichteten Salatverkaufsverbots sei „ein einzelnes reales Vorkommnis“, nämlich der konkrete Seuchenausbruch; 90

U. Volkmann, Der Ausnahmezustand, VerfBlog 2020/3/20. S. Kluckert, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen des Infektionsschutzrechts, in: S. Kluckert (Hrsg.), Das neue Infektionsschutzrecht, 2. Aufl. 2021, § 2 Rn. 99. Diesen „Erstreaktionszeitraum“ überdehnend BayVerfGH, Entsch. v. 21. Oktober 2020 – Vf. 26-VII-20 –, ZD 2021, S. 33 (34 f.) – Kontaktdatenerfassung zur Rückverfolgung von Infektionsketten. 92 Vgl. dazu auch Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IfSG, Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik, Juni 2022, S. 22: „Ziel der Maßnahmen war in der ersten Phase der Pandemie vor allem ein dringend benötigter Zeitgewinn […]“. 93 Rechtstechnisch beinhaltet die Wesentlichkeitslehre „eine Art Gleitformel“ (begriffsprägend wohl Hartmut Maurer, vgl. jetzt H. Maurer/C. Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 6 Rn. 14; siehe ferner D. Ehlers, in: D. Ehlers/H. Pünder [Hrsg.], Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 2 Rn. 45; B. Pieroth, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, JuS 2010, S. 473 [477]; A. Leisner-Egensperger, Impfpriorisierung und Verfassungsrecht, NJW 2021, S. 202 [203]): Je wesentlicher eine Angelegenheit für die Bürgerinnen und Bürger und/oder die Allgemeinheit ist, desto höhere Anforderungen werden an den Gesetzgeber gestellt. Das unbestimmte Kriterium der „Wesentlichkeit“ ist offen für eine einzelfallbezogene Auslegung und Abwägung und lässt sich somit flexibel und situationsadäquat einsetzen. Darin liegt der große Vorzug der Wesentlichkeitslehre, bei aller durchaus berechtigten Kritik an ihrer mangelnden Abgrenzungsschärfe (vgl. nur K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 548: „Leerformel“; K.-H. Ladeur/T. Gostomzyk, Der Gesetzesvorbehalt im Gewährleistungsstaat, DV 36 [2003], S. 141 [147]: „kaum Konturen jenseits der Kasuistik“). 94 Siegel, Krisenmodus (Fn. 5), S. 579; Hildebrandt, Steuerungsinstrument (Fn. 23), S. 34. 95 R. Thoma, Der Polizeibefehl im Badischen Recht I, 1906, S. 64 f. 96 BVerwG, Urt. v. 28. Februar 1961 – BVerwG I C 54/57 –, BVerwGE 12, 87 ff. 91

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dem Umstand, dass „der Kreis der Adressaten des Verkaufsverbots im Zeitpunkt seines Erlasses nicht genau bestimmbar war“, wurde angesichts der Bekämpfung einer konkreten Gefahr „kein entscheidendes Gewicht beigemessen“.97 Gleichwohl wurden im Jahr 2020 in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung verfassungsrechtliche Zweifel laut, ob im Wege der Allgemeinverfügung landesweite Pandemie-Maßnahmen verhängt werden können. So zeichneten sich die bislang anerkannten Fallgruppen – Stichwort: „Endiviensalat“ – durch eine engere räumliche und zeitliche Begrenzung aus, wodurch auch der Adressatenkreis bestimmt oder zumindest bestimmbar blieb.98 Die anfängliche Wahl der Allgemeinverfügung zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie war insofern ein „Beleg für das vorausgesetzte Katastrophenbild der zeitlich und gegenständlich in überschaubaren Zeiträumen regelbaren Großschadenslage“.99 Je weniger sich die pandemische Bedrohung und die auf sie reagierenden behördlichen Maßnahmen jedoch zeitlich, örtlich und persönlich eingrenzen ließen, umso mehr musste der konkret-generelle Verwaltungsmodus der Allgemeinverfügung als handlungsformenwidrig – wenn nicht gar -missbräuchlich – erscheinen. Mit Blick hierauf hielt etwa das Verwaltungsgericht München eine landesweite Ausgangsbeschränkung per Allgemeinverfügung für rechtswidrig, weil es sich dabei um eine „in das Gewand eines Verwaltungsaktes gekleidete, beinahe verkleidete Rechtsnorm“ handele.100 Die Maßnahme richte sich an jedermann und betreffe somit gerade keinen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis, wie er von § 35 Satz 2 VwVfG vorausgesetzt werde.101 Man könnte auch sagen, es handelte sich um einen Verwaltungsakt „mit einem millionenfachen Adressatenkreis“.102

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BVerwG, Urt. v. 28. Februar 1961 – BVerwG I C 54/57 –, BVerwGE 12, 87 (89, 90); ablehnend Schoch, Allgemeinverfügung (Fn. 35), S. 27; vgl. auch Hildebrandt, Steuerungsinstrument (Fn. 23), S. 32; Poscher, Gefahrenabwehrrecht (Fn. 55), 4. Kap. Rn. 79. 98 Vgl. auch Siegel, Verwaltungshandeln (Fn. 23), § 157 Rn. 15. 99 C. Gusy, Katastrophenrecht, GSZ 2020, S. 101 (104). 100 So in einem Doppelbeschluss zu den Ausgangsbeschränkungen anlässlich der CoronaPandemie das VG München, Beschl. v. 24. März 2020 – M 26 S 20.1255 –, NVwZ 2020, S. 651 (653, Rn. 24); Beschl. v. 24. März 2020 – M 26 S 20.1252 –, COVuR 2020, S. 163 (165, Rn. 24); zustimmend C. Kreuter-Kirchhof, Arten von Verwaltungsakten, in: W. Kahl/ M. Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts V, 2023, § 143 Rn. 36; Poscher, Gefahrenabwehrrecht (Fn. 55), 4. Kap. Rn. 82; K. F. Gärditz/M. K. Abdulsalam, Rechtsverordnungen als Instrument der Epidemie-Bekämpfung, GSZ 2020, S. 108 (112); M. Kloepfer, Verfassungsschwächung durch Pandemiebekämpfung?, VerwArch 112 (2021), S. 169 (185): „Grenze zu abstrakt-generellen Regelungen klar überschritten“; a. A. F. Tholl, Staatshaftung und Corona, 2021, Rn. 154. 101 Vgl. auch A. K. Mangoldt, Relationale Freiheit. Grundrechte in der Pandemie, VVDStRL 80 (2021), S. 7 (22, in Fn. 49): „Da die Pandemiemaßnahmen als abstrakt-generelle Regelungen wirken, ist die konkret-individuelle [sic!] Form der Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 VwVfG eigentlich nicht passend“. 102 H. M. Heinig/T. Kingreen/O. Lepsius et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, S. 861 (871).

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b) Zweite Phase: Die Rechtsverordnung als Handlungsformenzwitter aus Rechtsnorm und Einzelakt Vor diesem Hintergrund wechselten die betroffenen Landesregierungen die Handlungsform: Anstelle der Allgemeinverfügung griff man nun zur Rechtsverordnung, was mit Blick auf die rechtliche Konzeption des Infektionsschutzgesetzes unproblematisch möglich und grammatikalisch wie systematisch naheliegend erschien,103 ermächtigt doch § 32 Satz 1 IfSG die Landesregierungen zur Pandemiebekämpfung „auch durch Rechtsverordnungen“ und unter schlichtem Verweis auf die Voraussetzungen für Einzelverwaltungsakte nach den §§ 28 ff. IfSG. Diese Systematik erwies sich im weiteren Verlauf der Pandemie indes als Blankoscheck zum Erlass beliebiger Maßnahmen, der auch über den bereits angesprochenen Erstreaktionszeitraum hinaus als solcher angenommen und eingelöst wurde.104 Die Folge war, dass der massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik praktisch ausschließlich im Verordnungswege erfolgte. Darüber ist seither viel gestritten und noch mehr geschrieben worden; für unser Thema soll ein Hinweis auf die damit einhergehende Entformalisierung105 genügen: Die Grundrechtsbeschränkung per Rechtsverordnung sah de facto zumeist so aus, dass die Ministerpräsidenten zusammen mit der Bundeskanzlerin und ausgewählten weiteren Mitgliedern der Bundesregierung berieten, das Ergebnis auf einer Pressekonferenz verkündeten und von den Landesregierungen am folgenden Tag in ihren Corona-Verordnungen umsetzen ließen. Es entschieden Gremien, die nicht öffentlich tagten, Gesprächsrunden, die in der Verfassung nicht vorgesehen waren, in einem Modus, für den es keine verfahrensrechtlichen Regelungen gab und bei denen nur das Endprodukt – eine Verordnung – irgendwie in die rechtsstaatliche Formentypik eingekleidet wurde.106 Die betreffenden Rechtsverordnungen waren Produkte aus der bundesstaatlichen „Dunkelkammer“.107 Hier drohte eine Wandlung der Staatsform von der parlamentarischen Demokratie in einen technokratischen Verwaltungsstaat.108 Mit dem Handlungsformenwechsel von der Allgemeinverfügung zur Rechtsverordnung ging zudem kein Substanz- oder Funktionswechsel einher. Vielmehr wanderte der Inhalt der Allgemeinverfügungen nahezu unbesehen in die entsprechenden Rechtsverordnungen ein. Ebenso wie die vorherigen Allgemeinverfügungen griffen 103 Vgl. Guckelberger, Ausgangsbeschränkungen (Fn. 72), S. 14; Gärditz/Abdulsalam, Rechtsverordnungen (Fn. 100), S. 111; S. Kluckert, Die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG im Spannungsverhältnis zwischen epidemiologischer Fachlichkeit, rechtsstaatlicher Machtbegrenzung und demokratischer Verantwortlichkeit, DVBl. 2021, S. 96 (97). 104 Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 55. 105 Optimistischer noch Schmidt-Aßmann, Dogmatik (Fn. 60), S. 77: „Für Verfallserzählungen, die von einer heilen Welt perfekter Förmlichkeit zu einer verwilderten Gegenwart führen wollen, bietet die Verwaltungsgeschichte keine Basis“. 106 Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 56. 107 Vgl. T. Barczak, Die „Stunde der Exekutive“ – Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel, RuP 56 (2020), S. 458 (461). 108 C. Waldhoff, Krise und Konstitution, Die Politische Meinung 66 (2021), S. 46 (50).

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die Verordnungen ohne weiteren Vollzugsakt unmittelbar in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger ein. Hier wurde zum ersten Mal die Austauschbarkeit von Handlungsformen – von administrativer Anordnung und exekutivischer Normsetzung – deutlich. In der Sache handelte es sich bei den betreffenden Verordnungen um „aggregierte Verwaltungsakte“109 mit einer Doppelnatur aus abstrakt-genereller Rechtsnorm und einzelfallbezogener Verfügung.110 Solche Handlungsformenzwitter wurden zwar auch in der Vergangenheit von der Rechtsprechung ein ums andere Mal hingenommen;111 ihnen ist jedoch zurecht mit Skepsis begegnet worden, da hierdurch die Steuerungs- und Orientierungsfunktion der Handlungsform konterkariert wird.112 c) Dritte Phase: Das Parlamentsgesetz als vorbildlose Handlungsform selbstvollziehender Vollregulierung Eine vergleichbare Hochzonung, Zentralisierung und Zusammenballung der Handlungsformen vollzog sich sodann im April 2021 mit der Verabschiedung der Bundesnotbremse im Verhältnis von Landesrechtsverordnung und Bundesparlamentsgesetz. Mit der Normierung der Bundesnotbremse in § 28b IfSG betätigte sich der Bundesgesetzgeber zugleich als „Bundesverordnungsgeber“ wie auch als „Bundeslandratsamt“.113 Hier löste sich die traditionelle Normenhierarchie weithin auf, indem die Grundmuster staatlichen Handelns im Verhältnis von Bund und Ländern, von Gesetzgebung und Verwaltung, von Normieren und Vollziehen, bis zur vollständigen Unkenntlichkeit amalgamiert wurden. Mit der Vergesetzlichung der Krisenbewältigung wurde zwar vordergründig den Forderungen nach einer Demokratisierung und Politisierung des Krisenmanagements Rechnung getragen, wie sie dem Parlamentsvorbehalt in seiner Ausdeutung durch die Wesentlichkeitslehre zu eigen sind. Zugleich wurden jedoch die Möglichkeiten effektiven Individualrechtsschutzes weiter eingeschränkt.114 109

Heinig/Kingreen/Lepsius et al., Constitution (Fn. 102), S. 871. Zu solchen Handlungsformenkollisionen allgemein Lehr, Lenkung (Fn. 60), S. 37 ff. 111 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 2. April 1993 – 7 B 38/93 –, NVwZ-RR 1993, S. 513 f. – Satzung und Verwaltungsakt; VGH Mannheim, Urt. v. 29. Juni 1995 – 5 S 1537/94 –, NVwZRR 1996, S. 495 – Verwaltungsakt und Verwaltungsinternum. Nicht anders verhält es sich bei der Verbindung von „Gesetz“ und „Maßnahme“ zum „Maßnahmegesetz“, vgl. dazu noch IV. 2. 112 Strikt ablehnend A. Voßkuhle, Der „relative Verwaltungsakt“ – eine unzulässige Handlungsform, SächsVBl. 1995, S. 54 – 57; differenzierend R. P. Schenke, Die Lehre von der Doppelnatur des Verwaltungshandelns, VerwArch 104 (2013), S. 486 – 501; offenlassend Maurer/Waldhoff, Verwaltungsrecht (Fn. 93), Vor § 9, S. 200. 113 H.-G. Dederer/K. Gierhake/M. Preiß, Ein Jahr Pandemie – eine Zwischenbilanz aus rechtsphilosophischer und verfassungsrechtlicher Perspektive, COVuR 2021, S. 454 (458). 114 Zu diesem Dilemma lakonisch G. Krings/H. Greve, Herausforderung der Rechtsordnung durch die Pandemie, in: M. Schmoeckel (Hrsg.), Herausforderung der Rechtsordnung durch die Pandemie, 2021, S. 31 (39): „Im Rechtsstaat muss halt auch die Rechtspolitik ge110

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Mit dem Vorbehalt des förmlichen Gesetzes ist bekanntlich einerseits eine Zuständigkeitszuweisung in dem Sinne verbunden, dass das Parlament und nur das Parlament die wesentlichen, insbesondere grundrechtsrelevanten Entscheidungen zu treffen hat. Über die Anknüpfung an das Wesentliche garantiert der Parlamentsvorbehalt die Zuweisung der politisch wie grundrechtlich wichtigen (Abwägungs-)Entscheidungen an das Parlament als „Zentralorgan der Demokratie“,115 „,Forum der Nation‘ und Ort der Debatte aktueller Probleme von zentraler Bedeutung“.116 Umgekehrt verhindert eine Beschränkung auf das Wesentliche eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments und belässt den anderen Gewalten – namentlich der Exekutive – ausreichend Raum für eigene normative Gestaltungen. Bei dem Verzicht auf das Unwesentliche und Banale handelt es sich zwar nicht um ein in gleicher Weise verbindliches Unwesentlichkeitsverbot,117 wohl aber um eine rechtspolitische Klugheitsregel.118 Diese Klugheitsregel hat man bei der „bundesunmittelbare[n] Vollregulierung“119 durch die Bundesnotbremse außer Acht gelassen. Das Gesetz regelte in insgesamt elf Absätzen in einer Kleinteiligkeit, die ihresgleichen sucht, alle sich möglicherweise stellenden Fragen und war bestrebt, jeden möglichen Anwendungsfall und seine möglichen Ausnahmen zu erfassen – von der Befreiung von der Ausgangssperre beim Ausführen des eigenen Hundes oder dem nächtlichen Sportbetreiben zwischen 22.00 und 24.00 Uhr (wohlgemerkt nur allein und nicht in Sportanlagen) bis hin zur präzisen Quadratmeteranzahl von Einzelhandelsgeschäften für die Nutzung der Möglichkeiten von Click and Meet. „Eine solche Regelung ist ohne Vorbild“.120

IV. Erträge einer „Handlungsformenlehre für Krisenzeiten“ 1. Die Differenzierung zwischen Normieren und Handeln als rechtskonstruktive Grundleistung Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Handlungsformenlehre ziehen? Welche Erträge verspricht eine – hier bewusst in Anführungszeichen gesetzte – legentlich Entscheidungen treffen, die nicht immer nur auf eine Maximierung von Rechtschutz UND demokratischer Legitimation hinauslaufen können“ (Hervorhebung im Original). 115 M. Morlok/C. Hientzsch, Das Parlament als Zentralorgan der Demokratie, JuS 2011, S. 1 (1). 116 H. Dreier, Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie in der Corona-Pandemie, DÖV 2021, S. 229 (242); vgl. auch O. Lepsius, Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie, RuP 56 (2020), S. 258 (260). 117 Dazu unten IV.1. 118 Dazu unten IV.2. 119 Unkritisch dagegen H. Hofmann, Das „Corona-Recht“ – Zwischen verfassungsgemäßer Rechtsetzung und operativ-notwendiger Krisenreaktion, ZG 36 (2021), S. 109 (118). 120 C. Möllers, Stellungnahme zum 4. BevSchG vor dem Gesundheitsausschuss am 16. April 2020, Ausschussdrucksache 19 (14)323(2), S. 1.

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„Handlungsformenlehre für Krisenzeiten“? Auf den ersten Blick könnte man sagen: keine. Wie alle anderen Formen ist auch die Gesetzesform zunächst nur eine äußere Hülle und insofern theoretisch für jeden Inhalt offen.121 Da selbst das Grundgesetz keinen einheitlichen Gesetzesbegriff kennt, werden unter „Gesetz“ schon seit langem unterschiedliche Inhalte subsumiert.122 Angesichts fließender Übergänge zwischen abstrakt-genereller und konkret-genereller Regelung steht es dem Hoheitsträger auch prima vista frei, in den Übergangsbereichen entweder die Form der Normsetzung oder der Einzelfallentscheidung zu wählen.123 Ein und dieselbe Rechtspflicht kann deshalb prinzipiell in wechselndem Gewande auftauchen: als parlamentsgesetzliche Pflicht, als Pflicht aus einer Rechtsverordnung oder Satzung oder als Pflicht auf der Grundlage eines Einzelverwaltungsakts bzw. einer Allgemeinverfügung.124 Ein Verbot des Erlasses kleinteiliger und somit vermeintlich überflüssiger Parlamentsgesetze lässt sich weder als allgemeines verfassungsrechtliches Gebot im Sinne eines „umgekehrten Wesentlichkeitsgrundsatzes“125 rekonstruieren, noch folgt es pauschal aus denjenigen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten, die Eingriffe nur „auf Grund“, nicht aber (auch) unmittelbar „durch“ ein förmliches Gesetz legitimieren.126 Sofern in der Formulierung der jeweiligen Vorbehalte ein Indiz gegen ein sich selbstvollziehendes, den Grundrechtseingriff unmittelbar bewirkenden Parlamentsgesetzes und für einen Verwaltungsvollzugsvorbehalt erkannt wird,127 überzeugt dies nicht. Ein entsprechender Wille des Verfassunggebers lässt sich bei den betreffenden Gesetzesvorbehalten nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit ermit121 Plastisch S. Graf Vitzthum, Linksliberale Politik und materiale Staatsrechtslehre (Albert Hänel 1833 – 1918), 1971, S. 143, der die Gesetzesform zu einem „mit Rechtswirkungen ausgestatteten bloßen Gehäuse für beliebige Inhalte“ erklärt. 122 Vgl. Hill, Verwaltungsvorschriften (Fn. 34), S. 403; B. Pieroth, Was bedeutet „Gesetz“ in der Verfassung, Jura 2013, 248 – 254. 123 Strenger Kloepfer, Verfassungsschwächung (Fn. 100), S. 185; großzügiger (jedenfalls zu Pandemiebeginn) VGH München, Beschl. v. 30. März 2020 – 20 CS 20.611 –, NJW 2020, S. 1240 (1241, Rn. 7); S. Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise, NJW 2020, S. 1097 (1100 f.). 124 Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 61. 125 So K.-A. Schwarz/L. Sairinger, Metamorphosen des Föderalismus in Krisenzeiten, NVwZ 2021, S. 265 (271). Das von Jürgen Salzwedel geprägte Bonmot der „umgekehrten Wesentlichkeitstheorie“ wird üblicherweise mit entgegengesetzter Stoßrichtung und als ironisierende Kritik insbesondere am Umwelt- und Technikrecht verstanden, wonach alles Wesentliche in diesem Rechtsgebiet nicht im Gesetz, sondern in unzähligen untergesetzlichen Regelwerken (DIN-Normen, technischen Anleitungen, etc.) normiert sei, vgl. R. Wahl, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VBlBW 1988, S. 387 (391); H. Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, S. 537 (542); A. Uhle, Die Rechtsverordnung, in: W. Kluth/G. Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 24 Rn. 10; A. v. Weschpfennig, Der Parlamentsvorbehalt in der Corona-Krise, DV 53 (2020), S. 469 (481). 126 Siehe Art. 2 Abs. 2 Satz 3, Art. 6 Abs. 3, Art. 10 Abs. 2 Satz 1, Art. 13 Abs. 7, Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG. 127 So etwa M. Morlok/L. Michael, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Rn. 583 ff., 586.

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teln.128 Im Gegenteil wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes nichts an der zulässigen Regelungstechnik (abstrakt-generelle Normsetzung) ändern, sondern sicherstellen, dass der parlamentarische Gesetzgeber an ihr beteiligt wird.129 Allerdings handelt es sich bei der Differenzierung zwischen Normieren und Handeln um eine rechtskonstruktive Grundleistung, die man nicht unter pauschalem Verweis auf die Freiheit der Handlungsformenwahl130 leichtfertig preisgeben sollte. Denn diese Differenzierung erfüllt spezifisch rechtsstaatliche Funktionen der Begrenzung, Mäßigung und Kontrolle staatlichen Handelns.131 2. Der Verzicht auf selbstvollziehende Parlamentsgesetze als rechtspolitische Klugheitsregel und verfassungsstaatliches Gebot Der gesetzliche Verzicht auf nicht weiter konkretisierungsbedürftige Details entspricht schon deshalb dem Gebot rechtspolitischer Klugheit,132 weil mit der kleinteiligen Aufblähung der Normen auch die Fehleranfälligkeit anwächst. Gesetze – im formellen wie im materiellen Sinne – sind „weniger ,fehlertolerant‘“133 als ein Verwaltungsakt. Wo sich der Normgeber im Klein-Klein verliert und rechtswidrige, namentlich unbestimmte, in sich widersprüchliche oder sonst nicht folgerichtige Regelungen trifft, droht dann nicht nur Vernichtbarkeit, sondern „ipso iure-Nichtigkeit ex tunc“.134 Demgegenüber konkretisieren Allgemeinverfügungen die Rechtslage aufgrund der Wertung des § 43 Abs. 2 und 3 VwVfG auch dann, wenn sie rechtswidrig sind. Auch abseits dieser wirksamkeitsbezogenen Divergenzen zwischen gestaltender Normsetzung und konkretisierender Normanwendung lassen sich dem grundsätzlich 128 Wie hier H. D. Jarass, in: H. D. Jarass/B. Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Vorb. vor Art. 1 Rn. 42; E. Bülow, Die Gesetzgebung, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 30 Rn. 7; C. Bumke/A. Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 8. Aufl. 2020, Rn. 92; C.-E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, S. 485 (486 mit Fn. 19). 129 H. Greve/P. Lassahn, Die bundeseinheitliche „Notbremse“ – Verfassungsfragen zum Vierten Bevölkerungsschutzgesetz, NVwZ 2021, S. 665 (669). 130 Zu dieser oben Fn. 36. 131 Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 61; O. Lepsius, Einstweiliger Grundrechtsschutz nach Maßgabe des Gesetzes, Der Staat 60 (2021), S. 609 (622). 132 F. Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: A. Voßkuhle/M. Eifert/C. Möllers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 3. Aufl. 2022, § 11 Rn. 55 f.; wie dieser K.-P. Sommermann, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck, GG II, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 274; M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, S. 685 (695); im Ergebnis auch F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts V, 3. Aufl. 2007, § 101 Rn. 58, mit zahlreichen Beispielen „unwesentlicher“ Eingriffe durch Gesetz. 133 Guckelberger, Ausgangsbeschränkungen (Fn. 72), S. 14. 134 M. Sachs, Verfahrensfehler im Verwaltungsverfahren, in: W. Hoffmann-Riem/ E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 2. Aufl. 2012, § 31 Rn. 76.

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allzuständigen parlamentarischen Gesetzgeber bereichsspezifische Grenzen setzen. Diese folgen im staatsorganisationsrechtlichen Rahmen aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung und dem Schutz exekutivischer Selbstprogrammierung als Ausprägungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes.135 Der Gewaltenteilungsgrundsatz ist vom Leitbild funktionsgerechter Aufgabenteilung und -verteilung beherrscht. Gesetzgebung ist danach idealtypisch Zukunftsgestaltung, Rechtsprechung Vergangenheitsbewältigung, während die Verwaltung die Probleme der Gegenwart zu lösen hat.136 Entscheidungen, die aufgrund eines schlicht subsumierenden Normenvollzugs ergehen, sind dementsprechend funktional typischerweise der Verwaltung als vollziehender Gewalt vorbehalten, die für diese Aufgabe den erforderlichen Verwaltungsapparat und Sachverstand besitzt.137 Das Parlament darf eine solche Verwaltungstätigkeit nur an sich ziehen, wenn hierfür im Einzelfall hinreichende sachliche Gründe bestehen. Ein Parlamentsgesetz, das den Grundrechtseingriff selbst vornimmt und auch im Übrigen self executing wirkt, lässt aufgrund fehlender Anhörungs- und Beteiligungsrechte der Betroffenen kaum Raum für Einzelfallerwägungen, schließt den Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte – jedenfalls weitgehend – aus und belässt im Übrigen wie bereits gesehen nur die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde.138 Ein Verwaltungsvollzugsvorbehalt im Sinne einer Kompetenzsperre zum Nachteil der Legislative kann sich somit maßgeblich aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie aus Vorgaben ergeben, die der Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) an den individuellen Rechtsschutz stellt. In seinem Beschluss zur sogenannten Bundesnotbremse hegte das Bundesverfassungsgericht zwar keine durchgreifenden Bedenken gegenüber der Handlungsformenwahl des self executing-Parlamentsgesetzes, sondern betonte, dass der gesetzgeberische Spielraum regelmäßig erst bei Einzelpersonengesetzen an seine verfassungsrechtlichen Grenzen stoße, namentlich das Allgemeinheitsgebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG.139 Damit wird allerdings nicht nur die Möglichkeit zur Umgehung 135 BVerfG, Beschl. v. 17. Juli 1996 – 2 BvF 2/93 –, BVerfGE 95, 1 (15 f.) – Südumfahrung Stendal; Beschl. v. 30. Juni 2015 – 2 BvR 1282/11 –, BVerfGE 139, 321 (363, Rn. 126) – Körperschaftsstatus; Beschl. v. 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u. a. –, NJW 2022, 139 (145, Rn. 141) – Bundesnotbremse I; T. Puhl, Gewaltenteilung, in: H. Kube/R. Mellinghoff/ G. Morgenthaler et al. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts – Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag I, 2013, § 23 Rn. 15; Bumke/Voßkuhle, Casebook (Fn. 128), Rn. 1459 ff. 136 Waldhoff, Krise (Fn. 108), S. 47. 137 M. Möstl, Normative Handlungsformen (Allgemeiner Teil), in: D. Ehlers/H. Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 19 Rn. 5 f. 138 BVerfG, Beschl. v. 30. Juni 2015 – 2 BvR 1282/11 –, BVerfGE 139, 321 (364, Rn. 130 f.); Beschl. v. 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u. a. –, NJW 2022, 139 (146, Rn. 147); keine Rechtsschutzlücken erkennt dagegen Hofmann, „Corona-Recht“ (Fn. 119), S. 118 ff. Dazu auch schon oben III.1., bei Fn. 75. 139 BVerfG, Beschl. v. 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u. a. –, NJW 2022, 139 (145 ff., Rn. 137 ff.); vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 30. Juni 2015 – 2 BvR 1282/11 –, BVerfGE 139, 321 (365, Rn. 132): „Nicht von ungefähr wird [Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG] deshalb als eine spezi-

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und bewussten Aushebelung des Rechtsschutzes bei einem so tiefgreifenden und weitstreuenden Grundrechtseingriff verkannt,140 sondern auch der Weg geebnet, um über ein als Polizeiverfügung kostümiertes Parlamentsgesetz141 die Verwaltung aus der ihr angestammten Rolle zu verdrängen. Bei der Bundesnotbremse handelte es sich um das Paradebeispiel eines Maßnahmegesetzes;142 diesem kommt zwar wie eingangs ausgeführt keine verfassungsrechtliche Relevanz zu, als rechtswissenschaftlicher Systematisierungsbegriff besitzt es jedoch sehr wohl einen heuristischen Wert.143 Normsetzung, gleichgültig ob im Gesetzes- oder Verordnungswege, ist kein Ersatz für ein situationsbezogenes Handeln durch Verwaltungsakte und sonstige Maßnahmen im Einzelfall. Eine freiheitliche Rechtsordnung lebt gerade von einer hinreichenden Elastizität auf der Vollzugsebene, die ein politisiertes Durchentscheiden von Parlament und Regierung auf die Fallanwendung vermeidet und die Härte distanzierter Gesetzgebung freiheitsverträglich und ermessensgeleitet aufweicht.144 Das wird durch ein Maßnahmegesetz überspielt, welches mit „Gesetz“ und „Maßnahme“ zwei miteinander prinzipiell unvereinbare Begriffselemente – oder um in unserem Thema zu bleiben: Handlungsformen – miteinander vereinigt.145

fische Absicherung des Grundsatzes der Gewaltenteilung begriffen, die den Erlass konkretindividueller Regelungen der Exekutive vorbehält“. 140 In diese Richtung auch Dederer/Gierhake/Preiß, Zwischenbilanz (Fn. 113), S. 459 f.; C. Degenhart, Entscheidung unter Unsicherheit – die Pandemiebeschlüsse des BVerfG, NJW 2022, S. 123 (125, Rn. 13). 141 Mit Blick auf die Bundesnotbremse Volkmann, Logik (Fn. 30), S. 62: „In der Sache handelt es sich damit um eine Polizeiverfügung, die als Gesetz kostümiert ist und bei der das Parlament als oberste Polizeibehörde auftritt“. Von einer „Allgemeinverfügung auf Gesetzesebene“ spricht C. Enders, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Stand: 15. Mai 2022, Art. 19 Rn. 10; den verfassungsrechtlichen Tabubruch eines „generellkonkrete[n] Maßnahmegesetz[es]“ moniert Lepsius, Grundrechtsschutz (Fn. 131), S. 623; ähnlich bereits Möllers, Stellungnahme (Fn. 120), S. 1: „Maßnahmegesetz mit allgemeiner Geltung“. 142 Lepsius, Grundrechtsschutz (Fn. 131), S. 622 f.; Kluth, Pandemierecht 4.0 (Fn. 29); Krings/Greve, Herausforderung (Fn. 114), S. 38 ff.; K.-A. Schwarz, Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der bundeseinheitlichen „Corona-Notbremse“, COVuR 2021, S. 258 (259 f.). 143 Wie hier Kluckert, Infektionsschutzmaßnahmen (Fn. 21). 144 Gärditz/Abdulsalam, Rechtsverordnungen (Fn. 100), S. 111. 145 Vgl. Barczak, Staat (Fn. 10), S. 436; ferner E. R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht, DÖV 1956, S. 200 (205): „Die Problematik des Maßnahme-Gesetzes besteht eben darin, daß zur Bewältigung einer Ausnahmelage die Normalform des Gesetzes benutzt wird“.

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V. Fazit: Die Krise als Renaissance und kontrafaktische Stabilisierung der Handlungsformen des Verwaltungsrechts Aufgabe jeglicher Handlungsformenlehre der Verwaltung ist es, der Praxis ein nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen ausdifferenziertes und abgestuftes System an Handlungsformen an die Hand zu geben.146 Eine solche Handlungsformenlehre ist „nie eine fertige, sondern eine stets zu reformierende Lehre“,147 die auf die Verwaltungsrealitäten reagiert und diese in sich aufnimmt.148 Die Pandemie bildet dabei keine Ausnahme: Gerade mit ihren Verschleifungs- und Verwischungstendenzen hat die jüngste Krise die Bedeutung und den Eigenwert der Handlungsformen des Verwaltungsrechts – kontrafaktisch – stabilisiert. Als typisierte Verwaltungsmodi, sichtbare Orientierungspunkte und greifbare Handlungsoptionen besitzen die Handlungsformen des Verwaltungsrechts gerade in solchen Zeiten eine wichtige Funktion, in denen man nach Orientierung sucht und sich nach dem Prinzip von trial and error vortasten muss. Die Pandemie hat gezeigt, dass der Werkzeugkasten des arbeitenden Verfassungsstaates hinreichend mit Instrumenten gefüllt ist, um auch für zukünftige Krisen gewappnet zu sein. Neue Werkzeuge braucht es genauso wenig wie ein spezifisches Krisenverwaltungsrecht, die Handlungsformen sind jedoch im Zuge ihrer Anwendung reichlich in Unordnung geraten. Daran hat die Rechtsprechung einen nicht geringen Anteil, die sich in gewisser Weise als formenblind und -indifferent erwiesen hat. Es ist nun Aufgabe der Wissenschaft, im Instrumentenkasten des arbeitenden Verfassungsstaates wieder für Ordnung zu sorgen.

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Möstl, Handlungsformen (Fn. 137), § 19 Rn. 7. Schmidt-Aßmann, Lehre (Fn. 25), S. 541; nachdrücklich auch J. Burmeister, Verträge und Absprachen zwischen der Verwaltung und Privaten, VVDStRL 52 (1993), S. 190 (207). 148 Einen numerus clausus der Handlungsformen gibt es demgemäß bekanntlich nicht, vgl. H. Schmitz, in: P. Stelkens/H. J. Bonk/M. Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 1 Rn. 141. 147

Verwaltungshandeln in sozialen Netzwerken Von Margrit Seckelmann

I. Einleitung Soziale Medien haben unsere Kommunikationskultur verändert. Die Stichworte hierzu lauten Personalisierung, Multimedialität, Hypertextualität sowie neue Partizipations- und Interaktionsmöglichkeiten.1 Die Möglichkeit zur Personalisierung beinhaltet nicht nur das Versprechen einer stärker bedürfnis- und interessenorientierten Kommunikation; soziale Medien erlauben es den Kommunizierenden auch, im Internet ein neues „Identitätsmanagement“ zu betreiben.2 Anders gewendet bedeutet das aber auch, dass der Auftritt der Öffentlichen Hand in sozialen Medien bestimmten Logiken folgen muss, die nicht exakt den „Offline“-Gesetzmäßigkeiten entsprechen.3 Vielmehr stehen den neuen Möglichkeiten (wie dem Erreichen jüngerer, netzaffiner communities4 und der Erschließung ihrer Wissensbestände5) auch neue Anforderungen für die Öffentliche Hand gegenüber, möchte sie glaubwürdig und zugleich rechtskonform in den sozialen Medien kommunizieren.6 Diesem Thema sind die nachfolgenden Ausführungen gewidmet. Allerdings sei ein Caveat vorausgeschickt: Ein Thema wie das mir gestellte kann nur selektiv behandelt werden. Nachfolgend soll daher vor allem das Verwaltungshandeln in sozialen Netzwerken analysiert werden. Was hingegen außer Betracht bleiben soll, sind 1

Albert Ingold, Digitalisierung demokratischer Öffentlichkeiten, Der Staat 56 (2017), S. 491 – 533, 508. 2 Ingold, Digitalisierung (Fn. 1), S. 507 f. 3 Margrit Seckelmann, Einsatz bei der Polizei: Twitter-Nutzung, Online-Streifen, Trojaner, Facebook-Fahndung, Biometriesoftware, (intelligente) Videoüberwachung, Predictive Policing, Body-Cams und Fotodrohnen, in: Margrit Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – vernetztes E-Government, Berlin 2019, S. 485 – 589, 487 ff.; in diesem Sinne auch Albert Ingold, „Polizei 2.0“: Grenzen der behördlichen Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken, VerwArch 2017, S. 240 – 265. 4 https://www.oeffentliche-it.de/-/warum-es-sinnvoll-fuer-kommunen-ist-buergerinnen-alsfreunde-auf-sozialen-netzwerken-zu-gewinnen, abgerufen am 02. 11. 2022. 5 https://www.dstgb.de/aktuelles/archiv/archiv-2014/soziale-netzwerke-gegen-wissensver lust-in-der-verwaltung/, abgerufen am 02. 11. 2022. 6 Hilfreich hierzu: Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, Unsere Freiheit: Daten nützen – Daten schützen. Wesentliche Anforderungen an die behördliche Nutzung „Sozialer Netzwerke“, Stuttgart 2020.

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Versammlungen oder Protestformen, in denen man sich über das Internet zusammenfindet.7 Ebenfalls außer Betracht bleiben soll der Umgang der Verwaltung mit Protestformen im Internet, etwa mit Schwärmen8, die z. B. Distributed-Denial-of-Service Attacken durchführen (teilweise als „virtueller Sit-in“9 bezeichnet). Ein Beispiel hierfür wäre, dass ein Webshop, in dem Pelzwaren angeboten werden, dadurch zur (vorübergehenden) Funktionsunfähigkeit gebracht würde, dass im Internet dazu aufgerufen würde, dass man dort zu einem bestimmten Zeitpunkt alles in die Warenkörbe legen solle, ohne zu bezahlen. Ob beim Umgang mit „rein digitalen“ Versammlungen die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG zu beachten ist, und, wenn ja, welche Grundrechtsschranken dabei griffen (also ob man eher eine Vergleichbarkeit mit Versammlungen „in geschlossenen Räumen“ oder aber „unter freiem Himmel“ annimmt), soll ebenfalls außer Betracht bleiben.10 Nachfolgend soll es stattdessen um die Frage gehen, ob und wie Behörden in sozialen Netzwerken agieren (können), was dabei zu beachten ist und was ggf. auch die Folgen dessen wären, wenn sie es nicht mehr täten. Dazu sollen unter II.1. Definitionen gegeben und die Funktionsweisen sozialer Netzwerke erklärt werden, bevor unter II.2. Anwendungsfälle untersucht werden. In Abschnitt II.3. werden bestimmte Folgeprobleme erörtert und auch die Grundrechtsbindung der Anbieter sozialer Netzwerke untersucht. Eine Bilanz (III.) soll die Untersuchung abrunden.

II. Verwaltungshandeln in sozialen Netzwerken 1. Definitionen a) Soziale Medien und soziale Netzwerke Nachfolgend soll der Begriff der sozialen Medien diejenigen digitale Medien bezeichnen, „die sich durch einen gemeinschaftlichen Gebrauch bzw. die durch sie ermöglichten sozialen Praktiken des gemeinsamen Produzierens von Inhalten aus-

7 Dazu u. a. Sophie-Charlotte Lenski, Flashmobs, Smartmobs, Raids: Sicherheitsrechtliche Antworten auf neue Formen von Kollektivität, VerwArch 2012, S. 539 – 557. 8 Dazu instruktiv Jens Kersten, Schwarmdemokratie. Der digitale Wandel des liberalen Verfassungsstaats, Tübingen 2017. 9 Dennis Kraft/Johannes Meister, Rechtsprobleme virtueller Sit-ins, MMR 2003, S. 336 – 374, 336; Christian Möhlen, Das Recht auf Versammlungsfreiheit im Internet. Anwendbarkeit eines klassischen Menschenrechts auf neue digitale Kommunikations- und Protestformen, MMR 2013, S. 221 – 230, 223. 10 Dazu aber instruktiv Corinna Nitsch/Michael Frey, Grundrechte im Zeitalter der Digitalisierung – die digitale Sphäre der Versammlungsfreiheit, DVBl 2020, S. 1054 – 1056, 1055 f., sowie Tobias Mast/Tobias Gafus, Referendarexamensklausur Öffentliches Recht: Grundrechte – Die Online Versammlung JuS 2021, S. 153 – 160, 155 f.

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zeichnen“.11 Soziale Medien umfassen u. a. Microblogging-Dienste (wie Twitter), Messengerdienste (wie WhatsApp und Telegram), berufliche Netzwerke (wie Xing und LinkedIn), Foren und virtuelle Welten (wie Second Life und neuerdings das Metaverse) und soziale Netzwerke (wie Facebook).12 Nachfolgend soll das Augenmerk auf sozialen Netzwerken liegen. Dieser Begriff wird hier in einem eher untechnischen (also weiten) Sinne verstanden und soll auch Microblogging-Dienste (wie Twitter) mitumfassen. Erfasst sein sollen zudem Messengerdienste, die aus der Legaldefinition des Begriffs soziale Netzwerke in Satz 1 von § 1 Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG)13 herausfallen. Denn nach § 1 Satz 1 NetzDG sind soziale Netzwerke nur solche „Telemediendiensteanbieter, die mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Internet betreiben, die dazu bestimmt sind, dass Nutzer beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen“. Und aus Satz 2 derselben Norm ergibt sich, dass „Plattformen mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, die vom Diensteanbieter selbst verantwortet werden“ nicht „als soziale Netzwerke im Sinne dieses Gesetzes“ gelten. Das Gleiche gilt laut Satz 3 von § 1 NetzDG für „Plattformen, die zur Individualkommunikation oder zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind“. Das wirft natürlich die Frage auf, was unter einer Online-Plattform zu verstehen ist. Hier ließe sich eine begriffliche Anleihe bei der Legaldefinition aus Art. 3 lit. i des „Gesetzes über soziale Dienste“14 (nachfolgend: Digital Services Act) vornehmen. Hiernach bezeichnet der Ausdruck „Online-Plattform“ „einen Hostingdienst, der im Auftrag eines Nutzers Informationen speichert und öffentlich verbreitet, sofern es sich bei dieser Tätigkeit nicht nur um eine unbedeutende und mit einem anderen Dienst verbundene reine Nebenfunktion handelt, die aus objektiven und technischen Gründen nicht ohne diesen anderen Dienst genutzt werden kann, und sofern die Integration der Funktion in den anderen Dienst nicht dazu dient, die Anwendbarkeit dieser Verordnung zu umgehen“.

11 Lena-Sophie Müller/Saskia Fritzsche/Heiko Hartenstein/Stefanie Hecht/Elisabeth Krämer/Hermann Hill, Ein soziales Netzwerk als internes Kommunikationsmittel für die öffentliche Verwaltung. Potenziale, Herausforderungen und Realisierungsoptionen auf dem Weg zur vernetzten Organisation, Berlin/Speyer 2014, S. 17. 12 Zu weiteren Formen sozialer Medien vgl. Alfred Debus, Soziale Medien, in: Margrit Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – vernetztes E-Government, Berlin 2019, S. 473 – 484, 473 ff. 13 Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 1. September 2017 (BGBl. I S. 3352), das zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 21. Juli 2022 (BGBl. I S. 1182). 14 VO 2022/2065 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste), ABl. L 277/1.

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Allerdings betrifft einer der Kritikpunkte am NetzDG15 auch den Digital Services Act, nämlich die Frage, ob nicht auch große Chatrooms von Messenger-Diensten reguliert werden sollten.16 Diese können nämlich eine enorme Reichweite haben, zwar nicht unbedingt bei WhatsApp (hier ist die maximale Gruppengröße im dreistelligen Bereich anzusiedeln), wohl aber bei Telegram, wo derartige Gruppen bis zu 200.000 Personen umfassen können. Daher sollen auch diese Dienste in die hiesige Betrachtung miteinbezogen werden. b) Beteiligte Üblicherweise entsteht bei der Nutzung sozialer Netzwerke im hier verstandenen Sinne (etwa einer Facebook-Fanpage) ein Rechtsverhältnis von mindestens drei Parteien, nämlich der Plattform (soziales Netzwerk), den Content-Anbietern (die den Chatraum oder Feed innerhalb des Netzwerks bereitstellen) und den Content-Konsumentinnen bzw. -konsumenten (welche die Feeds lesen, am Chat teilnehmen, liken, retweeten und/oder etwas in die Kommentarfunktion schreiben). c) Interaktionsformen Damit ist ein Charakteristikum sozialer Medien angesprochen, nämlich das Verlassen der „One-to-one“- oder „1:1“-Interaktion zugunsten der „One-to-many“oder „1:n“-Kommunikation. Letztere Möglichkeit besteht allerdings auch beim Rundfunk, bei dem auch eine (für die meisten unbestimmte) Vielzahl von Empfängern mit derselben Botschaft erreicht werden kann. Neu bei sozialen Medien ist jetzt eine „Many-to-many“- oder „n:n“-Kommunikation, bei der sich – wie es der Name schon sagt – „viele Sender mit vielen Empfängern“ (mehr oder weniger gleichzeitig) austauschen können.17 Beim Einsatz sozialer Medien durch die öffentliche Verwaltung ist sowohl eine „1:n“- als auch eine „n:n“-Interaktionsform denkbar. Zur erstgenannten (1:n-)Kommunikationsform gehört die klassische Pressearbeit, also das Posten informativer Artikel, von Stellenanzeigen oder ggf. – Stichwort „Nutzendenbindung“ – von Fotos geretteter Tiere.18 Werden diese Posts allerdings (wie bei Facebook Fanpages) mit 15

Vgl. dazu statt vieler die Beiträge in Martin Eifert/Tobias Gostomczyk, Netzwerkrecht. Die Zukunft des NetzDG und seine Folgen für die Netzwerkkommunikation, Baden-Baden 2018. 16 Wobei diese zumindest einen „Vermittlungsdienst“ nach DSA darstellen dürften und daher nicht (mehr) unreguliert sind. 17 Ines Mergel/Philipp S. Müller/Peter Parycek/Sönke E. Schulz, Praxishandbuch Soziale Medien in der öffentlichen Verwaltung, Wiesbaden 2013, S. 24 f. 18 Björn Bornschein, #öffentlicherdienst – social media und die zukunft der öffentlichen verwaltung. wieso die öffentliche verwaltung in zeiten des demographischen wandels „lit“ werden sollte (= Schriften zur Allgemeinen Inneren Verwaltung, Band 31), Brühl 2020 (= Diplomarbeit an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, 2019), S. 62.

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der Möglichkeit versehen, sie zu kommentieren oder zu „liken“, ist man schon einen Schritt weiter, nämlich in einer interaktiven Kommunikationsform, da die Kommentare ihrerseits wieder kommentiert werden können (und so weiter). Insofern ist auch das „Following“ nicht eindeutig zuzuordnen – sobald Kommentare abgegeben werden, wandelt sich der einseitige in den zweiseitigen Kommunikationstyp um (zu den damit verbundenen datenschutzrechtlichen Problemen vgl. Abschnitt II.2.c)). 2. Anwendungsfelder und Einzelfragen a) Allgemeine Öffentlichkeitskommunikation: Verhaltenskodizes Die Staat-Bürger-Kommunikation mittels sozialer Netzwerke ist ein relativ junges Phänomen.19 Bei der Kommunikation von Behörden mit der Öffentlichkeit gab es anfangs Unsicherheiten, welche sich beispielsweise darauf bezogen, ob das Gegenüber (wie in den sozialen Medien üblich) geduzt oder (wie in der Staat-Bürger-Kommunikation üblich) gesiezt werden sollte. Auch stand die Frage im Raum, ob auf Pöbeleien im Internet auf einer vergleichbaren Sprachebene bzw. in Jugendsprache geantwortet werden könne.20 Daher wurden seit den 2010er Jahren in den Behörden Verhaltenskodizes aufgesetzt, die beispielsweise die folgenden Punkte regelten: – Umgang mit Presseanfragen und zur Öffentlichkeitsarbeit, – Beachtung der Geheimschutzordnungen, – „welcher Mitarbeiter bei der klassischen Schriftkommunikation nach außen auftritt und zeichnet, wie Adressaten außerhalb der Verwaltung anzusprechen sind oder Ähnliches“, – „Styleguides, also Vorgaben, die die äußere Gestaltung behördlicher Kommunikation, z. B. die Verwendung von Wappen und Logos“, – Vorgaben zur privaten Nutzung sozialer Medien, – „allgemeine Regelungen zum IT-Einsatz, insbesondere auch zur IT-Sicherheit“ – sowie „behördliche Vorgaben zu Werbung, zu Spenden und zum Sponsoring“.21 Dabei war bzw. ist – um einen Aspekt herauszugreifen – die Frage der privaten Nutzung sozialer Medien keineswegs trivial, da es sich beispielsweise der frühere US-Präsident Donald Trump zum Prinzip gemacht hatte, als „@therealdonaldtrump“ die Beschlüsse seiner Regierung oder anderer Staatsorgane populistisch zu kommen19 Dazu grundlegend Tobias Mast, Staatsinformationsqualität – De- und Rekonstruktion des verfassungsgerichtlichen Leitbilds öffentlicher staatlicher Informationstätigkeit und der entsprechenden Gebote, Berlin 2020. 20 Vgl. Tobias Mast, WTF, hier spricht die Polizei!!!, Recht & Politik, 53 (2017), S. 216 – 219. 21 Aufzählung nach Mergel/Müller/Parycek/Schulz, Praxishandbuch Soziale Medien (Fn. 17), S. 69 f.

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tieren, um „Bürgernähe“ zu demonstrieren. In Deutschland erschien es daher wichtig dafür zu sorgen, dass unterlegene Mitglieder einer Spruchkammer oder nachgeordnete Behörden nicht in ihrer Eigenschaft als „einfache“ Bürgerinnen bzw. Bürger die Beschlüsse via Twitter delegitimieren konnten (dass zu Zeiten der COVID19-Pandemie die sog. Reichsbürger gleichwohl Tweets absetzten, die ihr Handeln in ihrer beruflichen/amtlichen Eigenschaft als z. B. Gymnasiallehrer oder Amtsärztinnen konterkarierten, steht auf einem anderen Blatt). Inzwischen ist das Pendel beinahe in die gegenteilige Richtung ausgeschlagen: So wird in manchen Bundesländern minutiös per Email-Runderlass geregelt, ob Lehrer Freundschaftsanfragen von Schülerinnen (oder Lehrerinnen von Schülern) annehmen dürfen – oder ob so etwas entweder gar nicht oder nur innerhalb desselben Geschlechts möglich sei. Üblicherweise wird aber hinsichtlich der Social Media-Nutzung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die nicht in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Social Media Teams den Behördenauftritt auf den sozialen Medien betreiben, zumindest Folgendes verlangt: Nutzung nur in der dienstfreien Zeit, unter Wahrung des Amtsgeheimnisses, keine Äußerung zu laufenden Verfahren (die nur von der Öffentlichkeitsarbeit bzw. dem Social Media Team getätigt werden dürfen).22 b) „Digitales Hausrecht“, Cybersicherheit Wenn die Verwaltung selbst als Content-Anbieterin agiert, also beispielsweise eine Facebook-Fanpage betreibt, stellt sich die Frage, ob eine Behörde einfach Nutzerinnen bzw. Nutzer blocken kann, die gegen die von ihr aufgestellten und kommunizierten Standards verstoßen (diese werden zumeist nach dem früher im Internet für allgemeine Umgangsformen verwendeten Wort „Netiquette“ genannt). Ein konkreter Anwendungsfall für diese Frage ergab sich, als das Social Media Team der hamburgischen Polizei entsprechende Blockierungen vorgenommen hatte,23 weil sie aus ihrer Sicht gegen die Kommunikationsstandards verstießen, die man unter „Impressum“ beim Facebook-Auftritt der hamburgischen Polizei finden konnte (bzw. kann24): „Rassistische, sexistische, unsachliche, beleidigende oder in ähnlicher Form unangebrachte Kommentare oder Tweets werden jedoch nicht toleriert und ggf. strafrechtlich verfolgt […] Das Team behält sich außerdem vor, Verfasser für die Kommentar-Funktion auf der Facebook-Seite der Polizei Hamburg zu sperren bzw. auf Twitter zu blocken. Eine entsprechende Benachrichtigung über diese Maßnahme erfolgt nur im Einzelfall. Die Entscheidung, ob

22 Aufzählung nach Mergel/Müller/Parycek/Schulz, Praxishandbuch Soziale Medien (Fn. 16), S. 63 (dort finden sich auch weitere mögliche Punkte). 23 https://netzpolitik.org/2018/wen-die-polizei-hamburg-auf-twitter-blockiert-entscheidetdas-social-media-team/, abgerufen am 02. 11. 2022. 24 So ist es zumindest heute, vgl. https://www.polizei.hamburg/impressum/, abgerufen am 02. 11. 2022.

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Kommentare verborgen oder gelöscht bzw. Nutzer gesperrt/geblockt werden, trifft allein das Social Media Team“.25

Als der recht harte Polizeieinsatz in Hamburg zum Schutz des G20-Gipfels von 2017 auf dem Twitter-Account der dortigen Polizei von einem Nutzer mit dem Begriff „Polizeistaat“ in der „Antworten“-Funktion zu einem Tweet kritisiert wurde, blockierte das Social Media Team der hamburgischen Polizei diesen unter Hinweis auf den Verstoß gegen die „Netiquette“ und das „digitales Hausrecht“ der Hamburgischen Polizei auf der von ihr betriebenen Homepage.26 Es stellte sich daher die Frage, worauf genau ein solches Blockieren gestützt werden konnte. Bei Privaten ist das „digitale Hausrecht“ zumeist eine Frage ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen bzw. Community Standards.27 Hinsichtlich der Bindungen der öffentlichen Hand war eher der Vergleich mit der analogen Welt geboten, also die Analogie zu einer Nutzungsordnung.28 Reichte also die Zuweisung der Verwaltungsaufgabe als Rechtsgrundlage für das Hausrecht aus? Ist es letztlich auf einen Annex der Sachkompetenz zu stützen? Das VG Mainz hat in einer Entscheidung zum „virtuellen Hausrecht“ des Zweiten Deutschen Fernsehens letztlich offen gelassen, ob das Recht als notwendiger Annex zum „staatsvertraglichen Auftrag“29 zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben anzusehen oder aber als Gewohnheitsrecht oder aus einer analogen Anwendung der §§ 858, 903, 1004 Abs. 1 BGB (als allgemeinem Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht gilt) herzuleiten sei.30 Wichtig sei vor allem, dass der aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG folgende Zugangsanspruch der Nutzer „grds. nur i. R. d. festgelegten Nutzungszwecks und nach Maßgabe der jeweiligen Benutzungsordnung der virtuellen öffentlichen Einrichtung (hier: Facebook-Netiquette)“ bestehe.31 In der juristischen Literatur wird die vorliegende Konstellation zumeist mit den Stadthallen-Fällen verglichen, man spricht teilweise von einer „Öffentlichen Einrichtung 2.0“.32 Qualifiziert man nämlich einen Twitter-Account (oder eine Facebook-Fanpage o. ä.) einer Behörde als öffentliche Einrichtung, also als „sächliche, 25 Sowohl der damalige Stand von 2017, zitiert nach Jens Milker/Simon Schuster, … und raus bist Du!, juwiss 11-2018, https://www.juwiss.de/11-2018/, abgerufen am 08. 11. 2022. 26 Vgl. Milker/Schuster, … und raus bist Du! (Fn. 25). 27 Vgl. nur LG Dresden v. 8. 8. 2018 – 4 W 577/18, AfP 2018, 525. 28 Jens Milker, Die Polizei auf Twitter – Brauchen wir ein Social-Media-Gesetz für staatliche Stellen?, NVwZ 2018, 1751 – 1758,1756. 29 Michael Libertus, Sperren und Löschen von User-Content durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten auf deren Social Media-Präsenzen. Zu den Besonderheiten für öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten im Vergleich zu Facebook, CR (Computer und Recht) 35 (2019), S. 262 – 266, 30 VG Mainz, Urteil vom 13. 04. 2018 – 4 K 762/17.MZ, MMR 2018, 556 (556). 31 VG Mainz, Urteil vom 13. 04. 2018 – 4 K 762/17.MZ, MMR 2018, 556 (556). 32 Milker, Die Polizei (Fn. 28), S. 1753 f.; vgl. auch Albert Ingold, Behördliche Internetportale im Lichte des Allgemeinen Verwaltungsrechts: Zur Renaissance des Rechts der öffentlichen Einrichtungen, Die Verwaltung 48 (2015), S. 525 – 545.

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personelle oder organisatorische Einheit zur allgemeinen Benutzung“33, so ist letztlich darauf abzustellen, wer berechtigterweise deren Nutzungsordnung durchsetzen kann.34 Auf den „G20-Gipfel-Fall“ bezogen, ist also auf die Situation in Hamburg abzustellen, wo das „analoge Hausrecht“ nicht eigens geregelt ist, sondern aus der gefahrenabwehrrechtlichen Generalklausel des § 3 Abs. 1 HmbSOG folgt. Hiernach hat jede Verwaltungsbehörde im Rahmen ihres Geschäftsbereichs die Befugnis, Störungen der öffentlichen Sicherung und Ordnung zu beseitigen.35 Letztlich ist es dann eine Frage der Verhältnismäßigkeit, ob (im Hinblick auf die hohe Bedeutung der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG für die Demokratie) eine bloße Löschung eines Kommentars ausreicht oder ob wirklich schon zur Sperrung/Blockierung bestimmter Nutzer(innen) gegriffen werden muss.36 Dem „digitalen Hausrecht“ korrespondiert zur guten Letzt allerdings eine Verpflichtung, das Forum vor Hackerangriffen zu schützen.37 c) „Gefällt mir“-Schaltfläche und Datenschutz Interaktion in der n:n-Kommunikation kann nicht zuletzt dadurch stattfinden, dass Postings geliked werden (also dass der „Gefällt mir“-Button aktiviert wird). Die Nutzung derartiger „Social Plugins“ ist bzw. war für eine Behörde als Betreiberin einer Website durchaus interessant, da sie – wenn sie will – erfahren kann, woher diese Likes kamen (Beispiel: Eine Stadt kann durchaus daran interessiert sein, von wem ihre Touristeninformationen nachgefragt werden – vielleicht verändert sich die Zielgruppe und man muss im Angebotsbereich „nachsteuern“). Häufige Likes lassen die Website auch beim Ranking in Suchportalen einen besonders günstigen Platz bekommen.38

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Vgl. nur OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. 12. 2012 – 10 ME 130/12, BeckRS 2012, 60829; Fiete Kalscheuer/Annika Jacobsen, Das digitale Hausrecht von Hoheitsträgern: Unter welchen Voraussetzungen darf der Staat Twitter-Nutzer blockieren?, NJW 2018, S. 2358 – 2362, 2360. 34 Kalscheuer/Jacobsen, Das digitale Hausrecht (Fn. 33), S. 2360 m. w. N. 35 Kalscheuer/Jacobsen, Das digitale Hausrecht (Fn. 33), S. 2359 unter Bezugnahme auf OVG Hamburg, NVwZ-Beil. 1999, 55 (56). 36 VG Mainz, Urteil vom 13. 04. 2018 – 4 K 762/17.MZ, MMR 2018, 556 (556). 37 Die aber nicht immer leicht zu garantieren ist, vgl. https://web.archive.org/web/ 20120724114124/http://frankfurter-blog.de/2012/05/anonymous-attackiert-website-der-stadtfrankfurt, abgerufen am 31. 10. 2022. 38 Alexander Rücker/Daniel Brandt, Der Einsatz von (Social) Plugins im Lichte des „Fashion ID“-Urteils des EuGH, DB (Der Betrieb) 2019, S. 2767 – 2772; vgl. (zum Stand von 2015, also vor Wirksamwerden der DSGVO) auch Mario Martini/Saskia Fritzsche, Mitverantwortung in sozialen Netzwerken – Facebook-Fanpage-Betreiber in der datenschutzrechtlichen Grauzone, NVwZ-Extra 2015/23, S. 1 – 16.

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Allerdings gehen die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern zunehmend dazu über, von der Freischaltung des „Gefällt mir“-Buttons abzuraten.39 Der Grund hierfür liegt in einem Urteil des EuGH von Juli 2019, wonach die Einbindung von Facebook Social Plugins zur Folge hat, dass der Einbindende zusammen mit Facebook eine gemeinsame Verantwortlichkeit nach Art. 26 DSGVO begründet.40 In Fortführung seiner Rechtsprechung zu den Social Plugins41 führte der EuGH in der vorliegenden Entscheidung aus: „Stößt der Browser des Besuchers auf einen derartigen Verweis, fordert er den Inhalt von dem Drittanbieter an und fügt ihn an der gewünschten Stelle in die Darstellung der Website ein. […] Welche Informationen der Browser übermittelt und was der Drittanbieter mit diesen Informationen macht, insbesondere, ob er diese speichert und auswertet, kann der den Drittinhalt auf seiner Website einbindende Betreiber nicht beeinflussen“.42

Dabei könne es auch dazu kommen, dass personenbezogenen Daten der Besucher dieser Seite (wie IP-Adressen) unabhängig davon erfasst würden, ob sie selbst Facebook nutzen (und damit der Nutzung ihrer Daten durch Facebook43 zugestimmt haben) oder nicht.44 Mit der Einbindung eines solchen Social Plugins in die eigene Website setzt mithin der Content-Anbieter eine „entscheidend[e]“ Ursache für das „Erheben und die Übermittlung von personenbezogenen Daten der Besucher dieser Seite zugunsten des Anbieters dieses Plugins, im vorliegenden Fall Facebook Ireland, […] die ohne Einbindung dieses Plugins nicht erfolgen“ würde.45 Durch das Setzen einer entscheidenden Ursache wird der Content-Anbieter zum Mitverantwortlichen im Sinne von Art. 26 DSGVO und haftet gemeinsam mit Facebook auch für die datenschutzrechtlichen Verstöße von Facebook, die er im Zweifel selbst nicht (und auch nicht durch eine gemeinsame datenschutzrechtliche Vereinbarung) beeinflussen kann.

39 Besonders deutlich der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg: „Solange Facebook als auch die Fanpage-Betreiber ihrer Rechenschaftspflicht nicht nachkommen, ist ein datenschutzkonformer Betrieb einer Fanpage nicht möglich.“, abrufbar unter https://www.baden-wuerttemberg.datenschutz.de/ds-gvo-pflichtenbei-facebook-fanpages/ (unter Bezugnahme auf eine entsprechende Äußerung der Datenschutzkonferenz). 40 EuGH, Urteil vom 29. 07. 2019, C-40/17 („Fashion-ID“); dieses Urteil bezog sich auf die Vorgängernorm zur DSGVO, ist der Sache nach aber auf sie anwendbar, vgl. Cornelius Böllhoff/Diane Rataj, Die Mehrstufigkeit der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit – Neues aus Luxemburg in Sachen Fashion ID, WRP (Wettbewerb in Recht & Praxis) 2019, S. 1536 – 1539, 1536. 41 EuGH, Vorlageentscheidung vom 05. 06. 2018, C-210/16 („Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein“) und Urteil (der Großen Kammer) vom 10. 07. 2018, C-25/17 („Jehovan todistajat“), Rn. 68. 42 EuGH, Urteil vom 29. 07. 2019, C-40/17 („Fashion-ID“), Rn. 26. 43 Bzw. Facebook Ireland als seinerzeitige europäische Niederlassung von Facebook. 44 EuGH, Urteil vom 29. 07. 2019, C-40/17 („Fashion-ID“), Rn. 77. 45 EuGH, Urteil vom 29. 07. 2019, C-40/17 („Fashion-ID“), Rn. 78.

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d) Übermittlung in Drittländer Das Urteil bezog sich auf Facebook Ireland. Kommt es allerdings zu einem Datentransfer in Staaten, in denen die DSGVO nicht gilt (sog. Drittländer), ist notwendig, dass der Verantwortliche geeignete Garantien (Art. 46 DSGVO) dafür trifft, dass „das durch diese Verordnung gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen nicht untergraben wird“ (Art. 44 DSGVO). Hierzu muss der Verantwortliche zunächst einmal prüfen, ob im Drittland ein hinreichendes Schutzniveau besteht. Für die USA (also die US-Bundesstaaten) hat der EuGH dieses in seiner „Schrems II“-Entscheidung verneint.46 Und auch gegen die avisierte Nachfolgeregelung, das Transatlantic Data Privacy Framework (Transatlantischer Datenschutzrahmen),47 hat trotz der inzwischen zu seiner Umsetzung ergangenen Executive Order von US-Präsident Joseph Biden48 gute Chancen, erneut vom EuGH für datenschutzrechtlich unzureichend erklärt zu werden.49 Für andere Staaten (wie Großbritannien) hingegen bestehen Angemessenheitsbeschlüsse der Europäischen Kommission nach Art. 45 Abs. 3 DSGVO. Sind solche nicht vorhanden, hat der Verantwortliche (also die Behörde) einen konkreten Schutzmechanismus vorzusehen und zugleich sicherzustellen, dass dieser (etwa in Standard-Datenschutzklauseln oder in verbindlichen internen Datenschutzvorschriften, Binding Corporate Rules, geregelte Schutz) im Drittland auch tatsächlich (durch entsprechende Rechtsbehelfe) durchsetzbar ist.50 3. Folgeprobleme im „digitalen öffentlichen Raum“ Nach allem kann man fast nur die Konsequenz ziehen, dass sich Behörden aus den sozialen Medien zurückziehen oder zumindest nicht mehr als Content-Anbieter auftreten sollten. Werden aber entsprechende Diskussionsräume nicht angeboten, so verbleibt der „digitale öffentliche Raum“ letztlich in privater Hand (weil zumindest derzeit nicht realistisch davon ausgegangen werden kann, dass Bürgerinnen und Bürger künftig Behördenseiten auf „staatlichen sozialen Medien“ akzeptieren werden). Dann aber stellt sich die Frage, ob dann auch diejenigen, die diesen „öffentlichen“ 46

EuGH, Urteil vom 16. 07. 2020, C-311/18 („Schrems II“). Dazu das „Joint Statement“ von EU(-Kommission) und der US-amerikanischen Seite, online unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_2087, abgerufen am 02. 11. 2022. 48 Online nachzulesen unter: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/presidential-ac tions/2022/10/07/executive-order-on-enhancing-safeguards-for-united-states-signals-intellig ence-activities/, abgerufen am 02. 11. 2022. 49 Vgl. die Erklärung der von Maximilian Schrems gegründeten Organisation „none of your business“ (noyb) dazu, https://noyb.eu/de/executive-order-zur-us-ueberwachung-reicht-wohlnicht, abgerufen am 03. 11. 2022; für einen entsprechenden Hinweis danke ich Thomas Kienle. 50 Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Prüfschema Drittländertransfer, online: https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/EU_UN/Pru efschema-Schrems-II.html, abgerufen am 07. 11. 2022. 47

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Raum bereitstellen, den Bindungen der öffentlichen Hand unterliegen sollen (insbesondere der Grundrechtsbindung).51 a) Grundrechtsbindung Privater? Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Stadionverbots-Entscheidung,52 die von vielen zu Recht so gelesen wurde, das sie sich auch auf sogenannte Informationsintermediäre53 (also Diensteanbieter) beziehen kann, die Möglichkeit einer mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte (hier: des Allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG) grundsätzlich bejaht. Diese könne dazu führen, dass sich der Inhaber eines (analogen, aber vielleicht auch digitalen) Hausrechts nicht auf dieses Recht berufen dürfe, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von der Nutzung der betreffenden Einrichtung auszuschließen.54 Das Bundesverfassungsgericht setzte insofern seine Entscheidungslinie zur Bindung der Inhaber sog. Bottlenecks fort, denn bereits in seiner „Bierdosen-Flashmob“-Entscheidung hatte es ausgeführt, dass private Unternehmen dann, wenn sie „die Bereitstellung der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die früher in der Praxis allein dem Staat zugewiesen waren“, „im Wege der mittelbaren Drittwirkung nach Maßgabe einer Abwägung“ auch die Grundrechte der Nutzenden (hier konkret: deren Versammlungsfreiheit) zu beachten hätten; die Bindung von privaten Anbietern könne insofern je „nach Fallgestaltung […] einer Grundrechtsbindung des Staates nahe oder auch gleich kommen“.55 Das allerdings erfordert – um einen Begriff von Angelika Siehr zu entlehnen – ein „materielles Verständnis“ des Begriffs „öffentlicher Raum“ (denn die öffentliche Kommunikation vollzog sich ja nicht notwendigerweise an Orten, die vom Staat bereitgestellt wurden – vielmehr wurden sie erst durch die Kommunikation zu Orten des „kommunikativen Gemeingebrauchs“). In seiner Stadionverbots-Entscheidung vom 11. April 2018 hat der Erste Senat des Gerichts seine Rechtsprechung dahingehend präzisiert, dass es zwar kein „objektives 51

Zur Neubegründung des „Rechts am öffentlichen Raum“ vgl. Angelika Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum. Theorie des öffentlichen Raumes und die räumliche Dimension von Freiheit, Tübingen 2016. 52 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11. 04. 2018 – 1 BvR 3080/09, BVerfGE 148, 267 („Stadionverbot“). 53 Zum Begriff Jörn Lüdemann, Warum und wie reguliert man digitale Informationsintermediäre? Grundfragen der medienrechtlichen Instrumentendiskussion am Beispiel des Suchmaschinensektors, in: Yoan Hermstrüver/Jörn Lüdemann (Hrsg.), Der Schutz der Meinungsbildung im digitalen Zeitalter, Tübingen 2021, S. 1 – 34, 1; Alexander Schiff, Informationsintermediäre: Verantwortung und Haftung, Tübingen 2021. 54 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 –, BVerfGE 148, 267 (267, Leitsatz 2) („Stadionverbot“). 55 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 18. 07. 2015 – 1 BvQ 25/15, NJW 2015, 2485, 2486 („Bierdosen-Flashmob“) unter Bezugnahme auf BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 22. 02. 2011 – 1 BvR 699/06, BVerfGE 128, 226, 249 f. („Fraport“).

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Verfassungsprinzip“ gebe, das Art. 3 Abs. 1 GG zu entnehmen sei und das besage, dass Private untereinander den Gleichheitssatz zu beachten hätten.56 Wohl aber könne es „spezifische Konstellationen“ geben, in denen dieses der Fall sei.57 Und derartige Konstellationen könnten, so die Interpretation von Matthias Ruffert, immer dann vorliegen, wenn es zu Anballungen „[g]esellschaftlicher Macht“ komme.58 Das Bundesverfassungsgericht hat zu den „spezifischen Konstellationen“ ausgeführt, dass die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung […] von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls“ abhänge; es handle sich jedenfalls um solche Konstellationen, in denen die „Freiheitssphären der Bürgerinnen und Bürger in einen Ausgleich gebracht werden müssen, der die in den Grundrechten liegenden Wertentscheidungen hinreichend zur Geltung“ bringe.59 Beispielhaft wird sodann genannt, dass es sich um Fälle handeln könne, in denen „die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite eine maßgebliche Rolle“ spiele.60 In einem Kammerbeschluss von Mai 2019 hat das Bundesverfassungsgericht konsequenterweise Facebook (hier: im Weg einer einstweiligen Anordnung) verpflichtet, die Seite der Partei „Der III. Weg“ bis zur Feststellung des amtlichen Endergebnisses der Europawahl vorläufig zu entsperren.61 Auch bei den Entscheidungen der Instanzgerichte62 ist neuerdings eine Tendenz dahingehend zu erkennen, entsprechende Konstellationen als „multipolare Grundrechtsverhältnisse zu interpretieren.63

56 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 –, BVerfGE 148, 267 (267, Leitsatz 1) („Stadionverbot“). 57 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 –, BVerfGE 148, 267 (267, Leitsatz 2) („Stadionverbot“). 58 Matthias Ruffert, Common sense statt strikte Dogmatik? Zutreffendes aus Karlsruhe zu Stadionverboten, Verfassungsblog vom 30. April 2018, https://verfassungsblog.de/commonsense-statt-strikte-dogmatik-zutreffendes-aus-karlsruhe-zu-stadionverboten/, abgerufen am 15. 04. 2022. 59 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11. 04. 2018 – 1 BvR 3080/09 –, BVerfGE 148, 267 (267, Rn. 33) („Stadionverbot“). 60 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11. 04. 2018 – 1 BvR 3080/09 –, BVerfGE 148, 267 (267, Rn. 33) („Stadionverbot“) unter Verweis u. a. auf BVerfG, Urteil vom 22. 02. 2011 – 1 BvR 699/06, BVerfGE 128, 226, 249 f. („Fraport“). 61 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2019 – 1 BvQ 42/19 („Der III. Weg“), http://www.bverfg.de/e/qk20190522_1bvq004219.html (02. 11. 2022). 62 Etwa OLG Braunschweig, Urteil vom 05. 02. 2021 – 1 U 9/20, ZUM-RD 2021, 398. 63 Jörn Lüdemann, Digitalisierte Öffentlichkeiten und multipolare Grundrechtsverhältnisse, ZUM 2021, S. 640 – 643, 642. Zu dem entsprechenden Verständnis von Grundrechten durch das Bundsverfassungsgericht hingegen kritisch Andreas Kulick, Weniger Staat wagen. Zur Geltung der Grundrechte zwischen privaten, AöR 145 (2020), S. 649 – 703, 696 f.

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b) Verhinderung der Entstehung (quasi-)monopolartiger Stellungen Hier bieten sich nun zwei Ansätze an: ein eher kartellrechtliches Verständnis oder ein regulierungsrechtliches, welches über ein Kartell- oder Sonderkartellrecht hinausweisend ein Verständnis des Internet als „öffentlicher Raum“ begründen kann. Zum erstgenannten Ansatz: Eine Alternative zu einer quasi-staatlichen Grundrechtsbindung Privater hätte nämlich eine kartellrechtliche Verhinderung der Bildung privater bottlenecks geboten. Diesen Ansatz verfolgt der zum 1. November 2022 in Kraft getretene (und teils ab Mai 2023, teils ab Juni 2023 wirksam werdende) sog. Digital Markets Act (DMA) der EU64 als Instrument eines europäischen Digitalwirtschaftsrechts (neben dem bereits erwähnten Digital Services Act als einer Art neuem Medienaufsichtsrecht).65 Allerdings scheint, so das zweite mögliche Verständnis, das Bundesverfassungsgericht über diesen Ansatz hinausgehen zu wollen und die Frage nach dem Recht am öffentlichen Raum als Element einer neuen „Kommunikationsverfassung“ aufzufassen.66 Übergreifend hierzu lässt sich die US-amerikanische Public Forum Doctrine verstehen, die zum First Amendment der US-Verfassung entwickelt wurde: Die Meinungsfreiheit, auch die öffentliche Meinungskundgabe, ist an Verwirklichungsvoraussetzungen geknüpft, gäbe es nur noch privatisierte Räume, so müsste er (entweder durch das Freihalten von bottlenecks oder aber durch eine Neuregulierung des betroffenen Bereichs) welche schaffen67 – ein Gedanke, der in Deutschland im analogen Raum bislang unter dem Begriff „Gewährleistungsverantwortung“ diskutiert wurde.68

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Verordnung (EU) 2022/1925 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2022 über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien (EU) 2019/1937 und (EU) 2020/1828 (Gesetz über digitale Märkte), ABl. L 265 vom 12. 10. 2022, S. 1. Einige Teile dieser Verordnung sind schon im November 2022 in Kraft getreten, vgl. Art. 54 DMA. 65 Vgl. ergänzend Albert Ingold, Regulativer Wettbewerbsschutz der digitalen Medienwirtschaft. Grenzen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Internet, in: Christoph Krönke (Hrsg.), Regulierung in Zeiten der Digitalwirtschaft. Ausgewählte Fragen des Öffentlichen Wirtschafts-, Informations- und Medienrechts, Tübingen 2019, S. 99 – 122. 66 So die pointierte Zusammenfassung dieser Rechtsprechung durch Friedrich Schoch in der Rezension der in der in Fn. 51 genannten Habilitationsschrift von Angelika Siehr, in: Der Staat 57 (2018), S. 477 – 482, 478 (Schoch betont zu Recht, dass es in Siehrs Untersuchung an der Analyse des „virtuellen Raumes“ fehle). 67 Zu dieser vgl. Lyrissa B. Lidsky, Government Sponsored Social Media and Public Forum Doctrine under the First Amendment: Perils and Pitfalls, abrufbar unter: http://scholarship.law. ufl.edu/facultypub/626, abgerufen am 01. 11. 2022. 68 Diesen Gedanken verdanke ich einer Diskussion mit Carsten Berger. Zur „Gewährleistungsverantwortung“ vgl. nur Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Recht des Gewährleistungsstaates, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005, S. 89 – 106.

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III. Bilanz und Ausblick Die digitale Transformation hat der Bürger-Staat-Kommunikation neue Facetten hinzugefügt, sie fordert sie aber zugleich heraus: „Dass sich heute jedermann in den digitalen Kommunikationsräumen des Internets ohne nennenswerten Aufwand am Selbstgespräch der Gesellschaft beteiligen kann, hat die öffentlichkeitswirksamen Akteure multipliziert, die Kommunikationsräume egalisiert und die Strukturen der Meinungsbildung revolutioniert.“69

Das alles erfordert zunächst einmal eine Selbstvergewisserung der Rolle als Kommunizierender. Dass es dabei nicht nur um das Posten von Tierfotos oder von Stellenangeboten gehen kann, versteht sich von selbst. Vielmehr muss sich die Öffentliche Hand damit auseinandersetzen, was sie selbst ausmacht: als Arbeitgeberin (Dienstherrin), als Leistungserbringerin, aber auch als die Inhaberin des Gewaltmonopols. Solange man sich darüber nicht verständigt, drohen immer wieder Rollenverwischungen, die das Gegenteil von dem erreichen, was man bewirken wollte: Unverständnis statt Nähe. Der Digital Services Act und der Digital Markets Act stellen insoweit (zusammen mit anderen bereits verabschiedeten oder geplanten europäischen Regelwerken wie dem Data Governance Act70, dem Data Act71 und dem AI Act72) einen Schritt hin zu einer europäischen Digitalverfassung dar. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch, wie es einer Verfassung würdig ist, in der Gesellschaft hinreichend breit diskutiert wird und nicht ein bloßes Elitenprojekt bleibt.

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Lüdemann, Digitalisierte Öffentlichkeiten (Fn. 63), S. 640. Verordnung (EU) 2022/868 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2022 über europäische Daten-Governance und zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1724 (Daten-Governance-Rechtsakt) (Text von Bedeutung für den EWR), PE/85/2021/REV/1, ABl. L 152 vom 3. 6. 2022, S. 1. 71 Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über harmonisierte Vorschriften für einen fairen Datenzugang und eine faire Datennutzung (Datengesetz) 2022/0047 (COD). 72 Vgl. den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsankte der Union, COM(2021) 206 final, 2021/0106 (COD). 70

Verwaltungshandeln und Verwaltungsrecht vor dem Hintergrund der Veränderung der Lebenswelt Von Hermann Hill Die Krisen und Katastrophen der jüngsten Zeit stellen Herausforderungen für Verwaltungshandeln und Verwaltungsrecht dar. Der Beitrag diskutiert mögliche Weiterentwicklungen. Dabei werden rechtliche Lösungen nicht rein dogmatisch betrachtet, sondern mit den Handlungsbedingungen der Verwaltung sowie den Wirkungen des Verwaltungshandelns in der Realität verknüpft.

I. Herausforderungen Die Veränderung der Lebenswelt war auch in der Vergangenheit schon häufig Gegenstand von Diskussionen über staatliche Steuerungsmöglichkeiten. Bekannt sind der Hinweis auf sog. wicked issues,1 die Unterscheidung zwischen einfachen, komplizierten, komplexen und chaotischen Zusammenhängen2 sowie die Diskussionen um die sog. VUKA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity).3 Der Staat sieht sich Herausforderungen gegenüber, die neue oder gar keine Muster mehr zeigen und vielfach keine Einordnung zulassen. Sie sind häufig asymmetrisch, nicht berechenbar und hybrid. Der Staat ist immer noch nach den Erfordernissen der Industriegesellschaft aufgestellt, mit einer Trennung der verschiedenen Ebenen, einer Selbstständigkeit der einzelnen Behörden und einer hierarchischen Aufteilung zwischen Planung und Entscheidung einerseits sowie Vollzug andererseits. Dabei findet eine Einbeziehung oder Mitwirkung von Adressaten, Kunden oder Stakeholdern sowie der Zivilgesellschaft zumeist noch nicht statt. Auf der anderen Seite stehen aber häufig „verwobene Gesamtheiten“ mit Netzwerken und mehr oder minder losen Koppelungen.4 Diese folgen nicht Regeln oder Gewohnheiten, sondern agieren 1

Harald Fuhr, Verwaltung und Wicked Problems, in: Sylvia Veit u. a. (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 5. Aufl. 2019, S. 191 ff. 2 David J. Snowden/Mary E. Boone, Entscheiden in chaotischen Zeiten, Harvard Business Manager, Dezember 2007, S. 2. 3 Oliver Mack, Managing in a VUCA World, 2016; Hermann Hill, Kommunikation und Entscheidung in der „VUCA-World“, in: Hermann Hill/Joachim Wieland (Hrsg.), Zukunft der Parlamente – Speyer Konvent in Berlin, 2018, S. 121 ff. 4 Stephan Maninger, Hybride Netzwerke als Gefahrenquelle, in: Dirk Freudenberg/Marcel Kuhlmey (Hrsg.), Krisenmanagement – Notfallplanung – Zivilschutz, 2021, S. 335 (340 ff.).

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nach außen scheinbar spontan, wenn auch vielleicht im Hintergrund abgestimmt, und sind immer für Überraschungen und unerwartete Winkelzüge gut. Hinzu kommt ein hybrides Vorgehen, das Handeln in Präsenz mit Aktivitäten im Netz verbindet und dieses zunehmend zur Verschleierung seiner Tätigkeiten durch Desinformation und gezielte Provokationen nutzt.5 Manche Krisen und Katastrophen der letzten Jahre waren zwar abstrakt vorhersehbar, zeigen aber den Staat häufig unvorbereitet oder wegen der Komplexität seiner Organisation nur begrenzt handlungsfähig.6 Teilweise, wie etwa bei Klimawandel oder Versorgungssicherheit, zeigen sie auch Versäumnisse in der Vergangenheit oder Abhängigkeiten auf. Das „Age of Turbulence“7 stellt den Staat daher zunehmend vor Herausforderungen. Die aktuellen Krisen und Katastrophen haben zwar zu verschiedenen pragmatischen Lösungsansätzen geführt.8 Dennoch lässt sich grundsätzlich feststellen, dass weder Struktur, Handlungsformen oder Verfahren der Verwaltung und erst recht nicht die Verwaltungskultur bisher auf solche Herausforderungen eingestellt sind.9

II. Stand des Verwaltungsrechts Die öffentliche Verwaltung ist an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Handlungsdruck durch Krisen und unerwartete Entwicklungen hat dazu geführt, dass Gesetze immer komplexer werden und immer schnellere Novellen nach sich ziehen. Gleichzeitig lässt ihre Gestaltungskraft wegen der schnellen Veränderung der Verhältnisse und der Vielzahl der Vollzugsbehörden in Ländern und Kommunen, die auf regionale Besonderheiten verweisen, nach. „Gesetzesersatzlösungen“, wie Beschlüsse, Verordnungen oder Allgemeinverfügungen treten an ihre Stelle. Umgekehrt versucht der Gesetzgeber durch sog. Bundesnotbremsen, Le5 Markus Schrader, Zivil-militärische Zusammenarbeit – nach dem Paradigmenwechsel, in: Freudenberg/Kuhlmey (Fn. 5), S. 353 ff. 6 Sebastian Muschter, Gestalten statt Verwalten! Lernen aus der Lageso-Krise, 2018; Mariana Mazzucato/Rainer Kattel, COVID-19 and public-sector-capacity, Oxford Review of Economic Policy, Number S1, 2020, S. 256 ff. 7 Alan Greenspan, The Age of Turbulence, Adventures in a New World, 2008; Christopher Ansell/Jane Trondal, Governing turbulence: An Organizational-Institutional Agenda, Perspectives on Public Management and Governance 2018, 43. 8 Tanja Klenk u. a., Der öffentliche Gesundheitsdienst in der Corona-Krise: Zwischen Hierarchie, loser Koppelung und polyzentrischer Koordination, dms 2021, 284; 3, Wolfgang Seibel u. a., Verwaltungsresilienz unter Stressbedingungen, dms 2022, 109; Thorsten Siegel, Verwaltungsrecht im Krisenmodus, NVwZ 2020, 577. 9 Vgl. schon Hermann Hill, Verwaltungsverfahren bei unerwarteten Ereignissen und Entwicklungen, in: Hermann Hill u. a. (Hrsg.), 35 Jahre VwVfG – Bilanz und Perspektiven, 2011, S. 333 ff., sowie Hermann Hill, Gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln, in: Wolfgang Kahl/Markus Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band V, 2022, § 127; Hermann Hill, Auf dem Weg zu einer neuen Verwaltungskultur, DVBl 2021, 1457.

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galplanungen oder Vorrangbeschlüsse aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses bei Abwägungen eine Beschleunigungswirkung durch unmittelbare Vollzugskraft zu erzielen.10 Das „Grundgesetz der Verwaltung“, das VwVfG, verharrt im Hinblick auf Handlungsformen11 nach wie vor in seinem Ausgangszustand.12 Neue Ansätze werden in die Kategorien schlichtes bzw. informales Verwaltungshandeln oder sui generis abgedrängt.13 Neue Entwicklungen, wie etwa im Rahmen der Digitalisierung, werden in Sondergesetzen erfasst.14 Das am VwVfG orientierte klassische Verwaltungsrecht ist nach wie vor im Wesentlichen auf Einzelfälle und bilaterale Beziehungen abgestellt, die in Form eines Verwaltungsaktes geregelt werden. Selbst die übergreifende Kategorie des Rechtsverhältnisses findet in der Dogmatik nur teilweise Anerkennung.15 Abgegrenzte Zuständigkeiten, hierarchische Entscheidungen und lineare Verfahren prägen das Bild der Dogmatik. Innen- und Außenrecht sind nach wie vor getrennt, Prozess- oder Netzwerkdenken ist noch nicht angekommen.16 Prüfen und kontrollieren prägen das Amtsverständnis, der Antragsteller oder Störer prägt das Bürgerbild. Die verfassungsrechtliche Einbettung, etwa im Hinblick auf Wesentlichkeitstheorie und Bestimmtheitsgrundsatz17 oder in Bezug auf Agilität, Experimente und Fehlerfreundlichkeit,18 hinkt hinterher. Der Realbereich des Verwaltungshandelns, sowohl bei den Handlungsvoraussetzungen und Arbeitsweisen innerhalb der Behörde19 als auch im Hinblick auf die Wirkungen des Verwaltungshandelns,20 bleibt weitgehend ausgeblendet. Eine ganzheitliche Betrachtung von Gesetzgebung, Verwaltung 10

Vgl. Hermann Hill, Gesetzgebung neu denken, ZG 2022, 125 (133 ff.). Torben Ellerbrok, Die Handlungsformenlehre: Bestand, Leistungsfähigkeit und Herausforderungen, DVBl 2021, 1204; Wolfgang Kahl, in: Kahl/Ludwigs, Handbuch des Verwaltungsrechts, Band V, 2022, § 140. 12 Vgl. schon Hermann Hill, Das VwVfG vor neuen Herausforderungen, in: Hill u. a. (Hrsg.), 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – Bilanz und Perspektiven, 2011, S. 351 ff. 13 Thorsten Siegel, Verwaltungshandeln sui generis, in: Wolfgang Kahl/Markus Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Band V, 2022, § 157. 14 Annette Guckelberger, VVDStRL 78 (2019), 235 (281). 15 Hartmut Bauer, Lehren vom Verwaltungsrechtsverhältnis, 2022. 16 Hermann Hill, Vom Aufbrechen und der Veränderung der Verwaltungsrechtsordnung – verwaltungswissenschaftliche Perspektiven, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Herausforderung e-Government, 2009, S. 349 (362 ff.). 17 Fiete Kalscheuer/Annika Jacobsen, Der Chaosgedanke – Rechtsanwendung in Krisenund Umbruchzeiten, DÖV 2021, 633. 18 Hermann Hill, Agiles Verwaltungshandeln im Rechtsstaat, DÖV 2018, 497. 19 Hermann Hill, Lehren aus der Krise – Impulse für Führen, Arbeiten und Lernen nach Corona, Verwaltung & Management 2021, 179; Judith Muster/Julia Borggräfe, Digitalisierung versus Dienstweg, Organisationsentwicklung 2/2022, 54. 20 Hermann Hill/Hagen Hof, Wirkungsforschung zum Recht II – Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hermann Hill, Public Value Management, in: Martin Brüggemeier u. a. (Hrsg.), Controlling und Performance Management im Öffentlichen Sektor, 2007, S. 373 ff. 11

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und Kontrolle/Evaluation findet kaum statt.21 Es mangelt angesichts der geschilderten Unsicherheiten an einem gestalterischen und lernenden, designorientierten Denken sowie an adaptivem und situationsorientiertem Vorgehen.22 Im Folgenden werden daher einige Gedanken und Vorschläge unterbreitet, wie das Verwaltungsrecht weiterentwickelt werden könnte.23

III. Robustes Verwaltungsrecht für turbulente Zeiten Ein Denkansatz könnte das Konzept der robusten Governance darstellen. Im internationalen Schrifttum wird politische Robustheit als die dynamische Kapazität verstanden, verlässliche Wertschöpfung als Antwort auf Spannungen und Herausforderungen zu betreiben.24 Political Robustness enthalte danach das absichtsvolle Bemühen zu effektiver Problemlösung. Diese erfolge durch das strategische Design einer institutionellen Architektur, die Werkzeuge und Prozesse bereitstellt und eine flexible Anpassung an herausfordernde Umweltbedingungen sowie die innovative Erkundung und Nutzung sich ergebender Chancen ermöglicht. Aus dieser Perspektive umfasse eine robuste Governance sowohl eine flexible Adaption als auch ein kreatives Entrepreneurship. In turbulenten Situationen sind nach dem Konzept der robusten Governance25 Vorausschau, Schutz und Resilienz nicht ausreichend. Stattdessen müsse der öffentliche Sektor der Turbulenz mit robusten Strategien begegnen, mit denen kreative und agile öffentliche Organisationen sich an das Entstehen disruptiver Probleme anpassten, indem sie Netzwerke und Partnerschaften mit dem privaten Sektor und der Zivilgesellschaft bildeten. Es gehe um die flexible Anpassung, agile Modifizierung und pragmatische Neuausrichtung von Governance-Lösungen. Damit verbunden sei das Verständnis einer „dynamischen Resilienz“, in der politische und soziale Akteure die Idee eines vergangenen Gleichgewichts aufgeben und sich stattdessen in eine anpassende Suche nach einer neuen entstehenden Ordnung begeben.

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Dazu jetzt Hermann Hill, ZG 2022, 125. Vgl. noch Jörg Bogumil u. a. Verwaltung besser machen, ZEFIR-Materialien, Band 19, Bochum, März 2022; Klaus Effing, Verwaltungsmodernisierung als Daueraufgabe, DVBl 2022, 501. 23 Vgl. noch Claudio Franzius, Brauchen wir ein allgemeines Verwaltungsrecht?, JZ 2019, 1611; Ariane Berger, Brauchen wir ein neues Verwaltungsrecht?, in: Henning Lühr (Hrsg.), Brauchen wir eine neue Staatskunst?, 2019, S. 206 ff.; Enrico Peuker, Renaissance der Verwaltungswissenschaft?, Die Verwaltung 52 (2019), 157. 24 Eva Sorensen/Christopher Ansell, Towards a Concept of Political Robustness, Political Studies 2021, 1 (5 f.). 25 Christopher Ansell/Eva Sorensen/Jacob Torfing; The COVID-19 pandemic as a game changer for public administration and leadership? The need for robust governance responses to turbulent problems, Public Management Review 2012, 949 (952). 22

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IV. Verwaltung im Gefüge der Staatsfunktionen Die angelsächsischen Konzepte von Governance und Regulation gehen weiter als das deutsche Verwaltungsrecht und enthalten eine umfassende Perspektive der Staatsfunktionen.26 Jedoch ist auch die Dogmatik des deutschen Verwaltungsrechts durch ihre verfassungsrechtliche und gesetzliche Einbettung sowie vor allem durch die rechtsschutzorientierte gerichtliche Kontrolle mit geprägt. Das Handeln der Verwaltung und seine rechtliche Legitimation, Ermächtigung und Grenzziehung kann daher nicht nur aus dem Blickwinkel der Dogmatik der verwaltungsrechtlichen Strukturen, Verfahren und Formen betrachtet werden. Vielmehr bedarf es einer funktionellen Sichtweise, um Handlungsmöglichkeiten und -wirkungen zu verstehen, einzuordnen und vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen einzuordnen. Der Gesamtauftrag der Verwaltung erfordert eine Sichtweise, die von vorneherein auch die Wirkungen des Staatshandelns für das Gemeinwohl und das Leben der Menschen einbezieht und damit das Handeln des Staates als funktionale Wirkungseinheit27 betrachtet. Über Kundenorientierung und Nutzerzentrierung hinaus geht es dabei um eine Entfaltungsvorsorge für die aktuellen Träger von Grundrechten28 und die Vorsorge für zukünftige Generationen29 ebenso wie um eine proaktive Gestaltung der Zukunftsaufgaben des Staates. Ein gutes Beispiel für die integrierte Betrachtung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung sind die Digitalisierungslabore im Zusammenhang mit dem Onlinezugangsgesetz, in denen Vollzugsbehörden und Nutzer von Anfang an einbezogen wurden.30 Dies erhöht die Chance, dass von den Lösungen auch Gebrauch gemacht wird und klassische Vollzugsdefizite vermieden werden können. Dieses Format erinnert an übergreifende Ansätze aus der Automobilindustrie, wie Lean Management, oder der Softwareentwicklung, wie sog. DevOps (Developments and Operations).31 In ähnlicher Weise wird im internationalen Bereich das Konzept des Design Thinking empfohlen, um die Trennung zwischen Politikformulierung und Implementation zu überwinden und dabei diejenigen, die über Nutzererfahrungen verfügen und die Lösung umsetzen sollen, von Anfang an einzubeziehen. In diesem Verfahren

26 Vgl. Hermann Hill, Good Governance – Konzepte und Kontexte, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, 2005, S. 220 ff.; Hermann Hill, Recht als Geschäftsmodell – Von Better Regulation zu New Regulation, DÖV 2007, 809. 27 Hill (Fn. 17), S. 367. 28 Stephen P. Osborne, Public Service Logic, 2021; Jakob Trischler/Jessic Westman Trischler, Design for experience – a public service design approach in the age of digitalization, Public Management Review 2022, 1251. 29 BVerfG DÖV 2021, 738; Jörg Berkemann, DÖV 2021, 701 (712); Gabriele Britz; NVwZ 2022, 825. 30 Julia Fleischer/Nora Carstens, Policy Labs as arenas for boundary spanning: inside the digital transformation in Germany, Public Management Review 2022, 1208. 31 Hermann Hill, ZG 2022, 125 (136 f.).

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wird mithilfe von Prototypen und Tests der Weg vom Problemraum zum Lösungsraum gegangen, der Lösungen bieten soll, die „desirable, feasible and viable“ sind.32 Das Management von Unsicherheit und Nichtwissen lässt nicht zu, dass die Verwaltung immer „fertige und abschließende Entscheidungen“ treffen kann. Im Sinne eines „Humble Government“33 kann es sich oft nur um Versuche oder Annäherungen handeln, die in emergenten Verfahren weiterentwickelt werden. Auch der Ansatz eines agilen Verwaltungsverfahrens34 erfordert, sog. minimum viable products in lernenden und iterativen Prozessen gemeinsam mit den Kunden und Stakeholdern weiterzuentwickeln. Schließlich führt der Handlungsdruck, der etwa durch Versorgungsunsicherheit und Klimawandel erzeugt wird, dazu, dass im Sinne der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren zunehmend eine Zulassung vorzeitigen Beginns erforderlich wird.35 Ebenso wie eine integrierte Betrachtung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung geboten ist, sind jeweils die Wirkungen zu beachten. Das wirkungsbezogene Gesetzes- und Verwaltungshandeln gewann im Rahmen des sog. Neuen Steuerungsmodells Aufmerksamkeit. Man versuchte, das Ziel der Steuerung vom Ergebnis hin zu den Wirkungen zu verlagern.36 Dabei stellen die vielfach entwickelten Wirkungsindikatoren lediglich Ziele und Absichten dar, die im Rahmen des Controllings bzw. der Evaluation wieder aufgegriffen werden. Im Rahmen der Steuerung über Wirkungen stellt sich jeweils die Frage, ob diese Wirkungen kausal durch staatliches Handeln oder auf andere Weise entstanden sind. Die Versuche, Wirkungen herbeizuführen bzw. auszulösen, sind vielfältig und betreffen den Bereich der staatlichen Handlungsformen. Neben imperativen, finanziellen oder marktwirtschaftlichen sowie appellativen Maßnahmen geht es dabei vor allem um sog. influenzierende und integrierende Maßnahmen. Als neue Formen von Anreizen stellen sich dabei Nudging, Priming oder Gamification dar.37 Ein anderer Ansatz der wirkungsorientierten Sichtweise im Verwaltungsrecht liegt darin, von der

32 Eva Sorensen/Jacob Torfing, Radical and disruptive answers to downstream problems in collaborative governance?, Public Management Review 2021, 1590 (1597); vgl. noch Christian Bason, Leading public sector design: Discovering human-centred governance, 2017; Michael Barzelay, Public Management as a design-oriented discipline, 2019. 33 Mikko Annala u. a., Humble Government: How to Realize Ambitious Reforms Prudently, abrufbar unter https://demoshelsinki.fi/julkaisut/the-more-complex-and-uncertain-a-poli cy-issue-is-the-more-useful-it-is-to-approach-it-through-humility/. 34 Hermann Hill, Agiles Verwaltungshandeln im Rechtsstaat, DÖV 2018, 497; Daniel Rölle, Agile Verwaltung, in: Tanja Klenk u. a. (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, 2020, S. 137 ff. 35 Vgl. etwa § 8a BImSchG; zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren Martin Burgi, NVwZ 2022. 36 Hermann Hill, Vom Ergebnis zur Wirkung des Verwaltungshandelns, in: Hermann Hill/ Helmut Klages (Hrsg.), Modernisierungserfolge von Spitzenverwaltungen1997, S. 33 ff. 37 Hermann Hill, Wie geht Innovation?, Verwaltung & Management 2017, 270.

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Wirkung her zu denken. Dies wird etwa beim Prozessdenken gefordert, das vom Kunden oder der Wertschöpfung ausgehen soll.38 Diese wirkungsbezogenen Konzeptionen reichen indessen noch nicht aus, wenn Verwaltung Real- und Lebensbereiche wirksam gestalten will. Vielmehr muss mit der (erfahrenen und reflektierten) Wirkung weiter gedacht werden. Dabei wird wieder in den Kreislauf der Staatsfunktionen eingetreten und werden Erfahrungen und neue Entwicklungen einbezogen. Das sog. Agile Policymaking erlaubt im Rahmen digitaler Prozesse, diese Korrekturen und Anpassungen in Echtzeit zu berücksichtigen.39 Bei der Analyse der Wirkungen genügt es nicht, sie nur mit den zu Beginn des Prozesses aufgestellten Zielen abzugleichen. Weitaus wertvoller ist es, im Rahmen einer zukunftsorientierten Evaluation zwar diese Erfahrungen zu berücksichtigen, aber das Schwergewicht der Wirkungsanalyse auf Anschlussfähigkeit und Anpassung sowie Weiterentwicklung zu legen. Diese Herangehensweise wird international als Developmental Evaluation (evolutive Evaluation) bezeichnet.40 Sie geht davon aus, dass unsichere und emergente Entwicklungen, Krisen und Katastrophen sowie das Zusammenwirken der Akteure ursprüngliche Ziele verändern und das „real life feedback“41 zu neuen Perspektiven und Lösungsansätzen führt. Evaluation und Rechenschaftslegung sollten sich danach nicht nur auf Einzelmaßnahmen beziehen, sondern im Sinne der Wirkungsbilanz eine Gesamtbetrachtung beinhalten, die etwa auch Kompensationen und ergänzende Maßnahmen mit einbezieht und Weiterentwicklungen in den Blick nimmt.42

V. Führung und Entscheidung In turbulenten Zeiten müssen Führung und Entscheidung neu erfunden werden, um die Fähigkeit, robuste Lösungen zu entwickeln, zu steigern.43 So wird darauf verwiesen, Führungskräfte könnten nicht an einer bestimmten Lösung festhalten, weil sie weder das Problem, die Ziele oder die Aufgaben genau kennen. Sie müssten den Dialog mit Mitarbeitenden und Stakeholdern suchen, um deren Beiträge aufzunehmen und sie dafür zu gewinnen, neue Strategien in der Praxis zu testen und sie beim 38 Hermann Hill, Prozessflexibilisierung und adaptive Prozessentwicklung, DÖV 2012, 249 (250). 39 Hermann Hill, Die Zukunft erproben, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Management von Unsicherheit und Nichtwissen, 2016, S. 327 (341). 40 Michael Quinn Patton, Developmental Evaluation: Applying Complexity Concepts to enhance Innovation and Use, 2010; Maria Gutknecht-Gmeiner, Developmental Evaluation nach Michael Patton, in: Susanne Giel u. a. (Hrsg.), Evaluationspraxis, 2016, S. 133 ff. 41 Eva Sorensen/Jacob Torfing, Public Management Review 2021, 1590 (1600). 42 Vgl. auch Hill (Fn. 4), S. 129. 43 Vgl. auch Michèle Morner, Verwaltung & Management 2021, 192.

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Lernprozess zu unterstützen. Sie sollten eher Diener (steward) als Chefs (principals) sein.44 Daneben sei Führung in turbulenten Zeiten nichts für „Kontrollfreaks“ oder Personen mit einer starken Vorliebe für rationale Entscheidungsfindung, die auf tiefen Analysen und umfangreichen Studien beruhe. Führungskräfte müssten ihren Instinkten vertrauen, Echtzeitdaten heranziehen, kognitive Dissonanz und nicht perfekte Lösungen akzeptieren und nach der „next practice“ suchen anstatt zu versuchen, eine nicht existierende „best practice“ anzuwenden.45 Schließlich müssten Führungskräfte eine horizontale Kooperation zwischen professionellen Gruppen, Organisationen und Sektoren herbeiführen. „Horizontale Führung“ sei herausfordernd, weil man Menschen führen müsse, für die man keine formale Verantwortung habe. Horizontale Führung müsse mit „verteilter Führung“ kombiniert werden, die andere Akteure ermutige, lokale und situative Verantwortung für spezielle Führungsaufgaben zu übernehmen. Dabei müssten den Mitarbeitenden vor Ort mehr Entscheidungsbefugnisse gegeben werden, die auf professioneller Urteilskraft statt auf bürokratischen Regeln basieren, damit sie den Bedürfnissen der Bürger gerecht würden.46 Diese Gedanken ähneln anderen Ansätzen eines sog. Shared Leadership. Der Bedarf an „real-time peer-based Leadership“, bei dem die Mitglieder des Teams ihre spezifische Expertise zu verschiedenen Punkten einbringen könnten, sei umso größer, je kreativer und neuer die Aufgabenstellung sei. Gerade bei dringenden Aufgaben und sich schnell verändernden Umgebungen erlaube die Dynamik des Teams mit dem kollegialen Geben und Nehmen schnellere und bessere Entscheidungen als hierarchische Strukturen.47 In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, dass neuere Experimente zu holakratischen Entscheidungsstrukturen vor allem deshalb ausprobiert werden, weil sie eine hohe Anpassungsfähigkeit an sich schnell veränderliche Lagen ermöglichen. Dazu tragen insbesondere Elemente der flexiblen und dynamischen Selbstorganisation mit Rollen und Kreisen statt festen Zuständigkeiten und Abteilungen bei.48

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Christopher Ansell u. a., Public Management Review 2021, 949 (955). Christopher Ansell u. a., Public Management Review 2021, 949 (955 f.). 46 Christopher Ansell u. a., Public Management Review 2021, 949 (956). 47 Jonathan F. Cox u. a., Toward a Broader Leadership Development Agenda, in: Susan Elaine Murphy/Ronald Riggio (Hrsg.), The Future of Leadership Development, 2003, S. 161 (172 ff.). 48 Ethan Bernstein u. a., Was ist dran am Holokratie-Hype?, Harvard Business Manager, Januar 2017, 58; Karin Maria Schertler, Chancen und Grenzen von Holacracy – ein Erfahrungsbericht, Wirtschaftspsychologie aktuell 4/2019, 57. 45

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VI. Collaborative Governance in Netzwerken Diese Erkenntnisse aus der Personalführung können auch für die Geschäftsführung in Handlungskontexten herangezogen werden. Gerade die aktuellen Krisen und Katastrophen zeigen, dass unklare Herausforderungen durch sog. „verwobene Gesamtheiten“, vermehrt ein konzertiertes Vorgehen, eine vernetzte Zusammenarbeit49 und einen „comprehensive approach“ (umfassenden Ansatz)50 erfordern. Als eine entscheidende Frage wird dabei im Schrifttum diskutiert: Wer führt beim Prinzip des umfassenden Handelns?51 In hierarchischen Konstellationen gibt es klare Regeln über Zuständigkeiten und Aufsicht. Für besondere Situationen kennt die Dogmatik des Verwaltungsrechts das Selbsteintrittsrecht der höheren Instanz, etwa bei Gefahr im Verzug, oder bei der Beseitigung von Fehlern durch Ersatzvornahme. Fraglich ist allerdings, ob diese Rechtsinstitute über die notwendige Handlungsfähigkeit und Dynamik sowie Flexibilität verfügen, um den neuartigen Herausforderungen gerecht zu werden. Die politikwissenschaftliche Perspektive52 diskutiert die Frage der Führung unter verschiedenen Governanceformen, zu denen neben Hierarchie auch Netzwerke und Verhandlungen sowie sog. lose Kopplung und polyzentrische Koordination gehören. In einem polyzentrischen Modell wird einem Akteur innerhalb des Netzwerkes die Rolle des „Governors“ zugeschrieben, der durch Monitoring und Netzwerkmanagement eine Steuerungsfunktion übernimmt.53 Nach anderer Sichtweise handelt es sich dabei um sog. Metagovernance.54 Bei Abstimmungen im weiteren Sinn kommen dabei neben dem schwerfälligen Mehrheitsprinzip auch Mandate auf Zeit sowie neue Entscheidungsformen, wie der sog. Konsent oder der konsultative Einzelentscheid, in Betracht.55 Die internationale politik- und verwaltungswissenschaftlichen Diskussion sieht unter Netzwerken im Rahmen von local public service networks, „centrally con-

49 Harald Schaub, Vernetzte Operationsführung zur Unterstützung militärischer Stäbe, in: Gesine Hofinger/Rudi Heimann (Hrsg.), Handbuch Stabsarbeit, 2016, S. 45 ff. 50 Thorsten Gensler u. a., Umfassendes Handeln statt Vernetzte Sicherheit? Neue Nuancen und die Rolle der Bundeswehr, in: Christoph Unger u. a. (Hrsg.), Krisenmanagement – Notfallplanung – Bevölkerungsschutz, 2013, S. 699 (707). 51 Gensler u. a. (Fn. 51), S. 707 f. 52 Zur soziotechnischen Perspektive Jan-Felix Schrape, Digitale Transformation, 2021, S. 137. 53 Klenk u. a. (Fn. 9) S. 287. 54 Eva Sorensen/Jacob Torfing, Making Governance Networks effective and democratic through etagovernance, Public Administration 87 (2009), 234. 55 Andrea Rohrberg/Dorothea Herrmann, Hinter den Kulissen. Kleiner Leitfaden für kollektiv geführte Organisationen, 2019, S. 55 ff., 64.

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trolled and formally organized“ Organisationsformen.56 Stattdessen gehen Tony Kinder u. a. von sog. Ecosystems aus. Sie verweisen darauf, dass „ecosystems are led not centrally directed by a powerful agent, but instead guided to change by collective consciousness that results from learning in logic-of-practice distributed in the ecosystem“.57 In der rechtswissenschaftlichen Diskussion werden Netzwerke58 überwiegend als Informationssystem und Organisationsform59 verstanden. Bezeichnenderweise heißt es, das Netzwerk sei kein Rechtsbegriff, sondern diene der Beschreibung von Phänomenen in der Rechtswirklichkeit.60 Vor dem Hintergrund von terroristischen Bedrohungen sowie der Bewältigung von Krisen und Katastrophen stellt sich die Frage, ob Netzwerke im Hinblick auf den erforderlichen „comprehensive approach“ und das „horizontal leadership“ auch als Handlungsform verstanden werden können bzw. wie sich aus dem Netzwerk heraus flexible Handlungsbereitschaft, Initiative sowie eine differenzierte, wirksame Ansprache und Problemlösung entwickeln lassen können. Dies wäre möglich, wenn dazu Funktion und Kompetenz sowie die Logik und das Gefüge der Situation als Legitimationsbasis und Maßstab herangezogen werden. Die einzelnen Netzwerkpartner verfügen über unterschiedliche Kapazitäten, die je nach Situation und Bedarf zum Einsatz kommen könnten. Diese „kompetenzbasierte, situative Führung“ basiert auf geteilten Werten und einem gemeinsamen Verständnis des Auftrags, auf einer Kenntnis der Partner, aktuellen Lagebildern und einer professionellen und verantwortlichen Bewertung der Situation sowie möglicher Folgen und Gegenreaktionen sowie auf dieser Basis auf einer „verantwortlichen Entscheidung durch Zugriff“. Ein Wechsel der Entscheidungsgewalt sollte möglich sein und könnte von verschiedenen Phasen oder Funktionen sowie von den Spezifika der Herausforderungen abhängen.61 Zweifellos würde dies im Vergleich zur hierarchischen Entscheidung ge56 So Tony Kinder u. a., Relational Leadership in collaborative governance ecosystems, Public Management Review 2021, 1612; Tony Kinder, Governance-as-legitimacy: are ecosystems replacing networks?, Public Management Review 2022, 8. 57 Tony Kinder u. a., Public Management Review 2021,1612. 58 Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungsorganisation als Steuerungsfaktor, in: Wolfgang Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, § 16 Rn. 34 ff., bezeichnet Netzwerke als Herausforderung für das überkommene Verwaltungsorganisationsrecht. 59 Christoph Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts, in: Janbernd Oebbecke (Hrsg.), Nicht-Normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, S. 285 ff.; aus soziologischer Perspektive Roger Häußling, Innovation und Netzwerke, in: Birgit Blättel-Mink u. a. (Hrsg.), Handbuch Innovationsforschung, 2021, S. 429 ff. 60 Bettina Schöndorf-Haubold, Netzwerke in der deutschen und europäischen Sicherheitsarchitektur, in: Sigrid Boysen (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S. 149 (151); vgl. auch Ino Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 (2007), 479 (493). 61 Gensler u. a. (Fn. 51), S. 708.

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wisse Unsicherheiten, auf der anderen Seite aber auch ein Mehr an situationsgerechter Flexibilität und Wirksamkeit mit sich bringen.

VII. Situative Flexibilität und agiles Verfahren In der schnell veränderlichen VUCA-Welt, in der Krisen und Katastrophen Verwaltung und Bürger ständig neu herausfordern, kann das Verwaltungsrecht weder lediglich vordeterminierte generelle Entscheidungen einfach vollziehen noch davon ausgehen, dass eine Entscheidung eine dauerhafte „Pat-End-Lösung“ darstellt. Vielmehr sind eine situative Flexibilität sowie pragmatische und vorläufige, teilweise experimentelle Zwischen-Lösungen erforderlich, die ständiger Beobachtung und Anpassung bedürfen. Es geht darum, sich von einer Steuerungslogik hin zu einer Handlungs- und Entwicklungslogik zu bewegen. Nicht der Masterplan, die Regel oder die Zielvorgaben, sondern die Rationalität der Situation, das Gefüge, das Engagement und die Professionalität der Akteure sowie die Neugier und der Mut, Neues auszuprobieren, bestimmen über die Wirksamkeit und den Erfolg des Verwaltungshandelns. Dazu bedarf es der Achtsamkeit für neue Entwicklungen und der Sensibilität für die Lebenswirklichkeit. Eine solche Handlungs- und Entwicklungslogik hat zum Ziel, das „Transformationspotential der Situation“ mit den Zusammenhängen und Beziehungen, die sie konstituieren und den Spuren und Nischen, die sie für Entwicklungen bereithält, zu erkennen und daraus Lösungsansätze zu entwickeln.62 Dabei hilft eine „Laborperspektive“ im Sinne einer ganzheitlichen Zusammenführung verschiedener Komponenten, Funktionen, Perspektiven und Akteure. In Reallaboren und Experimenten63 können unter Beachtung von Zweck und Auftrag verschiedene Bezugswerte, Vorranggebote sowie Wirtschaftlichkeits- und Wirksamkeitskriterien herausgearbeitet und anhand von Prototypen und vorläufigen Lösungen getestet werden, um Zukunft konkret und begreifbar zu machen und zu sehen, was wirkt. Als neues Muster und Leitprinzip für das Verwaltungsverfahren dient dabei Agilität als Grundlage eines wirksamen Verwaltens.64 Das „äußere Verfahren“65 der Agilität beruht auf der Arbeit von Teams, auf kurzen Zwischenschritten (Sprints) sowie 62 Hermann Hill, Die selbstgestaltende Kommune in der neuen Welt, in: Hermann Hill (Hrsg.), Kommunale Innovationen, 2022, S. 11 (15). 63 Oliver Parodi/Richard Beecroft, Reallabore als Möglichkeitsraum und Rahmen für Technikfolgenabschätzung, in: Stefan Böschen u. a. (Hrsg.), Technikfolgenabschätzung, 2021, S. 374 ff.; Christoph Krönke, Sandkastenspiele – „Regulatory Sandboxes“ aus der Perspektive des allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 2021, 434. 64 Hermann Hill, Wirksam verwalten – Agilität als Paradigma der Veränderung, Verwaltungs-Archiv 2015, 397. 65 Begriffe nach Hermann Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 62 ff., 82 ff.; Hermann Hill, ZG 2022, 125 (128 ff.).

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iterativen Prozessen. Die Tätigkeit ähnelt der Arbeit eines Designers. Dieses Vorgehen ergibt sich schon daraus, dass nicht alles Wissen von Anfang an vollständig vorhanden und ausgewertet ist und zudem in der Interaktion der Akteure und aus der Beobachtung der Wirkungen, die Protoypen auslösen, ständig neu entsteht. Das „innere Verfahren“ beruht auf der Erweiterung des Denk- und Möglichkeitsraums und dem Lernprozess während des Verfahrens. Diese Sichtweise des Verwaltungsverfahrens hat auch Konsequenzen für die Fehlerlehre. Fehler im klassischen Sinne gelten als Abweichung von der Regel, die durch Erfahrung geprägt ist. Wenn Regeln aber fehlen und auch Erfahrung nicht mehr entscheidend weiterhilft, sondern situative Wachsamkeit und pro-aktive dynamische Verantwortung gefragt sind, handelt es sich eher um Fehlversuche. Diese bedürfen allerdings einer professionellen Sorgfalt, die etwa bei der Gestaltung von Experimenten zu neuen Kriterien der Kontrolle und Evaluation führt.66 Fehlversuche stellen damit Chancen zum Lernen dar. Bekannte Fehler sollten indes vermieden werden. Angesichts der zunehmenden Bedeutung eines datenbasierten Handelns sowie einer Datenanalyse für das Verwaltungsverfahren geht es dabei etwa um Wahrnehmungs- und Bewertungsfehler,67 bei der Entscheidung von Teams zusätzlich noch um bekannte Gruppenpathologien.68 Schließlich können und werden in Zukunft nicht alle Verfahren agil verlaufen. Umgekehrt kann auch eine übertriebene Agilität zu Fehlern führen, etwa indem vorschnell alles in bekannte Muster eingeordnet und „verstanden“ wird. Nicht ratsam ist es auch, sich nur auf bestimmte Tools und Methoden oder auf das Sichtbare und Messbare zu fixieren oder sich zu sehr auf bekannte Lösungen oder den Mainstream auszurichten. Ebenso ist es nicht hilfreich, alle Probleme auf einen Schlag lösen zu wollen, ohne Zusammenhänge oder Entwicklungen zu beachten.

VIII. Initiative und Innovation als Funktionsgebot der Verwaltung Im Unterschied zu Gesetzgebung und Rechtsprechung ist die Verwaltung permanent und ubiquitär einsatzfähig. Sie verfügt über Organisation und Ausstattung, multidisziplinäre fachliche Kompetenzen und einen großen Kanon an Instrumenten und Handlungsmöglichkeiten.69 Zudem hat sie aus vergangenen Verfahren einen 66 Hermann Hill, Prüfung situativ-experimentellen Verwaltungshandelns, DVBl 2018, 1185. 67 Hermann Hill, „Bounded Rationality“ im digitalen Zeitalter, DÖV 2020, 205 (208 ff.). 68 Cass R. Sunstein/Reid Hastie, Die intelligente Gruppe, Harvard Business Manager 2015, S. 20 ff.; Kai W. Dierke/Anke Houben, Kirre im Kollektiv – Wahrnehmungsfallen in Topteams, managerSeminare 262, Januar 2020, 62 ff. 69 Hermann Hill, Diskussionsbeitrag, in: Volkmar Götz u. a. (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985, S. 236 ff.

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„Schatz“ an Daten und Wissen angehäuft, den sie nutzen kann und sollte. Diese funktionsspezifischen Besonderheiten in Verbindung mit den Aufträgen aus Verfassung und Gesetzen legitimieren und verpflichten sie zum Handeln. Gleichzeitig beinhaltet dieses Effektuierungsgebot auch eine Pflicht zur Innovation und lernenden Gestaltung. Insbesondere für unklare Lagen gilt es daher, nicht bei der Analyse stehen zu bleiben, sondern trotz oder gerade wegen begrenzter Einsicht ins Handeln zu kommen und eigene Wegmarken zu setzen. Der Funktion der Verwaltung wird es daher nicht gerecht, wenn sie sich nur aufs Regulieren, Moderieren, Auffangen und Nachsorgen beschränkt, vielmehr bedingt die Zukunftsverantwortung der Verwaltung auch, dass ihre Vertreter aktiv in Veränderungsprozesse einsteigen, zum Change Agent werden70 und Grundrechtsträger bei der Entwicklung eigener Innovationen unterstützen und fördern.71 Dazu muss auch ihre Organisation so ausgerichtet werden, dass sie diese Gestaltungsfunktion wahrnehmen kann. Herkömmliche Diagnosemodelle, wie das Common Assessment Framework oder sog. Stresstests,72 müssen zu einem Aktionsprogramm weiterentwickelt werden. Allerdings entspricht diese Sichtweise nicht dem klassischen Amtsverständnis der Verwaltung. Die bürokratische Struktur und Rationalität ist nicht auf Eigenverantwortung, unternehmerisches Handeln73 und Initiativen ausgerichtet. Diese können daher durchaus Probleme auslösen.74 Bürokratische Organisationsstrukturen reduzieren durch formale und gleichmäßige Prozesse Komplexität und ordnen das wahrgenommene Weltwissen in vorgegebene Relevanzmuster ein. Dies führt zu Ordnung und Stabilität. Die Routine kann aber auch zu Trägheit und Blindheit für neue Entwicklungen führen. Vor allem aber ist Bürokratie für regelhafte und gleichbleibende Entwicklungen geeignet, weniger für turbulente Zeiten und neuartige Herausforderungen. Initiativen und Experimente brechen diese formalen Strukturen auf, sie stören zwar gewohnte Abläufe, erweitern aber den Möglichkeitsraum durch neue Informationen aus dem Öffnungs- und Entwicklungsprozess. Zudem erbringen neue Akteure durch Austausch und Kooperation neue Perspektiven. Dies führt insgesamt zu Bewegung und Aufbruch sowie zur Transformation und Anpassung der Kompetenzen und des Handlungsprogramms an neue Verhältnisse.

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Hill, in: Kahl/Ludwigs (Fn. 10), Rn. 56. Vgl. etwa den weiterführenden Vorschlag von Krönke, JZ 2021, 434 (440), die einzelnen Schritte des Innovationsprozesses sukzessiv durch einen dynamischen Zusicherungsmechanismus zu begleiten. 72 Johannes Ludewig, Bürokratie, Regulierung, Verwaltung in der Krise, 2021, S. 111. 73 Dazu Michael Vollstädt, Public Entrepreneurship. Zur Unternehmerisierung der öffentlichen Verwaltung, dms 2021, 165. 74 Instruktiv zum Folgenden Sven Kette, Das Problem der Initiative. Funktionen und Folgen eines postbürokratischen Imperativs, in: Judith Muster u. a. (Hrsg.), Postbürokratisches Organisieren, 2021, S. 125 ff. 71

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Insofern lauten die neuen Gebote an die Verwaltung „Sei innovativ!“ und „Bleib innovativ!“.75 Es geht nach dem Prinzip der Effectuation76 darum, mit den vorhandenen Ressourcen eine Koalition der Willigen zu schmieden und in den Transformationsprozess einzusteigen. Dann finden sich häufig im Prozess des Handelns neue Möglichkeiten, mit denen man vorher gar nicht gerechnet hat. Im Prozess wird die Situation aktiv verändert und Handlungswissen gewonnen. Ohne Handeln hätte man im Status Quo verharren und den Entwicklungen nur zusehen müssen.77

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Hermann Hill, Sei innovativ, Verwaltung!, Verwaltung & Management 2019, 251; Hermann Hill, Bleib innovativ, Verwaltung!, Verwaltung & Management 2020, 155. 76 Michael Faschingbauer, Effectuation: Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln, 2010. 77 Hill (Fn. 63), S. 15.

Autorinnen und Autoren Univ.-Prof. Dr. Tristan Barczak, LL.M.,Universität Passau PD Ariane Berger, Freie Universität Berlin Univ.-Prof. Dr. Annette Guckelberger, Universität des Saarlandes Univ.-Prof. Dr. Hermann Hill, Universität Speyer Dr. Miriam Köster, LL.M., Universität Greifswald (bis September 2022) Univ.-Prof. Dr. Kai v. Lewinski, Universität Passau Univ.-Prof. Dr. Veith Mehde, Leibniz Universität Hannover Jun.-Prof. Dr. Hannah Ruschemeier, FernUniversität in Hagen Univ.-Prof. Dr. Sabine Schlacke, Universität Greifswald PD Dr. Sönke E. Schulz, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Univ.-Prof. Dr. Margrit Seckelmann, Leibniz Universität Hannover Univ.-Prof. Dr. Thorsten Siegel, Freie Universität Berlin apl. Prof. Dr. Ulrich Smeddinck, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Univ.-Prof. Dr. Thomas Wischmeyer, Universität Bielefeld