Hegel-Studien [4]
 978-3-7873-2933-5

Table of contents :
Cover1
Inhaltsverzeichnis5
Texte und Dokumente9
Unbekannte Aphorismen Hegels aus der Jenaer Periode. Mitgeteilt von Friedhelm Nicolin (Bonn)9
Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801-1807). Herausgegeben von Heinz Kimmerle (Bonn)21
Zwei unbekannte Briefe Hegels aus dem Jahre 1807. Mitgeteilt und erläutert von Günther Nicolin (Bonn)101
Günther Nicolin Bonn: Georg Wilhelm Vogel an Goethe. Eine Richtigstellung zu Hegels Briefwechsel109
Friedhelm Nicolin (Bonn): zum Titelproblem der Phänomenologie des Geistes113
Abhandlungen125
Heinz Kimmerle (Bonn): Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften125
Manfred Riedel (Marburg): Hegels Kritik des Naturrechts177
Hartmut Buchner (Bonn): Ein ubekannter politischer Text Hegels?205
W. Ver Eecke (Löwen): Zur Negativität bei Hegel215
Literaturberichte und Kritik219
Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik (Gerd Wolandt, Bonn)219
Die Aufgabe der Hegelforschung in bezug auf die 'Phänomenologie des Geistes' (Willem van Dooren, Bilthoven/Holland)235
H. F. Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik. (J. Gauvin, Paris)244
U. Guzzoni: Werden zu sich. (Peter Rohs, Kiel)251
Hegel's Political Writings (Shlomo Avinieri, Jerusalem)257
M. Riedel: Theorie und Praxis im Denken Hegels (Josef Simon, Frankfurt a. M.)261
M. Sobotka: Die idealistische Dialektik der Praxis bei Hegel (Dietrich Benner, Bonn)263
W.-. Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft (Reinhart Klemens Maurer, Stuttgart)265
J. Splett: Die Trinitätslehre C. W. F. Hegels (Joseph Möller, Tübingen)267
T. Rendtorff: Kirche und Theologie (Heinz Kimmerle, Bonn)269
A. T. B. Peperzak: Le jeune Hegel et la vision morale du monde (Jörg Splett, München)271
W. van Dooren: Het Totaliteitsbegrip bij Hegel en zijn Voorgangers (Ad. Peperzak, Venray)274
G. Ralfs: Lebensformen des Geistes (Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bonn)275
A. Negri: La presenza di Hegel (Furio Cerutti, Frankfurt a. M.)278
W. Kaufmann: Hegel (Klaus Hartmann, Bonn)280
K. Rosenkranz: Vita di Hegel (Carlo Ascheri, Heidelberg)285
F. Wiedmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Günther Nicolin, Bonn)286
Differenzen. Bemerkungen zu einem Buch von Helmut Girndt (Hermann Braun, Heidelberg)288
Heinrich Beck: Der Akt-Charakter des Seins (Josef Stallmach, Mainz)300
J. Ch. Horn: Monade und Begriff (Wolfgang Janke, Köln)303
E. Oeser: Die antike Dialektik in der Spätphilosophie Schellings (Horst Fuhrmans, Köln)308
O. Negt: Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels (Robert Spaemann, Stuttgart)310
G. Hillmann: Marx und Hegel (Dietrich Benner, Bonn)312
L. Ricci Carotti: Heidegger contra Hegel e altri saggi di storigrafia filosofica (Livio Sichirollo, Urbino)315
Neuere polnische Hegel-Literatur (Irena Kronska, Warszawa)317
Hegel-Literatur in Rumänien (Constantin Noica, Bucurest)321
Kurzreferate und Selbstanzeigen323
Bibliographie341
Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1964/65341

Citation preview

HEGEL-STUDIEN BAND 4

H. BOUVIER u. CO. VERLAG • BONN

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ZWEI UNBEKANNTE BRIEFE HEGELS AUS DEM JAHRE 1807 Mitgeteilt und erläutert von Günther Nicolin (Bonn)

In den letzten Jahren sind nur noch sehr selten unbekannte Briefe Hegels aufgetaucht. Bei den wenigen Stücken, die im Autographenhandel ans Licht traten, handelte es sich meist um weniger bedeutende Briefe aus der Berliner Zeit. Umso erfreulicher ist es, daß wir hier zwei Briefe mitteilen können, die aus verhältnismäßig früher Zeit stammen. Es sind dies ein Schreiben Hegels an den Studenten C.

G. Zellmann,

1807, und ein Brief an den Mineralogen J.

G. Lenz

datiert vom 30. 4.

vom 17. 11. 1807. Der

erste Brief wurde an bisher unbeachtet gebliebener Stelle in den Blättern für literarische Unterhaltung (Jg. 1835, Nr 155, 4. Juni) entdeckt1, der zweite fand sich in den Akten der Herzoglich Jenaischen Mineralogischen Societät 2.

I. Der Adressat des ersten Briefes Christian Gotthilf

Zellmann

(1785/86—1808) ist

in der Hegelkorrespondenz kein Unbekannter. Hegel schrieb an ihn am 23. 1. 1807 einen bedeutsamen Brief, von dem man bisher glaubte, er sei erstmals in der Freundesausgabe der Werke des Philosophen im 17. Band veröffentlicht worden 3. Keinem der späteren Herausgeber (Karl

Hegel,

Hoffmeister)

hat er

1 Zwei Briefe von Hegel. In: Blätter f. literar. Unterhaltung. Jg. 1835, 639-40. Den Hinweis auf diese Veröffentlichung verdanke ich Dr. Hartmut Büchner. - Mit dieser Wiederauffindung wird eine früher von mir geäußerte Vermutung (Hegel-Studien. Bd 3. 93) bestärkt, daß nämlich noch mancher Hegelbrief an uns unbekannter Stelle gedruckt sein mag. . c 2 Diese Akten liegen im Mineralogischen Institut der Universität Jena. Der Briet ist aufbewahrt unter Nr 1417. Dankenswerterweise wurde uns eine Photographie zur Verfügung gestellt, nachdem Dr. Heinz Kimmerle vom Hegel-Archiv bei Arbeiten in Jena — auf einen Hinweis von Frau Dr. Johanna Salomon hin — den Brief gefunden Hatte. 3 Hegel: Werke. Band 17: Vermischte Schriften, Teil 2. Hrsg. v. F. Förster u. L. Boumann. Berlin 1835. 627—629.

102

Günther Nicolin

im Manuskript Vorgelegen. Jetzt zeigt sich, daß er zusammen mit einem kürzeren Schreiben Hegels 1835 in den Blättern für literarische Unterhaltung mitgeteilt wurde. Mit Sicherheit kann angenommen werden, daß den Herausgebern der Vermischten Schriften während der Drucklegung des Bandes 17 diese Veröffent¬ lichung noch zu Gesicht kam und daß sie den wichtigen Brief von dorther in ihre Sammlung übernahmen. Die Notiz über Zellmann, die sie in einer Fußnote beigeben, entspricht fast wörtlich der biographischen Mitteilung in den Blättern (s. u.). Der Brieftext selber stimmt in beiden Abdrucken überein mit Ausnahme eines Satzes, und hier erweist sich bei näherem Zusehen die Fassung in den Werken als stilistische Umformung einer für Hegel charakteristischen Satz¬ konstruktion 4. Auf diesen Brief vom 23. 1. 1807 folgt in der Erstveröffentlichung der kurze, drei Monate später abgefaßte Brief Hegels, den wir hier vorlegen. Die Heraus¬ geber der Vermischten Schriften haben ihn beiseite gelassen, wohl deshalb, weil er in seiner Bedeutung nicht an den ersten heranreicht. Die Zusammenhänge, aus denen die beiden Briefe in den Blättern für literari¬ sche Unterhaltung veröffentlicht wurden, sind recht interessant. Sie seien hier kurz skizziert. In „Correspondenznachrichten" aus Berlin vom 30. 3. 1835 wird die Situation der Philosophie an der Berliner Universität nach Hegels Tod charakterisiert. Aufschlußreich heißt es: „Auch Metaphysik studirt man jetzt hier weniger eifrig als in frühem Zeiten, wo Hegel's wundersame, großartige Persönlichkeit, die keine Persönlichkeit sein wollte, uns tief innerlich afficirte und auf der einen Seite den Haß, auf der andern, wenn nicht Liebe, doch Bewunderung in hellen Flammen erhielt. Hegel wollte keine Person sein, sondern eine Centralisation für alle wissenschaftlichen Interessen, er war in der That eine Zeit lang ein Focus, in dem alle Radien zusammenliefen, feindlich oder freundlich. Hegel's System war die großartigste Chimäre der Welt. Seitdem dieser Brennpunkt er¬ loschen, treiben die Facultäten an unserer Universität ihr Wesen ziemlich fried¬ lich und duldsam nebeneinander weiter." 5 Im weiteren Verlauf wird dann von der Nachfolgefrage gesprochen, die bekanntlich dahingehend gelöst wurde, daß man Gabler, „den ältesten Schüler Hegel's", berief. Diese Bemerkung veranlaßte nun einen ungenannten Freund Zellmanns — Besitzer von dessen Nach-

4 In den Blättern f. liter. Unterhaltung heißt die Stelle: „ ... dies gibt ihr [sc. der französischen Nation] die große Kraft, die sie gegen andere beweist. Sie lastet auf ihrer Verschlossenheit und Dumpfheit, die endlich gezwungen ihre Trägheit gegen die Wirklichkeit aufzugeben, in diese heraustreten wird, und vielleicht, indem die Inner¬ lichkeit sich in der Äußerlichkeit bewahrt, werden sie ihre Lehrer übertreffen." Dem¬ gegenüber lautet der letzte Satz in Werke Bd. 17: „Sie lastet auf der Verschlossenheit und Dumpfheit dieser, die endlich gezwungen ihre Trägheit gegen die Wirklichkeit aufzugeben, in diese heraustreten und vielleicht, indem die Innerlichkeit sich in der Äußerlichkeit bewahrt, ihre Lehrer übertreffen werden." 5 Blätter f. liter. Unterhaltung. Jg. 1835, Nr 101 (11. 4.), 415.

Zwei unbekannte Briefe Hegels

103

laß 6 — zur Einsendung des Artikels: Zwei Briefe von Hegel. Er schreibt ein¬ leitend zur Begründung seiner Veröffentlichung: „Die Erwähnung

Gabler's

als

ältesten Schülers von Flegel in dem Correspondenzartikel aus Berlin in Nr. 101 d. Bl. hat mich an einen andern Schüler Hegel's erinnert, der es zu gleicher Zeit mit jenem war und vielleicht ebenso gut Hegel's Nachfolger auf dem philosophi¬ schen Lehrstuhl hätte werden können, wenn er am Leben geblieben wäre. Er hieß Christian Gotthilf

Zellmann,

war eines Bauers Sohn aus dem Eisenachi-

schen und starb 22 oder 23 Jahre alt im Frühjahr 1808. Er war befreundet mit Bachmann

und

Gabler

. . ." Daß die hohe Einschätzung

Zellmanns,

die hier

zum Ausdruck kommt, durchaus nicht abwegig ist, wird deutlich, wenn wir eine Äußerung, die

Gabler

selbst über

Zellmann

gemacht hat, hinzunehmen: „Er

war am meisten in das innere Verständniß von Hegel eingedrungen. Ich muß noch jetzt sein eignes Vorarbeiten und eine gewisse speculative Divinationsgabe, die er dafür besaß, bewundern." 7 * Zu dem anschließend abgedruckten Brief ist speziell zu sagen, daß er die Ant¬ wort auf ein nicht mehr vorhandenes Schreiben

Zellmanns

vom 8. 4. 1807 ist,

in dem dieser, wie es damals wohl üblich war, bei Hegel um eine Studien¬ bescheinigung bat. ® Welche Hochachtung Hegel für

Zellmann

empfindet, geht

auch aus diesem Briefe hervor. Für Hegel scheint

Zellmann,

was das philo¬

sophische Verständnis angeht, ein besonderer Glücksfall gewesen zu sein.

Bamberg, 30. April 1807. Sie werden, werthester Herr, in der Veränderung meines Aufenthaltsortes für diesen Sommer die Entschuldigung dafür finden, daß ich das in Ihrem Schreiben vom 8. dies, gewünschte Testimonium nicht früher geschickt habe; da Sie zugleich darin melden, daß Sie in 14 Tagen von jenem Datum an in Jena sich einfinden werden, so habe ich dieses Testimonium nach Jena adressirt und hoffe, daß es Sie dort treffen wird. Es ist mir leid, daß ich das Vergnügen nicht haben kann. Sie diesen Sommer unter meinen Zuhörern zu sehen, und daß mir diese Aufmunterung bei meinen Ge¬ schäften — denn es ist dem Lehrer die größte, für solche Zuhörer zu ar¬ beiten — fehlen wird. Aber die gebietende Gewalt der Umstände 9 hat mich

6 Leider ist nicht festzustellen, um wen es sich hier handelt. Die Veröffentlichung ist nur mit der Kennziffer 154 unterzeichnet. Auch eine Anfrage beim Verlag Brockhaus, der die Blätter für literarische Unterhaltung damals herausgab, brachte keine Klärung dieser Frage; die betr. Bestände des Verlagsarchivs sind im letzten Krieg vernichtet worden. 7 Briefe von und an Hegel Hrsg, von Karl Hegel. Teil 1. Leipzig 1887. 81. s Welche Vorlesungen Zellmann bei Hegel gehört hat, geht aus einer Veröffent¬ lichung von H. Kimmerle in diesem Band hervor (vgl. 62 f).

9 Hegel sah sich gezwungen, Jena zu verlassen, weil seine finanzielle Lage sehr an-

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Günther Nicolin

genöthigt, diesen Sommer diesem Genüsse und dieser Beschäftigung zu entsagen. Haben Sie sonst an mich eine Bestellung, so wird das Frommann'sche Haus 10 sie gern übernehmen; sonst wird es mich freuen, wenn ich von Ihnen selbst Nachrichten erhalte. Ich bin mit aller Hochachtung Ihr gehor¬ samer Diener Prof. Hegel.

II. Bei dem Empfänger des zweiten Briefes handelt es sich um den Direktor der Jenaischen Mineralogischen Gesellschaft Johann Georg Lenz (1748—1832). Die Biographie dieses Mannes * 11 ist insofern interessant, als er sich zunächst theo¬ logischen und philosophischen Studien widmete. 1770 promovierte er in Philo¬ sophie an der Universität Jena und wurde kurz danach als Privatdozent in die philosophische Fakultät aufgenommen. Erst einige Zeit später erwachte in ihm die Freude an den Naturwissenschaften, insbesondere an der Mineralogie, der er fortan als bedeutender Gelehrter diente. „Im Jahre 1796 stiftete Professor Johann Georg Lenz die später so berühmte ,Societät für die gesammte Minera¬ logie zu Jena', deren Blütezeit für immer mit seinem Namen verknüpft bleibt. Erst zwei Jahre danach, 1798, machte sie Professor Lenz öffentlich bekannt." 12 1803 erhielt Lenz den Titel Bergrath und 1810 wurde er vom außerordentlichen

zum ordentlichen Honorarprofessor befördert. In der bisher veröffentlichten Korrespondenz Hegels erscheint Lenz'nur am Rande.13 Aus dem Brief Hegels an Schelling vom 16. 11. 1803 können wir auf ein Gespräch zwischen Lenz und Hegel schließen. Vielleicht ist hierbei auch von der Ernennung Hegels zum Assessor der Mineralogischen Gesellschaft die Rede gewesen, die am 30. 1. 1804 durch eine von Lenz Unterzeichnete Ur¬ kunde 14 erfolgte. Daß Hegel sich um die Mitgliedschaft bemühte 15, ist zu ver-

gespannt war. Die Einnahmen, die er als a. o. Professor hatte, waren zu gering, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Außerdem hatten sich die Verhältnisse in Jena nach der Schlacht von 1806 noch nicht völlig normalisiert. 10 Mit dem Buchhändler Frommann stand Hegel 1) in geschäftlicher Verbindung, 2) war Frommann Pate des unehelichen Hegelsohnes, der bei einer Schwägerin Frommanns großgezogen wurde. 11 Allgemeine Deutsche Biographie. Bd 18. Leipzig 1883. 276—277. 12 Johanna Salomon: Geschichte der „Societät für die gesammte Mineralogie" zu Jena unter ihrem Gründer Johann Georg Lenz und ihrem Förderer und Präsidenten Johann Wolf gang von Goethe (1796-1830). Jena, Phil. Diss. v. 1957. [Maschinenschr.]. 13 Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Bd 1. Hamburg 1952 78, 122. 14 Briefe von und an Hegel. Bd 4. 90. 15 § 4 der Statuten der Mineralogischen Gesellschaft lautet: „Auch die Anzahl der

Zwei unbekannte Briefe Hegels

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stehen, wenn wir bedenken, daß er schon seit seiner Schülerzeit naturwissen¬ schaftliche Interessen hatte 16. In der Berner Hauslehrerzeit17 und später auch in Jena betrieb er „das Naturstudium mit großem Eifer" 18. Mit dem Eintritt in die Mineralogische Gesellschaft scheint dann Hegels besondere Aufmerksamkeit der Mineralogie gegolten zu haben, deren Studium er unter der „Anleitung" von

Lenz

„für immer liebgewonnen" hat (vgl. den Text des Briefes). Aus den

Satzungen der Gesellschaft können wir entnehmen, wie diese Anleitung aus¬ gesehen haben mag. Alle acht Tage trafen sich die Jenaer ordentlichen Mit¬ glieder zu Privatzusammenkünften; alle sechs Wochen fanden öffentliche Zu¬ sammenkünfte statt. 19 In § 9 der Satzungen heißt es: „In den Privatversamm¬ lungen macht der Director die neusten Entdeckungen im Mineralreiche bekannt, zeigt die merkwürdigsten Mineralien und Fossilien vor, und unterhält sich mit den Mitgliedern über andere wichtige Gegenstände aus der Oryctognosie, Geognosie und aus der Bergbaukunde." 20 Die Möglichkeit, daß die beiden Männer auch persönlich in näheren Kontakt gekommen sind, ist nicht von der Hand zu weisen, zumal sie vielleicht auch über die Mineralogie hinaus andere Anknüpfungspunkte hatten, etwa im Bereich des Philosophischen. Auf jeden Fall ist der Brief Hegels ein beredtes Zeugnis für eine herzliche Freundschaft. Zum Brief selbst ist im einzelnen wenig zu sagen. Den allgemeinen Schlüssel zum Verständnis bildet Hegels Mitgliedschaft in der Mineralogischen Gesell¬ schaft. Wer der angesehene „Liebhaber der Mineralogie" in Bamberg war, konnte bisher nicht festgestellt werden. Unbekannt ist auch, ob und wie

Lenz

auf Hegels Brief reagiert hat. Ein Antwortschreiben liegt nicht vor.

Bamberg

den 17 Nov. 1807. Hochgeehrtester Herr Bergrath! Theuerster Freund! Es freut mich eine Veranlassung zu haben, an Sie zu schreiben, und mich darnach zu erkundigen, wie Sie leben, und wie es mit unsrer lieben Mine¬

ordentlichen Mitglieder ist unbestimmt. Kenntnisse in der Mineralogie, Physik und Chemie machen zur Aufnahme fähig." - Und § 5: „Wer von den hiesigen Natur¬ freunden dieser Societät beytreten will, muß sich beym Director melden, der dessen Wünsche den ordentlichen Mitgliedern vorträgt, und, falls diese die Aufnahme be¬ günstigen, ihn sodann zu der nächsten öffentlichen Sitzung einladet, wo ihm von dem Secretair die Gesetze vorgelesen werden, deren Erfüllung er durch eigene Unterschrift bekräftigt. Die Aufnahme selbst geschieht unentgeltlich." 16 Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 1. 3. 17 Ebd. 141. 18 K. Rosenkranz: Hegel's Leben. Berlin 1844. 220. 19 Vgl. § 8 der Statuten der Mineralogischen Gesellschaft. 20 7oh. Salomon: Geschichte. 149.

106

Günther Nicolin

ralogie geht, deren Studium ich unter Ihrer Anleitung auf immer liebgewon¬ nen, und kürzlich eine kleine Gelegenheit gefunden habe, es wieder aufzu¬ frischen; was denn auch die Ursache ist, mich mit einer Bitte an Sie zu wenden, mit welcher ich mich freuen würde. Ihnen zugleich eine Gefällig¬ keit erweisen zu können. Es befindet sich hier ein angesehener Liebhaber der Mineralogie, der dieses Studium erst seit einigen Jahren ergriffen und zum Behuffe des¬ selben sich ein Kabinet anzulegen angefangen hat, das zwar schon in man¬ chen Zweigen reichlich versehen ist und selbst einige Prachtstücke enthält, aber noch sehr unvollständig ist. Gegenwärtig arbeitet derselbe daran, es zunächst vollständig zu machen, steht mit vielen Händlern und sonstigen Liebhabern in Verbindung, ist aber, wie das im Anfang immer geht, oft hintergangen und daher itzt etwas mistrauisch geworden. Ich habe dem¬ selben den Vorschlag gemacht, wenn er mir einige Karoline erlauben wollte, so wollte ich an Sie schreiben, und ich zweifle nicht, daß Sie nicht aus Ihrem Kabinete das Fehlende seiner Sammlung, wenigstens in vieler Rüksicht ergäntzen könnten, und daß er mit einem Versuche, den ich bey Ihnen darüber machen wollte, sowohl in Ansehung der Qualität als des Preises zufrieden seyn werde. Er hat meinen Vorschlag sehr gern ange¬ nommen; ich habe die Vollmacht 20 Thaler auszusetzen und zugleich hat mir derselbe seine Liste von Defekten 21, die zu suppliren sind, gegeben, die ich Ihnen hier beylege, und um deren Zurüksendung wieder ersuche. Indem ich den Reichthum Ihrer Privatsammlung kenne, und weiß, daß Sie in den ausgebreitetsten Verbindungen — wegen des Neuen — stehn, so zweifle ich nicht, daß diß hiesige Privatkabinet nicht die besten Beyreicherungen von Ihrer Gefälligkeit erhalten könne; und ich denke, daß Sie, ohnehin bey diesen geldschmalen Zeiten22 geneigt sind, etwas loszu¬ schlagen; da ohnehin bey einem Manne von Ihren Verbindungen es immer mit Mineralien zuströmt. — Meine Bitte besteht also darin, schreiben Sie mir in Bälde, was Sie aus dieser Liste um den Preis von 20 Thlrn überschiken können; ferner was Sie sonst noch, und um welche Preise vorräthig haben. - Vergessen Sie nicht, daß die beygelegte Liste nur das ganz Fehlende enthält, daß diß Kabinet noch in einer Menge anderer Arten, bessere Exemplare bedarf, und daß wenn Ihre Waare zu einem raisonnabeln Preise erfunden wird, — im Verhältnisse zu den Preisen, die 21 Defekt: bedeutet im älteren Sprachgebrauch auch „fehlender Teil" neben „Be¬ schädigung" und „Mangel". Vgl. J. Chr. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Teil 1. Wien 1808. 1432. 22 Aus eigener Anschauung wußte Hegel, daß Lenz nach der Schlacht von Jena bei Plünderungen viel von seinem Hab und Gut eingebüßt hatte.

Zwei unbekannte Briefe Hegels

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wir kennen, sich ein fortdauerndes Geschaffte anknüpfen läßt. — Wenn ich für mich die Bestellung machte, würde ich ohne weiters Sie ersuchen, zu¬ sammen zu packen und hieher zu schiken; so aber haben Sie, wie gesagt, die Güte zuerst nur eine Liste der Sendung zu schiken; auf welche, da ich nicht zweifle, daß sie genügend ausfallen wird, denn sogleich die defini¬ tive Bestellung der wirklichen Sendung, und nach Empfang derselben eben¬ so unverweilt die richtige Bezahlung — am besten denke ich durch Pfündel 23, der immer Geschaffte hier hat — erfolgen soll. — Diß will ich noch erinnern, daß die Exemplare etwa zu 4, 5 Zollen 24 gewünscht werden, sauber, gut conservirt, die Kristallisationen nicht zerstoßen, der Bruch frisch nicht abgerieben u. s. f. — Auch wissen Sie, daß einem Lehrer oft ein schlechtes, kleines Stükchen von einem neuen Fossil, oder einem, das er nicht in einem bessern Exemplar hat, nothwendig ist; in einem PrivatKabinet wünscht man dagegen mehr, ansehnliche Exemplare zu haben; und verschiebt offt lieber etwas von einem Fossil zu besitzen, wenn das Exem¬ plar nicht ausgezeichnet ist.

Hiemit Gott befohlen; ich ersuche Sie um schleunige Antwort; schreiben Sie, was Sie sonst hübsches haben; — es soll mich freuen, bald etwas von Ihnen zu hören, und wieder nach langer Unterbrechung, mit Ihnen, theuerster Freund und Lehrer, in einen mineralogischen Verkehr zu kommen, welcher wie ich hoffe zu Ihrer Zufriedenheit und Vortheil ausfallen solle. Leben Sie indeß wohl Ihr ergebenster Freund und Diener Prof. Hegel

23 Wahrscheinlich ein Kaufmann aus Jena, über den aber nichts weiter ermittelt werden konnte. 24 Alte Pluralform zu „Zoll" (Längenmaß)- vgl. Adelung: Wörterbuch. Teil 4. 1730.

GÜNTHER NICOLIN

(BONN)

GEORG WILHELM VOGEL AN GOETHE Eine Richtigstellung zu Hegels Briefwechsel

Im Bestandsverzeichnis des GoETHE-ScHiLLER-Archivs 1 in Weimar findet sich auf Seite 162 der Hinweis auf einen Brief Hegels an den Kanzler von Müller

aus dem Jahre 1807. Bei näherer Betrachtung dieses Briefes,

der bisher im Briefwechsel Hegels nicht veröffentlicht war, mußte fest¬ gestellt werden, daß er nicht von Hegels Hand stammen kann. Ein Ver¬ gleich mit anderen Briefen Hegels aus der Jenaer Zeit ergab dann die über¬ raschende Tatsache, daß zwei der bereits gedruckten Briefe Hegels an nämlich vom 3. 8. 1803 und vom 6. 12. 1804, von der gleichen Hand geschrieben sind wie das angeblich an von Müller gerichtete Schrei¬

Goethe,

ben. la Die beiden genannten Briefe wurden 1895 von Arnold

Genthe,

zusam¬

men mit sechs anderen Briefen Hegels an Goethe, im 16. Band des GoetheJahrbuchs erstmals veröffentlicht. 2 In den Anmerkungen Genthes findet sich keinerlei Hinweis auf die andersartige Schrift dieser beiden Briefe im Vergleich zu den übrigen Briefen an Genthe

Goethe.

Augenscheinlich hat sich

durch die Unterschrift der beiden Briefe verleiten lassen, sie als

Briefe Hegels anzusehen. In der Tat läßt sich die Unterschrift, wenn man sie oberflächlich betrachtet und sich nicht auf die bekannte, in ihren Grund¬ zügen stets gleichbleibende Hegelsche Unterschrift stützt, als „Hegel lesen. Außerdem stimmen die hinzugefügten Vornamen „Georg Wilhelm mit den ersten beiden Vornamen Hegels überein.3

Hoffmeister,

dem als

1 Goethe-Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis bearbeitet von Karl-Heinz Hahn. Wei¬ mar 1961. (Bibliographien, Kataloge und Bestandsverzeichnisse. Hrsg, von den Natio¬ nalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar.) ia Daß der Brief an den Kanzler von Müller gerichtet ist, erscheint sehr fraglich. Höchstwahrscheinlich ist Anton Freiherr von Ziegesar (1783-1843), ein Weimarer Regierungsbeamter, der Empfänger gewesen. 2 Acht Briefe Hegels an Goethe. Hrsg, von Arnold Genthe. In: Goethe-Jahrbuch. Bd 16 (1895). 56-79. 8 Allerdings muß gesagt werden, daß Hegel keinen der anderen Briefe an Goethe in dieser Form unterschrieben hat.

Günther Nicolin

110

Kenner der Hegelschen Handschrift hier gewiß keine Verwechslung unter¬ laufen wäre, hat in seiner Briefwechsel-Ausgabe die betreffenden Briefe „nach dem Erstdruck bei A.

Genthe"

abgedruckt, also offensichtlich die

Originale nicht selber in der Hand gehabt. 4 5 Bei dem Unterzeichner der beiden Briefe handelt es sich um den Jenaer Bürgermeister Georg Wilhelm

Vogel (1743—1813).

Nachdem wir dies auf¬

grund eingehender Durchforschung der Literatur zur Geschichte der Stadt Jena vermutungsweise ermittelt hatten, konnte der Beweis durch einen Vergleich mit der Handschrift Vogels in Jenaer Stadtakten erbracht wer¬ den. 5

Vogel

war Herzoglich Sächsisch-Weimarischer Kammerrat und

Kreiskassierer. Als Bürgermeister von Jena wurde er bei Gelegenheit des Erfurter Kongresses von

Napoleon

zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.

Es wird überliefert, daß er viele Jahre hindurch seine Ämter mit Besonnen¬ heit und juristischer Umsicht verwaltet und sich um die Stadt Jena außer¬ ordentliche Verdienste erworben hat. 6 Für die Hegelforschung ist die hier vorgenommene Richtigstellung in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. 1) Der Brief vom 3. 8. 1803 ließ Hegel in einem Licht erscheinen, das eigentlich nicht zu seinem Wesensbild paßt. Die Art, wie hier etwas hintertragen wird, lag Hegel nicht. Für Vogel, den als Bürgermeister alle Ereignisse in Jena unmittelbar interessieren mußten, ist der Brief keineswegs kompromittierend. 2) Bei dem Brief vom 6. 12. 1804 rätselte man bisher vergeblich, warum KonsistorialratMAREZOLL aus¬ gerechnet Hegel eine Predigt „zum Besten für die Armen in Druck über¬ lassen" haben sollte. Hoffmeister sagt dazu: „Der von Hegel veranlaßte Sonderdruck konnte bisher an keiner Stelle aufgefunden werden, so daß über die Art von Hegels Beteiligung daran nichts angemerkt werden kann." 7 Das Problem entfällt nun. Marezoll wird sonst in Hegels Kor¬ respondenz nirgendwo erwähnt. Eine Beziehung zwischen Marezoll und Vogel ist dagegen ohne weiteres herzustellen. Beide gehörten der Herzog¬

lichen Allmosen-Commission an, die sich „mit zweckmäßiger Versorgung

4 Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Bd 1. 449, 454. Zu dem Brief vom 3. 8. 1803 sagt Hoffmeister etwas unscharf: „Abdr. wie im Erstdr. bei A. Genthe". Doch läßt die Art von Hoffmeisters Quellennachweisen auch hier keinen Zweifel darüber aufkommen, daß ihm das Original nicht Vorgelegen hat. 5 Die freundliche Beschaffung des Materials verdanke ich Herrn Dr. Georg Karpe von der Universitätsbibliothek Jena. 0 Vgl. Johann Christian Jacob Spangenberg: Handbuch der in Jena seit beinahe 500 Jahren dahingeschiedenen Gelehrten, Künstler, Studenten und andern bemerkensiverthen Personen . . . Jena 1819. 212. 7 Briefe von und an Hegel. Bd 1. 455.

Georg Wilhelm Vogel an Goethe

111

der Armen und mit nunmehr eingeführter Abstellung des Straßenbetteins" beschäftigte. 8 Es ist also festzuhalten, daß die Briefe vom 3. 8. 1803 und vom 6. 12. 1804 an Goethe, sowie der unveröffentlichte Brief vom 4. 11. 1807 nicht Hegel, sondern den Jenaer Bürgermeister Georg Wilhelm Vogel zum Verfasser haben.

8 Vgl. Johann Adolph Leopold Faselius: Neueste Beschreibung der Herzoglich Sächsischen Residenz- und Universitäts-Stadt Jena, oder historische, topographische, politische und akademische Nachrichten und Merkwürdigkeiten derselben. Jena 1805. 89.

FRIEDHELM NICOLIN (BONN)

ZUM TITELPROBLEM DER PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES Zusammenfassende Darstellung des buchtechnischen Sachverhalts aufgrund eines neuaufgefundenen Originalexemplars

Seitdem Entstehungsgeschichte, innerer Aufbau und äußere Gliederung, Werkidee und Systemstelle der Phänomenologie des Geistes zu einem Thema der Hegel-Forschung geworden sind, hat in Textedition und Deu¬ tung das Problem der beiden Titelversionen - Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns (A) und Wissenschaft der Phänomenologie des Gei¬ stes (B) — eine besondere Rolle gespielt. 1 2 Die Erörterung der philosophi¬ schen und genetischen Fragen, die sich hier auftun, wurde bereits im Vor¬ feld erschwert durch den Umstand, daß dreierlei Typen von Original¬ exemplaren der Phänomenologie bekannt geworden sind: solche, in denen sich beide Titel finden, und andere mit nur je einem von ihnen, A oder B. Vorgängig vor aller Interpretation war und ist daher rückzufragen nach dem äußeren, d. h. druck- und bindetechnischen Sachverhalt, der dieser verwirrenden Überlieferung der Titel zugrundeliegt, und endlich nach der Anweisung, die hinter der verschiedenartigen Ausführung in den einzel¬ nen Exemplaren des Buches gestanden haben muß. Selbst in dieser eng begrenzten Teilfrage nach den Fakten haben wir bis¬ her nur mit Hypothesen arbeiten können, wenn auch in wachsendem Maße — vor allem seit den einschlägigen Arbeiten von Otto

Pöggeler - —

durch sachangemessene Argumente gestützt. Kürzlich ist nun erstmals ein Exemplar der Phänomenologie aufgetaucht, das (irrtümlich!) die gesuchte

1 Im genauen Sinne handelt es sich hier bekanntlich um zwei Fassungen eines Zwischentitels, d. h. einer im Verlauf des Buchtextes eingeschalteten Titelseite; wir sprechen im folgenden meist abgekürzt von „Titel A" und „Titel B . Zur Verdeut¬ lichung geben wir beide Titelseiten sowie den Haupttitel der Originalausgabe in ver¬ kleinerter Abbildung wieder. , . , _ . . . . „ , 2 Vel O Pöggeler: Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes. In. Hegel Studien.’ 1 (1961), 255-294; ferner: Die Komposition der Phänomenologie des Geistes. In- Hegel-Tage Royaumont 1964. Beiträge zur Deutung der Phänomenologie des Geistes Hrsg, v H.-G. Gadamer. Bonn I960. (Hegel-Studien. Beiheft 3.) 27-73. - Die im folgenden mitzuteilenden Einzelheiten bestätigen auf schöne Weise die von Pöggeler vertretene Auffassung.

Friedhelm Nicolin

114

Ursprünglicher Zwischentitel (= A)

Endgültiger Zwischentitel (= B)

Haupttitel

Zum Titelproblem der Phänomenologie

115

Anweisung noch enthält; anhand dieses Exemplars ist es möglich, den buchtechnischen Sachverhalt detailliert und zuverlässig zu beschreiben. I. Vergegenwärtigen wir uns kurz, wie sich das Titelproblem in der bis¬ herigen Editionsgeschichte

der

Phänomenologie darstellt.3 Die weiter¬

führende Literatur zur Deutung des Werkes können wir hier ausklammern, da es uns nur um die textliche Grundlage der Deutung geht. Die früheren Editionen in den Blick zu nehmen, ist aber schon allein deshalb wichtig, weil wir noch keine sie überholende neue Ausgabe besitzen. 1) In der Originalausgabe lautet der Haupttitel des Werkes: System der

Wissenschaft — Erster Theil, die Phänomenologie des Geistes. Zwischen der „Vorrede” [sc. zum ,System der Wissenschaft7] und dem eigentlichen Text [sc. des ersten Teils dieses Systems] steht ein Zwischentitel, und zwar — wie wir im vorhinein festhalten — endgültig und richtig der Titel B. 2) Die erste Edition nach Hegels Tod, im Rahmen der von den Schülern veranstalteten Gesamtausgabe der Werke besorgt durch Johannes Schulze (1832; zweite Auflage 1841), trägt den Haupttitel Phänomenologie des

Geistes. Nach dem Vorwort des Herausgebers und dem Inhaltsverzeichnis folgt dann zwar ein gleichlautender Zwischentitel; aber dieser ist hier nicht als individueller Bestandteil des Buches zu betrachten, sondern er ent¬ spricht dem auch in anderen Bänden der Gesamtausgabe befolgten Prinzip, nach

Herausgebervorrede und

Inhaltsanzeige den Titel des jeweiligen

Werkes ganz oder abgekürzt zu wiederholen. An der ursprünglichen Stelle, nämlich zwischen Hegels „Vorrede” und dem jetzt mit der Überschrift „Einleitung” versehenen Textanfang, findet sich in der Edition von J. Schulze kein Titelblatt.

3) Hundert Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches, 1907, brachte Georg Lasson in der Philosophischen Bibliothek eine „Jubiläumsausgabe heraus. Genau wie Schulze hat er auf jeden Zwischentitel verzichtet. In seinen Ausführungen „Zur Feststellung des Textes

beschreibt ei

als

/Originaldruck7 ein Exemplar, das „auf dem ersten Blatt”, also vor dem Haupttitel, den Titel B aufweist. Daß Lasson den letzteren in seinem eige¬ nen Text ohne Stellungnahme weggelassen hat, läßt darauf schließen, daß er ihn in dem heute üblichen Sinne als (sachlich unerheblichen) Schmutz-

s Die heranzuziehenden, editorisch eigenständigen Ausgaben sind: a) Hrsg. v. J. Schulze. Berlin 1832. (Hegel: Werke. Bd 2.) - b) Jubiläumsausgabe. In revidiertem Text hrsg . von G. Lasson. Leipzig 1907. (Philos. Bibi. Bd 114.) c) Hrsg. v. O Weiß Leipzig 1909. (Hegel: Sämtliche Werke. Bd 2.) - d) Hrsg. v. G Lasson. Durchges. 2. Aufl. Leipzig 1921. - e) Nach dem Texte der Originalausgabe Hrsg, von J. Hoffmeister. Leipzig 1937. (Philos. Bibi. Bd 114.) - Soweit wir aus den textkriti¬ schen Nachberichten dieser Ausgaben zitieren, geschieht dies ohne Seitennachweis.

116

Friedhelm Nicolin

titel aufgefaßt hat — wie das die Anordnung des ihm damals vorliegenden Originalexemplars nahelegt. 4) Bereits zwei Jahre später, 1909, erschien eine weitere Ausgabe, für die Otto Weiss verantwortlich zeichnete. Hinsichtlich der Titel verfährt Weiss im Text selbst nicht anders als Lasson. In einer Beilage bringt er

eine verkleinerte Abbildung des originalen Haupttitels und des Zwischen¬ titels B, ohne etwas über die Placierung des letzteren zu sagen. Er be¬ merkt zur Titelfrage nur: „In der Erstausgabe war die Phänomenologie als I. Teil eines ,Systems der Wissenschaft' gedacht, doch hat Hegel späterhin von der Fortsetzung in diesem Sinne Abstand genommen, so daß dieser Nebentitel heute nicht mehr in Betracht kommen kann." Die etwas un¬ genau formulierte Argumentation läßt nicht erkennen, worauf Weiss die Bezeichnung ,Nebentitel' bezieht. Sachlich ist klar, daß er sowohl die aus¬ führliche Fassung des Haupttitels als auch den Titel B als erledigt betrach¬ tet. Weiss spricht hier nur aus, was auch die beiden vorangegangenen Editionen schon praktiziert haben: Der Bezug auf das ,System', als dessen ersten Teil Hegel die Phänomenologie erscheinen ließ, ist fallengelassen worden. Die Phänomenologie wird als in sich stehendes Werk dargeboten. Das übergeordnete ,System der Wissenschaft' ist aus dem Haupttitel ge¬ strichen und folgerichtig dann auch der gliedernde Zwischentitel (der inner¬ halb des Systems den Beginn des ,ersten Teils' zu markieren hatte) fort¬ gelassen. 4 5) In der zweiten Auflage der Edition von Lasson (1921) wird unser

Problem zum erstenmal sichtbar. ,Der Originaldruck', auf den Lasson sich jetzt stützt, hat folgende Anordnung: Haupttitel, Inhaltsangabe, Vorrede, Druckfehlerverzeichnis, Titel B, Titel A, Text. Um eine Erklärung bemüht, zieht Lasson aus „der eigentümlichen Häufung der Titelblätter" schon den im Ansatz richtigen Schluß, daß Hegel zunächst den Titel A vorgesehen und erst „hinterher" den Titel B gefunden habe. Aber er betrachtet offen¬ bar das Nebeneinander der verschiedenen Titel als von Hegel gewollt und fügt daher in seinem Text zwischen „Vorrede" und „Einleitung" beide Titel — B und A — auf einer linken und rechten Seite nebeneinander¬ stehend ein. Außerdem druckt er, historisch auf das Original zurück¬ weisend, vor Beginn der „Vorrede" den Haupttitel vollständig ab; er bildet also das ihm nun vorliegende Originalexemplar im ganzen nach und be4 Es ist allerdings erstaunlich, daß dabei keiner der Herausgeber auf den Gedanken kam, für das Buch den Haupttitel zu wählen: Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes. Mit dieser (vorgegebenen) Formulierung hätte man auch nach Wegfall der Zuordnung ,System der Wissenschaft, I. Teil' dem Charakter des Werkes und der Intention Hegels entsprochen (vgl. auch den Titel: Wissenschaft der Logik).

Zum Titelproblem der Phänomenologie

117

zeichnet alle abweichenden Exemplare (auf deren Vorkommen er als erster ausdrücklich hinweist), einschließlich des früher für seine erste Ausgabe benutzten, als „in Unordnung geraten". 6) Johannes Hoffmeister hat im textkritischen Rechenschaftsbericht zu seiner Neuausgabe (1937) den Tatbestand, daß Hegel eine späte Änderung des Titels vorgenommen hat, deutlicher herausgearbeitet. 5 Davon aus¬ gehend, daß Hegel sich erst während der Drucklegung des Werkes für den Titel B entschieden habe, vermutet er: „Die Anweisung an den Setzer, den ersten Titel [= A] zu verwerfen, ist dann nicht deutlich genug gegeben oder nicht durchgängig befolgt worden. Daher das Vorkommen beider Titelblätter." Diese Annahme

stützt

sich auf die Heranziehung einer

größeren Anzahl von Exemplaren. Frappierenderweise hat Hoffmeister, im Widerspruch zu seiner eigenen These und wohl nur äußerlich der „Mehrzahl der ihm zu Gesicht gekommenen Exemplare" folgend, im Text selbst nach der Vorrede den verworfenen Titel A abgedruckt, den Titel B aber ganz unterdrückt. 6 In dieser irreführenden Gestalt erscheint Hoff¬ meisters Ausgabe in der Philosophischen Bibliothek noch heute.

II. Angesichts dieser noch immer unklaren Sachlage war das HegelArchiv bestrebt, im Hinblick auf die zu erstellende kritische Neuedition möglichst viele Stücke des Originaldrucks zu erfassen und auf Eigenarten des Druckes und der Bindung zu untersuchen. Schon bald konnte fest¬ gestellt werden, daß in Büchern, die von den beiden fraglichen Titeln nur noch B enthalten (sei es vor oder nach dem Haupttitel, sei es an der richti¬ gen Stelle nach der Vorrede), der Titel A herausgeschnitten ist. Schließlich begegnete ein auf Vorzugspapier gedrucktes und mit einer Widmung He¬ gels versehenes Exemplar7, in dem infolge eines abweichend getönten Papiers augenfällig sichtbar wurde, daß nicht nur das Blatt mit dem Zwi-

5 Hoffmeister konnte dabei Anregungen aufnehmen aus der Arbeit von Th Haerinx■ Die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes. In: Verhandlungen des 3. Hegelkongresses. Hrsg, von B. Wigersma. Tübingen/Haarlem 1934. 118-138. 6 Insofern hat W. R. Beyer recht, wenn er gegen das von Hoffmeister eingefugte Titelblatt A für den Zwischentitel B plädiert. Aber seine Feststellung daß Hoff¬ meister „von einem ungenügenden Text" ausgehe, ist unzutreffend und laßt um so deutlicher hervortreten, daß sich Beyer seinerseits nur auf ein einziges Exemplar der Originalausgabe stützt und das dort Vorgefundene kurzerhand verallgemeinert. (Beyer: Zwischen Phänomenologie und Logik. Frankfurt a. M. 1955 158 .) 7Das Exemplar ist beschrieben in Katalog Nr 79 (Auktion vom 30. 11.-2. 12. 1961) der Firma Karl u. Faber, München - natürlich ohne Bezugnahme auf die uns; hier interessierenden Details. Die Katalogangabe, daß es sich um ein Exemplar mit hand¬ schriftlichen Korrekturen Hegels handle, erwies sich leider als unrichtig: wir konn en feststellen, daß hier der Besitzer des Buches die im Druckfehlerverzeichnis aufge u r Verbesserungen in den Text übertragen hatte.

118

Friedhelm Nicolin

schentitel A (d. i. die unpaginierte Seite 1 des Textes) durch den Titel B ersetzt, sondern darüber hinaus noch drei weitere Blätter nach Korrektur von gewichtigen Druckfehlern ausgewechselt worden waren

nämlich

aus der Vorrede die Seiten VII/VIII und XVII/XVIII, ferner S. 215/16. Das Austauschverfahren war deutlich kontrollierbar: man hatte das ur¬ sprüngliche Blatt herausgeschnitten, aber dabei einen etwa 5 mm breiten Falz stehengeiassen und auf diesem das neue Blatt eingeklebt. Das gleiche Verfahren ließ sich dann an den betreffenden Stellen auch in anderen Exemplaren verifizieren, wo es bis dahin unbemerkt geblieben war. — Die Zahl der möglichen und der faktisch vorkommenden Varianten des Buches erwies sich nun als noch größer, da das (in sich schon unregelmäßig durch¬ geführte) Auswechseln der Titelblätter nicht immer mit einem Austausch der genannten fehlerhaften Textseiten verbunden war, und umgekehrt. Doch war jetzt aufgrund des buchbinderischen Befunds einwandfrei fa߬ bar, daß Titel B der spätere ist, der den früher gedruckten (nicht nur ge¬ setzten, sondern tatsächlich ausgedruckten!) Titel A zu ersetzen hatte. Außerdem ließ die in dem Widmungsexemplar festzustellende Verwen¬ dung des gleichen Papiers für das ausgewechselte Titelblatt und die eben¬ falls ausgewechselten Seiten aus der zuletzt gedruckten „Vorrede'7 ver¬ muten, daß der Austausch erst gegen Ende der Herstellung des Buches vorgenommen wurde.

Über den ganzen Vorgang schafft nun ein neuerdings entdecktes Exem¬ plar Gewißheit. Es enthält auf einer versehentlich nicht herausgetrennten Seite eine gedruckte Anweisung mit folgendem Wortlaut:

Für den Buchbinder Die an diesem Bogen angeschossenen Seiten, xoelche Pag. 215 u. 216, sodann von der Vorrede Pag. VII u. VIII. und Pag. XVII und XVIII. enthalten, sind noch nebst dem Schmutztitel auszuschneiden, und diese dafür einzuschalten.

Bemerkenswert ist zunächst, daß wir hier eine Anweisung der Drucke¬ rei an den Buchbinder vor uns haben, die erst fixiert wurde, nachdem das Ausdrucken des Werkes einschließlich der Vorrede vollendet war. Die Reihenfolge des Druckes der Phänomenologie ist ganz rekonstruierbar. 8

8 Wir beschränken uns auf eine kurze Wiedergabe der technischen Abfolge. Was den zeitlichen Verlauf angeht, so sei nur daran erinnert, daß der Druck des Textes

119

Zum Titelproblem der Phänomenologie

Zuerst wurde das Textcorpus gesetzt und gedruckt: S. 1 bis 765, das sind zusammen mit den am Schluß

angefügten Verlagsanzeigen genau 48

sechzehnseitige Bogen, die mit A, B, C sowie auf ihrer jeweils dritten Seite mit A 2, B 2, C 2 usw. durchlaufend bezeichnet sind. (Der Titel Wissen¬ schaft der Erfahrung des Beivußtseyns bildete die erste Seite des ersten Bogens und trug deshalb unten auf der Seite die Bogenbezeichnung A, in den Exemplaren, wo er herausgeschnitten ist, fehlt daher diese Bogen¬ bezeichnung, es findet sich dort nur auf S. 3 die Bezeichnung A 2.) Nach dem Text folgte im Druckgang die Vorrede, römisch paginiert von I bisXCI. Die Bogenanfänge sind am Fuß der Seite mit einem, zwei, drei usw. Stern¬ chen bezeichnet. Die ersten fünf Bogen umfassen je 16 Seiten, dann folgt ein achtseitiger, also halber Bogen (=

S. LXXXI bis LXXXVIII). Die

letzten Seiten der Vorrede (LXXXXIX bis XCI) wurden mit dem anschlie¬ ßenden Druckfehlerverzeichnis und den in der Buchbinderanweisung er¬ wähnten

Seiten

zu

einem

weiteren

Bogen

zusammengefaßt,

der

auf

S. LXXXIX mit sieben Sternen bezeichnet ist; auch das Blatt, auf dem die Buchbinderanweisung selbst steht, ist Bestandteil dieses Bogens. Schlie߬ lich wurden zum Schluß des Herstellungsganges - jedenfalls nicht vor dem Ausdrucken der ersten Bogen der Vorrede - der Haupttitel und die sechs Seiten „Inhalt" gedruckt. Letztere sind nicht paginiert. Der Titel ist mit dem Inhaltsverzeichnis fest verbunden: sie bilden zusammen wieder einen halben Bogen. 9 Ist damit genau bestimmbar, an welchem Punkt des Druckprozesses die Anweisung zum Auswechseln der Zwischentitel erfolgte, so ergeben sich weitere sachliche Aufschlüsse aus einer näheren Musterung des Bogens, auf den der Text dieser Anweisung Bezug nimmt. Es handelt sich, wie

i-n Februar 1806 begann (vgl. Hegel: Briefe. Bd 1. 113), das Manuskript der Vorrede im Januar 1807 an die Druckerei ging (ebd. 136) und die Herstellung ca. Ende Marz 18» Wege^d^deSliierten Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis kann dieses frühe¬ stens nach Fertigstellung des paginierten Umbruchs gedruckt worden sem. Da aber der Halbbogen mit Titel und Inhalt nicht in die Paginierung der Vorrede einbezogen, vielmehr die letztere mit Seite I und einem vollständigen Bogen beginnt, ist es wahr¬ scheinlicher, daß auch der Druck der Vorrede voranging DruJ‘eCf™SJh l; * Möglichkeit nahe, daß der Titel-Halbbogen zusammen mit S LXXXI-LXXXVIII d Vorrede als sechster Bogen (Bezeichnung: 6 Sternchen) gedruckt und dieser dann hal¬ biert wurde. - Hinzuweisen ist noch auf folgendes: In den uns bekannten ^ Exemp;laren der Phänomenologie kommt es öfter vor, daß das Inhaltsverzeichnis nicht hinter dem Titel belassen, sondern nach Vorrede und Druckfehlerliste oder ganz am Schlußdes Bandes eingefügt worden ist. In diesen Fällen sind die zusammenhängenden Blatte auseinandergeschnitten und, da dann das bloße Heften nti. den, Faden n.ch, mehr möglich war, sowohl Titel wie Inhaltsverzeichnis geklebt.

Friedhelm Nicolin

120

schon gesagt, um den Bogen, der die Vorrede abschließt. In dem Exemplar der Phänomenologie, über das wir berichten, ist er komplett so eingebun¬ den, wie er gedruckt wurde 10: er hat hier einen Umfang von 16 Seiten. Im einzelnen enthalten diese Seiten folgendes: (1)

Seite LXXXIX der „Vorrede"

(2)

Seite XC der „Vorrede"

(3)

Seite XCI [= letzte Seite] der „Vorrede"

(4)

erste Seite der „Verbesserungen", unpaginiert

(5/6)

korrigierte Seiten VII/VIII

(7/8)

korrigierte Seiten XVII/XVIII

(9/10)

korrigierte Seiten 215/216

(11)

Anweisung „Für den Buchbinder"

(12)

vacat

(13)

zweite Seite der „Verbesserungen", unpaginiert

(14)

dritte Seite der „Verbesserungen", unpaginiert

(15)

Titel B

(16)

vacat

Aus dieser Anordnung der Seiten läßt sich genau erkennen und nachvoll¬ ziehen, was der Buchbinder gemäß der ihm erteilten Anweisung zu tun hatte. Die in der Mitte des Bogens liegenden acht Seiten (also 5—12) waren dazu bestimmt, herausgeschnitten zu werden: es sind die drei Blätter, die an anderen Stellen des Buches einzuschalten waren, um die entsprechen¬ den fehlerhaften Seiten zu ersetzen * 11, und dazu als viertes das Blatt mit

10 Diesem Versehen korrespondiert die Tatsache, daß in dem vorliegenden Exemplar die von der Bindeanweisung geforderten Auswechslungen nicht vorgenommen sind; an den betr. Stellen finden sich also die alten, fehlerhaften Seiten und so auch der Titel A. 11 Die Fehler bzw. Korrekturen, um derentwillen die Seiten ausgewechselt wurden, sind folgende: 1) S. VIII Mitte (= Hoffmeister, Aufl. 1952, S. 13, Zeile 10) war in dem Satz „worauf der selbstbewußte Geist gegenwärtig steht" das Wort „Geist" aus¬ gelassen worden. 2) S. XVII (= Hoffmeister S. 17, Zeile 4 v. u.) mußte es heißen „machen die Andern" statt „machen die ersten". 3) S. 216 oben (= Hoffmeister S. 210, Zeile 7) waren die Worte „Sensibilität einer großem oder geringem" ausgelassen worden, wodurch der Satz ganz unverständlich wurde. Die Wiedereinsetzung dieser Worte machte eine ganze Zeile aus, die auf der vorhergehenden Seite durch Kürzung des Textes eingespart wurde: die in Klammern stehende Beifügung „Ausdrücke, welche das sinnliche, statt in den Begriff, ins Lateinische — und zwar noch dazu in ein schlechtes — übersetzen" wurde zusammengezogen in: „Ausdrücke, welche das sinn¬ liche, statt in den Begriff, in ein Deutschlatein übersetzen" (vgl. Hoffmeister S. 209, Z. 11 v. u.; Hoffmeisters Text hat in allen drei Ausgaben — 1937, 1949 und 1952 — die kürzere Version, erst in einem beigegebenen Druckfehlerzettel zu der letzten Auflage ist die ausführlichere Fassung als richtig verzeichnet; in einem späteren, nicht als solchen kenntlich gemachten Nachdruck findet sich diese Berichtigung' dann im Text.)

Zum Titelproblem der Phänomenologie

121

der Buchbinderanweisung. Die etwas eigenartige Placierung mitten zwi¬ schen den Seiten der Druckfehler-Verbesserungen hat technische Gründe, sie erleichterte das Herausnehmen: geschah dies nämlich vor dem Ein¬ binden, genauer nach dem zweiten Falzen des Bogens, so konnten die beiden innen liegenden Doppelblätter mit einem Schnitt insgesamt ab¬ getrennt werden; geschah es erst nach dem Binden bzw. Heften, so brauch¬ ten die vier Blätter nur am Innenrand (Bundsteg) abgeschnitten zu wer¬ den, wobei dann ein kleiner Falzrest im Buch verblieb 12. Nach dem Herausnehmen der Seiten (5)—(12) des Bogens blieben die beiden äußeren Doppelblätter übrig, dergestalt daß nun die drei unpaginierten Seiten mit „Verbesserungen" richtig zusammenrückten und im Anschluß an die Vorrede folgten. Das letzte Blatt dieses einzubindenden halben Bogens bildete der Titel B. Nach dem seitenrichtigen Zusammen¬ legen der Bogen folgte auf ihn unmittelbar der den eigentlichen Text des Buches einleitende Titel A. Wurde dieser herausgeschnitten, so nahm Titel B von selbst dessen Stelle ein. Aus diesem Sachverhalt ist auch das Vorkommen von Exemplaren, die hier beide Titel (in der Reihenfolge B—A) auf weisen, technisch leicht zu erklären: entweder irrtümlich oder aus Bequemlichkeit hat man hier unterlassen, den Titel A auszuschneiden, das Einbinden von Titel B wurde dadurch in keiner Weise berührt. Gewisse Fragen gibt noch der Wortlaut der an den Buchbinder gerichte¬ ten Anweisung auf. Einmal ist der ganze Satz sprachlich inkorrekt, denn gemeint ist, daß die aufgeführten Seiten an ihrem Ort im Text auszu¬ schneiden und dafür dann „die an diesem Bogen angeschossenen Seiten einzuschalten sind. Aber ein sachliches Mißverständnis ist hier wohl trotz der ungeschickten sprachlichen Formulierung nicht möglich. Problemati¬ scher ist es, daß für das auszuschneidende Titelblatt die Bezeichnung Schmutztitel' gebraucht wird. Unter einem Schmutztitel verstehen wir heute den meist abgekürzten Titel, der dem Haupttitel eines Werkes voran¬ geht, also direkt nach dem Vorsatzblatt des Buches folgt. In diesem Sinne heißt es auch schon in Adelungs Wörterbuch (Ausgabe von 1808): „Schmutztitel — im Buchhandel, ein Titel, welcher nur verlorener WeDe vor einem Buche gedruckt wird, um den eigentlichen Titel vor der Be¬ schmutzung zu verwahren." Indessen, ein Schmutztitel in der hier um¬ schriebenen Bedeutung des Wortes findet sich in der Phänomenologie nicht (ebensowenig übrigens in allen anderen Büchern Hegels). Nach allem, was wir über die Zusammenhänge gesehen haben, hätte ein solcher auch

12 Das Hegel-Archiv besitzt ein Exemplar, in dem das letztere Verfahren angewandt worden ist.

Friedhelm Nicolin

122

kaum früher gedruckt werden können als der Bogen, in dem die Buch¬ binder-Anweisung enthalten ist. Die in dieser Anweisung gebrauchte Be¬ zeichnung /Schmutztitel7 kann sich also nur auf den Zwischentitel A be¬ ziehen. In der Tat läßt sich eine dem entsprechende Verwendung des Wortes zeitgenössisch auch sonst nachweisen. Am 10. 4. 1800 schreibt den Verleger

Unger:

Goethe

an

„Hierbey folgt der Schluß des Manuscripts, wobey

ich nu; einiges anmerke. Die Folia zeigen wie die drey Abtheilungen nach einander folgen. Jede Abtheilung erhält einen Schmutztitel. Daß die Weis¬ sagungen des Bakis im Manuscript schon auf der Rückseite des Schmutz¬ titels anfangen und in die Quer geschrieben sind, hat keinen Einfluß auf den Druck. Es ist dies bloß eine Zufälligkeit des Manuscripts."13 Der Brief bezieht sich auf: Göthe's neue Schriften. Siebenter Band. Berlin 1800. Keiner der drei erwähnten (wie auch der übrigen) Abteilungstitel, deren Rückseite jeweils frei ist, hat in diesem Buch die uns geläufige Schutz¬ funktion eines Schmutztitels, vielmehr handelt es sich um gliedernde Zwi¬ schentitel mit vollem sachlichem Eigenwert. Die gleiche Bedeutung liegt auch der zweiten Verwendung des Wortes in dem zitierten Brief zugrunde.

Gehen wir von dieser Bedeutung aus, so hat es nichts Abnormes mehr, wenn unsere Buchbinderanweisung mit Blick auf den Titel Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns von einem ,Schmutztitel' spricht. Einzu¬ räumen ist freilich, daß die andere offenbar gängige Bedeutung des Wortes, die Adelung verzeichnet, in manchen Fällen dazu beigetragen haben mag, daß der Buchbinder den neuen Titel B wie einen Schmutztitel vor den Efaupttitel des Buches gesetzt hat; das Vorkommen solcher Exemplare er¬ wähnten wir bereits (s. o. Abschnitt I, 2). Von hier aus noch eine letzte Anmerkung zur Sache. Daß es überhaupt so viele in der Bindung variierende Exemplare gibt, hängt mit einem Um¬ stand zusammen, der nicht außer acht gelassen werden darf: Zur Zeit des Erscheinens von Hegels Phänomenologie war es noch nicht die Regel, daß die ganze Auflage eines Buches gleichzeitig und gleichförmig gebunden wurde. Soweit das Binden verlagsseitig besorgt wurde, geschah das in kleinen Quoten, je nach Bedarf; vielfach wurden die Bücher aber auch broschiert oder sogar in losen Bogen ausgeliefert. An den bis heute auf¬ behaltenen Exemplaren der Phänomenologie sind daher ohne Zweifel ganz verschiedene Buchbinder tätig gewesen. Die unterschiedliche Ausführung

13 Goethe: Werke. Sophien-Ausgabe. Abt. 4. Bd 15. Weimar 1894. 55. — Die Stelle ist nachgewiesen in H. Paul: Deutsches Wörterbuch. 5., neubearb. u. erw. Aufl. von W. Betz. Tübingen 1966.

Zum Titelproblem der Phänomenologie

123

der etwas komplizierten, jedenfalls außergewöhnlichen Bindeanweisung ist daher nicht verwunderlich. Wir fassen das Ergebnis unserer Untersuchung zusammen: 1) Der Zwi¬ schentitel A war ein fester Bestandteil des Bogens, der als erster des ganzen Werkes ausgedruckt worden ist. 2) Der Zwischentitel B wurde erst ganz am Schluß gedruckt, als Bestandteil des Bogens, der die letzten Seiten der Vorrede und die Corrigenda enthält. 3) Es liegt eine eindeutige Anweisung vor, den Titel A durch Titel B zu ersetzen. 4) Das Auswechseln der Titel wurde nicht schon während des Druckvorgangs, sondern erst vom Buch¬ binder vorgenommen. 5) Das bisher besonders irritierende Vorkommen beider Titel in ein und demselben Exemplar läßt sich technisch unschwer erklären. Diese Fakten können nun als gesichert in die Deutung von Genese und Struktur der Phänomenologie des Geistes einbezogen werden.

,

HEINZ KIMMERLE (BONN) ZUR CHRONOLOGIE VON HEGELS JENAER SCHRIFTEN

Für die Interpretation der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens in Jena gilt seit

Rosenkranz

in einem Brief an

eine Äußerung Hegels als Schlüsselstelle, die

Schelling

vom

2.

11. 1800 zu finden ist: „In meiner

wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetem Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit be¬ schäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.” 1

Rosenkranz

hatte diese Stelle so aufgefaßt, daß Hegel

schon in Frankfurt, von wo er diesen Brief schrieb, ein System entwickelt hatte, das von vornherein „unerschütterlich" in die „Trias von Idee, Natur und Geist" eingeteilt war und an dem in Jena eine gewisse „didaktische Modification" vorgenommen wurde, um es für die Studenten verständlich zu machen. 1 2 Diese Auffassung hat

Nohl

widerlegt, indem er darauf hin¬

wies, daß die beiden Bruchstücke, die er als „Systemfragment von 1800" veröffentlicht hat, am Schluß auf den 14. 9. 1800 datiert sind. Da zwischen dem 14. 9. und dem 2. 11. keine Arbeit entstanden sein kann, die mit dem „System" gemeint ist, zumal Hegel in dieser Zeit noch eine Reise nach Mainz unternommen und die Überarbeitung des Anfangs der Positivitätsschrift verfaßt hat, wird man „kaum anders schließen können, als daß viel¬ mehr eben die Arbeit, die er damals [am 14. 9.] beendete, das System ent¬ halten hat, in irgendeiner Gestalt, die seinen Gedanken dieser Zeit ent¬ sprach". 3 Damit wäre für die Interpretation der Jenaer Entwicklung ein neuer Ausgangspunkt gewonnen worden, wenn man versucht hätte, möglichst unvoreingenommen an die Jenaer Schriften heranzugehen. Aber das von 1 Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Bd 1. 59 f. 2 K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844. 99—141 und 178—198, bes. 179. 3 Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg, von H. Nohl. Tübingen 1907. 345 Fu߬

note.

Heinz Kimmerle

126

Rosenkranz

geprägte Bild von Hegels Entwicklung in Jena blieb so be-

stimmend/ daß man nun das fertige System im Sinne der späteren Enzy¬ klopädie in seiner Embryonalform 4 an den Anfang der Jenaer Jahre legte. Ehrenberg

gab das Ms zur Logik, Metaphysik, Naturphilosophie (Nach¬

laß Bd 9) als Hegels Erstes System heraus und setzte für die Konzeption und Niederschrift die Zeit „zwischen dem Herbst 1801 und dem Herbst 1802" an 5.

Lasson

schloß sich bei seiner Neuedition dieses Ms der grund¬

sätzlichen Auffassung und der zeitlichen Einordnung

Ehrenbergs

an 6.

Neben dieser mehr als 800 Manuskriptseiten umfassenden Bearbeitung des „Systems", die allgemein mit den Vorlesungen über Logik und Meta¬ physik in den Semestern 1801/02—02/03 in Zusammenhang gebracht wurde, wären nach der auf den Annahmen von

Rosenkranz

aufgebauten

Konzeption für die Jahre 1801 und 1802 die Ausarbeitung und Veröffent¬ lichung der Differenzschrift, der Habilitationsdissertation, der Aufsätze im Kritischen Journal (von insgesamt mehreren hundert Druckseiten) und die Arbeit an dem Vorlesungsstoff für das Kolleg über Naturrecht anzuneh¬ men. Von 1803 an erstreckte sich dann „die bisher noch dunkelste Weg¬ strecke von Hegels philosophischer Entwicklung" bis zur Veröffentlichung der Phänomenologie (1807). Diese Dunkelheit hat

Hoffmeister

durch die

Herausgabe der Nachlaßbände 12 und 15 als Realphilosophie I (1803/ 04) und II (1805/06) „aufzuhellen" gesucht7. — Es ergäbe sich somit für die Jahre 1801—02 eine unerhört gedrängte Fülle von Arbeiten und Ver¬ öffentlichungen, während für die Zeit von 1803 bis zur Niederschrift der Phänomenologie, die in der Regel auf die Jahre 1806—07 angesetzt wird, nur eine genauere Bearbeitung der natur- und geistesphilosophischen Ab¬ schnitte des Systems anzunehmen wäre. Diese äußerst ungleichmäßige Verteilung der Arbeit in den Jenaer Jahren ist indessen durch die sonstigen Kenntnisse, die wir von dieser Zeit haben, nicht begründbar. Eine weitere Schwierigkeit entsteht daraus, daß in dem Ms zur Logik, Metaphysik, Naturphilosophie eine in Reinschrift ausgearbeitete Natur¬ philosophie bis zum Begriff des Organischen enthalten ist, daß aber Hegel von 1801/02 bis 1802/03 immer nur über Logik und Metaphysik und nicht über Naturphilosophie gelesen hat. Ferner wird man genötigt, die Aus¬ arbeitung der Logik in dem genannten Ms gegenüber der Anwendung

4 In dem Buch Hegel als deutscher Nationalphilosoph (Leipzig 1870) bezeichnet Rosenkranz die nach seiner Meinung am Ende der Frankfurter Zeit entstandene erste Gestalt des Systems als „Embryo des Hegel'schen Systems" (43). 5 Hegels Erstes System. Hrsg, von H. Ehrenberg u. H. Link. Heidelberg 1915. XI. 8 Hegel: Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie. Leipzig 1923. XXXV. 7 Vgl. Hegel: Jenenser Realphilosophie I. Leipzig 1923. VII.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

127

logischer Kategorien in der sog. Realphilosophie I als ein der Entwicklung Vorauseilen8 oder aber letztere als einen Rückfall hinter den schon er¬ reichten Stand der Entwicklung anzunehmen 9. Ein Versuch, aus den sicher überlieferten Quellen zu den Vorlesungen der Jahre 1801/02 bis 1802/03 auf den Gegenstand dieser Vorlesungen zurückzuschließen (vgl. in diesem Band 78 ff), führte uns zu dem Ergebnis, daß Hegel in diesen Jahren vor allem Logik und Metaphysik im Sinne einer Einleitungs- und Grundlegungsproblematik der Philosophie behandelt hat, daß die weitere Ausarbeitung dann einen theoretischen und einen praktischen Teil, als Philosophie der Natur und der Intelligenz, umfassen sollte. Vermutlich war als Schlußteil im Anschluß an

Schelling

eine Philo¬

sophie des „absoluten Indifferenzpunktes" konzipiert10, in der die „Resumtion des Ganzen in Eins, als die Rückkehr zur ersten Einfachheit der Idee" 11 dargestellt werden sollte. Wir haben jedoch keine Zeugnisse über eine nähere Ausarbeitung dieses Teils aus den ersten Jenaer Jahren. Was sich bei einer Berücksichtigung der verschiedenen noch erhaltenen Zeugnisse über den Inhalt der Logik und Metaphysik ermitteln läßt, er¬ möglicht die Annahme, daß bei ihrer Behandlung das erwähnte Ms vom September 1800 zugrundegelegen hat. Die beiden überlieferten Fragmente aus dem Schluß zeigen, daß hier unter der Problematik des Verhältnisses von Philosophie und Religion auf die Frage der Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben eingegangen wird, die Hegel in der ersten Jenaer Zeit in der Logik und Metaphysik behandelt hat. Auf dem Gebiet der praktischen Philosophie lassen sich in dieser Zeit ebenfalls eigene Ansätze Hegels zu einer systematischen Bearbeitung er¬ kennen: in seinen Disputationsthesen, im Naturrechtsaufsatz und in seinen Vorlesungsmanuskripten über ins naturae. Im Hinblick auf die theoretische oder Naturphilosophie muß die Habilitationsschrift als ein erster Vorstoß erscheinen. Die Frage des „Verhältnisses der Naturphilosophie zur Philo¬ sophie überhaupt" hat Hegel — wie es scheint — in seinen Diskussionen mit Schelling sehr beschäftigt. Die Erweiterung des Stoffes der Hauptvorlesung über Logik und Meta¬ physik hinaus zu einem Grundriß der gesamten Philosophie im Sommer 1803 wurde zum Anlaß für eine tiefgehende Neubesinnung, die schließlich auch zu einer Umbildung der Logik und Metaphysik führte. Es legt sich 8

Hegels Erstes System. XXVI. 0 IV. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. In: Ges. Schriften. Bd 4. 2. Aufl. Stutt-

gart-Göttingen 1959. 216 f. 10 Vgl. Hegel: Erste Druckschriften. Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1928. 89—91.

11

Rosenkranz: Hegels Leben. 179.

Heinz Kimmerle

128

nahe anzunehmen, daß die Schwierigkeiten daraus entstanden sind, daß Hegel auf der von ihm in Frankfurt konzipierten Grundlegung ein System aufbauen wollte, das sehr stark von Gedanken

Schellings

beeinflußt war.

Aber wie es sich damit auch verhalten mag, gegenüber dem von kranz

Rosen¬

geprägten Grundschema der Interpretation der Entwicklung Hegels

in Jena sind schwerwiegende Vorbehalte anzumelden. Offensichtlich ist in dem Brief an

Schelling

vom 2. 11. 1800 mit der Äußerung, „das Ideal des

Jünglingsalters mußte sich ... in ein System . . . verwandeln", gar nicht das „System" im Sinne des späteren Hegel, die „unerschütterliche Trias von Idee, Natur und Geist", gemeint. Hegel wollte vielmehr lediglich sagen, daß er zur Form des philosophisch-systematischen Denkens geführt worden sei. Dem entspricht es, daß in den ersten Jenaer Jahren stets von mehreren Systemen, nicht aber von dem System die Rede ist. In der Vor¬ lesungsankündigung für den Sommer 1802 wurden Logik und Metaphysik als systema reflexionis et rationis gegeneinander abgegrenzt. Im Natur¬ rechtsaufsatz ging es Hegel darum, eine wissenschaftlich-systematische Be¬ handlung des Sittlichen gegen die der positiven Wissenschaften ins Feld zu führen. Von daher gesehen ist die Bezeichnung für das Ms Nachlaß Bd 10: „System der Sittlichkeit", die von

Rosenkranz

stammt12, durchaus

zutreffend. Wenn Hegel an der betreffenden Briefstelle aber nicht an das System gedacht hat, ist es auch ein Irrweg, nach einer möglichst frühen Behandlung der Dreiheit von Logik/Metaphysik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes in seinen Manuskripten zu suchen, um damit gewissermaßen den Ausgangspunkt seines wissenschaftlich-philosophischen Denkens in die Hand zu bekommen. Es gibt keinen sachlichen Grund, das Ms zur Logik, Metaphysik, Naturphilosophie an den Anfang der Jenaer Entwicklung zu setzen (vgl. u. 164—167). Um nun zu vermeiden, daß weiterhin eine bestimmte Interpretation der Entwicklung des Hegelschen Denkens für die Ordnung und Datierung der einzelnen Mss aus der Jenaer Zeit den Ausschlag gibt, ist zur Erstellung einer neuen Chronologie dieser Mss in erster Linie ein äußerlich-techni¬ sches Verfahren angewendet worden. Für die Jugendschriften Hegels hat zuerst

Nohl

aufgrund der Entwicklung von Hegels Handschrift, wie sie

aus den datierten Stücken abzulesen ist, eine Einordnung der nicht datier¬ ten Mss versucht13. Sein Verfahren ist differenziert und erweitert worden

12 13

Hegels Leben. 103. Jugendschriften. 402—405.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

durch Gisela

Schüler

129

in ihrer Arbeit Zur Chronologie von Hegels Jugend¬

schriften 14. Für die Jenaer Zeit hat

Rosenzweig

das NoHLSche Verfahren

weiterentwickelt und auf eine Reihe von Mss angewandt, die sein Thema Hegel und der Staat betreffen 15. Wir haben nun an allen Jenaer Mss die variablen Schriftmerkmale untersucht und darüber eine Häufigkeitsstatistik aufgestellt. Durch einen Vergleich mit den letzten Frankfurter und den ersten Bamberger bzw. Nürnberger Mss sollte eine Abgrenzung nach beiden Seiten ermöglicht werden. Ergänzend wurden einige orthographi¬ sche Eigentümlichkeiten Hegels beobachtet und die Häufigkeit des Vor¬ kommens bestimmter Schreibungen durchgezählt. Es zeigte sich, daß fol¬ gende Buchstaben einem deutlichen Wandel unterworfen sind: s-Formen im sch und. als einfaches s:

ff ff

ff fiffif

// / Strich-s

( Peitschen-s

Balken-s

sch Formen und k-Formen in ihren Grundtypen:

m vf w

t *

Am auffallendsten ist die Schreibung des s; hier bildete sich in den ersten Jenaer Jahren eine Buchstabenform heraus, die zunächst offenbar immer häufiger verwendet wurde, seit 1803 aber in der Häufigkeit zurück¬ ging 16. Sie blieb späterhin als eine unter den von Hegel verwendeten sFormen erhalten. Die Häufigkeit der Anwendung dieser Form, gelegentlich in gewissen Abwandlungen, ermöglicht auch in den Jahren 1803—1807 einzelne Manuskripte als zusammengehörig oder zeitlich benachbart zu bestimmen. Wir bezeichnen sie ihrem Erscheinungsbild nach als Balken-s 14 In: Hegel-Studien. 2 (1963), 111-159. 15 F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 1. München-Berlin 1920. 236 t, 241 t, 247—249. 16 Vgl. Rosenzweig. 237.

130

Heinz Kimmerle

(in obiger Systematik der einfachen s-Formen an dritter Stelle). Ihre pro¬ zentuale Häufigkeit wird errechnet im Vergleich zu dem Vorkommen des Normal-s (an erster Stelle), Strich-s (an zweiter Stelle) und Peitschen-s (an vierter Stelle). Es zeigte sich, daß das Aufkommen der neuen Form, der Höhepunkt ihrer Anwendung und das allmähliche Zurückgehen im sch deutlicher hervortritt als in der einfachen s-Form. Deshalb wurde das Vor¬ kommen dieser Form zum Leitfaden für die gesamte Schriftentwicklung gemacht. Bei den z- und k-Formen ließen sich keine Regelmäßigkeiten finden. Allenfalls in der Zuordnung zum Vorkommen der s-Formen kann man aus der Häufigkeit dieser Formen unterstützende Kriterien gewinnen. Orthographisch geht die ck- und tz-Schreibung mit der Entwicklung der Handschrift erstaunlich parallel. Während zunächst k oder kk bzw. z oder zz für unser heutiges ck bzw. tz überwiegen (z. B. „ausdrüken" oder „ausdrükken"; „sezen" oder „sezzen"), erscheint immer öfter ck bzw tz („ausdrücken", „setzen"). Etwa auf dem Höhepunkt der Verwendung des Balken-s finden wir auch die am weitesten gehende Angleichung an die heutige Schreibung; Hegel schießt sogar gewissermaßen über das Ziel hinaus und schreibt ck statt k, gelegentlich sogar ckk statt k oder ck und entsprechend tz statt z (z. B. „Mechanick", „Dialeckktik"; „Reitz"). Wäh¬ rend aber dann das tz in einer unserer heutigen Verwendung weitgehend angeglichenen Form bestehen bleibt, kehrte Hegel bei der Schreibung des ck zunehmend zu einer Verwendung des k statt ck zurück. Auf diese Weise lassen sich Kriterien dafür gewinnen, ob ein bestimmtes Ms auf den auf steigenden oder den absteigenden Ast der Häufigkeit des Bal¬ ken-s gehört. Der geschilderte charakteristische Verlauf der Entwicklung von Hand¬ schrift und orthographischen Merkmalen bietet aber nur eine schwankende Grundlage für die Einordnung und Datierung der einzelnen Mss. Ins¬ besondere nach dem Rückgang der häufigen Verwendung des Balken-s, also seit dem Frühjahr 1804, lassen sich aus der Entwicklung der Hand¬ schrift und der orthographischen Merkmale nur noch mit äußerster Vor¬ sicht Schlüsse für die Einordnung von nicht datierten Mss ziehen. Deshalb mußten alle anderen historischen Hilfsmittel mit herangezogen werden. Die Auswertung der Beziehung auf bestimmte Zeitereignisse oder gerade erst herausgekommene Publikationen erwies sich als ebenso wichtig wie die Heranziehung der Stellen im Briefwechsel, die sich auf Hegels philo¬ sophisch-wissenschaftliche Arbeit beziehen. Von besonderer Bedeutung war die Berücksichtigung des genauen Wortlautes der Vorlesungsankündi-

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

131

gungen, den wir bereits an anderer Stelle untersucht haben 17. Schließlich konnten wir nicht ohne Bezugnahme auf die stilistische und gedankliche Entwicklung in den Mss dieser Zeit auskommen. Dabei mußte das Ver¬ hältnis zu den gedruckten Schriften, deren Entstehungszeit sich — vom Erscheinungsjahr ausgehend — ziemlich genau bestimmen läßt, in die Untersuchung einbezogen werden, um die Aufeinanderfolge zu erfassen. Das Gerüst für die zeitliche Einordnung bildeten datierte Manuskripte (Exzerpte aus Tageszeitungen und dgl.) und handschriftlich erhaltene Briefe. Besonders zu erwähnen ist ein Brief Hegels an

Assal,

der zwar kein

Datum trägt, aber aufgrund der Umstände, von denen er spricht, auf die Zeit zwischen 21. 5. und 16. 8. 1803 datiert werden kann (vgl. u. 155). Er bildet seinem handschriftlichen Befund nach den Höhepunkt und Wendepunkt der entscheidenden Entwicklungslinie der Verwendung des Balken-s im sch. Die folgende Liste enthält, durchlaufend numeriert, alle Jenaer Schriften Hegels, soweit wir von ihnen Kenntnis haben. Die Briefe und einige bio¬ graphische Dokumente sind unter A. Briefe gesondert zusammengefaßt, da sie auch in der neuen Ausgabe von Hegels Gesammelten Werken im Zusammenhang des Briefwechsels veröffentlicht werden. Die Gruppe B. Texte bietet somit eine Übersicht über das Material für die Bände der Jenaer Schriften in der neuen Ausgabe. Zur Titulierung der einzelnen Stücke werden entweder die von Hegel selbst stammenden Titel (kursiv), die ersten Worte einer Schrift (kursiv) oder eine kurze sachliche Bezeichnung eingesetzt, bei Briefen bzw. Brief¬ entwürfen der Adressat (kursiv). Wo es notwendig ist, wird in einer Klammerbemerkung Näheres über den Inhalt mitgeteilt. Bei Schriften, die nicht mit Sicherheit oder nicht ausschließlich von Hegel stammen, ist die laufende Nummer eingeklammert. Wenn wir von einer Schrift nur noch indirekte Zeugnisse (Erwähnungen, Beschreibungen) oder Zitate haben, steht vor dem Titel ein Sternchen (*)• Die rechte Spalte bringt zu jedem Titel das Datum, das die Entstehungs¬ zeit angibt. Schriften, deren Entstehung sich über längere Zeit erstreckt hat oder nur für einen größeren Zeitabschnitt festgelegt werden kann, sind an der frühest möglichen Stellen eingeordnet. Bei den datierten und den aufgrund der historischen Bezüge sicher datierbaren handschriftlichen Stücken, die das Gerüst für die Chronologie abgeben, sind die Daten durch Fettdruck hervorgehoben.

17 S. in diesem Band 81 ff.

132

Heinz Kimmerle

Unter den weiteren Angaben zu jedem Stück wird zunächst mitgeteilt, wo sich das Manuskript befindet und welchen Umfang es hat. 18 Wenn wir über den Inhalt eines Manuskripts aufgrund von anderen Quellen noch etwas wissen, dieses selbst aber verschollen ist oder als verloren gilt, geben wir an, wo es sich zuletzt befunden hat bzw. bei welchen Veröffentlichungen es noch zugrundegelegt worden ist. Von den Aufsätzen oder Werken, die Hegel selbst veröffentlicht hat, sind bis auf zufällige Reste keine Manu¬ skripte mehr erhalten. Hier stehen daher die notwendigen bibliographi¬ schen Mitteilungen zu den Originalausgaben an erster Stelle. Zu jedem Stück schließt sich eine Übersicht der bisherigen Editionen an, soweit sie für eine kritische Neuedition von Bedeutung sind. Die Reihen¬ folge ist chronologisch. In der Liste sind folgende Abkürzungen verwendet, die einer näheren Erklärung bedürfen: Beitr.

G. Lasson: Beiträge zur Hegel-Forschung. Berlin 1909.

Dok.

Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg, von J. Hoff¬ meister. Stuttgart 1936.

ED

Hegel: Erste Druckschriften. Hrsg, von G. Lasson. Leip¬

ES

Hegels Erstes System. Hrsg, von H. Ehrenberg u. H.

Glöckner

Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Hrsg, von

zig 1928. (Philos. Bibliothek. 62.) Link. Heidelberg 1915. H. Glöckner. Stuttgart 1927 ff. Habermas

Hegel:

Politische Schriften. Hrsg, von J. Habermas.

Frankfurt/M. 1966. (Theorie 1.) Heller

Hegel:

Die Verfassung Deutschlands. Hrsg,

von H.

Heller. Leipzig 1919. (Reclams U.-B. 6139—40.) 2. Aufl. 1923. Hoffm.

Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952—60. (Philos. Bibliothek. 235—238.)

H.-St.

Hegel-Studien. Bonn 1961 ff.

K. H.

Briefe von und an Hegel. Hrsg, von K. Hegel. Bd 1.

Krit. Journal

Kritisches Journal der Philosophie. Hrsg, von Schelling

LMN

Hegel: Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphiloso¬

Leipzig 1887. und Hegel. 2 Bde. Tübingen 1802/03. phie. Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1923. (Philos. Bib¬ liothek. 58.) Mollat

Hegel: Die Verfassung des Deutschen Reichs. Hrsg, von G. Mollat. Stuttgart 1935.

is Wir geben die Zahl der Seiten an; wenn eine Seite nur teilweise gefüllt ist, wird dies nicht besonders mitgeteilt.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

=

Nachl.

133

Hegel-Nachlaß der Berliner Staatsbibliothek, verwaltet von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin-

=

NFG (GSA)

Dahlem. Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassi¬ schen

=

Pol.

deutschen

Schillerarchiv. Hegel: Schriften

Literatur in Weimar, Goethezur

Politik

und

und

Rechtsphilosophie.

Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1913. (Philos. Bibliothek =

Realph.

144.) 2. Aufl. 1923. Hegel: Jenenser Realphilosophie. Hrsg, von G. Hoff¬ meister. [Teil] I: Die Vorlesungen von 1803/04. Leipzig 1932. [Teil] II: Die Vorlesungen von 1805/06. Leipzig 1931. (Philos. Bibliothek. 66 b u. 67.)

Ros.

=

K. Rosenkranz: Hegel's Leben. Berlin 1844.

Schelling

=

F. W. J. Schelling: Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling.

Schröter

=

Bd 5. Stuttgart u. Augsburg 1859. Schellings Werke. Hrsg, von M. Schröter. Bd 3 und

Werke

=

Ergänzungsbd 3. München 1927. Hegel: Werke. Hrsg, von einem Verein der Freunde des Verewigten. Berlin 1832 ff. Römische Ziffern geben bei mehrbändigen Werken die Bandzahl an; E

Ergänzungs¬

band.

A. B R I E F E

1 An Ramann Ms verschollen

8. 8. 1801 (Autographenabt.

der

Berliner

Staatsbiblio¬

thek). — Ausg.: Hoffm. I. 63. 2 An die Philosophische Fakultät Jena (lat.) Ms: Dekanatsakten der Philos. Fak. Jena. Bd 1801. 1 S. und

8. 8. 1801

Adr. — Ausg.: H.-St. IV. 28. 3 An Mehmel Ms: Literaturarchiv der Deutschen Akademie der Wissenschaf¬

vor 15. 8. 1801

ten, Berlin. Autographensammlung K. Weinhold. 1 S. — Ausg.: Hoffm. IV. 3. 4 An Voigt Ms: Dekanatsakten der Philos. Fak. Jena. Bd 1801. 3 5.—

15. 8. 1801

Ausg.: H.-St. IV 31 f. 5 An Mehmel Ms: Schillernationalmuseum, Marbach. 1 S. — Ausg.: ED 422 f; Hoffm. I. 63 f.

26. 8. 1801

Heinz Kimmerle

134

26. 8. 1801

6 An Voigt Ms: Dekanatsakten der Philos. Fak. Jena. Bd 1801. 2 S. — Ausg.: H.-St. IV. 37 f. 7 An Schütz Ms

Aug.-Okt. 1801

verschollen

(Autographenabt.

der

Berliner

Staatsbiblio¬

oder Mai 1802

thek). — Ausg.: Hoffm. III. 359. 8 *An Ramann Erwähnt

im

4. 12. 1801 Auktionskatalog

CVII,

Henrici,

Berlin

1926,

Nr 234. 9 An Hufnagel

30. 12. 1801

Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 28— 31; Hoffm. I. 64—66. 10 *Billet mit Unterschrift Erwähnt

im

Auktionskatalog

1801. Nicht näher LXXX,

Henrici,

Berlin

1922,

datierbar

Nr. 884. 11 An Mehmel Ms

26. 3. 1802

verschollen

(Autographenabt.

der

Berliner

Staatsbiblio¬

thek). — Ausg.: Beitr. 7 f; Hoffm. I. 66 f. 12 *An Ramann Erwähnt Nr 110.

im

26. 4. 1802 Auktionskatalog

225,

Stargardt,

Berlin

1926,

13 An Ramann

25. 5. 1802

Ms: Schillernationalmuseum, Marbach. 1 S. — Ausg.: Hoffm. I. 67 f. 14 An Ramann Ms verschollen (Autographenabt. thek). — Ausg.: Hoffm. I. 68.

2. 7. 1802 der

Berliner

Staatsbiblio¬

15 *An Ramann

6. 12. 1802

Erwähnt und beschrieben im Katalog XX, Hinterberger, Wien o. J., Nr 697. 16 *An Ramann

5. 4. 1803

Erwähnt mit Zitat im Antiquariatskatalog 25, Meyer und Ernst, Berlin 1892, Nr 312. — Abdruck des Zitats: Hoffm. IV. 4. 17 *An Hufnagel

vor 4. 5. 1803

Erschlossen aus Brief Hufnagels an Hegel vom 4. 5. 1803 (Hoffm. I. 68 f). 18 *An Assal

nach 21. 5. und

Erwähnt und beschrieben mit Zitat im Auktionskatalog 72,

vor 16. 8. 1803

Karl und Faber, München 1959. — Abdruck des Zitats: H-St III. 87. 19 An Assal Ms: Schillernationalmuseum, Marbach. 3 S. — Ausg • Hoffm IV. 6 f. 20 An Schelling Ms verschollen (Autographenabt. der Berliner thek). — Ausg.: K. H. 31-35; Hoffm. I. 72—75.

nach 21. 5. und vor 16. 8. 1803 16. 8. 1803

Staatsbiblio¬

135

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

21 *An Ramann Erwähnt im Auktionskatalog Liepmannssohn, Berlin 1892, Nr

19. 9. 1803

25. 22 An Schelling Ms verschollen

16. 11. 1803 (Autographenabt.

der

Berliner

Staatsbiblio¬

thek). — Ausg.: Ros. 221 f; K. H. 35—38; Hoffm. I. 76—78. 23 An Ramann Ms: Schillernationalmuseum, Marbach. 1 S. — Ausg.: Hoffm.

28. 11. 1803

IV. 5. 24 *An Ramann Erwähnt im Auktionskatalog

5. 12. 1803 CXLVI,

Henrici,

Berlin

1929,

Nr 111. 25 An Schelling Ms verschollen

27. 2. 1804 (Autographenabt.

der

Berliner

Staatsbiblio¬

thek). — Ausg.: K. H. 39 f (unvollst.); Hoffm. I. 79 f. 26 An Gries Ms: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. 4 S. und

7. 9. 1804

Adr. - Ausg.: Hegel-Archiv I, 2 (1912), 1-3; Hoffm. I. 82-84.

29. 9. 1804

27 An Goethte Ms: Nachl. Kassette 15. 4 S. - Ausg.: Hoffm. I. 84 f. 28 Ich Ge. PV. Fr. H. geh. Stuttgart ... (Entwurf eines Lebenslaufs, der als Beilage zu einer Eingabe an das Weimarer Ministerium bestimmt war.) Ms verschollen (Autographenabt. der Berliner

Ende Sept. 1804

Staatsbiblio¬

thek.) — Ausg.: Theologische Jugendschriften VIII f; Hoffm. IV. 91 f. 29 An Niethammer Ms im Privatbesitz. Photokopie des Ms im Nachl. Kassette 15.

10. 12. 1804

4 S. - Ausg.: K. H. 43-47; Hoffm. I. 88-90. 30 An Niethammer Ms verschollen (Autographenabt.

4. 3. 1805 der

Berliner

Staatsbiblio¬

thek). Photokopie des Ms im Nachl. Kassette 15. 4 S. — Ausg.: K. H. 53—56 (unvollst.); Hoffm. I. 92—95. Mai 1805

31 Eine dringende Arbeit veranlaßt mich ... (Zwei Mitteilungen Hegels an seine Hörer) Ms verschollen (Autographenabt. der Berliner

Staatsbiblio¬

thek). — Ausg.: Hoffm. I. 457. 32 An Voß (Zwei Vorentwürfe und ein Hauptentwurf) Mss verschollen (Autographenabt. der Berliner Staatsbiblio¬

Mai 1805

thek). Photokopie des letzten Abschnitts des Hauptentwurfs im Hegel-Archiv,

Bonn.

-

Ausg.:

Werke XVII.

473-475

(un¬

vollst.); K. H. 51-53 (unvollst.); Hoffm. I. 95—101. 33 *An Ramann . Erwähnt und beschrieben im Eagerkatalog 10, Henrici, Berlin o.

J. Nr.

690.

9. 1. 1806

136

Heinz Kimmerle

34 An Niethammer Ms im Privatbesitz. Photokopie des Ms im Nachl. Kassette 15.

14. 1. 1806

4 S. — Ausg.: Hoffm. I. 105—107. 17. 5. 1806

35 An Niethammer Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 58—59 (unvollst.); Hoffm. I. 108 f (unvollst.).

30. 6. 1806

3* An Goethe Ms: Thüringisches Landeshauptarchiv, Weimar. 3 S. Photo¬ kopie des Ms im Nachl. Kassette 15. — Ausg.: Hofm. I. 111.

Ende

37 An Knebel

Juli

1806

Ms: Kestner-Museum, Hannover. 1 S. — Ausg.: Knebel's lite¬ rarischer Nachlaß und Briefwechsel. Bd 2. Leipzig 1835. 456; Hoffm. III. 359. 6. 8. 1806

38 An Niethammer Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 59— 62 (unvollst.); Hoffm. I. 112—114 (unvollst.).

5. 9. 1806

39 An Niethammer Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 62—64 (unvollst.); Hoffm. I. 114 f (unvollst.)

17. 9. 1806

40 An Niethammer Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 64 f (unvollst.); Hoffm. I. 116 f (unvollst.). 41 An Niethammer

6. 10. 1806

Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 65 f (unvollst.); Hoffm. I. 118 (unvollst.). 42 An Niethammer

8. 10. 1806

Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. .H 66 f (unvollst).; Hoffm. I. 118 f (unvollst.). 43 An Niethammer

13. 10. 1806

Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: Ros. 229 (unvollst.); K. H. 67—69 (unvollst.); Hoffm. I. 119—121 (un¬ vollst.). 44 An Niethammer

18. 10.1806

Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 70-72 (unvollst.); Hoffm. I. 122—124 (unvollst.). 45 *An Niethammer

20. 10. 1806

Erwähnt K. H. 72 f. 46 An Niethammer

22. 10. 1806

Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 73 (unvollst.); Hoffm. I. 125 (unvollst.). 47 An Niethammer

24. 10. 1806

Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 73 f (unvollst.); Hoffm. I. 125 f (unvollst.). 48 An Niethammer Ms verschollen seit Veröff. durch

3. 11. 1806

K.

Hegel.

74—76 (unvollst.); Hoffm. I. 126 f (unvollst.).



Ausg.:

K.

H.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

137

17. 11. 1806

49 An Frommann Ms: NFG (GSA), Weimar. 3 S. und Adr. — Ausg.: Blätter f. Dt. Philosophie 9 (1935/36), 291; Hoffm. I. 128—130.

3. 1. 1807

50 An Schelling

K.

Ms verschollen seit Veröff. durch

Hegel. — Ausg.:

K.

H.

76—79; Hoffm. I. 130—132. 16. 1. 1807

51 An Niethammer Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: K. H. 80 f (unvollst.); Hoffm. I. 136 f (unvollst.). 52 An Zellmann Ms verschollen seit Erstdruck 1835. — Ausg.: Blätter f. literar.

23. 1. 1807

Unterhaltung 1 (1835), 639 f; Werke XVII. 627—629; K. H. 81-83; Hoffm. I. 137-139. 53 An Goethe Ms: NFG (GSA), Weimar. 5 S. — Ausg.: Goethe-Jahrbuch 16

Ende Jan. 1807

(1895), 58 f; Hoffm. I. 141 f. 54 An Niethammer Ms verschollen seit Veröff. durch K. Hegel. — Ausg.: Ros. 231 f

20. 2. 1807

(unvollst.); K. H. 86—89; Hoffm. I. 145—147. 55 An Schelling Ms verschollen

23. 2. 1807 (Autographenabt.

der

Berliner

Staatsbiblio¬

thek). — Ausg.: K. H. 89—95 (unvollst.); Hoffm. I. 147—152. 56 *An Schelver Erwähnt in der Nachschrift vom 27. 2. 1807 zum vorigen Brief.

23. 2. 1807

B. TEXTE

1 Religion. 2. in Rüksicht auf ... (Fragment eines Entwurfs zur Schrift über die

vor April 1801 Verfassung

Deutschlands) Ms: Nachl. Bd 13. 3 S. — Ausg. Pol. 75—82 (Anm.); Habermas. 76—79 (Anm.). 2 Macch. Prince liv. 26 (Exzerpte aus einer französischen Übersetzung von N. Macchia-

vor April 1801

velli: II principe) Ms: Nachl. Bd 13. 1 5. - Ausg. in deutscher Übersetzung: Pol. 111 f; Heller 125 f; Mollat 94 f; Habermas. 112 f. 3 Sollte das politische Resultat ... (Fragment des Entwurfs einer Einleitung zur Schrift über die Verfassung Deutschlands) Ms: Nachl. Bd 13. 8 S. — Ausg.: Pol. 137 f und 3—13 (Anm.) unvollst.; Dok. 282—288.

nach 9. 2. und vor April 1801

Heinz Kimmeree

138

vor April 1801

4 Im deutschen Reich gihts keine Staatsbeamte ... (Notiz zur Schrift über die Verfassung Deutschlands) Ms: Nach! Bd 13. 1 S. — Ausg. Pol. 149; Dok. 309.

nach 9. 2. und

5 Versuche der katholischen Religion . . . (Exzerpte aus gen

J.

Verfassung

St. Pütter: Historische Entwickelung der heuti¬ des

Teutschen

Reichs.

Bd

1—3.

vor April 1801

Göttingen

1786/87) Ms: Nach! Bd 13. 2 S. — Ausg.: Dok. 309—312. 6 11. 3. Die Publicisten selbst .. .

nach 9. 2. und

(Fragmente eines Entwurfs zur Schrift über die Verfassung

vor April 1801

Deutschlands) Ms: Nachl. Bd 1. 22 S. — Ausg.: Pol. 17—24 (Anm.), 62—65 (Anm.), 142 f, 144-149, 83-87 (Anm.), 49-56 (Anm.). 7 §. a) Menschenliebe Freundschaft ...

vor April 1801

(Gliederungsnotizen zur praktischen Philosophie) Ms: Nachl. Bd 13. 1 S. — Unveröff. 8 Kaiserliches KommissionsDekret . .. [ vom 5. u. 7. 4. 1801]

April 1801

(Exzerpte zur Schrift über die Verfassung Deutschlands) Ms: Nachl. Bd 13. 2 S. — Unveröff. 9 Schreiben der Reichsstände ... [vom 8. 5. 1801]

Mai 1801

(Exzerpt zur Schrift über die Verfassung Deutschlands) Ms: Nachl. Bd 13. 1 S. — Unveröff. 10 Diese Form des deutschen Staatsrechts ... (Fragment eines Entwurfs zur Deutschlands)

Schrift über die

nach Mai und vor Verfassung

Aug. 1801

Ms: Nachl. Bd 1. 8 S. — Ausg.: Pol. 7—16; Heller 16—25; Mollat 6—13; Habermas. 27—31. 11 Der Nähme für die Staatsverfassung Deutschlands ... (Fragmente eines Entwurfs zur Schrift über die Verfassung Deutschlands)

nach Mai und vor Aug. 1801

Ms: Bibliotheca Bodmeriana, Genf. 6 S. — Unveröff. 12 Die Fortpflanzung des kriegerischen Talents ... (Fragmente eines Entwurfs zur Schrift über die Verfassung Deutschlands)

nach Mai und vor Aug. 1801

Ms: Nachl. Bd 1. 84 S. — Ausg.: Pol. 32—34, 34—48 (Anm.), 66—68 (Anm.), 68—136; Heller 42—44, 75—124 (unvollst.); Mol¬ lat 27—29, 54—121 vollst.).

(unvollst.); Habermas. 44 f, 70—117 (un¬

13 Deutschland kein Staat mehr ... (Gliederungsentwurf zur Schrift über die Verfassung Deutsch¬ lands)

nach Mai und vor Aug. 1801

Ms: Nachl. Bd 13. 1 S. — Ausg.: Pol. 138. 14 Gustav hatte kaum die Schlacht bei Leipzig gewonnen ... (Notiz zur Schrift über die Verfassung Deutschlands) Ms: Nachl. Bd 13,1 S. — Unveröff.

nach Mai und vor Aug. 1801

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

15 Differenz

des

Fichte'schen

und

Schelling'schen

Systems

der

139

vor Ende

Juli

1801

Philosophie . . . Originaldruck Jena: Seidler 1801. 184 S. — Ausg.: Werke I. 159—296, 2. Aufl. 155—290; Glöckner I. 31—168; ED. 1—113. 16 Dissertationi philosophicae De orbitis Planetarum praemissae

vor 23. 8. 1801

Theses ... Originaldruck Jena: Prager 1801. 5 S. - Ausg.: Neue allgem. dt. Bibliothek 68 (1801), Intelligenzblatt. 551; [H. E. G. Pau¬ lus:] Entdeckungen über die Entdeckungen der neuesten Philo¬ sophen. Bremen 1835. 26 f; Ros. 156—159; ED. 404 f. 17 Rezension:

Anfangsgründe der spekulativen Philosophie ...

Von F. Bouterwek. Originaldruck: Litteratur-Zeitung.

26. 8. 1801 oder früher

Erlangen. Jg. 1801, 1441-

1451. — Ausg.: Beitr. 27—42; ED. 131—142. 18 ad Respondentem. ln publico . . . (Notizen zur Vorbereitung der Habilitationsdisputation) Ms

verschollen

(Autographenabt.

der

Berliner

vor 27. 8. 1801

Staatsbiblio¬

thek). - Ausg.: Dok. 312-314. 19 *Vorarbeiten zur Habilitationsdissertation: Calcul und deutsche Fassung Erwähnt von Rosenkranz (Brief an

K.

vor 18. 10. 1801

Hegel, Mai 1840).

20 Dissertatio philosophica De orbitis Planetarum ... Originaldruck Jena: Prager 1801. 32 S. - Ausg.: Werke XVI.

nach 27. 8. und vor 18. 10. 1801

1—29; Glöckner I. 1—29; ED. 347—401. (21) Lieber das Wesen der philosophischen Kritik ...

Nov. 1801

Originaldruck: Krit. Journal I, 1. III-XXIV. - Ausg.: Werke XVI. 33-49; Glöckner I. 171-189; ED. 117-130; Schelling V. 3—17; Schröter III. 511—525. 22 Wie der gemeine Menschenverstand die Philosophie nehme ...

Nov. 1801

Originaldruck: Krit. Journal I, 1. 91-115. - Ausg.: Werke XVI. 50—69; Glöckner I. 191—212; ED. 143—159. (23) Besonderer Zweck des Blattes

Ende Nov. 1801

(Nr 1 des Notizenblattes) Originaldruck: Krit. Journal I, 1. 116-121. - Ausg.: Schel¬ ling V. 164—168; Schröter E III. 91—95. (24) Ankündigung der Zeitschrift: Kritisches Journal der Philo¬

Dez. 1801

sophie Originaldruck: Allgemeine Literatur-Zeitung. Jena und Leipzig. Jg. 1801, Intelligenzblatt 1994 f. 25 Entschluß (Gedicht) Ms verschollen seit Erstveröff. - Ausg.: Vossische Zeitung vom 16. 11. 1841; C. L. Michelet: Wahrheit aus meinem Le¬ ben. Berlin 1884. 87; F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 1. München-Berlin 1920. 100; Dok. 388.

1801. Nicht näher datierbar

Heinz Kimmerle

140

26 Vorlesungsmanuskripte über Logik/Metaphysik, Natur- und Geistesphilosophie Mss verschollen seit Veröff. durch Rosenkranz. — Ausg.: Ros. 178—198 (unvollst.); Dok. 335—352 (unvollst.).

1801—1806

27 Verhältniß des Skepticismus zur Philosophie ... Originaldruck: Krit. Journal I, 2. 1—74. — Ausg.: Werke XVI. 70—130; Glöckner I. 213—275; ED. 161—211.

vor Mitte Febr.

(28) Rückert und Weiß ... Originaldruck: Krit. Journal I, 2. 75—126. — Ausg.: Schelling V. 78—105; Schröter E III. 63—90.

vor Mitte Febr.

(29) Beförderung auf der Landesuniversität Landshut und Aus¬

Mitte Febr. 1802

1802

1802

bruch der Volksfreude ...

(Nr 2 a und b des Notizenblattes) Originaldruck: Krit. Journal I, 2. 115—123. — Ausg.: Schel¬ ling V. 176—181 (unvollst.); Schröter E III. 103—108 (unvollst.). (30) Aufnahme, welche die durchaus praktische Philosophie in Göttingen gefunden hat und Ansicht des Idealismus daselbst (Nr 3 a und b des Notizenblattes) Originaldruck: Krit. Journal I, 2. 123—126. — Ausg.: Schel¬ ling V. 181—184; Schröter E III. 108—111.

Mitte Febr. 1802

31 Rezensionen: 1. Kurze wissenschaftliche Darstellung der Un¬

vor 26. 3. 1802

haltbarkeit ... Von 7. Fr. C. Werneburg. — II. Versuchte, kurze, faßliche Vorschilderung der Allwissenschaftslehre ... Von D. J. Fr. C. Werneburg.

Originaldruck: Litteratur-Zeitung. Erlangen. Jg. 1802. An¬ zeigenblatt. 105—107. — Ausg.: Beitr. 23—26; ED. 212—214. 32 Rezension:

Versuch

einer

gemeinfaßlichen

Deduktion

des

vor 26. 3. 1802

RechtsBegriffs ... Von K. Fr. W. Gerstäcker.

Originaldruck: Litteratur-Zeitung. Erlangen. Jg. 1802. Kritiken¬ blatt. 276—280. — Ausg.: Beitr. 16—23; ED. 214—219. 33 Rezension: Entwurf eines neuen Organon's der Philosophie ...

vor 26. 3. 1802

Von W. T. Krug.

Originaldruck: Litteratur-Zeitung. Erlangen. Jg. zeigenblatt. 169. — Ausg.: Beitr. 26 f; ED. 159 f.

1802.

An¬

34 ^Rezension: [Ueber das Princip und die Hauptprobleme des

vor 26. 3. 1802

Fichteschen Systems ...] Von G. Chr. F. Fischhaber.

Erwähnt im Brief an Mehmel vom 26. 3. 1802 (A 11). 35 ^Rezension: Gott. Einige Gespräche über Spinozas System ... Von J. G. Herder. 2. Aufl. Gotha 1800.

April-Mai 1802

Erwähnt in den Briefen an Mehmel vom 26. 8. 1801 (A 5) und vom 26. 3. 1802 (A 11), sowie Ros. 223. 36 Glauben und Wissen ... Originaldruck: Krit. Journal II, 1. 1—188. — Ausg.: Werke I. 1—157, 2. Auf). 1—153; Glöckner I. 277—433; ED. 221—346.

vor Juni 1802

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

(37) lieber das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie

141

Herbst 1802

überhaupt. Originaldruck: Krit. Journal I, 3. 1—25. — Ausg.: Werke I.

297—319, 2. Aufl. 291—312; ED. 407—421; Schelling V. 106— 151; Schröter III. 526—571. (38) Göttingen. I—III.

Herbst 1802

(Abschn. B des Notizenblattes) Originaldruck: Krit. Journal I, 3. 94-98. — Nicht wieder veröff.

39 Sitzung Uten Sept. 1802 ...

Sept. 1802

(Exzerpte zur Schrift über die Verfassung Deutschlands) Ms: Nachl. Bd 13, 2 S. — Unveröff.

40 *Ein halber Bogen Grundlage zu der Abhandlung über das

vor Nov. 1802

Naturrecht [i. e. zu Werke I. 416 ff] Erwähnt von Rosenkranz (Brief an K. Hegel, 15. 7. 1840). 41 Ueber

die

wissenschaftlichen

Behandlungsarten

des

Natur-

vor Nov. 1802

rechts ...

Originaldruck: Krit. Journal II, 2. 1—88 und II, 3. 1—34. — Ausg.: Werke I. 321—423, 2. Aufl. 313—412; Pol. 327-416, 2. Aufl. 325—411; Glöckner I. 435—537. 42 Nouvelles de Paris 2 Nov. ... (Exzerpte zur Schrift über die Verfassung Deutschlands)

Nov. 1802

Ms: Nachl. Bd 13. 1 S. — Unveröff.

43 Botschafft der Regierung ... (Exzerpt zur Schrift über die Verfassung Deutschlands)

Nov. 1802

Ms: Nachl. Bd 13,1 S. — Unveröff.

44

Deutschland ist kein Staat mehr ...

(Reinschriftfragmente zur Schrift über die Verfassung Deutsch¬

Nov. 1802 oder später

lands) Ms: Nachl. Bd 13. 79 S. — Ausg.: Pol. 3—7, 17—32, 34—68,

68-71 (Anm.); Heller 11-16, 26-41, 44-75 (unvollst.); Mollat 1_5/ 14—26, 29—54 (unvollst.); Habermas. 23—27, 31—44, 45—70, 70 f (Anm.). 45 Vorlesungsmanuskripte über Naturrecht Mss verloren seit Veröff. durch Haym. — Ausg.: Ros. 132— 141 (unvollst.); R. Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857. 159—167, 414—416, 509 Anm. 13 (unvollst.); Dok. 314—325

1802-1805

(unvollst.).

46 Hegel's Wastebook (Naturwissenschaftliche und philosophische Exzerpte, Aufzeich¬ nungen über selbstgemachte Experimente, Aphorismen) Ms verloren seit Veröff. der Aphorismen durch Rosenkranz. — Erwähnt und beschrieben von Rosenkranz: 1) im Brief an K. Hegel, 15. 7.1840. 2) Königsberger Literatur-Blatt 1 (1841/42), 241-243, vgl. H.-St. IV. 16-18; 3) Ros. 198-201. - Ausg. der Aphorismen: Königsb. Lit.-Blatt 1 (1841/42), 244-246, 249254, 297—302, 332—335, 337—340; Ros. 537—555 (unvollst.);

1802-1806

Heinz Kimmerle

142

Dok. 353—375 (unvollst.); H.-St. IV. 12—16 das in Ros. und Dok. Fehlende 47 Um die Idee der absoluten Sittlichkeit . . .

Winter 1802/03

od. Frühjahr 1803

(Reinschriftfragment des sog. „Systems der Sittlichkeit")

Ms: Nachl. Bd 10. 175 S. — Ausg.: Hegel: System der Sitt¬ lichkeit. Hrsg, von G. Mollat. Osterwieck 1893 (unvollst.); Pol. 419-503, 2. Aufl. 417—499. 48 Ad pag. 156. editionis nostrae . .. (Lateinische

Ergänzungen

zu

vor März 1803

den

Remarques

curieuses

.. .

zu Spinozas Tractatus Theologico-Politicus) Originaldruck: Benedicti de Spinozae Opera. Ed. H. E. G. Pau¬ lus. Bd 2. Jena 1803. XXXVI—XXXIX. — Nicht wieder veröff. 49 I. Intelligenz a) Anschauung . . . (Gliederungsentwurf

zur

praktischen

Philosophie.

Auf

der

Sommer 1803 oder früher

Rückseite befinden sich mathematische Formeln)

Ms: Nachl. Bd 12. 1 S. — Ausg.: Realph. I. 207 Anm. 2. 50 ... bezieht sich auf ... (Im Text der ersten Seite die Überschrift „Mechanick". Ent¬ wurf)

Ms: Nachl. Bd 9. 8 S. — Ausg.: LMN. 361—683; Realph. I. 12—19. 51 ... auf diesem Gesetze ... (Im Text der ersten Seite die Überschrift „Übergang zum irrdischen System". Entwurf)

Sommer-Herbst

1803

Sommer-Herbst

1803

Ms: Nachl. Bd 9. 8 S. — Ausg.: LMN 368—374; Realph. I. 3—4 und 6—12. 52 c. Dieser starren Gestalt . . .

Sommer-Herbst

(Fragment eines Entwurfs zur Naturphilosophie)

1803

Ms: Nachl. Bd 12, 2 S. - Ausg.: Realph. I. 255 f. 53 Nemlich die himmlische Bewegung .. . (Fragment in Nr 51)

eines

Entwurfs

zur

Naturphilosophie. •

Sommer-Herbst Einfügung

1803

Ms: Nachl. Bd 12. 2 S. - Ausg.: Realph. I. 4-6.

54 ... auf das ganze System sich beziehende Perioden ... (Fragment eines Entwurfs zur Naturphilosophie. 1. Fassung) Ms: Nachl. Bd 12, 16 S. — Ausg.: Realph. I. 20—37 bis Ende des ersten Absatzes.

Herbst 1803

55 Es erhellt aus der Bestimmtheit des Gegensatzes ...

Herbst 1803

(Fragmente zur Natur- und Geistesphilosophie als Teilen eines ausgeführten Systems der „spekulativen Philosophie". 1. Fas¬ sung)

Ms: Nachl. Bd 12. ca 80 S. (Zahlreiche Blattvertauschungen und Brüche. Einige fortlaufend gezählte Blätter gehören erst zur 2. Fassung. Nr 59 f und 62-65 sind in den Zusammenhang des Ms eingelegt, bilden aber spätere Neubearbeitungen). _ Ausg.: Realph. I. 36 Anm. 3 letzter Absatz und 37 (ab zweiter Absatz) — 241; ausgenommen: 153—157, 163 ab zweiter Ab-

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

143

satz — 164 Ende des ersten Absatzes, 167 ab dritter Absatz — „ ... Organismus wird.", 171—174, 195 erster Absatz, 200 ab letzter Absatz — 204 Ende des zweiten Absatzes, 205 ab zweiter Absatz — 207 Ende des ersten Absatzes, 207 Anm. 2. 56 b) Die Erde hat auf diese Weise ... (2. überarbeitete Fassung von Nr 54) Weitere Angaben wie unter Nr. 54. 57 8) endlich muß noch bemerkt werden ... (2. überarbeitete Fassung von Nr 55) Ms: Angaben wie unter Nr 55. (Eine Reihe kleinerer Blätt¬ chen ohne Numerierung wurde bei der Niederschrift der 2. Fas¬ sung noch zusätzlich in das Ms eingelegt.) — Ausg.: Realph. I. 37—241, weitere Angaben wie unter Nr 55. 58 ... [allgejmeine lnfection ... (Fragment zur Naturphilosophie) Ms: Nachl. Bd 12. 2 5. — Ausg.: Realph. I. 257 f. 59 if. Das Gestalten des animalischen ... (Fragment zur Naturphilosophie) Ms: Nachl. Bd 12. 5 S. — Ausg.: Realph. E 153—157. 60 v. Der Kraislauff des Blutes ... (Fragment zur Naturphilosophie) Ms: Nachl. Bd 12. 1 S. - Ausg.: Realph. I. 163-164 bis Ende des ersten Absatzes. 61 q. ln diesem Proceß der Empfindung ... (Fragment zur Naturphilosophie) Ms: Nachl. Bd 12. 1 S. - Ausg.: Realph. E 167 ab dritter Absatz — „ .. . Organismus wird." 62 Der ideelle Proceß oder der Proceß der Empfindung ... (Fragment zur Naturphilosophie) Ms: Nachl. Bd 12. 4 S. — Ausg.: Realph. E 171-174. 63 111. Philosophie des Geistes. (Fragment zur Philosophie des Geistes) Ms: Nachl. Bd 12. 2 S. — Ausg.: Realph. E 195 erster Ab¬ satz und 196 ab zweiter Absatz —197 bis Ende des ersten Ab¬

Herbst-Winter 1803 Herbst-Winter 1803

Herbst-Winter 1803 Herbst-Winter 1803 Herbst-Winter 1803

Herbst-Winter 1803

Herbst-Winter 1803 Winter 1803/04

satzes. 64 Das Wesen des Bewußtseyns ... (Fragment zur Philosophie des Geistes) Ms: Nachl. Bd 12, 8 S. — Ausg.: Realph. E 200 ab letzter Absatz —' 204 bis Ende des zweiten Absatzes und 205 ab zwei¬ ter Absatz — 207 Ende des ersten Absatzes. 65 Die e'-ste Form der Existenz des Geistes ... (Fragment zur Philosophie des Geistes) Ms: Nachl. Bd 12. 2. S. — Ausg.: Realph. E 197 ab zweiter Absatz — 198 bis Ende des zweiten Absatzes. 66 ... ist nur die Form ... (Fragment zur Philosophie des Geistes) Ms: Nachl. Bd 12. 2 S. — Ausg.: Realph. E 269 f.

Winter 1803/04

Winter 1803/04

Winter 1803/04

144

Heinz Kimmerle

67 Zeichnung zum Fragment „Vom göttlichen Dreieck" (Vorarbeit zu Nr 68) Ms: Privatbesitz. 1 S. — Ausg.: F. Haeussermann in: Zen¬ tralblatt für Psychotherapie 11 (1938), 359.

Frühjahr 1804

68 Vom göttlichen Dreieck (Referate und Zitate aus dem Fragment eines Entwurfs des Systems der Philosophie) Ms verschollen seit Veröff. durch Rosenkranz. — Ausg.: Literarhistor. Taschenbuch 2 (1844), 159—164; Ros. 101 f (ver¬ kürzt); Dok. 303—306.

Frühjahr 1804

69 Anmerkung. 1. Die Philosophie ... (Fragment eines Entwurfs zur Logik) Ms: Nachl. Bd 10. 8 S. — Ausg.: Realph. I. 264—268.

Sommer 1804

70 Daß die absolute Totalität . .. (Fragment eines Entwurfs zur Logik-Metaphysik) Ms: Hegel-Nachlaß der Universitätsbibliothek Harvard, USA. 1 S. — Ausg.: Dok. 308 f.

Sommer 1804

71 Metaphysik. Die Idee ... (Gliederungsentwurf zur Metaphysik) Ms: Nachl. Bd 9. 2 S. — Ausg.: ES. 126 (Anm.); LMN. 130 f (Anm.).

Sommer-Herbst 1804

72 ... seyende sind. Das eine .. . (Reinschriftfragmente zur Logik, Metaphysik und Naturphilo¬ sophie) Ms: Nachl. Bd 9. Bogen 4—102 zu je 8 S. mit einzelnen Bogen zu 4 S. und einigen Lücken. — Ausg.: Ros. 102—123 (Referate und Zitate, unvollst.); ES. 1—332 ausgenommen: 126 Anm.; LMN. 1—359 ausgenommen: 130 f Anm.

Sommer 1804Winter 1804/05

73 Das absolute Wissen ... (Fragment eines Entwurfs zum „System der Wissenschaft. I. Teil, Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins") Ms verschollen (Autographenabt. der Berliner Staatsbiblio¬ thek), 2 S. Photokopie der 2. Seite im Hegel-Archiv, Bonn. — Ausg.: Dok. 353.

Mai 1805 oder früher

74 System der Wissenschaft. I. Theil, die Phänomenologie des

Mai 1805 (oder früher) bis Jan. 1807

Geistes.

(Früherer Titel: Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins) Originaldruck Bamberg und Würzburg: Goebhardt 1807, XCI, 765 S. — Ausg.: Werke. Bd 2. Hrsg, von J. Schulze. Berlin 1832; Hegels Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von G. J. P. J. Bolland. Leiden 1907; hrsg. von G. Lasson. Leipzig 1907 u. ö.; Glöckner. Bd 2. Stuttgart 1927 u. ö.; hrsg. von J. Hoffmeister. Leipzig 1937 u. ö. 75 C. Die Wissenschaft (Reinschriftfragment zum „System der Wissenschaft, I. Theil") Ms: Nachl. Bd 10. 11 S. — Ausg.: Realph. I. 259—264.

Sommer 1805

145

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

76 . .. der Bestimmung dieser Einheit ... (Fragment eines Entwurfs einer zusammenfassenden Darstel¬

Herbst 1805

lung der Naturphilosophie) Ms: Nachl. Bd 12. 12 S. — Ausg.: Realph. I. 245—254. 77 1. Mechanik. Die Idee ... (Reinschriftfragmente zur Natur- und Geistesphilosophie) Ms: Nachl. Bd 5. 249 S. — Ausg.: Realph. II. 2—273. 78 Aristot. de Anima III ... (Übersetzung von Aristoteles De anima III, 4—5)

Herbst 1805

Herbst 1805

Ms im Privatbesitz. 4 S. Photokopie des Ms im Nachl. Kassette

15. - Ausg.: H.-St. I. 49-55. 79 *Vorlesungsmanuskripte über Geschichte der Philosophie Erwähnt mit Zitat Ros. 201—202; erwähnt und beschrieben

Herbst 1805Winter 1805/06

Werke XIII. S. VI. 80 * Rezension einer Schrift von J. Salat. Erwähnt in den Briefen an Niethammer vom 17. 5. 1806

vor 17. 5. 1806

(A 35) und vom 6. 8. 1806 (A 38). 81 Vorlesungsmanuskripte über Phänomenologie und Logik Ms verschollen seit Veröff. durch Rosenkranz. Ausg.. Ros.

Frühjahr-Sommer

212—215 (unvollst.). 82 Maximen des Journals der deutschen Literatur (Plan für eine zu gründende Zeitschrift) Ms: Nachl. Bd 13. 12 S. — Ausg.: Werke XVII. 393-399; Glöckner I. 541—547. 83 *Mathematica (Exzerpte und Notizen) Erwähnt von Rosenkranz (Brief an K. Hegel, Mai 1804).

1806 Febr.-März 1807

Nicht näher datierbar

Da die Briefe bis auf wenige Ausnahmen von Hegel selbst datiert sind, beziehen sich die folgenden Erläuterungen zu einzelnen Stucken über¬ wiegend auf die Gruppe B. Texte. Wenn nur die Nummer eines Stückes genannt wird, ist immer diese Gruppe gemeint. Bei den Briefen wird der Nummer jeweils der Buchstabe A vorangesetzt. Sofern von längeren Brie¬ fen die Manuskripte noch erhalten sind, bilden sie ein wesentliches Instru¬ ment zur Erschließung der Reihenfolge der zahlreichen undatierten hand¬ schriftlichen Stücke und zur Erstellung der chronologischen Angaben. In diesem Zusammenhang ist es besonders zu bedauern, daß die Autogra¬ phenabteilung der Berliner Staatsbibliothek, in der sich die Briefe bzw. Dokumente A 1, 7, 11, 14, 20, 22, 25, 28, 30, 31, 32, 55 befunden haben, zu den Kriegsverlusten dieser Bibliothek gerechnet werden müssen.

19 Die Angaben zu

den ebenfalls nicht mehr zugänglichen Briefen A 8, 10, 12, 15,

146

Heinz Kimmerle

Die Datierung der Stücke 1, 3 und 5 stützt sich auf ein handschriftliches Merkmal, das innerhalb der Jenaer Periode nur für die allerersten Manu¬ skripte gilt. Sie haben noch das am Ende der Frankfurter Zeit geläufige stumpfe sch (in der obigen Aufstellung der sch-Formen an erster Stelle). Das ist in den Exzerpten vom April und Mai 1801 (Nr 8/9) nicht mehr der Fall. Eine weitere Orientierung ergibt sich für diese Stücke aus Nr 3, das die überarbeitete Fassung eines schon in Frankfurt niedergeschriebenen Ent¬ wurfs einer Einleitung zur Schrift über die Verfassung Deutschlands dar¬ stellt. 20 Die historischen Bezüge in diesem Stück zeigen: die erste Nieder¬ schrift stammt aus der Zeit des zu Ende gehenden Rastatter Kongresses (9. 12. 1797—7. 4. 1799), während die Überarbeitung den Friedensschluß von Luneville (9. 2. 1801) voraussetzt. Die Anordnung der Stücke 1 und 5 um diesen fixen Punkt ist nach der Häufigkeit des Vorkommens des stumpfen sch vorgenommen. Es gibt dabei keine unbedingte Sicherheit in der Frage, ob Nr 1 nicht noch vor der Übersiedlung Hegels von Frankfurt nach Jena geschrieben ist. Es ent¬ hält 10,7 v. H. stumpfe sch-Formen; in den letzten Frankfurter Mss, z. B. im sog. „Systemfragment von 1800", waren es 18 v. H. Das Stück 3 hat noch 6,7 v. H. und Stück 5 noch ein stumpfes sch (in Prozenten 5,9 v. H.). Für die Stücke 2 und 4 läßt sich aus der Handschrift nichts ableiten. Nr. 2 ist ein französischer Text, also in lateinischer Schrift geschrieben 21; Nr 4 ist zu kurz und enthält keine charakteristischen Schriftmerkmale. Bei der Einordnung gehen wir davon aus, daß Nr 2 sich auf der Rückseite des zweiten Blattes von Nr 1 befindet, also vermutlich später ist als diese. Dabei ist nicht auszuschließen, daß es auch später entstanden ist als einige der folgenden Stücke. Umgekehrt verhält es sich bei Stück 4, das auf dem ersten Blatt von Stück 5 etwa die Hälfte der ersten Seite füllt. Weiter unten auf der Seite beginnen die PÜTTER-Exzerpte (Nr 5), von denen wir aufgrund der Hand¬ schrift sagen können, daß sie später sind als Nr 3. Von den Stücken 8 und 9 war schon die Rede. Sie sind relativ kurz.

16, 18, 21, 24 und 33, die aus Auktions- bzw. Antiquariatskatalogen entommen sind, beruhen auf der Arbeit von Günther Nicolin: Verlorenes aus Hegels Briefwechsel. In: Hegel-Studien. 3 (1965), 79—94; s. bes. 80 und 86 f. Beide Fassungen sind in der Veröffentlichung durch Hoffmeister voneinander ge¬ schieden: Dokumente zu Hegels Entwicklung. 282-288; zur technischen Möglichkeit der Scheidung s. 468.

21 Welche französische Machiavelli-Ausgabe Hegel exzerpiert hat, ließ sich bisher nicht ermitteln.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

147

haben kein stumpfes sch mehr und noch kein Balken-s. Die darauf an¬ gegebenen Daten setzen einen Terminus a quo. Neben einer kurzen Angabe aus dem Kaiserlichen Kommissions-Dekret vom 5. 4. 1801 befinden sich auf demselben Blatt einige Zeilen eines fran¬ zösischen Exzerpts sowie Gliederungsnotizen zur praktischen Philosophie (Nr 7), wobei die letzteren offensichtlich bereits auf diesem Blatt standen, als die Exzerpte darauf niedergeschrieben wurden. Diese Notizen bilden neben den Habilitationsthesen X—XII ein Zeugnis für Hegels Beschäfti¬ gung mit den Fragen der praktischen Philosophie in dieser Zeit. Die Stücke 6 und 10—12 sind Manuskriptgruppen, die zu größeren zu¬ sammenhängenden Entwürfen der Verfassungschrift gehören. In der Grup¬ pe, die mit dem Blatt 11. 3. Die Publicisten selbst . . . beginnt (Nr 6), fin¬ den sich auf 22 großen Manuskriptseiten noch 2 v. H. stumpfe sch. Diese ist deshalb vor den Stücken 8 (mit 7) und 9 eingeordnet. Stück 10 weist auf acht Folioseiten den Befund der Stücke 8 und 9 auf: kein stumpfes sch mehr, noch kein Balken-s. Als Stück 11 sind zwei Manuskripte zusammengefaßt, die H. Büchner — einer von Hoffmeister entdeckten Spur folgend — in der Bibliothek des Schweizer Sammlers M. Bodmer aufgefunden hat. Vier Seiten gehören zum Anfang der Verfassungsschrift, zwei bilden ein isoliertes Stück aus dem Fortgang. Die Schriftanalyse ergibt 9,4 v. H. Balken-s in der einfachen Form, 3,4 v. H. im sch. Zwei größere Fragmente aus Nachl. Bd 1 bilden das Stück 12. Der Schriftbefund ist hier 27,3 v. H. Balken-s in der einfachen Form, 25 v. H. im sch. Bei Nr 14 ergeben sich 13,6 v. H. Balken-s in der einfachen Form und 38,5 v. H. im sch. Wir folgen unserer aus der gesamten Schriftentwick¬ lung in der Jenaer Zeit gewonnenen These von der ausschlaggebenden Be¬ deutung der Verwendung des Balken-s im sch, wenn wir dieses Stuck später ansetzen als das zuletzt besprochene (Nr 12). Stück 13 ist kurz und bietet keine ausreichenden Schriftmerkmale für die Häufigkeitsstatistik. Die Einordnung ergibt sich daraus, daß es auf der Vorderseite des Blattes steht, auf dessen Rückseite sich die Ausführun¬ gen über den Schwedenkönig Gustav Adolf (Nr 14) finden. Wie immer es sich im einzelnen verhalten mag, die Stücke 1—6 und

8—14 sind Zeugnisse einer eindringlichen Beschäftigung Hegels mit ver¬ fassungsrechtlichen und politischen Fragen, die sich von Frankfurt her nach Jena hinüberzog. Diese Beschäftigung brach in der Mitte des Jahres 1801 ab. Die Briefe vom August 1801 (A 4-6) zeigen eine deutliche Weiter¬ entwicklung der Handschrift (bis zu 66 v. H. Balken-s). Nach über ein-

Heinz Kimmerle

148

jähriger Zwischenzeit kam Hegel dann im Herbst 1802 auf diese Fragen zurück (Nr 39, 42—44). Das Vorwort der Differenzschrift (Nr

15)

ist datiert: „Im Juli 1801".

Da man annehmen kann, daß das Vorwort zuletzt geschrieben wurde, ist die Entstehung auf die Zeit vor Ende Juli 1801 anzusetzen. Daß die Diffe¬ renzschrift vor der Habilitation geschrieben wurde und von Hegel aus ge¬ sehen als eine Grundlage dazu dienen sollte, bezeugt sein Lebenslauf, den er 1804 an das Weimarer Ministerium eingereicht hat (A 28). Der Brief

an

A 3

Mehmel

ist nicht datiert, trägt aber von

Mehmels

Hand den Vermerk: „d. 16. Aug. beantw." Von der Differenzschrift heißt es in diesem Brief, daß sie „unter der Presse" sei 22.

Die Thesen (Nr 16), über die am 27. 8. 1801 die Habilitations¬ disputation geführt werden sollte, müssen etwa eine Woche vorher ent¬ standen sein. Der Beschluß der Fakultät, daß Hegel über Theses disputieren dürfe, anstatt eine ausgearbeitete Schrift über ein bestimmtes philosophi¬ sches Thema vorzulegen, wurde am 17. 8. gefaßt 23. Nach den Statuten der Fakultät war aber die schriftliche Grundlage für die öffentliche Disputa¬ tion am vorhergehenden Sonntag in gedruckter Form nach dem Gottes¬ dienst in der Kirche zu verteilen 24. Das war im Falle Hegels der 23. 8.1801. Die Bouterwek-Rezension (Nr 17) war die erste einer Reihe von Rezensionen, die Hegel für die Erlanger Litteratur-Zeitung verfaßte. Sie lag dem Brief an Mehmel vom 26. 8. 1801 (A 5) bei 25. Da sie noch am Vortage der Disputation abgeschickt wurde, kann man vermuten, daß sie soeben erst fertiggestellt war. Die Notizen, die sich Hegel zur Vorbereitung seiner Habilitationsdispu¬ tation gemacht hat (Nr 18), sind unmittelbar auf den Disputations¬ vorgang bezogen und wohl am Vorabend der Disputation entstanden. 26 Die Vorarbeiten zur lateinischen Dissertation: der „Calcul" und eine das Dreifache des lateinischen Textes umfassende deutsche Fassung (Nr 19) geben gewisse Rätsel auf. Daß Hegel ein Thema aus dem Bereich der theo¬ retischen bzw. Naturphilosophie wählte, ist ein Zeichen der Anerkennung gegenüber Schelling, der ihm den Weg in die akademische Lehrtätigkeit

22 23 24

Briefe. Bd 4. 3. S. Protocollum Facultatis Philosophicae, in diesem Band 42 f.

Modell-Buch der philosophischen Facultaet. 1785-1926. (Universitätsarchiv Jena Bestand M Nr 746a.) 56. 25 Vgl. Briefe. Bd 1. 63.

.

28 Vgl. Briefe. Bd 1 64. Hegel schreibt am 26. 8. 1801 an Mehmel (A 5): „ich disputire morgen, und habe damit noch mancherley zu thun." Zu Stück 18 vgl. auch in diesem Band 43 f Anm. 26.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

149

zu ebnen suchte. Aber konnte sich Hegel in der Kürze der Zeit, zwischen seiner Disputation und der Abgabe seiner Dissertation am 18. 10. 1801 27, neben der Erstellung der lateinischen Version (Nr 20) das Thema über¬ haupt erst erarbeiten und das Material dafür Zusammentragen? Das er¬ scheint kaum als denkbar. Möglicherweise hat sich Hegel schon früher mit der Problematik der Planetenbahnen beschäftigt und diese Vorarbeiten be¬ reits nach Jena mitgebracht. 28 Sein Interesse für Astronomie und Mathe¬ matik reicht bis in die Gymnasialzeit zurück 29. Der Brief A 7, der sich — aus Hegels Sicht



auf ein „Betragen der

philosophischen Fakultät gegen mich" bezieht, muß wohl aus der ersten Jenaer Zeit stammen. Nur in diesen Jahren unterhielt der Adressat, F. K. J. Schütz,

seit 1800 Privatdozent für Geschichte an der Philosophischen

Fakultät Jena, Beziehungen zu derselben Fakultät wie Hegel. Zu dieser zeitlichen Ansetzung paßt ebenfalls, daß der Vater dieses D.

Schütz

eine

maßgebliche Rolle an der Fakultät spielte. Es handelt sich um Chr. Gott¬ fried

Schütz,

der von 1779—1804 in Jena ord. Professor der Philologie und

Literaturwissenschaft war. Daraus ergibt sich eine Überschneidung mit Hegels Dozententätigkeit in Jena für die Jahre 1801—1804. Mit dem für ihn offenbar unangenehmen „Betragen" der Fakultät gegen ihn, auf das Hegel anspielt, können die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Habilitation gemeint sein, wie

Hoffmeister

bereits vermutet hat30;

dann käme prinzipiell die gesamte Zeit des Habilitationsvorganges in Frage, vor allem wohl die Monate August (Sondererlaubnis einer Disputa¬ tion über Thesen, Streit um den Rang im Vorlesungsverzeichnis) oder Oktober 1801 (verspätete Ablieferung der Dissertation) 31. Noch wahr¬ scheinlicher ist, daß die Auseinandersetzung Hegels mit der Fakultät we¬ gen einer gratis zu haltenden Vorlesung über „Kritik des Fichteschen Naturrechts" im Mai 1802 den Hintergrund für die genannte briefliche Äußerung bildet, weil bei dieser Sache Chr. G.

Schütz

als einziges Fakul¬

tätsmitglied auf Hegels Seite stand32. Da sich alle anderen Fakultäts¬ mitglieder gegen Hegels Vorhaben stellten, in dem „Consess

der Fakul¬

tät aber keine Einigung erzielt werden konnte, ist anzunehmen, daß Schütz,

wie er es nach dem Wortlaut des Briefes offenbar mit Hegel be¬

sprochen hatte, die „ganze Sache" in seinem Sinne „zur Sprache" brachte. 27 S. Protocollum ..., in diesem Band 44. . 28 Das würde auch erklären, warum von Hegel neuere Ergebnisse der Planeten¬ forschung offensichtlich nicht berücksichtigt wurden. 28 S. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 16—18, 392, 394. 20 Briefe. Bd 3. 473. 81 5. Decanatsacten ..., in diesem Band 31—42. 32 £bd. 56__58; vgl. zum folgenden auch 58 u. (Protocollum Facultatis

..

Heinz Kimmerle

150

Die Angabe der Entstehungszeiten, sowie die Hinweise auf die vermut¬ liche Mitautorschaft von

Schelling

(Nummer vor dem Titel in Klammern)

bei Hegels Beiträgen zum Kritischen Journal: Nr (21), 22, 27 (28), 36, (37), 41, einschließlich der Beiträge zu den Notizenblättern am Ende der einzelnen Hefte: Nr (23), (29), (30), (38), stützen sich auf die Untersu¬ chungen von H. Büchner 33. Das Gedicht Entschluß (Nr 25) ist nach einem Bericht in der Vossischen Zeitung vom 16. 11. 1841 im Jahre 1801 entstanden. Genaueres läßt sich mit Sicherheit nicht ermitteln.

Rosenzweig

vermutet, Hegel habe bald nach

seiner Übersiedlung von Frankfurt nach Jena im Januar 1801 („nicht lange darauf") das „Epigramm" verfaßt; K.

Fischer

meint, der „junge Dozent"

habe sich damit „für seine Laufbahn ermuntert", denkt also wohl an eine Entstehungszeit um die Mitte des Jahres. 34 Die von

Rosenkranz

überlieferten Stücke aus Vorlesungsmanuskripten

über Logik/Metaphysik, Natur- und Geistesphilosophie (Nr 26) enthalten als zeitlich frühestes Stück eine Wiedergabe aus einem „Collegium über Logik und Metaphysik" aus einem Wintersemester 35. Dieser Abschnitt stammt entweder aus dem Winter 1802/03 oder schon aus dem Winter 1801/02, da dies die beiden einzigen Wintersemester sind, in denen Hegel „Logik und Metaphysik" als gesondertes Vorlesungsthema behandelt hat36. Die realphilosophischen Abschnitte entstammen dem Ms Nr 77 vom Herbst 1805, an dem Hegel aber auch im darauf folgenden Jahr noch gearbeitet hat (s. u. 169). Natürlich sind auch Stücke aus den dazwischen liegenden Semestern darunter. Der Versuch einer genaueren Zuordnung müßte in einer besonderen Studie unternommen werden. Die Rezensionen der Schriften von und

Fischhaber

Werneburg,

Gerstäcker,

Krug

für die Erlanger Litteratur-Zeitung (Nr 31—34) übersandte

Hegel mit dem Brief an

Mehmel

vom 26. 3. 1802 (A 11). Die letzte ist nicht

veröffentlicht worden, vermutlich weil die von

Mehmel

herausgegebene

Zeitung seit Ende Juni 1802 nicht mehr erschien 37. Für die nächste Zukunft kündigte Hegel in demselben Brief eine schon im August 1801 in Aussicht gestellte Rezension der zweiten Auflage von

38 H. Büchner: Hegel und das Kritische Journal der Philosophie. In: Hegel-Studien. 3 (1965), 95-156. 34 Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 1, 100; K. Fischer: Hegels Lehen, Werke und Lehre. Bd 2. Heidelberg 1911. 1261. 35 Rosenkranz: Hegels Leben. 190. 36 Vgl. Catalogi scholarum in Academia Jenensi, in diesem Band 53.

37 Vgl. die Notiz in der letzten Nr des Intelligenzblattes der Erlanger LitteraturZeitung. Jg. 1802. Nr 26 (30. 6. 1802). 201 f.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

Herders

Gott an (Nr 35) 38.

Rosenkranz

151

hat das Ms dieser Rezension

unter Hegels Nachlaßpapieren aufgefunden 39. Möglicherweise ist es von Hegel gar nicht mehr an die Redaktion der Erlanger Litteratur-Zeitung abgeschickt worden, weil das Ende ihres Erscheinens schon bevorstand. Die politischen Ereignisse, die mit der Reichsdeputation von 1802 zu¬ sammenhingen, führten Hegel zu seinen verfassungsrechtlich-politischen Studien zurück. Die Exzerpte aus zwei Voten, die in der DeputiertenSitzung vom 14. 9. 1802 abgegeben wurden (Nr 39), zeigen uns hier¬ für den den Ausgangspunkt an. Ein anderes Blatt (Nr 42) enthält französische Exzerpte aus einer Pariser Zeitung vom 2. 11. und aus einer Parlamentsrede des englischen Staats¬ mannes Ch. J. Fox vom 23. 11. 1802. Auf der Rückseite dieses Blattes be¬ findet sich in deutscher Schrift ein Exzerpt aus der Botschafft der Regierung über den gegenwärtigen Zustand der italienischen Republik (Nr 43), das also auch im November 1802 oder später geschrieben sein wird. Der handschriftliche Befund dieses zuletzt genannten Stücks verweist die Reinschriftfragmente zur Verfassungsschrift (Nr 44) auf die Zeit nach November 1802. Die Botschafft der Regierung ... hat 54,8 v. H. Balken-s in der einfachen Form; das sch kommt nur sechs Mal vor, vier Mal mit Balken-s. In den Reinschriftfragmenten zur Verfassungsschrift finden sich 77,1 v. H. Balken-s im sch, 64,7 v. H. in der einfachen Form. Die Reinschrift wurde indessen nicht zu Ende geführt. Sie bricht wesent¬ lich früher ab als die Entwürfe vom Frühjahr 1801. Für die letzten 34 Sei¬ ten von Stück 12 enthält sie keine Parallele mehr. Die Vorlesungsmanuskripte über Naturrecht (Nr 45), von denen kranz

Rosen¬

und Haym aus den Schlußabschnitten Referate und ausführliche

Zitate überliefern, sind wohl 1802 begonnen worden. Genaueres läßt sich mit Sicherheit nicht sagen. Schon für das Sommersemester 1802 hatte Hegel eine Vorlesung über ius naturae, civitatis et gentium angekündigt und eine weitere über „Kritik des Fichteschen Naturrechts" geplant40. In die Herbstmonate 1802 fällt die Arbeit am Naturrechtsaufsatz für das Kritische Journal (Nr 41). Innerhalb der von

Rosenkranz

mitgeteilten

Passagen lassen sich verschiedene Stufen unterscheiden 41, von denen die letzte möglicherweise als Vorarbeit für die letzte Vorlesung Hegels über

38 39 40 41

Briefe. Hegels Vgl. in Vgl. in

Bd 1. 66, vgl. 64. Leben. 223. diesem Band 56—58. diesem Band 78 Anm. 13.

Heinz Kimmerle

152

Naturrecht in Jena angesehen werden muß, die für den Sommer 1805 angekündigt war. Mit der Benennung und Datierung von „Hegel's Wastebook" (Nr 46) folgen wir

Rosenkranz,

dessen Angaben sich aufgrund seiner Mitteilungen

über dieses Ms und der daraus veröffentlichten Teile nicht mehr nach¬ prüfen, wohl aber etwas weiter präzisieren lassen. Bei der ersten Erwäh¬ nung dieses „Notizenbuches" 42 gibt

Rosenkranz

an, es mithilfe von Be¬

zügen auf zeitgenössische Schriften auf die Jahre 1802—1806 datieren zu können. Bei der Erstveröffentlichung der darin enthaltenen Aphorismen oder „kritischen Xenien" 43 berichtet er folgendes: „Als

im Lauf

Schelling

des Jahres 1803 Jena verließ . . . warf Hegel kritische Reflexionen, die sich ihm aufdrängten, in einen kleinen Folianten, der eigentlich seinen Excerpten aus naturwissenschaftlichen Büchern gewidmet war und worin er sich auch von ihm selbst veranstaltete Experimente, namentlich in Betreff der Farbenlehre, aufzeichnete." Das bedeutet doch wohl, daß Hegel in ein Heft, das er seit 1802 für naturwissenschaftliche Exzerpte und für die Aufzeich¬ nung selbst gemachter Experimente benutzte, seit dem Weggang lings

Schel-

aus Jena, das war Ende Mai 1803 44, auch kritische Reflexionen ver¬

schiedener Art, sowie weiterhin naturwissenschaftliche Exzerpte und Auf¬ zeichnungen niederschrieb. Außerdem erwähnt Rosenkranz an der an¬ gegebenen Stelle ohne genauere zeitliche Differenzierung „Auszüge aus philosophischen Schriften". An dieser Feststellung ist wichtig, daß Hegel — wie es scheint — mit der Lektüre naturwissenschaftlicher Bücher, die in den Fragmenten zur Naturund Geistesphilosophie vom Herbst-Winter 1803/04 (Nr 50—69, siehe bes. 55/57) einen deutlichen Niederschlag finden sollte, schon 1802 begonnen hat. Gerade auch das Studium von französischer und englischer natur¬ wissenschaftlicher Literatur, sowie die Auseinandersetzung mit der schen Farbenlehre, die

Rosenkranz

Goethe-

besonders erwähnt, läßt sich aus diesen

Fragmenten belegen, die vielleicht überhaupt eher als die von

Michelet

im Rahmen der Werke (Bd 7, Abt. 1) herausgegebene Naturphilosophie, in der neben vielem anderem Material aus der Jenaer Zeit das Heft zur Natur- und Geistesphilosophie vom Herbst 1805 (Nr 77) benutzt worden

42 Brief an K. Hegel vom 15. 7. 1840. 43 In: Königsberger Literatur-Blatt, l (1841/42). Die einleitenden Mitteilungen von Rosenkranz sind wiedergegeben in diesem Bande 16—18. Zur Frage der größeren Voll¬ ständigkeit des Vorabdrucks der Aphorismen gegenüber der Wiedergabe im Anhang von Hegels Leben vgl. die Ausführungen von F. Nicolin, 10—12. 44 Vgl. Schelling: Briefe und Dokumente. Hrsg, von H. Fuhrmans. Bd 1 Bonn 1962 279 f.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

153

ist, eine „Anschauung” davon vermitteln kann, „wie sich Hegel bei sol¬ chen Excerpten verhielt”. Eine Rekonstruktion der naturwissenschaftlichen Exzerpte und Aufzeichnungen läßt sich bis zu einem gewissen Grad so durchführen, daß man das in den naturphilosophischen Schriften der Jahre 1803—06 verarbeitete Material zusammenstellt 45. Für die philosophischen Exzerpte läßt sich über die von Rosenkranz genannten Namen einzelner Autoren hinaus aus den Schriften Flegels in dieser Zeit kaum eine weiter¬ gehende Konkretion gewinnen. Die Lektüre Jakob

Böhmes

allerdings

scheint sehr nachhaltig auf Hegel gewirkt zu haben 4G. Die Aphorismen und das ganze „Wastebook” brachen dann ab im Jahre 1806; Teile aus den Aphorismen arbeitete Hegel ein in die während der letzten Monate dieses Jahres konzipierte Vorrede zur Phänomenologie des Geistes oder — genauer gesagt — zum gesamten System der Wissen¬ schaft 47. Das sog. System der Sittlichkeit (Nr 47) stellt eine Reinschriftaus¬ arbeitung des ersten Teils der Vorlesungsmanuskripte über Naturrecht (Nr 45) dar, der darum in der Wiedergabe dieser Mss durch und

Haym

Rosenkranz

ausgespart worden ist 48. Trotz des reichen Materials — 175

sauber beschriebene Seiten — führt die Handschriftanalyse nicht ohne

45 An naturwissenschaftlicher Literatur wird in der Natur- und Geistesphilosophie von 1803/04 erwähnt: Jean Andre De Luc: Recherches sur les modifications de l'atmosphere. Geneve 1772 (vgl. Realphil. I. 65); Claude Louis Berthollet: Recherches sur lois de l'affinite. Paris 1801; ders.: Essai de statique chimique. Paris 1803 (vgl. Realphil. I. 105, 109 f, 119). — Isaac Newton: Opticks, or a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions, and Colours of Light. London 1704 (vgl. Realphü. I. 56); Joseph Priestley: Experiments and Observations on Different Kinds of Air. 3 Bde. Birmingham 1790 (vgl. Realphil. I. 35). In der Geistesphilosophie wird ferner erwähnt: Adam Smith: Jnquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. London 1776 (vgl Realphil. 1. 239). Es läßt sich allerdings zeigen, daß Hegel die genannten Werke von Priestley und Smith in deutschen Übersetzungen benutzt hat. Und von Newtons Opticks zitiert Hegel noch in der Enzyklopädie die zweite Auflage der lateinischen Übersetzung (London 1719). Man kann also zweifeln, ob Hegel die eng¬ lische Literatur in der Originalsprache gelesen und exzerpiert hat. - Zu der Ausein¬ andersetzung mit Goethes Farbenlehre, die sich bis dahin erst in der kleinen Schrift von Goethe: Beyträge zur Optik (Weimar 1791/92) dokumentiert hatte, vgl. Real¬ phil. I. 53—56. 46 S. u. 161 f und 166; vgl. in diesem Band 66 mit Anm. 6. 47 Vgl. in diesem Band 16 f, ferner Hegels Leben. 199. 48 Die Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit referiert Rosenkranz — nach seinen eigenen Worten — aus den Vorlesungsmanuskripten über Naturrecht, auf deren vor¬ hergehende, mit dem S. d. S. parallel laufende Ausführungen er nicht näher eingeht (Hegels Leben. 133). R. Haym bringt das S. d. S. ebenfalls mit den Naturrechts¬ vorlesungen in eine unmittelbare Verbindung, indem er bestätigt, daß die „historische Construction der Religion” (Rosenkranz. 135 ff) den Schluß der Vorlesungen über Naturrecht bildete (Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857. 414 f).

Heinz Kimmerle

154

weiteres zu der erwünschten Klarheit. Die häufige Verwendung des Balken-s im sch und in der einfachen Form prägt auch hier — wie in den Rein¬ schriftfragmenten zur Verfassungsschrift (Nr 44) — das allgemeine Schrift¬ bild: im sch sind es 61,3 v. H., in der einfachen Form 56,7 v. H. Aus sach¬ lichen Gründen verbietet sich jedoch, dieses Ms früher anzusetzen als die Reinschriftfragmente zur Verfassungsschrift. Die spekulativ-systematische Behandlung der Problematik des Staats und des Verhältnisses des einzel¬ nen zum Staat ist in ihrer sachlichen Position offensichtlich über die poli¬ tisch-historischen Untersuchungen zu diesem Thema hinaus. Es vollzieht sich hier vor unseren Augen ein weiteres Mal, was Hegel in der eingangs zitierten Briefstelle als Vorgetriebenwerden zur Wissenschaft, zur Re¬ flexionsform, zum System beschreibt — und wovon er sagt (das ist von Rosenkranz

und auch von den späteren Interpreten nicht recht beachtet

worden), daß er „noch damit beschäftigt" sei. Dieser Prozeß hatte sich in Frankfurt wohl vor allem auf dem Gebiet der theologisch-historischen Untersuchungen vollzogen; er dehnte sich jetzt auf die politisch-histori¬ schen Untersuchungen aus. Unter diesen Umständen würde es eine rein formale Einordnung nach der Häufigkeit der Verwendung des Balken-s nahegelegen, das System der Sittlichkeit nach dem Höhepunkt in der Verwendung dieser Buchstaben¬ form, also nach dem Brief an

Assal

vom Sommer 1803 (A 19) — 92,3 v. H.

Balken-s im sch, 54,2 v. H. in der einfachen Form — anzusetzen. Aber die übrigen Schriftmerkmale (sonstige s-Formen, z- und k-Formen, ck-Schreibung) sind dem Reinschriftfragment zur Verfassungsschrift so ähnlich, daß es nicht angeht, jenes Ms zu weit von diesem wegzurücken. Daraus ergibt sich als Entstehungszeit Winter 1802/03 oder allenfalls Frühjahr 1803. Die enge Verwandtschaft mit

Schelling

im Stilistischen verweist in die

Nähe der Entwürfe zur Naturphilosophie (Nr 50 ff), die im Sommer 1803 einsetzen und ebenfalls sehr stark mit der Begrifflichkeit beiten. Stück

48

Schellings

ar¬

zeigt eine Seite der Hegelschen Arbeiten in Jena, die bisher

kaum beachtet worden ist; es handelt sich um seinen Beitrag zur Ausgabe der Werke

Spinozas

von H. E. G.

Paulus.

49 Nachdem der erste Band

dieser Ausgabe erschienen war (das Vorwort ist datiert auf den 3. 3. 1802), veröffentlichte Chr. G.

von Murr,

ein Nürnberger Privatgelehrter,

zum erstenmal die Abschrift einer lateinischen Urschrift der Adnotationes

49 Hegel selbst erwähnte diese Sache noch nach vielen Jahren in seinen Heidelberger bzw. Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie.

155

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

ad Tractatum Theologico Politicum (Haag [Nürnberg] 1802). in dem ersten Band seiner Edition die Anmerkungen scher Übersetzung nach der von

Saint Glain

Paulus

Spinozas

hatte

in französi¬

besorgten, 1678 in Köln

erschienenen Ausgabe des Tractatus aufgenommen, weil eine auf

Spinozas

Urschrift beruhende Ausgabe dieses Textes bis dahin nicht bekannt war. Für den zweiten Band der Paulusschen Ausgabe, dessen Vorwort am 29. 3. 1803 unterzeichnet ist, hat Hegel die soeben erschienene lateinische Fassung derAdnotationes mit der französischen Übersetzung

Saint Glains

verglichen und eine Reihe von Ergänzungen zu der letzteren abdrucken lassen. 50 Die von

Hoffmeister

vorgenommene Einordnung des Briefes an Assal

A 19, der den Höhe- und Wendepunkt in der Verwendung des Balken-s im sch bezeichnet, vor den Brief vom Datierung auf Februar leger

Gabler

hatte

in einem Brief vom

1804

27. 2. 1804

und die damit gegebene

ist unrichtig 51. In einem Prozeß mit dem Ver¬

Schelling

vor Antritt einer Reise seinen Freund Hegel

21. 5. 1803

an den Rechtsanwalt Dr.

Assal zu

seinem

„Committenten in dieser Sache" erklärt, der zu jedem „Schritt" eine „vor¬ läufige Genehmigung" zu geben habe. Ferner hatte

Sceielling

darum ge¬

beten, daß eine „Ausarbeitung" zum Stand des Prozesses über Hegel an ihn gesandt werden solle 52. Nachdem sich Hegel nun im Aufträge lings

die Akten des Prozesses von

Assal

machte er in dem fraglichen Brief (A

19)

hatte schicken lassen (s. A 18),

Bemerkungen zu einzelnen Punk¬

ten der Darlegungen des Rechtsanwalts. Am ein Paket von

Assal

an

Schelling

Schel-

16. 8. 1803

leitete Hegel dann

weiter 53. Dies wird das schon im Mai

von Schelling erbetene Schriftstück gewesen sein. In dem Brief vom 27. 2. 1804, der in der HoFFMEiSTERSchen Ausgabe zum Ausgangspunkt für die zeitliche Ansetzung gemacht wird, ist von einem Gespräch Hegels mit

Assal

die Rede, nicht von einer schriftlichen

Ausarbeitung, auf die sich Hegel hätte beziehen können. Der Brief A 19 hat auch inhaltlich nichts mit dem Gespräch zu tun, von dem Hegel ling

Schel¬

am 27. 2. 1804 Bericht erstattet54. Demgemäß ist für die Abfassung

beider Briefe (A 18 u. 19) der durch die obigen Daten begrenzte Zeitraum zwischen dem 21. 5. und dem 16. 8. 1803 anzunehmen.

50

Eine Wiedergabe und Würdigung des Ergebnisses der Hegelscben Kollationie-

rungsarbeit erscheint im nächsten Band der Hegel-Studien.

51

Vgl. Briefe. Bd 4. 6 f; Bd 1. 79 f. , n . , 52 Schelling: Briefe und Dokumente. Bd 1. 277 f. Zur Prozeßsache vgl. Hegel: Briefe.

Bd 1. 452 f. 53 Briefe. Bd 1. 73. 54 Briefe. Bd 1. 79 f.

156

Heinz Kimmerle

In der Liste der Texte schließt sich dann — nach dem Stück 49, das wir später behandeln — eine Reihe fragmentarischer Entwürfe zur Naturphilo¬ sophie an (Nr 50—53). Sie bilden Vorstudien zu den größeren Manu¬ skriptgruppen, die Fragmente eines zusammenhängenden Entwurfs zur Natur- und Geistesphilosophie enthalten (Nr 54/56 und 55/57) und die aufgrund von historischen Bezügen ziemlich genau auf Herbst 1803—Win¬ ter 1803/04 zu datieren sind. Die Reihenfolge dieser Vorstudien, die von daher auf den SommerHerbst 1803 angesetzt werden müssen, ist nach dem äußerlich-formalen Gesichtspunkt der Häufigkeit der s-Formen im sch gewählt. In diesen Mss und in den genannten größeren Manuskriptgruppen ist eine Form des s sehr häufig, die wie ein Peitschen-s geschrieben ist und im Abstrich nur relativ selten eine deutliche Verdickung (einen „Balken") aufweist (vgl. in der obigen Aufstellung an vorletzter und an letzter Stelle). Die häufige Verwendung dieser Form ist für die Zeit Herbst—Winter 1803 charakte¬ ristisch. Sie geht zusammen mit einem Rückgang in der ck-Schreibung, wie sie unserer heutigen Orthographie entspricht; es findet sich wieder stärker k statt ck („ausdrüken"). Die unserer heutigen Schreibweise weitgehend angeglichene Schreibung des tz bleibt indessen erhalten („setzen"). In den erwähnten Fragmenten sinkt die Verwendung des Peitschen-s (mit und ohne „Balken") im sch allmählich von 72,2 v. H. auf 58,3 v. H.; in der einfachen Form ist die Verwendung dieses s im Verhältnis viel ge¬ ringer und schwankender. Die Bruchstücke Nr 50—53 gehören nicht zu dem zusammenhängenden Entwurf der Natur- und Geistesphilosophie (Nr 54/56 und 55/57) und lassen sich auch nicht als Teile einer untereinander zusammenhängenden Vorstufe dazu deuten. Stück 53 ist schon von

Hoffmeister

als Einschub

in Nr 51 erkannt worden 55. Im übrigen werden offensichtlich in mehreren erneuten Anläufen einzelne Abschnitte aus dem Anfang der Naturphilo¬ sophie behandelt (Übergang vom himmlischen System, von dessen Be¬ handlung keine Mss erhalten sind, zum irdischen; Anfang der „Mecha¬ nik"). Nr 50 überschneidet sich mit Nr 51/53, Nr 52 bildet eine inhaltliche Paralelle zum Anfang von Nr 54/56. Die beiden Stücke 54/56 und 55/57 sind dadurch miteinander verbun¬ den, daß eine erste Niederschrift später überarbeitet worden ist, so daß durch Korrekturen und Streichungen im Text, zahllose Randbemerkungen und eingelegte kleinere und größere Blätter, die teilweise an die Stelle von

55 Realphil. I. 4 Anm. 1.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

157

gestrichenen Textpartien treten, eine durchgehende zweite Fassung ent¬ standen ist. Zwischen beiden Stücken ist jedoch eine Lücke, und mit Stück 55/57 be¬ ginnt eine Zählung der Bögen durch kleine lateinische Buchstaben (a-o; Bogen c fehlt), die von Hegels Hand stammt. Die anscheinend ohne größere Lücke anschließende Fortsetzung des letzteren Ms läßt sich bis zum Ende der Naturphilosophie aus der fortlaufenden Bezeichnung der Abschnitte durch Buchstaben des griechischen Alphabets (ß—V) ermitteln. Hier sind zahlreiche Blattvertauschungen und vermutliche Brüche im Text festzu¬ stellen. Das Ende der Darstellung der Naturphilosophie geht über in eine Dar¬ stellung der „Philosophie des Geistes", in der Abschnitte, die zu verschie¬ denen Zeiten entstanden sind (verschiedene Färbung des Papiers), von Hegel zusammengefügt und durch die fortlaufende, aus Korrekturen, Randbemerkungen usw. erstellte zweite Fassung miteinander verbunden sind. Rosenzweig

hat sich bereits um eine Ordnung der für sein Thema Hegel

und der Staat maßgebenden Mss der „Philosophie des Geistes" bemüht5Ö. Diese wird von

Hoffmeister

im wesentlichen übernommen und ergänzend

auch für die Naturphilosophie durchgeführt. 57 Die Veröffentlichung der Gesamtmasse der Fragmente zur Natur- und Geistesphilosophie von 1803/04 durch

Hoffmeister

ist jedoch nicht als gelungen anzusehen. Der

Zustand der Mss, ihr fragmentarischer Charakter und die verschiedenen Stufen der Bearbeitung sind aus der Veröffentlichung nicht adäquat zu entnehmen. Auch der Titel Realphilosophie 1 ist unzutreffend, denn diese Fragmente gehören nicht — wie die Natur- und Geistesphilosophie von 1805 (Nr 77) — zu einer gesonderten Darstellung der realphilosophischen Teile des Systems der Philosophie, sondern zu einer spekulativen Dar¬ stellung des Systems im ganzen 58. Die dazu gehörige „Logik und Meta¬ physik" als Grundlegung der Philosophie wird von früheren Vorlesungen in den Semestern 1801/02 bis 1802/03 und von dem geplanten Buch über dieses Thema her mehr oder weniger abgeschlossen Vorgelegen haben.

86

Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 1. 247.

87 S. Realphil. I. 271-276. 88 Vgl. die Vorlesungsankündigung für den Winter 1803/04; in diesem Band 54. Das ganze System, einschließlich Natur- und Geistesphilosophie, wurde in dieser Zeit als „spekulative" Philosophie bezeichnet. Daß Logik und Metaphysik oder nur Logik spekulative Philosophie hießen, neben der Natur- und Geistesphilosophie, begegnet erst 1804/05. Die Bezeichnung Realphilosophie für die letzteren stammt aus der Vor¬ lesungsankündigung für den Winter 1805/06. Es empfiehlt sich also, die Rfcde von einer Realphilosophie für die Jahre vor 1805 ganz zu unterlassen.

Heinz Kimmerle

158

In der ersten Fassung von Nr 55/57 wird chimique erwähnt den

Rosenzweig

Berthollets

Essai de statique

als ausschlaggebend für die Datierung

erkannt hat 59, und der im Jahr XI der französischen Revolution, d. h. vor dem 22. 9. 1803 erschienen ist 60. Ein Hinweis auf § 2817 in

Trommsdorffs

Die Chemie im Felde der Erfahrung 61, der sich in dem 1803 erschienenen dritten Band dieses Handbuches findet, ist von Hegel am Rand nieder¬ geschrieben und kann aus der späteren Überarbeitung stammen. 62 Wesentlich ist ferner, daß in diesem Stück eine „Philosophie des Gei¬ stes" entworfen wird, die Hegel zum erstenmal für das Wintersemester 1803/04 angekündigt hat, so daß wir hier die Entstehung der „Trias von Idee, Natur und Geist" im Hegelschen System der Philosophie vor uns haben. Es ist deutlich, daß die erhaltenen Fragmente dieser ersten Geistes¬ philosophie sehr stark an die frühere Konzeption einer praktischen Philo¬ sophie bzw. Philosophie der Intelligenz anknüpfen 63. Dabei ist noch nicht ersichtlich, wie der ursprünglich als Philosophie des „absoluten Indiffe¬ renzpunktes" konzipierte letzte Teil der Philosophie in die Philosophie des Geistes einbezogen wird 64. Für die Datierung halten wir fest, daß die erste Fassung von Stück 55/57 im Zuge der Vorbereitung auf das Wintersemester im Herbst 1803 ent¬ standen sein wird. Dasselbe gilt für Stück 54/56, das möglicherweise zu demselben Entwurf des Gesamtsystems gehört. Die zweite überarbeitete Fassung beider Stücke ist vermutlich im Laufe des Wintersemesters 1803/04 entstanden während der Durchsicht für den mündlichen Vortrag im Kolleg. Auf diesen Sachverhalt deutet vor allem die merkwürdige Art der Unter¬ streichungen hin, die sich im Grundtext durchgehend, in den Randbemer¬ kungen und auf den eingelegten Zetteln aber nur gelegentlich findet. Dabei sind nicht einzelne Worte oder Sätze hervorgehoben, in denen der Sinn zusammengefaßt zum Ausdruck kommt, sondern eher solche Bestandteile der Sätze, die im mündlichen Vortrag den Ton tragen sollten. Diese Art von Unterstreichungen ist auch in dem Vorlesungsmanuskript Nr 77 an¬ gewendet (vgl. u. 169). Daß die Geistesphilosophie im Vollzüge dieser Arbeit erst aus dem früher als praktische Philosophie konzipierten dritten Teil des Systems

59 Hegel und der Staat. Bd 1. 248. 60 Auf dem Titelblatt findet sich eine doppelte Jahresangabe: Paris An XI — 1803. 01 Johann Bartholomae Trommsdorff: Die Chemie im Felde der Erfahrung. Systema¬ tisches Handbuch der gesammten Chemie ... 8 Bde. Erfurt 1800—1807. 62 Vgl. Realphil. I. 35 Anm. 1. 63 Vgl. Realphil. 1. 207. 64 Vgl. Realphil. II. 263—273.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

159

hervorzuwachsen anfing, beweist auch ein Gliederungsentwurf zu diesem Teil (Nr 49), der aber älter sein muß als August 1803, weil in diesem Monat die Vorlesungsankündigung für den Winter 1803/04 formuliert worden ist, in der schon von einer „philosophia mentis" die Rede ist. Dieser Gliederungsentwurf enthält zu wenig Text für eine zuverlässige Schriftanalyse. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er noch früher als Sommer 1803 entstanden ist. Da er sich inmitten der Fragmente vom SommerHerbst bis Herbst—Winter 1803 befindet, ist er wohl zu der Anfangs¬ phase der Entfaltung des Systems als ganzen zu rechnen, die in den Sommer 1803 fällt. Für seine Vorlesungen im Sommer 1803 hatte Hegel zum erstenmal einen „Abriß der gesamten Philosophie" angekündigt, nachdem er vorher immer nur einzelne Teile daraus: „Logik und Metaphysik" und „Natur¬ recht" behandelt hatte. Im Sommer-Herbst desselben Jahres begann er auf dieser Grundlage mit der näheren Ausarbeitung der noch nicht im einzelnen entworfenen Teile, d. h. zunächst wohl vor allem der Natur¬ philosophie. Die aus der Philosophie der Intelligenz hervorgehende Gei¬ stesphilosophie wurde auch jetzt nur in einer ersten unfertigen Form zu Papier gebracht. Wie die Stücke 50—53 als Einzelstudien zu bestimmten Abschnitten des Anfangs der Naturphilosophie vor der Niederschrift des zusammenhän¬ genden Entwurfs der Natur- und Geistesphilosophie in Nr 54/56 und 55/57 entstanden sind, so bilden die Stücke 58—65 nachträgliche Bearbei¬ tungen zu späteren Abschnitten der Naturphilosophie und zu bestimmten Fragen aus der Geistesphilosophie. Sie sind in die Manuskriptmasse des zusammenhängenden Entwurfs eingelegt, ohne daß sie sich in den fort¬ laufenden Text einfügen lassen. Ihrem Schriftbefund nach sind sie später als die großen Stücke. Die charakteristische häufige Verwendung des Peitschen-s (mit und ohne „Balken") im sch geht auf etwa 35 v. H. zurück, während in der ersten Fassung von Nr 54/56 und 55/57 noch etwa 50 v. H. festzustellen waren. Es handelt sich offensichtlich um Neuformulierungen einzelner Partien, die auch in der zweiten Fassung noch nicht hinreichend geklärt waren. Die Stücke 58—62 beziehen sich auf einzelne Abschnitte aus der Naturphilo¬ sophie. Sie sind z. T. durch die griechischen Buchstaben vor den Ab¬ schnitten dem Text von Nr 55/57 genau zugeordnet, aber nicht in den Zusammenhang eingefügt, weil dies aufgrund der beiden schon bestehen¬ den, vielfach miteinander verschlungenen Fassungen einfach nicht mehr möglich war. Als Entstehungszeit wird man die erste Hälfte des Winter¬ semesters 1803 annehmen müssen.

160

Heinz Kimmerle

Für die entsprechenden Ergänzungen zur Geistesphilosophie (Nr 63—66) muß man demgegenüber an die zweite Hälfte dieses Semesters, also an den Anfang des Jahres 1804 denken, denn die im Verhältnis kurzen und unabgeschlossenen Ausführungen zu diesem Teil des Systems kamen im Kolleg gewiß erst gegen Ende des Semesters zum Vortrag. Das erste dieser Stücke (Nr 63) greift auf den Anfang des Systems zu¬ rück und verdeutlicht dadurch, daß diese Fragmente insgesamt (Nr 49—66) in den Zusammenhang des Versuchs gehören, das System der Philosophie als ganzes zu entwerfen. Nr 64 untersucht, wie schon die Eingangsworte zeigen, das „Wesen des Bewußtseins". Die übergroße Mehrzahl der Verbesserungen und Ergän¬ zungen zur Geistesphilosophie in Nr 55/57 hatte den Begriff des Bewußt¬ seins zum Gegenstand 65. Hegel untersucht in Nr 64 noch einmal gesondert die grundlegende Bedeutung dieses Begriffs für die Konzeption der Philo¬ sophie des Geistes. Offenbar ist hier ein Problem aufgebrochen, das der Entfaltung des Systems von den in der „Logik und Metaphysik" ent¬ wickelten Voraussetzungen aus Schwierigkeiten entgegenstellte, das einer¬ seits auf den Plan einer Umformung der praktischen Philosophie und der Philosophie des Absoluten zu einer einheitlichen Philosophie des Geistes hinführte, das aber auf der anderen Seite gerade diesen Plan nicht zu einer befriedigenden Ausführung gelangen ließ. In Nr 65 entwickelt Hegel noch einmal die Gliederung des dritten Teils des Systems der Philosophie. Offenbar befriedigte ihn noch nicht, was zu dieser Frage schon in Nr 55/57 gesagt worden ist. Stück 66 zeigt genauer, worin das neu aufgebrochene Problem der Philo¬ sophie des Geistes bestand. Die „Beziehung . . . des einzelnen Bewußtseins auf das absolute Bewußtsein" war nicht klar 66. Daß hier Gedanken aus den Jugendschriften anklingen, besagt nicht, daß dieses Stück nicht in den Zusammenhang der ersten Systementfaltung gehört. Die geschicht¬ lichen Bezüge, die darin enthalten sind

(Hoffmeister

nennt dieses Stück

nicht unzutreffend „Zum Geist des Mittelalters"), machen deutlich, daß mit der Problematik der Beziehung des einzelnen Bewußtseins auf das absolute Bewußtsein, die sich später zu der Fragestellung einer „Wissen¬ schaft der Erfahrung des Bewußtseins" und schließlich zu der Idee einer „Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes" transformierte, von An¬ fang an die geschichtliche Dimension aufscheint.

65 66

Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 1. 247. Realphil. I. 269 f.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

161

Die Schwierigkeiten der Entfaltung des Systems auf dem Wege der philosophischen Spekulation mögen dazu beigetragen haben, daß Hegel nun, im Frühjahr 1804, wenn auch mehr als Episode, einen ganz anders ausgerichteten Versuch unternahm, das Ganze der Philosophie zu ent¬ werfen (Stück 68). In diesem Stück findet sich eine merkwürdige Form der mystisch-theosophischen Spekulation, die aber zugleich mit formalen logisch-mathematischen, aus der Geometrie entlehnten Denkmitteln ope¬ riert. Für

Rosenkranz,

der es überliefert, repräsentiert dieses Fragment die

„erste Gestalt des Systems" 67, bevor Hegel am Ende der Frankfurter Zeit sein eigentlich philosophisches System entworfen hat, wie es zur Grundlage seines späteren Denkens wurde. Nach ersten Zweifeln, die schon kranz

geäußert hat, verlegte

Haering

an der Datierung durch

Rosen¬

die Entstehungszeit auf den An¬

Hoffmeister

fang der Jenaer Jahre, wiederum vor die Konzeption des philosophischen Systems im engeren Sinne, für die seit

Ehrenberg

und

Lasson

das Jahr

1801/02 angenommen wurde 68. Den von uns gewählten Titel hat meister

im Anschluß an den Satz von

Rosenkranz

Hoff¬

geprägt, daß dieses

Fragment „vom göttlichen Dreieck handelt" 69. Der Hinweis auf F.

Baaders

1798 erschienene Schrift Lieber das pytha¬

goreische Quadrat in der Natur oder die vier Weltgegenden, der schon bei Rosenkranz

die Datierung stützen soll und der seither stets wiederholt

wird, wenn von diesem Hegelschen Fragment die Rede ist, kann nicht als stichhaltig angesehen werden. Diese kleine Schrift philosophische Betrachtungen im Stile

Baaders

Schellings, Ritters,

enthält natur¬ auch

Goethes,

der die Naturphilosophie im akademischen Leben der Universität Jena tatkräftig zu unterstützen suchte, oder auch der Hegelschen Naturphilo¬ sophie von 1803/04. Geometrisierende Vorstellungsweisen spielen darin kaum eine Rolle; auch die Erwähnung des pythagoreischen quaternarius, der die Schrift den Titel verdankt, geschieht sehr beiläufig in einer histori¬ schen Reminiszenz am Schluß des Ganzen. Viel enger als mit dem hier zu besprechenden Stück hängt die Baadersche Schrift mit Arbeiten Hegels zusammen, die tatsächlich aus dem Anfang der Jenaer Zeit stammen und vermutlich bis in die letzte Frankfurter Zeit zurückreichen. Die Polemik gegen die mathematisierte Naturwissenschaft,

67

Rosenkranz: Hegels ursprüngliches System. In: Literarhistorisches Taschenbuch. 2

(1844), 159; vgl. zum folgenden 164 ff und Hegels Leben. 102 f. . , _ , 68 Dokumente. 473 f; vgl. Th. Haering: Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Bd 1. Stuttgart 1929. 585 f. 69 Hegels ursprüngliches System. 159.

Heinz Kimmerle

162

insbesondere gegen

Newton,

der Rückgang auf die lebendigen Kräfte der

Natur (Attraktiv- und Repulsivkraft) und der Dynamismus, die bei Baader auffallen, spielen in Hegels Habilitationsschrift (Nr 20, s. auch Nr 19) eine wesentliche Rolle. Unsere Ansetzung von Stück 68 auf das Frühjahr 1804 stützt sich vor allem auf die Tatsache, daß in diesem Stück nach den Angaben von Rosenkranz

„die trianguläre Construction . . . von Hegel . . . durch die

Natur hindurchgeführt" ist bis zur „Construction des Thieres"70. Dies setzt eine Durcharbeitung der Naturphilosophie voraus, wie sie zuerst in der Manuskriptgruppe Nr 50—62 vom Sommer 1803 bis Winter 1803/04 geleistet worden ist. In den kurzen Mitteilungen, die

Rosenkranz

über die

zitierten Angaben hinaus macht, klingen deutlich Formulierungen dieser Arbeit an. Die Zeichnung (Nr 67) scheint eine symbolische Darstellung zur meta¬ physischen Grundlegung des Systementwurfs Nr 68 zu bilden, obgleich sie in der Sache nicht genau mit dem Text dieses Fragments übereinstimmt. In dem „Dreieck von Dreiecken", das

Rosenkranz

erwähnt 71, sollte offen¬

bar jede Seite eines inneren Dreiecks zur Grundseite eines neuen Dreiecks von derselben Form und Größe werden, so daß die daraus entstehenden vier Dreiecke untereinander ein großes Dreieck bilden. In der Zeichnung befindet sich hingegen vor jeder Spitze eines großen inneren Dreiecks ein neues kleineres Dreieck. Das Viereck „über den Dreiecken", von dem Rosenkranz

spricht, fehlt hier. Die Zeichen für Sonne und Mond, einige

Planeten und Sternbilder, sowie das Wort SPIRITUS an jeder Seite des großen inneren Dreiecks, die zur Charakteristik der Zeichnung wesentlich sind, werden wiederum von

Rosenkranz

nicht erwähnt. Man kann an¬

nehmen, daß es sich um eine Vorstufe der von

Rosenkranz

geschilderten

Darstellung handelt. Zweifel daran, daß diese Zeichnung von Hegel stammt, erscheinen nicht als hinreichend begründbar. Sie befindet sich seit langem inmitten von Nachlaßpapieren, die noch im Besitz der Nachkom¬ men Hegels sind. Stück 69 führt zu den wissenschaftlich-philosophischen Systementwür¬ fen zurück. Es enthält zwei Anmerkungen zum Anfang der Philosophie, d. h. nach der damaligen Systemkonzeption zur Logik. Daß hier das Pro¬ blem des Bewußtseins wieder in den Vordergrund tritt, das bereits in den Entwürfen von 1803/04 zu Umformungen und Schwierigkeiten in der Ent¬ faltung des Systems Anlaß gegeben hatte, und daß dieses Problem nun-

70 71

Ebd. 164 und 160. Ebd. 160; s. auch zum folgenden.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

163

mehr mit der Erkenntnisthematik, die für das Ganze der Philosophie grundlegend ist, in Zusammnehang gebracht wird, zeigt die Richtung für die weitere Entwicklung des Hegelschen Denkens in den folgenden Jahren (1804—07) an. In der Konzentration auf die Frage der Gewißheit der Erkenntnis kündigt sich in Stück 69 an, daß die Wissenschaftlichkeit des Ansatzes und der gesamten Darstellung des Systems der Philosophie für Hegel in dieser Zeit eine zentrale Bedeutung bekommt72. Handschriftlich ist gegenüber den Entwürfen zur Natur- und Geistes¬ philosophie (Nr 50—66) insofern ein neuer Befund gegeben, als das Peitschen-s zwar noch häufig vorkommt, der Abstrich aber fast immer als deutlicher „Balken" zu erkennen ist. Es ergibt sich — ähnlich wie in den ersten der genannten Entwürfe — ein starkes Überwiegen der Häufigkeit dieser Form im sch (65,5 v. H.) gegenüber ihrem Vorkommen in der ein¬ fachen s-Form (23,1 v. H.). Der letztere Wert verbindet dieses Ms (Nr 69) mit dem großen System¬ entwurf von 1804, der Logik, Metaphysik und Naturphilosophie umfaßt (Nr 72), in dem aber im Schriftbefund die Peitschen-Form des s nicht mehr hervortritt und auch im sch im Gesamtdurchschnitt nur 24 v. H. Balken-s Vorkommen. In der sachlichen Problematik ist die Verknüpfung von Stück 69 mit dem großen Systementwurf Nr 72 indessen völlig eindeutig. Die Frage einer strengen wissenschaftlichen Entfaltung der philosophischen Erkenntnis, die in ihrem Resultat zur Einheit und Einfachheit des An¬ fangs zurückkehrt, wird sachlich übereinstimmend mit der Darstellung in Stück 69 am Ende der Logik in dem Kapitel „Das Erkennen" und am Anfang der Metaphysik von Nr 72 entwickelt 73. Eben diese Frage begegnet in ähnlicher Weise in dem kurzen Stück 70. Hier wird deutlich, daß die methodische Begründung der Philosophie im allgemeinen, die am Anfang der Logik ihren Platz hat, vor der wissen¬ schaftlichen Entfaltung der Metaphysik erneut bedacht und im Hinblick auf die KANTische Erkenntniskritik „näher" betrachtet werden muß 74. Der handschriftliche Befund hat in diesem Stück nur eine schmale Basis. Das

72 Vgl. Realphil. I. 266—268, bes. 267: „denn Wissen nennen wir ein Erkennen, in¬ sofern wir jenen Unterschied [zwischen Erkennen und Gegenstand] gemacht aber ihn als aufgehoben, nämlich den Gegenstand in das Erkennen, oder auch das Erkennen m den Gegenstand setzen". , 72 Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie. 114-129, 130-132. Vgl. auch das Ende der Metaphysik, wo vom „Kreislauf des absoluten Geistes" die Rede ist, in dem das „Erkennen in sich gerundet" ist: „das dem Erkennen Entgegengesetzte wird selbst Erkennen, der Inhalt wird des Geistes, wird selbst Geist (181, 174, 18 ).

74

Dokumente. 308 f.

Heinz Kimmerle

164

Uberwiegen des Peitschen-Balken-s, vor allem im sch, das dem Befund des Stückes 69 entspricht, läßt sich jedoch beobachten. In dem Gliederungsentwurf zur Metaphysik (Nr 71) tritt uns im Ver¬ gleich zu den zuletzt besprochenen Stücken noch einmal ein neuer Befund der Schriftuntersuchung entgegen. Das deutlich ausgeschriebene Peitschen-s überwiegt nicht mehr gegenüber den anderen s-Formen (Normal-s, Strich-s und Balken-s ohne Aufstrich). In der einfachen s-Form finden sich 20,3 v. H. Balken-s; sch kommt nur fünf Mal vor, davon ein Mal mit Balken-s. Gegen eine Ansetzung des Ms im Jahr 1801 auf den aufsteigenden Ast der Häufigkeitskurve des Balken-s spricht, daß Hegel in beiden vorkom¬ menden Fällen k statt ck schreibt („ausdrüken”), während das tz in einer der heutigen Schreibweise angeglichenen Verwendung vorkommt („set¬ zen”). — In der Konzeption der Metaphysik scheint insbesondere die Be¬ handlung der „Idee der Seele” fraglich geworden zu sein. Das wird mit der im Entstehen begriffenen Philosophie des Geistes Zusammenhängen, die ursprünglich (1803/04) ganz auf dem Begriff des Bewußtseins aufgebaut wurde. Wie wir sahen, war dieser Begriff auch für das Problem des An¬ fangs und der methodischen Grundlegung der Philosophie wichtig gewor¬ den. Die große Reinschrift zur Logik, Metaphysik, Naturphilosophie (Nr 72), die man seit

Ehrenberg

als Ausgangspunkt der Hegelschen Systemkon¬

zeptionen auf das Jahr 1801/02 angesetzt hat, gehört in den SommerHerbst 1804. Im handschriftlichen Befund paßt sie mit dem vorhergehen¬ den Stück wie auch mit den Briefen an

Gries

vom

7. 9.

und an

Goethe

vom 29. 9. 1804 (A 26 u. 27) gut zusammen. Das Balken-s im sch und in der einfachen Form kommen in einer etwa gleichen prozentualen Häufig¬ keit von 10—20 (25) v. H. vor, wobei eine rückläufige Tendenz zu beobach¬ ten ist. Außerdem gilt hier im Großen, was sich bei dem vorangehenden Stück im Kleinen zeigte. Im Gesamtdurchschnitt enthält dieses Ms 23,5 v. H. k statt ck („ausdrüken”), aber in der tz-Schreibung ist es völlig unserem heutigen Gebrauch angeglichen („setzen”), außer daß gelegentlich sogar tz steht, wo wir heute z schreiben („Gräntze”).

Das Ms im ganzen ist zwar in tadelloser Reinschrift geschrieben, in seinem genauen handschriftlichen Befund jedoch recht uneinheitlich. Man muß als selbstverständlich annehmen, daß sich die Niederschrift eines so großen Ms über längere Zeit hingezogen hat. Man findet innerhalb des Ms auf weite Strecken eine rückläufige Tendenz in der Häufigkeit des Bal¬ ken-s, die der Gesamtentwicklung entspricht. Andererseits gibt es aber auch Stücke, die diese Tendenz nicht erkennen lassen und die vermutlich früher geschrieben sind als die vorausgehenden.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

165

Die Uneinheitlichkeit dieses Ms wird unterstrichen durch eine Reihe von Lücken und Bruchstellen in dem offenbar auf Hegel selbst zurück¬ gehenden Zusammenhang des Ganzen (Bogennumerierung von Hegels Hand). Eine einfache Zählung der Blätter hätte widerlegen können, die aber auch

Lasson

Ehrenbergs

Feststellung

nicht korrigiert hat: „Unser

Manuskript ist auf 102 Bogen zu 8 Seiten verfaßt, wovon jedoch die ersten 3 Bogen fehlen; eine weitere Lücke ist nicht da." 75 Zumindest das Fehlen von 1 V2 Bogen (die zweite Hälfte von Bogen 6 und der ganze Bogen 7) und der Bruch in dem nur vier Seiten umfassenden Bogen 39 nach Seite 2 (es fehlt offenbar das innere Doppelblatt mit den Seiten 3—6) hätte den Herausgebern auffallen müssen. Es gibt aber auch noch weitere Bögen, die nur vier Seiten umfassen, bei denen noch im einzelnen zu prü¬ fen ist, ob sie so vollständig sind oder nicht. Die zeitliche Ansetzung auf Sommer-Herbst 1804 findet ihre stärkste Stütze darin, daß in der Naturphilosophie dieses Ms deutliche gedankliche Fortschritte gegenüber den Entwürfen vom Sommer-Herbst 1803 bis Win¬ ter 1803/04 zu erkennen sind. Dies läßt sich besonders schön zeigen an der Entwicklung der Begriffe „Gestalt" und „Prozeß", die für die Aus¬ bildung der Hegelschen Dialektik von zentraler Bedeutung ist76. Im Sti¬ listischen hat sich Hegel nunmehr weitgehend von den Einflüssen lings

Schel-

frei gemacht und eine eigene Begriffssprache entwickelt. Die „Pole¬

mik gegen die Ausartungen der Schelling'schen Naturphilosophie" und weitere „wichtige Aeußerungen über die Terminologie", von denen kranz

Rosen¬

berichtet (in Nr 26) 77, sind erst auf der Grundlage dieser Entwick

lung möglich geworden. Das Motiv, statt von „Potenzen , „Indifferenz¬ punkten" und „Differentiirungen" zu sprechen, die Philosophie „ganz in der Muttersprache durchzuführen", klingt im Mai 1805 in den Briefent¬ würfen an Voss (A 32) wieder an 78. Die Schwierigkeit, eine sprunghafte oder eine nicht alle Bereiche seines Denkens gleichmäßig betreffende Entwicklung der Hegelschen Philosophie in den Jenaer Jahren annehmen zu müssen, wird durch die Ansetzung des

76 Hegels Erstes System. VIII. - Lasson bemerkt zwar in der Jenenser Logik, Meta¬ physik und Naturphilosophie auf S. 10 eine „Lücke" im Ms, glaubt diese aber durch eine Textkonjektur von etwa einer Zeile überbrücken zu können. Auf S. 128 wird ein ebenfalls recht schwerwiegender Bruch durch die Konjektur eines einzigen Wortes zu beheben gesucht. , , _ , . , T „ „1 76 Vgl. H. Kimmerle: Zur Entwicklung des Hegelschen Denkens in Jena. In HegelTage Urbino 1965. (Hegel-Studien. Beiheft 4.)

77 78

Hegels Leben. 181. Briefe. Bd 1. 100.

166

Heinz Kimmerle

Ms Nr 72 auf Sommer-Herbst 1804 vermieden. 79 Die Entwicklung des Hegelschen Denkens erscheint auf diese Weise vielmehr als geradlinig und konsequent, indem nach einer anfänglichen Bemühung um die „Logik und Metaphysik" als die Einleitung und Grundlegung der Philosophie zunächst Teile der praktischen und theoretischen bzw. Naturphilosophie ausgebildet werden, die die Gestalt einer Philosophie der Natur und des Geistes an¬ nehmen. Die nähere Ausarbeitung dieser Teile des philosophischen Sy¬ stems stellt sich dann als die nächste Aufgabe. Offenbar ließ sich jedoch auf der Grundlage der „Logik und Meta¬ physik", wie sie von 1801/02—1802/03 Hauptgegenstand der Hegelschen Vorlesungen war, die Philosophie der Natur und des Geistes, wie sie in enger Zusammenarbeit mit

Schelling

konzipiert worden ist, nicht ohne

weiteres aufbauen. Auch wenn man diese Schwierigkeiten bedenkt, behält der Versuch einer mystisch-theosophischen „Construction"

des

Systems

der

Philosophie

(Nr 68) eine gewisse Merkwürdigkeit. Man muß indessen sehen, daß auch die Naturphilosophie von 1803/04 als „spekulative" Philosophie aufzu¬ fassen ist 80, die den Naturprozeß von durchaus mystischen Motiven her zu deuten sucht: Licht, Ton, Feuer, Chemismus, Organismus. Ferner wird für die Zeit nach Mai 1803 in dem sog. „Wastebook" eine Beschäftigung

mit Jakob Böhme bezeugt 81. Und

Rosenkranz

berichtet, daß „im Vortrag

der Metaphysik" ohnehin eine „spekulativ-theologische Haltung" vor¬ herrschte 82. Schließlich ist es eine überraschende Übereinstimmung, wenn der mystisch-theosophische Versuch, das System zu entwerfen, beim „Be¬ griff des Thieres" abbricht und auch der folgende große Systementwurf nur bis zum Begriff des Organischen führt. Der Übergang zur Geistes¬ philosophie schien eigene Probleme mit sich zu bringen, die wohl mit dem Bewußtseinsbegriff und der Erkenntnisproblematik zusammenhingen, die in den Stücken 69 und 70 zum Gegenstand gesonderter Behandlung wur¬ den.

70 Vgl. oben 126 f; dazu Anm. 8 und 9; ferner H. Schmitz: Hegel als Denker der In¬ dividualität. Meisenheim/Gl. 1957. 122 f und 126 f. Schmitz ist genötigt, im Blick auf das von ihm untersuchte Problem des Schlusses als logischer Denkfigur in dem System von 1803/04 gegenüber dem nach der gängigen Chronologie auf 1801/02 datierten einen merklichen Rückschritt in der Gedankenentwicklung Hegels zu konstatieren: „An die Stelle des Schlusses tritt der weit unpräzisere Begriff der Mitte überhaupt." (127) 80 So im Text der Vorlesungsankündigung für das Wintersemester 1803/04; vgl. oben Anm. 58. 81 Rosenkranz: Hegels Leben. 199; s. o. 152 f. 82 Hegel Leben. 192.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

167

Man kann es als einen neuen entschiedenen Schritt über die bisherige mystisch-spekulative Denkhaltung hinaus interpretieren, wenn sich Hegel nun um eine „rein wissenschaftliche Bearbeitung der Philosophie'' bemüht, wie er es im September 1804 an

Goethte

schrieb und wie es schon in der

im August verfaßten Vorlesungsankündigung für den Winter 1804/05 seinen Niederschlag fand: Hegel wollte über „totam philosophiae scientiam" lesen, wobei nur noch die grundlegenden Teile, Logik und Meta¬ physik, nicht aber Natur- und Geistesphilosophie als „philosophia speculativa" bezeichnet wurden 83. Die von

Rosenkranz

überlieferten Vorlesungsmanuskripte zeigen, daß

die Gewinnung einer eigenen Begriffssprache unmittelbar mit einer Ab¬ wendung vom „Mysticismus", von den „Jakob-Böhmischen Versuchen, die Idee darzustellen", und einer Hinwendung zu einer entschiedener „wissen¬ schaftlichen" Haltung verbunden ist 84. Zu dem hier zu besprechenden Ms bemerkt

Rosenkranz

durchaus zutreffend, daß „Hegel damals in seine

Darstellung . . . überall das phänomenologische Element, das Verhältniß des erkennenden Bewußtseins zu seinem Erkennen, einmischte."85 Das Problem der Phänomenologie des Geistes: die Erhebung des Bewußtseins auf den Standpunkt reiner wissenschaftlicher Erkenntnis, war von Hegel noch nicht zu einem eigenen, der eigentlichen Philosophie vorhergehenden Thema gemacht worden. Das Bemühen, „den Begriff des Ansich von der Bestimmtheit seines Erscheinens für das Erkennen zu unterscheiden", der das Ms von 1804 durchzieht, wird von

Rosenkranz

richtig als „Fichteanis¬

mus" charakterisiert. Es wäre wohl in Anbetracht der neuen zeitlichen Ein¬ ordnung dieses Ms als eine Rückwendung von

Schelling zu Fichte

auszu¬

legen. Der Entwurf eines Lebenslaufs (A 28) hängt mit der Bewerbung Hegels um Beförderung zum a. o. Professor zusammen, um die es auch in dem Brief an

Goethe

vom 29. 9. 1804 (A 27) geht. Die Reinschrift dieses Ent¬

wurfs lag entweder dem Brief an

Goethe

bei oder wurde gleichzeitig an

das Ministerium in Weimar eingereicht. Leider läßt sich dieses Dokument in den Regierungsakten des Weimarischen Hofes nicht mehr auffinden. Stück 73 ist ein Beispiel für den bei Hegel seltenen Fall, daß von einem gedruckten Werk noch handschriftliche Vorarbeiten erhalten sind (vgl. Nr 40 u. 75). Es bildet den ersten sicheren Beleg dafür, daß Hegel mit der Ausarbeitung des Systems der Wissenschaft. I. Theil (Nr. 74) begonnen

83 S. Catalogi ..., in diesem Band 54. 84 Hegels Leben. 182. 85 Hegels Leben. 112; s. auch zum folgenden Zitat.

168

Heinz Kimmerle

hat, der ja zunächst „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" heißen sollte. Der Abschluß der Arbeit an diesem ersten großen zur Veröffent¬ lichung gelangten Werk Hegels ist mit der Übersendung des Ms der Vor¬ rede, die sich auf das ganze „System der Wissenschaft" bezieht, an den Verlag am 16.1.1807 gegeben 86. Die Datierung des den Beginn dieser Arbeit bezeichnenden Zeugnisses (Nr 73) ergibt sich daraus, daß sich auf der Rückseite des Ms auf der unteren Hälfte der Schluß des „Hauptentwurfs" für den Brief an Voss (A 32) befindet 87. Auf der Rückseite eines anderen Blattes dieses Brief¬ entwurfs stehen zwei Mitteilungen Hegels an seine Hörer, die am Semsterbeginn geschrieben sind (A 31). Da Voss diesen Brief im August 1805 be¬ antwortet hat, kann es sich nur um den Beginn des Sommersemesters, also den Mai 1805 handeln 88. Nr. 73 muß also auch im Mai 1805 oder früher entstanden sein. Auf die inhaltliche Problematik, die mit der Entstehungs¬ geschichte der Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes — so lautet der entgültige Titel des Systems der Wissenschaft. I. Theil — gegeben ist, gehen wir in diesem Zusammenhang nicht näher ein. 89 Die Stücke 75—78 sind untereinander in den handschriftlichen Merk¬ malen sehr verwandt, die wir in ähnlicher Weise auch in den Briefen an Niethammer vom 4. 3. 1805 und vom 14. 1. 1806 (A 30 u. 34) finden

(13—23 v. H. Balken-s im sch, 3—9 v. H. in der einfachen Form). Eine Reihenfolge kann man daraus nicht ableiten, da sich in dieser Zeit keine bestimmte Tendenz in der Schriftentwicklung beobachten läßt. Man muß hier — wie stets in solchen Fällen — Parallelitäten für möglich halten. Die in der Liste gewählte Reihenfolge erklärt sich wie folgt: Die Reinschriftfragmente zur Natur- und Geitsesphilosophie (Nr 77) sind wie die heute verlorenen Handschriften zur Geschichte der Philosophie (Nr 79) Vorlesungsmanuskripte für das Wintersemester 1805/06, wobei die Nie¬ derschriften für das neu aufgetretene Thema „Geschichte der Philosophie" später angesetzt werden als die Manuskripte der längst der Klärung und Ausarbeitung harrenden Natur- und Geistesphilosophie. Im Mai 1805 dachte Hegel noch das ganze System der Philosophie „auf den Herbst" darzulegen90. So werden Plan und Ausführung einer ge-

89 Briefe. Bd 1. 136. 87 Briefe. Bd 1. 101, ab „welche untereinander ..zum folgenden vgl. 457 und 102. 88 Das Programm seiner Vorlesungen, das Hegel Voß mitteilen wollte, stimmt genau mit seiner Ankündigung für den Sommer 1805 überein. S. Briefe. Bd 1. 100 und Catalogi ..., in diesem Band 54. 89 Vgl. in diesem Band 87 Anm. 44. 90 Briefe. Bd 1. 99.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

169

sonderten Darstellung der realphilosophischen Teile nicht schon im Som¬ mer dieses Jahres zustande gekommen sein. Wohl aber dürfen wir für den Sommer 1805 das Stück 75 ansetzen, das eine Reinschriftausarbeitung zum Schlußkapitel der „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" darstellt, zu dem Fragmente eines Entwurfs schon vom Mai 1805 oder früher erhalten sind (Nr 73). Im Sommer dieses Jahres wollte Hegel über die ganze Wissenschaft der Philosophie lesen, hat dann aber faktisch nur „Die Logik" vorgetragen 91 — eine Begrenzung des Themas, die erkennen läßt, daß er sich stärker als ursprünglich geplant, mit den Fragen der Ein¬ leitung in die Philosophie beschäftigt hat. Die Arbeit an der Geschichte der Philosophie hängt wohl auch mit die¬ ser Problematik zusammen, zeigt jedoch eine Erweiterung ihres Horizonts an, die eine tiefer greifende Umgestaltung der „Wissenschaft der Erfah¬ rung des Bewußtseins" notwendig machte. So ist es vielleicht nicht verfehlt anzunehmen, daß Hegel für die Vorlesungen vordringlich die Mss zur Natur- und Geistesphilosophie (Nr 77) fertig gemacht hat, die von diesen Fragen nicht unmittelbar betroffen zu sein schienen. Es ist möglich, diese Mss auf den Herbst 1805 zu datieren, auch wenn am Rand sich einzelne Hinweise auf Bücher finden, die erst 1806 erschienen sind. Diese Hinweise werden, „eben weil am Rand, nur zum Beweise dienen können, daß Hegel damals [1806] noch unser Manuskript seinen Vorlesungen zugrunde ge¬ legt hat" 92. Die ARiSTOTELES-Übersetzung (Nr 78) ist von W. Kern mit überzeugen¬ den Argumenten auf das Jahr 1805 datiert worden 93. Wir werten sie als Vorarbeit zu den Mss für die Vorlesung über Geschichte der Philosophie (Nr 79) und stellen sie in der Liste unmittelbar vor dieses Stück. K.

L.

Michelet

hat in seiner Ausgabe der Hegelschen Vorlesungen über

die Geschichte der Philosophie das „jenaische Heft" mit „Zusätzen, die er bei den späteren Wiederholungen [dieser Vorlesungen in Heidelberg und Berlin] machte", als Hauptquelle eingearbeitet94. Leider ist der Textbe¬ stand, der auf die Jenaer Mss zurückgeht, nicht eindeutig kenntlich ge¬ macht. Auf welche Weise die Arbeit an der Geschichte der Philosophie der Einleitungs- und Grundlegungsproblematik unmittelbar zugute kam, können wir aus einer Bemerkung

Gablers

entnehmen, der von der Vorlesung über

91 S. die Zuhörerliste zu diesem Kolleg, in diesem Band 62 und die Abb. nach 64. 92 Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 1. 248 f. 93 Eine Übersetzung Hegels zu De anima. Mitgeteilt u. erläutert von W. Kern. In:

Hegel-Studien. 1 (1961), 49-88, vgl. 59 f. 94 Vgl. Hegel: Werke. Bd. 13. Berlin 1833 V-XVIII, bes. VI.

Heinz Kimmerle

170

„Phänomenologie und Logik" im Sommer 1806 sagt, daß in der ersteren die geschichtlichen Gestalten der Philosophie „ihrem innern Gedanken nach" entwickelt und in ihrer notwendigen Abfolge sichtbar gemacht wor¬ den seien 95. Wie aber schließlich im Zusammenhang der ausgearbeiteten „Wissenschaft des erscheinenden Wissens" die Geschichte „nach der Seite ihrer begriffnen Organisation" als Geschichte der Philosophie enthalten ist, vor allem auch in welchem Sinne sie mit der Geschichte „nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins" zusammengedacht werden kann, ist für die Hegelforschung, die in dieser Frage noch viel zu sehr vom späteren Hegel der Enzyklopädie und der Berliner Vorlesungen ausgeht, ein ungelöstes, nicht einmal klar erfaßtes Problem 96. Die Rezension einer Schrift von

Salat

in einem Brief an

Niethammer

der von

herausgegebenen,

Schütz

(Nr 80) erwähnte Hegel zuerst

vom 17. 5. 1806 (A 35) 97. Sie sollte in seit 1804

in Halle

erscheinenden

Allgemeinen Literatur-Zeitung veröffentlicht werden, wozu es indessen nicht gekommen ist98. Sie ist offensichtlich auf Wunsch

Niethammers

entstanden, dem Hegel wegen äußerer Hilfeleistung mannigfach ver¬ pflichtet war. Aber sie bezeugt auch Hegels fortdauerndes Interesse am „kritischen Geschäft", das sich nach seinen Rezensionen für die Erlanger Litteratur-Zeitung und seinen Beiträgen zum Kritischen Journal nicht mehr unmittelbar dokumentiert hatte. Außer in Stück 80 zeigt sich dieses anhaltende Interesse vor allem in dem Plan, den Hegel im Brief¬ entwurf an Voß (A 32) geäußert hat, in Heidelberg „über Ästhetik im Sinne eines cours de literature" zu lesen". Ein weiteres Zeugnis vom Ende der Jenaer Zeit sind die Maximen des Journals der deutschen Litera¬ tur (Nr 82). Die Vorlesungsmanuskripte über „Phänomenologie und Logik" (Nr

81), ein „Auszug aus dem Ganzen" der bereits im Druck befindlichen Phänomenologie und eine Logik „nur im Grundrisse"100 wurden für das Sommersemester 1806 niedergeschrieben. Die Wiedergabe von Ro¬ senkranz

enthält nur kurze Abschnitte aus dem Übergang von der

95 S. den Bericht Gablers, in diesem Band 71. 96 Vgl. Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J.

Hoffmeister. Hamburg 1952. 564.

97 Briefe. Bd 1. 108, vgl. 113. 98 Briefe. Bd 1. 113, 459 f. 99 Briefe. Bd 1. 99. 100 Rosenkranz: Hegels Leben. 214; Gabler: Hegel in Jena im Jahre 1805/06, in

diesem Band 71.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

171

Phänomenologie zur Logik und — als wörtliches Zitat — den Schlu߬ abschnitt des ganzen Kollegs. Die Auszüge aus den Briefen an Niethammer, die K. Hegel über¬ liefert und die durchweg genau datiert sind (A 35, 38, 39—48, 51, 54), bilden ein Zeugnis für die intensive Freundschaft zwischen Hegel und Niethammer seit 1806. Sie zeigen, daß Hegel in dieser Zeit sehr häufig, seit der Fertigstellung der Phänomenologie und den Schreckenstagen der Schlacht Mitte Oktober dieses Jahres fast täglich mit Niethammer kor¬ respondiert hat. Er verdankte ihm vielfache äußere Hilfe bei den Verhand¬ lungen mit dem Verleger der Phänomenologie und bei der Vermittlung der Stelle als Redakteur der Bamberger Zeitung. Zugleich dokumentieren diese Briefe das Schicksal Hegels und der ganzen Stadt Jena während der Wirren der Schlacht. Der Brief an Knebel (A 37) ist nicht datiert. Er wurde bei der Erst¬ veröffentlichung als der letzte von fünf Briefen Hegels an diesen Adressa¬ ten abgedruckt, wobei die vier vorangehenden aus der Bamberger und Nürnberger Zeit (1807—1810) stammen. Im Anhang zur zweiten Auflage von K. Fischers Hegel-Buch hat Lasson diesen Brief jedoch für die Jenaer Zeit in Anspruch genommen 101 Hoffmeister hat die Anhaltspunkte für eine zeitliche Ansetzung daraufhin genauer reflektiert und kommt zu dem Schluß: „Also ist Mitte bis Ende 1805 als frühestes Datum des Billets an¬ zunehmen.^ 102 Zur Begründung dieser Auffassung schließt sich Hoff¬ meister der Darstellung Lassons an, daß die angeblich 1805 in Berlin erschienenen Bekenntnisse einer schönen Seele von Friederike Unger nicht eindeutig zu Hegels Erwähnung einer Schrift mit diesem Titel pas¬ sen 103. Einen sicheren Anhaltspunkt für den Terminus a quo glaubt er in den von Hegel ebenfalls erwähnten Studien (hrsg. von C. Daub und F. Creuzer. Frankfurt u. Heidelberg 1805 ff) zu finden. Demgegenüber ist festzustellen, daß die genannte Schrift von F. Unger erst 1806 erschienen ist und in einer so unverwechselbaren Weise das Beispiel einer „selbst beschreibenden Jungfrauschaft" gibt104, daß Hegel ganz gewiß dieses Buch gemeint hat. Als Terminus a quo ergibt sich also 1806. Die bevorstehende Reise Knebels, auf die am Schluß des kurzen Briefes Bezug genommen wird, führt noch einen Schritt weiter. Hoffmeister stellt

101 102 103 104

K. Fischer: Hegels Leben, Werke und Lehre. Bd 2. 1245. Briefe. Bd 3. 473 f; s. auch zum folgenden. Briefe. Bd 3. 359. S. [F. Unger:] Bekenntnisse einer schönen Seele. Berlin 1806. 4 f, 380.

Heinz Kimmerle

172

bereits heraus, daß durch diesen Bezug eine Entstehung desBillets in Hegels Bamberger oder Nürnberger Zeit ausgeschlossen wird105. Da

Knebel

erst im Jahre 1805 von Ilmenau nach Jena zog 106 und Hegel am 1. 3. 1807 nach Bamberg übersiedelte, begrenzt sich schon durch diese Daten die ge¬ meinsame Jenaer Zeit von beiden, die für die im Brief vorausgesetzte Situation angenommen werden muß. Aus dieser Zeit finden sich nun im Briefwechsel Jean Paul

Knebels

zwei Spuren einer Reise. Am 9. 9. 1805 schrieb

aus Bayreuth über einen zweitägigen Besuch

Knebels,

der ihm

allzuschnell vorübergerauscht war 107. Und am 8. 8. 1806 äußerte Amalia, Knebel

Anna

die Herzogin von Sachsen-Weimar, ihre Freude darüber, daß zufrieden war „von den paar Tagen, die Sie bei mir zu Tiefurt

zugebracht haben" 108. Da die Herzogin zu Treffen auf dem Tiefurter Schloß, bei denen literarische und gesellige Unterhaltung gepflegt wurde, in der Regel eine ganze Anzahl ihr bekannter Persönlichkeiten einlud, läßt sich denken, daß von Jena aus eine „ganze Reisegesellschaft" dorthin auf¬ brach. Von dem letzten Datum ausgehend ergäbe sich eine Ansetzung auf Ende Juli 1806, denn die Herzogin antwortete — wie es scheint — auf eine Mitteilung

Knebels;

„ein paar Tage" war dieser in Tiefurt gewesen; dann

kommen die Reisetage hinzu; und Hegel schrieb zeitig genug vor Antritt der Reise, daß

Knebel

ihm noch Bücher zustellen konnte.

Zu dieser Ansetzung paßt auch der handschriftliche Befund des Briefes. Es findet sich darin kein einziges Balken-s: weder im sch noch in der ein¬ fachen Form, auch keine abgeschwächte Form dieser Schreibweise des s. Das ist in der Jenaer Zeit ganz ungewöhnlich. Neben einigen Stücken aus dem Frühjahr 1801, das hier nicht in Frage kommt, gibt es nur eine Paral¬ lele: Hegels Brief an

Goethe

vom 30. 6. 1806 (A 36), der denselben

Schriftbefund aufweist und der das einzige erhaltene handschriftliche Do¬ kument Hegels aus dem Sommer 1806 darstellt. Von den gewiß sehr zahl¬ reichen Mss zur Phänomenologie des Geistes aus dieser Zeit ist nichts er¬ halten geblieben. Die Abfassungszeit des undatierten Briefs an

Goethe (A 53)

ist von

bei der Erstveröffentlichung richtig auf Ende Januar 1807 be¬ stimmt worden 109. Genthe

105 S. Briefe. Bd 3. 474. 106 K. L. von Knebel's literarischer Nachlaß und Briefwechsel. Hrsg, von K. A. Varnhagen von Ense und Th. Mundt. Leipzig 1835. Bd 1. XLIX. 107 Ebd. Bd 2. 423. 108 Ebd. Bd 1. 213 f; s. zum folgenden XXXVIII und Bd 2. 456. 109 Goethe-Jahrbuch. 16 (1895), 75; vgl. Hegel: Briefe. Bd 1. 467 f.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

173

Die Maximen des Journals der deutschen Literatur (Nr 82) werden in einem Brief Schelvers an Hegel von Ende Januar 1807 erwähnt. Schelver bat um Hegels Pro memoria über den Plan einer kritischen Zeitschrift uo. Über eine Antwort Hegels vom 23. 2. 1807 (A 56), der das Pro memoria offenbar noch nicht beigelegen hat, sind wir durch eine Erwähnung in dem Brief an Schelling unterrichtet, den Hegel an demselben Tag geschrieben hatte (A 55). — Auf Februar/März 1807 als Entstehungszeit für Nr 82 verweist auch die Schlußwendung des Ms: „Mit Julius 1807 wird an¬ gefangen". Das Erscheinen einer Zeitschrift wird wenigstens drei bis vier Monate vorher geplant worden sein. Wenn es schließlich doch nicht dazu kam, daß die geplante Zeitschrift erscheinen konnte, hing dies gewiß auch damit zusammen, daß Hegel im März 1807 endgültig nach Bamberg ging, um die dortige politische Zeitung herauszugeben. Schließlich erwähnt Rosenkranz in einem Brief an K. Hegel noch einen „Wust von mathematica" (Nr 83). Da es sich vor allem um Exzerpte und Notizen handelt, liegt es nahe, daß sie von Hegel für seine Vorlesungen über Arithmetik und Geometrie niedergeschrieben worden sind, die er zu¬ erst für das Wintersemester 1805/06 angekündigt und nach den Lehr¬ büchern von Stahl und Lorenz gehalten hat m. Es ist jedoch auch möglich, daß sie — oder wenigstens Teile daraus — aus Frankfurt oder aus dem An¬ fang der Jenaer Zeit stammen. Denn wir haben vom Ende der Frankfurter Periode die auf einer Reise in Mainz entstandenen „Geometrischen Stu¬ dien" 112, und in den Habilitationsthesen vom August 1801 fand Hegels Interesse an der Mathematik ebenfalls einen Niederschlag (s. Thesen III und IV). Solange wir von diesen Mss über die Angaben von Rosenkranz hinaus nichts Näheres wissen, ist eine genauere Datierung nicht möglich. Es bleibt noch zu bemerken, daß einige Stücke, die nach der bisherigen Auffassung in Jena entstanden sind, nicht in diese Zeit gehören. Der Auf¬ satz Wer denkt abstract? (Ms: Nachl. Bd 3), der von Glöckner im An¬ schluß an Rosenkranz unter den „Vermischten Schriften aus der Berliner Zeit" veröffentlicht worden ist113, wurde von Hoffmeister für die „Je¬ naer Zeit (1807/08)" in Anspruch genommen 114. Dem handschriftlichen Befund nach paßt dieses Stück gut in die Jahre

110

Briefe. Bd 1. 140; s. zum folgenden 152. 111 S. in diesem Band 55 mit Anm. 2. 112 Dokumente. 288—300. 113 Zuerst in Werke. Bd 17. 400—405; in der Jubiläumsausgabe: Bd 20. 445—450. Zur Einordnung in die Berliner Zeit vgl. Rosenkranz: Hegels Leben. 355. 114 Hegel: Berliner Schriften. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1956. XIII Fußnote.

Heinz Kimmerle

174

1807/08. In dieser Zeit zeigt sich eine Zunahme der Häufigkeit des Peitschen-s im sch bei relativ geringer Verwendung in der einfachen Form — nicht unähnlich den Schriftmerkmalen vom Herbst bis Winter 1803, aber mit deutlicher ausgeschriebenem Balken-s. Die rückläufige Tendenz, ck wie heute zu schreiben („ausdrücken"),- führt inzwischen dazu, daß schon in den Maximen (Nr 82) 75 v. h. k statt ck gesetzt werden („ausdrüken"). Die in beiden Merkmalen zu beobachtende Tendenz setzt sich fort in dem von

Pöggeler

auf die Zeit des Übergangs von Bamberg nach Nürnberg

datierten Logikfragment115 und in den ersten Nürnberger Manuskripten. Für den Aufsatz Wer denkt abstract? kommt als Beleg für die Datierung hinzu, daß darin auf das Morgenblatt für gebildete Stände Bezug genom¬ men wird, das seit dem 1. 1. 1807 erschien. Ein Preisausschreiben für eine Satire, von dem Hegel spricht, wurde im Morgenblatt schon am 2. 1. 1807 bekannt gegeben; Einlieferungstermin war der 1. 7. 1807 116. Da sich das Hegelsche Ms mit 44,1 v. H. Peitschen-s (mit „Balken") im sch bei 24,6 v. H. in der enfachen Form doch schon erheblich von den Maximen (18,3 v. H. Balken-s im sch, 16,1 v. IT. in der einfachen Form) unterschei¬ det, ist für die Abfassung die Zeit von frühestens April bis 1. 7. 1807 anzunehmen. Vom März 1807 an war Hegel jedoch fest in Bamberg an¬ gestellt 1X7, und die Schriften, die er seit dieser Zeit verfaßt hat, rechnen wir nicht mehr zur Jenaer Periode. Das Stück Prädicats darin, daß . . . aus den Manuskripten, die sich in der Harvard-Universitätsbibliothek befinden, hat

Hoffmeister

unter dem

Titel „Zur Lehre von den Schlüssen" als aus der Jenaer Zeit stammend veröffentlicht118. Hier ist von der Handschrift her zu sagen, daß es nicht in die Jenaer Zeit gehören kann. Es hat 76,6 v. H. Peitschen-s (mit „Bal¬ ken") im sch bei 15,4 v. H. in der einfachen Form. 86,7 v. H. k statt ck („ausdrüken") verbieten es, an den Herbst 1803 zu denken. Vergleichbare Schriftmerkmale finden sich jedoch in der Nürnberger Zeit, z. B. in Hegels Logik für die Unterklasse des Gymnasiums, die am 30. 10. 1809 begonnen worden ist119. Darin sind 65,2 v. H. Peitschen-s (mit „Balken") bei 17,7 v. H. in der einfachen Form und 83,3 v. H. k statt ck („ausdrüken") ent¬ halten. Die Ausarbeitung „Zur Lehre von den Schlüssen" wird also ver¬ mutlich kurz nach diesem Ms entstanden sein. 115 Hegel-Studien. 2 (1963), 47—60. 116 Morgenblatt f. gebildete Stände. 1 (1807), Nr 2. 7.

117 118 119

Vgl. W. R. Beyer: Zwischen Phänomenologie und Logik. Frankfurt/M. 1955. 35. Dokumente. 325—335.

Hegels propädeutische Logik für die Unterklasse des Gymnasiums. Hrsg, und besprochen von F. Nicolin. In: Hegel-Studien. 3 (1965), 9—38; zum Datum siehe 10 und 30.

Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften

Zwei Briefe an 6. 12. 1804), die Hoffmeister

Goethe Genthe

175

aus Hegels Jenaer Zeit (vom 3. 8. 1803 und vom als Briefe Hegels herausgegeben hat und die von

in seine Ausgabe des Hegelschen Briefwechsels übernommen

worden sind 120, stammen in Wahrheit nicht von Hegel, wie Günther Nicolin in diesem Band (109—111) gezeigt hat. Zum Schluß ist noch ein Wort über die handschriftlichen Notizen in einem Exemplar des gedruckten Thesenblattes für Hegels Habilitations¬ disputation (Nr 16) zu sagen, das zu den Beständen der ehemals Preußi¬ schen Staatsbibliothek in Berlin gehört121. Nach einer Mitteilung der Deut¬ schen Staatsbibliothek sind die Thesen aufgrund einer Angabe im Katalog „mit handschriftlichen Anmerkungen dessen Handexemplar der Band war".

Schellings

(nicht Hegels!) versehen,

Daß dieses Exemplar des Thesenblattes mit der angebundenen Habili¬ tationsdissertation 1889 der damals Königlichen Bibliothek offensichtlich von Karl

Hegel

zusammen mit der Hauptmasse des Hegel-Nachlasses

übereignet worden ist122, legt den Gedanken nahe, daß es sich um Hegels und nicht um

Schellings

Handexemplar handelt. Es kommt hinzu, daß

die Eintragung im handschriftlichen Katalog der Staatsbibliothek nach¬ getragen ist und daß sich nicht mehr ermitteln läßt, auf wen sie zurück¬ geht bzw. welche Überlieferung dafür maßgebend war. Die bloße Tat¬ sache der Einlieferung dieses Exemplars durch den Sohn Hegels besagt in¬ dessen nicht unmittelbar etwas über die Herkunft der darin befindlichen Notizen. Von der Handschrift her sind sie nicht mit Sicherheit für Hegel in Anspruch zu nehmen. Sie sind in lateinischer Schrift sehr flüchtig nieder¬ geschrieben. Ein Vergleich mit lateinisch geschriebenem Text von

Schelling

zeigt, daß sie eher von ihm als von Hegel stammen. 123 Den Ausschlag gibt, daß im Text zweimal in der dritten Person von einem Auctor Doctissimus die Rede ist, womit wohl Hegel als der Ver¬ fasser der zur Diskussion stehenden Thesen gemeint ist, und einmal die Anrede optime fr ater gebraucht wird, die im gegebenen Rahmen nur von

120 Goethe-]ahrbuch. 16 (1895), 56 f; Briefe. Bd 1. 72 und 88. 121 Signatur: Libri impressi c. not. ms. oct. 300; zusammengebunden mit der Habili¬ tationsdissertation (Nr 20), die aber keine handschriftlichen Notizen enthält. Das Exemplar befindet sich in der Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Berlin-Dahlem. 122 Das Thesenblatt hat die Accessionsnummer 227; es liegt damit inmitten der 1889 von Hegels Söhnen eingelieferten Teile des Hegel-Nachlasses, der die Accessionsnummern 224—259 umfaßt. 123 Daß die Notizen mit großer Wahrscheinlichkeit von Schellings Hand herrühren, wurde mündlich von H. Fuhrmans, dem Herausgeber von Schelling: Briefe und Doku¬ mente, bestätigt.

Heinz Kimmerle

176

F.

W.

J.

Schelling

an seinen Bruder Karl oder umgekehrt gerichtet sein

konnte, die beide an der Disputation beteiligt waren. So wird die Ein¬ tragung im Katalog der Staabsbiliothek ihre Richtigkeit haben, aus der aber nicht hervorgeht, um welchen

Schelling

schriftenvergleich verwies uns jedoch auf F.

W.

es sich handelt. Der Hand¬ J.

Schelling,

dessen Hand¬

exemplar möglicherweise schon in Jena, wo er zeitweise mit Hegel zu¬ sammenwohnte, in den Besitz des Freundes übergegangen ist.

MANFRED RIEDEL (MARBURG)

HEGELS KRITIK DES NATURRECHTS

Der Aufsatz des Kritischen Journals der Philosophie (1802/3), in welchem Hegel seine erste große Kritik der bisherigen „wissenschaftlichen Behand¬ lungsarten des Naturrechts" entwickelt, hat in der Hegelliteratur, was einzelne Partien betrifft, eine höchst widersprüchliche, im ganzen aber eine annähernd einheitliche Beurteilung erfahren. Sie läßt sich etwa dahin¬ gehend zusammenfassen, daß, wenn man von den Dunkelheiten einiger seiner Partien absieht, der Naturrechts-Aufsatz bereits die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) enthalte. Wie in anderen Fällen, so ist auch hier die literarische Quelle der Beurteilung das Hegelwerk von Karl kranz.

Nach

Rosenkranz

Rosen¬

hat Hegel in der Rechtsphilosophie seines Man¬

nesalters alle Begriffe nur gesonderter, mit größerem Detail, in einer kunst¬ reicheren Systematik dargestellt, wogegen die Originalität ihrer Konzep¬ tion in der „jugendlichen Gestalt" des Journalaufsatzes vorliege, die sie „schöner, frischer, ja teilweise wahrer" ausdrücke kranz

1. Dem Urteil von Rosen¬

folgen die für den Neuhegelianismus der Zeit zwischen 1910 und

1945 repräsentativen Hegeldarstellungen von Theodor mann

Glöckner.

Am weitesten geht dabei

Glöckner,

Haering

und Her¬

der lapidar feststellt,

daß Hegel mit dem Naturrechtsaufsatz, noch vor der endgültigen Ausbil-

In diesem Aufsatz zitieren wir Hegels Arbeiten wie folgt: Nat. = Uber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts GuW. Diff

= Glauben und Wissen = Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie

Die Seitenzahlen hierzu beziehen sich auf Hegel: Werke. Bd 1. Berlin 1832. (Damit ist zugleich erschlossen Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Hrsg. v. H. Glöck¬ ner. Bd 1. Stuttgart 1927 u. ö., da hier die Paginierung der ersten Ausgabe mit an¬ geführt wird.) — Ferner: SdS = System der Sittlichkeit. Seitenzahlen dazu nach Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. v. G. Lasson. Leipzig 1913.

1

K. Rosenkranz: Hegels leben. Berlin 1844. 173 f.

178

Manfred Riedel

düng seiner dialektischen Methode, als Ethiker „fertig" vor uns hintrete 2. Wir fragen: ist das richtig? Es kann nun nicht bestritten werden, daß der Aufsatz in der Fülle des Stoffes und seiner relativ durchsichtigen systemati¬ schen Disposition alle früheren Arbeiten des jungen Hegel übertrifft. Strittig aber ist, ob und inwieweit Hegel in der Disposition der Grund¬ begriffe über sie hinaus gelangt sei. Diese Frage wird im Neuhegelianis¬ mus durch das inhaltliche Interesse an den Begriffen der „absoluten Sitt¬ lichkeit" (Volk, Regierung etc.) übersprungen. Um sie entscheiden zu können, bedarf es der Reflexion auf die die ethisch-politischen Kategorien des Hegelschen Naturrechts fundierenden theoretischen Grundbegriffe, zu¬ nächst und zuerst auf den Begriff der „Natur". Daß diese an sich nahe¬ liegende Frage von der älteren Hegelliteratur nicht gestellt wird, ist um so verwunderlicher, als Hegel selbst den Zusammenhang von Natur und Recht, wie er im Titel des „Naturrechts" zum Ausdruck kommt, der Re¬ flexion bedürftig gehalten hat. An ihm läßt sich der Entwicklungsgang der Hegelschen Rechtsphilosophie und darüber hinaus die Stellung ablesen, die sie innerhalb der Geschichte des neueren Naturrechts einnimmt. Es wird sich zeigen, daß beide Momente von der Einsicht abhängig sind, die Hegel in die ontologischen Fundamente seiner Philosophie gewinnt. Er tritt erst dann als Ethiker „fertig" vor uns hin, wenn die Begründung der dialektischen Methode soweit fortgeschritten ist, daß sie auch im Gebiet des Naturrechts den Leitfaden der Auseinandersetzung mit dessen über¬ lieferten Begriffen abgeben kann.

I. Es ist für den systematischen und geschichtlichen Stellenwert des Journal¬ aufsatzes von zentraler Bedeutung, daß er sich in seinem kritischen Teil auf eine Auseinandersetzung mit dem neueren Naturrecht beschränkt. Nach Hegel hat es im Gange seiner Geschichte zwei einander entgegen¬ gesetzte wissenschaftliche Behandlungsarten ausgebildet, die „empirische" des 17. und die „formelle" des späten 18. Jahrhunderts. Diese sondert aus der Vielheit der natürlichen und sittlichen Verhältnisse, die für sie das Wesen der praktischen Empirie ausmachen, einzelne Momente wie Selbst¬ erhaltungstrieb, Geselligkeit, Ungeselligkeit usf. ab, gibt ihnen die Form der Begriffseinheit und erhebt sie schließlich zu Grundsätzen des von ihr

* H. Glöckner: Hegel. Bd 2. 2. Aufl. Stuttgart 1958. 302. Vgl. auch Th. Haering: Hegel. Sein INollen und sein Werk. Bd 2. Leipzig u. Berlin 1938. 389 f, 404 f.

Hegels Kritik des Naturrechts

179

angestrebten wissenschaftlichen Systems; jene sondert die Form der Ein¬ heit, die ihr das Wesen der praktischen Vernunft ist, von der Empirie, fixiert sie im Begriff des reinen Willens für sich und setzt ihn der Vielheit der empirischen Verhältnisse gegenüber. Obzwar zwischen beiden ein spezifischer Unterschied darin besteht, daß das Piinzip der einen „Ver¬ hältnisse und Vermischungen der empirischen Anschauung und des All¬ gemeinen, das der anderen aber absoluter Gegensatz und absolute All¬ gemeinheit ist", sind für Hegel die „Ingredienzien" der Systeme, An¬ schauung und Begriff, und ihre Behandlungsart, das Absondern und Fixieren von Bestimmtheiten, deren Entgegensetzung oder unvollständige Verknüpfung, dieselben 3. Die gemeinsame Basis ist die Trennung von Sittengesetz (lex moralis sive naturalis) und empirischer Natur, von der die „neuere Bestimmung des Begriffs des Naturrechts, und seines Ver¬ hältnisses in der ganzen Wissenschaft des Sittlichen, abhängt"4. Hegel verdeutlicht das am Beispiel der „empirischen" Behandlungsart des 17. Jahrhunderts. In dem Bestreben, die praktische Empirie der Einheit des Begriffs zu unterwerfen, wird die reine Empirie, in der jedes Moment der Natur mit dem anderen gleichursprünglich wäre, methodisch vernichtet und das „Chaos", ein privativer Naturbegriff, zum Ausgangspunkt des Systems erhoben. An die Stelle der positiven, von einer „reinen" Empirie aufgefaßten Natur, in der die „Stellung des Mannigfaltigen" unverrückt ist, tritt ein negativer Begriff von ihr, — entweder unter dem „Bild des Seyns durch Phantasie" als Naturzustand, oder unter der „Form der Mög¬ lichkeit und Abstraktion" als eine Aufzählung Vorgefundener anthropo¬ logischer Vermögen, der Natur des Menschen 5. Aus der negativen Einheit dieser Bestimmungen, des Naturstandes und der menschlichen Natur, ver¬ mag aber die positive des sittlichen Zustands, von der sie abstrahiert, nicht abgeleitet zu werden. Daher muß die empirische Behandlungsart als Grund des Übergangs andere natürliche Bestimmtheiten (wie Geselligkeitstrieb und Todesfurcht) voraussetzen bzw. zu positiv-geschichtlichen (wie Unter¬ jochung des Schwachen durch den Mächtigen) ihre Zuflucht nehmen 6. Die für das Naturrecht des 17. Jahrhunderts charakteristische System¬ basis, die Privation der Natur, erreicht für Hegel ihre Vollendung in der Kantisch-Fichteschen Philosophie. Während er dort anerkennt, daß die sittliche Totalität — in den Systemen von

3 4 5

Vgl. Nat. 328 ff, 332.

Nat. 359. Nat. 333 f. « Nat. 337.

Hobbes, Spinoza, Pufendorf —

Manfred Riedel

180

zu einer wenn auch nur „formlosen und äußeren Harmonie" gelangt, ist hier Hegels Absicht zu zeigen, wie der Formalismus des idealistischen Naturrechts „es vergebens zu einer positiven Organisation zu bringen sucht"7. Die unvollständige Trennung von Natur und Begriff, die der empirischen Behandlungsart den Rückgriff auf einzelne Bestimmtheiten des Natürlichen ermöglichte, macht einer vollständigen, der „absoluten" Entgegensetzung Platz; die Natur erscheint in den idealistischen Systemen als wesenlose Abstraktion des Vielen, der eine ebenso wesenlose Abstrak¬ tion des Einen, die praktische Vernunft, gegenübersteht 8. Auf die Konse¬ quenzen, die sich aus diesem Ansatz für die Prinzipien des Naturrechts und die Konstruktion der „Gemeinschaft der Menschen" ergeben müssen, hatte Hegel bereits in der Abhandlung über die Differenz des Fichte'schen und Schelling'sehen Systems der Philosophie (1801) hingewiesen. Die dort gewonnenen Resultate, die im Journalaufsatz nicht wiederholt, sondern vorausgesetzt werden, sind der Sache nach das Gegenstück zur Kritik der empirischen Behandlungsart des Naturrechts. Nach Hegel kommt der Natur bei

Kant,

vor allem aber bei

Fichte,

nur noch insofern eine Bedeutung zu,

als sie im Verhältnis der Abhängigkeit vom Begriff steht. An dieser Ab¬ hängigkeit, die

Fichte

zum Extrem der Herrschaft des Begriffs über die

Natur steigert, ändert sich auch dadurch nichts, daß diese, an sich bewußt¬ lose Produktion des Ich, selbst Ich ist; als äußere Natur („Bestimmtheit") wird sie in

Fichtes

Naturrecht nur deduziert, um die „bestimmte Natur"

des Ich, die Triebnatur, zu erklären9. „Das Handeln der Intelligenz im Naturrecht", so faßt Hegel seine Kritik zusammen, „hatte die Natur nur als eine modifikable Materie producirt; es war also kein freies, ideales Handeln, kein Handeln der Vernunft, sondern des Verstandes." 10 Der Zerstückung der Natur durch den Begriff, die sich in

Fichtes

System

„in ihrer ganzen Härte" ausdrückt* 11, stellt Hegel einen Begriff von Natur-

7 Vgl. Nat. 329 u. 337. 8 Nat. 345. 9 Vgl. Diff. 226 ff. Der besondere Stellenwert des Naturbegriffs in Hegels Kritik ergibt sich aus ihrem philosophischen Ansatz, der von Schelling übernommenen Me¬ thode des Objektivsetzens der transzendentalen Anschauung. Vgl. 226: „Das Fest¬ halten an der Subjektivität der transcendentalen Anschauung, durch welches Ich ein subjektives Subjekt-Objekt bleibt, erscheint in dem Verhältnis des Ich zur Natur am Auffallendsten, theils in der Deduktion derselben, theils in den darauf sich gründen¬ den Wissenschaften." 10 Ebd. 247 f. Vgl. auch GuW. 140 ff. 11 Vgl. Diff. 234: „In der Darstellung und Deduktion der Natur, wie sie im System des Naturrechts gegeben ist, zeigt sich die absolute Entgegensetzung der Natur und der Vernunft ... in ihrer ganzen Härte." Wie die Natur „Gesetztsein durch Ich" (226) so ist die Freiheit ein „bloß Negatives" (237), die absolute Unbestimmtheit, deren Be-

Hegels Kritik des Naturrechts

181

recht gegenüber, der den ursprünglichen Zusammenhang von Recht und Natur wieder zur Geltung zu bringen versucht. Er sieht die Aufgabe des Naturrechts darin, das „wahrhaft Positive, seinem Namen nach", zu kon¬ struieren, — „daß es konstruiren soll, wie die sittliche Natur zu ihrem Recht gelangt" 12. Das Positive, das der Name des Naturrechts in sich schließt, führt Hegel zur Methode der absoluten Position von Natur und Sittlichkeit, die der ersten Entwicklungsphase seiner Rechtsphilosophie eigentümlich ist13. Das heißt aber nichts anderes, als daß er in der Aus¬ einandersetzung mit dem in den neueren Systemen des Naturrechts grund¬ gelegten privativen Naturbegriff genötigt wird, an die ihnen geschichtlich vorausliegende Naturtheorie des Rechts und der Gesellschaft wieder anzu¬ knüpfen. Darin liegt die Bedeutung von Hegels terminologischem und sachlichem Anschluß an

Schelling,

wie sie uns in den Schriften der frühen

Jenenser Zeit begegnet. Der Naturbegriff, den er der Naturphilosophie entlehnt, ist der traditionell-teleologische, dessen naturrechtliche Begrün¬ dungsfunktion Hegel erneut fruchtbar zu machen unternimmt13a. Das

Stimmung nur im perennierenden Beschränken ihrer selbst möglich ist, — „und der Begriff des Beschränkens konstituirt ein Reich der Freiheit, in welchem jedes wahrhaft freie, für sich selbst unendliche und unbeschränkte, d. h. schöne Wechselverhältnis des Lebens dadurch vernichtet wird, daß das Lebendige in Begriff und Materie zer¬ rissen ist, und die Natur unter eine Botmäßigkeit kommt" (236 f). Daß Fichte die Natur nicht als Lebendiges, Selbständiges, Wirkendes, als „Äußerung der innern Fülle und Kraft der Körper" (248) faßt, hebt Hegel immer wieder hervor. Vgl. 230: „Die Natur ist hiermit sowohl in theoretischer als in praktischer Rücksicht ein wesentlich Bestimmtes und Todtes"; 232: der Vernunft bleibt bei Fichte nichts als die „Idee der Unabhängigkeit des Ich, und des absolut Bestimmtseyns der Natur, die als ein zu Negirendes, als absolut abhängig gesetzt ist"; 233: „Der transcendentale Gesichts¬ punkt ... zieht die Subjekt-Objektivität aus dem, was als Natur erscheint, heraus, und dieser bleibt nichts als die todte Schale der Objektivität"; 235: der „Grund¬ charakter der Natur" ist, ein „absolut Entgegengesetztes zu seyn". Vgl. CuW. 136 f, 140, 142. 12 Nat. 397. Diese Stelle ist von H. Glöckner übersehen worden, der irrtümlicher¬ weise behauptet, daß Hegel im Journalaufsatz die Rechtsphilosophie nur deshalb als Wissenschaft des Naturrechts bezeichne, weil es im 18. Jahrhundert keinen anderen Titel gab und nicht, „weil er etwa selbst jenen Standpunkt vertritt, welchen wir heute als naturrechtliche Denkweise bezeichnen". Vgl. Glöckner: Hegel. Bd 2. 304. 13 Vgl. Nat. 372: um den wahren Begriff des Naturrechts und sein Verhältnis zu den praktischen Wissenschaften bestimmen zu können, muß die „Seite der Unendlich¬ keit" herausgehoben, d. h. das „Positive" vorausgesetzt werden, daß „die absolute sittliche Totalität nichts Anderes als ein Volk ist". Vgl. ferner SdS. 415, 406 f, 462; Diff. 242. i3a Vgl. GuW. 141 u. 148, wo Hegel den „Gehorsam gegen das ewige Gesetz dei Natur und der heiligen Notwendigkeit" das Prinzip der wahren Sittlichkeit nennt. Die Natur ist hier „das Lebendige selbst, das sich in dem Gesetz zugleich allgemein setzt, und in dem Volke wahrhaft objektiv wird" (149). Vgl. SdS. 460 f.

182

Manfred Riedel

Eigentümliche dieser Naturtheorie ist, daß sie nicht in Form einzelner Be¬ stimmtheiten, sondern als ganze in das System der Sittlichkeit eingeht; sie steht weder im Gegensatz zu einem wie auch immer verstandenen absolu¬ ten Begriff (Ich, Freiheit, Vernunft) noch als privative Theorie des Natur¬ stands der positiven Macht des Rechtszustandes gegenüber; das eine nicht, weil die „sittliche Natur" den Begriff (der reinen Einzelheit und Allgemein¬ heit) in sich vereinigt14, das andere nicht, weil dieselbe Natur „den Natur¬ stand und die Majestät als schlechthin identisch" enthält, — die Majestät des Rechtszustandes ist für Hegel „selbst nichts anderes als die absolute sittliche Natur" 15. In Übereinstimmung mit der klassischen Tradition des Naturrechts werden Natur- und Sittengesetz unmittelbar aufeinander be¬ zogen. Der Status civilis gilt wieder als die Realisierung und nicht als Überwindung des Seins der Natur. „Das Natürliche aber", sagt Hegel unter Anspielung auf die Theorie des Status naturalis bei

Hobbes

und

seinen Nachfolgern, „welches im sittlichen Verhältniß als ein Aufzugeben¬ des gedacht werden müßte, würde selbst nichts Sittliches seyn, und also am wenigsten dasselbe in seiner Ursprünglichkeit darstellen" 16. Genau dies ist der Punkt, von dem Hegel in seiner Kritik des neueren Naturrechts ausgeht: einen Begriff von Natur zu denken, der nicht ein „Aufzugebendes", sondern selbst „sittlich", die „sittliche Natur" wäre 17. Das Sittliche als „Natur" denken heißt nach Hegel: das Bestehen aller seiner Potenzen, deren Realität und Einheit mit der Notwendigkeit denken. Denn: „Die Einzelheit des Individuums ist nicht das Erste, sondern die Lebendigkeit der sittlichen Natur, die Göttlichkeit, und für ihr Wesen ist das einzelne Individuum zu arm, ihre Natur in ihrer ganzen Realität auf¬ zufassen." 18 Die vieldeutige Wendung soll also die Priorität des sittlichen

14 Nat. 395. 15 Nat. 338. 16 Nat. 338. — Der im Prinzip teleologische Naturbegriff motiviert übrigens die Gleichsetzung der dargestellten „sittlichen Natur" mit dem Begriff der „Organisation" (der Vernunft bzw. Natur) und dessen Abhebung vom Begriff der „Maschine", dem naturrechtlichen „Verstandesstaat". Vgl. Diff. 242. 17 Die Wendung kehrt im System der Sittlichkeit und im Journalaufsatz immer wie¬ der und kann in gewisser Hinsicht als konstitutiv für Hegels frühe Naturrechtsauf¬ fassung gelten. Vgl. SdS. 443, 471, 473, 478; Nat. 338, 347 f, 369, 393, 397. 18 SdS. 470 f. — Der Einzelne vermag für Hegel das Sittliche nur „momentan", d. h. in der Zeit, und partikular auszudrücken; das Negative, das er ist, wird durch die Negation der Zeit gesetzt, so daß die Einheit („Indifferenz") des Sittlichen an ihm nur „formal" und nicht „reell" ist; daraus folgt ihre Identifizierung mit der Natur: ,,... das Sittliche muß als Natur, als Bestehen aller Potenzen und jede in ihrer leben¬ digen Gestalt sich auffassen, eins sein mit der Notwendigkeit und als relative Identi¬ tät bestehen" (471).

Hegels Kritik des Naturrechts

183

Ganzen vor seinen Teilen, den Individuen, und das selbständige Bestehen aller Momente, die es konstituieren, zum Ausdruck bringen. Dabei wird der Begriff der Natur offenbar in zweifacher Hinsicht gebraucht, 1. als Totalität, im Sinne von im Sinne von

Spinozas

Aristoteles'

„deus sive natura", und 2. als „Wesen",

Lehre, daß die Polis „der Natur nach eher"

als der Einzelne sei. Die Sittlichkeit, heißt es parallel zu dieser Stelle im Naturrechtsaufsatz, kann sich „nicht im Einzelnen ausdrücken, wenn sie nicht seine Seele ist, und sie ist es nur, insofern sie ein Allgemeines und der reine Geist eines Volkes ist. Das Positive ist der Natur nach eher als das Negative, oder, wie

Aristoteles

es sagt: ,Das Volk ist eher der Natur

nach, als der Einzelne'." 19 Die doppelte Fassung dieses Grundsatzes zeigt, daß sich Hegel bei der naturrechtlichen Konstruktion dessen, was er die „sittliche Natur" nennt, gleichzeitig auf ruft 20. Was

Spinoza

Aristoteles

und

Spinoza

be¬

allgemein vom Wesen des Endlichen gelehrt hatte 21,

daß es das Negative sei, welches für sich nicht zu bestehen vermag, wird mit

Aristoteles'

relativ spezieller, d. h. politischer These, daß der Ein¬

zelne abgesondert nichts Selbständiges, sondern „von Natur" auf die Polis angewiesen ist, gleichgesetzt. Uns interessieren hier nicht die Gründe, die ontologisch eine solche Gleichsetzung nahelegen bzw. motivieren. Wichtig ist, daß Hegels Rückgriff auf

Spinoza

nicht dessen von

Aristoteles

erheb¬

lich unterschiedenes Natur- und Staatsrecht, sondern nur jene Lehren seiner Metaphysik berücksichtigt, die sich mit

Aristoteles'

Politik oder

Platos

Politeia einigermaßen parallelisieren lassen. Ja, man kann sagen, daß sich Hegel im Zusammenhang der Naturrechtskritik der spinozistischen Meta¬ physik vorzüglich deshalb bedient, um die Konstruktion der „absoluten Sittlichkeit", deren Bau-Elemente er der klassischen Politik entlehnt22,

19 Nat. 396. 20 Es ist das Verdienst von K.-H. Ilting, diesen wichtigen, bisher nicht genügend beachteten Ansatz der Rechts- und Staatslehre des jungen Hegel nachdrücklich hervor¬ gehoben zu haben. Vgl. Ilting: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: Philos. Jahrbuch. 71 (1963/64), 38—58. 21 Vgl. Eth. P. I, Propos. VIII, Schob I. Diesen Passus zitiert Hegel in GuW. 64. 22 Die der Entlehnung zugrundeliegende Idee, die bei Hegel selbst nicht so klar heraustritt, hat Schelling in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802) angegeben: „Die wissenschaftliche Konstruktion des Staats würde, was das innere Leben desselben betrifft, kein entsprechendes historisches Element in den späteren Zeiten finden." Werke. Hrsg. v. Schröter. München 1927. Bd 3. 335. Vgl. auch 315. Wahrscheinlich berücksichtigen diese Stellen bereits die Hegelschen Rekonstruktionsversuche oder beziehen sich auf Gespräche mit Hegel, wobei es nicht ausgeschlossen ist, daß die Ausführung auch von Schelling beeinflußt worden ist. Zu weiteren Übereinstimmungen vgl. Schelling a.a.O. 314 (über die Prinzipien der Diffe¬ renz zwischen antikem und modernem Staat) mit Hegel: Nat. 383 ff.

Manfred Riedel

184

reiner herausarbeiten zu können. Dabei gibt er der Lehre von der unend¬ lichen Substanz, die „der Natur nach früher" als ihre Affektionen ist 23, einen politisch-praktischen Sinn, den sie für

Spinoza

ebensowenig hat wie

die Lehre vom „amor Dei intellectualis", die als „intellektuelle Anschau¬ ung" der „absoluten Sittlichkeit" verstanden wird. „Die Ansicht der Philo¬ sophie von der Welt und der Notwendigkeit", sagt Hegel unter offen¬ kundiger Anspielung auf

Spinoza,

„nach welcher alle Dinge in Gott sind,

und keine Einzelheit ist, ist für das empirische Bewußtsein vollkommen realisiert, indem jene Einzelheit des Handelns oder Denkens oder Seins ihr Wesen und Bedeutung ganz allein im Ganzen hat . . ." 24. Durch die Einbeziehung des

Spinoza

in die Kritik des neueren Naturrechts werden

die Grundsätze der klassischen Politik, die der Maßstab dieser Kritik sind, metaphysisch potenziert. Der „positive", die absolute Priorität des sitt¬ lichen Ganzen vor seinen Teilen und die Notwendigkeit dieses Verhält¬ nisses ausdrückende Begriff von Natur, den Hegel seinem Naturrechts¬ begriff zugrundelegt, macht es unmöglich, der Stellung des Einzelnen eine andere als bloß „negative" Bedeutung beizumessen 25. So kommt es dazu, daß Hegel auf der ersten Entwicklungsstufe seiner Rechtsphilosophie das neuere Naturrecht vom Standpunkt der klassischen Politik aus einer ver¬ nichtenden Kritik unterzieht. Die Denkmittel der spinozistischen Meta¬ physik haben diese Kritik radikalisiert, ja mehr noch, Hegel zunächst an einem geschichtlich adäquaten Verständnis des neueren Naturrechts über¬ haupt gehindert.

II. Der Punkt, von dem seine Kritik einzelner Theoreme des Naturrechts aus¬ geht und auf welchen sie immer wieder zurückkommt, ist, daß in ihnen das „Seyn der Einzelnen als das Erste und Höchste" gesetzt wird. Auf der Stufe einer „niedrigem Abstraktion" erscheint die moderne „Absolutheit des Subjekts" in der Glückseligkeitslehre der Aufklärung; das Naturrecht

23 Vgl. Eth. I, Propos. I; Def. 3 et 5. 24 SdS. 465, mit dem vorhergehenden Satz: „In der Sittlichkeit ist also das Indivi¬ duum auf eine ewige Weise; sein empirisches Sein und Tun ist ein schlechthin all¬ gemeines; denn es ist nicht das Individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm." 25 Wenn das sittliche Bewußtsein, wie es sich in der neueren Moral- und Rechts¬ philosophie ausspricht, zwischen das „Einssein des Allgemeinen und Besonderen, da¬ von jenes der Grund ist, irgend eine andere Einzelheit als Grund einschiebt", so er¬ klärt es Hegel einfach zum „nicht sittliche [n] Bewußtsein". Vgl. SdS 466, auch Nat. 349.

Hegels Kritik des Naturrechts

erhebt sie in den Systemen, „welche antisocialistisch heißen" Rousseau),

185

(Hobbes,

zur Theorie, die in der KANTisch-FicHTEschen Philosophie zur

Verständigung über sich selbst, ihren „Begriff" gelangt 2G. Dieses Prinzip verkehrt im Naturrecht des 17. Jahrhunderts die Momente der absoluten Sittlichkeit zu den besonderen „Wesenheiten" des Natur- und Rechts¬ zustandes, in denen die Einzelheit je verschieden fixiert ist: im Natur¬ zustand als die absolute Freiheit, im Rechtszustand als absolute Unter¬ würfigkeit der Subjekte. Die vorausgesetzte Freiheit bedingt die Unter¬ werfung unter eine dem Einzelnen äußerliche und darum selbst einzelne und besondere Gewalt. Das Aufheben der Einzelheit ist jedoch nur Schein; in Wahrheit wird sie durch das Verhältnis des „unterwürfigen Einsseyns" ständig reproduziert. Die sittliche Vereinigung (unio civilis) bleibt ein den vereinigten Vielen Fremdes, eine formlose und äußere Einheit, die das Naturrecht „unter dem Namen der Gesellschaft und des Staats" vor¬ stellt 27. Diese „leeren Namen" kontrastiert Hegel mit der „absoluten Idee der Sittlichkeit". In ihr ist die Einzelheit nicht fixiert und in relativer Identi¬ tät, als ein Verhältnis der Unterwürfigkeit, in welchem sie etwas schlecht¬ hin Gesetztes wäre, sondern „die Einzelheit ist als solche Nichts, und schlechthin Eins mit der absoluten sittlichen Majestät, — welches wahr¬ hafte lebendige nicht unterwürfige Einsseyn allein die wahrhafte Sittlich¬ keit des Einzelnen ist" 28. Wie überall, so ist auch hier der Einzelne das Negative, dessen Bestehen in der absoluten Idee „verflüssigt" werden muß. Selten hat Hegel den Standpunkt der antiken Polissittlichkeit klarer formu¬ liert als zu dieser Zeit; das lebendige Einssein mit dem sittlichen Ganzen, das er vom „unterwürfigen" der naturrechtlichen Staatslehre abhebt, setzt die radikale Negation ihres Ansatzes, das „Nichts des Einzelnen" voraus. Das kehrt in Hegels Kritik am KANTischen und FiCHTEschen Naturrecht wieder. Begriffe wie Freiheit, reiner Wille, Recht der Menschheit sind für Hegel lediglich „reinere Negationen" 29, die den Vorzug haben, das „Für-

26 Nat. 343 f. 27 Nat. 337 f. 28 Nat. 338. 29 Nat. 340 f.— Diese Kritik ist zugleich eine solche seiner eigenen, in den Ent¬ würfen der Berner und Frankfurter Zeit vertretenen Position, die, mit Rousseau, Kant und Fichte, das „unveräußerliche Menschenrecht, aus seinem Busen sich Gesetze zu geben", abstrakt zur Geltung zu bringen suchte. Vgl. Theologische Jugendschriften. Tübingen 1907. 212 f, ferner 42, 53, 71, 139 ff, 173, 188 ff, 365. Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. Hoffmeister. Bd 1. Hamburg 1952. 23 f. Eine erste Modifikation dieses Standpunktes zeichnet sich bereits in den Schriften: Über die neuesten inneren Ver¬ hältnisse Würtembergs (1798) und Die Verfassung Deutschlands (1800—1802) ab, die für unsere Untersuchungen jedoch außer Betracht bleiben können.

Manfred Riedel

186

sich-Seyn und die Einzelnheit" als Prinzip der neueren Systeme der Sitt¬ lichkeit noch klarer zum Ausdruck bringen. Das Verhältnis des „unter¬ würfigen Einsseins"., das im Naturrecht des 17. Jahrhunderts teils inkon¬ sequent, teils das einfache der Herrschaft gewesen war 30, wird, wie Hegel am Beispiel von

Fichte

zeigt, zu einem System des Zwangs, dessen Univer¬

salität das „lebendige" Einssein von Einzelheit und Allgemeinheit vollends unmöglich macht 31. Es ist zwar die „große Seite" der idealistischen Philo¬ sophie, daß sie das Wesen des Rechts und der Pflicht und das Wesen des denkenden und wollenden Subjekts identisch setzt. Dem Identitäts-Prinzip bleibt sie aber nicht treu. Nicht genug, daß seine Geltung durch die Re¬ striktion auf die subjektive Moralität der Handlungen gebrochen und die Trennung — in der Legalität — ebenso absolut gesetzt wird, faßt sie beide als gleichwertig und schlechthin beziehungslos auf. Der Möglichkeit des Einsseins des Subjekts mit dem Wesen des Rechts und der Pflicht (= Mo¬ ralität) steht die Möglichkeit des Nichteinsseins (= Legalität), dem Sy¬ stem der Freiheit das des Zwangs gegenüber 32. So kommt es, daß für Hegel die Moralität, obwohl er ihren Gedanken als

die

„große

Seite"

der

KANTischen

und

FiCHTEschen

Philosophie

würdigt, das Negative der Einzelheit nur in reinerer Form darstellt. Denn das Einssein von Bewußtsein und Pflicht, als bloße Möglichkeit erfahren und von der Legalität abgetrennt, wirft das moralische Subjekt auf seine Einzelheit zurück. Es ist, wie Hegel sagt, nicht das „positive Absolute , was das Wesen von beiden, Moralität und Legalität, aus¬ machte und worin sie eines wären, die „sittliche Natur", sondern das negative oder der „absolute Begriff", welcher derselben, in der oben erörterten

Form,

schlechthin

entgegengesetzt

ist.

Diese

Entgegenset¬

zung innerhalb des idealistischen Naturrechtssystems und die Fixierung des Negativen im Prinzip der Moralität wird nun gleichermaßen mit der Position der „absoluten Sittlichkeit" kontrastiert. Methodisch geschieht das unter Berufung auf die „intellektuelle Anschauung", in der es nach Hegel keine Trennung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Begriff und Sein („Natur") gibt. Denn die Anschauung der sittlichen Natur, die geschichtlich die antike Polistheorie in ihren Momenten rekonstruiert, enthält, wie jene, die Gegenwärtigkeit des Wirklichen, ein „Dieses", das „lebendige Beziehung und absolute Gegenwart" ist33. Um seine

30 Vgl. Nat. 337. 31 Vgl. Nat. 362 ff. 32 Vgl. Nat. 360 f. 33 Vgl. Nat. 357 u. 359.

Man kann übrigens auch hier bemerken, in welchem

Hegels Kritik des Naturrechts

187

Methode der Kontrastierung der klassischen Politik mit dem modernen Naturrecht zu rechtfertigen, weist Hegel in diesem Zusammenhang auf die Sprache hin; die allgemeine Voraussetzung, die sie macht: daß es in der „Natur der absoluten Sittlichkeit" liege, ein „Allgemeines oder Sitten zu seyn", deute „das griechische Wort, welches Sittlichkeit be¬ zeichnet, und das deutsche . . . vortrefflich" an, wie auch die „neuern Systeme der Sittlichkeit, da sie ein Für-sich-Seyn und die Einzelnheit zum Prinzip machen, nicht ermangeln können, an diesen Worten ihre Beziehung auszustellen; und diese innere Andeutung sich so mächtig erweict, daß jene Systeme, um ihre Sache zu benennen, jene Worte nicht dazu mißbrauchen konnten, sondern das Wort Moralität annahmen . . ." 34. Die Annäherung an das klassische Naturrecht, die der Be¬ zug der intellektuellen Anschauung der Sittlichkeit zum „Diesen" der Sitten notwendig zur Folge haben muß, drückt sich vor allem an Hegels Bewertung der Moral aus. Obwohl als Tugendlehre unmittelbar die Sittlichkeit des Einzelnen, erscheint die absolute Sittlichkeit an ihm, der für Hegel das schlechthin Negative bleibt, unter der Form der Negation; nicht nur die reflexive Moralität der modernen Subjektivität, sondern auch die dem Zusammenhang des sittlichen Ganzen eingefügten und sich

äußerlich

bewährenden

Tugenden

des

Einzelnen,

welche

Hegel,

nach dem Muster des klassischen Begriffs von Moral, als ihre Natur¬ beschreibung aufgefaßt sehen will35, sind „negative Sittlichkeit". Dar¬ in besteht der formale Unterschied von Moral und Naturrecht (= Politik im Sinne einer Konstruktion des Rechts der „sittlichen Natur"), der aber nicht, wie bei

Kant

und

Fichte, so zu

fassen sei, „als ob sie getrennt,

jene von diesem ausgeschlossen wäre, sondern ihr Inhalt ist völlig im Naturrecht" 36. Wie der Moral das Gebiet des an sich Negativen, die Sitt¬ lichkeit des Einzelnen als bloße Möglichkeit des Allgemeinen zukommt, so dem Naturrecht das des „wahrhaft Positiven", seine Wirklichkeit, die Hegel zu dieser Zeit die „reale absolute Sittlichkeit" oder die „sitt¬ liche Natur" nennt. Diese „Natur" in ihrem Recht, das die Position eines Volkes ist, zu konstruieren, bestimmt Hegel als die Aufgabe des Naturrechts. Wenn, wie für die neueren wissenschaftlichen Behandlungs¬ arten, das Negative, die Abstraktion der Moralität, „des reinen Willens

Maße bei Hegel die von Schelling übernommene Methode für die geschichtlich ad¬ äquate Aneignung der klassischen Ethik und Politik produktiv wird. 34 Nat. 396. 35 Vgl. Nat. 399. 36 Vgl. SdS. 465; ferner Nat. 396.

Manfred Riedel

188

und des Willens des Einzelnen, und dann die Synthesen dieser Abstrak¬ tionen wie der Zwang, die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen durch den Begriff der allgemeinen Freiheit usw. die Bestimmung des Naturrechts ausdrückten", würde sein Begriff auch nur ein negativer sein können, — „ein Naturunrecht ..., indem bei der Zugrundelegung solcher Negationen als Realitäten die sittliche Natur in das höchste Ver¬ derben und Unglück versetzt wird" 37.

III. An diesem Begriff von Naturrecht und der mit ihm verbundenen metho¬ dischen Position der Sittlichkeit in einem „Volk", dessen „intellektuelle Anschauung" den Umriß der attischen Polis nur allzu deutlich nach¬ zeichnet, hat Hegel nicht lange festgehalten; er hat ihn schon bald nach dem Erscheinen

des

Naturrechtsaufsatzes

modifiziert und

schließlich,

gegen Ende der Jenenser Zeit, ganz preisgegeben. Der auffällige Be¬ griffswandel, der in der Hegelliteratur nur gelegentlich vermerkt wor¬ den ist 38, hängt mit dem allgemeinen Wandel in den Grundlagen des Hegelschen Denkens zusammen, der sich zwischen den Jenenser Vor¬ lesungen von 1803/04 und 1805/06 vollzieht39. Die Ablösung von der ScHELLiNGschen Terminologie und Methode in diesen Jahren, der ein erneutes

Studium der

FicHTESchen

Philosophie

parallel

gegangen

sein scheint, bedeutet zugleich die Preisgabe der bisherigen, an teles

und

Spinoza

zu

Aristo¬

orientierten Naturrechtskonzeption. Soweit sich Vor¬

aussetzungen und Konsequenzen dieses Wandels an der Hegelschen Sy¬ stem- und Begriffsbildung im einzelnen verfolgen lassen, werden sie am Zusammenhang von Natur, „Begriff" und Recht einerseits, ihrem Verhält¬ nis zur „Einzelheit" und deren Stellenwert im System andererseits auf¬ zusuchen sein. Daß Hegel im Entwurf des Systems der Sittlichkeit und im Naturrechtsaufsatz das Sein des Einzelnen als das Negative schlechthin 37 Nat. 397. 38 Vgl. F. Darmstaedter: Das Naturrecht als soziale Macht und die Rechtsphilosophie Hegels. In: Sophia. 5 (1937), 215 Anm. 13. D. konstatiert freilich nur, daß Hegel ver¬ schiedene Auffassungen von Naturzustand vertreten habe, ohne nach dem Grund die¬ ser Verschiedenheit zu fragen. Daß Hegel „den Begriff der ,Natur' in sehr ver¬ schiedener Ausdehnung" gebrauche, notiert auch Th. Haering, dessen diesbezügliche Erläuterungen die Hilflosigkeit recht gut widerspiegeln, in die ihn dieses Faktum ver¬ setzt (Haering: Hegel. Bd 2. 392 f). Falsch ist, daß Hegels Begriffsgebrauch auch späterhin schwankend bleibt (393). 39 Vgl. dazu bereits Rosenkranz: Hegels Lehen. 178 ff; F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. München/Berlin 1920. Bd 1. 183.

Hegels Kritik des Naturrechts

189

bestimmte und in der „sittlichen Natur" des Ganzen versenkte, hatte seinen Grund ja nicht zuletzt darin, daß er zu dieser Zeit das Negative noch vorwiegend mit dem „Nichts", der - tendenziell - puren Vernichtung gleichsetzte. So erscheint das Sein des Einzelnen, welches das neuere Naturrecht seiner Deduktion von „Gesellschaft und Staat" zugrundelegte, im ersten Systementwurf unter dem Titel: Das Negative oder die Freiheit oder das Verbrechen 40. Seine Themen sind: physische Vernichtung, Raub, Diebstahl, Unterjochung, Mord, Rache, Kampf, Krieg. Dieser Teil des Systems steht zwischen dem 1. der „natürlichen Sittlichkeit" (Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältnis) und dem 3. der (absoluten) Sittlichkeit, ohne sich freilich mit dem einen oder anderen zu berühren. Sofern die Sittlichkeit einfach als das „Positive" gesetzt ist, muß die Möglichkeit eines Übergangs im vorhinein abgewiesen werden. In den folgenden Sy¬ stementwürfen erhält dieser Teil eine völlig andere Funktion. In den Vor¬ lesungen von 1803/04 befindet er sich noch zwischen natürlicher Sittlich¬ keit (Familie) und Volk, hat aber seinen eigenen systematischen Stellen¬ wert schon verloren 41. Hier besteht bereits jener Übergang zur absoluten Sittlichkeit, der im ersten Systementwurf und im Naturrechtsaufsatz in¬ folge der natürlichen Position des „Volkes" ausgeschlossen ist. In den Vor¬ lesungen von 1805/06 schließlich erscheint der Systemteil auf einige wenige Seiten verkürzt, die zudem an ganz verschiedenen Stellen bzw. am Rande auftauchen 42. Eine erste Möglichkeit des Übergangs vom negativen Sein des Einzelnen zum positiven der Sittlichkeit hatte Hegel freilich schon im Naturrechts¬ aufsatz angedeutet. Das Negative, das der Einzelne an sich ist, kann von ihm gesetzt, die Negation seiner Bestimmtheiten absolut negiert werden. Diese Fähigkeit, von allen Beschränkungen zu abstrahieren, ist zwar auch ein Negatives, aber ein solches, wodurch das einzelne Sein „absolute in den Begriff aufgenommene Einzelnheit, negativ absolute Unendlichkeit, reine Freiheit" wird. Die so verstandene Freiheit, der „Begriff" des Ein¬ zelnen, ist als das negativ Absolute Moment des Absoluten selbst, und das heißt: in der absoluten Sittlichkeit enthalten. Sie erscheint am „Stand der Freien", der die reine Freiheit in der Tätigkeit des Kampfes um Leben und Tod bewährt. Dieser negativen Tätigkeit geht aber ein Positives als

40 Vgl. SdS. 446—460. 41 Vgl. Jenenser Realphilosophie 1. Hrsg, von J. Hoffmeister. Leipzig 1932. 226—232. Der Abschnitt ist ohne eigene Überschrift. Vgl. dazu die zutreffenden Beobachtungen bei K. H. Ilting (s. o. Anm. 20), 56. 42 Vgl. Jenenser Realphilosophie U. Leipzig 1931. 210—212, 239—241 (== Randzusatz nach Hoffmeister, 237 Anm. 3).

190

Manfred Riedel

seine Bedingung voraus, das „absolut Sittliche, nämlich das Angehören einem Volke . .

das Einsseyn mit welchem der Einzelne im Negativen,

durch die Gefahr des Todes allein auf eine unzweideutige Art erweist" 4j. Die hier zutage tretenden Schranken sind die des damaligen Hegelschen Standpunkts; die Möglichkeit des Übergangs bleibt den Freien Vorbehal¬ ten, während der Stand der Unfreien, infolge der Abständigkeit seiner Arbeiten vom „Begriff" 44, in der Einzelheit verharrt. Dazu kommt, daß die negative Tätigkeit des ersten Standes nichts Bleibendes („Positives ) aus sich entläßt, sondern das positive Bestehen der Sittlichkeit immer schon vorausgesetzt ist. Diese Voraussetzung macht Hegel auch noch in den Vorlesungen von 1803/04. In fast wörtlicher Entsprechung zum System der Sittlichkeit und zum Journalaufsatz heißt es an der Stelle, wo sich der Übergang von der Einzelheit zur Allgemeinheit vollzieht: „Der Einzelne als Mitglied eines Volkes ist ein sittliches Wesen, dessen Wesen die lebendige Substanz der allgemeinen Sittlichkeit, es als Einzelnes, eine ideelle Form eines Seienden, nur als Aufgehobenes [ist]. Das Sein der Sittlichkeit in ihrer lebendigen Mannigfaltigkeit sind die Sitten des Volkes."43 Das ist noch ganz die Position der antiken Polissittlichkeit, mit allen methodischen und systema¬ tisch-inhaltlichen Konsequenzen, die oben erörtert worden sind. Es ist klar, daß das Verhältnis zur neueren Naturrechtstheorie unter diesem Vor¬ zeichen unverändert ablehnend bleiben muß. Am Rande notiert Hegel dazu: „Keine Kompositon, kein Vertrag, kein stillschweigender oder aus¬ gesprochener Urvertrag. Der Einzelne [muß nicht nur] einen Teil seiner Freiheit aufgeben, sondern [sich selbst] ganz." 46 Gleichwohl entfällt die Beschränkung des Übergangs auf einen „Stand der Freien". Die negative Tätigkeit ist nicht mehr die des Kampfes um Bewahrung des sittlichen Ganzen, sondern der Kampf der Einzelnen um die gegenseitige Anerken¬ nung 47. Erst jetzt beginnt das „Negative", das im Systementwurf eine lediglich beziehungslose Stellung einnahm und in der Übergangstheorie

43 Vgl. Not. 370 ff; SdS. 465 ff. 44 Vgl. SdS. 473: „Sie sind nicht im unendlichen Begriff, durch welchen dies nur ein für ihr Bewußtsein Gesetztes als ein Äußeres, schlechthin ihr absoluter, eigener sie bewegender Geist wäre, der alle ihre Bestimmtheiten überwände. Daß ihre sittliche Natur zu dieser Anschauung gelange, diesen Nutzen gewährt ihnen der erste Stand." 45 Realphilosophie I. 232. 46 Ebd. 47 Dieses Thema spielt schon im System der Sittlichkeit eine Rolle, ohne allerdings einen bestimmten Stellenwert zu besitzen: es folgt einerseits einer Sphäre der An¬ erkennung (= Allgemeinwerden der Einzelheit), die sich in Tausch, Eigentum, Geld und Handel darstellt, andererseits geht es dem Familienverhältnis voraus, in dessen

Hegels Kritik des Naturrechts

191

des Journalaufsatzes an die Zufälligkeit eines Standes gebunden war, die¬ jenige Funktion zu erhalten, die fortan eine der wichtigsten Grundlagen des Hegelschen Rechtsdenkens bilden wird: die der Vermittlung von Ein¬ zelheit und Allgemeinheit. Der Kampf um die Anerkennung vermittelt hier zunächst nur zwischen der „natürlichen" Sittlichkeit der Familie und der „absoluten

des Volkes, wobei diese nach wie vor mit Kategorien

aristotelisch-spinozistischer Provenienz umschrieben wird48. Obwohl so das Anerkanntwerden der Einzelheit, das ihre Aufnahme in die absolute Substanz der Sittlichkeit in sich schließt, das Verschwinden des Einzelnen als solchen bedeutet49, ist damit der erste Schritt zur Überwindung der abstrakt-methodischen Position der antiken Polistheorie und zu einer Neu¬ bewertung des modernen Naturrechts getan. Das läßt sich an den diesbezüglichen Abschnitten der Vorlesungen von

1805/06 gut erkennen, wo Flegel systematisch, methodisch und inhaltlich die Konsequenzen dieses Ansatzes zieht. Die ScHELLiNGSche Methode und ihre terminologischen Implikationen treten ganz zurück; die Kategorien, mit denen Hegel jetzt arbeitet, sind nicht mehr das „Positive" und „Nega¬ tive , die „sittliche Natur" und ihr Recht, der Gegensatz von „Anschau¬ ung" und „Begriff" usf., sondern „Intelligenz" und „Wille", deren Ur¬ sprung das „Ich" ist. Was sich in den Vorlesungen von 1803/04, an der Vermittlungsfunktion der „Anerkennung", abzeichnete, wird nun vollends sichtbar: daß Hegel in der zweiten Hälfte der Jenenser Periode sich erneut mit Fichte auseinandergesetzt hat und seit etwa 1804 in seinen Vorlesun¬ gen über Philosophie des Geistes und Naturrecht auf ihn zurückgreift50. Das Thema der Anerkennung, dessen Behandlungsweise den unmittel-

„Indifferenz" sich das Resultat des Kampfes um die Anerkennung (das Herr-KnechtVerhältnis) aufhebt. Vgl. SdS. 440—443, ferner 495 ff, wo das System des Rechts im nachhinein als das formelle des Anerkennens interpretiert wird (497). 48 Vgl. Realphilosophie I. 232: „Der absolute Geist eines Volkes ist das absolut allgemeine Element, der Äther, der alle einzelnen Bewußtsein[e] in sich verschlungen [hat], die absolute einfache, lebendige, einzige Substanz." 49 Ebd.: „Dies absolute Bewußtsein [auf dieser Stufe das Resultat des Kampfes um die Anerkennung M. R.] ist also ein Aufgehober.sein der Bewußtsein [e] als einzelner . . . Es ist allgemeines, bestehendes Bewußtsein; es ist nicht bloße Form der Einzelheit] ohne Substanz, sondern die Einzelnen sind nicht mehr; es ist absolute Substanz." 50 Die positive, Aufbau und Anlage einzelner Abschnitte der Jenenser Vorlesungen bestimmende Rezeption der Fichteschen „Metaphysik der Subjektivität" spielt aller¬ dings bereits in der Jenenser Logik eine wichtige Rolle, die nach den Herausgebern (H. Ehrenberg, G. Lasson) zu den frühesten, auf die Jahre 1801/02 datierten Vor¬ lesungsentwürfen Hegels gehört. Ihre theoretische Basis, die Auffassung des „Ich" als der Synthesis von Einzelheit und Allgemeinheit (vgl. Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie. Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1923. 161, 163 ff, 178 f), ist jedoch in

Manfred Riedel

192

baren Einfluß Fichtes verrät51, wird nun ausdrücklich in der Problem¬ stellung des neueren Naturrechts eingeführt: „Dies Verhältnis ist es ge¬ wöhnlich, was der Naturzustand genannt wird: das freie, gleichgültige Sein von Individuen gegeneinander, und das Naturrecht soll beantworten, was nach diesem Verhältnisse die Individuen für Rechte und Pflichten gegeneinander haben, welches die Notwendigkeit ihres Verhaltens ist, ihrer [als] nach ihrem Begriff selbständiger Selbstbewußtsein[e]." 52 Hegel selber antwortet mit dem bekanntlich von

Hobbes

stammenden Argument.

exeundum e statu naturae, das er, allerdings mit einer abweichenden Be¬ gründungstendenz, bereits in der Thesis IX zur Jenenser Habilitations¬ schrift verwandt hatte 53. Dasselbe Argument besagt auch bei Fichte,

Kant

und

daß den Individuen „von Natur" keine Rechte und Pflichten zu¬

kommen, sondern zur Wirklichkeit (= Geltung) derselben der Rechtszu¬ stand, der „Staat" erfordert wird. Was „gesetzt" ist, ist nicht mehr eine wie auch immer verstandene „Natur", sondern der „Begriff", und dieser ist es, der zu seinem „Recht" gelangen soll: „Es ist der Begriff der gegen¬ einander freien Selbstbewußtsein[e] gesetzt, aber eben nur der Begriff; er hat sich, weil er Begriff ist, vielmehr zu realisieren, d. h. eben sich, der in der Form des Begriffs ist, gegen seine Realität, aufzuheben." 54 Der sich realisierende Begriff ist nichts anderes als die Bewegung der Anerkennung; sie geht nicht unmittelbar in die „absolute Substanz" der Sittlichkeit, die

den zwischen 1801 und 1803 verfaßten Abhandlungen und z. T. selbst in den Vor¬ lesungen von 1803/04 noch keineswegs erreicht, was sich u. a. an der oben behandelten ersten Fassung von Hegels Naturrechtstheorie ausdrückt. Eine Wende bringen erst die Vorlesungen von 1805/06, deren Disposition auch sonst mit dem diesbezüglichen Kapitel der Jenenser Metaphysik (III: Metaphysik der Subjektivität, 161 ff) auffällig übereinstimmt. 51 Vgl. Fichte: Grundlage des Naturrechts (1796), S. W. Bd 3. 44 ff und 85 ff, mit Hegel: Realphilosophie 1. 226 ff; Realphilosophie II. 194 ff und 205 ff. Die Möglich¬ keit einer Anknüpfung ist für Hegel durch Fichtes Interpretation der „Anerkennung" als der Synthesis von („wirklichen") Handeln und „Begriff" gegeben, in der sich die Individuen wechselseitig „setzen". 52 Realphilosophie II. 205. 53 Vgl. Hegel: Erste Druckschriften. Hrsg. v. G. Lasson. Leipzig 1928. 404: „Status naturae non est injustus, et ob eam causam ex illo exeundum." Bekanntlich argumen¬ tieren Hobbes und Spinoza genau umgekehrt: daß der Status naturae zu verlassen sei, weil er nicht gerecht ist. Dem schließt sich Hegel an der Anm. 52 genannten Stelle an. 54 Realphilosophie II. 205. — Die von uns beschriebene Wendung der Hegelschen Naturrechtskonzeption hat die ältere Hegelliteratur mit der in mehrfacher Hinsicht unzulänglichen Formel: „Entromantisierung der Sittlichkeit" zu fassen versucht, wobei man sich vor allem auf den mit der Phänomenologie des Geistes gesetzten Entwick¬ lungseinschnitt bezog. Vgl. R. Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857. 207 ff; W. Metzger: Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus. Heidelberg 1917. 310 ff.

Hegels Kritik des Naturrechts

193

noch in den Vorlesungen von 1803/04 das einzig Positive war, sondern in die „Sittlichkeit überhaupt" über, und zwar in deren Unmittelbarkeit, das

Rechtü5. Dieser bemerkenswerte Wandel in der Auffassung der Sittlich¬ keit bedeutet eine Umkehr der Grundlagen von Hegels bisheriger Natur¬ rechtskonzeption. Der „Begriff", dem die Bewegung des Anerkennens entspringt, ist nicht das Negative der „reinen Freiheit" des Einzelnen, welches, im buchstäblichen Sinne, „Nichts" aus sich entläßt; denn sie selbst, die Bewegung des Begriffs, erzeugt das Element des Positiven, in dem die Einzelheit zu einem Bleibenden gelangt, das Recht: „Recht ist die Beziehung der Person in ihrem Verhalten zur andern, das allgemeine Element ihres freien Seins oder die Bestimmung, Beschränkung ihrer leeren Freiheit. Diese Beziehung oder Beschränkung habe ich nicht für mich auszuhecken und herbeizubringen, sondern der Gegenstand ist selbst dieses Erzeugen des Rechts überhaupt, d. h. der anerkennenden Beziehung . . . Das An¬ erkannte ist anerkannt als unmittelbar geltend, durch sein Sein, aber eben

dies Sein ist erzeugt aus dem Begriffe."56 Die Bewegung des Begriffs unterbricht den bisherigen („unmittelbaren") Zusammenhang von Natur, Sittlichkeit und Recht und fixiert sich, gegen die Natur, im Recht. Die polemische Auseinandersetzung mit dem Naturbegriff des Naturrechts, die Hegel gleichwohl weiterführt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie jetzt einen Maßstab erhalten hat, der selber der idealistischen Spätphase des Naturrechts verpflichtet und dem bisherigen genau entgegengesetzt ist. Dieser Maßstab ist die universelle Rechtsfähigkeit, die „Person" als der reine Begriff = Ich des Menschen, dessen Entdeckung den Bruch mit aller vorgegebenen Ordnung der Natur und ihrem „Gesetz" voraussetzt. „Recht enthält die reine Person, reines Anerkanntsein. So sind sie nicht im Naturzustände, sondern versenkt in das Dasein, dadurch, daß

er

Mensch ist, in seinem Begriffe; aber im Naturzustand ist er nicht in seinem

Begriffe, sondern als Naturwesen, in seinem Dasein. Frage widerspricht sich unmittelbar — ich betrachte den Menschen in seinem Begriffe, d. h. nicht im Naturzustände." 57 Die Annäherung an Fichte zeigt sich vor allem an der systematischen Disposition der uns hier interessierenden Vorlesungsabschnitte. Während

55 Realphilosophie II. 206 und 212. 56 Realphilosophie II. 206. 57 Realphilosophie II. 205 (Randnotiz Hegels). Der 2. Satz ist von Hoffmeister nicht ganz korrekt aufgelöst worden; hinter: „ ... versenkt in das Dasein" wäre ein Semi¬ kolon zu setzen und dann zu lesen: „dadurch, daß der Mensch ist, [ist] er in seinem Begriffe".

194

Manfred Riedel

1803/04 die anerkennende Bewegung eine „Potenz" des

Bewußtseins war,

die sich im „absoluten Bewußtsein" der Sittlichkeit aufhob, ist in den Vor¬ lesungen von 1805/06 seine Basis die Spontaneität des „Ich", das sich als „Intelligenz" und „Wille" setzt. Diese Spontaneität ist dasjenige, was oben die Bewegung des Begriffs genannt wurde, deren „positive" Form die Anerkennung ausdrückt. Nicht zufällig identifiziert Hegel im Zusam¬ menhang dieses Kapitels das „Ich" mit dem „Begriff": „. . . Ich, der Begriff [ist] selbst die Bewegung. Es bewegt durch Andres, schlägt dies in Selbst¬ bewegung um und diese umgekehrt in Anderssein, Gegenständlichwerden des Ich, und Fürsichsein." 58 Das „Ich", das Hegel bereits in der Jenenser Logik als die Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit gefaßt und auf die Kategorie der Anerkennung bezogen hatte 59, erscheint hier nicht mehr als die leere Einheit, der die „lebendige" der Natur übergeordnet ist, auch nicht als bloße Vereinigung gegensätzlicher Momente, sondern als eine durch die setzende Tätigkeit gestiftete Vermittlung derselben, als Selbst¬ vermittlung des Begriffs 60. Damit mußte der positive Sinn, den Hegel zu¬ nächst dem überlieferten Titel des „Naturrechts" zusprach, fallen gelassen werden. Dem Ansatz nach hatte Hegel auch hier schon in der Jenenser Logik den Geist über Natur gestellt 61 und im Naturrechts-Aufsatz die „physische" von der „sittlichen Natur" unterschieden 62; aber von dieser Unterscheidung macht er, was die Grundlegung und den Begriff des Natur¬ rechts anbelangt, keinen Gebrauch. Die Ursache dafür ist in der einseitigen Orientierung an der klassischen Politik und der spinozistischen Substanz¬ metaphysik zu suchen; dadurch gewinnt Hegel dem Naturrecht die Be¬ deutung des „Rechts" der „sittlichen Natur" ab und identifiziert es mit der substantiellen Sittlichkeit eines „Volkes". Erst in den Vorlesungen von 1805/06, nach der erneuten Beschäftigung mit Fichte und — was als wahr¬

scheinlich angenommen werden kann — Rousseau 63, gelangt Hegel über diesen Standpunkt hinaus und zur Verständigung über einen Begriff von Naturrecht, der den „negativen" Naturbegriff der modernen Theorie zur

58 Realphilosophie II. 204 (Randnotiz). 89 Vgl. Jenenser Logik. 164 ff, 171. 60 Vgl. dazu 7. Schwarz: Hegels philosophische Entwicklung. Frankfurt/M. 1938. 339 f. Schwarz verweist zum Vergleich auf SdS. 431 und GuW. 56 f gegenüber Realphilosophie II. 190, 195 Anm. 5. 61 Vgl. Jenenser Logik. 192 ff; Nat. 395. 62 Nat. 346 f. 63 Vgl. Realphilosophie II. 213 ff und 244 ff, hier ganz offensichtlich unter Bezug¬ nahme auf Formulierungen des Contrat social, obwohl der Name Rousseaus nicht fällt. In den vorhergehenden Entwürfen spielt der Begriff des „allgemeinen Willens" so gut wie keine Rolle.

Hegels Kritik des Naturrechts

195

Basis hat. Seine Konstruktion ist nicht die des Rechts einer unbestimmten „sittlichen Natur", sondern der anerkennenden Bewegung, in der das Be¬ stehen der Einzelheit, das „Recht" hervorgebracht wird. Die Notwendig¬ keit dieser Bewegung liegt im „Begriff" des Einzelnen, sie ist, wie Hegel sagt, „seine eigene, nicht die unsres Denkens im Gegensatz gegen den Inhalt. Als Anerkennen ist er selbst die Bewegung und diese Bewegung hebt eben seinen Naturzustand auf: Er ist Anerkennen; das Natürliche ist nur, es ist nicht Geistiges." 64 Die anerkennende Bewegung, deren „Be¬ griff" das Recht ausmacht, hat auf der Seite der Einzelheit einen „Willen" zum Resultat, der „wissender" oder ein „Allgemeines" ist, —

Rousseaus

„allgemeiner Wille", dessen unmittelbare Wirklichkeit die rechtsfähige „Person" ist 65. Die Aufnahme dieser beiden Kategorien in das System der Sittlichkeit bezeichnet die Trennung von der klassischen Politik-Konzep¬ tion und ihrem Naturbegriff, die in den Jahren 1802—1804 dem modernen Naturrecht abstrakt gegenübergestellt wurden. Mit der Anerkennung des „Rechts" als der Unmittelbarkeit des Sittlichen und seiner Aufnahme in den „Begriff" ist das Moment der Einzelheit, der Ansatzpunkt des moder¬ nen Naturrechts, gerechtfertigt. Damit findet Hegel, nach dem Schwanken der ersten Jenenser Zeit, endgültig zur Naturrechtsposition von Kant

und

Fichte

Rousseau,

zurück, der er schon einmal, während der 90er Jahre,

anhing C6. Die Rechtfertigung des Seins des Einzelnen durch den „Begriff" (= Ich), in dem Einzelheit und Allgemeinheit vermittelt sind, ist die Folge jener Einsicht, die Hegel am Ausgang der Jenenser Zeit gewinnt, wonach „alles" darauf ankomme, „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken" 67. Das gilt nicht zuletzt

64 Realphilosophie II. 206. Die Stelle muß in Parallele gesetzt werden mit 242: „Der Geist ist die Natur der Individuen, ihre unmittelbare Substanz und deren Bewegung und Notwendigkeit." 65 Realphilosophie II. 212. „Dieser wissende Wille ist nun Allgemeines. Er ist das Anerkanntsein. Sich entgegengesetzt in der Form der Allgemeinheit, ist er das Sein, Wirklichkeit überhaupt, und der Einzelne, das Subjekt ist die Person. Der Wille der Einzelnen ist der allgemeine und der allgemeine ist einzelner, Sittlichkeit überhaupt, unmittelbar aber Recht." Vgl. dagegen K. Larenz (Die Rechts- und Staatsphilosophie des deutschen Idealismus. In: Handbuch der Philosophie. Abt. 4. München u. Berlin 1934. 153), der das Hervortreten des Willens erst mit der Phänomenologie des Geistes beginnen läßt. 66 Vgl. Briefe. Bd 118 und 23 f; Theologische Jugendschriften. 42, 53, 62, 72, 139 ff, 173, 188 ff, 365. Kants Rechtslehre studierte Hegel 1798, Fichtes Naturrecht 1796. Vgl. Rosenkranz: Hegels Leben. 48 und 87; W. Metzger: Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus. 331 f. 67 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 19.

196

Manfred Riedel

für die Auffassung des Naturrechts; seine Wahrheit ist, um wieder die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes zu zitieren, in der sich Hegel des neuen methodischen Horizonts seiner Philosophie versichert, das Subjekt, das nur insofern „wirklich" ist, als es die „Bewegung des Sichselbstsetzens, oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist" 68. Das Naturrecht hat nicht mehr die „sittliche Natur" und ihr Recht, das Hegel zunächst mit der substantiellen Sittlichkeit der griechischen Polis identifi¬ zierte, sondern den „Begriff" des Rechts zum Gegenstand, der in seiner Bewegung die sittliche Substanz durchdringt.

IV. Erst mit der Einsicht in die Bewegung des sich selbst setzenden Begriffs, der die eigene „natürliche" Unmittelbarkeit und die „Natur" der substan¬ tiellen Sittlichkeit aufbricht, tritt Hegel als „Ethiker" fertig vor uns hin. Der gedoppelten Bewegung entspricht die Grundstellung, in der sich ge¬ schichtlich die Aporien von Hegels erster Naturrechtskonzeption und ihre Überwindung entwickeln. Die Kritik des modernen Naturrechts vom Standpunkt der klassischen Politik erfährt am Ausgang der Jenenser Periode eine Art Umkehrung dadurch, daß Hegel nun auch die klassische Politik vom Standpunkt des Naturrechts kritisiert. Das tritt in- den Vor¬ lesungen von 1805/06 zum ersten Mal deutlich zutage. Einerseits inter¬ pretiert Hegel die von Rousseau übernommene Theorie des allgemeinen Willens, der sich aus dem Willen der Einzelnen konstituiert, im Rückgriff auf den aristotelischen Gedanken, wonach das Ganze der Natur nach eher als seine Teile sei; woraus folgt, daß der allgemeine Wille für den Willen der Einzelnen „das Erste und das Wesen" ist 69. Andererseits stellt Hegel, nicht zuletzt infolge der Einbeziehung jener naturrechtlichen Theorie, der „unmittelbaren Einheit des Allgemeinen und Einzelnen" in der antiken Polissittlichkeit die Trennung, das „Sich-selbst-absolut-Wissen der Einzel¬ heit" als das „höhere Prinzip der neuern Zeit" entgegen 70. Derselbe, der doppelten Bewegung des „Begriffs" entspringende, Maßstab, den Hegel nunmehr an Politik und Naturrecht anlegt und womit er sich über die Schranken beider verständigt, begegnet uns in den Vorlesungen zur Ge¬ schichte der Philosophie. Die Übereinstimmung ist kein Zufall, da Hegel das Kolleg bekanntlich während der Jahre 1805/06 zuerst gehalten und 88 Phänomenologie. 20.

69 Vgl. Realphilosophie II. 244 f. 70 Realphilosophie II. 251.

Hegels Kritik des Naturrechts

197

von dem Jenenser Heft auch späterhin Gebrauch gemacht hat. In der Plato-Vorlesung wird das „Substantielle, Allgemeine", das der JPoliteia' zugrundeliegt, mit dem kontrastiert, was „von Natur Recht sey, . . . was am Einzelnen und für den Einzelnen Recht ist" 71. Dieses Naturrecht der Neueren nennt Hegel eine „triviale Abstraktion über das reale praktische Wesen, das Recht"; auf der anderen Seite aber betont er die Grenze der platonischen Polisidee, ihre Ausschließung der Einzelheit, des einzelnen Bewußtseins, der „Person" 72, die erst das neuere Naturrecht zur Geltung gebracht habe: „Das Entgegengesetzte gegen das Prinzip Plato's ist das Prinzip des bewußten freien Willens der Einzelnen, was in späterer Zeit besonders durch Rousseau obenan gestellt worden ist: Daß die Willkür des Einzelnen als Einzelnen, das Aussprechen des Einzelnen nothwendig ist." 73 Die Verständigung über die Schranken von klassischer Politik und mo¬ dernem Naturrecht setzt gleichzeitig ein bestimmtes geschichtliches Ver¬ ständnis des neueren Naturrechts selber voraus; denn Hegel entnimmt den Maßstab seiner Kritik nicht irgendeinem Autor, sondern Rousseau, der ihr als Folie dient. An den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie und zur Philosophie der Geschichte läßt sich jeweils zeigen, daß bei Hegel ein solches Verständnis tatsächlich vorliegt. Zwar teilt er die im 18. und 19. Jahrhundert allgemein verbreitete Meinung, daß die „Aufklärung" des Naturrechts von Hugo Grotius' De jure belli ac pacis (1625) ausgegangen sei. Gleichzeitig aber weist Hegel darauf hin, daß hier die stoisch-ciceronianische Naturteleologie vorherrscht, wonach das Rechtsbewußtsein dem Menschen „natürlich" oder angeboren („natura insitum") sei; deshalb kommt es weder bei Grotius, Pufendorf und Wolff noch in der schotti¬ schen Schule der Moralphilosophie zu einem Bruch mit der Rechtstradi¬ tion 74. Die eigentlich „revolutionäre" Theorie des Naturrechts, die den bei 71 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. (Werke. Berlin 1832 ff. Bd 14.) 269 ff. Hier wird der Terminus „sittliche Natur" noch verwendet, aber charak¬ teristisch umgedeutet: als „der freie Wille in seiner Vernünftigkeit" (269). 72 Vgl. Werke. Bd 14. 290 f. 73 Ebd. 295. In der Vorlesung über die Politik des Aristoteles (400) wiederholt sich die doppelte Richtung der Hegelschen Kritik ein zweites Mal. Vgl. auch die Beurteilung von Platos Politeia (275) mit Realphilosophie II. 251. „Plato hat nicht ein Ideal auf¬ gestellt, sondern den Staat seiner Zeit in seinem Innern gefaßt. Aber dieser Staat ist vergangen ... weil er des Prinzips der absoluten Einzelheit entbehrte." (Randnotiz) 74 Vgl. Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 3. Aufl. Hamburg 1959. 159 ff; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. (Werke. Bd 15.) 439 f, 445 f, 502; Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg, v. G. Lasson. Leipzig 1920. 917 ff. — Hegels Hinweis auf die „natura insita" des älteren Naturrechts bezieht sich offensichtlich auf Cicero: Legg. I, 6, 18, wo das Natur¬ recht (lex naturalis) als die „ratio summa insita in natura, quae jubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria" auftritt. Vgl. auch 1,12, 33.

Manfred Riedel

198

noch angenommenen Begründungszusammenhang von „Natur

Grotius

und Recht sprengt, wird nach Hegel dem Werk des Thomas

Hobbes

ver¬

dankt; denn er zuerst hat „den Staatsverband, die Natur der Staatsgewalt auf Principien zurückzuführen versucht, die in uns selbst liegen, die wir als unsere eigenen anerkennen" 75. Bei

Hobbes

steht die Theorie des Rechts

und der Gesellschaft nur noch insofern unter Bedingungen einer Ordnung der Natur (ordo naturalis), als diese die Bedingungen angibt, die es not¬ wendig machen, sie zu verlassen. Durch

Hobbes

entsteht so im überliefer¬

ten Titel des Naturrechts eine „Zweideutigkeit", die für Hegel von höchster Wichtigkeit ist und auf die er in der Interpretation von De cive aufmerk¬ sam macht: „Der Ausdruck Natur hat diese Zweideutigkeit, daß Natur des Menschen seine Geistigkeit, Vernünftigkeit ist; sein Naturzustand ist aber der andere Zustand, daß der Mensch nach seiner Natürlichkeit sich be¬ nimmt." 76 Nach Hegel steigert sie sich bei den von

Hobbes

vertiefen.

Rousseau, Kant

und

Fichte,

die

vollzogenen Bruch mit der überlieferten Naturrechtstheorie

Rousseau

faßt die „Geistigkeit, Vernünftigkeit" des Menschen

als seine Freiheit, die ihn aus der Natur herausstellt und als absolutes Unterscheidungsmerkmal zum Tier gilt 77. Sein Prinzip, daß der Mensch frei und der auf der Basis des „allgemeinen Willens" errichtete Staat die Realisierung dieser Freiheit sei, muß man, wie Hegel sagt, „richtig finden". Rousseaus

„Zweideutigkeit" entsteht erst dadurch, daß er den allgemeinen

Willen aus dem Willen der Einzelnen, ihrer natürlichen Freiheitsneigung, „zusammengesetzt" sein läßt. Damit hebt die „Freiheit der Natur" die „Freiheit als das schlechthin Absolute", die

Rousseau

gemeinen Willens denkt, wieder auf 78. Gleichwohl hat

im Begriff des all¬ Rousseau

zum Be¬

wußtsein gebracht, daß die Freiheit der „Begriff des Menschen" sei79. Daraus ergibt sich für Hegel der „Übergang zur Kantischen Philosophie", die der „Zweideutigkeit" im Begriff des Naturrechts ein Ende bereitet, in-

75 Werke. Bd 15. 442. 76 Ebd. 443. 77 Werke. Bd 15. 527. Hegel zitiert die bekannte Stelle aus Du Gontrat social Liv. I, Ch. IV; vgl. Ch. I, VIII, XI; Liv. III, Ch. IX, Anm.; Discours sur Vorigine de l'inegalite parmi les hommes. Hrsg. v. K. Weigand. Hamburg 1955. 106 f. Vgl. ferner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. 920 ff. 78 Vgl. Werke. Bd 15. 528: „Diese Prinzipien, so abstrakt dargestellt, muß man richtig finden; doch die Zweideutigkeit beginnt dann bald. Der Mensch ist frei, dieß ist freilich die substantielle Natur des Menschen; und sie wird im Staate nicht nur nicht aufgegeben, sondern in der That erst konstituirt. Die Freiheit der Natur, die Anlage der Freiheit ist nicht die wirkliche; denn der Staat erst ist die Verwirklichung der Freiheit." Vgl. ferner Enzyklopädie, § 163, Zus. 1 (Werke. Bd 6. 360); Philosophie des Rechts. § 258. 79 Vgl. Werke. Bd 15. 528.

Hegels Kritik des Naturrechts

199

dem sie die Gesetzgebung der Natur von der der Freiheit, den „empiri¬ schen" vom „freien und reinen Willen" radikal trennt 80. Der „Begriff" des Menschen gelangt auf dem transzendentalphilosophischen Standpunkt zur Verständigung über sich selbst; die „einfache Einheit des Selbstbewußt¬ seins", das „Ich" ist die von aller vorgegebenen Naturordnung losgelöste, „undurchbrechbare, schlechthin unabhängige Freiheit und Quelle aller all¬ gemeinen, d. i. Denkbestimmungen" 81. Das „Bewußtsein des Geistigen" wird zum Fundament der Naturrechtstheorie; sie findet ein „Gedanken¬ prinzip für den Staat . . ., das nun nicht mehr irgendein Prinzip der Mei¬ nung ist, wie der Sozialitätstrieb, das Bedürfnis der Sicherheit des Eigen¬ tums usf. noch der Frömmigkeit, wie die göttliche Einsetzung der Obrig¬ keit, sondern das Prinzip der Gewißheit, welche die Identität mit seinem Selbstbewußtseiri ist. . ." 82. Diese geschichtliche Beurteilung des neueren Naturrechts, die in wesent¬ lichen Punkten von der des Joumalaufsatzes abweicht, muß man vor Augen haben, um sowohl das metaphysische Fundament der Hegelschen Philo¬ sophie des Rechts wie ihre eigentümlich ambivalente Stellung am Ausgang des Naturrechts begreifen zu können. Die dialektische Bewegung des „Be¬ griffs", die seit den Jahren 1805/06 den Elorizont des Hegelschen Rechts¬ denkens bildet, ist, wie sich jetzt zeigt, keine abstrakte, inhaltsleere Formel, sondern der Inhalt dieser Bewegung ist die absolute „Freiheit" des Willens, die seit

R.ousseau, Kant

und

Fichte

zum Prinzip allen Rechts erhoben

wurde. Daß dieses Rechtsprinzip die Verwerfung der Natur als Maßstab der Naturrechtstheorie impliziert, hatte bereits

Rousseau

erkannt. Er unter¬

scheidet zwischen zwei Arten von Naturrecht, 1. dem „droit naturel proprement dit", das auf einem natürlichen Gefühl (dem Naturgesetz des Mit¬ leids) beruht und im Naturzustand Gesellschaft unter Menschen ermög¬ licht; 2. dem „droit naturel raisonne", das im bürgerlichen Zustand, nach Errichtung des Staats, herrscht 83. Ein „vernünftiges", d. h. die Ordnung der Natur abbildendes Naturrecht, auf dessen staatsrechtliche Geltung sich Grotius

und seine Nachfolger im 18. Jahrhundert beriefen, lehnt

ab. Darin stimmt er mit

Kant

einen Schritt weiter gehen.

und

Kant

Fichte

Rousseau

überein, die nun allerdings noch

weist gelegentlich auf dieselbe „Zwei¬

deutigkeit" des Naturbegriffes hin, von der Hegel in seiner Hobbes-Vorlesung gesprochen hatte. „Das Gantze Recht der Natur", notiert

Kant

in

8® Werke. Bd 15. 529, 552 f, 590. 81 Vorlesungen über Philosophie der Weltgeschichte. 922. 82 Ebd. 924. 83 Vgl. Premiere Version du Contrat Social. Ed. C. E. Vaughan. Manchester 1918. Bd 1. 493.

Manfred Riedel

200

den Reflexionen zur Moralphilosphie, „ist ohne bürgerliche Ordnung eine bloße Tugendlehre und hat den Namen eines Rechts blos als ein Plan zu äußeren möglichen Zwangsgesetzen . . . Da einmal das Wort /natürlich recht' so zweydeutig gebraucht ist, so müssen wir uns einer subtilitaet be¬ dienen, um dieser Zweydeutigkeit auszuweichen. Wir unterscheiden das Naturrecht vom natürlichen Recht." 84 Das Naturrecht ist das der bürgerli¬ chen Ordnung immanente Vernunftrecht, während sich das natürliche Recht auf einzelne Bestimmungen der Natur gründet und seinem Inhalt nach ent¬ weder Privat- oder öffentliches Recht sein kann. Im Unterschied zu seau

und

Kant

trennt

Fichte

Rous¬

den überlieferten Titel nicht nur in zwei

Hälften, sondern verwirft ihn ganz. Nach

Fichte

steht es unbezweifelbar

fest, daß „in dem Sinne, wie man das Wort oft genommen hat, gar kein Naturrecht'' möglich sei, „außer in einem gemeinen Wesen und unter posi¬ tiven Gesetzen" 85. Aus dieser spezifisch modernen Problematik des Natur¬ rechts zieht Hegel während der dritten Phase seines rechtsphilosophischen Denkens die begriffsgeschichtlich notwendig gewordene Konsequenz. Wie weit er sich dem Standpunkt von

Hobbes, Rousseau, Kant

und

Fichte

angenähert hat, zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als daran, welche Bedeutung er zu dieser Zeit der oben erwähnten „Zweideutigkeit" des Zusammenhangs von Natur und Recht beimißt. Dazu heißt es bereits in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817): „Der Aus¬ druck Naturrecht, der bisher für die philosophische Rechtslehre gewöhnlich gewesen, enthält die Zweydeutigkeit, ob das Recht als ein durch die un¬ mittelbare Natur gleichsam eingepflanztes, oder ob es so gemeint sey, wie es durch die Natur der Sache, d. i. den Begriff, sich bestimme. Jener Sinn ist aber der vormals gewöhnlich gemeynte; so daß zugleich ein Naturzustand erdichtet worden ist, in welchem das Naturrecht gelten soll." 86 Der „Be¬ griff" konzentriert, vermittelt durch den juristischen Terminus „Natur der Sache", den Sinn von „Natur" ganz in sich; er meint auch hier dasselbe wie am Ausgang der Jenenser Periode: das Recht, sofern es sich und alle seine Bestimmungen auf die „freie Persönlichkeit" gründet, — „eine Selbst¬ bestimmung, welche vielmehr das Gegentheil der Naturbestimmung ist" 87.

84 Refl. 7084 (um 1776—77). Kant: Ges. Schriften. Akademieausgabe. Bd 19. 245. 85 Fichte: Grundlage des Naturrechts (1796). In: Sämtliche Werke. Bd 3. 148. Vgl. 55, 92 f; Nachgelassene Werke. Bd 2. 498 f. 86 Hegel: Enzyklopädie. Heidelberg 1817. § 415. Vgl. dazu E. Fleischmann: La Philosophie politique de Hegel. Paris 1964. 17 u. 113 f. 87 Enzyklopädie (1817). § 415. Vgl. auch Hegel: Nürnberger Schriften. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Leipzig 1938. 156, 170 f, vor allem 284 (Philosophische Enzyklopädie. § 181): „Der Geist als freies, selbstbewußtes Wesen ist das sich selbst gleiche Ich,

Hegels Kritik des Naturrechts

201

Allerdings identifiziert Hegel jetzt, nachdem er über die geschichtliche Be¬ deutung des neueren Naturrechts zu einer endgültigen Verständigung ge¬ langt ist, die abstrakte Selbstbewegung des Begriffs ungleich deutlicher als in der Jenenser Zeit mit der Selbstbestimmung der „Person”, die von allen „natürlichen Bestimmungen frei ist. Die Freiheit, der unendliche, durch nichts Äußeres beschränkte „Begriff” des Menschen, den das idealistische Naturrecht entwickelte, ist das alleinige Prinzip des Rechts. Den Zusammenhang von Begriff (= Natur), Freiheit und Recht hat Hegel in den Berliner Vorlesungen über Philosophie des Rechts wieder¬ holt erörtert. Die erste, noch vor dem Erscheinen des Buches gehaltene Vorlesung aus dem Jahre 1818/19 geht darauf in § 3 ein, den die Druck¬ fassung in dieser Form nicht enthält; „Das Prinzip des Rechts liegt nicht in der Natur, ohnehin nicht in der äußeren, auch nicht in der subjektiven Natur des Menschen, insofern nemlich sein Wille natürlich bestimmt d. i. die Sphäre der Bedürfnisse, Triebe und Neigungen ist. Die Sphäre des Rechts ist die Sphäre der Freiheit, in welcher, insofern die Freiheit sich äußert und sich Existenz giebt, die Natur zwar eintritt, aber als ein Un¬ selbständiges.” 88 Äußerungen der Freiheit sind alle Momente der ge¬ schichtlich-gesellschaftlichen

(„objektiven”)

Wirklichkeit des Menschen,

wie sie die Rechtsphilosophie zur Darstellung bringt, angefangen von den Erscheinungsformen des abstrakten Rechts bis zu Familie, bürgerlicher Ge¬ sellschaft und Staat. Daß hier überall „natürliche” Verhältnisse eine Rolle spielen, bedarf keiner Frage. Die Frage ist, ob sie aus sich ein Gesetz er¬ zeugen, das jene Formen beherrscht. Die Notwendigkeit, die z. B. dem Da¬ sein des Staates im Verhältnis zum Sein des Einzelnen zukommt, besagt bei Hegel nicht mehr, daß es für den Einzelnen ein Gesetz der Natur sei, im Staate leben zu müssen. Die Notwendigkeit des Staats beruht vielmehr auf dem Gesetz, das die Freiheit sich gibt. Darüber erteilt Hegels Erläuterung zu § 3 unzweideutig Auskunft: „Dieser § ist veranlaßt durch den Namen Naturrecht. Die Vereinigung von Freiheit und Nothwendigkeit ist nicht durch die Natur, sondern durch die Freiheit hervorgebracht. Die natürlichen Dinge bleiben wie sie sind, haben sich nicht vom Gesetz losgemacht, um sich selbst Gesetze zu machen. Der Geist aber reißt sich von der Natur los und erzeugt sich seine Natur, seine Gesetze selbst. Also ist Natur nicht das

das in seiner absolut negativen Beziehung zuerst ausschließendes Ich, einzelnes freies Wesen oder Person ist." 88 Natur- und Staatsrecht nach d. Vortrag des Professors Hegel im Winterhalbjahr 1818/19 von G. Homeyer. Ms. germ. quart. 1155. S. 9. — Diese und die im folgenden zitierten Nachschriften befinden sich in der Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

202

Leben des Rechts". Wie für

Manfred Riedel

Fichte, sc

ist auch für Hegel der Name des

Naturrechts „nur herkömmlich", der Sache, dem „Begriff' des Rechts nach sogar unrichtig, da „unter Natur 1) das Wesen, der Begriff, 2) die bewußt¬ lose Natur (die eigentliche] Bed[eutung])" verstanden werde; der „eigent¬ liche Name" müsse lauten: „Philosophische Rechtslehre" 89. So führt die Entwicklung des Hegelschen Rechtsdenkens in der dritten Phase, die wir zwischen die Jahre 1816 und 1820 anzusetzen haben, ganz auf den Boden jener Philosophie der Freiheit zurück, die der Aufsatz über die ,Wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts' mittels der Konstruktion eines Rechts der „sittlichen Natur" zu überwinden strebte. Davon kann nun, nach Abschluß eines langen Prozesses der Verständigung über die Grundbegriffe der „Philosophischen Rechtslehre", der zugleich ihr geschichtliches Verhältnis zum überlieferten Naturrecht klärt, keine Rede mehr sein. Natur und Freiheit, Naturgesetz und Rechtsgesetz sind auch bei Plegel auseinandergetreten. „In der Natur", sagt Hegel in der Einleitung der Berliner Vorlesung über Philosophie des Rechts aus dem Winter¬ semester 1822/23, „ist die höchste Bewährung, daß ein Gesetz überhaupt ist; in den Gesetzen des Rechts gilt die Sache nicht weil sie ist, sondern jeder fordert, sie sollen einem eigenen Criterium entsprechen . . . Wenn wir diesen Unterschied der beiden Arten von Gesetzen betrachten und fragen, was der Boden ist, welchem die Gesetze des Rechts angehören, so sehen wir: das Recht kommt nur aus dem Geist, denn die Natur hat keine Rechte" 90. So weist denn Hegel mit aller Entschiedenheit die traditionelle Vorstellung ab, das „Gesetz der Natur" könne für den Menschen, sofern er

89 Ebd. — Auf diese Doppelbedeutung von „Natur" weist Hegel auch in den Vor¬ lesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Einleitung, hin. Vgl. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 5. Aufl. Hamburg 1955. 117. „Bezeichnet das Wort Natur das Wesen, den Begriff einer Sache, dann ist der Naturzustand, das Naturrecht der Zustand, das Recht, das dem Menschen nach seinem Begriff, nach dem Begriffe des Geistes zukommen soll. Dies aber darf nicht verwechselt werden mit dem, was der Geist in seinem natürlichen Zustande ist." Vgl. ferner Vorlesungen über Philosophie des Rechts, WS 1824/25. Nachschrift v. Griesheim. Ms. germ. quart. 545. S. 5: „ ... wir müssen bemerken, daß der Ausdruck Natur sogleich einen Doppel¬ sinn hat, einen wichtigen zu absolutem Irrtum verleitenden Doppelsinn. Einerseits bedeutet Natur, das natürliche Sein, wie wir uns nach den verschiedenen Seiten unmittelbar geschaffen finden, die unmittelbare Seite unseres Seins. Dieser Bestim¬ mung gegenüber und unterschieden von ihr heißt Natur auch der Begriff, Natur der Sache heißt Begriff der Sache, das was sie vernünftigerweise ist, und diese Sache kann so etwas ganz anderes sein, als bloß natürlich." 00 Philosophie des Rechts. Nach dem Vortrage des H. Prof. Hegel. Im Winter 1822/23. Nachschrift von H. G. Hotho. Hdschr. 2, S. 2. Teile der Hothoschen Nachschrift von Hegels Einleitungsvorlesung sind in Gans' Ausgabe der Rechtsphilosophie als An¬ merkung zur Vorrede abgedruckt [Werke. Bd 8. 8 f).

Hegels Kritik des Naturrechts

203

es nur erkenne und befolge, ein „Muster" des Rechts sein; das einzige Gesetz, welches das geschichtliche Dasein des Menschen trägt, ist das Frei¬ heitsgesetz, das nicht die „Natur", sondern der „Begriff" selbst gibt 91. Selbstgesetzgebung des Begriffs — das ist für Hegel der Gedanke der uni¬ versellen Rechtsfähigkeit des Menschen 92, der sich gegen das Bestehende erhebt und den Schein der Natürlichkeit durchbricht, hinter dem der „Ge¬ danke des Rechts", die Freiheit, bislang verborgen war. Dieser Gedanke, den das idealistische Naturrecht von

Rousseau, Kant

und

Fichte

zuerst

gefaßt hatte, verwandelt das bestehende Recht ineins mit dem Wissen von ihm. Zwar sei, heißt es in der Einleitungsvorlesung von 1824/25, im „ge¬ wöhnlichen Naturrecht", das die Natur, natürliche Bedürfnisse, Zwecke usf. zugrundelege, der Gedanke der Freiheit nicht mit Bewußtsein ausgeschlos¬ sen gewesen, aber „in der That ist sie zu kurz gekommen, indem beide Prinzipien ohne Würdigung ihrer Eigenthümlichkeit aufgenommen sind". Die Freiheit kann nicht in der Form der Natur, sondern muß in der des „Begriffs" gedacht werden, der die Freiheit mit sich selbst und der Natur vermittelt. Und wenn die Freiheit mit dem Anspruch des „Begriffs" auftritt, der behauptet, daß „sie es nur ist, um die es in Recht und Sittlichen zu thun sei, so geräth der Name Naturrecht ins Schwanken" 93. In diesen Vorlesungen scheidet Hegel nun ausdrücklich Naturrecht und Rechtsphilosophie; der Satz, mit dem sie eröffnet werden, enthält einen Hinweis auf den „doppelten Titel" seines Buches 94: Naturrecht und Staats¬ wissenschaft oder Grundlinien der Philosophie des Rechts. Daß diese Titelgebung kein Zufall ist, ergibt sich nach unseren Ausführungen von selbst. Sie hält in einem sehr konkreten Sinn diejenigen Momente fest, die für die Vorgeschichte des Werkes konstitutiv geworden sind. Der Untertitel: Na¬ turrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, verweist auf den Ansatz¬ punkt des Hegelschen Rechtsdenkens, seine Auseinandersetzung mit der klassischen Politik und dem modernen Naturrecht, in deren Verlauf sich Hegel über die Schranken beider und die Bedingung ihrer Überwindung verständigt. Das Ergebnis der Verständigung ist der Titel: „Philosophie des Rechts", der dem Ganzen voransteht und Naturrecht und Staatswissen¬ schaft in sich vereinigt. Es sollte gezeigt werden, daß dieser von Hegel ein-

91 Vgl. ebd. S. 3: „Der Begriff der Sache kommt uns nicht von Natur." 92 Vgl. ebd. S. 5: „Es ist als etwas Großes zu achten, daß der Mensch jetzt, weil er Mensch ist, als Rechte haben zu müssen angesehen wird, so daß also sein Menschsein höher ist, als sein Status." 93 Vorlesungen über Philosophie des Rechts, Nachschrift v. Griesheim, S. 9 f. 94 Vgl. ebd. S. 3.

204

Manfred Riedel

geführte Titel des „philosophischen Rechts" 95 und die von ihm bezeichnete Sache, der „Begriff" der Freiheit, geschichtlich dem idealistischen Naturrecht entspringt, als dessen Erben sich Hegel in der Rechtsphilosophie weiß.

95 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 3.

HARTMUT BÜCHNER

(BONN)

EIN UNBEKANNTER POLITISCHER TEXT HEGELS ?

Im vergangenen Jahr hat W. R.

Beyer

in einem Aufsatz über Hegels Mit¬

arbeit am fWürtembergischen Volksfreund'. Zu einem unbekannten HegelText versucht, Hegel als Autor eines im Würtembergischen Volksfreund von 1818 anonym erschienenen Beitrages in Anspruch zu nehmen

1 2.

Es han¬

delt sich um folgenden kurzen Beitrag: An Würtembergs Volk. Von einem Gränz-Nachbarn. — Ein Beitrag zur Berichtigung der Begriffe über Verfassung. 2 Der „unbekannte Hegel-Text" wurde gleich nach seinem Erscheinen von verschiedenen Seiten mit großem Interesse aufgenommen, und in der Tat wäre

Beyer

ein bedeutender und nur zu begrüßender Fund

gelungen, sollten die äußeren und inneren Gründe, auf die er seine Zu¬ schreibung stützt, stichhaltig sein. Allerdings müssen einem mit Hegels Stil und Manier einigermaßen ver¬ trauten Leser bereits bei der ersten Lektüre des Beitrages Bedenken kom¬ men. So klingt zum Beispiel schon der Beginn anders als alles, was wir sonst von Hegel kennen: „Liebe Nachbarn! Ihr wollt Recht und Ordnung bei Euch eingeführt haben, und das ist löblich; aber Ihr seyd darüber unter¬ einander in Streit und Mißhelligkeit gerathen, und nun könnte Euch gar leicht begegnen, daß das Unrecht und die Unordnung sich einschleichen. — Erlaubt einem Nachbarn, der es redlich mit Euch meint, und im Leben viel gesehen und erfahren hat. Euch seine Gedanken über Euer Wollen und Streben offen und unverblümt mitzutheilen. Vielleicht können seine Worte dazu beitragen. Eure Meinungen und Eure Gemüther einander näher zu bringen." Oder etwas später: „Es muß aber jemand seyn, der die Gesetze

1 In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin. 14 (1966), 709—717. Der Volks¬ freund-Beitrag ist von Beyer im Anschluß an seinen Zuschreibungsversuch im Wort¬ laut wiedergegeben (717—724). 2 In: Der Würtembergische Volksfreund. Ein Wochenblatt für Recht und bürgerliche Freiheit. Herausgegeben von einer Gesellschaft wahrheitsliebender Würtemberger. Stuttgart. Nr. 2 vom Sonnabend, den 31. Januar 1818. 9—12; und Nr. 3 vom Sonn¬ abend, den 7. Februar 1818. 17—21.

Hartmut Büchner

206

gibt, und jemand der sie in Ausübung bringt und ihnen Ansehen und Nachdruck zu verschaffen weiß. — Wer soll nun die Gesetze geben? Liebe Nachbarn! das fühlt Ihr selbst, daß zum Gesetzgeber nichts Geringes erfordert werde/7 Und schließlich ein drittes Beispiel: „Es gibt ohne Zweifel unter Euch manchen Familien-Vater, der in seinem Hause nie reden darf, als wenn es die Andern ihn heißen. Sagt, was haltet Ihr von einem solchen Hausvater, und seinem Hause? — Wohl habt Ihr ein altes Recht, aber das Recht des Regenten ist eben so alt, als das Recht des Volks. Dieß müßt Ihr nie vergessen, und müßt sorgfältig abwägen, was ihm zukomme, und nicht zukomme. Die Verfassung soll ihn allerdings hindern Euch Böses zu thun, aber sie soll ihm die Hände nicht binden zum Guten." 3 In diesem Ton und Stil ist der ganze Beitrag gehalten, und er läßt viel eher an einen Volkserzieher vom Schlage etwa J. P.

Hebels

denken als ausgerechnet an

Hegel. Die Angabe „von einem Gränz-Nachbarn" scheint zudem viel eher auf einen in einem der Nachbarstaaten Württembergs geborenen Mann als auf einen dort wohnenden Württemberger hinzuweisen. Auch will zum Beispiel der den Ausführungen zugrunde liegende, mehr herkömmliche Begriff von bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlicher Freiheit nicht recht mit diesen Begriffen bei Hegel selbst zusammenstimmen. Die freiheitliche Haltung des auf Seiten des Königs für die neue Verfassung streitenden Autors sowie die Tatsache, daß er zuweilen Dinge zur Sprache bringt, die auch bei Hegel anklingen oder Vorkommen, genügen längst nicht, um eine Hegelsche Herkunft zu erweisen; sonst müßten einige Dutzend ähnlich gehaltener Aufsätze aus jenen Jahren des Verfassungs- und Landstände¬ streites auch Hegel zugeschrieben werden. Nun sind es allerdings überhaupt weniger die inneren als viel mehr die äußeren Indizien, auf die

Beyer

seine Zuschreibung mit einigem Recht

zu stützen scheint. Diese Indizien sollen im Folgenden kurz durchgegangen werden, wobei wir billig darauf verzichten, auf die aktualisierenden, poli¬ tischen Anspielungen, die

Beyers

Zuschreibungsversuch durchsetzen, näher

einzugehen, da sie nichts zur Klärung der Sache beitragen und zudem von falschen Analogien ausgehen. Der Hauptzeuge, auf den sich

Beyer

stützt, ist K.

Rosenkranz,

der in

seiner Hegel-Biographie im Zusammenhang einer Besprechung von Hegels Rezension der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Würtemberg, im Jahre 1815 und 1816 in den Heidelbergischen Jahrbüchern der Litteratur von 1817 folgendes mitteilt: „Bei dem

3 Ebd. 9 f., 10, 20.

Ein unbekannter politischer Text Hegels?

207

Volk fand diese Recension, deren Einleitung zumal ein Meisterstück ist, so viel Anklang, daß der Herausgeber einer Zeitschrift, des Würtembergischen Volksfreundes, Hegel bewog, von derselben als dem gründlichsten Manifest gegen die Altrechtler, wie man sich damals ausdrückte, einen besonderen Abdruck zur größeren Verbreitung und segensreicheren Wir¬ kung machen zu lassen. Was auch geschah." 4 schung vor, daß sie, mit einer (nach

Beyer

Beyer

wirft der Hegel-For¬

fragwürdigen) Ausnahme4 5 6,

aus politisch-reaktionären Gründen dieser RosENKRANZ-Stelle bzw. dem dort erwähnten Abdruck der Hegelschen Schrift nicht nachgegangen sei und es so versäumt habe, einen wesentlichen Beitrag Hegels zur damaligen politischen Diskussion zu aktualisieren. Offenbar aufgrund der KRANZ-Stelle machte sich

Beyer

Rosen-

nun selbst daran, den Würtembergischen

Volksfreund nach einem entsprechenden Beitrag Hegels durchzusehen, und stieß dabei auf das angeführte Stück. Hierzu ist zunächst folgendes festzustellen bzw. richtigzustellen: 1. Bereits 1912 hat P.

Roques

in seiner Hegel-Biographie auf eine angeb¬

liche Verbreitung der Hegel-Rezension aus den Heideibergischen Jahrbü¬ chern durch den Volksfreund hingewiesen, ersichtlich aufgrund der Stelle bei

Rosenkranz,

auf den sich

Roques

auch sonst oft bezieht, ohne ihn

jedesmal zu nennen: „A la meme revue Hegel fournit en 1817 uri autre article sur les Debats des Etats de Württemberg en 1815 et 1816. . . . Cet article est une oeuvre capitale, qui eut le plus grand succes et fut vulgarisee par le Würitembergischer Volksfreund." 6 Auf sich

G. Lasson

Roques

wiederum berief

im Vorwort zu seinen Ausgaben der Hegelschen Rezension:

„Die württembergische Regierung war Hegel natürlich für seine Arbeit dankbar und tat, was sie konnte, sie im eigenen Lande bekannt zu machen. Der ,Württembergische Volksfreund' brachte einen Abdruck der Hegelschen Arbeit (P.

Roques

. . . S. 219)."7 Schließlich gab auch F.

einer Anmerkung zu S. 51 seines Hegelwerkes „Daß der /Volksfreund' ihn abdruckte

Roques

(Roques

Rosenzweig

als „Quelle

in

wieder:

. . .) beweist hier nichts, da

das Blatt nicht ministeriell war." 8 Und zu guter Letzt hat kurz vor Erschei-

4 K. Rosenkranz: Hegel's Leben. Berlin 1844. 312. Vgl. auch A. Stahr: Hegel als Politiker. In: Jahrbücher der Gegenwart. Hrsg. v. A. Schwegler. Tübingen. Jg. 1844. 962 f. 5 G. E. Müller: Hegel — Denkgeschichte eines Lebendigen. Bern und München 1959. 282. 6 R. Roques: Hegel — sa vie et ses Oeuvres. Paris 1912. 219. 7 G. W. F. Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. v. G. Lasson. Leipzig 1913. XXV; 2. Aufl. 1923. XXVII. 8 F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 2. München u. Berlin 1920. 251. S. 51 spricht Rosenzweig ohne Quellenangabe davon, Hegels Aufsatz scheine „als Sonder-

Hartmut Büchner

208

nen des BEYERschen Aufsatzes bereits R. K. Hocevar auf den Zusammen¬ hang der Hegel-Rezension in den Heideibergischen Jahrbüchern mit dem Volksfreund hingewiesen 9. Gegenüber Roques, Lasson und Rosenzweig kommt Beyer und mit ihm Hocevar also vielleicht das Verdienst zu, den angeblichen Hegel-Beitrag im Volksfreund erstmals lokalisiert und bekannt gemacht zu haben, vorausgesetzt allerdings, daß sie — und das gilt auch gegenüber den drei früheren Hegelforschern — die RosENKRANZ-Stelle überhaupt richtig interpretiert haben. 2. Beyer

liest die oben zitierte RosENKRANZ-Stelle so, als stünde dort wört¬

lich, der Herausgeber des Würtembergischen Volksfreundes habe von Hegel einen auf die Heidelberger Landständeschrift zurückgehenden Text zum Abdruck im Volksfreund erhalten.

Rosenkranz

berichtet indessen nur,

daß der Herausgeber des Volksfreundes ,,. . . Hegel bewog, . . . einen be¬ sonderen Abdruck . . . machen zu lassen. Was auch geschah”. Daß der Herausgeber des Volksfreundes, den

Beyer

als „einen Dr.

Michaelis”

vorstellt, selbst den Abdruck veranstaltete und daß dieser Abdruck dann im Volksfreund selbst erschien, davon ist bei Die Quelle für mit Karl

Hegel

Rosenkranz

Rosenkranz

nicht die Rede.

selbst waren, wie aus seiner Korrespondenz

hervorgeht, offenbar „zwei Briefe des Prof.

Michaelis”

in Hegels Nachlaß, die heute verschollen sind 10. Nachforschungen nach einem MiCHAELis-Nachlaß, der vielleicht Briefe von Hegel in der einschlä¬ gigen Angelegenheit enthalten könnte, waren bisher erfolglos. Salomo Heinrich Karl August

Michaelis

(1768—1844) war nicht nur, wie

Beyer

ihn etwas allzu einseitig kennzeichnet, ein liberaler Journalist und im Jahre 1818 Herausgeber des Würtembergischen Volksfreundes, sondern zeitweilig ein angesehener Verleger und ein geschätzter Übersetzer, zudem Professor der deutschen und französischen Literatur an der Universität

druck in Württemberg, und zwar billiger . . ., vertrieben worden zu sein". Vgl. hierzu unten S. 212 f. 9 R. K. Hocevar in: Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie. 52 (1966), 119. Diese Anmerkung dürfte Beyer allerdings noch nicht gekannt haben. Vgl. jetzt auch Hocevars Erwiderung auf Beyers Zuschreibungsversuch, in: Zeitschrift f. philosophi¬ sche Forschung. 21 (1967), 146—147. H. vertritt hier die Ansicht, daß es sich bei dem Volksfreund-Beitrag um den von anderer Seite überarbeiteten Hegel-Text handelt. Auch legt H. großen Wert auf die Priorität der Entdeckung gegenüber Beyer. 10 Brief v. 29. 10. 1840. Die Stelle lautet: ,,... das Manuskript über die Württembergische Verfassung. Wie tief Hegel die letztere gefaßt, wie sehr er sich des wahren Wohls des Volkes angenommen, beweisen im Briefwechsel die 2 Briefe des Prof. Michaelis." Leider enthält der Brief nichts Weiteres zur Klärung der offenen Fragen. — Die ganze Brieffolge wird im nächsten Band der Hegel-Studien von F. Nicolin veröffentlicht werden.

Ein unbekannter politischer Text Hegels?

209

Tübingen, und er übernahm Ende 1817 in Stuttgart die Redaktion des offi¬ ziellen Königlich-Württembergischen

Staats-

und Regierungs-Blattesu.

Mit diesen Ämtern muß er ein in Stuttgart höchst angesehener, viele Be¬ ziehungen unterhaltender Mann gewesen sein, für den es nahelag, ent¬ weder durch eigene Initiative oder als Vermittler für eine Verbreitung der auf Regierungsseite sehr geschätzten Hegelschen Landständeschrift zu sorgen. 12 3. Beyer

gibt in seinem Zuschreibungsversuch eine Herausgeber-Notiz wie¬

der (714), die den fraglichen Volksfreund-Beitrag einführt und folgender¬ maßen lautet: „Diese wohlmeinende, gründliche und belehrende Ermah¬ nung ist dem Redakteur des Würtembergischen Volksfreundes schon im Juli v. J. [also im Juli 1817] mitgetheilt, und damals auch gleich dem Drucke übergeben worden. Sie erschien aber so schändlich entstellt, daß man durch die Verbreitung den ehrwürdigen Verfasser beleidiget haben würde.

Auf

schlechtem

Löschpapier und von zahllosen

Druckfehlern

wimmelnd, ist jener Abdruck durchaus unlesbar. Wir geben daher, gemäß der dem Verfasser ertheilten Zusage, den Aufsatz hier abermals und zwar auch deshalb, weil die Schlußbemerkung: lieber die Aufstellung der Gemeinde-Deputationen, die schönste Würdigung dieses trefflichen In¬ stituts enthält. — Von diesem lieben Grenz-Nachbarn, den Deutschland zu seinen ersten Schriftstellern zählt, wie von mehrern seines Gleichen, wird dieses Wochenblatt oft Beiträge enthalten." 13 Abgesehen davon, daß wir keinerlei Anhaltspunkte für eine vorgesehene ständige Mitarbeit Hegels am Volksfreund haben und solche Mitarbeit dem ganzen Stil und Cha¬ rakter des Blattes nach unwahrscheinlich ist, hätte es müssen,

daß

die

der

Herausgeber-Notiz

zu

Beyer

entnehmende

auffallen Datierung

des Volksfreund-Beitrages nicht mit der Datierung der Hegelschen Land¬ ständeschrift zusammenstimmt. Nach der Notiz lag der Volksfreund-

11 Vgl. die Notiz in diesem Staats- und Regierungs-Blatt, Nr. 76 v. 16. 12. 1817. 590: „Se. Königl. Majestät haben vermöge Entschließung vom 7. Dez. die erledigte Stelle für die Redaction des Staats- und Regierungs-Blattes dem Professor D. Michaelis zu übertragen geruht." Ferner 7. P. Hebel: Briefe. Hrsg. u. erl. v. W. Zentner. Bd 2. Karlsruhe 1957. Anmerkung S. 888 zu Brief 427. 12 Die von R. Haym: Hegel und seine Zeit, Berlin 1857, 349 f verbreitete und bis heute immer wieder kolportierte Verdächtigung, Hegel habe die Heidelberger Land¬ ständeschrift aus eigennützigen Motiven (um die Kanzlerstelle der Universität Tübin¬ gen zu erhalten) so geschrieben, wie er sie schrieb, ist von Haym selbst in seiner Auto¬ biographie: Aus meinem Leben, Berlin 1902, 257, ausdrücklich zurückgenommen wor¬ den. Vgl. bereits die Richtigstellung bei K. Fischer: Hegels Leben, Werke und Lehre. 2. Aufl. Heidelberg 1911. 1213; bei Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 2. 251 und ausführlicher in: Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Bd 2. 432. 13 Wärt. Volksfreund. Jg. 1818. 9.

Hartmut Büchner

210

Beitrag bereits im Juli 1817 abgeschlossen vor; wo und in welchem Zusammenhang er damals bereits gedruckt und „erschienen" war, wis¬ sen wir nicht. Hegels Landständeschrift jedoch, die ja erst der Anlaß für

Michaelis

war, sich wegen eines „besonderen Abdruckes" an Hegel

zu wenden, begann in den Heideibergischen Jahrbüchern der Litteratur erst im November 1817 in Fortsetzungen zu erscheinen; sie beginnt mit Nr 66 der Jahrbücher, setzt sich im gleichen Monat noch in den Num¬ mern 67—68 fort und liegt dann erst mit den Nummern 73—77 des Dezemberheftes vollständig vor. Einer datierten Buchhändler-Anzeige von Mohr

und

Winter,

das weitere Erscheinen der Jahrbücher betreffend,

im Anschluß an das Intelligenzblatt Nr 1 der Heidelberger Jahrbücher der Litteratur von 1818 ist dann noch folgendes zu entnehmen: „. . . Wir fügen dieser Anzeige nur bei, daß das Decemberheft der Heidelberger Jahrbücher von 1817 wegen nothwendig gewordener vermehrter Bogenzahl und Verfertigung des General-Registers sowohl über die Jahrbücher selbst als über den Bericht von neuen Büchern erst jetzt ausgegeben werden kann. . . . Heidelberg am 20. Jan. 1818." 14 Hegels anonym erschienene Rezen¬ sion der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des König¬ reichs Würtemberg usw., eben die sog. Landständeschrift von 1817, lag also erst im Januar 1818 vollständig vor. Es ist daher unmöglich, daß der bereits im Juli 1817 fertige und erstmals gedruckte Volksfreund-Beitrag irgend etwas mit Hegels Rezension zu tun haben kann. Hinzu kommt noch, daß die Proportionen der Hegelschen Landständeschrift und des Volks¬ freund-Beitrages so differieren, daß es schon allein von daher unmöglich er¬ scheint, letzteren als einen „besonderen Abdruck" der ersteren zu deuten; der Volksfreund-Beitrag zählt, bei nur wenig umfangreicherem Satz pro Seite, ganze 8 Seiten, während Hegels Schrift einen Umfang von 128 Seiten hat — und zwar umfaßt jede der insgesamt acht Fortsetzungen 16 Seiten, Hegels Schrift ist also genau 8 Bogen stark. Selbst wenn man, wie

Beyer

immerhin erwägt (715), eine redaktionelle Überarbeitung der Hegelschen Schrift durch

Michaelis

annehmen will — was datierungsmäßig jedoch

unmöglich ist —, bliebe diese Kürzung von 128 auf 8 Seiten ein unzumut¬ bares Stück. Die bisherigen Darlegungen ergeben, daß Hegel unmöglich als Autor der Landständeschrift Verfasser des Volksfreund-Beitrages sein kann; auch dann nicht, wenn man eine Überarbeitung durch

Michaelis

anzuneh-

14 Hier dürfte auch der Grund dafür liegen, daß Hegel die „beifolgenden Bogen", das sind die Dezember-Fortsetzungen der Landständeschrift, erst am 31. 1. 1818 an Niethammer schickte. Briefe von und an Hegel. Bd 2. 175.

Ein unbekannter politischer Text Hegels?

211

men sich zwingt. Es kann nun nicht unsere Aufgabe sein herauszufinden, wer der wirkliche Verfasser jenes Beitrages ist. Vielmehr haben wir die noch offene, entscheidende Frage zu klären, was es denn mit dem von

Rosenkranz

behaupteten „besonderen Abdruck" der hegelschen Land¬

ständeschrift auf sich habe? Das Problem löst sich ohne alle Schwierig¬ keiten, wenn man die oben nicht vollständig zitierte Buchhändler-Anzeige von

und

Mohr

Winter

zuende liest. Dort nämlich heißt es weiter: „. . .

Ihres besondern Interesse wegen geben wir zugleich die in dem Novem¬ ber- und December-Heft enthaltene: Beurtheilung der im Druck erschie¬ nenen Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des König¬ reichs Wiirtemberg im Jahre 1815 und 16. I—XXXIII. Abtheilung. 8 Bogen stark, besonders abgedruckt, aus; der Preis davon ist 15 ggr. oder 1 fl." In einer weiteren Buchhändler-Anzeige von

Mohr

und

Winter

im Intelli¬

genzblatt Nr VII der Heidelberger Jahrbücher der Litteratur vom August 1818 wird dieser Sonderabdruck dann nochmals angeführt, diesmal mit Nennung Hegels als Verfasser: „Hegels Beurtheilung der im Druck er¬ schienenen: Verhandlungen . . ." usw. Es scheint uns außer Zweifel zu stehen, daß

Rosenkranz

mit seiner Bemerkung „Was auch geschah" auf

eben diesen Sonderabdruck zielte. Das einzig Irreführende an der For¬ mulierung seiner Mitteilung lag in den Worten: ,,. . . der Herausgeber einer Zeitschrift, des Würtembergischen Volksfreundes . . ." Wie weit Michaelis

in seinen genannten Eigenschaften am Zustandekommen des

Sonderabdruckes beteiligt war, wissen wir nicht; wir können jetzt aber sehen, wie

Rosenkranz'

Mitteilung nicht mißverstanden werden darf.

Der Sonderabdruck aus den Heideibergischen Jahrbüchern, der auf den Bibliotheken verhältnismäßig leicht zu finden ist, unterscheidet sich von der Erstveröffentlichung in den Jahrbüchern selbst dadurch, daß ihm ein eigenes Titelblatt vorgeklebt worden ist und die Paginierung neu von Seite 1 bis 128 durchgeführt worden ist; ansonsten ist der Sonderdruck, oder genauer: die Sonderausgabe bis in alle Einzelheiten mit der Jahrbuch¬ veröffentlichung identisch. 15 Aus einer Akte im Hauptstaatsarchiv Stuttgart geht klar das große Interesse von Regierungsseite an einer günstigen Verbreitung der Hegel-

15 Die Sonderausgabe der Landständeschrift trägt folgendes Titelblatt: „Beurthei¬ lung / der / im Druck erschienenen: / Verhandlungen / in der / Versammlung der Landstände / des / Königreichs Würtemberg / im Jahr 1815 und 1816. / I — XXXIII. Abtheilung. / (Aus den Heideibergischen Jahrbüchern der Litteratur Nov. und Decbr. 1817 / besonders abgedruckt.) / Heidelberg, / bey Mohr und Winter."

Hartmut Büchner

212

sehen Schrift hervor. 16 Die Akte ist registriert unter Bestand E 10 aus Bü. 151 und besteht aus mehreren Stücken. Das erste ist ein Schreiben von

Cotta,

vermutlich an einen Stuttgarter Minister: „Stuttgart den

14n Febr. 1818. — Euer Excellenz haben wir die Gnade anzuzeigen, daß der Druck der Hegelschen Beurtheilung der landständischen Verhandlun¬ gen bei der Verlagshandlung in Heidelberg

[Mohr

und

Winter]

nun

beendigt ist. — Da die Verlagshandlung schon für besondere Abdrücke gesorgt hat, und dadurch diese interessante Schrift in allen Gegenden Deutschlands verbreitet: so haben wir inzwischen nur 100 Ex. verlangt; die in Württemberg, bei dem herabgesetzten Preiß von f 1 auf 30 Creuzer, wie wir nicht zweifeln, ihre Abnehmer finden werden. Beifolgende kurze Anzeige nehmen wir uns die Freiheit Euer Excellenz zur gnädigen Durch¬ sicht vorzulegen. — Mit unterthänigem Respekt Euer Excellenz unterthänige JG Cottaische Buchhandlung.

Wagner."

Dies Schreiben enthält

am oberen Seitenrand folgende Notiz von anderer Hand: „Den 15/cj. derselben zu erkennen gegeben, daß die möglichste Verbreitung der Hegel¬ schen Beurtheilung der landständischen Verhandlungen, als einer Schrift, die vorzüglich geeignet sey, die Ansichten und Urtheile über diesen Gegen¬ stand zu berichtigen. Höchsten Orts nicht mißbilligt werden könne, so wie auch die eingeschickte Anzeige des Buchs und die Herabsetzung seines Preises für diesen Zweck ganz passend scheine." — Rechts oben, schräg über die Seite, steht dann noch ein Vermerk von 3. Hand mit Bleistift: „Policey — Minister des Innern — der Finanzen". Beiliegt folgende hand¬ schriftliche Anzeigenprobe, mit ziemlicher Sicherheit von gleicher Hand geschrieben wie das CoTTAische Schreiben: „Beurtheilung der im Druck erschienenen Verhandlungen der Versammlung der Landstände des König¬ reichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816, le bis 33e Abtheilung gr. 8° brochirt.

Mohr

und

Winter

— Obige Schrift, die sich über eine wichtige

Periode des Vaterlandes mit eben so viel gründlicher Umsicht, als ruhiger und unpartheyischer Prüfung verbreitet, und den richtigsten Standpunkt angibt, von dem aus diese denkwürdigen Verhandlungen zu beurtheilen sind, verdient allgemein gelesen zu werden. Exemplare davon sind bei

16 Das Folgende sei hier nur zur Abrundung mitgeteilt, ohne auf die damit ver¬ bundenen Probleme, wie z. B. Hegels damaliges Verhältnis zur württ. Regierung, jetzt näher einzugehen; das hätte nur im Rahmen einer Gesamtdarstellung des historischen Komplexes ,Heidelberger Landständeschrift' einen Sinn. Wichtig scheinen uns die Aktenstücke in unserem Zusammenhang auch deshalb, weil aus ihnen klar hervor¬ geht, daß Hegel spätestens Februar 1818 bei offiziellen württ. Stellen als der Ver¬ fasser der anonym erschienenen Landständeschrift bekannt war. — Dem Hauptstaats¬ archiv Stuttgart danken wir für die Erlaubnis zum Abdruck der Akte.

Ein unbekannter politischer Text Hegels?

213

Unterzeichnetem, für 30 Creuzer zu haben. — Tübingen den — Heinrich Laupp,

Buchhändler”. Schließlich enthält die Akte noch folgendes amt¬

liches Schriftstück: „Schreiben des Staats Secretärs an 1.) SttsMin. Min. der Res. Polizey vMathus.

vPhull

2.) Geh.R. des Innern

vOtto

3.) Präsidenten

15. Febr. 18. — EE. habe ich die Ehre Ah. Auftrag gemäß zu

eröffnen daß die in den Heidelberger Jahrbüchern zuerst erschienene, von Professor Hegel in Heidelberg herrührende Beurtheilung der Verhand¬ lungen der Württemb. Landstände werde sonächst von Buchhändler

Laupp

in Tübingen angekündigt werden, und auch in der hiesigen Cottaschen Buchhandlung zu haben seyn, und daß EE. der Intention Sr. Majestät ent¬ sprechen werden, wenn Hochdiselben Ihres Orts zur Verbreitung dieser interessanten Schrift unter das denkende Publikum etwas beytragen wol¬ len. Die dißfallsigen Auslagen Euer Excellenz würden von der StaatsCasse zu ersetzen seyn, wesfalls Hochdiselben seiner Zeit mit dem H.Präs. vMathus zu

Namen:

communizieren hetten [am Rande dieses Satzes stehen die

„Phull — Otto”]

[am Rande hier der Name:

— Für die dißfallsigen Auslagen Euere Exc. „Mathus.”]

hätte die StaatsCasse Ersatz zu

leisten, und möchten Hochdiselben auch diejenigen Auslagen, welche H. St. M.

vPhull u.

H.Min.

in Folge einer gleichen Communnication,

vOtto,

haben u. später EE. ratifizieren^] werden, aus jener Casse ersetzen las¬ sen. Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung.” — Es erübrigt sich, noch ausführlicher auf die sehr schwachen inneren Gründe einzugehen, die

Beyer

für eine Hegelsche Autorschaft des Volks¬

freund-Beitrages anführt. Wenn er zum Beispiel angesichts des Titels dieses Aufsatzes: Ein Beitrag zur Berichtigung der Begriffe über Verfas¬ sung, sagt, dieser Titel „kann eigentlich nur von Hegel stammen. Wer hat es denn sonst mit dem ,Begriff' zu tun?” (715), so braucht man nur darauf zu verweisen, daß es damals und lange vorher sehr viele Philosophen mit „Begriffen” und auch mit dem „Begriff” zu tun hatten; von „dem Begriff” in Hegels eigenstem Sinne ist im Volksfreund-Beitrag überhaupt nicht die Rede. Der Titel dieses Beitrages war ein in jenen Jahrzehnten durchaus üblicher, ja man kann hier geradezu von einer stehenden Rede sprechen. 17 Ein Vergleich der Landständeschrift und des Volksfreund-Beitrages zeigt darüber hinaus, daß, trotz

Beyers

gegenteiliger Ansicht, keine ernst zu

nehmenden wörtlichen Übereinstimmungen Vorkommen. Gewisse Paralle¬ len im Faktischen und der damit zusammenhängende Wortgebrauch sind

17 So veröffentlichte, um nur ein Beispiel zu nennen, J. H. G. Heusinger bereits 1794 in Halle eine Schrift mit dem Titel: Beitrag zur Berichtigung einiger Begriffe über Erziehung und Erziehungskunst.

Hartmut Büchner

214

aus der damaligen zeit- und ideengeschichtlichen Situation zu erklären und daraus, daß es sowohl Hegel als auch dem Verfasser des VolksfreundBeitrages, freilich auf verschiedenen Ebenen, ungefähr um die gleiche Sache gingAm Schluß seines Zuschreibungsversuches (717) konstruiert

Beyer,

ganz

im Sinne der von ihm geforderten und vertretenen „Aktualisierung" des Hegelschen Denkens, einen scharfen Gegensatz zwischen eben dieser „Aktualisierung" und der angeblich nur reaktionären, „rein philologi¬ schen,

nur editionellen, hermeneutischen

und

abglättenden

Hegelfor¬

schung des gegenwärtigen Idealismus und seiner ,Hegelei'Einmal ganz abgesehen davon, daß

Beyers

Zuschreibungsversuch selbst ruhig etwas

mehr an philologischer und hermeneutischer Hegelforschung vertragen hätte, sind wir der Ansicht, daß die in ihren Grenzen durchaus berech¬ tigten Aktualisierungsversuche gegenüber Hegel einerseits und eine kri¬ tisch-historische, philologisch fundierte und hermeneutisch die Probleme offen haltende und durchdringende Hegelforschung andererseits nicht unbedingt Gegensätze zu sein brauchen. Die Hegelforschung im engeren Sinne verlöre ihre Lebendigkeit, wenn sie sich abkapselte und nicht auch das Gespräch mit dem, was heute an der Zeit ist, suchte, wie umgekehrt eine forcierte Aktualisierung Hegels bodenlos und unfruchtbar würde, wenn sie glaubte, auf eine kritisch-historisch fundierte und hermeneutisch klärende Hegel-Aneignung verzichten zu können.

W. VER EECKE

(LÖWEN)

ZUR NEGATIVITÄT BEI

HEGEL"

Die Negativität ist ein Hauptmoment der Philosophie Hegels. Sie er¬ scheint nicht nur hier und dort in seinem System. Die Negativität ist selbst der Motor der Bewegung in der Phänomenologie des Geistes. Hegel stellt nicht nur fest, daß das Bewußtsein Negativität sei, er behaup¬ tet zugleich, daß die Negativität des Bewußtseins gedacht werden solle. Schon viele haben Hegel und sein System kritisiert. Wir möchten dies hier auch versuchen, indem wir untersuchen, ob Hegel den verschiedenen Arten der Negativität gerecht geworden ist. Um die Arten der Negativität festzustellen, gehen wir aus von der Linguistik und der Psychoanalyse. Die Linguistik unterscheidet zwischen „nein" und „nicht". Die nein-Negation fordert zwei Subjekte. Das erste Subjekt bietet dem Gegner einen Inhalt. Dieser hat seine Antwort zu formulieren innerhalb des ihm gebotenen Inhaltes. Das Typische einer nein-Negation ist, daß das zweite Subjekt behauptet, einen gegensätzlichen Standpunkt einnehmen zu müssen gegenüber dem Inhalt der ersten Aus¬ sage. Der Inhalt selbst wird nicht geändert. Wenn der Dialog nicht weiter geht, dann hat man in dieser Situation zwei Standpunkte. Das zweite Sub¬ jekt hat sich seinen eigenen Standpunkt erobert durch seine negative Ant¬ wort. Ganz anders ist die Lage bei einer nicht-Negation. Hier ist nur ein sprechendes Subjekt erfordert. Die nicht-Negation steht zwischen dem Subjekt des Satzes und dem Inhalt. Linguistische Analysen der französi-

* DerVerfasser ist Aspirant des Belgischen National-Instituts für wissenschaftliche Forschung (N.F.W.O.). — In diesem kleinen Beitrag, der nur einen Hinweis ausspre¬ chen möchte, wurde auf Einzelbelege verzichtet. Man findet sie in ausreichendem Maße in der Arbeit des Verfassers: Psychologische en filosofische betekenis van de verloochening bij Freud. Belichting van het Probleem met behulp van gegevens uit de kinderpsychologie, de linguistiek en de dialectische negatie bij Hegel. (Doktorarbeit an der Universität Löwen, 1966. 1. Teil: Verhandeling, 2. Teil: Voetnota's en bibliografie).

216

W. Ver Eecke

sehen Negation „ne . . . pas" zeigen, daß in dieser Art Negation eine Gegenbewegungsperspektive gegen den Inhalt liegt. Diese Gegenbewe¬ gung tendiert gegen null. So wird der Inhalt selbst affiziert durch die nicht-Negation. Diese zwei linguistischen Negationen entsprechen zwei NegativitätsDimensionen in der Entwicklung des Kindes. Die Struktur der lingui¬ stischen nein-Situation entspricht der Mutter-Kind-Beziehung. Nach der Symbiose des ersten Jahres kommt das Kind dazu, seiner Mutter gegen¬ über nein zu sagen. Psychologen haben festgestellt, daß das Kind der Mutter gegenüber häufiger nein sagt als dem Vater gegenüber. Hinzu kommt, daß das Kind dann manchmal trotzdem tut, was die Mutter ver¬ langt, auch wenn es zuerst nein gesagt hat. Das nein des Kindes gegen¬ über der Mutter ist für es das Mittel, einen eigenen Standpunkt zu erobern. Dieser Standpunkt ist noch leer, ohne Inhalt. Das Leben des Kindes hat noch keinen eigenen Inhalt. Trotzdem ist die nein-Negation für die weitere Entwicklung des Kindes sehr wichtig. Es ist die Vorstufe zum Subjekt-Werden. Studien über psychotische Kinder haben erwiesen, daß bei diesen genau diese nein-Negation nicht stattgefunden hat. Die durch die Linguistik bloßgelegte nicht-Negation hat die gleiche Struktur wie die Erfahrung des Kindes im Ödipuskomplex. Die linguisti¬ sche Negation geht gegen den Inhalt des Satzes an, mit dem das Subjekt des Satzes intim verbunden ist, vernichtet ihn aber nicht ganz. Im Ödipus¬ komplex sieht das Kind, daß die Ansprüche seiner Begierden Unmögliches verlangen. Das Kind spricht ein „nicht möglich" aus gegenüber diesen Begierden. Dadurch wird es ein vollwertiges Subjekt. Es hat das Gesetz des Lebens anerkannt. Es hat zum erstenmal die Erfahrung gemacht: das Leben ist kein Traum, in dem alle Wünsche erfüllt sein könnten. Nun fragt es sich, ob bei Hegel diese zweifache Negativität vorkommt. Hat Hegel diesen Unterschied gesehen und respektiert? Eine Analyse der Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes bringt drei Negativitätsmomente ans Licht. Das erste finden wir beim Herrn. Auf die Bitte des Knechtes um das Leben sagt der Herr ja; er schenkt dem Knecht das Leben. Auf die Bitte des Knechtes um An¬ erkennung antwortet der Herr mit nein; der Knecht soll dienen und ge¬ horchen. In diesem letzten Fall haben wir zwei Subjekte und einen Inhalt. Das zweite Subjekt, der Herr, kann in seinem Benehmen begriffen werden als eine Opposition gegen die Bitte des Knechtes. Es geht hier deswegen um eine nein-Situation. Das zweite Negativitätsmoment finden wir beim Knecht. Der Knecht hatte Furcht vor dem Tod. Um dem Tod zu entrinnen und das Leben

Zur Negativität bei Hegel

217

zu behalten, verzichtet er auf die Ansprüche seiner Begierde nach Aner¬ kennung. Der Knecht spricht ein „nicht möglich" aus gegen seinen Wunsch nach Anerkennung. Er akzeptiert den Dienst und die Arbeit um des Lebens willen. Einstweilen stellt er seinen Wunsch nach Anerken¬ nung zurück. So haben wir hier nur ein Subjekt und einen negierten In¬ halt. Wir haben also beim Knecht eine nicht-Erfahrung festgestellt. Damit, d. h. mit dem Dienst und der Arbeit hat der Knecht tatsächlich eine Er¬ fahrung durchgemacht, die die Beziehung zwischen Herr und Knecht ändern wird. In dieser Beziehung erscheint das dritte Negativitätsmoment. Dieses Negativitätsmoment finden wir wiederum beim Knecht. In seiner Arbeit hat der Knecht Anerkennung gefunden. Die Resultate seiner Arbeit sind für den Knecht tatsächlich die ihm durch den Herrn entzogene Aner¬ kennung. Durch diese dem Knecht gewordene Anerkennung gilt ihm nun das Nein des Herrn nichts. Was kann ihm das Urteil des Herrn bedeuten, der doch nicht arbeitet? Das Nein des Herrn zeigte sich beim Knecht in seinem Dienst und seiner Arbeit. Hier war der Herr als das einzige Bewußtsein anerkannt gewesen. Um diese Anerkennung hatte er gerade gekämpft im Kampf auf Leben und Tod. Nachdem der Knecht sich nun aber selbst bewußt gewor¬ den ist als Arbeiter, ist ihm der Herr nicht nur nicht das einzige, vielmehr das nichtige Bewußtsein. Warum soll er dann noch dienen? Auf die Bitte des Herrn, ihn durch den Dienst anzuerkennen, spricht der Knecht jetzt sein Nein. Er weigert sich, weiter zu dienen. Es kommt zum Sklaven¬ aufstand, von Hegel in der Phänomenologie des Geistes nachdrücklich er¬ wähnt. Das Nein, das früher der Herr dem Knecht gegenüber gesprochen, spricht jetzt der Knecht dem Herrn gegenüber aus. Gegenseitige Anerken¬ nung finden wir in unserem Abschnitt der Phänomenologie nicht. Wenn wir jetzt die drei Negativitätsmomente zusammenfassen, dann haben wir zweimal ein „nein" und einmal ein „nicht". Das „nicht" geht zusammen mit einer Erfahrung des betreffenden Subjektes über das Leben. Das „nein" ist eine reine und in seiner Bedeutung von dem dieses „nein" erlebenden Subjekt nicht zum Bewußtsein erhobene zwischenmenschliche Beziehung. In

Kojeves

Hegelinterpretation wird nachdrücklich die zwi¬

schenmenschliche Beziehung betont. Deswegen haben wir bei

Kojeve

nur

die nein-Negativität. Die Betonung der Zwischenmenschlichkeit findet sich schon bei Hegel. Nur der Knecht macht eine nicht-Negativitätserfahrung. Und trotzdem finden wir den Herrn wieder im Stoizismus. Auch der Herr muß also eine nicht-Negativitätserfahrung durchgemacht haben. Unser Ab¬ schnitt zeigt aber nicht, wie der Herr diese Erfahrung macht. Hegel scheint also im Stoizismus eine nicht-Erfahrang beim Herrn anzunehmen, wäh-

W. Ver Eecke

218

rend er eine solche Erfahrung im Abschnitt über den Herrn und Knecht gänzlich vernachlässigt. Bei

Kojeve

hat man dieses Schwanken nicht mehr;

wir haben nur die nein-Negativität. Wir möchten aber die mcht-Erfahrung behalten, selbst dort, wo Hegel sie nicht ausdrücklich zeigt. Wir meinen dies zu können mit Hilfe des Vater-Begriffes, der von Hegel selbst nicht begrifflich eingeführt worden ist. Die Psychoanalyse lehrt uns dabei, daß mit dem Vater-Begriff die nicht-Erfahrung verbunden ist; überdies Sexua¬ lität, Leibhaftigkeit und Anerkennung des Individuums. Diese Dimen¬ sionen fehlen aber bei Hegel.

ZUR AKTUALITÄT DER HEGELSCHEN ÄSTHETIK

I. Texte 1.

Hegel: Ästhetik. Mit einem einführenden Essay von Georg Lukacs. Heraus¬

gegeben von Friedrich Bassenge. Berlin: Aufbau-Verlag 1956. 1147 S. 2. Hegel: Esthetiaue de la peinture figurative. Textes reunis et presentes par Bernard Teyssedre. Paris: Hermann 1964. 185 S. 3. Hegel: Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1965. Bd. 1. 591 S.; Bd. 2. 667 S. 4. Hegel: Ästhetik, [wie 3, jedoch:] Mit einer Einführung von Georg Lukacs. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt (1965). Bd 1. 591 S.; Bd 2 [mit nachgestellter Einführung], 705 S. 5. Heinrich Bartsch: Register zu Hegels Vorlesungen über die Ästhetik. Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Mainz 1844. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann (Holzboog) 1966. VIII, 72 S. 6. Hegel: Einleitung in die Ästhetik. Mit den beiden Vorworten von Heinrich Gustav Hotho. Mit einem Nachwort und Anmerkungen herausgegeben von Wolfhart Henckmann. München: Fink 1967. 156 S.

II. Literatur

1. Rene Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750—1830 [amerik.: A History of Modern Criticism. New Haven 1955]. Übersetzt von Edgar und Marlene Löhner. Darmstadt, Berlin-Spandau, Neuwied a. Rh.: Luchterhand 1959. 756 S. — [Kapitel: „Hegel". 563—577.] 2. Jack Kaminsky: Hegel on Art. An Interpretation of Hegel's Aesthetics. New York: State University 1962. XII, 207 S. 3. Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ästhetik. Berlin: Dietz 1962. 726 S. — [Über Hegel 132—144.] 4. Walter Bracker: Hegels Philosophie der Kunstgeschichte. — In: Brücker: Aus¬ einandersetzungen mit Hegel. Frankfurt am Main: Klostermann 1965. 33— 57.

220

Literaturberichte und Kritik

5. Gustav Emil Mueller: Origins and Dimensions of Philosophy. Some Correlations. New York: Pageant Press 1965. 633 S. - [Part IV: Aesthetics, bes. 429-557.] 6. Hegel-Jahrbuch 1964. Herausgegeben von Wilhelm R. Beyer. Meisenheim am Glan: Hain 1965. 95 S. 7. Hegel-Jahrbuch 1965. Herausgegeben von Wilhelm R. Beyer. Meisenheim am Glan: Hain 1965. 164 S. 8. Willi Oelmüller: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. — In: Philosophisches Jahrbuch. 73 (1965), 75-94. 9. Jan Patocka: Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst. — In: Beispiele. Festschrift für Eugen Fink zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Ludwig Landgrebe. Den Haag: Nijhoff 1965. 46—61. 10. Erich Heller: Die Reise der Kunst ins Innere. Variationen auf das Haupt¬ thema von Hegels Ästhetik. — In: Die Reise der Kunst ins Innere und andere Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966. 121—197. 11. Helmut Kuhn: Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel. — In: Kuhn: Schriften zur Ästhetik. Im Auftrag des Verfassers her¬ ausgegeben von Wolfhart Henckmann. München: Kösel 1966. 15—144.

„Als Buch sind die Vorlesungen über die Ästhetik ziemlich unbefriedigend. Es enthält viele Wiederholungen, viele Unausgeglichenheiten in der Ausführung der Einzelheiten, viele nicht unbedingt dazugehörige Berichte (vor allem über orienta¬ lische Mythen) und gelegentlich eingestreute, auf sein studentisches Publikum berechnete Scherze/7 Das Urteil des Literaturtheoretikers Rene Wellek ist witzig, aber ungerecht. Man möchte sagen, es ist selbst auf ein bestimmtes Publikum berechnet, das die Vereinfachung bevorzugt. Das Kapitel, das Wellek der Hegelschen Ästhetik widmet, enthält eine gefällige Darstellung, aber es wiederholt leider alte Fehlurteile, vor allem das, bei Hegel liege ein Rückfall in die Gehalts¬ ästhetik vor, wenn auch freilich anerkannt wird, Hegels Haltung sei „ambivalent77 („wie immer77, schreibt Wellek) : „Unglücklicherweise nimmt der Begriff ,Gehalt7 bei Hegel philosophische Nebenbedeutungen an, er wird mit der Wahrheit, der Idee, dem Absoluten, dem Göttlichen identifiziert.77 Ein anderer unbewältigter Problemkomplex bleibt die Hegelsche Einteilung der Gattungen: „Man muß dies als ein schwerfälliges und künstliches System bezeichnen .. !' (565) Schwerfällig und künstlich sind im Grunde alle spekulativen Momente innerhalb der Ästhetik, bedenklich vor allem aber ist die „Verschmelzung von Theorie und Geschichte", die Hegel leider veranlasse, „seine Einteilung der Künste in die historische Stufen¬ folge der Kunst hineinzuzwängen" (ebd.). Eine angemessene Würdigung der philosophischen Bedeutung der Ästhetik Hegels ist in dem Kapitel Welleks nicht zu finden, diskutabel sind hingegen die Urteile über Hegel als Kunst- und Litera¬ turkritiker (vor allem mit Bezug auf Shakespeare und Sophokles).

Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik

221

Die Ästhetik Hegels wird allerdings in jener Gestalt studiert, die ihr der Kunsthistoriker Hotho gegeben hat, und wir haben, meine ich, wenig Grund, die editorische Leistung Hothos geringzuachten. In Einzelpunkten können spätere Editionen genauere Aufschlüsse bringen (für einen Teil hat das Editionsfragment Lassons diese Aufschlüsse schon gebracht), die Geschlossenheit, die Hotho dem Ganzen der Vorlesungen zu geben vermochte, wird keine neue Ausgabe mehr erreichen. Für Hotho waren Gedanken und Sprache Hegels noch nicht zu Ange¬ legenheiten der Historie und der Philologie geworden. Wenn auch einer späteren Zeit der Gedanke Hegels mehr ist als ein Gegenstand historischer und philolo¬ gischer Anstrengungen, so werden die sachlich-systematische" Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit des Gedankens doch mindestens nicht mehr die Editions¬ weise bestimmen können und bestimmen dürfen. Hothos Arbeit gehörte noch mit in den Kreis des Werkes hinein. Eine kritische Edition wird den Abstand, der uns inzwischen von diesem Werke trennt, nicht vergessen machen dürfen. — Hegels Ästhetik begegnet in unserem Zeitalter einem doppelten Interesse: Sie ist der Gegenstand philosophiehistorischer (und an einigen Stellen auch kunstund literarhistorischer) Studien; sie ist, zum anderen, der Gegenstand einer sachgerichteten Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Ästhetik und Kunstphilo¬ sophie selbst. — Das philosophiehistorische Interesse rückt die Ästhetik in die Zusammenhänge des Gesamtwerks und des Jahrhunderts. Für die Gegenwart geht es dabei vorwiegend um die Revision älterer Auffassungen — auf einen schlichten Nenner gebracht: um den Weg vom alten zum neuen Ueberweg. Der alte hatte die Ernte der philosophiehistorischen Arbeit in der Epoche der Kultur¬ philosophie eingebracht. Der neue wird die Ernte der nachfolgenden Forschung einzubringen haben, einer Forschung, die von einem veränderten Geschichts- und Geschichtlichkeitsbewußtsein bestimmt war und ist und die die Wirksamkeit einer erneuerten Metaphysik an sich erfahren hat. Die Aneignung Hegels, das ist bemerkenswert, ist hier, anders als in der kulturphilosophischen Historie, selbst durch Hegel oder doch wenigstens durch Hegelianismen geprägt. An die Stelle einer wissenschaftsgeschichtsähnlichen Problemgeschichte, wie sie noch N. Hart¬ mann forderte, einer Problemgeschichte, die das System oder die systematisch entfalteten Problemgehalte als Leitfaden der Historie betrachtete, tritt hier ein Aneignungsverfahren, das (in größerer oder geringerer Klarheit über das eigene Tun) System und Historie zu verbinden, wenn nicht zu verschmelzen sucht: Diltheys Historismus mit der spekulativen Weihe Hegels.

Für die Auseinandersetzung mit der Ästhetik Hegels scheint dies indessen nur ein mitlaufendes Moment zu sein; wichtiger sind hier jene Studien, denen es um die Aktualität der Hegelschen Ästhetik geht, die in dieser Ästhetik nach Lösungs¬ möglichkeiten für aktuelle, für schwebende Fragen suchen und die der Sache nach in vielen Punkten die Ästhetik Hegels für so etwas halten müssen wie den letzten Forschungsstand — den letzten Forschungsstand beispielsweise in der Frage nach der Grundbestimmtheit der Kunst oder in der Frage nach einer gegründeten Ein¬ teilung der Künste. Freilich wird man zugeben müssen, daß sich hier nur Anfänge

222

Literaturberichte und Kritik

und Ansätze finden, aber diese Anfänge und Ansätze sind doch so wichtig, daß man sie nicht übersehen sollte; und fast ebenso wichtig sind Parallelversuche, in denen der große (und von Wellek als „künstlich" abgelehnte) Gedanke einer Geschichtlichkeit der Künste, um ein Wort Salomon Maimons zu variieren, incognito wirkt. Unlöslich verbunden bleibt damit die Einsicht, die gleichfalls Hegel zuzurechnen ist, daß alle Gattungsbegriffe spekulativ, subjektstheoretisch und grundsystematisch, ausgewiesen werden müssen, wenn sie eine höhere als bloß eine empirische Geltung für sich beanspruchen sollen. Von Hegel erstmals gebahnte Wege gehen denn auch Gattungstheoretiker der Dichtungs- und der Kunstgeschichte, vor allem Staiger und Panofsky. Die beiden Auflagen der HoTHO-Edition erschienen 1835 und 1842/43. Die zweite Auflage enthält gegenüber der ersten eine ganze Reihe von Verbesserun¬ gen und weicht im ersten der drei Bände hinsichtlich der Seitenzählung ab. Glöckner druckte in der Jubiläumsausgabe den Text der ersten Auflage. Den Text der verbesserten zweiten Auflage machte Friedrich Bassenge 1955 in einer sehr sorgfältig gedruckten (einbändigen) Studienausgabe zugänglich, die über¬ dies den Vorzug hatte, wenig zu kosten. Bassenge modernisierte mit Takt die Interpunktion und die Orthographie, fügte, um Orientierung und Eindringen zu erleichtern, Zwischentitel ein und erarbeitete ein detailliertes Register. Seine Aus¬ gabe verdient in jeder Hinsicht hohes Lob. Um das Auffinden von Zitaten zu ermöglichen, ist in dieser Ausgabe die Paginierung der Jubiläumsausgabe am Seitenfuß mitgedruckt. Mitgegeben ist noch ein einführender Essay von Georg Lukacs, der vorher 1951 als Einleitung für eine ungarische Ausgabe der Ästhetik gedient hatte (vgl. G. Vecchi, Hegel-Studien, Bd. 2, 1963, 355 f.). — Eine Neu¬ auflage der längst vergriffenen Bassenge-Ausgabe erschien zehn Jahre später (1965), nun in Ost- und Westversion, im Aufbau-Verlag Berlin und in der Euro¬ päischen Verlagsanstalt Frankfurt, im übrigen derselbe Druck, der Ost-Hegel jetzt ohne, der West-Hegel mit Lukacs, beide zweibändig, handlicher, immer noch verläßlich und preiswert, aber leider ohne die GLOCKNER-Paginierung. — Eine französische Studien-Auswahl verdient erwähnt zu werden: Esthetique de la peinture figurative, die Bernard Teyssedre, der Verfasser von L'esthetique de Hegel (vgl. G. Vecchi, a.a.O., 353 f.), für die Collections miroirs de l'art besorgt, eingeleitet und mit kommentierenden Fußnoten versehen hat. Beigegeben ist eine Auswahl-Bibliographie zur Hegel-Ästhetik. Einer Anregung H. Zanders (Bonn) folgend brachte Frommann, der Ver¬ leger der Jubiläumsausgabe, Heinrich Bartschs Register zu Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, nebst den betreffenden Verweisungen auf dessen sämtliche übrige Werke (erste und einzige Auflage Mainz 1844) in einem photomechani¬ schen Neudruck heraus. Damit ist ein nützliches Hilfsmittel für das Studium der Hegel-Ästhetik wieder allgemein zugänglich geworden, das wir einem Mainzer Gymnasiallehrer verdanken, der meines Wissens sonst nur als Autor einer philologischen Arbeit vor die Öffentlichkeit getreten ist. Das Register ist ange¬ sichts seiner Ausführlichkeit (72 Seiten in Kleindruck) und sinnvoll angelegter

Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik

223

Untergliederungen überaus brauchbar. Es ermöglicht beispielsweise einen schnel¬ len und nach Epochen differenzierenden Überblick über die von Hegel angeführ¬ ten Schriftsteller, die behandelten Baudenkmäler usf., ebenso aber erschließt es auch den jeweiligen sachlichen Kontext, in dem bestimmte Begriffe von Hegel ge¬ braucht werden: „Um dem Leser den Gang der philosophischen Entwickelung und die nähere Ausführung der behandelten Materien auch in den einzelnen Artikeln darzulegen und so demselben in dem Register zugleich einen leitenden Faden darzubieten, welcher bei dem Studium der ästhetischen Vorlesungen zu schneller Orientierung und anschaulicher Rekapitulation dienen könne, schien es daher zweckmäßig, bei den Hauptartikeln wenigstens die systematische Gliederung des Ganzen in möglichst gedrängter Übersicht vollständig anzugeben" (VI). Das Register berücksichtigt beide Auflagen der Ästhetik (die Seitenzahlen differieren, wie bereits gesagt, nur im ersten Bande) und ist deshalb für die Jubiläumsaus¬ gabe ebenso verwendbar wie für die alte

Bassenge-Ausgabe;

wie natürlich auch

für diejenigen Partien der LASSON-Ausgabe, die dem HoTHOschen Drucktext fol¬ gen.

Bartsch

bezieht einschlägige Stellen aus anderen Hegel-Werken mit ein

(mit einer angegebenen Ausnahme nach der alten Gesamtausgabe). „Der reiche Genuß und die Belehrung, welche das Studium der Hegelschen Vorlesungen ge¬ währt, wiegt hinreichend die Zeit und Mühe auf, welche eine Arbeit, wie die vor¬ liegende, erfordert .. Außer der großen Ästhetik-Ausgabe von

Bassenge

steht neuerdings ein Stu¬

dientext zur Verfügung, der dem Fassungsvermögen einer einführenden einsemestrigen Seminarübung glücklich angepaßt ist. Die Ausgabe hat Wolfhart Henckmann,

sorgt.

der Herausgeber der

Henckmann

benutzt wie

KuHNSchen

Bassenge

Schriften zur Ästhetik (s. u.) be¬

die zweite Auflage

und prä¬

Hothos

sentiert außer den HoTHO-Vorworten beider Auflagen die Einleitung und, was ich sehr begrüße, die Einteilung (die er, abweichend von schnitt in die Einleitung einbezieht). Anders als die Interpunktion

Hothos

Hotho,

als IV. Ab¬

behält

Henckmann

Bassenge

bei. Die Anmerkungen bieten dem Studierenden

viele nützliche Erläuterungen, Verweise und eine Reihe von wichtigen zusätz¬ lichen Stellen. Im Nachwort beklagt der Herausgeber die Tatsache, daß die HegelRenaissance zu Beginn des Jahrhunderts sich nicht auf die Kunstphilosophie er¬ streckt habe und daß später die Arbeiten

Baeumlers, Glöckners

und

„praktisch ohne Wirkung" geblieben seien (125). Die Einleitung nennt mann

Kuhns Henck¬

„eine kompositorisch beispielhafte Durchführung des im Grunde zirkulären

Wechselspiels zwischen absolutem und historischem Standpunkt" Recht rühmt er

Hothos

(127).

Zu

„meisterhafte Leistung" (ebd.). Sehr nützlich ist auch

die beigegebene (vergleichsweise umfangreiche) Auswahl-Bibliographie, die über bibliographische Hilfsmittel, Ausgaben und Sekundärliteratur (123 Titel) in¬ formiert. An einigen wenigen Stellen sind Ergänzungen wünschenswert (es fehlt die Ost-Version der zweiten

Bassenge-Ausgabe;

ferner bei Nr 56 N.

ein Hinweis auf den Neudruck von 1960; bei 71 und 75 G. E.

Hartmann

Mueller

Hinweise

auf den Buchabdruck in Origins and Dimensions of Philosophy; bei 80

Wellek

Literaturberichte und Kritik

224

ein Hinweis auf die deutsche Übersetzung; 123:

Oelmüllers

Aufsatz erschien

1965). Bei einer Neuauflage sollte der Herausgeber eine Erweiterung der vor¬ züglichen Bibliographie erwägen. Eine kritische Ausgabe fehlt noch und wird womöglich noch lange fehlen. Lasson hatte bekanntlich nur einen ersten Band (Die Idee und das Ideal) heraus¬ gebracht (1931), der so selten geworden ist, daß Wellek kein Exemplar zu be¬ schaffen vermochte. Für Studium und Forschung ist dieser Band um seiner vielen Ergänzungen willen indessen so wichtig, daß der Meiner-Verlag einstweilen einen Nachdruck veranstalten sollte. In der Auseinandersetzung mit der Ästhetik Hegels wird man im ganzen drei Phasen unterscheiden dürfen. Die erste war noch hegelianisch im eigentlichen Sinne. Sie ist gekennzeichnet durch Versuche, das Hegelsche Werk fortzuführen und auszubauen. Die Schriften von Rosenkranz und Vischer gehören in diese Phase. Es handelt sich um eine Ästhetik, die sich selbständig macht und sich zu¬ nehmend der auf anderen Wegen fortschreitenden Systemforschung entfremdet, die den Boden des Systems unter den Füßen verliert und deren Verhältnis zur positiven Kunstforschung unklar bleibt. Das Erbe tritt die kulturphilosophische Ästhetik an. So weit sie die Hegelsche Ästhetik ernsthaft berücksichtigt, überträgt sie Hegels Einsichten in eine Systematik anderer Art, in die Systematik eines relativen Idealismus. Die zugrundeliegende Wert- oder Grundlegungssystematik wird durch die Übernahme Hegelscher Gedanken kaum oder gar nicht angetastet. Das gilt beispielsweise für Hermann Cohens Ästhetik des reinen Gefühls. Die wichtigste Auseinandersetzung der Kulturphilosophie mit der Ästhetik Hegels findet sich in Jonas Cohns (nachdruckenswerter) Allgemeiner Ästhetik (1901) und in einem Aufsatz des gleichen Verfassers Hegels Ästhetik (in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. 120/1902). Aufs ganze gesehen weiß die Ästhetik in dieser Epoche mit derjenigen Hegels wenig anzufangen und bleibt auf kantischen oder auf phänomenologischen Wegen. Für Hartmanns Ästhetik (1953 posthum erschienen), die trotz der ontologischen Wende nach Anlage und Grundüberzeugung der kulturphilosophischen Ästhetik verwandt ist, gilt noch dasselbe: Hegel wird zwar zu Einzelfragen gehört und ist in den Teilproblemen gegenwärtig, das Fundament bleibt indessen, wenn man von eini¬ gen Momenten der Geisttheorie absieht, frei von spezifisch Hegelschen Impli¬ katen.

Hartmann

führt zwar die Ästhetik von einer bewußtseinstheoretischen

Begründung weg. Bei ihm ist das aber kein Schritt, der zu Hegel führt. Es ist vielmehr ein Schritt von

Hartmann zu Hartmann,

der im wesentlichen darauf

hinausläuft, die Gliederungsmomente der Realontologie auf das Gebiet der Ästhetik zu übertragen. Der Schritt auf Hegel zu hat auf dem Felde einer Grundlegung der Kunst eine besondere Bedeutung. Zunächst ging es nicht etwa darum, vom relativen zum absoluten Idealismus zurückzufinden — obwohl diese Konsequenz, wie mir scheint, gar nicht vermieden werden kann —, zunächst ging es um anderes. Die Systematik der Kulturphilosophie enthält, so wird man heute sagen dürfen, ein

Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik

225

gerüttelt Maß an Platonismus im schlechten Sinne, anders ausgedrückt: an Zeitlosigkeits-Dogmatismus. Das Rickert

gilt

für die Kulturphilosophie von

Lotze

bis

(mit gewissen am Grundsachverhalt wenig ändernden Einschränkungen).

Eine sachgerechte Auflösung der Grundfrage der philosophischen Ästhetik, der nach dem Wesen der Kunst und nach der ursprünglichen Entfaltung dieses We¬ sens, wurde durch diesen Grundlegungs-Platonismus blockiert. Der Idee der Kunst widerfuhr in der Kultursystematik dieselbe Behandlung wie der Idee der Wissenschaft. Geltung wurde gleich Geltung gesetzt, unter Vernachlässigung des Umstandes, daß die Geltungen im Hinblick auf die Entfaltung und Selbstent¬ faltung der Subjektivität ganz verschiedene Grundfunktionen besitzen. Ein Um¬ denken des Geltungsgefüges setzte nun allerdings bereits im Bereich der Kultur¬ philosophie selbst ein. Zeugnisse dafür finden sich in den Werken des späten Natorp,

in Fritz

Münchs

Historiokritizismus, in der Philosophie der symbo¬

lischen Formen und in der HöNiGSWALDschen Monadologie. Die Grundlegung der Kunst war dabei eines der revisionsbedürftigen Problemgebiete. Der auch nach außen hin weithin sichtbare Umschwung fand außerhalb der Kulturphilosophie statt, oder wenigstens an ihrer Grenze. Und dieser Umschwung orientierte sich zum Teile wenigstens an Hegel. Georg

Lasson

konnte im Vorwort

seiner verdienstvollen Ästhetik-Ausgabe auf eine eben erschienene Arbeit hinweisen, die die Neuorientierung der philosophischen Ästhetik eindrucksvoll be¬ zeugt: Helmut

Kuhns

Buch Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik

durch Hegel. Diese Hegel-Arbeit bildet den ersten Teil eines zweibändigen Wer¬ kes Die Kulturfunktion der Kunst, dessen beide Bände

1931,

also im selben

Jahre wie die LASSON-Äusgabe, erschienen und dessen zweiter Band den Titel trägt Erscheinung und Schönheit. Untersuchungen über den Immanenzbegriff in der Ästhetik. Der erste, der Hegel-Band ist jetzt wieder in

Kuhns

Schriften zur

Ästhetik zugänglich geworden. Man bedauert es allerdings, daß der Autor den zweiten, für die uns interessierende Wende nicht weniger bedeutsamen Band des Kulturfunktion-Werkes von der Veröffentlichung ausgeschlossen hat und statt dessen minder wichtige Arbeiten in den Sammelband hat einreihen lassen (vgl. die Rezension von R.

Hoffmann,

in: Wiss. Literaturanzeiger,

6/1967, 82).

Zu be¬

grüßen und in unseren Zusammenhang gehörig ist indessen der Wiederabdruck der Berliner Antrittsvorlesung schrift für Ästhetik, weise

Kuhns:

25/1931).

Die Geschichtlichkeit der Kunst (aus: Zeit¬

Es fehlt hingegen - wiederum: bedauerlicher¬

_ (wohl um Wiederholungen aus Kulturfunktion I zu vermeiden)

Kuhns

straffere und klarere Kurzfassung Hegels Ästhetik als System des Klassizismus (Archiv für Geschichte der Philosophie.

40/1931).

In diesen Texten zeigt sich das Thema, das die Drehung der Ästhetik einleitet. Es ist die Frage nach der spezifischen Geschichtlichkeit der Kunst insgesamt, nach der Geschichtlichkeit der Kunstgattungen im besonderen, die die alte (kulturphi¬ losophische) Kunstsystematik zu sprengen sich anschickt und die hier, gerade an diesem Punkte, auf Hegel zurückgreift. Mit der Geschichtlichkeit aber wird zu¬ gleich auch die Gegenwärtigkeit der Kunst zum Thema einer neuzuorientierenden

Literaturberichte und Kritik

226

Ästhetik: „Der Gegenwartscharakter der Kunst ... ist es, der sie für Hegel in die Geschichte und ihre Dynamik einpflanzt" (Hegels Ästhetik 94). Der Hegelsche „Klassizismus" bewährt das Moment der Geschichtlichkeit in der Entfaltung der Kunstformen:

„Winckelmann

stellt das griechische Bildwerk in eine erhabene

Einzigkeit und Einsamkeit, gleichsam als das Evangelium der Schönheit. Hegel bewahrt ihm die Einzigkeit, aber ringsum hat sich eine ganze künstlerische Welt organisiert: die als symbolische Kunst aufsteigende, als romantische Kunst abfal¬ lende Linie der universalhistorischen Entwicklung" (104).

Kuhn

verwendet einige

erfolgreiche Mühe darauf, die Verträglichkeit der Gegenwärtigkeitsthese (die in Oskar

Beckers

berühmtem Beitrag zur HussERL-Festschrift Entsprechungen hat)

mit dem vielzitierten und gerade in den folgenden Jahrzehnten immer wieder beschworenen Vergangenheitscharakter

(Hotho,

Bd. 1, 2. Aufl. 15 f) der Kunst

nachzuweisen. Die Schlußpartien des ersten Bandes der Kulturfunktion lesen sich wie ein Programm für eine Ästhetik, der die Fundamentalität der Zeitlichkeits¬ und Geschichtlichkeitsfrage bewußt geworden ist: „Das in jedem Augenblick des geschichtlichen Prozesses wirksame Verlangen des Menschen, sich in der Umwelt heimisch zu machen und die Heimatlichkeit in Werken niederzulegen, die die Identität von Seele und Welt bezeugen, macht die Kunst zum Werkzeug der Mitteilung und des Verstehens über die Jahrhunderte hinweg. . . . Doch über diesen urkundlich-historischen Wert hinaus begründet die Eingliederung der Kunst in einen universalen Geistesprozeß ihre Gegenwärtigkeit. ... Solche Ge¬ genwärtigkeit aber, welche die Kunst über das Leben und zugleich in seinen schöpferischen Kreis stellt, ist eine unveraltete Forderung: der Charakter der Kunst selbst" (143 f = 117 f; das Moment, das

Kuhn

mit dem Worte „Heimat¬

lichkeit" bezeichnet, erlangt eine zentrale Bedeutung in G.

Schapers

Dissertation

Vom Wesen des Bauens und der Baukunst. Würzburg 1961). Von anderer Seite war eine ähnliche Überwindung der Kulturphilosophie im ganzen und der kulturphilosophischen Ästhetik im besonderen versucht worden: von der sich schrittweise radikalisierenden Phänomenologie der HussERL-Erben. Beckers

Studie wurde schon genannt. Vor allem aber nahm

Heidegger

ganz aus¬

drücklich auf Hegel Bezug (Vom Ursprung des Kunstwerkes 1950 in Holzwege, neuerdings auch einzeln). Auf einem nahe benachbarten Wege ist Walter Bröcker

in seinem Vortrag Hegels Philosophie der Kunstgeschichte. Der Vortrag

überträgt Grundgedanken der Hegelschen Ästhetik in einprägsame Formulierun¬ gen. Auch für

Bröcker

ist das Begreifen der Geschichtlichkeit der Kunst durch

Hegel von größter Wichtigkeit. Doch nicht allein die Geschichtlichkeit der Kunst, verglichen mit der Geschichtlichkeit von Religion und Philosophie, steht zur Er¬ örterung, sondern zugleich auch die besondere Geschichtlichkeit der Künste. ker

Brök-

prüft Hegels Gattungstheorie im Hinblick auf die Wechselbestimmtheit

von Gattungen und Kunstformen. Angesichts der Annahme entsprechender Höhepunkte in der Entwicklung der Gattungen stimmt er Hegel nur zum Teile zu (vor allem mit Bezug auf Skulptur und Malerei), zum Teile widerspricht er den Hegelschen Ergebnissen (vor allem mit Rücksicht auf die Architektur,

Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik

227

der er spätere Höhen zudenkt). Der Vortragskürze entsprechend ist man hier auf Andeutungen angewiesen. Die komplizierte und größtenteils noch unaufgehellte Problematik müßte natürlich genauer diskutiert werden. Der Hinweis auf exemplarische Werke allein kann hier kaum genügen. Vor allem müßte das Moment der Unvermischtheit einer Gattung eigens gewürdigt werden. Gerade hier scheint Hegels Ästhetik sachliche Aktualität erlangt zu haben. Seitdem Erwin Panofsky

den Gedanken einer Geschichtlichkeit der Kunstgattungen (so weit ich

sehen kann, ohne Bezugnahme auf die Ästhetik Hegels) in einer Reihe von Untersuchungen kunstgeschichtlich und kunstwissenschaftlich fruchtbar gemacht hat, hat dieses sein; bei

Problemstück

Panofsky

aufgehört, eine

Sache bloßer Spekulation zu

kommen hier vor allem in Betracht: Die deutsche Plastik des

elften bis dreizehnten Jahrhunderts. 1924; Die Perspektive als „symbolische Form". In: Vorträge der Bibliothek Warburg. 1927; Zum Problem der Beschrei¬ bung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Logos. 21 (1932) — die beiden letztgenannten Titel jetzt auch in: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. v. H. Oberer u. E. Verheyen, 1964. Die Bedeutung des vielzitierten Satzes erwägt Willi

Oelmüller

(der Verfasser

von: F. Th. Vischer und die nachhegelsche Ästhetik. Stuttgart 1959) in einer sehr bemerkenswerten Arbeit über Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den der Autor vor dem Arbeitskreis „Philosophie" der Fritz-ThyssenStiftung gehalten hai.te (zur Einordnung der Hegelschen Ästhetik in die Zusam¬ menhänge einer Geschichte der Kunstphilosophie vgl.

Oelmüllers

Ästhetik-Arti¬

kel in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklo¬ pädie. Bd 1. Freiburg 1966).

— Oelmüller

unterscheidet zwischen einer direkten

und einer indirekten Kritik des Satzes; die direkte mache „Systemzwang", „Klas¬ sizismus" und eine (unhaltbare) „Synthese von Hellas und Christentum, von Mythos und Logos" für Hegels End-These verantwortlich, die andere, indirekte Kritik, gehe davon aus, daß es für Hegel aufgrund seiner These weder moderne Kunst noch eine Philosophie der modernen Kunst geben könne, und glaube des¬ halb, die Bedingungen der modernen Kunst ihrerseits aufdecken zu müssen. müller

Oel¬

legt diesen Kritiken gegenüber dar: „Hegels Satz .. . richtet sich ... nicht

gegen die Kunst überhaupt, sondern nur gegen ihre Überforderung und ihren daraus resultierenden Verfall ... Hegel spricht lediglich vom Ende der höchsten Bestimmung der Kunst, vom Überschreiten ihrer höchsten Möglichkeit, er spricht jedoch an keiner Stelle vom Ende der Kunst überhaupt." (87)

Oelmüller

sieht in

Hegels Ästhetik „den Ansatz zu einer positiven Theorie der Kunst in der durch das Christentum, die moderne Gesellschaft und den modernen Staat gebildeten universalen Welt" (ebd.). Er weiß sich hier im wesentlichen in Übereinstimmung mit seinem Lehrer Joachim

Ritter (Landschaft.

Zur Funktion des Ästhetischen in

der modernen Gesellschaft. Münster i. W. 1963).

Oelmüller

formuliert: „Hegel

begreift das Prinzip der modernen Kunst als Darstellung und Bewußtmachung

Literaturberichte und Kritik

228

der konkreten Bildungen der Subjektivität und ihrer inneren und äußeren Welt." (89 f) Begreiflich erscheint es

Oelmüller

aber gleichwohl, daß die dem Hegelschen

Satz zugrunde liegenden geistigen und geschichtlichen Erfahrungen und der bei Hegel vorliegende Ansatz einer Theorie der modernen Kunst bisher nicht befrie¬ digend weiterdiskutiert worden sind. Einer solchen Diskussion sei mehreres hin¬ derlich gewesen: unter anderem die Unzulänglichkeit des Hegelschen Begriffs der bürgerlichen industriellen Gesellschaft, vor allem aber die historische Bedingtheit „mancher ästhetischer Kategorien" (92). „Der Begriff der schönen Kunst und das System der schönen Künste, die Hegel aus der Idee des Schönen glaubt dedu¬ zieren zu können und die er zur Deutung der gesamten Geschichte der Kunst verwandte, die vermeintlich aus der Idee des Schönen deduzierten notwendigen Begriffe waren zu der Zeit, als Hegel sie verwandte, noch keine hundert Jahre alt." (93) Hier, meine ich, ist

Oelmüller

einer geläufigen Hegel-Kritik gegenüber

zu nachgiebig. Ist das System der Künste bei Hegel wahrhaftig und in allen Punkten nur vermeintlich deduziert? Können wir den Deduktionsgedanken zu¬ gunsten einer historisch-phänomenologischen Ästhetik aufgeben, ohne den Be¬ gründungsanspruch

einer

philosophischen

Ästhetik

selbst

aufzugeben?

Daß

Hegels Systematik nicht in Bausch und Bogen und in allen Einzelheiten akzep¬ tabel ist, darf kaum überraschen. Ich halte es indessen für verkehrt, ohne Not zu viel vom Hegelschen Ansatz preiszugeben. Eine weitere kritische Anmerkung scheint mir hier noch am Platze zu sein: Gewiß muß sich auch angesichts Hegel¬ scher Begriffe das Problem ihrer historischen Bedingtheit prüfen lassen; dabei darf aber nicht übersehen werden, daß in entscheidenden Momenten den Begrif¬ fen Hegels ihre Bestimmtheit aus ihrem systematischen Kontext zufließt. Die Begriffe, die Hegel verwandte, waren in dieser Rücksicht sogar noch bei weitem jünger. Ihr Alter ist nur angebbar mit Bezug auf die Genese des Hegelschen Systems. Die Frage des Begriffs-Alters entscheidet aber wiederum nicht über den möglichen Geltungsbereich der Begriffe. Wenn beispielsweise die Griechen ihre Künstler zu den Handwerkern zählten (94), dann macht das allein noch nicht Hegels Begriff der klassischen Kunst problematisch. — Für bedenklich hält müller

Oel¬

vor allem die Hegelsche Voraussetzung, „daß nur das wissenschaftlich

wahr ist, was im System als ein Ganzes entwickelt wurde" (94). Das ist in der Tat ein Punkt, dem hier eine ganz entscheidende Bedeutung zukommt. „Vielleicht ist heute", schreibt

Oelmüller,

„eine erneute Diskussion dieser Ästhetik für das

notwendige philosophische Gespräch über das Problem der Kunst sinnvoll." Diese Diskussion ist, meine ich, durchaus sinnvoll. Die Arbeit

Oelmüllers

sollte

in dieser Diskussion beachtet werden. Um die Grundfrage der Geschichtlichkeit der Kunst geht es auch Jan

PatoCka

(Prag) in seinem geistvollen Beitrag zur FiNK-Festschrift: Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst.

Patocka

hat sich auch sonst in nicht unbeträchtlichem

Maße um die Philosophie und die Ästhetik Hegels verdient gemacht: Er hat die Phänomenologie (1960) und die Ästhetik (1966, 2 Bde) ins Tschechische

Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik

229

übertragen (und mit Einleitungen versehen). — Das Ziel der Studie

Patoökas

ist es, die „eigentliche Bedeutung" der Vergangenheitslehre herauszuarbeiten und dabei die begrifflichen Mittel der modernen Phänomenologie einzusetzen (vgl. auch den weiter unten besprochenen Kongreßvortrag

Patoökas

Zur Ent¬

wicklung der ästhetischen Auffassung Hegels). Gerade dieser Versuch, einen Zentralpunkt der Hegelschen Kunstphilosophie mit den Mitteln phänomeno¬ logischer Begriffsbildung zu bewältigen, hebt die Gedanken

Patoökas

über die

Ebene eines bloß philosophiehistorischen Interesses entschieden hinaus. Das Resultat der sehr gedrängt vorgelegten Überlegungen ist dieses:

Patocka

unter¬

scheidet eine „metaphysische" und eine „andere" Vergangenheitslehre, „die in der metaphysischen enthalten ist und unter ihrer Oberfläche pulsiert" (60). Die metaphysische Lehre mache die Kunst „zum Vorläufigen, zur nicht-absoluten Form des absoluten, die Zeit überwindenden Geistes". Sie sei zu unterscheiden von einer Lehre „von der Überwindung des Gegenwärtigen der endlichrealen Wirklichkeit durch die Kunst" (61). Um zu dieser Unterscheidung innerhalb der Vergangenheitslehre Hegels und zu ihrer angestrebten Vertiefung zu gelangen, zeichnet

Patocka

im ersten Teil seiner Studie die Herkunft und die Entwicklung

der Hegelschen Lehre mit wenigen Strichen. Er skizziert den Weg zu Hegel als den einer Verlebendigung der Subjektivität (von Hölderlin

und

Schelling)

Kant

über

Fichte, Schiller,

und sichtet dann die Stationen des Hegelschen

Schönheitsbegriffs (vom Schönen als dem Schleier der Wahrheit bis zum Schei¬ nen der Idee — von der Differenz-Schrift über die entsprechenden Stellen der Jenenser Realphilosophie, über die Phänomenologie bis hin zur Ästhetik), um Hegels Auffasung vom „Mangelcharakter der ästhetischen Wahrheit" (51 f) in ihrem Wandel begreiflich zu machen. Im zweiten Teil geht

Patoöka zu

einer

phänomenologisch-systematischen Betrachtungsart über und erwägt im Ausgang von Hegel die Sonderart der ästhetischen Einstellung in ihrer Unterschiedenheit vom theoretischen und vom praktischen Verhalten. Gerade in diesem zweiten Teil finden wir einen fesselnden Versuch, Hegels Vergangenheitslehre systemtheo¬ retisch zu aktualisieren. Eine detaillierte Ausführung des hier skizzierten Ent¬ wurfs könnte die Theorie von der Geschichtlichkeit der Kunst um ein gutes Stück weiterbringen. Das Buch des amerikanischen Philosophen Jack

Kaminsky

Hegel on Art. An

Interpretation of Hegel's Aesthetics (1962) sieht seine Hauptaufgabe darin, die Kunstphilosophie Hegels darzustellen und Verständnis und Interesse für die Ästhetik zu wecken. In der Folge der Kunstformen referiert

Kaminsky

Hegels

Bestimmungen der Kunstgattungen von der Architektur bis zur Poesie. Die Be¬ zugnahmen auf konkrete Kunstwerke nehmen einen vergleichsweise breiten Raum ein. Der Verfasser glaubt, daß es nicht nur möglich, sondern auch wün¬ schenswert sei, die Ästhetik Hegels von der Metaphysik zu lösen, um ihr das Schicksal des Verworfenwerdens

zu

ersparen.

Kaminsky

selbst möchte das eine

akzeptieren dürfen (die Ästhetik), ohne das andere (die Metaphysik) in Kauf nehmen zu müssen. Daß die Ästhetik bei einer solchen Loslösung, insbesondere

Literaturberichte und Kritik

230

rücksichtlich der Folgebestimmtheit der Kunstformen, Änderungen erleiden muß, bleibt dem Ästhetik-Interpreten nicht verborgen: „But Hegel does not take into account the possibility that art may change for reasons other than the metaphysical one he expounds . .. Hegel overlooks the fact that some great art has little if any connection with either philosophy or theology. The fine works of Adrian

Brouwer

and Gustave

Courbet,

lacking in any philosophic interest . . schreitet

Kaminsky

noch

Welleks

to mention but two examples, are clearly

(167 f). Hier, darf man wohl sagen, unter¬ Betrachtungsebene. Dem entspricht es, daß

der Verfasser den Vorwurf ernstzunehmen vermag, die Idee sei (in der Ästhe¬ tik) „in the privileged position of being able to justify the occurence of any and all events" (169). So wäre es auch denkbar, die Folge der Kunstformen anders anzuordnen, etwa klassisch-romantisch-symbolisch: „The Idea . . can be used to justify whatever evolution of art is conceived" (ebd.) Als Einführungshilfe, mehr noch als erste Anregung zu eigenem Durchdenken hat das verständlich geschriebene Buch vielleicht dennoch seinen Nutzen. Einen gewissen Informationswert hat der Hegel-Abschnitt in dem sowjet¬ marxistischen Lehrbuch Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ästhetik (von einem russischen Autorenkollektiv verfaßt; Hauptautor des geschichtlichen Teils ist M. F.

Owsjannikow;

russ. 1961; deutsch 1962). Die Urteile über Hegel ent¬

halten nichts Überraschendes: „Die idealistische Ausgangsposition hindert Hegel . . daran, eine richtige Auffassung vom Wesen des Ästhetischen zu formulieren. Letztlich war er zu der Behauptung gezwungen, daß die Kunst die sinnliche bild¬ liche Gestaltung der absoluten Idee sei. Das ist bereits offener Idealismus und zugleich Mystik" (138). An anderer Stelle: „Das Pfaffentum und die Mystik Hegels äußern sich auch in der Definition vom Gegenstand der Kunst." (135) Auch hier begegnen wir einer „gekünstelten Einteilung der Kunst in Kunstfor¬ men und Kunstgattungen" (137). Zwei Dinge werden indessen von dem russi¬ schen Autoren als Verdienste Hegels betrachtet: zum ersten, daß er die Kunst als Vermenschlichung der äußeren Welt interpretiert habe, als „Selbsterzeugung in äußeren Gegenständen , zum zweiten, daß er den Versuch unternom¬ men habe, „eine Kunsttheorie auf der Grundlage des historischen Studiums der verschiedenen Gattungen, Genres und Kunststile aufzubauen" (138). - In der (anonymen) Übersetzung irritieren neuostdeutsche Wortprägungen wie „Spezi¬ fik" und „Perspektiven". Erich

Heller

(Vf. von Thomas Mann, Der ironische Deutsche) plaudert im

Titelstück seiner Essay-Sammlung Die Reise der Kunst ins Innere über die Span¬ nung zwischen klassischer und romantischer Kunst in der Hegelschen Ästhetik und über die Spiegelung dieser Spannung in ausgesuchten Beispielen der euro¬ päischen Literatur (u. a.

Hölderlin, Keats, Nietzsche, Rilke).

Hegel habe die

Ursache der „romantischen Malaise" darin entdeckt, „daß der Geist, seiner Be¬ stimmung gemäß, in wachsenden Widerspruch mit der Welt geriet, die Seele von den Umständen des Daseins sich löste und die menschliche Innerlichkeit von den äußeren Gegebenheiten

(125). Die Einheit von Wahrheit und Schönheit sei

Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik

231

damit dahin; die Künstler treibe es „zu einer Schönheit ohne /wahre', ,wirkliche', ,konkrete' Bedeutung" (127). —

Heller

nennt Hegel den „Theologen der Grie-

chen-Religiosität seiner Zeit" (134), den „methodischen Pharmakologen ihrer (Griechen-)Berauschtheit" (130). Und so versucht

Heller

die historische Bedingt¬

heit des Hegelschen Klassischen anschaulich zu machen: Hegel, wie

Hotho

ihn

sah (Vorstudien für Leben und Kunst. 1835), in einem Wust von Büchern und Papieren wühlend und zwischen dem Glanz des inneren Gesichts und dem Staub des äußeren Tisches entdeckend, „was er für das Geheimnis der grie¬ chischen Kunst hielt" (131, 124). Auch

Heller

knüpft an die Vergangenheitsthese

an: „Hegels Metaphysik (verhängt) das Todesurteil sowohl über die klassische wie über die romantische Kunst. Die klassische Kunst mußte untergehen, weil es bei dem einmalig-vollkommenen Einverständnis zwischen Geist und sinnlicher Wirklichkeit nicht bleiben konnte ... die romantische Kunst mußte vergehen, weil sie der wahren Idee der Kunst zuwiderlief ..(138 f) — Auf der Reise ins Innere erreicht die Kunst — erreicht die Dichtung (in

Rilkes

Elegien) schlie߬

lich jenen Punkt, „wo sie ihren ... klassischen Verstand ganz und gar ver¬ liert" (174). Auf vielfältige Weise legten die Verhandlungen des V. Internationalen HegelKongresses, der in der Zeit vom 6. bis 9. September 1964 in Salzburg stattfand, Zeugnis von dem lebhaften Interesse ab, das die Hegelsche Ästhetik in der Ge¬ genwart findet. Charakteristisch für diesen Kongreß, der Hegels Ästhetik zum Thema gemacht hatte, war die starke Beteiligung osteuropäischer und marxisti¬ scher Theoretiker. Die Referate sind in den von W. R.

Beyer

herausgegebenen

Bänden 1964 und 1965 des Hegel-Jahrbuchs erschienen. Freilich beziehen sich nicht alle in diesen beiden schmalen Bänden veröffentlichten Beiträge unmittel¬ bar auf die Ästhetik Hegels. Auf das wichtigste soll im folgenden in Kürze auf¬ merksam gemacht werden: Jean dans la philosophie de Hegel.

Hyppolite Hyppolite

behandelt Le Tragique et le Rationelle erörtert die Bestimmung der Begriffe

der Negativität und des Absoluten in der Jenenser Periode und ihre Bedeutung für den des Tragischen. - Jacques

d'Hondt

(Problemes de la religion esthetique)

untersucht das Verhältnis der Hegelschen „Kunstreligion" zur Kunstlehre För¬ sters _

jan

(vgl. auch den in Hegel-Studien Bd 3. 438 angezeigten Aufsatz Patockas

d Hondts).

Vortrag Zur Entwicklung der ästhetischen Auffassung Hegels

fragt nach Hegels Auffassung hinsichtlich der Wahrheit der Kunst und nach der „Schönheit als Wahrheit". In seinen kurzen Darlegungen geht

Pato£ka

zwar auf

die Genese des Hegelschen Lehrgehaltes ein, das bestimmende Motiv ist indessen eine höchst aktuelle Frage: „Inwieweit vermag die Wahrheit, die als Schönheit da ist, uns zu unserem eigentlichen Wesen zu befreien?" (49) In seiner Ent¬ schiedenheit, aber auch in seiner Einstellung gemahnt der Beitrag an

Grlics

Aufsatz Wozu Kunst? In: Praxis. Zagreb. Jg. 1966, 267-279. - Stefan Morawskis

Text Hegels Ästhetik und das ,Ende der Kunstperiode' sucht die End-

These marxistisch zu bewältigen und zu entkräften. Er weiß sich in der Haupt¬ sache einig mit Ernst

Fischer

und hält einen bestimmten Teil der Kunst für be-

Literaturberichte und Kritik

232

droht, nämlich „jene Kunst, die ihre herrlichen Flügel an der für sie gleichgültigen Wirklichkeit zerbricht, jener Kunst, die durch einen Geldmoloch oder durch politische und religiöse Mächte abgewürgt wird oder von innen heraus durch den Nihilismus oder die reine Virtuosität des Künstlers vernichtet wird" (70). Mario Rossi (Realismus in Hegelscher Problematik) hält es für sinnvoll, Hegel für einen ästhetischen Realismus in Anspruch zu nehmen, und A.

N. Maslin

behandelt ein Stück Wirkungsgeschichte in seiner Studie über Die Ästhetik Hegels und die Gedanken der russischen revolutionären Demokraten des 19. Jahrhunderts. — Die bisher erwähnten Titel finden Platz im Band 1964, die folgenden Beiträge enthält der Band 1965. Fünf Beiträge konzentrieren sich auf musikphilosophische und

musiktheoretische Fragen und

suchen

die

Musik-

Ästhetik Hegels vor allem für konkrete Probleme, insbesondere im Hinblick auf eine Bewertung der modernen Musik, fruchtbar zu machen (Vorträge von Gisele Brelet,

Zofia

Lissa,

Friedrich

Neumann,

bemerkungen von Johann Ludwig

Josef

Ujfalussy

und die Diskussions¬

— Rosario

Döderlein).

Assuntos

Beitrag

Le relazioni fra arte e filosofia nella Philosophie der Kunst' di Schelling e nelle ,Vorlesungen über die Ästhetik' di Hegel behandelt die sachlich erhebliche Frage nach der Bedeutung dieses Grundverhältnisses in der unvermittelten Koordi¬ nation

Schellings

und in der zugleich logisch vermittelten und geschichtlich aus¬

gewiesenen Folgebestimmtheit im Hegelschen System. Den Schluß bilden drei Vorträge (von Balduin

Schwarz,

Kurt

und Ernst

Mitchells

Fischer),

die alle das

Hegelsche Thema „Zukunft der Kunst" zu ihrem Gegenstände haben. Die Ant¬ wort

Fischers

(dessen unlängst bei Rowohlt erschienenes Buch Kunst und Ko¬

existenz. Beitrag zu einer modernen marxistischen Ästhetik ebenfalls an mehre¬ ren Stellen auf die Ästhetik Hegels bezugnimmt) ist — man ist versucht zu sagen: natürlich — positiv, und zwar im doppelten Sinne des Wortes. Die Zu¬ kunft der Kunst wird bejaht, und ihre Werke werden mit Händen zu greifen sein. Die Zukunft der Kunst ist auch für

Fischer,

mit

Morawski

zu sprechen,

„ein konkretes, historisches Problem", nicht mehr. Die Emil

Aufsatzsammlung

Mueller

des

schweizer-amerikanischen

Philosophen

Gustav

Origins and Dimensions of Philosophy (1965) enthält eine Reihe

von Texten, die wertvolle Beiträge zur Deutung der Hegelschen Ästhetik bei¬ steuern. Der Band gliedert sich in vier Teile mit Arbeiten (I) zur systematischen Philosophie, (II) zur Religionsphilosophie, (III) zur Ethik und (IV) zur Ästhetik. In diesem vierten Teile steht die Hegelsche Ästhetik im Zentrum. Eine Abhand¬ lung Solger's Aesthetics — A Key to Hegel erörtert auf dem Boden ausgedehnter Quellenkenntnis das Verhältnis des Ästhetikers Hegel zu

Solger

(vgl. auch das

SoZger-Kapitel in: Hegel. Denkgeschichte eines Lebendigen. 1959, S. 315 ff). Mueller

erblickt in

Solgers

Ironie einen Schlüssel zu Hegels Dialektik, „which

unites idealism and realism". Die Ironie

Solgers

entspreche in ihrer Funktion als

ein ästhetisches Prinzip Hegels Dialektik. Wichtig ist hier die universale Funk¬ tion der Ironie. Sie sei auch in der klassischen, „non-ironical" Kunst impliziert und ermögliche so den Grundsachverhalt der Kunst: „The ,identity of process

Zur Aktualität der Hegelschen Ästhetik

233

and reality' is seen in the identy of imagination with the structure of Gestalt of the perfected work of art." (444) — Wichtiger noch ist ein zweiter Aufsatz: The Dialectical Development of Hegel's Aesthetics. Hier sucht

Mueller

eine Reihe

von landläufigen und immer wieder nachgesprochenen und nachgeschriebenen Fehldeutungen der Hegelschen Ästhetik beiseitezuräumen. Die knappe Zusam¬ menstellung der Fehlurteile ist überaus lehrreich. Sie erstreckt sich von Robert Zimmermann

und Rudolf

Haym

über

Dilthey

und

Kierkegaard

bis zur Gegen¬

wart. Hier finden wir den Vorwurf, Hegel habe die Autonomie der Ästhetik wieder aufgegeben und sei zum Rationalismus

Baumgartens

zurückgeschritten

(„according to which beauty is a sugar-coated instruction of general truths"); und der entgegengesetzte Vorwurf, Hegel habe Vernunft, Logik und Erkennt¬ nis ästhetischen Prinzipien unterworfen („Begriffsdichtung").

Mueleers

Abwehr

des Logizismus- sowohl wie des Ästhetizismus-Vorwurfs ist ebenso einfach wie einleuchtend. Zu den Mißverständnissen zählt

Mueller

gleichfalls eine vorder¬

gründige Deutung der Vergangenheitsthese, die ihm auch in

Kuhns

und im Hegel-Kapitel der History of Esthetics (von Katherine Helmut

Kuhn,

New York 1939) vorzuliegen scheint.

Mueller

Hegel-Buch

Gilbert

und

meint, die Lösung

der Schwierigkeit liege darin, daß Kunst und Religion jetzt geschieden seien. Die Kunst habe nur aufgehört, als Religion zu fungieren. — Das Buch enthält darüberhinaus noch wertvolle Ausführungen zu Zentral- und zu Einzelproble¬ men der Hegelschen Ästhetik. Beachtlich sind insbesondere die Erwägungen Muellers

über den Begriff der „schönen Seele" bei Hegel und die ebenso klaren

wie sicher entwickelten Überlegungen zur Problematik der Gattungen und der Kunstformen. Die leitende Überzeugung des Autors kommt in einer beiläufigen Wendung zum Ausdruck: „Hegel says . . that a philosophical comprehension of art is not artistic, but logical . . ." Wenn ich zurückblicken darf: Die Auseinandersetzungen mit der Ästhetik Hegels sind an vielen Stellen beherrscht von der Frage nach der ursprünglichen und besonderen Temporalität der Kunst. Im ganzen gesehen führen diese Aus¬ einandersetzungen

freilich noch nicht zu Resultaten, die eine gegenwärtige

Ästhetik unmittelbar verwerten könnte. Das kann nicht überraschen. Die Pro¬ blemgeschichte der philosophischen Ästhetik von Hegel bis zur Gegenwart ist auf weite Strecken noch unbewältigt geblieben. Erst wenn geklärt ist, was die nachhegelsche Ästhetik geleistet hat, und wenn ebenso geklärt ist, was sie auf Grund ihrer eigentümlichen Systemvoraussetzungen nicht hat leisten kön¬ nen, wird eine ergiebigere Auswertung der Ästhetik Hegels möglich werden. Der Idealismus der KANT-Erneuerer hatte auch auf dem Felde der Ästhetik die Mo¬ mente der Zeitlichkeit, der Geschichtlichkeit, der Faktizität, der Konkretheit zu¬ rücktreten lassen. Die besondere Zeitlichkeit der Kunst, ihr Vergangenheits¬ charakter und ihre eigenartige Gegenwärtigkeit blieben so verdeckt. Vermittels phänomenologischer, strukturtheoretischer und bloß-ontologischer Bestandsauf¬ nahmen allein konnte diese Grundlegungslücke nicht ausgefüllt werden. Zeitlichkeits- und Konkretheitsvalenzen mußten nicht nur aufgewiesen, sie mußten

234

Literaturberichte und Kritik

auch als Momente einer ursprünglichen Grundlegung des Schönen und der Kunst begriffen und gerechtfertigt werden. Der Rückgriff auf einen anderen Idealis¬ mus, der gerade dieses zu leisten versprach, war angesichts einer solchen Pro¬ blem- und Forschungslage wohlmotiviert. Hier mußte auf Hegel zurückgegangen werden. Der Rückgang hat bisher dies vollbracht, daß er ein Kernstück der Hegelschen Kunstgrundlegung ans Licht rückte und unsere Einsicht in seine Bedeutung erheblich vertiefte. Zu tun bleibt freilich genug: das Lehrstück ist noch in seiner vollen problemgeschichtlichen Bedeutung zu würdigen und für die gegenwärtige Ästhetik zu nutzen. Gerd Wolandt (Bonn)

Hegelforschung und Phaenomenologie des Geistes

235

DIE AUFGABE DER HEGELFORSCHUNG IN BEZUG AUF DIE ^PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES'

„How sure is anyone whether he has recaptured the spirit of the dialectic in words other than Hegel's?" J.

Loewenberg;

Hegel's Phenomenology. 90.

Formell gesehen lassen sich drei verschiedene Möglichkeiten unterscheiden, wie ein Kommentar zur Phänomenologie des Geistes verfaßt werden kann. Die erste Möglichkeit wäre eine Nacherzählung in andern Worten als den Hegelschen. Dieses Verfahren ist besonders für Ausländer geeignet: mit der Übersetzung in eine andere Sprache vollzieht sich schon eine Interpretation. Es sei hier z. B. auf die wichtigen Arbeiten eines

Hyppolite,

eines

KojLve

für den französischen

Sprachraum verwiesen Die Gefahr besteht jedoch, daß der Verfasser eines sol¬ chen Kommentars eben der Ansicht ist, er interpretiere schon, indem er übersetzt. Übrigens sind solche Arbeiten oft mehr geeignet als Einführung in die Gedanken Hegels denn als richtige Interpretation. Wem der Hegeltext nicht ohne weiteres verständlich ist (und wer könnte behaupten, er verstehe Hegel!), dem hilft zwar eine Paraphrase; aber leider wird man dann vielfach, sobald man den Hegeltext selber zur Hand nimmt, mehr oder weniger enttäuscht: die Nacherzählung ist gerade da verständlich, wo sie den Wortlaut des Textes verlassen hat, aber gegenüber dem Text selber bleibt man genau so hilflos wie zuvor. Dennoch ist man um ein Beträchtliches weiter, wenn man wenigstens weiß, welchen Sinn man in den Worten zu suchen hat. Es ließe sich sogar behaupten, daß die Bedeutung einer Interpretation in dem genannten Sinn um so größer wird, je weiter sie sich vom Wortlaut entfernt. Im folgenden möchte ich zwei Beispiele dieser ersten Interpretationsmethode anführen, und zwar die Arbeiten von berg

J. Loewen¬

und von L. Flam, von denen die erste ein hervorragendes Muster an Klar¬

heit darstellt, während die zweite völlig mißlungen ist. Die zweite Möglichkeit, einen Kommentar zur Phänomenologie des Geistes zu schreiben, bildet der Versuch, von einem Begriff oder Komplex von Begriffen ausgehend das ganze Werk zu überblicken. Man wählt ein grundlegendes Einzel¬ thema aus und verfolgt es im ganzen Werk. Zweifelsohne ist dieses Verfahren bis jetzt das fruchtbarste gewesen, nicht zuletzt weil es soviele Einzelprobleme bei Hegel gibt, die noch nicht gelöst sind. Leider gibt es auch hier Entgleisungen, vor allem dadurch, daß man sein eigenes Interesse in Hegel hineinliest. Aus dem Bedürfnis, Hegels Bedeutung für die Gegenwart zu betonen, kann man leicht dazu kommen, einen eigenen Hegel zu schaffen. Dennoch sind all diese Versuche höchst interessant, sowohl für das Verständnis Hegels wie für das Verständnis

Literaturberichte und Kritik

236

unserer eigenen Zeit. Ein wichtiges Thema ist heutzutage das Verhältnis von Metaphysik und Geschichte, und es lohnt sich, Hegel auf diesen Punkt hin zu befragen. Wichtiges hierüber ist u. a. von R. K. Schluck

Maurer

und K. H.

Volkmann-

gesagt worden. Im folgenden möchte ich auf ihre Arbeiten näher ein-

gehen. Die dritte Möglichkeit einer Phänomenologie-Interpretation steht leider noch aus. Nach den genannten und den unzähligen hier nicht genannten Arbeiten wären wir allmählich in der Lage, einen umfassenden Kommentar zur ganzen Phänomenologie des Geistes zu schreiben. Leider besitzen wir bis jetzt nur An¬ sätze dazu. Ein Beispiel dieser dritten Methode kann ich also nicht aufführen. Die vollständigen Titel der hier zu besprechenden Arbeiten sind:

J. Loewenberg: Hegel's Phenomenology, Dialogues on The Life of Mind. La Salle, Illinois: The Open Court 1965. XV, 337 S. L. Plam: De Bewustwording. Beschouwingen bij de ,Fenomenologie van de Geest' van Hegel. Bruxelles: Presses universitaires de Bruxelles 1966. 247 S. Reinhart Klemens Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte. Interpretationen zur JPhänomenologie des Geistes'. Stuttgart [etc.}: Kohlhammer 1965. 176 S. K. H. Volkmann-Schluck: Metaphysik und Geschichte. Berlin: de Gruyter 1963, 16 S.

Loewenberg

versucht in seinem Buch, Hegels Absicht in einfachen Worten und

mit selbstgewählten Beispielen zu deuten: „falls wir die Gedanken in einfacherer und deutlicherer Weise ausdrücken können, indem wir die Redewendungen ab¬ ändern, ist es weniger wahrscheinlich, daß wir den Weg verlieren, als wenn wir seinen abschreckenden Wortgebrauch nachahmen" (115). Übrigens ist er sehr bescheiden, denn am Schluß seines Werkes sagt er bezeichnenderweise: „dies alles ist nur ein Anfang" (371). Er hat zu seinem Zwecke eine sehr origi¬ nelle Behandlungsweise erdacht: um der Dialektik gerecht zu werden, hat er die Gedankenfolge auf zwei Gesprächspartner verteilt. Er kann derart alle Vor¬ teile einer Dialogform ausnützen, indem er im Text immanente Kritik von den beiden Partnern üben läßt, hinter denen er sich selber verstecken kann. Weiter¬ hin kann er die dialektischen Übergänge dadurch, daß er sie in Diskussionsform vorlegt, um so prägnanter hervorheben. Schließlich hat er so zu seinem Glück weniger Anlaß, sich an Hegels Wortlaut zu halten. Der eine Partner, Hardith, spielt den Laien, der gerne den Hegel erklärt haben möchte, der andere, Meredy, tritt einigermaßen als Sachverständiger auf; damit hängt zusammen, daß jener Hegel an unklaren Stellen angreift, während dieser sich dann gezwungen fühlt, Hegel zu verteidigen. Wir machen also eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Text Hegels mit. Merkwürdig aber ist, daß in den Abschnitten über die Religion und das absolute Wissen von Meredy eine neue Interpretation versucht wird, während Hardith sich als orthodoxer Hegelianer bekennt. Störend ist im

Hegelforschung und Phänomenologie des Geistes

ganzen nur, daß

Loewenberg

237

es für notwendig hält, ab und zu Komplimente

verteilen, wie etwa: „du verstehst aber Hegel richtig" u. ä.

Loewenberg

zu

meint,

für sein Verfahren ausreichenden Anlaß in Hegels Text selber gefunden zu haben, erstens in der dialektischen Methode, die ja auf das Prinzip des Dialogs zurückgeht, zweitens und vor allem, insofern Hegel auch selber mehrere Ge¬ stalten gleichsam spielen läßt. Hegel spricht wie ein Autor durch den Mund seiner Bühnenfiguren. Jede Gestalt in der Phänomenologie ist wie ein Schau¬ spieler, der seine Rolle spielt. Jeder ist in sich genau so absolut wie der Spieler des Absoluten Wissens im letzten Abschnitt (und genau so relativ, können wir hinzufügen). Die einzigen Stellen, wo Hegel selber das Wort ergreift, sind die Einleitungen zu den verschiedenen Abschnitten. Hinsicht Hegel mit

Shaw zu

Loewenberg

wagt es, in dieser

vergleichen, der bekanntlich in ausführlichen Ein¬

leitungen zu seinen Theaterstücken seine Absichten mitteilt (vgl. 151). Die ganze Phänomenologie ist wie eine Art ,comedy of errors', oft ist der Ausgang eines dialektischen Prozesses geradezu komisch. Hegel lebt sich völlig ein in die Psyche seiner Gestalten, man kann sagen, er experimentiert mit ihnen: die Phänomenologie ist ein ,Gedankenexperiment' (16, 21), in dem der Weg mehr als das Ziel, die Methode mehr als das Ergebnis gilt. Es gelingt

Loewenberg

deshalb besser als vielen anderen Hegelforschern, die Momente des phänomeno¬ logischen Prozesses in ihrer Eigenart zu zeigen, gerade weil er nicht das Ende immer vor sich sieht. Obwohl er die verschiedenen Momente oder /Typen' in oft ausgezeichneter Weise ausarbeitet (es erinnert irgendwie an die Weise, wie

Bloch1

die vierzehn Stufen, Stationen unterscheidet), kümmert er sich

dabei weniger um den großen Zusammenhang: er verliert sich vielleicht doch zu sehr in Einzelübergängen, so daß er die große Einteilung nicht kritisch be¬ trachtet; er übernimmt ohne Bedenken eine Vierteilung in Bewußtsein, Selbst¬ bewußtsein, Vernunft und Geist. Das heißt, daß er Religion und Absolutes Wissen einfach dem Geistkapitel unterordnet. Es ist bemerkenswert, wie oft die Weise der Einteilung der Phänomenologie zusammenhängt mit der eigenen Ansicht des Verfassers. Der Grund liegt in der Tatsache, daß die von Hegel selber vorgenommene Einteilung mehrdeutig oder sogar doppeldeutig

zu

sein

scheint. An der Einteilungsweise scheiden sich oft die Kommentare. Ich habe diese Frage an anderem Ort eingehend erörtert2 und darf hier nur darauf hinweisen, daß man doch am besten die Dreiteilung Hegels in A, B und C beibehält, wobei nur die Frage entsteht, wie man C benennen kann: vielleicht mit Vernunft, aber besser wäre wahrscheinlich: Wissenschaft. Die Vierteilung

Loewenbergs

wird verständlich, wenn wir beachten, daß er gerade zwischen Vernunft und Geist die größte Zäsur legt. Den Grund dazu findet er in dem Umstand, daß

1 E. Bloch: Subjekt — Objekt. Berlin 1952. 2 Het totaliteitsbegrip bij Hegel en zijn voorgangers. Assen 1965. 127 ff.

Literaturberichte und Kritik

238

s. E. bis zum Vernunftkapitel das Individuum in sich, und vom Geistkapitel an das Individuum in der Gemeinschaft behandelt wird. Mit der Betonung der Einzelgestalten hängt zusammen, daß aus der Eigen¬ entwicklung jeder Gestalt nicht auf historische, sondern auf dialektische Weise die nächste entsteht.

Loewenberg

lehnt grundsätzlich jeden Versuch, in der Phä¬

nomenologie eine Beschreibung der Universalgeschichte zu lesen, ab. Er hat recht, insoweit es tatsächlich einen geradlinigen Fortgang durch die Geschichte in der Phänomenologie nicht gibt. Einige Autoren haben dies zu umgehen versucht, indem sie zwei oder drei Fortgänge hintereinander annehmen.

LukÄcs

z.

B. 3

sieht zuerst die Geschichte des Individuums der Gesellschaft gegenüber (Kapitel I bis V), die damit endet, daß das Individuum die Gesellschaft als von ihm Hervor¬ gebrachtes erkennt (ein Thema, das als solches auch von

Loewenberg

auf¬

genommen wird); nachher fängt die Geschichte wieder aufs neue an, nun vom erkennenden Bewußtsein heraus gesehen (Kap. VI); schließlich bieten die Ka¬ pitel VII und VIII einen Rückblick aufs Ganze. Damit wäre nach

LukÄcs

der

merkwürdige Sprung erklärt, den Hegel macht, wenn er von der Kantischen Philosophie mit ihren romantischen Ausläufern zur primitiven Religion übergeht. Auch hier sucht

Loewenberg

den Übergang zu verstehen, und er glaubt den

Schlüssel dazu gefunden zu haben in dem dialektisch-genetischen Prinzip. Dies besagt, daß die historischen Gestalten oder Vorgänge nur Beispiele für jeweilige menschliche Verhaltensweisen sind: sie sind nur Illustrationen; die ihnen zu¬ grunde liegenden Prozesse entwickeln sich alle dialektisch auseinander. „Die Phänomenologie selber ist keine Geschichte und nicht durch Chronologie ge¬ bunden." (153) In dem Satz Hegels: „und jedes Moment, weil es Moment des Wesens ist, muß selbst dazu gelangen, als Wesen sich darzustellen" (Phän., ed.

Hoffmeister,

Loewenberg

259), erblickt er das höchste Prinzip der Hegelschen Dialektik.

ist damit imstande, die Gestalten in ihrem Beispielcharakter kritisch

zu betrachten und zu fragen, ob sie tatsächlich den gemeinten Vorgang illustrie¬ ren. Die Frage ist also nicht mehr: wieso gerade Antigone, oder die französische Revolution? sondern: ist es Hegel gelungen an diesen Beispielen den Prozeß zu illustrieren oder hätte er besser andere wählen sollen? Die Frage, warum denn einige wichtige historische Ereignisse keinen Platz in der Phänomenologie bekommen haben, wird sinnlos (z. B. fehlt nach der absoluten Freiheit der französischen Revolution die relative, demokratische Freiheit;

Loewenberg

er¬

klärt das aus der dialektischen Entwicklung: die relative Freiheit sei keine Ver¬ söhnung, sondern ein Kompromiß und also mehr aus politisch-praktischem als aus spekulativ-dialektischem Gesichtspunkt zu betrachten, 256). Andererseits sind wir nicht mehr gebunden, an einigen Stellen nur an das aufgeführte Bei¬ spiel zu denken, vielleicht ist sogar das mittelalterliche Christentum als Beispiel für das unglückliche Bewußtsein' nicht gut am Platze. Leider hat Hegel selber Anlaß gegeben, seine Beispiele für unersetzbar zu halten, wenn er das ,Topische' 3 G. Lukäcs: Der junge Hegel. Zürich 1948.

Hegelforschung und Phänomenologie des Geistes

mit dem ,Typischen

239

verwechselt. Auch hat Hegel einige Male die Momente

zuviel auf eine Richtung hin ausgearbeitet: „was er sagt, scheint nur für eine bestimmte Kulturform zu gelten" (209), der Nachdruck liegt aber auf ,scheint'. Hegel wendet sich vor allem der französischen Kultur zu, und findet seine Auffassungen

besonders

ausgeprägt in

literarischen

Zeugnissen wieder.

Es

fragt sich, ob Kegel selber nicht zuviel hineininterpretiert und den Rahmen z. B. der Antigone-Tragödie sprengt. Auch hier müssen wir aber beachten, daß das Wichtigste nicht das Beispiel, sondern das Moment überhaupt ist. Tat¬ sächlich verdirbt Hegel sich, nach

den dialektischen Fortgang,

Loewenberg,

wenn er zu polemisch verfährt. Dies ist der Fall in der Erörterung der ,schönen Seele', wo die sachliche Wiedergabe von polemischen Äußerungen getrübt wird, so daß man kaum zwischen beidem unterscheiden kann, wird doch von der ,schönen Seele' gesagt: „verglimmt sie in sich, und schwindet als ein gestalt¬ loser Dunst, der sich in Luft auflöst" (Phän.

463).

In seiner polemischen Hal¬

tung übertreibt Hegel auch wohl, wenn er das Bild des Gelehrten zeichnet: man kann doch nicht behaupten, daß dieser nur aus Ehrgeiz handelt Phän.

285

ff)!

Loewenberg

(173;

vgl.

scheut sich übrigens nicht, den Typen geeignete

Namen zu geben, außer dem Gelehrten nennt er z. B. auch den Schizophrenen, den Mystiker, den Jüngling, den Mönch als Gestalten des unglücklichen Bewußt¬ seins'. Auch ist er sehr erfinderisch, wenn er die Stufen des dialektischen Pro¬ zesses im Englischen kennzeichnet: die Stufen der sittlichen Welt, des Rechts¬ zustandes und der Bildung übersetzt er mit ,the ingenuous, the ingenious, the artificial culture'. Es versteht sich, daß

Loewenberg

seine Freude hat an den

häufigen Wortspielen Hegels, so daß er sie überall betont. Die Aufmerksam¬ keit, die Hegel der Sprache überhaupt widmet, entspricht nach

Loewenberg

der wichtigen Stelle, die sie in der Phänomenologie einnimmt. Die Sprache bildet nicht einmal, sondern öfter den dialektischen Übergang. Sie kann so öfter auftreten, weil es im ganzen Prozeß immer wieder parallele Erscheinungen gibt. Eine der wichtigsten Aufgaben einer Interpretation ist, die immer wieder¬ kehrenden Momente und Übergänge in ihrer grundlegenden Bedeutung und in ihrer wechselnden Position ans Licht zu fördern. Das Thema der Phänomeno¬ logie ist die Beschreibung „of mind's recurrent persuasions", der immer wieder¬ kehrenden Überzeugungen des Geistes. Die Bewegung verläuft vom Abstrakten zum Konkreten, und wie schon angedeutet ist für

Loewenberg

der große Über¬

gang derjenige von ,mind' zu ,spirit'. „Transition to spirit is simply transition to mind comprehending as internally related the aspects of mind that hitherto appeared as if separable."

(187)

Es fragt sich, ob

Loewenberg

mit dem Hervor¬

heben eines Überganges nicht seinem Prinzip der stetigen Übergänge untreu wird. Diese Widersprüchlichkeit wird noch deutlicher, wenn wir sehen, daß Loewenberg

sich mit Recht der Möglichkeit einer endgültigen Abschließung

des Prozesses widersetzt. Die Interpretationsschwierigkeiten fangen für

Loewenberg

erst recht an mit

den beiden letzten Abschnitten. War es bisher möglich und sogar notwendig.

Literaturberichte und Kritik

240

die dialektische Entwicklung vom Subjekt her zu verfolgen, im Religionskapitel scheint auch die objektive Seite hervorzutreten. Es kündigt sich hier schon an, was im ,Absoluten Wissen' offenbar wird: die Entwicklung des Absoluten selber. Nun kann man zweierlei versuchen: entweder die letzten Kapitel den vorher¬ gehenden anzugleichen oder umgekehrt.

Loewenberg

hat m. E. recht, wenn er

den ersten Weg wählt. Hegel macht es uns aber bestimmt schwierig, namentlich mit den zweideutigen Begriffen der Religion. ,Offenbarung' kann entweder die Bedeutung haben, daß eine neue Stufe der Phänomenologie offenbar wird, oder daß von außen her eine Wahrheit offenbart wird. Ich möchte selber hinzufügen, daß auch der Begriff ,absolutes Wesen' oft falsch interpretiert wird, als sei damit Gott gemeint: eine genaue Untersuchung aller Stellen, wo dieser Begriff ver¬ wendet wird, lehrt uns, daß nur das Wesen des Menschen in seiner absoluten Haltung gemeint sein kann. Freilich ist unumgänglich, daß auch über Gott ge¬ sprochen wird in einem Kapitel über das religiöse Bewußtsein, aber es handelt sich dann nur darum, wie sich das religiöse Bewußtsein von sich aus Gott vorstellt. Hegel läßt sich aber dann und wann zu krassen Behauptungen ver¬ führen, als sei es z. B. für Gott selber notwendig, als Licht zu erscheinen (306). Ob Hegel damit recht hat oder nicht, sei dahingestellt, entscheidend ist hier nur, daß eine solche Behauptung in den Rahmen der Phänomenologie nicht paßt. „Die Evolution des eigenen religiösen Bewußtseins Gottes ist kein Thema, das von der dialektischen Methode untersucht werden kann. Den Geist Gottes — oder des Absoluten — Anschauen ist ein menschliches Anschauen." (352) Sind beide Themen auch untrennbar miteinander verbunden, so hat doch das menschliche Bewußtsein Priorität. Besonders das letzte Kapitel erfordert eine „Entmetaphysierung", tritt hier doch eine derartige Verschmelzung von mensch¬ lichem und absolutem Geist auf, daß Hegel sogar meinen kann, damit sei ein endgültiges Ende erreicht worden. Um Klarheit zu schaffen, ändert

Loewenberg

den Titel: statt ,Das absolute Wissen' schlägt er ,das philosophische Bewußt¬ sein' vor. Ein absolutes Ende kann es nicht geben aus zwei Gründen: das ,Absolute' ist selber relativ den vorigen Stufen gegenüber, und das ,Absolute' kann nicht ohne dialektische Entwicklung sein, sonst wäre es der „einzige end¬ gültige Solipsist". Hegel mag dies alles behaupten, aber er steht so im Wider¬ spruch mit seiner eigenen Methode.

Loewenberg

hat versucht, diese Methode von

innen heraus nachzudenken, wir müssen ihm sehr dankbar sein für seine glänzende Leistung. In der eindrucksvollen Vorrede zu seinem Buch schreibt

Flam,

daß auch er

beabsichtigt, den Text genau zu lesen, zusammenzufassen, nachzudenken, zu erläutern. Das Ergebnis ist leider nur ein fast komisches Beispiel von Hegel¬ interpretation. Meistens kommt der Verfasser nicht aus einer schlechten Über¬ setzung heraus, allerdings ohne zu sagen, daß er übersetzt. Es kommt sogar vor, daß

Flam

eine eigene Anmerkung hinzufügt, von der Art wie: „Karl

Jaspers

würde hier von Grenzsituationen reden" (107). Aus den Bemerkungen können wir lernen, daß Hegel ein Albert

Camus

Flams

des 19. Jahrhunderts war.

Hegelforschung und Phänomenologie des Geistes

innerlich zerrissen und nihilistisch.

Flams

241

„Entzifferung" der Phänomenologie

hat als Ergebnis die Entdeckung der „schauererregenden Problematik des ein¬ samen Menschen, der tastend seinen Weg sucht, in einer Gesellschaft, in der er nicht einmal sich selber wiederfindet" (9). Nun, wir finden hier allerdings Hegel nicht mehr wieder. Wir können uns trösten mit dem Gedanken, daß Hegel gar nicht allein stand in seinem angeblichen Nihilismus: Scheeling

Kant, Fichte,

stehen ihm zur Seite. Und auch wir, „wir versinken in die Lange¬

weile des Alltags, da alle Sterne erloschen sind, wir zerfallen in die Gleich¬ gültigkeit des Alltagstrottes, der einen wirklichen und sogar abscheulichen Nihi¬ lismus darstellt" (25). Wenn je ein Autor versucht hat, Hegel in seinen eigenen subjektiven Interessenkreis zu ziehen, dann ist er jetzt von gibt nur ein einziges Problem für

Flam:

Flam

überboten. Es

wie kann ich die ganze Philosophie als

Beleg für meinen eigenen Standpunkt anführen? Nach der Vorsicht, die

Loewenberg

walten läßt, namentlich wo er die Mo¬

mente der Phänomenologie in ihrer Beispielhaftigkeit erörtert, erregt es einiges Aufsehen, wenn wir

Flam

hören. Er macht keine Umstände, er weiß genau,

daß Hegel mit dem unglücklichen Bewußtsein' „das Christentum und zugleich den Romantismus und den Nihilismus

Fichtes"

meint

Aber wenden wir uns zu den Übersetzungen

(27).

Flams.

,Aufklärung' übersetzt

er mit einem Wort, das im Niederländischen nur ,Erläuterung' bedeutet; ,Schrekken', in üblicher Übersetzung ,Terreur', heißt bei

Flam

einfach: ,schrik' (etwa =

Angst). Er verwechselt häufig ,absolut' und ,abstrakt', ^moralisch' und ,sittlich'. Er verwechselt in einem Satz oft Dativobjekt und Subjekt, macht Sätze be¬ jahend, die verneinend waren, usw. Ich möchte einige überraschende Beleg¬ stellen vorführen, die ich ins Deutsche zurück übersetzt habe, um sie mit den entsprechenden Stellen Hegels vergleichen zu können.

Phän.

166/167

Flam 95

Daß das unwandelbare Bewußtsein

Das Bewußtsein, das sich ergossen

auf seine Gestalt Verzicht tut und

hat, verfehlt seine Gestalt, es ist im¬

sie preisgibt, dagegen das einzelne

mer was es nicht ist und es ist nicht

Bewußtsein dankt, d. h. die Befriedi¬

was es ist, es verfehlt deshalb jede

gung des Bewußtseins seiner Selb¬

Befriedigung oder Zufriedenheit, es

ständigkeit sich versagt, und das We¬

verzichtet auf seine Selbständigkeit

sen des Tuns von sich ab dem Jen¬

und dankt im Gegenteil all was es

seits zuweist, durch diese beiden Mo¬

bekommt oder ist im Jenseits. Es gibt

mente

des gegenseitigen sich Auf¬

zwei

gebens beider Teile entsteht hiemit

usw.

allerdings dem Bewußtsein seine Ein¬ heit mit dem Unwandelbaren, usw.

Momente

dieses

Verfehlens.

Literaturberichte und Kritik

242

Phän. 431

Flam. 223

... so gilt doch seinem reinen Willen

Aber der reine Willen und das reine

und Wissen die Pflicht als das We¬

Wissen gilt für die Pflicht als das

sen;

er der

Wesen. Solches geschieht im Begriff

Realität entgegengesetzt ist, oder im

oder im Gedanken. Das absolute We¬

im

Begriffe,

insofern

Denken ist es also vollkommen. Das

sen ist dies Gedachte und kann nicht

absolute Wesen aber ist eben dies

jenseits

Gedachte, und jenseits der Wirklich¬

werden. Der Gedanke gilt als voll¬

keit Postulierte; es ist daher der Ge¬

kommen für das moralisch unvoll¬

danke, in welchem das moralisch un-

kommene Wissen und Wollen .. .

der Wirklichkeit

postuliert

vollkommne Wissen und Wollen für vollkommen gilt, . . . Wenden wir uns nun wieder zur seriösen Hegelforschung zurück und nehmen wir die Problematik wieder auf, mit der wir uns zuvor beschäftigt haben. Wie ist das Verhältnis von Phänomenologie und Metaphysik, und welche Rolle spielt dabei die Geschichte? Können wir der Lösung

Loewenbergs

auch weiter

zustimmen oder gibt es entscheidende Gegenargumente? Schon die Titel der noch zu besprechenden Bücher weisen in eine andere Richtung. War

Loewenbergs

Maurer

Leitfaden das dialektisch-genetische Prinzip, so betrachtet

die Phänomenologie in dem Lichte des Zentralthemas der ,Bildung'.

Diese Bildung wird aber ebenso als Bildung des Menschen in der Geschichte, wie als Bildung der ,Natur' in sich verstanden. Es gibt für

Maurer

nur einen

metaphysischen Prozeß, in den beide, Natur und Geschichte, einbezogen sind: Geschichtsphilosophie und Phänomenologie hängen für ihn aufs engste zu¬ sammen. „Wenn der Prozeß der Objektivität nicht in sich selber die Entzweiung als bewegendes Prinzip trägt (zugleich seinshaft, göttlich und menschlich schon von sich aus ist), gäbe es auch keine Bildung der Welt durch Arbeit, geschweige denn durch die Arbeit eines Begriffs, der bloß im Bewußtsein ist, sondern wir müßten auf Schickungen des Seins hoffen."

(160

f) Die Erörterungen

Maurers

über den Begriff der Bildung sind sehr aufschlußreich. Er weist darauf hin, daß auch dieser Begriff mehrere Bedeutungen hat, wie viele von Hegel mit Vor¬ liebe verwendete Begriffe. Es läßt sich unterscheiden: „1. sich Bilden im Sinne von natürlichem Entstehen . . ; 2. sich Bilden im Sinne von Sich-erziehen-lassen durch Rezeption vorgegebener „Bildung"; 3. Bilden als Formung eines Materials nach einem Entwurf" (49). Wichtig ist, daß der Begriff eine objektive und eine subjektive Bedeutung hat: der Mensch bildet sich und die Welt. In der Bildung kann der Mensch sich isolieren oder sich in den Prozeß zum Absoluten hin stellen. Ihm droht die Gefahr, daß er sich „historisch verhärtet" (61), daß er das Ineinander von einerseits Herkunft und Gegenwart und andererseits Zukunft nicht mehr versteht oder verstehen will. Für die Verbindung der subjektiven und der objektiven Seite der Bildung stützt

Maurer

sich hauptsächlich auf die Vorrede der Phänomenologie, und wir

Hegelforschung und Phänomenologie des Geistes

243

müssen ihm zugeben, daß Hegel tatsächlich die Absicht hatte, den ganzen kos¬ mischen Prozeß darzustellen. Ob aber der dialektische Fortgang nicht doch nur die subjektiv-menschliche Bildung vermittelt? Hat nicht doch diese Seite der Bildung, wenigstens bis zum Geistkapitel, die Priorität? Wäre es nicht besser, zwei Positionen Hegels anzunehmen und uns klarzumachen, daß Hegel mit sich selber im Widerspruch ist, da das von ihm gesteckte Ziel und seine Methode sich nicht vertragen? Sollten wir nicht „Hegel gegen sich selber in Schutz nehmen", wie

Loewenberg

sagt

(305)?

Die Frage ist nur, welchen Hegel wir

dann wählen! An dieser Stelle möchte ich die wichtige kleine Arbeit von

Volkmann-Schluck

in die Diskussion einbeziehen. Obwohl auch er einen engen Zusammenhang zwischen Metaphysik und Geschichte behauptet, kann er in dem geschichtlichen Werdegang der Phänomenologie das System nicht erblicken: „Der geschichtliche Schritt, durch den die Philosophie sich in die absolute Erkenntnis des Absoluten verwandelt, läßt sich nicht in das System der absoluten Erkenntnis aufheben." (12) Wenn Hegel auch die Metaphysik vollendet, so ist hier „kein Ende des Denkens" (16). Wie Hegel selber mit der Stellung der Phänomenologie in seinem ganzen Werk im Unklaren war, zeigt

Volkmann-Schluck

auch über¬

zeugend, indem er auf die Bemerkungen Hegels bei der geplanten Neuauflage und auf den Ort der Phänomenologie innerhalb der Enzyklopädie hinweist. Obwohl Maurer vom ,Ende der Geschichte' spricht, meint auch er nicht, daß das Ende nun wirklich von Hegel vollzogen ist. Sein Standpunkt nähert sich wesentlich demjenigen

Loewenbergs,

wenn er sich mit

setzt. Neben den anderen Abschnitten, wo

Maurer

Kojeve

auseinander¬

sich mit der Hegel-literatur

kritisch beschäftigt, sind diese Seiten außerordentlich wichtig. Die Arbeit Kojeves

4 ist bekanntlich von großer Bedeutung, sei es auch, daß sie in mehreren

Thesen anfechtbar ist.

Maurer

wird ihm sehr gerecht in der von ihm gegebenen

Zusammenfassung der Hauptthesen. Das grundsätzliche Bedenken Kojeves

Maurers

gegen

Auffassung vom Ende der Geschichte ist, daß in diesem Ende alles

menschliche Streben zugrunde gegangen ist; die menschliche Geschichte ist nach Kojeve

nur ein Zwischenspiel: sie endet, wie sie angefangen hat: „Nur ist

der Mensch am Ende seiner Geschichte noch immanenter und unfreier, als er am Anfang war; aus seiner partikulären, transzendierenden Begierde-Natur ist eine ganz zahme und domestizierte Spielnatur, aus dem Wolf ein Hund gewor¬ den" (148); der Mensch, „der einmal nichtendes Nichts war, [ist] dann aber glückliches Tier geworden" (149). blicken;

Maurer

und

Kojeve

Loewenberg

will vom Ende der Geschichte zurück¬

sind beide der Meinung, daß wir nur vor¬

wärts blicken können. Ihre Gründe dazu sind allerdings völlig verschieden: Loewenberg

verfolgt die Entwicklung von der jeweiligen Stufe des mensch¬

lichen Bewußtseins aus,

Maurer

bezieht die Entwicklung der gleichzeitig sich

4 A. Kojeve: Introduction ä la lecture de Hegel. 2. ed. Paris 1947.

Literaturberichte und Kritik

244

bildenden Natur in den dialektischen Prozeß hinein. Schließlich stimmen berg

und

Kojeve

weitgehend überein in ihrer Betonung des ausschließlich¬

menschlichen Prozesses, unter „atheistischem" (Loewenberg)

tischer als

Loewen-

Vorzeichen.

Kojeve; wo

staben) redet, spricht

Loewenberg

(Kojeve)

oder „humanistischem"

verfährt aber viel vorsichtiger und kri¬

dieser vom „Menschen" (l'Homme, mit großem Buch¬

Loewenberg

nur von Menschen in der Mehrzahl.

Maurer

kann die menschliche Geschichte nicht von der Natur lösen: „Die Phän. aber handelt nicht von der Genese oder Schöpfung eines Novums (d. h. des Men¬ schen) auf der Basis der ewig sich selbst gleichen Natur ..(156) Ich kann dieser Ansicht zustimmen, wenn ich unterstellen darf, daß dennoch die mensch¬ liche Entwicklung in der Darstellung Priorität hat. Trotz der Wichtigkeit der von

Maurer

gebotenen Einsichten, droht bei ihm

und überhaupt bei jedem, der von einem Einzelthema ausgeht, die Gefahr der Einseitigkeit. Die Hegelforschung braucht allerdings noch immer eingehende Detailuntersuchungen, kann auch nie auf exoterische Einführungen verzichten, aber es müßte doch endlich so weit sein, daß einer die Einzelthemen zusammen¬ nehmen und auf exoterische Weise den umfassenden Kommentar schreiben könnte.

Loewenberg

läßt hoffen, daß wir nicht weit mehr von einer vorurteils¬

freien Behandlung des Hegeltextes entfernt sind. Möge nur dieses Ziel für die Hegelforschung keine unendliche Aufgabe sein! Willem van Dooren (Bilthoven/Holland)

Hans Friedrich Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissen¬ schaft der Logik. Frankfurt a. M.: Klostermann 1965. XII, 315 S.

II est tres malaise de definir de livre de H.

F. Fulda,

car le probleme qu'il

pose d'une „introduction ä la Science de la Logique" est un probleme dont le traitement coordonne deux ordres differents de considerations, une consideration purement speculative d'une part et, d'autre part, une consideration historico-exegetique, qui doit tenir compte de Revolution, reelle ou supposee, des conceptions systematiques de Hegel. Car le fait est certain: en 1807, Hegel presentait sa Phenomenologie de l'Esprit comme une Introduction ä la Science, mais cette introduction constituait „la premiere partie" d'un „Systeme de la Science" qui devait, par ailleurs, comporter „le Systeme de la Logique comme Philosophie speculative et les deux autres parties de la philosophie, les Sciences de la Nature et de l'Esprit" (Phän. XXXVIII); devenu, des le temps de Heidel¬ berg, Encyclopedie des Sciences Philosophiques, „le Systeme de la Science" est bien constitue d'une Logique, d'une Philosophie de la Nature et d'une Philosophie de l'Esprit, mais la Phenomenologie n'en est plus, desormais, la

Besprechungen

245

„premiere partie". Bien plus, Hegel declare alors que „la conscience et son histoire ne sont pas un commencement absolu" et que le scepticisme, qui pourrait, lui aussi, se presenter comme une introduction ä la Science, est „superflu", puisque la Science contient en elle-meme son moment negatif et que la decision au „pur penser" qu'elle exige realise par elle-meme l'absence complete de presupposition que le scepticisme devrait assurer. La portee reelle de ces declarations plus ou moins embrouillees et, plus profondement, le sens de ce fait ne seraient-ils pas que le Systeme ne peut admettre une Introduction, parce que c'est sa loi que de se suffire ä lui-meme, que de se presupposer soimeme a travers une decision au „pur penser" dont il est, par son developpement propre, la radicale justification? Tel est le probleme speculatif de l'Introduction au

Systeme, un probleme

qui demeure

sous-jacent ä toutes les questions

d'ordre historico-exegetique et qui imprime aux demarches de M.

Fulda

leur

style propre, puisqu'aussi bien on pourrait peut-etre les caracteriser au mieux par la pensee qui les inspire: toute Introduction au Systeme serait impossible, si ce n'etait pas le Systeme lui-meme qui l'exigeait. Ajoutons que cette Introduc¬ tion, possible parce que necessaire, doit etre une discipline specifique, une Science de la conscience — ä condition de ne pas entendre par lä une Science de la conscience formelle —, et nous aurons assez donne ä entendre que cette Introduction n'est autre que la Phenomenologie de l'Esprit, liberee toutefois de l'hypotheque que constituait sa designation comme „premiere partie de la Science". Precisement, le livre de M.

Fulda

est un livre qui traite de la Pheno¬

menologie mais qui, pour en traiter, se refere le plus souvent ä la Science de la Logique, ä YEncy dope die et aux cours sur la Philosophie de l'Histoire et YHistoire de la Philosophie plutot qu'ä la Phenomenologie elle-meme. Cest lä ce qui constitue son interet tout ä fait exceptionnel; c'est aussi ce qui en rend la lecture malaisee en depit de la vigueur absolument remarquable des demarches et des efforts faits par l'auteur pour indiquer leurs articulations. M.

Fulda

doit,

en effet, se frayer une voie au milieu des interpretations hegeliennes qui, depuis longtemps, ne traitent plus de la Phenomenologie comme Introduction au Systeme, sans qu'il aborde lui-meme directement le probleme de la systematique propre ä la Phenomenologie, probleme qu'il estime, ä juste titre sans doute, trop difficile pour que la recherche hegelienne puisse l'attaquer aujourd'hui. II lui faut donc montrer, ä partir des indications que Hegel a donnees au debut de YEncy dope die, que le probleme d'une Introduction au Systeme se pose encore pour Hegel, alors meme que le Systeme est integralement constitue et que c'est un probleme que ni le scepticisme — rebelle ä toute scientificite — ni l'auto-justification immanente au Systeme ne peuvent resoudre entierement; cela ne prouve certes pas qu une teile introduction soit possible, mais nous n en sommes pas moins invites par lä ä considerer la Phenomenologie de 1807 sans sacrifier au prejuge que cette oeuvre represente dans l'evolution de la pensee de Hegel une etape vite depassee. Mais, une fois examinee la Phenomenologie dans sa structure et dans sa fonction d'Introduction - et cet examen souleve

246

Literaturberichte und Kritik

de nombreux problemes —, il faut rechercher dans le Systeme lui-meme ce qui rend systematiquement necessaire une Introduction. C'est avant tout sur la base d'une etude des relations entre l'histoire et le Systeme que M. Fulda entend operer cette demonstration. On serait tente de dire que celle-ci constitue la partie la plus neuve de son livre, si celui-ci n'etait tout entier une contribution tres neuve et tres importante ä l'etude de tous les problemes hegeliens. Disons simplement que toute la force et la difficulte specifiquement philosophiques du probleme de l'Introduction au Systeme se revelent dans

cette

deuxieme partie du livre, dans laquelle l'auteur peut se degager davantage des considerations historico-exegetiques qui jouent un role tres important dans la premiere partie, oü il ne peut livrer ä l'etat pur les themes fondamentaux de son interpretation. Celle-ci tend, en effet, ä unir dans un mouvement en quelque Sorte cumulatif deux argumentations qui, ä premiere vue, pourraient paraitre contradictoires: c'est parce qu'elle assume en la depassant une „histoire de la culture" (Bildungsgeschichte) que la Science, au terme de la Philosophie de l'Esprit, fait „retour ä son commencement" si radicalement qu'elle peut, ä travers le developpement des trois syllogismes, justifier de maniere purement immanente la decision au „pur penser" qu'elle avait exigee; mais eile comprend du meme coup que le savoir non-vrai peut vouloir faire valoir des droits et pretendre lui aussi ä la verite, et eile comprend, par le fait, que le Systeme doit se justifier en quelque sorte en dehors de lui-meme dans ce savoir non-vrai qu'il peut et doit reconnaitre, precisement parce qu'il se sait etre lui-meme la verite. Il ne saurait etre question de resumcr, meme ä grands traits, cette argumentation. Pour l'effectuer, M. Fulda nous donne le commentaire le plus approfondi qui ait sans doute jamais ete realise des §§ 553—573 de YEncyclopedie. Pour saisir comment la „Philosophie" procede (mais comme philosophie moderne et, plus specifiquement, hegelienne) tout ä la fois de „l'Art" — et il faut par lä entendre l'art antique — et de „la Religion" — qui est explicitement designee par Hegel comme „offenbare Religion" —, il analyse, discretement soulignees dans le texte, les indications qui conferent a ce processus systematique des aspects historiques. Mais que faut-il entendre par le mot „histoire"? Pour repondre ä cette question, M. Fulda entreprend de determiner la Situation des Le^ons sur la Philosophie de l'Histoire et sur YHistoire de la Philosophie par rapport a l'exposition que YEncyclopedie realise de „l'Esprit absolu". Il entend montrer — ä juste titre, me semble-t-il, — que Hegel ne developpe et ne peut developper que des „histoires regionales", alors meme que toute la tradition hegelienne et anti-hegelienne a vu en lui le philosophe de l'histoire integrale et unitaire (c'est ainsi que je traduirais le terme de „Universalgeschichte", qu'utilise M. Fulda). On ne saurait trop souligner l'importance de cette these, correlative, il faut le remarquer, d'une interpretation — ä mon avis parfaitement fondee —, qui laisse, selon Hegel lui-meme, un avenir apres Hegel ä l'histoire de la philosophie, sans relativiser pour autant la saisie que la philosophie a faite d'elle-meme comme Science chez Hegel. Mais cette these revele, du meme coup.

Besprechungen

247

que, sur son mode propre qui est systematique, la justification immanente du Systeme par le Systeme evoque et invoque une „histoire de la culture” qui ne peut se trouver exposee comme teile ni dans la Philosophie de l'Histoire ni dans YHistoire de la Philosophie, car ce doit etre sur un mode non-historique que l'histoire de la culture renvoie, au delä d'elle-meme, ä la Philosophie. „[Der Geist] erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, d. h. nicht die Zeit tilgt”, disait la Phenomenologie (558), qui n'est pas cette „histoire de la culture”, mais qui s'y rattache. Et c'est precisement le probleme du passage de l'Erscheinung ä la Manifestation que M.

Fulda

examine dans les

§§ 574—577 de YEncyclopedie, interpretant les trois syllogismes que Hegel enonce a la fin de cette oeuvre dans la ligne meme de la structure logique sousjacente ä l'exposition de l'Esprit absolu. A mon avis, une teile Interpretation devrait devenir classique et balayer une fois pour toutes les interpretations qui voient dans ces textes une Orientation que Hegel donnerait vers des Oeuvres autres que YEncy clope die elle-meme. Car c'est bien du retour de la Science ä son „Anfang” qu'il s'agit lä, c'est ä dire identiquement de son assurance de soi-meme en soi-meme. Mais faut-il traduire le mot „Anfang” par „commencement" ou par „point de depart”? „Die Philosophie entäußert sich ihrer selbst, kommt bei ihrem Anfänge, dem unmittelbaren Bewußtsein an, das eben das Entzweite ist. Sie ist so Mensch überhaupt", ecrivait Hegel ä la fin de la 2eme Realphilosophie de Iena (273). De meme, les dernieres pages de la Phenomeno¬ logie renvoient de la Science ä la certitude sensible. Y aurait-il donc deux commencements de la Science, l'un objectif: la Logique, et l'autre subjectif: la Phenomenologie? M.

Fulda

rejette cette conception pour n'admettre qu'un

commencement de la Science, pour souligner avec Hegel la priorite absolue de la Logique. Mais la demonstration que M.

Fulda

opere de la necessite d'une Intro-

duction, qui n'est certes qu'une justification externe de la Science, mais qui procede de la prise en consideration que celle-ci opere du sujet connaissant dans la non-verite de son savoir, cette demonstration ne rejoindrait-elle pas le mouvement qu'operent aussi bien la Phenomenologie que la 2eme Realphilo¬ sophie de Iena? A vrai dire, cette question est elle-meme double, historico-exegetique, d une part, et philosophique de l'autre. Mais peut-etre seule une etude de la syste¬ matique de la Phenomenologie pourrait-elle l'eclairer. Cette etude hante M. da

Ful¬

tout au long de son livre et eile hante, finalement, son lecteur lui-meme. Car,

pour tout resumer d'un mot, je serais tente de dire que M.

Fulda

connait si

bien la Phenomenologie qu'il peut feindre de l'ignorer quand il commente YEncy clope die. Plus exactement, il demeure toujours tout ä la fois le philosophe de la Science, tout entier attentif au developpement de celle-ci, et le philosophe critique — dans un sens quasi-kantien du terme —, qui examine toujours les limites de la justification que la Science se donne ä elle-meme: le theoricien de la Phenomenologie, par le fait, le theoricien d'une Introduction qu il sait systematique sur son mode propre, un mode dont il connait les principes mais

Literaturberichte und Kritik

248

dont il voudrait cerner la legitimite. A vrai dire, cette question n'a cesse, je crois, de hanter Hegel lui-meme. Et nous voici tout ä la fois dans l'exegese et l'appreciation de son evolution. Un premier fait me parait certain: le texte publie sous le titre „die Wissenschaft,, par Hoffmeister ä la fin de la lere Realphilosophie de Iena correspond grosso modo aux premieres pages (549— 556) du Savoir absolu dans la Phenomenologie. Mais il me parait certain que ce texte, qui ne contient rien qui prefigure les pages suivantes de la Phenomeno¬ logie, aboutit ä la Logique: c'est le rapport entre le „Sein" et le „Ich" qui en est le resultat (262—263); mais ce resultat ne se trouve-t-il pas en quelque Sorte depasse dans la remarque (Anmerkung) qui cloture ce texte et qui affirme que la Philosophie ne contient qu'une idee et que son „Anfang" n'est qu'une apparence qu'elle supprime elle-meme (265)? La Preface de la Phenomenologie reprendra brievement cette consideration sur le „Sein (25), dont ne parle pas le Savoir absolu. Par contre, les dernieres pages de ce chapitre ultime de la Phenomenologie (S. 563—564)

sont prefigurees ä la fin de la 2eme Real¬

philosophie de Iena. Hegel y pose le passage de la philosophie au monde et ä l'histoire; mais est-ce ä dire, pour autant, qu'il n'y affirme pas la primaute absolue de la Logique? Je ne le pense pas. Parvenue ä son terme, la philosophie rejoint par Entäußerung la conscience divisee et est ainsi „homme en general", correlatif du monde — historique — dans lequel il vit. „Was ist vor dieser Zeit gewesen?" demande alors Hegel, et il repond: „das Andre der Zeit, nicht eine andre Zeit, sondern die Ewigkeit, der Gedanke der Zeit" (273). N'est-ce pas une maniere, trop anthropologique peut-etre, mais non moins reelle pour autant, de renvoyer ä la Logique comme absolument premiere, tout en faisant „retour ä la certitude sensible"? En d'autres termes, l'approfondissement du Systeme en lui-meme, qui trouve son aboutissement dans la theorie des trois syllogismes, rend-il absolument perimes les textes dans lesquels Hegel justifiait la position par la Science de la „conscience immediate" dans l'immediatete de son monde? Et le rapport de la Science au sujet philosophant — pour poser la question sous un mode philosophique — est-il caracterise redicalement par le fait que ce sujet n'est, comme le dit M.

Fulda,

qu'un „mode de l'esprit absolu" („Da das ein¬

zelne erkennende Subjekt in seiner Beschaffenheit nur ein Modus des absoluten Geistes ist" 297)? A travers le Systeme, serait-ce donc selon un style spinoziste qu'il faudrait comprendre ce sujet connaissant? Et le gigantesque mouvement qui termine la Phenomenologie se trouverait-il devenu inutile parce que la Science connait ä l'interieur d'elle-meme une Entäußerung? — Entre les pages 549—556 et les pages 563—564 du Savoir absolu, Hegel a insere des considerations sur le surgissement de la Science dans le temps et l'effectivite, et c'est la meditation de ces pages qui inspire sans doute M. YEncyclopedie

sur

le mouvement

Fulda

quand il comment les textes de

historico-logique

de

l'esprit

absolu.

Nul

brouillon, ä proprement parier, ne correspond ä ces pages; elles sont sans doute ä rapprocher de la declaration que Hegel aurait faite en 1805, ä la fin de son cours sur l'histoire de la philosophie, affirmant que la lutte etait maintenant

Besprechungen

249

terminee entre l'esprit fini et l'esprit infini. La saisie du concept et la „Suppres¬ sion du temps" se fondent sur ces considerations. Mais, le concept etant saisi et le temps supprime, ne faut-il pas faire retour ä la conscience immediate, precisement parce que l'histoire n'est pas achevee mais est devenue intelligible dans son obscurite meme, parce que cette obscurite fait partie de sa nature? Ou, en d'autres termes, la Science est-elle la disparition sans retour dans son auto-comprehension ou bien le point de depart vers un consideration nouvelle du monde pour le philosophe qui en sait et en recherche la rationalite? „Wenn [das Bewußtsein] die Vernunft als gleiches Wesen der Dinge und seiner selbst wüßte, und daß sie nur in dem Bewußtsein in ihrer eigentümlichen Gestalt gegenwärtig sein kann, so würde es vielmehr in seine eigne Tiefe steigen und sie darin suchen, als in den Dingen. Wenn es sie in dieser gefun¬ den hätte, würde sie von da wieder heraus an die Wirklichkeit gewiesen werden, um in dieser ihren sinnlichen Ausdruck anzuschauen, aber ihn sogleich wesent¬ lich als Begriff nehmen" declare Hegel au debut de la Raison observante (Phän. 184). Telle est, me semble-t-il, la position hegelienne: absolue en ellememe (et, ä ce titre, la Phenomenologie n'en peut constituer la premiere partie), la Science renvoie le sujet connaissant ä une effectivite qu'il sait desormais rationelle et qu'il täche de decouvrir comme teile, non sans effort. Mais ce renvoi

ä

l'effectivite ne peut s'operer que parce que le sujet connaissant

a parcouru une introduction que le fait parvenir ä la Science et lui exprime sa Situation quand il est parvenu ä la Science. D'un mot, celle-ci n'est en soi et pour soi que Science, mais eile est egalement sagesse (ä devenir et dejä devenue) pour le sujet connaissant. En ce sens, le Le^ons sur la Philosophie de l'Histoire et sur l'Histoire de la Philosophie — tout comme les Principes de la Philosophie du Droit — sont logiquement posterieurs

ä

la Science. M.

Fulda

entend de'

montrer la necessite d'une Introduction ä la Science. Cette Introduction, je la crois, tout comme lui, necessaire, d'une necessite dont la Science peut montrer en elle-meme le fondement. Mais je pense, en desaccord avec lui peut-etre que la saisie de ce fondement, pour le sujet philosophant lui-meme, est l'enonce final de la Phenomenologie: l'Entäußerung de la Science en certitude sensible et, par le fait, en Nature et en Histoire." A la fin du Systeme, ecrit M. le Savoir scientifique ..

Fulda,

se sait comme Connaitre, qui est la liberte meme de

l'Absolu qui s'engendre et jouit de soi, et il se sait en meme temps comme terme (Abschluß) du processus de l'Idee dans son etre objectif. Comme moment de ce (connaitre), eile existe dans le sujet qui s'est decide a considerer le Penser comme tel; et eile existe ä cote d'autres formes du savoir, qui appartiennent au sujet meme" (300). Cette affirmation est authentiquement hegelienne, certes Mais comment l'entendre? Elle evoque tout ä la fois les termes de la seconde Realphilosophie de Iena: „In der Philosophie ist es Ich als solches, .. welches Wissen des absoluten Geistes ist, im Begriffe, als diesem, das Allgemeines ist .. . (S. 272) et les termes du § 577 de 1 ’Encyclopedie: „die ewige an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt".

250

Literaturberichte und Kritik

En soi les deux expressions se rejoignent, mais, sans la fin de la Phenomenologie ou sans la page terminale de la 2eme Realphilosophie, se recoupent-elles absolument pour Ie sujet connaissant qui doit etre identiquement le Savoir et autre que le Savoir? Le sujet connaissant s'oublie toujours totalement et se conserve toujours totalement dans l'expose de M.

Fulda,

car le probleme qu'il pose

de la justification de la Science demeure ambigu: justification critique ou autosuffisance? Mais cette question, dont M.

Fulda

sait l'ambiguite, est, au fond,

celle de la systematique de la Phenomenologie. M.

Fulda

voit se concretiser en

eile, sous forme d'„elements" dans lesquels le savoir phenomenal se deploie tour ä tour, les stades fondamentaux de la „philoscphie speculative" indiques par Hegel ä la fin de la seconde Realphilosophie de Iena. Je serais tout pret ä lui conceder que la definition que la Preface de la Phenomenologie donne (24) de la „realite spirituelle" (das Geistige) correspondait pour Hegel ä une articulation logique de ce type. Est-ce ä dire, pour autant, que le „nous" de la Pheno¬ menologie soit, implicitement, le pur savoir auquel la conscience observee doit, au terme, s'identifier? Cette question est, ä nouveau, d'ordre historico-exegetique et d'ordre philosophie. Avec M.

Fulda,

je pense que les diverses subdivisions

de la Phenomenologie sont toutes necessaires

et expriment chacune ä

sa

maniere un aspect essentiel de l'oeuvre; mais, pour subtile qu'elle soit, Inter¬ pretation qu'il donne de la phrase finale de l'Einleitung de la Phenomenologie, voyant dejä en eile l'esquisse d'une Phenomenologie de l'esprit, cette Inter¬ pretation n'entraine pas ma conviction. Ce n'est que tardivement, en cours de redaction de son oeuvre, que Hegel a saisi que l'Erinnerung etait une condition de possibilite de sa realisation (pour autant que je sache, le terme de Erinnerung n'intervient pas avant le moment de l'„ceuvre d'art spirituelle" (507), et donc tres tardivement). Par ailleurs est-il vrai que le „nous" se comporte toujours de la meme maniere au cours de l'oeuvre: c'est seulement au debut de la certitude sensible qu'il accueille passivement la certitude de la conscience observee. Des de temps de „Kraft und Verstand", „nous" avons a nous mettre ä la place du resultat obtenu par la conscience ä la fin de la Perception et ä le „fa^onner" (■Phän. 103). Ces röles differents attribues au „nous" ne marquent-ils pas qu'il est une fonction interne de la systematique de l'oeuvre plutot que la presence en eile du point de vue de la Science? — Puisse donc M.

Fulda

nous exposer bien¬

tot „an und für sich" la systematique de la Phenomenologie! Tel est le voeu que son travail nous invite ä formuler, puisqu'aussi bien les grandes etudes hegeliennes suscitent le desir de voir mieux elucidee la problematique de l'oeuvre hegelienne. Et, sans nul doute, l'etude de M.

Fulda

contribue plus que

beaucoup d'autres, depuis bien des annees, ä susciter ce desir. J. Gauvin (Paris)

Besprechungen

251

Ute Guzzoni: Werden zu sich. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissen¬ schaft der Logik". Freiburg, München: Alber 1963. 115 S. (Symposion. 14.)

Hegel schreibt gegen Schluß seiner Wissenschaft der Logik: „Auf diese Weise ist es, daß jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmten Anfang sich entfernt, auch eine Rückannäherung zu demselben ist, daß somit das, was zunächst als verschieden erscheinen mag, das rückwärts gehende Begründen des Anfangs, und das vorwärts gehende Weiterbestimmen desselben ineinander fällt und dasselbe ist." (L II. 503) Man kann die Arbeit der Verfasserin betrachten als eine Auslegung dieses einen Hegelsatzes. Das „vorwärts gehende Weiterbestimmen", von dem die Rede ist, faßt sie als „Grün¬ den" im Unterschied zum „rückwärts gehenden Begründen". So stehen sich in der Bewegung des Absoluten, dem „Werden zu sich", die Gründungs- und die Begründungsbewegung gegenüber, und Ziel der Verfasserin ist, einmal an beiden Bewegungen ihre Einheit miteinander aufzuweisen (wie der zitierte Hegelsatz sie fordert), und zum anderen zu zeigen, daß die Bewegung des Absoluten nur als eine solche zwiefache, in sich gegenläufige und doch einfache Bewegung ver¬ standen werden kann. Sie übernimmt als unbefragte Voraussetzung, daß das Absolute als Werden zu sich gedacht werden muß, und will aufgrund dieser Voraussetzung die beschriebene Art dieser Bewegung, die Einheit von Gründen und Begründen einsichtig machen. Ohne Zweifel hat die Verfasserin sich damit ein zentrales und zugleich recht verwickeltes aus den zahlreichen Problemen der Hegelschen Logik herausgegriffen. Hegel sagt an der eben angeführten Stelle, daß die beiden gegenläufigen Bewegungen eine Einheit bilden sollen, doch seine Begründungen hierfür sind dunkel, und man wird jede Erläuterung dankbar begrüßen. Die Absichten der Verfasserin sind jedoch nicht nur auf die Interpretation Hegels gerichtet. Sie will zugleich zeigen, daß das Verhältnis von Begründen und Gründen ein Problem ist, das der ganzen vorhegelischen Geschichte der Philo¬ sophie gehört, von Hegel aber zuende gedacht ist. Dabei deutet sie dies Ver¬ hältnis als eine „bestimmte Ausprägung des Verhältnisses von Sein und Den¬ ken", indem sie das Gründen dem Sein zuordnet — das Sein ist Grund für Seiendes —, das Begründen dem Denken, das im Begreifen die Gründe des Seienden erkennt und es so begründet. Hier ist eine erste kritische Bemerkung am Platz. Die Verfasserin arbeitet ständig mit einem Begriff von Sein, der mehr von

Heidegger

als von Hegel

herrührt und diesem ganz fremd ist. Bezüglich Hegel ist einfach falsch, daß das Sein als Begründungsverhältnis gedacht werden kann, daß es „Grund des Seiend¬ seins des Seienden" ist usw. Sie mag sich nicht damit abfinden, daß das Sein eine „so arme und beschränkte Bestimmung" (I II. 355) ist, doch entgeht ihr derart, was eine Hegelinterpretation wirklich zu einer „Frage nach dem Sein im Sinne

Heideggers

beitragen könnte, die Frage nämlich, aus welcher Aus¬

legung von Sein diese Armut und diese Beschränktheit herrührt. Hegels Begriff

252

Literaturberichte und Kritik

von Sein beruht auf dem Gedanken, daß Seiendes und Eines, ens und unum dasselbe oder miteinander vertauschbar sind. Alles Seinde ist ein Eines, und das, was ein Eines ist, ist auch. Man kann sich nun allerdings fragen, ob mit dieser Bestimmung samt dem, was aus ihr folgt, nicht Wesentliches übersprun¬ gen wird. Andernfalls dürfte es doch mit der Armut und der Beschränktheit sein Bewenden haben. Auch wie die Verfasserin den gegenüberstehenden Begriff, das „Nichts" ver¬ steht, befriedigt uns nicht. Sie denkt es zu sehr vom Nicht-Sein oder gar vom Noch-Nicht-Sein her. Gemäßer und kräftiger scheint uns, es vom „Negieren", sogar vom „Vernichten" her zu interpretieren. Dies ist zuletzt die einzige Tätig¬ keit, die die Hegelsche Logik kennt, und sie wird vom Nichts getan, nicht vom Sein. Uns wenigstens erscheint das Nichts derart weniger „arm" als das Sein, und man kann eher vom Nichts sagen als vom Sein, es gründet. Der Nichtigkeit, die im Noch-Nicht liegt, fehlt es an Emst. Das eigentliche Nichts zeigt sich in der „absoluten Negativität", die kein Noch-Nicht mehr kennt, sondern eben „absolut" ist. Diese Nichtigkeit ist es, die nach Hegel das Ich auszeichnet. Die Verfasserin gliedert ihre Arbeit in drei Teile. Der erste dient der Vor¬ bereitung des Unternehmens, die Einheit der vorwärts gehenden und der rück¬ wärts gehenden Bewegung, die Einheit von Gründen und Begründen zu denken. Sie hebt zunächst das „Werden zu sich" von der traditionellen (aristotelischen) Auffassung des Werdens ab und zeigt die Widersprüche, die im Werden zu sich des Absoluten — im Unterschied zum gewöhnlichen Werden — liegen sollen. (Auch hier haben wir Bedenken, die ausführlich zu diskutieren wären, doch hier nur angedeutet seien. Nach Hegel ist bekanntlich Werden, Bewegung überhaupt der „daseiende Widerspruch". Also ist gerade auch das gewöhnliche Werden widerspruchsvoll. Wir glauben nicht, daß das Werden des Absoluten über die dem Werden überhaupt wesentlichen Widersprüche hinaus noch weitere, sozu¬ sagen zusätzliche in sich hat. Nach Hegel ist das Werden eines Baumes und das des Absoluten gleich widerspruchsvoll, und dieses nicht mehr als jenes.) Das 2. Stück des 1. Teiles interpretiert das „Werden zu sich" im Hinblick auf den ontologischen Gottesbeweis. Der verknüpfende Gedanke ist, daß in diesem Werden das Absolute wird als die Einheit von Begriff und Sein, und daß es im ontologischen Gottesbeweis ebenfalls um diese Einheit zu tun ist. Es zeigen sich nun die Folgen davon, daß die Verfasserin mit einem so unhegelischen Begriff von Sein an Hegel herangeht. Die Auslegung der Einheit von Begriff und Sein kann demgemäß nicht adäquat gelingen. Schon die Behauptung, daß es im onto¬ logischen Gottesbeweis wie im Hegelschen Denken letztlich um dieselbe Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein geht, trifft nicht zu, und da es sich um einen verbreiteten Irrtum handelt, muß man ihm besonders energisch ent¬ gegentreten. Wichtig ist vielmehr die Einheit des Seins als Einesseins. Wenn Sein Einessein ist, so hat es in dem „Eines-" die Beziehung auf den Begriff an sich.

Plotin

sagt am Anfang seiner Schrift über das Gute, daß alles Seiende

durch das Eine ein Seiendes ist. In diesem plotinischen Gedanken steckt dieselbe

Besprechungen

253

Verwiesenheit des Seins auf den Begriff, auf die Idee, das hen, die Form, die wir bei Hegel finden. Der Gedanke von der Einheit von Begriff und Sein enthält also in sich drei Gedanken: einmal daß nichts ist, was nicht Eines ist — die Richtigkeit dieses Gedankens wird man kaum bestreiten —; zweitens daß die Einheit dieses Einen aus der „Tätigkeit des Begriffs", der Form stammt, oder wie sonst man die synthetische Tätigkeit nennen mag, in der alle Einheit ihren Grund hat — auch dies wird nicht als falsch ablehnen, wer es nicht gedankenlos als selbstverständlich nimmt, daß Einheit „einfach so da" ist —; und drittens daß der Begriff in dieser Tätigkeit mit dem Sein, zu dessen Einheit er das Seiende eint, selbst geeint bleibt, und als das selbst Eine selbst ist. Die Einheit im Einessein ist nur durch den Begriff und so auch „im Begriff". „Forma dat esse", hieß dasselbe scholastisch: die Form bleibt im Geben auf das Sein be¬ zogen und dieses mit ihr geeint. — Die Beziehung zum ontologischen Gottesbeweis klärt sich, wenn man bedenkt, daß die Neuplatoniker ihr hen als Gott genommen, daß sie im platonischen Parmenides — wie Hegel in seiner Logik — eine Darstellung Gottes gesehen, und daß Hegel dies alles akzeptiert hat. Hierin liegt die Konsequenz des tradi¬ tionsreichen Gedankens, daß Gott reine Form ist. Die Logik als „Wissenschaft der absoluten Form" hat Gott darzustellen, wenn nämlich dieser reine Form ist. Der so verstandene Gottesbeweis — und so muß er verstanden werden, will man Leben an ihm ausfindig machen — beweist zuletzt nur den Satz „forma dat esse". Es ist deswegen auch unrichtig, wenn die Verfasserin sagt, für die ganze Metaphysik vor Hegel sei grundsätzlich unbeweisbar gewesen, was Gott ist. Der recht verstandene ontologische Gottesbeweis enthält diesen Beweis mit, und etwa

Aristoteles

oder

Plotin

haben gewußt, was Gott ist: reine Form,

seingebend. Was wir hier flüchtig genug skizziert haben, enthält gewiß noch sehr viele Dunkelheiten und Schwierigkeiten. Worauf wir jedoch eindringlich hinweisen müssen, ist eben dies, daß es nicht so sehr, wie die Verfasserin meint, um das Verhältnis von Sein und Denken zu tun ist — wobei sich doch nicht vermeiden läßt, das Denken als bewußte Tätigkeit vorzustellen —, sondern um das Ver¬ hältnis von Sein und Form, — Form als das, was Einheit hervorbringt. Sein als das durch sie „Gegebene", als ihr Datum. Erst eine zweite Frage zielt dann auf das Verhältnis von Form und Ich, das im deutschen Idealismus von den ver¬ schiedenen Denkern je verschieden als „Subjektivität der Form" gedacht wor¬ den ist. Von hier aus erst wäre zu interpretieren, warum Hegel die (bewußtlose) Tätigkeit des Begriffs als Denken begreift, und warum so das Verhältnis von Denken und Sein gleichsam durch das von Form und Sein hindurch bedeutsam wird. Im folgenden 3. Stück des ersten Teiles liefert die Verfasserin eine sorgfältige und genaue Interpretation des Schlußstückes der Wissenschaft der Logik, in dem die absolute Idee als „Methode" mit Anfang und Fortgang dargestellt wird. Wir werden wiederum in die schwierigsten Fragen der Hegelschen Logik verwickelt.

254

Literaturberichte und Kritik

Zumal ihr Anfang ist wie kaum etwas sonst diskutiert, angefochten und ver¬ teidigt worden. Es versteht sich, daß dies nicht ohne Grund so ist. Die Verfasserin kennzeichnet — dem Text folgend — die Unmittelbarkeit und Allgemeinheit dieses logischen Anfangs im Unterschied zu anderen Anfängen und beschreibt die Dialektik des Anfangs, grundlos und begründet (nämlich durch das Ende) zu sein. Freilich, die alte, nie beantwortete Frage, wieso der Anfang denn anfängt, wird auch von ihr nicht beantwortet. Die Kategorie „An¬ fang" selbst sagt nichts, denn sie ist „Reflexionskategorie", d. h. von außen und von später hinzugetan. Und mit anderem steht es ähnlich. „Weil der Anfang der absoluten Methode nichts ist als seine Beziehung auf sich, weil er nur all¬ gemeines Unmittelbares überhaupt, Anfang des wahren Erkennens ist, darum kann er keinen Grund außer sich haben — darum bedarf er aber auch keines solchen Grundes, darum hat er seinen Grund in seinem Anfängen selbst", sagt die Verfasserin (36), — aber das sagt dem nichts, der wissen möchte, wieso der Anfang denn anfängt. Da genügt es nicht zu sagen, der Anfang habe seinen Grund im Anfängen selbst. Auch alle ihre anderen Aussagen setzen dies Ent¬ scheidende immer voraus. Die eigentliche Frage bei diesem Anfang ist, woher der Unterschied von Sein und Nichts kommt — denn diese müssen nicht nur eines, sondern auch unterschieden sein, wenn der Anfang anfangen soll, — doch über die Herkunft dieses Unterschiedes erfahren wir von Hegel nichts. Die Ver¬ fasserin (ebenso der Rezensent) weiß sie auch nicht. — Die „Mangelhaftigkeit des Anfangs", die die Verfasserin zu Hilfe nimmt, gehört ebenfalls nur der Reflexion an, desgleichen alle Nochs und Schons. Man kann von ihr keine Ant¬ wort dort verlangen, wo Hegel keine gegeben hat, — aber ihre Ausführungen verdecken die Schwierigkeit statt sie klarzustellen. Im 2. Hauptteil ihrer Arbeit untersucht die Verfasserin jeweils getrennt für sich das Sichgründen und das Sichbegründen des Absoluten. Das Absolute steht am Anfang und am Ende der logischen Bewegung, und beidemale ist es Grund der Bewegung, — einmal der gründende Anfang, aus dem die Bewegung hervorgeht, einmal das Ende, in dem sie erst begründet wird. Nur indem beides zusammenfällt, rundet sich die logische Bewegung zum Kreis. Die Leistung der Verfasserin besteht darin, daß sie die verwirrende Vielfalt der Paradoxien, die in einer solchen gegenläufigen, einheitlichen Bewegung stecken, in sehr subtiler Weise und doch recht übersichtlich darstellt. Dabei wird das Gründen und das Begründen in vielfacher Weise je für sich beschrieben gemäß seiner Funktion im Fortgang der Methode sowie im Hinblick auf Synthesis und Analysis. In ihrem Sinne mit Recht legt die Verfasserin großen Wert darauf, an jedem der beiden Momente selbst seine Einheit mit dem anderen aufzuweisen, im Begründen das Gründen, im Gründen das Begründen zu finden. Eine kritische Erörterung des von ihr Geleisteten ist hier besonders schwierig, da sich eine Auseinandersetzung mit der Interpretation kaum trennen läßt von einer Auseinandersetzung mit Hegel selbst. Die Verfasserin hält sich fast aus¬ schließlich an die Texte, in denen Hegel die Kreisstruktur der logischen Bewegung

Besprechungen

255

entwickelt — das sind im wesentlichen Stücke aus dem Abschnitt „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?77 (L I. 51 ff) und das schon ge¬ nannte Schlußstück über die Methode — und entwickelt dann, fast systematisch weiterfragend, die Paradoxien, die in der vorausgesetzten Kreisstruktur dieser Bewegung hegen. Sie kann aber so die Zweifel, die auch dem bereitwilligsten Leser der Logik sich aufdrängen müssen, nicht recht beantworten. Die durchaus berechtigte Frage, ob Hegel selbst die logische Bewegung richtig deutet, wenn er sie als Kreis auffaßt, vermag sie gar nicht zu stellen. Dabei ist doch ohne weite¬ res gar nicht einzusehen, inwiefern die einheitliche Bewegung des Außersichgehens und Insichgehens (L II. 502) — diese Einheit selbst ist ja fast anschaulich evident — ein Kreis werden soll. Wer in sich geht, geht doch seinen Kreis. Er geht zwar in den „Grund77 zurück, nämlich in die „Selbsterkenntnis77, in das Begreifen der Notwendigkeit seines Anfanges und seines Weges, er bleibt dabei auch in Einheit mit sich, nämlich er selbst, — aber dennoch sind Anfang und Ende, das Ärmste und Reichste, das Abstrakteste und Konkreteste, reines Sein und absolute Idee, im Bilde der „junge und unerfahrene Gott77 und der leid¬ geprüfte, erfahrene, allwissende weit voneinander unterschieden. Daß Anfang und Ende Grund sind, macht noch keinen Kreis, und daß sie eine wesentliche Bestimmung gemeinsam haben — nämlich die Allgemeinheit (im Hegelschen Sinne) —, auch nicht. Es muß weiter daran erinnert werden, daß es in der Logik viele Definitionen des Absoluten gibt, — die Bewegung also, insofern sie beim Absoluten bleibt, nicht im Kreise geht, sondern auf der Stelle tritt. Nimmt man aber die einzelnen Definitionen, so sind sie alle voneinander unterschieden, am meisten die erste und die letzte. Woher also der Kreis? Auch in der logischen Geschichte — wie in der „wirklichen77 — ist das Entscheidende und zugleich höchst Rätselhafte, daß das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, daß es kein Zurück vor das Geschehene gibt, und daß das Vergangene — wie in der wirklichen Geschichte — zwar erinnert bleibt, aber dennoch als das, was es war, dahin ist. Und vielleicht läßt nur die logische Geschichte begreifen, wieso das so ist, — wieso es keine Kreise mit ihrem Zurück gibt. Freilich — wer hier mit der Verfasserin rechtet, rechtet mit Hegel. Der Ver¬ fasserin wäre höchstens vorzuwerfen, daß sie sich ausschließlich an diese weni¬ gen Selbstinterpretationen Hegels hält und die logische Bewegung selbst über¬ haupt nicht in den Blick nimmt. Insbesondere läßt sie das Kapitel über den Grund außer acht, — es ist aber gewiß ein bedenkliches Verfahren, ein ganzes Buch über Gründen und Begründen bei Hegel zu schreiben, ohne den Text, an dem Hegel eigens vom Grund handelt, auch nur einmal heranzuziehen. Dort wäre sie auf den unendlich wichtigen, von ihr ganz übersehenen Zusammenhang von Form und Grund gestoßen, wenn Hegel als „absoluten Grund77 die Ver¬ hältnisse von Form und Wesen, Form und Materie, Form und Inhalt behandelt (L II. 66 ff). Diese Ferne zum Hegelschen Text läßt die Verfasserin einigemale sehr in der Interpretation straucheln. In dem Bemühen, die zahlreichen harten Paradoxien

256

Literaturberichte und Kritik

verständlich und vollziehbar zu machen, die sich aus der so streng aufgefaßten Kreisstruktur ergeben, gerät sie auf Lösungen, die mit dem Hegelschen Denken nicht mehr vereinbar sind. Ein Beispiel bietet der Abschnitt, den sie mit „bichGründen und Sich-Denken" überschreibt (93 ff). Es heißt dort: „Der im a souten Gründen liegende Widerspruch ist, wie wir sahen, der Widerspruch zwischen der Selbigkeit von noch ungegründetem und gegründetem Grund einerseits un ihrer wesentlichen Verschiedenheit andererseits. Statt von ungegründetem und gegründetem Grund können wir dabei auch von Grund und Gegründetem oder von Noch-nicht-Grund und Grund sprechen." (93) In der Gründungsbewegung ist das Gegründete selbst der Grund, insofern dieser am Ende steht und die Be¬ wegung in ihn zurückgeht - der gegründete Grund. Zugleich ist auch der An¬ fang Grund, da aus ihm die Bewegung hervorgeht, - ungegrundeter Grund. Der Gedanke der Kreisstruktur dieser Bewegung verlangt nun, daß beides iden¬ tisch und verschieden ist. Die Verfasserin löst die Schwierigkeit, indem sie ein Sich-Denken, Sich-als-Grund-Vorstellen einführt.

„Das

wahrhafte Grundsein

— das wir zur Unterscheidung vom anfänglichen Grund das gegründete Grund¬ sein oder das Gegründetsein nennen — muß im Anfang schon in irgendeiner Weise gegenwärtig sein, da sonst die Spannung zwischen Grund und Gegründe¬ tem gar nicht aufbrechen könnte, die Spannung, die die Gründungsbewegung allererst in Gang bringt." (96) Doch die Bewegung kommt nicht durch die Spannung von Grund und Gegründetem in Gang, sondern durch die von Sein und Nichts (über deren Herkunft wir, wie gesagt, von Hegel in Wahrheit nichts erfahren), und im Anfang kann in gar keiner Weise ein Gegründetsein schon gegenwärtig sein, auch nicht, wie die Verfasserin es sich vorstellt: „Der an¬ fängliche Grund denkt sich als Grund. Damit scheidet er sich auch schon in eine Zwiefalt von Grund und Gegründetem. Denn er stellt sich als Grund vor, als Gründendes also, und d. h., wie wir gesehen haben, zugleich als durch sich Gegründetes. ... Der Grund stellt sich als Grund vor. Er stellt dabei eine Ungleichheit fest zwischen Vorstehendem und Vorgestelltem. Denn der anfäng¬ liche Grund ist noch gar nicht der Grund, als den er sich vorstellt." (96 f) An späterer Stelle spricht sie von dem Vorgriff des grundlosen (anfänglichen) Grundes auf sein Ende, auf den vollendeten Grund (112). Dies ist alles ohne Anhalt im Hegelschen Text. Die Verfasserin bringt keinen einzigen Beleg für diese Auffassungen und kann es nicht, weil es keinen gibt, — sie hat sich viel¬ mehr dies alles selbst zurecht gelegt, um ihrer Schwierigkeiten Herr zu werden. Sie verrät dabei ein eigentümliches Klißverständnis dessen, worum es in der Logik zu tun ist: um ein Hervorbringen von Kategorien. Es kann dann selbst¬ verständlich nichts vorgestellt werden, was nicht schon ist, kein Noch-nicht mit einem Schon verglichen werden, kein Vorgriff auf ein Ende getan werden usw., — denn hierzu bedarf es schon der Kategorien, die demnach bereitliegen, bereits gegründet sein müßten. Die Schwierigkeiten, als deren Lösung jener Vorschlag gedacht ist, sind gewiß nicht ohne Grund — der Anfang der dialektischen Be¬ wegung enthält nun einmal mehr Voraussetzungen, als Hegel zuzugeben bereit

Besprechungen

257

war, und mit der Kreisstruktur der logischen Bewegung hat es ebenfalls beträcht¬ liche Not —, aber diese Lösung hilft in systematischer Hinsicht nichts und bleibt als Interpretation unbegründbar. Im letzten, sehr viel kürzeren Teil ihrer Arbeit vereinigt die Verfasserin das getrennt über das Gründen und das Begründen Erarbeitete. Er bringt nichts wesentlich Neues mehr, sondern bietet nur abschließende Formulierungen dessen, was zu zeigen Ziel der Arbeit war: die dialektische Einheit von Gründen und Begründen, von Begründen und Gründen, — das Werden zu sich des Absoluten. In einem umschränkten Rahmen und wenn man ihr ihre Voraussetzungen vorgibt, liefert die Verfasserin eine sehr detaillierte und inhaltsreiche Analyse des Kreislaufs der logischen Bewegung. Ihre Grenzen liegen

von einzelnen

Mißverständnissen abgesehen — darin, daß sie allzu viele Voraussetzungen macht, und daß sie vor allem dort ihre Voraussetzungen macht, wo jeder, der heute Hegel liest, Anstoß nehmen wird. Peter Rohs (Kiel)

Hegels Political Writings. Translated by T. M. Knox. With an Introductory Essay by Z. A. Pelczynski. Oxford: Clarendon Press 1964. VII, 335 p. Many factors have contributed to the distorted image of Hegels philosophy in English-speaking countries, and not the least among them has been the lack of adequate translations of those of his works that are most relevant to an understanding of his political philosophy. Though

Sibree

on the Philosophy of History as early as 1858 and

translated the lectures Baillie

published his

translation of the Phenomenology in 1910, to quote just two examples, the way these translations were carried out hardly helped to endear Hegel to the Englishspeaking world or to make him relevant to the problems raised by the different philosophical traditions of England and America. Hegelian Neo-Idealism was, of course, something of a phenomenon in both countries, but generally speaking the philosophical tradition followed

a

different course. Some muddle-headed

translations sometimes even distorted more than they were helpful:

Baillie's

insistence that Geist should be 'Mind' rather than 'Spirit' caused as much damage as

Sibree's

enabled

a

rendering of die germanische Welt as 'the German World'. This

long line of critics, from

McGovern

to

Popper,

to claim that Hegel

was very much in the mainstream of the chauvinistic, if not outright racist, German tradition. That such a view seemed occasionally to have been corroborated by some latter-day Hegelians in Germany itself only adds to the irony that like so many other thinkers Hegel has sometimes to be rescued from his own disciples.

258

T. M.

Literaturberichte und Kritik

Knox's

translation of the Philosophy of Right in 1942 marked a major

breakthrough in Hegelian studies in the English-speaking world, though an earlier translation (by

Dyde,

1896) has already existed but was both out of date

and out of print. Though the essays included in the present volume of Hegel's Political Writings are of far less speculative and systematic interest, there seems to be little doubt that both the translation itself as well as Dr.

Pelczynki's

essay will again upset many of the accepted beliefs in Britain and the United States as to the 'authoritarian' character of Hegel's political attitudes. There is actually sorne indication that such a re-appraisal may already be under way h This volume includes translations of the following essays: The German Con¬ stitution, the two essays on Wurtemberg (1798 and 1817) and the essay on The English Reform Bill. In his 140-page introductory essay Dr.

Pelczynski

gives

one of the most detailed and brilliantly argued accounts ever to have been wiitten of Hegel s political views and their relation to the systematic premises of his political philosophy. All readers of this essay will be particularly grateful to the author for his pointing out two aspects of tremendous significance: first, that though the various political tracts in this volume span the whole period of Hegel's mature life and literary activity, the arguments used and the attitudes defended by Hegel are strinkingly similar and have hardly changed over the years. Basically speaking, the 'older' Hegel was not a conservative authoritarian m comParison with the radical 'younger' Hegel. Secondly, and even more conspicuously, Dr.

Pelczynski

establishes beyond doubt that the strong anti-

traditionahst argument in all these political writings is directly related to Hegel's System of politics as speit out in the Philosophy of Right. This is meticuously pointed out by

Pelczynski

in his examination of Hegel's

usage of the term 'positivity'. In all of these essays, as well as in the Early Theological Writings, 'positivity' means for Hegel an unreflective, quietistic conservatism, unmediated by reason and uncritically dependent upon the dead and of the past. Such a view accepts social and political institutions (as the old German Roman Reich, the 'good old law' of Wurtemberg, the English Common Law as we l as the unreformed House of Commons) just because they have existed in the past and continue to have some kind of existence in the present. I

elczyinski

is most convincing when he contradicts this Burkean 'wisdom of

the ages' with the rationality postulated by Hegel as a criterion for controlled social innovation. Nothing could bear out Hegel's distinction between Wirklichkeü and Dasein, between the 'actual' which is rational and the 'mere existing' than his cntique of the antiquated political and legal institutions of his Con¬ temporary Germany.

Besprechungen

259

This is of particular significance for an understanding of Hegel's first major essay on The German Constitution. Ever since

Mollat

published it in full for

the first time in 1893, this essay has always been used as a proof that Hegel was basically a good German patriot, acceptable to the milieu of Bismarckian Germany. Earlier fragmentary publications of the same by Koestlin

tried to achieve the same effect, and Herman

Rosenkranz

Heller's

and

well-intentioned

but misguided Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland succeeded once and for all to establish the connection between Hegel and German Machtpolitik, with only

Meinecke

mildly protesting. But

Pelczynski

points out how much this argument is rather out of touch with the reality of the essay itself: not only does

Mollat's

misleadingly nationalistic title mis-

represent the whole tenor of this essay which had originally no title in Hegel's manuscript, but it overlooks the fact that the whole drift of Hegel's argument is not nationalist at all. What Hegel attempts in this essay is to reform the antiquated and archaic structure of the German body politic, to do away with what is to him a scandalous combination of petty absolutism and feudal privilege. Hegel's Vision is to substitute this anomaly by a modern, unified but markedly pluralistic constitutional monarchy based on representation. Hence the shift in Hegel's view from an advocacy of German unification in 1802 to his Opposition to any form of national unity in 1815 was not a shift from en early 'liberal nationalem' to a later 'reactionary Prussianism': in fact, what Hegel initially feit as being possible only in a unified modern German monarchy was now being achieved in the different German States under the combined modernising impact of both

Napoleon

and

vom Stein.

The same logic that prompted Hegel in 1802

to yearn for a German Theseus made him sigh with relief in 1817 that the 'nonsensical arrangement called the German Reich' finally arrived 'at the end it deserved'. Pelczynski

connects this basically rationalist argument with the involved and

sometimes even tormented argument of Hegel's last essay on The English Re¬ form Bill. This is usually considered to be one of Hegel's most conservative tracts, and

Pelczynski

is right in showing that there may be more there than

meets the eye. One could even add that this essay sometimes penetrates deeper than

Pelczynski

is perhaps ready to admit. While

Pelczynski

points out that

Hegel is obviously on far less sure a ground when discussing English affairs than when immersing himself in minutiae of German constitutional law, one is however prompted to add that after all Hegel was right in his critique of the Reform Bill when he tried to show that mere political reforms could not solve the broader and more structural dilemmas of English social life. It is with a mind to the social issues involved that Hegel criticises the facile traditional liberal argument which viewed the extension of the franchise as a panacea to the social evils of early industrial England, and Hegel seems now to be quite vindicated in having feit that by itself mere political reform will not be effective at all — or could easily lead to excesses a la 1794. It is only because parliament-

260

Literaturberichte und Kritik

ary reforms were later accompanied by social reforms that Britain managed to evolve peacefully towards a modern representative system. While welcoming the abolition of rotten boroughs, church tithes and other anomalies of the English Common Law as a significant deviation from the traditional 'positivity' implied in English political and legal institutions, Hegel is afraid lest parliamentary reform, taken by itself, may even strengthen the aristocratic element of patronage in the Commons — and remembering that the secret ballot has not yet been introduced then into British elections, Hegel's objection does not seem as unfounded as it sometimes looks to us today. But even if Hegel was wrong on this issue, and ultimately he was wrong,the grounds for his objection are interesting and worth noting; and though he cites with approval the Duke of Wellington several times in this essay, this surely would not have been an argument which the Duke would share with Hegel. The whole essay on The English Reform Bill attests to a surprising degree of understanding on Hegel's part of some of the socio-economic issues implied in early 19th Century British life. And while Professor Knox and Dr. Pelczynski are quite right in pointing cut how much Hegel sometimes got his facts wrong about Britain, one can conclude that ultimately HegePs sensitivity to the social issues, as well as his grudging admiration for the basically elitist nature of British parliamentary representation, make this essay even more interesting than it sometimes is considered to be. Where one would like to take issue with Pelczynski is not with his general analysis of Hegel's political view (though a reference to Lukäcs's Der junge Hegel might perhaps be called for): the argument he puts forward that Hegel stood for a constitutional monarchy, based on representation and a critical evaluation of reason and tradition, is unassailable. It is where Pelczynski tries to establish

a

parallel between Hegel and

Bentham (p. 55)

that one feels that he

may be overstating his case and by implication jeopardizing much of his otherwise convincing, lucid and cogent argument. After all Bentham's philosophical premises are so widely apart from Hegel's, that even a superficial resemblance of this detail or other cannot be more than fortuitous. If no mention has been hitherto made of the quality of Professor Knox's translation it is because it is both so readable and accurate that one sometimes wishes that he would undertake the translation of the whole Hegelian corpus. But especially in The German Constitution the argument of the essay would have come out even clearer if Knox would have included some of the passages crossed out by Hegel in his manuscript but included in Lasson's edition. There always is a strong case to disregard earlier drafts in a publication of this sort, but as the whole essay was never published by Hegel, the position of these crossed-out passages is as good (or a bad) as that of the whole manuscript. In some cases these earlier draft passages were crossed out by Hegel because they were too detailed as far as historical illustrations were concerned, but this could sometimes bring out the whole argument more forcefully. But this is only

Besprechungen

261

a minor criticism which should in no way diminish from the scholarly as well as literary merits of Knox's translation.

Shlomo Avineri (Jerusalem)

Manfred Riedel: Theorie und Praxis im Denken Hegels. Interpretationen zu den Grundstellungen der neuzeitlichen Subjektivität. Stuttgart: Kohl¬ hammer 1965. 240 S.

Der Rechtshegelianismus sah in Hegels Lehre eine theoretische Grundlage für die Praxis, vor allem die politische, die Linke eher eine Hemmung der Praxis durch reine Theorie. Auch das gegenwärtige Interesse orientiert sich weitgehend an diesem Gegensatz, so daß eine gründliche Untersuchung dieses Problems, wie sie mit

Riedels

Buch vorliegt, zur Klärung oder doch mindestens zur Intensivie¬

rung der Diskussion beiträgt. R. setzt sich die Aufgabe, die Frage systematisch aus einer Grundlage des Hegelschen Denkens heraus zu erfassen und wendet sich gegen die Ansicht, „daß das Verhältnis von Theorie und Praxis sich schon im Bezug der Philosophie zur Geschichte beschließe". Er beginnt mit dieser „Grund¬ lage", „sofern sie naturphilosophisch aufgewiesen kann" (11), und verweist auf ein „zweifaches Sein des Lebendigen" (14) bei Hegel, das, als „in sich be¬ schlossener, sich auf sich beziehender Organismus", als „Sein für sich" einerseits und als „Prozeß gegen die Äußerlichkeit" andererseits, schon an sich als „Diffe¬ renz" zwischen praktischem und theoretischem Verhalten existiere (15—17). Von diesem Ansatz her entsteht dann das Problem, wie der Übergang von ihm zum Menschen sich darstellt und ob sich nicht in dieser zweifachen Bestimmung des Organischen umgekehrt ein bestimmtes Selbstverständnis des Menschen spiegelt. Das zweite Kapitel, in dem es um das Verhältnis des Menschen zum Seienden aus einer Reflexion auf sein „Wesen" geht (33), läßt den eigentlichen Ansatz der Interpretation R.s deutlicher hervortreten: Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist im Lebendigen zwar ausgeglichen. Aber da es nicht für es Gegen¬ stand ist, ist es als Ganzes nur als Subjektivität. Das Sein des Menschen, der Geist, ist ebenfalls „zunächst nur Subjektivität", insofern er von seiner Lebens¬ grundlage und den Bedürfnissen her der Natur als sie negierendes Subjekt gegenübersteht und sie nicht in ihrem „Sein" frei anschaut (34). Nicht in dieser Einstellung zur Natur, sondern in der „Absolutheit des Geistes" habe der Mensch nach Hegel seinen „Grund". Der Gegensatz zwischen Praktischem und Theoreti¬ schem innerhalb der Subjektivität sei nur „ ,endliche' Stufe in der Bewegung" zum absoluten, „aller Beziehung zum seienden enthobenen" „Geiste" (35). Es kommt hier also nach R. ein tieferer, weiterer Grund ins Spiel, aus dem her¬ aus der erste negiert sein soll. Damit setzt sich R., so sehr er im einzelnen

Literaturberichte und Kritik

262

Hegelsche Formulierungen zitiert, doch wohl von Hegels eigenem Gedankengang ab und gewinnt den in der HEiDEGGERschen Hegelauffassung vorgezeichneten Ansatz seiner Interpretation, derzufolge Hegel selbst dann doch letztlich in die¬ ser endlichen Stufe als einem Grundansatz des neuzeitlichen Denkens befangen bleibe. Hegel denke „den theoretischen Bezug zum Seienden als das Vorstellungs¬ und Zustellungsvermögen der als ,seinsmächtig' erfahrenen Subjektivität" (38). Indem Hegel nicht mehr traditionell zwischen praxis als intersubjektivem Handeln und poiesis als handwerklichem Herstellen abstrakt unterscheide und damit den Bereich des Herstellens mit ins Zentrum der Philosophie rücke, spreche er als erster diesen praktisch-technischen Geist der Neuheit akzentuiert aus, bleibe aber dennoch gleichzeitig der Tradition zugewandt, die in der reinen Theorie das Wesen des Menschen erblickt habe, und intendiere in der Philosophie die Versöhnung zwischen beiden Auffassungen. R.s Buch schließt mit einem Kapitel über „die ungelungene Versöhnung" (204). Es bleibe bei einer „zweideutigen Fassung von Theorie — nämlich einmal ... als perceptio der neuzeitlichen Men¬ schensubjektivität, . .

zum anderen als Betrachtung des Seienden in seinem

Sein" (214). Der Gang der Neuzeit gehe über Hegel hinweg. Später, z. B. in Marx'

Auffassung der Natur als des unorganischen Leibes des Menschen, kehr¬

ten sich der metaphysische Grundansatz der Neuzeit in der Subjektivität, die Auffassung der Theorie im Dienste der Praxis und das Selbstverständnis des Menschen aus der Arbeit radikal hervor. Daß Hegel, etwa im Unterschied zu Kant,

die handwerkliche Fertigkeit und besonders die moderne „List" des

Maschinenwesens philosophisch würdigt, weil er darin nicht nur lebensdienliche Möglichkeiten der Naturbeherrschung, sondern zugleich Bedingungen der Er¬ fahrung des Geistes und im herstellenden Tun zugleich dessen Weg aus einer reinen fürsichseienden Subjektivität in eine Objektivität sieht, in der der Geist sich erst in seinem freien, nicht von der Not verstellten Weltumgang selbst er¬ fahren kann, wird nicht im Sinne einer gedanklichen Konsequenz, etwa der Auseinandersetzung Hegels mit Sinne dieser „Zweideutigkeit

Kants

praktischer Philosophie, sondern eben im

Hegels verstanden, bis zu deren Feststellung eine

distanzierte Beschreibung des Hegelschen Denkens gelangt, indem sie sich nicht auf es als Denken einläßt, sondern es aus einem Interpretationsansatz heraus vom Gang eines bestimmten neuzeitlichen Geistes umgriffen sieht. Die These von der „Zweideutigkeit" schließt allerdings aus, daß Hegels Philosophie ent¬ weder der einen oder der anderen der abstrakt entgegengesetzten Auffassungen von Theorie einseitig zugeordnet wird, so daß, von den summarischen Urteilen abgesehen, eine sich sorgsam an den Texten orientierende Interpretationskunst viele Zusammenhänge gegenüber vorschnellen aktuellen Aneignungen zur Gel¬ tung bringt. So sieht R. einen „anfänglichen" (42), nicht mehr in Subjekt und Objekt innerhalb des Subjektivitätsansatzes auseinanderfallenden „Bereich" der „Seinswahrheit

bei Hegel im „Kunst-Sein des Seienden". Aber eine sich in

die Logik des Gedankens (wie sie sich etwa als Reflexion des Verhältnisses von „Grund" und „Begründetem" in Hegels „Logik" darstellt) nicht einlassende Be-

Besprechungen

263

Schreibung muß dann die Kunst als besonderen, aus dem „praktischen Leben" abstrakt gelösten Bereich vorstellen. Entsprechend der These von Hegels Zwei¬ deutigkeit an seinem historischen Ort, an dem die „Vindizierung der Praxis in die Theorie nicht mehr glücke" (115), erscheint die Kunst dann doch letzten Endes als ein Vergangenes. Das läßt sich bei Hegel belegen, wenigstens für die „klassische Kunst . Aber sie ist es bei Hegel aus entgegengesetztem Grund, nämlich weil das Moment der (lebensdienlichen) Gegenständlichkeit in ihr nicht vollkommen hinweggearbeitet sei und der Mensch in ihr zwar gestalteten Geist, aber noch nicht sich selbst als „Grund" der Negativität des Gegenständlichen erfahre. Es bliebe auch hier noch zu fragen, ob in der die ältere platonisch-aristo¬ telische Theorievorstellung kritisierenden Position, daß es dem Menschen als einem erfahrenden und zugleich bedürftigen Wesen nur über seine Herstellun¬ gen, nicht außer ihnen, also nur innerhalb des praktischen Lebens möglich sei, die Erfahrung seiner selbst sich gestaltend zu erarbeiten, etwas erkannt ist oder nicht. Josef Simon (Frankfurt a. M.)

Milan Sobotka: Die idealistische Dialektik der Praxis bei Hegel. Praha 1965. 76 S. (Acta universitatis Carolinae philosophica et historica. Monographia 9.) Seit einigen Jahren schon ist in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Jugo¬ slawien eine noch immer wachsende Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition zu verfolgen. Von den philosophischen Schriften MARxens her angeregt, gelten diese Bemühungen vornehmlich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Deutschen Idealismus" und haben nicht selten den Anstoß zu einer kritischen Prüfung der MARXschen Thesen oder doch wenigstens jener Deutungen gegeben, die

Marx

durch den orthodoxen Materialismus erfahren

hat. Hand in Hand damit ging eine Besinnung darauf, was unter „marxistischer Philosophie" überhaupt sinnvollerweise zu verstehen sei, die schließlich zur Aufgabe des starren Gegensatzes von Materialismus und Idealismus führte und deren Abschluß häufig ein Bekenntnis zur Philosophie der Praxis bildet. Die Grundzüge dieses neuen Philosophierens hat Gajo

Petrovic

charakterisiert,

wenn er die „marxistische Philosophie" als eine „dialektische Philosophie der Praxis" verstanden haben will, die ihre Anregungen nicht allein von sondern

aus

Marx,

der gesamten philosophischen Tradition schöpfen müsse. Vgl.

Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy and the Social Sciences. Oslo University Press. 6 (1963), 55. Die vorliegende Arbeit von Milan

Sobotka,

der einer Gruppe tschechischer

Philosophen angehört, entwickelt dieses zentrale Problem der Praxis unter Ein-

Literaturberichte und Kritik

264

beziehung seiner Ansätze bei

Fichte

und

Schelling

an Hegel. In sieben Ka¬

piteln, deren roter Faden eine Interpretation der Hegelschen Dialektik von „Herr" und „Knecht" ist, setzt sich

Sobotka

zunächst mit dem Begriff des

Selbstbewußtseins (5 ff) und seiner Entstehung (13 ff), mit dem Verhältnis von Erkenntnis und Praxis (23 ff) und der Realisierung der vernünftigen Erkenntnis durch die Geschichte (35 ff) auseinander. Hieran schließt sich eine Darstellung der Hegelschen „Kritik der bloß anschauenden Erkenntnis" (47 ff) an, von der her im Sinne der vorgängigen Vermitteltheit von Denken und Sein die Ver¬ wirklichung der „absoluten Idee" am Verhältnis von „Mensch und Geschich¬ te" (55 ff) und schließlich am Verhältnis von Mensch und Absolutem (71 ff) diskutiert wird. Dabei wird Hegels Philosophie als eine „Metaphysik der Frei¬ heit" gedeutet, die das Werden des Menschen als Prozeß der Versöhnung der Differenz von Subjekt und Objekt begreife und den Sinn der menschlichen Existenz darin sehe, über die Überwindung der Differenz von Denken und Sein die „Unendlichkeit" der vorgängigen absoluten Vermitteltheit von Sinn und Existenz zu erreichen. Hier bemerkt

Sobotka

kritisch, daß bei Hegel die Praxis

weitgehend mystifiziert als Ausdruck der Rationalität

der Wirklichkeit er¬

scheine (49), so daß sie letztlich nur ein Moment auf dem Weg zum Absoluten ausmache und folglich dem Bereich des Endlichen angehöre, in dem sich der Gegensatz von Denken und Sein immer wieder erneuere (73), während

Marx

gerade in der Praxis die alleinige Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Menschen erblicke. Mit der Herausarbeitung des Gegensatzes der Bestimmungen der Praxis bei Hegel und

Marx

stößt

Sobotka

zum zentralen Problem einer Philosophie der

Praxis vor, mit dem diese sich notwendigerweise auseinandersetzen muß: wenn einerseits die Praxis ihre Sinnbestimmung nicht einfach absolut aus sich selbst erzeugen kann, sondern in einer ursprünglichen Vermitteltheit steht, von der her ihr Sinnentwurf allein möglich ist, wenn andererseits gerade diese ursprüng¬ liche Vermitteltheit von Sinn und Existenz reflexiv nicht eingeholt werden kann, weil Praxis nicht lediglich Ausdruck der Rationalität der Wirklichkeit ist, sondern in ihr die Möglichkeit schlechthin liegt, die Sinnbestimmung zu versuchen und zu verwirklichen, dann darf sich eine „Philosophie der Praxis" weder auf die Absolutheit der geistigen Aneignung im Sinne Hegels noch auf die Absolutheit der praktischen Tätigkeit im Sinne MARxens berufen. Dietrich Benner (Bonn)

Besprechungen

265

Wolff-Dieter Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft. Eine Studie zu Hegels Dialektik. München: Kaiser 1965. 316 S.

(Forschungen zur

Geschichte und Lehre des Protestantismus. Reihe 10. Bd 31.) Hier tritt Hegel ein Denken entgegen, das dieser als zugleich einseitig rational und andererseits ebenso einseitig irrational kritisierte. Auf seiner Verstandes¬ seite argumentiert es zeitgemäß mit der modernen, emanzipierten, technischen, aufgeklärten, gar mündigen Gesellschaft; auf seiner Gefühlsseite beruft es sich zwar nicht mehr aufs Gefühl, aber in alter Unmittelbarkeit aufs Geheimnis Gottes, als dessen Hüter es sich weiß. Folgerichtig wirft es Hegel einerseits reaktionäre Tendenzen, andererseits gnostisches Denken und Häresie (202) vor. Zugleich jedoch bekennt es sich in der Abkehr von

Kierkegaard

(17) durchaus

zum Prinzip der Vermittlung, und zwar soll vermittelt werden die moderne Gesellschaft und die Unvermittelbarkeit Gottes als

befremdliche Gegenwart

Christi in der Gesellschaft. Der große Vermittler Hegel wird zu diesem Geschäft zur Hilfe gerufen, wobei sich freilich nur der junge, noch nicht dem „Idealismus" verfallene Hegel als brauchbar erweist. Später gehe es Hegel nur noch um Ver¬ mittlung in der Theorie, während er zunächst konkret, historisch, praktisch, gesellschaftlich, theologisch denke. So problematisch

Marschs

Ansatz im Ein¬

zelnen ist, so sehr ist wohl zu begrüßen, daß die Theologie beginnt, sich ernsthaft um Hegel zu bemühen.

Marschs

Frage nach der Bedeutung des „spekulativen

Karfreitags" in seiner „ganzen Wahrheit und Härte" emanzipativer Gottlosig¬ keit (176; 55) greift tiefer als die meisten bisherigen Interpretationen und trägt von daher zur Klärung der Rede von „säkularer Christusnachfolge" (16) bei. Den Kern des Buches bildet ein Referat der Hegelschen Gesellschaftsphilo¬ sophie bis zur Phänomenologie mit einem Ausblick auf die Rechtsphilosophie. Voran geht eine kursorische Einführung ins Problem emanzipierte Gesellschaft, die an Hand der gegenwärtigen „Sozialphilosophie" von und

Bloch

Gehlen

bis

Habermas

gegeben wird, sowie ein kritisches Referat der „dialektischen" und

der neuesten evangelischen Theologie, sofern in ihr das Thema Gesellschaft ent¬ weder aufgegriffen oder vernachlässigt wird. Leitender Gesichtspunkt dieser Referate ist die Absicht, Möglichkeiten einer evangelischen Sozialethik zu er¬ schließen (15). Die dazu gewonnenen Ansätze untersucht das abschließende Kapitel, das jedoch ebenfalls überwiegend im Rahmen eines Hegelreferats ver¬ bleibt. Gründlich und geschickt zitierend und interpretierend, dabei in Zusammen¬ arbeit mit dem Hegelarchiv Pionierarbeit leistend, verfolgt M. die gesellschaft¬ liche Bedeutung, die Hegel in seinen Jugendschriften der Person Jesu Christi zuerkennt. Als Hegels zentrales Problem wird die Frage herausgearbeitet, ob und wie es Jesus gelang, die jüdische Zerrissenheit, das heißt, an griechischen Ma߬ stäben gemessen, den Verlust selbstverständlichen Innestehens in Physis, Kos¬ mos und Polis, zu heilen. Hegel projiziere die Emanzipationsprobleme seiner Zeit in das altjüdische Leben und suche in der Person und Lehre Christi die

266

Literaturberichte und Kritik

Möglichkeit der Versöhnung unter den Bedingungen der Entzweiung, die her¬ rührt aus einem instrumentalen Verhältnis zu einer entgötterten Welt. Bis zur Phänomenologie erhalte er diese fruchtbare Problemstellung aufrecht und über¬ lege, ohne gelegentlichen Versuchungen zu einem theokratisch oder polishaft geschlossenen System zu erliegen, praktische Möglichkeiten

(christlich-)freier

Existenz in einer um den Preis der Verdinglichung in „politisch-utopischer Offen¬ heit" sich organisierenden Gesellschaft (175). In der Rechtsphilosophie dagegen habe Hegel die in der Phänomenologie „ansatzweise sichtbare Umdeutung sozia¬ ler Prozesse in Stufen des seiner selbst bewußt werdenden Geistes" (230) voll¬ endet. Damit wirke seine Dialektik praktisch reaktionär, indem sie anscheinend bruchlos „archaische und moderne, irrationale und rationale, konservative und liberale Züge" vereine (215) und so „unversöhnbare Verhältnisse durch eine Versöhnung im Begriff" rechtfertige (203). Während Hegel für M. von einem gewissen Punkt an in den Nebeln einer rein logischen Dialektik verschwindet, welche die „offene Zukunft Gottes" re¬ spektive der Gesellschaft in einen kreisförmigen Prozeß einschließen möch¬ te (267), bewegt sich M. von da an ganz auf dem Boden modischer Wertungen und Vorstellungen. Im Medium der vorausgesetzten Trennung von historisch¬ gesellschaftlicher Realdialektik und bloßer Reflexionsdialektik muß eine Studie über Hegel scheitern, weil bei ihm Dialektik wesentlich bedeutet, daß diese Trennung eine reflexionsphilosophische Setzung ist. Wenn M. sich der sozial¬ philosophischen Forderung anschließt, daß Dialektik, statt im Subjekt Zentrum der Vermittlung zu sein, der „Mediatisierung durch historisches Bewußtsein und gesellschaftliche Praxis" (201 — HABERMAs-Zitat) unterworfen werden müsse, so verbinden sich hiermit eine unkritische Theologie (vgl. Hegels Bemerkung, daß „die religiöse Vorstellungsweise auf sich selbst nicht die Kritik des Gedankens anwendet" (Enz. § 573) und eine ebenso kategoriale Reflexion ablehnende Sozialphilosophie oder -Wissenschaft oder -ideologie, die sich unmittelbar mit ihrem Gegenstand, der allvermittelnden Gesellschaft, verwechselt. Das Kind dieser Verbindung ist die Option für (fortschrittliche) Praxis um jeden Preis, einschließlich eines sacrificium intellectus vor dem neuen Gott Gesellschaft. Weniger gegen das Opfer als gegen diesen Gott meldet die Theologie religiöse und aufgeklärte Vorbehalte an. So bleiben die von M. gesuchten Möglichkeiten einer konfessionellen Sozialethik zwischen Soziologie und Innerlichkeit in der Schwebe. MARxens soziologische Hegelkritik sei zwar auch gemäß der Realdia¬ lektik von Kreuz und Auferstehung richtig, aber „das mit sich selbst versöhnte ,Leben' ist nicht mit politisch-ökonomischen Mitteln realisierbar. Seine mögliche und ansatzweise Verwirklichung setzt eine ,Umkehrung des Bewußtseins' vor¬ aus, wie Hegel sie gedacht hat: das versöhnende Ja zur Gegenwart, die VerInnerung im unendlichen Schmerz, die Bildung des Menschen zu dem, was er 'Geist' genannt hat" (271). Der Haupttrend der projektierten Sozialethik jedoch mit seiner Neigung, den „Prozeß der Menschwerdung des Menschen in Gesell¬ schaft" (240) und den „verheißenden Inhalt christlicher Auferstehungshoffnung"

Besprechungen

267

(235) in bedenkliche Nähe zu bringen, macht verständlich, wie Hegel zu der Ansicht kam, die Philosophie müsse entscheidende religiöse Inhalte vor dem ver¬ einigten Zugriff von Theologie und Aufklärung retten. Reinhart Klemens Maurer (Stuttgart)

Jörg Splett: Die Trinitätslehre G. kV. F. Hegels. Freiburg/München: Alber 1965. 160 S. (Symposion. 20.) Wenn auch die Bedeutung der Theologie für die Entwicklung und Gestaltung von Hegels Denkwelt allgemein anerkannt wird, so fehlt es doch bis heute an Untersuchungen, welche die Einzelfragen genauer herausarbeiten. Die Schwierig¬ keit liegt darin, daß die theologischen Themen bei Hegel nur im Gesamt seines Denkens gesehen werden können und sich nur so in ihrer Bedeutung erschließen. Es muß also die Kenntnis des ganzen Hegel vorausgesetzt werden, wenn mehr als nur Stellenbelege erbracht werden sollen. Weiterhin wird der Verfasser einer solchen Untersuchung fast notwendig vor die Frage gestellt, ob die gezeichneten Zusammenhänge theologisch oder wenigstens theologiegeschichtlich überhaupt eine besondere Bedeutung haben. Diese Frage kann durch den bekannten Hin¬ weis, daß für Hegel Religion im Bereich des vorstehenden Denkens verbleibe, nicht einfach abgetan werden. Noch weniger wird die schon zu Hegels Zeiten ständig wiederholte Polemik, hier werde Theologie logisiert, der Problematik gerecht. Denn was das vorstehende Denken bedeuten kann und was die so¬ genannte Logisierung besagt und was sie nicht besagt, gerade das wäre zuerst einmal zu sagen bzw. zu klären. Die Untersuchung von Jörg

Splett

steht die Trinitätslehre Hegels im Zu¬

sammenhang der gesamten Hegelschen Schriften und ihrer Bedeutung für das Hegelsche Denken dar. Daß damit für den Weg Hegels bis zur Phänomeno¬ logie (13—15) vieles wiederholt wird, was schon die bisherige Literatur über den jungen Hegel bringt, ist nicht als Nachteil der Arbeit zu werten. Denn so sehr der Zusammenhang von „Liebe” und „Leben” in den Frühschriften mit der Entstehung der Hegelschen Dialektik bekannt ist, so sind doch diese Zusammen¬ hänge mit der Trinitätslehre noch nicht ausführlich und gesondert dargesteht worden. Es mag hier vor allem auf den Abschnitt „Vom göttlichen Dreieck” (2730) hingewiesen werden, wobei d. V. mit Recht die Unvollkommenheit der Darstellung von dem eigentlichen Hegelschen Anliegen abhebt. Ebenso wird von d. V. die Stehe im Kritischen Journal, „Gott absolut an die Spitze der Philosophie zu stehen”, gebührend hervorgehoben (31). Im „dritten System” (1805/06) hat Hegel seine Form gefunden. Die Frage, ob die christliche Religion Volksreligion sein könne, wird hier in einer Beziehung von Trinität, Individuum und Volksgemeinschaft neu durchdacht, wobei die Philosophie als absolute

268

Literaturberichte und Kritik

Wissenschaft und damit grundsätzlich vermittelnd erscheint. Die späteren — im¬ mer wieder diskutierten — Aporien im Bezug von Theologie und Philosophie bei Hegel sind also hier bereits gegeben: Trinität als das ewige Schaffen, d. h. das Schaffen des Begriffs des Geistes. Und zugleich der Hinweis auf das Tun des Geistes, die Weltgeschichte (51—52). Ausführlich wird die Trinitätslehre der Phänomenologie behandelt (58—72). Bei den Anmerkungen wäre hier ein ausführlicheres Eingehen auf die Frage¬ stellung in der evangelischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, sofern es sich um eine Konfrontierung mit Hegel handelt, angebracht gewesen. In der Logik sieht d. V. mit Recht im Anschluß an L. I, 31 die Darstellung der spekula¬ tiven Wahrheit dessen, was die christliche Dogmatik als immanente Trinität bezeichnet (78). Ebenso wird auf den „personalen" Charakter der theologischen Formulierungen in Abhebung von

Spinoza

verwiesen (81). Doch wäre wohl eine

etwas ausführlichere Darstellung der Logik gerade im Zusammenhang mit die¬ sen angedeuteten theologischen Fragen wünschenswert gewesen. Wichtig ist für die Weiterführung in der theologischen Betrachtung die Vor¬ rede zur zweiten Auflage der Enzyklopädie (85). Die Auseinandersetzung mit Göschel

V,Jitig

zeigt die Bedeutung der Trinitätslehre für Hegels Denken

(86—88).

oft nicht genügend beachtet — ist die Trinitätslehre in den geschichts¬

philosophischen Vorlesungen Hegels (93—98), ebenso der trinitarische Aufbau der Philosophiegeschichte (103-115). Die bedeutendsten Stellen freilich - außer denen in der Phänomenologie - sind den Vorlesungen über die Philosophie der Religion zu entnehmen. Es sei besonders auf den Abschnitt „Die absolute Reli¬ gion, die Religion der Dreieinigkeit" (126-136) hingewiesen. Sp. hat sich durch den Nachweis der trinitarischen Struktur in den ver¬ schiedenen Schriften Hegels und der Bedeutung der Trinitätslehre zweifellos Verdienste für die Hegelforschung erworben. Man kann die theologischen Impli¬ kationen Hegels nicht einfach beiseite stellen. In der Interpretation ist d. V. im allgemeinen zurückhaltend. Hier liegt nun zweifellos

die

Schwierigkeit

der

Gesamtthematik, die freilich über die Anforderungen hinausgeht, die man an eine Dissertation stellen kann. Denn einmal bedarf der vorstehende Charakter der Religion notwendig einer klärenden Interpretation, zum anderen wäre zu erörtern, was das Zu-sich-selbst-kommen des absoluten Geistes in der Phäno¬ menologie und was die Logik als Darstellung Gottes eigentlich theologisch be¬ sagen kann. Es ist also erneut die Frage zu prüfen, ob und in welchem Sinn man bei Hegel von einem Übergriff der Philosophie über die Theologie sprechen kann. Der theologisch-philosophische Zusammenhang zwischen der Gotteslehre als Trinitätslehre, der Christologie und der theologischen Anthropologie wäre weiter zu klären. Die Unterscheidung der immanenten und ökonomischen Trini¬ tät ist zwar ein fruchtbarer Ausgangspunkt für das Gespräch mit Hegel (von Panentheismus sollte man besser nicht sprechen, weil dieses Wort selbst weiterer Interpretationen bedarf), jedoch setzt diese Fragestellung eine umfassende Klä¬ rung der philosophisch-theologischen Bedeutung der Hegelschen Dialektik vor-

Besprechungen

269

aus. Es wäre wohl auch für die Sache besser gewesen, wenn Teil V „Punkte zum Gespräch mit Hegel" nicht im Zusammenhang mit der Arbeit veröffentlicht worden wäre. Eher hätte sich hier der Platz für eine Diskussion über die Mög¬ lichkeiten

einer

theologisch-philosophischen

Hegelinterpretation

angeboten.

Punkte für ein Gespräch mit Hegel bieten notwendig ein so vielschichtiges Bild, daß sie auf 18 Seiten unmöglich auch nur angedeutet werden können. Im übri¬ gen wäre bei Interpretation der Hegelschen Trinitätslehre auf die entsprechende theologisch-philosophische Problematik in der Frühscholastik, etwa bei wenigstens kurz einzugehen, auch Hinweise und Vergleiche mit

Anselm,

Augustins

De trinitate wären angebracht gewesen. Trotz solcher Wünsche ist nicht zu be¬ streiten, daß die vorliegende Dissertation eine Lücke ausfüllt und daß sie für weitere theologisch-philosophische Untersuchungen über Hegel wie auch für das Gespräch der Theologie mit Hegel, das heute nur noch selten und zumeist nur indirekt geführt wird, von Bedeutung ist. Man muß dem Verfasser danken, daß er gerade diese Thematik zur Sprache gebracht hat. Joseph Möller (Tübingen)

Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie. Gütersloh: Gerd Mohn 1966. 224 S.

Im Titel dieses Buches wird bis zur Unkenntlichkeit verallgemeinert, worum es darin geht. Auch der Untertitel gibt die genaue, übrigens sehr interessante und auch originelle Fragestellung nicht in zureichender Weise zu erkennen. Diese erfährt man erst, wenn man im Text der vorderen Umschlagklappe über diese Arbeit liest: „Hier wird der Nachweis geführt, daß der Kirchenbegriff in der Theologie eine zentrale Rolle spielt, seit das Problem der Geschichte zum be¬ herrschenden Thema des theologischen Denkens geworden ist." Es handelt sich also um eine theologiegeschichtliche Arbeit, die von einem bestimmten Problem her, dem Kirchenbegriff, die gegenwärtige theologiege¬ schichtliche Situation in ihrer Bedingtheit durch die Aufklärung und die Aus¬ einandersetzungen des 19. Jahrhunderts zu zeigen sucht. Dies erscheint not¬ wendig, da mit der „dialektischen Theologie" ein Neuansatz gegeben war, der der diese historische Bedingtheit für eine gewisse Zeit außerhalb des Blickfeldes geraten ließ. Die geschichtlichen Untersuchungen R.s sind in einem doppelten Sinn exem¬ plarisch gemeint. Einmal, wie gesagt, hat der Kirchenbegriff exemplarische Be¬ deutung für die gesamte theologische Problematik seit der Aufklärung. Die nicht mehr selbstverständliche Einbindung des Religiösen in die Kirchlichkeit gab dem Problem der Kirche für die Theologie eine neue entscheidende Stellung, die sich

Literaturberichte und Kritik

270

nicht länger in dem traditionellen dogmatischen Topos „De ecclesia" unter¬ bringen ließ. Sodann werden beispielhaft Semler, Hegel und Schleiermacher im Blick auf ihre Aussagen über Religion und Kirche untersucht. Die theologische Diskussion des 19. Schleiermacher

an,

Jahrhunderts knüpfte vor allem

der sich um eine „Integration

des

an

[allgemein-religiös]

christlichen und kirchlichen Aspekts der Frömmigkeit” bemüht hatte (154 ff). Die aufkommende historisch-kritische Theologie entwickelte sich in ausdrück¬ licher Auseinandersetzung mit der auf diese Weise neu begründeten „kirchlichen Theologie”. Dagegen suchte dann die dialektische Theologie die Theologie wieder in einem prinzipiellen Sinn zu einer „Funktion der Kirche” zu machen, die als der alles umfassende Ort der Verwirklichung des christlichen Glaubens galt. In diesem Aufriß der Theologiegeschichte seit etwa 200 Jahren wird zweifellos ein neuer wichtiger Akzent für die Beurteilung dieser gesamten Entwicklung ge¬ setzt. Aber es entsteht auch die Gefahr, daß eine bestimmte Perspektive dem historischen Material von außen her aufgeprägt wird, wenn dieses nicht aus¬ führlich und detailliert genug zu Wort kommt. Eine genauere Prüfung kann hier nur für das Hegel-Kapitel (63—113) erfolgen, das durch seine theologiegeschicht¬ liche Einordnung neue aufschlußreiche Zusammenhänge der theologischen Ju¬ gendschriften und der Religionsphilosophie Hegels sichtbar werden läßt, das aber auch die Schwierigkeiten einer solchen exemplarischen Geschichtsbetrachtung veranschaulichen kann. Der Grundbegriff der Jugendschriften, wie er in der Frankfurter Zeit klar gefaßt wird, der Begriff der Entzweiung, wird in seiner theologiegeschichtlichen Herkunft aus der Unterscheidung

Semlers

von „öffentlicher” und „kirchlicher”

Theologie auf der einen Seite und der „Privattheologie” der Gebildeten und Aufgeklärten auf der anderen Seite konkret erfaßt. Dabei geht es nicht um eine literarische Abhängigkeit, sondern um die Beschreibung der gegebenen theologie¬ geschichtlichen Situation der Aufklärung, die bei

Semler

ihren prägnantesten

Ausdruck gefunden hat und die für Hegel gerade auch durch ihre Kritik an der radikalen atheistischen Aufklärung bestimmend geworden ist. Es sollte freilich deutlich gesagt werden, daß damit eine Wurzel dieses Grundbegriffs des jungen Hegel aufgezeigt ist, der ja neben der theologischen noch eine andere wesentlich politisch bestimmte Prägung aufweist. Die Interpretation der Religionsphilosophie als „Philosophie der Zeit” ver¬ dankt diese ihre konkrete Interpretationsrichtung wie eine ganze Reihe anderer Arbeiten aus den letzten Jahren den Anregungen, die von

J.

Ritters

Studie

über Hegel und die Französische Revolution ausgegangen sind (75 Anm. 26). Daß nach Hegel die Philosophie der Religion an die Stelle der Theologie treten muß, um diese aus der traditionell-kirchlichen Begrenztheit herauszuführen, wird aufgrund dieses „konkreten Bezugs” so gedeutet, daß Hegel eben in der Theo¬ logie seiner Zeit keinen adäquaten Ausdruck der Religionsproblematik finden konnte (109 ff). Man muß jedoch sehen, daß für Hegel auch die Rückbindung der Religionsphilosophie an das Schicksal Jesu primär einen philosophischen Sinn

Besprechungen

271

hat und in der reinen Begriffssprache der ganz zu sich selber gekommenen Philosophie als das immer neue aus sich Heraussetzen von Gegensätzen und deren „Aufhebung" zum Ausdruck kommt. Das Eintreten der Religionsphilo¬ sophie für die Theologie hat eine mehr als historisch-zufällige Bedeutung; es ist in dem Geschichtsbild Hegels begründet, nach dem der theologische Ausdruck der Wahrheit des absoluten Geistes durch den philosophischen abgelöst werden muß. In der Herausarbeitung der Religionsphilosophie als Philosophie der Gemeinde kommt die dominierende Stellung des Geistbegriffs bei Hegel, dessen „Reich" die Gemeinde ist, gut zur Geltung. Die wesenhafte Verbindung der Probleme Religion und Staat wird jedoch durch den Abschnitt „Die Weltlichkeit der Ge: meinde" (107-109) nicht hinreichend deutlich gemacht. Die der philosophisch entwickelten universalen Religion entsprechende universale menschliche Ge¬ meinschaft ist für Hegel der Staat, der auf einer schlechthin allgemeinen Ebene hsn Gegensatz zwischen der Partikularität des einzelnen und der Allgemeinheit der Gemeinschaft zum Ausgleich bringt. Die theologiegeschichtliche „Abkehr von Hegel" (111-113) war nicht nur die Folge eines Mißverständnisses seiner Gedankenentwicklungen oder einer Ver¬ kennung seiner Intentionen, sie ging auf ihre Weise von der richtigen Voraus¬ setzung aus, daß hier in der Tat der konfessionell-kirchliche Rahmen der Reli¬ gion durchbrochen wird. Nicht als ob die „Abkehr" eine angemessene Antwort darauf wäre, aber es steckt doch ein Moment von Einsicht darin, an dem auch heute eine theologische Hegeldeutung nicht einfach vorübergehen kann. Heinz Kimmerle (Bonn)

Adrien T. B. Peperzak: Le jeune Hegel et la Vision morale du monde. La Haye: Nijhoff XV, 264 S. „Die moralische Weltanschauung" ist der Titel, unter dem Hegel in der Phäno¬ menologie Kants praktische Philosophie behandelt, und Hegels Auseinander¬ setzung mit Kant vor allem geht die vorliegende Arbeit nach, seit P. Asvelds Buch von 1953 die bislang einzige selbständige Studie französischer Sprache über den jungen Hegel. „Le debat avec Kant a ete un debat avec lui-meme" an¬ gesichts der Alternative zwischen dessen moralischer und einer Anschauung, die man „totalitär" nennen könnte (XIV). Der Gegensatz zeigt, in welch um¬ fassendem Sinn hier „moralisch" zu lesen ist; es geht um zwei Grundhaltungen, die jeweils die philosophische, religiöse, politische, moralische und ästhetische Stellungnahme einbegreifen und begründen und die man nicht auf einen dieser Aspekte einengen darf (2; — faktisch indes überwiegt bei P. die religiöse The¬ matik).

Literaturberichte und Kritik

272

Das „Ideal des Seminaristen" ist „la vie elyseenne" und

Lessing

bestimmt als von

Fichte,

(25),

den er sicher, und

mehr von Kant,

Rousseau

den er wohl

kaum gelesen hat (es sei denn die Kritik der reinen Vernunft und die Religions¬ lehre —

9, 40

f). Erst in Bern wird

Kants

praktische Philosophie bedeutsam.

P. stellt diese Jahre unter den Titel „raison et liberte", da er sie von zwei Hauptgedanken geprägt sieht: Französischen Revolution

(44

der Moral-Lehre

f). Hegel studiert

Kants

Kant

und

dem Ideal der

im Blick auf sein Grund¬

anliegen, eine zeitgemäße Volksreligion und eine Volkserziehung zur Moralität gegenüber geist- und lebentötender „Positivität", und er entwirft in diesem Sinn sein „Leben Jesu", wobei er den „sentimentalisme" aus Tübingen mit dem Kantischen Rigorismus im „moralischen Gefühl" der Achtung für das Gesetz vereinigt (68, 71). Die Freiheit, um die es ihm geht, steht jedoch nicht eigentlich den Neigungen, sondern der Autorität entgegen (81). Dieser Freiheitswille prägt auch die politischen Schriften, in denen „l'adorateur de Dieu cede la place au heros s'oubliant pour son ,Tout'" (94): „Voilä la liberte hegelienne: etre chez soi, aussi bien dans la vie publique que dans la vie privee et familiale, — et voici Falienation: etre gouverne par des hommes, des lois, des institutions, qui ne sont pas Fexpression de la volonte de tous" (96 f). Dieser Freiheit wider¬ spricht nicht nur das Christentum, am Ende der Berner Zeit erkennt Hegel auch ihre Unvereinbarkeit mit der Postulatenlehre

Kants.

Das Glück kann ihr

nicht, durch Gott garantiert, von außen zukommen; ebensowenig ist ihr die Befriedigung durch das Bewußtsein der eigenen Tugend angemessen: gegen¬ über der Transzendenz der Religion und dem Egoismus der Moral statuiert Hegel „l'ideal politicjue de la liberte civile" (120). Die Eleusis-Hymne nennt neben dem Vaterland eine zweite Gestalt des um¬ fassenden Ganzen: die Natur oder das Schicksal. Die Vereinigung beider Ge¬ stalten ist das große Thema Frankfurts. Hegel wird zum Philosophen, indem seine Leitidee seit Tübingen, „etre-chez-soi-dans-le-tout-humain", in ihren bei¬ den Aspekten (Subjekt-Objekt-Identität und Totalität) sich zunehmend als das Absolute enthüllt (132). Hegels Ansatz ist (aufgrund wessen?) eine neue Deu¬ tung Jesu: „ä Berne Hegel a rationalise Jesus ä l'aide de vient ä bout de

Kant

Kant,

ä Francfort il

par un nouveau Jesus" (145). Jesus als Lehrer und Er¬

scheinung der Einheit, für die er auch im Scheitern zeugt, indem er die Kluft ,Gesetz (Schuld) — Strafe' durch die eine Bestimmung des Schicksals schließt, nur eines anderen Namens für das Leben, dessen Gefühl die Liebe ist und dessen Immanenz-Zirkel die Trinität symbolisiert, Gott als Bild dessen, was Hegel später das Absolute nennen wird (183), Ideal, das die „Religion" bewußt übernimmt, „Firnage ideale de l'homme qui realise sa nature par l'amour": „humanisme mystique" (197). Religion in diesem Sinn, wissende Liebe als Totalität der Tugenden, müßte auch die Seele des Staates sein; tatsächlich aber ist sie es nicht geworden, weil sie — notwendig an das Gefühl gebunden — sich nicht über die Schranken der Gemeinde hat ausbreiten können. Ist also die Volksganzheit nach griechischem

Besprechungen

273

Vorbild unmöglich? Die Überarbeitung der Positivitäts-Schrift, die das Haupt¬ gebot Jesu nun doch als allgemeine Menschenliebe auf fassen will, bleibt un¬ vollendet. Aber einer tragischen Interpretation Hegels hält P. die Jenaer Lösung entgegen: ,,1' 'autoconstruction' triomphale de PAbsolu qui vient ä bout de tout" (230). Damit hat sich Hegel endgültig aus der „Hypochondrie [,an der er] ein paar Jahre bis zur Entkräftung gelitten" (230, 237 f — Briefe I, 314), befreit. Dieser seiner inneren Geschichte gilt der Schlußartikel P.s. Der junge Hegel ist auf der schmerzlichen Suche nach Ruhe und Harmonie. Seinem Verlangen opfert er in der Schweiz den persönlichen Gott wie die genuine Botschaft Jesu, um des etre-chez-soi der Freiheit willen. Nun muß diese mit der Natur versöhnt werden: in der „Religion". Wie aber, wenn die Zeit einer solchen Versöhnung völlig entgegensteht? Von Sehnsucht und Sehnen ist häufig die Rede; zugleich aber ist Hegel unablässig tätig, um dem Anbruch der neuen Zeit zu dienen, die er nahe hofft. Nicht Gewalt führt sie herbei, sondern die Geschichte selbst und das sie begreifende Wissen (247). So kehrt die Conclusion von der Psychologie zum Denken Hegels zurück. Sein Hauptthema ist das griechisch-römische Ideal gewesen. Ihm widersprach die Theologie, die man ihm bot. Glaubte er sie zunächst von

Kant

her über¬

winden zu können, so zeigte sich das Kantische Allgemeine selbst als Feind des Individuellen. Noch in Bern protestiert er dagegen im Namen heroischer Freiheit, in Frankfurt dann im Namen eines Allebens, das Freiheit und Natur umfängt (251 f). In dieser spinozistischen Einheitskonzeption liegt der Ursprung der Dialektik Hegels (von einem Studium der Kr. d. r. V. und Kr. d. U. läßt sich vor seinem 31. Lebensjahr nichts feststellen). Hier setzt darum auch die entscheidende Kritik an: „ 'La liaison de la liaison et de la non-liaison (Nohl 348) l'a-t-il respecte?" (252). Tatsächlich erkennt sich menschliche Liebe nicht wieder in der „identite de deux Organes d'une meme vie" (174). Und entsprechend ist dieses Leben nicht jene Wirklichkeit, die der Christ Gott nennt. Es wäre darum durchaus sinnvoll, den Ausdruck Pan[en]theismus (um „theos" dem transzen¬ dent-absolut-personalen Gott vorzubehalten) durch „pandivinisme" zu erset¬ zen (183). Und wenn man Religion nur das Verhältnis zum persönlichen Gott nennt, muß man sie Hegel vielleicht wirklich absprechen (obwohl sich hier schon Vorbehalte anmelden ließen). Aber kann man darum schon sagen, Gott sei für ihm zwar größer als ich, aber nicht größer als die Menschheit (116)? „Da ich aber ein vernünftiges Wesen bin, so ist mein Geschäft, (nicht den Men¬ schen) Gott zu loben": Hegel benutzt in der Differenzschrift (Glöckner I, 352) gegen

Jacobi

dessen eigenes EpiKTET-Zitat und fügt zur vollen Deutlichkeit

selbst den Klammer-Zusatz ein. (Damit soll keine [etwa „theistische"] Gegen¬ these vertreten, nur auf die Kompliziertheit des Befundes hingewiesen sein.) Die Auseinandersetzung mit der Hegel-Literatur tritt zurück; umso eindring¬ licher werden die Texte Hegels befragt und analysiert, um ihn (neben seinem

Literaturberichte und Kritik

274

Verhältnis zu

Kant

und

Fichte)

vor allem aus sich selber (nicht aus „Ein¬

flüssen") zu verstehen. Und in diesen Einzelinterpretationen liegt vielleicht noch mehr als in der erarbeiteten Gesamtsicht der Wert dieses Forschungsbeitrages. Jörg Splett (München)

W. van Dooren: Het Totaliteitsbegrip bij Hegel en zijn Voorgangers. Assen: Van Gorcum 1965. 198 S.

Die vorliegende Dissertation, mit der

van Dooren

an der Universität Utrecht

promovierte, ist eine systematische Untersuchung der Frage: Was heißt Totali¬ tät? in Hegels Philosophie, insofern diese enthalten ist in der Jenenser Logik, der Phänomenologie des Geistes, der Wissenschaft der Logik und der Enzyklo¬ pädie. In einem ersten Kapitel (15—50) bereitet Verfasser seine Analysen der Hegelschen Texte vor durch eine gedrungene Zusammenfassung der Auffassun¬ gen von Totalität, wie sie zu finden sind in den Werken von Novalis

und

Schelling.

Kant, Fichte,

Im Hauptteil seines Buches analysiert Verfasser mit

philologischer Genauigkeit die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Totali¬ tät" in den vier genannten Schriften Hegels. Dabei werden zuerst viele „sekun¬ däre" Begriffe, welche in naher Beziehung zu „Totalität" stehen, auf ihre Be¬ deutung untersucht (51—119). Verfasser unterscheidet sie in formelle Begriffe (Beziehung und Verhältnis, Setzen und Bestimmen, Beschaffenheit, Eigenschaft, Merkmal, Gleichgültigkeit und Einheit) und materielle Begriffe, welche wieder unterschieden werden, insofern sie entweder Teile eines größeren Ganzen an¬ deuten (Teil, Glied, Moment) oder Komponenten einer Beziehung, die gleich¬ wertig anderen Komponenten gegenüber stehen (Gegenstand, Sache, Objekt). Bei der Behandlung der materiellen Begriffe spricht Verfasser auch von Hegels Kritik bzw. Integration von Begriffen früherer Philosophien wie Monade, Atom, Ding an sich und Substanz. In einem besonderen Paragraphen erörtert ren

Van Doo¬

Hegels Auffassung und Gebrauch symbolischer Begriffe, wobei er beson¬

ders auf die Lichtsymbolik und den Begriff Reflexion eingeht (69-83). Nach den sekundären Begriffen wird das Wort „Totalität" selbst in den einzelnen Werken untersucht (119-180). Neben semantischen Analysen bringt dieser Teil auch eine Diskussion über die Struktur der Werke als ganzer, welche nach der Meinung des Verfassers nicht so sehr Teile eines einzigen Systems, sondern Durchdenkungen der ganzen Wirklichkeit aus verschiedenen Perspekti¬ ven sind. Zumal die Einteilungen der Phänomenologie des Geistes, die von den einzelnen Kommentatoren vorgeschlagen worden sind, werden gut dargestellt und diskutiert (126—144). Verfasser widerlegt dabei einige von egger, Hyppolite u.

Haering, Heid¬

a. gemachten falschen Voraussetzungen und rückt die von

Besprechungen

275

vielen vernachlässigte Dreiteilung in A (Bewußtsein), B (Selbstbewußtsein) und C (wofür er mit einiger Zurückhaltung den Titel „Wissenschaft" vorschlägt, 139) ins Zentrum. In einer Zusammenfassung und Konklusion (181—186), von der auch eine deutsche Übersetzung gegeben wird (187—193) stellt Verfasser fest, daß man Hegels Auffassung der Totalität am besten wiedergibt durch den Ausdruck: „die Einheit seiner selbst und seines Andern". Er vergleicht diese Auffassung mit denen von

Kant,

Fichte,

Novalis

und

Schelling,

welche im ersten Kapitel

besprochen wurden, und schließt sein Buch mit einer kritischen Würdigung. Van

Dooren

sieht im Hegelschen Begriff der Totalität einen immanenten

Widerspruch: einerseits ist „Totalität" eine Entwicklung in Verbindung mit dem Anderen (hierin liege das Wesentliche), andererseits faßt Hegel die Totalität als eine Abgeschlossenheit, welche alle Wirklichkeit in sich aufgenommen hat und kein Anderes mehr außer sich läßt. Verfasser optiert für den ersten Aspekt und preist in der Hegelschen Philo¬ sophie die Perspektive einer offenen Relation zum Anderen. Die Abgeschlossen¬ heit des Systems aber gehört seiner Meinung nach zum Toten dieses Denkens. Ad. Peperzak (Venray)

Günter Ralfs: Lebensformen des Geistes. Vorträge und Abhandlungen. Hrsg, von Hermann Glöckner. Köln: Kölner Universitäts-Verlag 1964. 344 S. (Kantstudien. Ergänzungsh. 86.)

1. Lebensformen des Geistes ist eine Sammlung von Vorträgen und Abhand¬ lungen, die Günter

Ralfs

in den ersten Nachkriegsjahren zur Wiederbelebung

philosophischer Geistigkeit geschrieben und die Hermann

Glöckner

nun aus

dem Nachlaß herausgegeben hat. Diese Erneuerung des Philosophierens soll aus der Begegnung mit der Geburt des Geistes in Griechenland und der Reife des Geistes im Deutschen Idealismus erwachsen. allem an

Aristoteles

Ralfs

versucht deshalb, vor

und Hegel die Lebensform des Geistes, das „Grundgesetz

des Geistes ... [in seinem] Charakter der Dreieinigkeit" (173), zu verdeut¬ lichen und so den Geist zu neuer Selbstbewußtheit zu bringen. Er unterscheidet „drei Lebensformen des Geistes ... in innerer Verschränkung": „Die Gestaltung der Welt aus der Innerlichkeit des Geistes: das Prinzip der Produktivität. Die Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche: das Prinzip der Affinität. Die ur¬ sprüngliche Einheit des gegensätzlichen Geistes: das Prinzip der Totalität In der Produktivität sieht

Ralfs

(168).

die Selbstermächtigung der menschlichen Ver¬

nunft, die in der Affinität ihre schöpferische Gleichheit mit dem weltschaffenden

Literaturberichte und Kritik

276

Geist erfährt, um sich schließlich in der Totalität dialektisch mit diesem zu ver¬ einigen (107 ff). Von den auf Hegel hingedachten und von Hegel her interpretierenden Ab¬ handlungen wenden wir uns nur jenen zu, die sich ausdrücklich auf Hegel be¬ ziehen. 2. Lebensformen des Geistes heißt das Kernstück der Sammlung; in diesem versucht

Ralfs

den philosphischen Zusammenhang zwischen den Anfängen

deutschen Philosophierens in Meister

Eckharts

Mystik und der Reifezeit deut¬

scher Philosophie in der Vollendung des Idealismus durch Hegel aufzudecken. Die nicht systematisch diskutierte, sondern nur an wechselseitigen Zitaten auf¬ gewiesene Grundlage zu diesem Vergleich bildet ein vermeintlicher gemeinsamer Pantheismus des Geistes. Aus der bereits Hegel selbst verblüffenden Ähnlichkeit mit manchen eckhartschen Formulierungen zur Negation und

Eckharts

der mystischen „Vereinigung der Seele mit Gott" (113) glaubt Eckhart

Prinzip Meister

Ralfs

als einen Vorläufer zu Hegels dialektischen Identität des Geistes an¬

sprechen zu dürfen. Sicherlich finden sich gerade in

Eckharts

Gottesspekula¬

tionen (149) Motive, die sich auf die Dialektik hin interpretieren lassen, und manche Sätze muten dialektisch an (Quint, DW I, 363, 1 f): „Auf Gott trifft also keine Verneinung, nichts Verneinendes zu außer der Verneinung der Ver¬ neinung, die das eine Verneinung einschließende Eine ausdrückt: ,Gott ist einer ." (158) Das Dialektische liegt hier aber in der Erkenntnisbeschränktheit des Menschen selbst und ist durchaus noch verwoben mit Motiven der Ana¬ logie (164) und der paradoxen Zurückhaltung des menschlichen Geistes (156 ff). Niemals wird bei

Eckhart

die Erkenntnis Gottes (genetivus objectivus) zur

Erkenntnis Gottes (genetivus subjectivus), wie es die hegelsche Dialektik an¬ strebte; im Gegenteil bedeutet bei

Eckhart

die „ursprüngliche Gleichheit" der

Seele mit Gott (115) den Dialog (143, 146) und nicht die Selbigkeit.

Ralfs

dagegen interpretiert die eckhartsche Mystik ausschließlich als erstes Tasten auf die hegelsche Dialektik hin, wobei es ihm insbesondere um den Aufweis eines gemeinsamen Pantheismus des Geistes zu tun ist. So glaubt er

Eckhart

und Hegel in gleicher Weise zu charakterisieren, wenn er sein eigenes Prinzip bekennt: „Der Glaube an die göttliche Natur des menschlichen Geistes, der ge¬ rade in der Differenz zu Gott seine Identität mit Gott erkennt." (164) 3. Hegels dialektische Methode. So wie

Ralfs

im Vorigen die Vollendung der

Idee der ,coincidentia oppositorum' in Hegels ,absoluten Geist' erblickt, so stellt er hier

Goethes

Seins- und Naturmetaphysik und Hegels dialektische Methode

in ihrer anscheinenden Affinität dar. Diese Parallelsetzung zu deutlich, wie äußerlich

Ralfs

Goethe

zeigt aber

die Dialektik als Mechanismus begreift: „Unser

Denken vollzieht sich in dialektischer Bewegung, dergestalt, daß jeder Begriff, auf die Spitze getrieben, von sich aus notwendig umschlägt in das Negative seiner Position. Der Satz drängt von sich aus zum Gegensatz und darüberhinaus zu seiner übergegensätzlichen Synthese, die beide Momente des dialektischen

Besprechungen

277

Vollzuges in sich enthält. Die Synthese stellt die ursprüngliche These wieder her, nun aber bereichert um ihre Negation, ihre Antithese." (179) Es zeigt sich hier die Crux jeder Einführung in Hegels Denken; solange sie nur ein Reden über die und von der Dialektik bleibt und noch nicht selbst in ihr als Methode lebt und aus ihr als Prinzip denkt, muß die Dialektik notwendig entweder als Handwerkszeug (190) oder als mechanistischer Prozeß (180, 201) mißverstanden werden. Aus seinem Glauben in den Mechanismus der dialekti¬ schen Methode kommt hegelschen

Ralfs

Naturphilosophie

zu

einer blindvertrauenden Verteidigung der

(203),

zu

einem

Ignorieren

des

Anfangspro¬

blems (180) und Geschichtsproblems (207); dagegen stellt er ausgiebige Unter¬ suchungen, historischer und spekulativer Art, über „die Bedeutung der Drei¬ gliederung" (174, 204) der Dialektik an. Auch die Bedenken, die

Ralfs

gegen

die Dialektik formuliert, bleiben äußerlich: „Es fragt sich, ob eine so universale Methode dem prinzipiell multiformen Material ganz ohne Gewaltsamkeit ge¬ recht zu werden vermochte." (209) Aber selbst dieser äußerliche Zweifel wird schließlich in einem Bekenntnis zu Hegel weggewischt (210). Was

Ralfs

sich von der Dialektik erhofft, ist die Aufhebung aller Gegensätze

durch das mystische Vernunft vermögen (!), das Aufgehen des menschlichen Geistes im Absoluten: „Von hier aus wird verständlich, daß Hegel sein System der Harmonie, das alle Gegensätze ausglich, als den reifen Abschluß der ge¬ samten abendländischen Spekulation überhaupt betrachten konnte." (192) 4. Glaube und Wissen. Im Gegensatz zu den in die Philosophie einführenden Vorträgen handelt es sich hier um ein streng an Hegels Frühschrift sich haltendes Interpretationsreferat. Ausgangspunkt für

Ralfs'

Darstellung ist die linear auf¬

gestellte Unterscheidung von Verstand und Vernunft: „Was Hegel durch die Unterscheidung von Verstand und Vernunft begründet, kann man durchaus als eine Theorie der zweifachen Wahrheit bezeichnen. Nur handelt es sich hier nicht um zwei einander ausschließende . . ., sondern um zwei dialektisch verschränkte Wahrheitsstufen innerhalb des philosophischen Bewußtseins." (225) Der Gegen¬ satz von Glaube und Wissen stellt bei Hegel bereits kein theologisches Problem dar, sondern sie beide sind Spannungsmomente des Verstandes und stehen als solche immanent in der philosophischen Denkentwicklung. An Hand der Systeme Kants,

Jacobis

und

Fichtes

versucht Hegel die Totalität möglicher Formen

von Verstandes- und Reflexionsphilosophie aufzudecken. Die Gemeinsamkeit dieser Verstandesphilosophien ist ihr Festhalten am Prinzip der Subjektivität, der Endlichkeit, die Begrenzung des Wissens auf das Empirische und Versteh¬ bare, so daß notwendig das Absolute zu einem Jenseitigen wird, das der Blind¬ heit des Glaubens überantwortet bleibt (227 f). So vermag die Reflexions¬ philosophie niemals aus der Entzweiung von Wissen und Glauben heraustreten, da diese gerade von ihr grundsätzlich festgehalten wird. Erst die Vernunft ver¬ mag den Gegensatz zu überwinden, in einem — wie

Ralfs

es darstellt — mysti¬

schen Sich-im-Absoluten-Wissen; „dergestalt, daß die Vernunft das Absolute als die ursprüngliche Einheit des Endlichen und des Unendlichen erfaßt, ver-

Literaturberichte und Kritik

278

söhnt sich auf dialektische Weise die Spannung von Wissen und Glauben im Bewußtsein des Absoluten' (222). Wie bei Hegel sind hier genetivus subjectivus und genetivus objectivus in einem mystischen Einerlei; wie schon Hegel springt auch

Ralfs

in seiner Inter¬

pretation ohne Vermittlung in die Vereinigung mit dem Absoluten. Die Ver¬ standesphilosophie beruht nach Hegel, genauso wie „die Religion der neuen Zeit", der „nordische" Protestantismus „letzten Endes, wie Hegel sagt, auf dem Gefühl: ,Gott selbst ist todt'." (256) Gerade an diesem letzten Ausspruch Hegels zeigt sich die Schwäche seiner aporetisch-historischen Hinführung zum absoluten Geist. Der Schluß folgt nicht aus der Interpretation von Fichte, Ralfs

Kant,

Jacobi

und

denn bei keinem wird der Subjektivismus tatsächlich so absolut gesetzt. übergeht diese Schwäche, indem er in eigener Sache noch Jean

Heinrich

Heine

und Friedrich

Nietzsche

Paul,

als Zeugen beruft. Hegel braucht den

Tod Gottes, die Absolutsetzung der Subjektivität durch die Reflexionsphilo¬ sophie, um aus dem mystisch folgenden „spekulativen Charfreitag" die Ver¬ nunft als die „Auferstehung zu der hohem Gestalt des absoluten Geistes" (257) zu feiern, aber er vermag, genausowenig wie vor ihm sein Freund und Vorbild Schelling

(im System des transzendentalen Idealismus), den Übergang zum

Absoluten zu vermitteln. Konsequent endet

Ralfs'

Darstellung mit der aus seinem Glauben an einen

Pantheismus des Geistes geborenen Versicherung: „Aus dem ,Abgrund des Nichts', worin, wie Hegel sagt, ,alles Seyn versinkt', wird so das Selbstbewußt¬ sein des absoluten Geistes entbunden, der sein Wesen gerade in der Vernichtung und durch die Vernichtung bewahrt" (257) Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Bonn)

Antimo Negri: La presenza di Hegel. Ricerche e meditazioni hegeliane. Firenze: La Nuova Italia 1961. IX, 225 S.

Negris

Buch hebt sich polemisch durch seinen theoretischen Ansatz gegen die

rein historische Beschäftigung mit Hegel ab, die für die philosophische Literatur in Italien in nicht geringem Maße maßgebend gewesen ist. Seine Auseinander¬ setzung mit Hegel speist sich aus der „Überzeugung, daß das Bedürfnis der Philosophie, d. h. der ständige Gegensatz vom Wirklichen und Vernünftigen, der aus dem ständigen Veralten des Begriffs der Wirklichkeit gegenüber ent¬ steht, die Grundlegung einer dialektischen Logik keineswegs behindert, sondern diese Grundlegung vielmehr erst vollzieht" (VIII). Wird aber wie bei Hegel die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit in einer ursprünglichen Synthesis vor¬ weggenommen, so verliert die Dialektik ihren Charakter, Aufgabe zu sein; damit

Besprechungen

279

begibt sich die Philosophie, als bloße Einsicht in die „Vernunft der Sache", ihrer Rolle, die Geschichte vorzubereiten, d. h. das Vernünftige ins Wirkliche um¬ zusetzen, statt lediglich das Wirkliche als vernünftig anzuerkennen. Nun wird aber dieses breit angelegte und aktuelle Programm auf zu schmaler Basis entwickelt. Das Buch läßt sich zwar mit Interesse lesen, denn

Negri

ver¬

steht es, aus einer meistens korrekten, vergleichenden Textanalyse die kon¬ trastierenden philosophischen Gestalten

Kants

und Hegels klar herauszuarbei¬

ten; über die Illustration und die Exemplifizierung der Hauptthese, die Hegelsche

Identitätsphilosophie

liquidiere

restlos

das

Bedürfnis

der Philosophie,

scheint aber die theoretische Leistung des Werkes nicht hinauszugehen. Die Parteinahme

Negris

für

Kant,

über deren Motivierung erst das Schlußkapitel

dem etwas erstaunten Leser Aufschluß gibt, bedeutet allzuoft eine unkritische Wiedergabe und Übernahme des Kritizismus, der als Philosophie einer „offenen" Menschheit und Geschichte gefeiert wird. Im Gegensatz dazu steht in der Kon¬ struktion

Negris

die „geheiligte Gegenwart" des Weltsystems Hegels, der in

dieser Weise als Vertreter einer Weltanschauung recht verarmt und vereinfacht erscheint. Weder versucht über

Kant

Negri,

der Hegelschen KANT-Kritik, ja der notwendig

hinausgehenden Problematik des deutschen Idealismus

(Fichte

fällt

ganz unter den Tisch) Rechnung zu tragen; noch wird Hegel auf dem Wege der immanenten Kritik mit sich selbst konfrontiert, sondern unmittelbar und durch ein gewisses Schwarzweiß mit Im ersten Kapitel widerlegt

Kant.

Negri

die Hegelsche Annahme (in Glauben und

Wissen) einer ursprünglichen Subjekt-Objekt-Identität als wahrhafter Grund¬ lage der produktiven Einbildungskraft bei einem zu sich gekommenen

Kant:

die Schematismuslehre, die die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand be¬ stätigt und eine absolut idealistische Auslegung der transzendentalen Deduktion ausschließt, läßt vielmehr auch die Annahme eines intellectus archetypus nicht zu. Ist bei Hegel das Absolute dogmatisch dem „Wissen" vorgegeben, so handelt es sich bei

Kant

um ein Universel ä faire, um eine problematische Aufgabe des

„Glaubens" und der Hoffnung, ja jener Kantischen „moralischen Denkungsart", die

Negri

gegen die Versöhnung mit dem, was ist, in Schutz nehmen möchte.

Wer nicht „die Realisierung der Idee in die Zeit, in eine Zukunft, wo die Idee auch sei" (Enc. § 60) verlegt, muß konsequenterweise nur die Gegenwart (als Produkt der Vergangenheit) erkennen und der Philosophie qua Eule der Minerva jede Rolle in der „praktischen Ausdehnung der Vernunft" entziehen. Die Kritik des „politischen Dogmatismus" Hegels, der in der „apodiktischen Gewißheit, daß sich das ethisch-rechtliche Ideal im geschichtlichen Besonderen verkörpert hat"

(48),

besteht, wird von

Negri

auf der Grundlage einer Analyse

von Vorrede und Einleitung zur Rechtsphilosophie (Kap. II) sowie einer histori¬ schen Rekonstruktion der Hegelschen Ethik von den Jugendschriften an ent¬ wickelt (Kap. III). Hegel wollte nach

Negris

Meinung jene Forderung nach einer

neuen Gesellschaftsform unmöglich machen, die in der RoussEAUschen „Natur", in

Kants

„Reich der Zwecke" und in der „klassenlosen Gesellschaft" MARxens

280

Literaturberichte und Kritik

zum Ausdruck kommt. Das nicht sehr artikulierte Bild eines eindeutig restaurativen Hegels wird von

Negri

auch durch eine undifferenzierte und etwas will¬

kürliche Art des Zitierens aus der marxistischen Hegel-Literatur zurechtgestutzt; neben

dem

Antihegelianer

und

LuKÄcs-Gegner

Mario

Rossi

wird

häufig

Lukäcs

zitiert, dessen Ausarbeitung der Bedeutung der politischen Ökonomie

für Hegels Dialektik und Gesellschaftstheorie allerdings ganz unterschlagen wird. Im vierten und letzten Kapitel wird schließlich der theoretische Bezugspunkt der NEGRischen Auseinandersetzung mit Hegel angegeben: „Dialektik der Liebe" des „Problematizismus" Ugo

Spiritos,

er liegt in

der

dessen Verwandt¬

schaft mit Hegel dort aufhört, wo dieser die „Liebe" der Frankfurter Zeit ver¬ rät, um — übrigens wie das Christentum — zu einer Versöhnung der Dialektik mit der bestehenden Welt zu kommen. „Gegenüber dem Christentum als der auf dem Urteilen [Urteil als Gegensatz zu Liebe, F. C.] gründenden Kultur resp. gegenüber den Philosophien, die sich nicht franziskanisch als historisch provisorische Lösungen erkennen, steht die prägnante Auffassung der Welt als Liebe, der Problematizismus als Spannung zum Begriff und nicht der Begriff, oder der Omnizentrismus, der immer bereit ist, die zentrale Stellung des Ichs zu entheiligen, indem das Zentrum wieder an die Peripherie verlegt wird und das Ganze vor der demokratischen Dimension des Teils zurückweicht" (190). In der kulturkritischen Perspektive eines permanenten Problemdenkens, das den „intellektualistischen Abgrund" Gentile -

(209) - anders

zu vermeiden weiß, wird Ugo

Spiritos

als Hegel,

„Rückkehr zu

Marx Kant"

und nicht

ohne apologetische Töne dargestellt; deren Diskussion gehört aber nicht in den Rahmen dieser Rezension. Furio Cerutti (Frankfurt/M.)

Walter Kaufmann:

Hegel.

Reinterpretation,

Texts

and

Commentary.

New York: Doubleday 1965. 499 S.

Das Buch versteht sich als eine „umfassende Neuinterpretation ... des ganzen Phänomens Hegel

(9), worin sich schon eine Distanzierung von der Deutung

Hegels als Theoretikers anzeigt. In der Ausführung verbindet sich Biographie, vornehmlich für die frühen Jahre, mit Glossierung der Werke unter Betonung der Realien und mehr oder weniger äußerlicher Züge, aber auch Hervorhebung wichtiger geistiger Einflüsse. Im Unterschied zu „gelehrten" Untersuchungen wie denen von

Haering

und

Glöckner - Kroner

Rande, während die Zustimmung zu

Haym

steht typischerweise ganz am

nicht überrascht - konzentriert

K. solche Einflüsse für die frühe Zeit auf einige eingängige Schwerpunkte: Goethes

Iphigenie (Bruder-Schwester-Verhältnis, Antigone, Sittlichkeit),

Schil-

Besprechungen

lers

Ästhetische Erziehung des Menschen

281

(Sinnlichkeit und Vernunft, Ent¬

wicklungsstadien des Menschen, Gestaltbegriff, „Aufhebung", „Unendliches", „Geist"), Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (Vermittlung von Religion und Spekulation). Die Klippe für eine Behandlung der Ersten Druckschriften (Kap. II), über bloße Motive hinaus theoretische Konzeptionen der Vorgänger und Hegels selbst ausbreiten zu müssen, wird elegant umschifft durch Betonung von Realien und persönlichen Nachrichten. Aber auch bei Ausklammerung des strengeren Details etwa bei

Fichte

und

Schelling

würde man sich für die Differenzschrift

ein Eingehen auf die dort thematische Begründungsabsicht der Philosophie wün¬ schen. Dazu kommt es nicht. Die Rüge etwa, daß Hegel in unglücklicher Wort¬ wahl „notwendig" als Gegenbegriff zu „willkürlich" verwende, wie wenn alles, wofür sich gute Gründe geben ließen, notwendig wäre (85), läßt ein Verständnis und eine entsprechende Orientierung des Lesers bezüglich der Spielregeln des Theorievorhabens Hegels vermissen. Wie ist das Apriorische gefaßt, auf daß Hegel so sprechen konnte? Zumindest literarisch instruktiver sind K.s Aus¬ führungen zum Skeptizismus-Aufsatz und seinem Verhältnis zum „Vorbegriff" der Enzyklopädie (92—95). Hier wie auch bei Glauben und Wissen und beim Naturrecht-Aufsatz besticht die Glätte der Darstellung, die große Kunst und Kenntnis verrät, aber ihr entspricht leider eine Bevorzugung des Glatten bei Hegel. So versteht sich auch die so häufige stilistische und literarische Kritik an Hegel (z. B. 100 f, 117 ff, wo sogar der Vorwurf angedeutet wird, daß bei ihm ein berechnender Entschluß zu schlechtem Schreiben vorlag). Für die Betrachtung der Phänomenologie des Geistes wird vorher

Fichte

ein¬

geschaltet, aber nicht nach seinem subjektiv-dialektischen Standpunkt näher analysiert, sondern durch Nachrichten aus seinem Leben und Zeugnissen bekannt gemacht. Es versteht sich nach dem Interesse am „Phänomen" Hegel, daß K. vor allem für die Phänomenologie optiert, gleichsam als frischestem und biographisch auf einem interessanten Hintergrund

(Napoleon,

Frau

Burkhardt)

zu

zeich¬

nendem Werk. Erwartet man, daß die Analyse nun beginne, so findet sich ein Schusterfleck, ein Einschub über das typisch Griechische und das typisch Deut¬ sche, allgemein und in der Philosophie (131 f). Das Urteil über das Werk lautet dann: „The basic idea of the Phenomenology of Spirit is that a philosopher should not confine himself to views that have been held but penetrate behind these to the human reality they reflect." (133) Die Parallelen zu die u. a. auch schon J.

Royce

und neuerdings E.

Bloch

Goethes

Faust,

bemüht hatten, wie die

zur Odyssee und zu Wilhelm Meister, tauchen auf, und die suggestiveren „Ge¬ stalten" des Werkes werden kraftvoll vorgeführt. Im Ganzen ist die Würdigung, darin

Bloch

ähnlich, eine, die das Animiertsein durch das literarisch Spontane

und Einmalige auf den Leser überspringen lassen möchte. Wir erhalten weiter einige terminologische Erläuterungen, die leicht den Klang von Klagen haben. Verständlich danach, daß die Dialektik im letzten Abschnitt des Kapitels nicht eigentlich behandelt wird; es heißt negativ, sie sei kein mechanischer Formalis-

282

Literaturberichte und Kritik

mus (168). Die schöne Einleitung bleibt ungenutzt. Hegel verlange zwar von der Philosophie eine bestimmte Methode und äußere sich mitunter so, als ob er eine solche besäße, er besitze sie aber nicht (172). Stattdessen gebe er uns „a Vision of the World, of man, and of history, which emphasizes development through conflict, the moving power of human passions, which produce wholly unintended results, and the irony of sudden reversals" (174). Theorie ist also zu „Vision" geworden, mit Überraschungen. Die Methode, die ja eigentlich schon geleugnet ist, sei nicht wissenschaftlich, was sich darin zeige, daß Hegel mit ihr niemals etwas habe Vorhersagen wollen (!). Bei solcher Sicht hat ein differenzierterer Gedanke, was Methode bei Hegel ist, wenn nichts vorhergesagt, vielmehr Transzendentalphilosophie oder Vorbereitung zu spekulativer Ontologie gegeben werden soll, keinen Platz. K. bagatellisiert die Methode (in der Phäno¬ menologie und auch später), indem er als verfehlte Alternative

McTaggart

mit seiner natürlich anfechtbaren, bloß morphologisch-formalistischen Deutung heranzieht. Er übertrifft im Abschwächen der Dialektik J. N.

Findlay,

den er

für seine Flexibilität zwar lobt, aber als nicht entschieden genug angreift. Die Logik, das Thema von Kap. IV, hat weniger Interesse für den Autor. Nach einer biographischen Anbahnung folgen Bemerkungen zur Terminologie; auch das „Reich der Schatten" darf nicht fehlen. Dagegen hören wir nichts von der Konzeption einer objektiven Transzendentalphilosophie als Fazit aus dem

Fich-

TEschen subjektiven und dem ScHELLiNGschen objektiven, aber irrationalen An¬ satz, wie

Kroner

sie feinsinnig aufzeigt. Stattdessen werden Kuriosa aus¬

gebreitet, die den Leser geradezu zu einem Gefühl der Überlegenheit einladen. Die Unterschätzung der Dialektik als Form der Philosophie zeigt sich hier darin, daß Hegels Charakterisierung der vorweg gegebenen Einteilung der Logik als äußerlich und vorläufig so gewendet wird, als ob daraus hervorginge, daß die Logik nicht architektonisch gegliedert, die Methode also nicht konstitutiv wäre. Allerdings gibt K. dann doch die Einteilung. Er gesteht zu, daß die Logik, wenn auch nicht eine Progression im Sinne von

McTaggart, so

doch eine um¬

fassende Kategorialanalyse sei (198). Hier wenigstens wird das Desiderat spür¬ bar, daß der Leser erführe, was es mit Kategorien und einer Theorie der Kate¬ gorien auf sich hat. Das Urteil über die Logik lautet dagegen lediglich

ohne

Berücksichtigung der Begründungsabsicht: „ . . . [Hegel's] central purpose in the Logic is to demonstrate the inadequacy, the one-sidedness, the abstractness of our categories. Some are more abstract than others; hence some sort of sequentlal arrangement is possible [!]; but this is not the main thesis of the book" (198). Verbirgt sich nicht in der linearen Abfolge ein Wesentliches, die Absicht auf Begründung? Anzuerkennen ist, daß K.

Hegel

nicht beschuldigt, den Wider¬

spruch zu bejahen, sondern sieht, daß er ihn vermeiden will (212 f). Überhaupt herrscht beim Autor die Neigung vor, die Logik zu verteidigen; jedenfalls wird ihr „relevance" vindiziert (214) und ihre Nüchternheit

Heidegger

gegenüber ge¬

lobt. Die Behandlung ihres Inhalts erschöpft sich allerdings schnell im Durch¬ gehen der Liste ihrer Rubriken.

Besprechungen

283

Ein weiteres Kapitel (V) befaßt sich mit der Enzyklopädie. Nach biographi¬ schen Ausführungen bringt K. eine Skizze zur Disposition des Systems. Er sieht nur den (bei

McTaggart

doch gerade kritisierten) morphologischen Aspekt,

das Plätze-Finden für die einzelnen philosophischen Themen, und spricht von einem

„sensible

arrangement"

(245);

die

transzendentale

oder

spekulative

Theorie jedoch bleibt unartikuliert. Der Inhalt wird weitgehend ausgespart: „There is no need to go through the System" (253), aber man möchte doch z. B. über die Konzeption des objektiven Geistes mehr erfahren, als hier geboten wird (268—73). Nur über Hegels Gedanken zur Geschichte, entsprechend der traditionellen Bevorzugung dieser Seite an ihm, äußert sich K. ausführlicher (Kap. VI). Angenehm berührt die eine oder andere Richtigstellung (etwa der These, daß für Hegel Preußen der Gipfel der Geschichte sei) oder die Verteidi¬ gung des dictums vom Wirklichen, das auch vernünftig ist, wenn auch die Aus¬ legung matt bleibt. Man vermißt schließlich eine Erörterung der Problematik, inwiefern Geschichte an das System angeschlossen, ja ihr in ihm ein Platz an¬ gewiesen werden kann. So wird auch dem Traditionalismus der Rechtsphilo¬ sophie unbefangen die Geschichtsphilosophie entgegenstellt, wo Hegel Raum gehabt habe, dem Wechsel des Bestehenden und damit seinem Sinn für Tragik gerecht zu werden (271 f). Wird die Doppeldeutigkeit im Sinne von Traditionalis¬ mus und Fortschritt oder Wechsel bei Hegel auf diese Weise nicht erst recht zum Problem? Es folgen noch Ausführungen zu den Vorlesungszyklen, zur Religionsphilo¬ sophie und Philosophiegeschichte, kaum zur Ästhetik. Weiter findet sich Ge¬ legenheit, auf Hegels Wirkungen zu verweisen (die Ausbildung der Geistes¬ wissenschaften, Marxismus,

Sartre,

Kierkegaard,

einer etwas unmotivierten Gegenüberstellung mit

286—90). Nach

Schelling Nietzsche

schließen sich in

einem letzten Abschnitt einige Urteile über Hegel an. Hier fehlen moderne, strenge Stellungnahmen. Das Urteil des Autors selbst ist: „ ... Hegel was one of the few philosophers who in several of his books offered us a Vision of the world, worked out in considerable detail" (296). Für den amerikanischen Leser sind zwei angehängte Kapitel (VII und VIII) wichtig: eine Auswahl von Dokumenten zu Hegel und eine Übersetzung der Phänomenologie-Vorrede und des Aufsatzes „Wer denkt abstrakt?'', erstere mit Kommentar. Vorbildlich ist die Bibliographie, nicht so sehr vielleicht für die Sekundärliteratur, wohl aber für die Ausgaben und englischen Übersetzungen. K. betont die gebesserte Editionssituation, wobei er den Begriff der kritischen Ausgabe etwas unkritisch verwendet, so von der Enzyklopädie-Ausgabe (durch F.

Nicolin

und O.

Pöggeler,

1959), die die Herausgeber selbst als Studien¬

ausgabe bezeichnen (vgl. XLIX, LI f). Es fällt auf, wie sehr K. die „Zusätze" und Einarbeitungen der Hegel-Schüler in früheren Texten abwertet (229 ff). Es gefällt die Strenge gegenüber vorhandenen englischen Übersetzungen Wallace,

G. E.

Mueller)

und das eigne gute Beispiel in Kap. VIII.

(z. B.

284

Literaturberichte und Kritik

Das Buch ist ein Buch zur Bekanntmachung mit Hegel, in einem Zuge durch¬ zulesen (16), kein Fachbuch, keine philosophische Behandlung Hegels. Wenn der Autor beabsichtigt, „to help those who want to read Hegel" (177), und also nicht selbst eine (vorgreifende?) Analyse der Philosophie Hegels geben möch¬ te, so fragt sich, ob für dies bescheidnere Ziel eine Orientierung am Bio¬ graphischen, an Realien, vor allem aber an „Ansichten" des Menschen Hegel wesentlich ist. Das ist es eigentlich, was K. bietet: indem er das „Phänomen" Hegel neu interpretieren will, gibt er Ansichten, einmalige, suggestive, intelli¬ gente, staunenswerte, auch heute interessierende Ansichten, aber damit erscheint Hegels Ph'losophie auf den Menschen Hegel gestützt, auf eine Irrationalität. Die Interpretation ist darin „umfassend", dal? sie nicht festgelegt ist auf einen angeblichen Existenzialismus Hegels oder

J. Wahl

(wie dies G. E.

Mueller,

}.

Hyppolite

unterstellt werden kann) — die Ansichten, die „vision", ist uni¬

versell —, aber sie erreicht damit noch nicht Hegels Philosophie. Das Buch füllt sicherlich für den amerikanischen Leser eine Lücke, gibt ihm auf kunstvoll mühelose Weise das Portrait einer Weitsicht und dazu auch eine geistesgeschicht¬ liche Darstellung und eine Aufarbeitung vieler beiherspielender Einzelheiten, wie es der deutschsprachige Leser auf „gelehrtere" Weise bei den schon genannten Autoren, und auch bei

Dilthey, Rosenzweig, Hoffmeister, Lukäcs

und ande¬

ren findet. Zusammen mit den Anhängen ist es in seinem Genre geradezu autark, scheint alles Wichtige zu enthalten; auch eine Gefahr, wenn man an seine Verwendung an den Universitäten denkt. Dieser eher geschlossene als zu Weiterem animierende Charakter hätte sein Gutes, wenn das Buch im Sinne einer „umfassenden Neuinterpretation" auch der Hegelschen philosophischen Theorie gerecht würde, jedenfalls ein Verständnis dafür anbahnte. Es findet sich aber doch recht wenig in dieser Richtung, und sicherlich nicht genug, um einen englischsprachigen Ersatz für

Kroners

Buch kann sich wohl auch nicht mit

großes Werk darzustellen. Das

Findlays

philosophisch aufschließender

„Überprüfung" messen, so sehr auch diese die Theorie abschwächt; dazu ver¬ bleibt K. zu sehr im vorderhand Interessanten. Wir glauben, gestützt auf eigne Erfahrungen, daß hier der amerikanische Student unterschätzt wird. Einläßlichkeit und Strenge in der Behandlung Hegels träfen nicht mehr nur auf Ab¬ lehnung, sondern hätten gerade auch pädagogisch als Provokation Erfolg. Ameri¬ kanischen Lesern kann sicherlich mehr Theorie zugemutet werden. Klaus Hartmann (Bonn)

Besprechungen

285

Karl Rosenkranz: Vita di Hegel. Traduzione, introduzione e note a cura di Remo Bodei. Florenz: Vallecchi 1966, XXVIII, 460 S.

Remo

Bodei,

der die Anmerkungen und die italienische Übersetzung des Buches

besorgt hat, begründet in seiner Einleitung (XXIII-XXVIII) die Veröffentlichung dieses Buches in italienischer Sprache damit, daß das Werk von

Rosenkranz

uns eine einheitliche und schrittweise Darstellung der philosophischen Entwick¬ lung Hegels biete und deshalb dazu beitragen könne, dem stereotypen und ein¬ seitigen Interesse der italienischen Hegel-Forschung für den jungen Hegel und für das Verhältnis Hegel —

Marx

Theologen oder als Vorgänger von

entgegenzuwirken und Hegel nicht nur als

Marx,

sondern als einheitlichen und systema¬

tischen Denker in den Blickpunkt zu rücken. Die italienische Übersetzung des Buches käme auch dem wachsenden Interesse für die Hegel-Schule als solche ent¬ gegen. In seiner Einleitung (XV—XX) entwirft nen Abriß der Stellung von philosophisch gilt ihm Althegelianern

und

Rosenkranz

dem

Bodei

Rosenkranz

späteren,

auch einen kurzen und gediege¬

innerhalb der Hegelschen Schule:

als Vermittler zwischen den orthodoxen durch

Kant

und

Herbart

beeinflußten

Hegelianismus; politisch als Vertreter eines juste milieu zwischen dem politi¬ schen Radikalismus der Junghegelianer und der Annäherung der Rechtshege¬ lianer an die politische Romantik. Trotz seines Alters komme dem Werk von

Rosenkranz

ein bleibender Wert

zu, und zwar wegen des umfangreichen, inzwischen zum Teil verlorengegangenen Materials, das ihm zur Verfügung stand und wegen seines Bestrebens, ein ein¬ heitliches Bild der gesamten philosophischen Entwicklung Hegels zu geben. Die falsche Datierung und Zuordnung einiger Schriften versucht

Bodei

durch berich¬

tigende Anmerkungen zu korrigieren und die unvermeidlichen Ungenauigkeiten in der Lektüre der damals noch nicht veröffentlichten und bearbeiteten Hand¬ schriften Hegels dadurch zu beseitigen, daß er in der Übersetzung, wo immer möglich, spätere Ausgaben der verschiedenen Schriften oder Dokumente heran¬ zieht und in seinen Anmerkungen auf Urkunden, die

Rosenkranz

Rosenkranz'

Varianten hinweist. Die

in den Anhang seines Buches stellt, sind aus sehr

begründeten philologischen Überlegungen in die italienische Ausgabe nicht mit aufgenommen worden. Aus dem Personenregister der Briefe von und an Hegel, Bd 4., aus der sonstigen Hegel-Literatur und aus der Allgemeinen Deutschen Biographie hat

Bodei

einen guten Apparat von Fußnoten zusammengestellt, die

kurze biographische Angaben über die verschiedenen, im Buch genannten Per¬ sonen enthalten.

Bodeis

Einleitung und seine fleißige Arbeit an den Anmerkun¬

gen kommen dem Leser recht gut zu Hilfe. Die italienische Übersetzung ist im ganzen flüssig und gut lesbar; dennoch können wir nicht umhin, einige Bedenken vorzubringen. Eine größere Einheit¬ lichkeit in der Übersetzung der Hegelschen termini technici wäre sehr angebracht gewesen: so wird beispielsweise „Dasein" mit „essere determinato", „esistenza"

286

Literaturberichte und Kritik

und „esserci", „Darstellung" mit „presentazione", „rappresentazione" und „esposizione" wiedergegeben; Fremdwörter lateinischen Ursprungs wie „imponieren", „explizieren", „koordinieren", „Symbolum", „Studium", „Literatur", „Maliziosität" usw. werden allzu oft mit den italienischen Äquivalenten lateinischen Ursprungs wiedergegeben, die aber auf Italienisch eine andere Bedeutung haben; einige deutsche Redewendungen, beispielsweise „über Nacht" oder „so sehr . . . so sehr", werden auf Italienisch (S. 22, Zeile 22 und S. 45, Z. 29-35) einfach wörtlich übernommen; für die von

Rosenkranz

zitierten Hegelschen Passagen

werden frühere italienische Übersetzungen benutzt, die aber nicht immer sorg¬ fältig überprüft werden: das gilt zum Beispiel für die Übersetzung der Ver¬ fassung Deutschlands von A.

Plebe

auf S. 262, Z. 6—8 und Z. 34—35; sehr un¬

glücklich ist die Übersetzung des Systemfragments

(115—119); hier und da

kommen auch sehr grobe Mißverständnisse vor: auf S. 13, Z. 29 und 31 werden „Vorgänge" mit „Vorgänger" und „Viele" mit „Vieles", auf S. 231, Z. 3-4 „genähert" mit „genährt." verwechselt. Carlo Ascheri (Heidelberg)

Franz Wiedmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1965. 170 S. (rowohlts monographien. 110.)

Wenn in der verdienstvollen Monographienreihe des RowoHLTverlages ein Bändchen über Hegel erscheint, so greift man mit einiger Spannung danach. Man wird zwar keine erschöpfende Biographie erwarten, aber doch zumindest eine Darstellung auf der Höhe der heutigen Hegelforschung. Die Lektüre belehrt eines anderen. Auf Schritt und Tritt begegnet der Hegelkenner Formulierungen (zitiert oder nicht zitiert), die altvertraut klingen. Eine fast ständige Anlehnung an K.

Fischers

Hegelbiographie ist unverkennbar; es ist darauf an anderer

Stelle schon nachdrücklich hingewiesen worden (vgl. F.

Rodi

in: Philosophischer

Literaturanzeiger. Bd 19. 241). Genauer gesagt, benutzte Verf. die erste Auflage des Werkes, denn der wichtige von Hugo

Falkenheim

und Georg

Lasson

er¬

stellte Anhang zur zweiten Auflage (Bd 2. 1196-1255) bleibt unberücksichtigt, soweit er nicht in den HoFFMEisrERschen Editionen (Dokumente, Briefwechsel) verwertet ist. Die Abhängigkeit von der Vorlage zeigt sich nicht nur im Eigen¬ text

Wiedmanns,

sondern auch in den verwendeten Texten, Dokumenten und

Briefstellen. Nur vereinzelt wird Material aus neueren Veröffentlichungen (vor¬ wiegend Anmerkungen

Hoffmeisters

in der Briefausgabe) herangezogen. Daß

in jüngster Zeit z. B. eine recht ausführliche Dokumentation zu Hegels „amtlichberuflicher Tätigkeit" in Heidelberg erschienen ist (Hegel-Studien Bd 2/1963,

Besprechungen

287

73.-98), davon nimmt der Verfasser keinerlei Notiz. Hier wäre er dann auch auf eine weniger bekannte, reizvolle biographische Einzelheit gestoßen: die ma߬ gebliche Beteiligung Hegels an der Ehrenpromotion

Jean Pauls

in Heidelberg.

Dieser Hinweis ist durchaus berechtigt, da biographische Details keineswegs etwa aus Raumgründen unterdrückt werden. Man betrachte nur die ausführliche Dar¬ stellung der letzten zufälligen Begegnung Hegels mit

Schelling

1829 (nicht

„im letzten Lebensjahr" wie es S. 108 heißt). Unwillkürlich kommt man hier auf die grundsätzlichere Frage nach den Proportionen in der vorgelegten Hegel¬ darstellung. Ist es vertretbar, der vorgenannten Einzelheit eine ganze Seite ein¬ zuräumen, während z. B. die Bamberger Tätigkeit Hegels mit weniger als zwan¬ zig Zeilen abgetan wird? Bei näherer Betrachtung der ganzen Darstellung fällt die Oberflächlichkeit, verschiedentlich sogar die Fehlerhaftigkeit auf. So heißt es — wir greifen ein beliebiges Beispiel heraus - im ersten Kapitel (10) über das Tagebuch des jungen Hegel: „Die Einträge sind unsystematisch und berichten vorwiegend über Ereignisse und Fortschritte in der Schule, von seiner Lektüre, bei welcher, ähnlich wie

Jean Paul,

die ,Exzerpiermethode' gepflegt wurde. So finden sich

neben einem Abschnitt ,Über das Exzerpieren' längere Auszüge aus ,Kurzem Begriff der Gelehrsamkeit', aus gemeinen Weltgeschichte', aus

Feders

J.

M.

Schröckhs

Sulzers

,Lehrbuch der all¬

,Neuem Emil', . . ." In diesem kurzen

Abschnitt finden sich mehrere offensichtliche Unrichtigkeiten. Zunächst ist fest¬ zustellen, daß Verf. die Wörter „exzerpieren" und „exzipieren" verwechselt. Ein kurzer Blick in die Ausarbeitung des jungen Hegel — um eine solche handelt es sich und nicht um einen Auszug aus einem anderen Werk — hätte den Irrtum deutlich gemacht, denn es heißt bei Hegel im ersten Satz: „ . . . Exzipieren, d. i. Niederschreibung eines Themas in einer anderen Sprache, als das Thema ab¬ gefaßt ist . . ." (Dokumente. 31). Weiterhin stimmt nicht, daß Auszüge aus Schröckhs

Lehrbuch vorhanden sind; im Tagebuch erfahren wir nur vom eif¬

rigen Studium dieses Buches. — Oder: Daß Hegels Habilitationsschrift (1801) „im wesentlichen aus einer Kritik an der KEPLER-NEWTONSchen Methode der Naturwissenschaften" (29) bestehe, entspricht nicht den Tatsachen. In Wirklich¬ keit vertritt Hegel weitgehend die Position

Keplers

gegen

Newton.

Die mangelnde Nähe zur Sache tritt nicht nur im Biographischen zutage, son¬ dern auch da, wo der Verfasser einen Einblick in die Hauptwerke Hegels geben will. Das, was der Leser etwa von der Phänomenologie, der Logik oder der Heidelberger Enzyklopädie erfährt, ist sehr dürftig, betrifft zumeist nur Äußer¬ lichkeiten. Am Schluß des Bändchens eine freudige Überraschung: Die von Helmut

Riege

besorgte Bibliographie (149—164) bietet einen guten Überblick über die ver¬ schiedenen Hegelausgaben und einen sehr brauchbaren Querschnitt durch die Hegelliteratur. Zu der RowoHLTSchen Reihe gehören wesentlich die Bilddokumente. Auch in dieser Hinsicht kann das Hegelbändchen keine uneingeschränkte Zustimmung

Literaturberichte und Kritik

288

finden. Die Auswahl der Portraits erscheint nicht immer sinnvoll. Personen wie F. W.

Riemer

und August

von Goethe,

deren Beziehung zu Hegel unbedeutend

war, erscheinen, während ein langjähriger Weggefährte wie H. E. G. fehlt. Für die Heidelberger Zeit wird ein Bild des Baron

Uxkull

Paulus

eingerückt. Dies

sei zugestanden, weil wir diesem Mann einen hübschen Bericht über Besuche bei Hegel verdanken; aber es ist unverständlich, daß Männer wie Creuzer

einfach unterschlagen werden. Auch

Jean Paul

Daub

und

dürfte erscheinen. Es

waltet hier bei der Bildauswahl ein Mißverhältnis, wie es auch im Textteil immer wieder begegnet. Um der Sache willen sind die bezeichneten Mängel, die sich leicht hätten ver¬ meiden lassen, recht bedauerlich, zumal diese Veröffentlichung einen größeren Leserkreis erreichen wird, als es sonst bei Hegelpublikationen der Fall ist. Günther Nicolin (Bonn)

DIFFERENZEN

Bemerkungen zu einem Buch von Helmut Girndt Aneignung der Hegelschen Philosophie bedeutet heute nicht Anhängerschaft, Hegel-Studien sind keine Bekenntnisse zu Hegel mehr, die lange genug verdeckt haben, wie wenig wir eigentlich von Hegels Denken wissen. Die Geschichte der Hegel-Rezeption, die wie keine andere alle Stadien möglicher Wirkung einer Philosophie durchlaufen hat, ist in eine Phase bescheidener Distanz eingetreten, die nur in Sachfragen anspruchsvoll ist. Zugleich beginnen nun diejenigen, die im Schatten Hegels gestanden haben und nur als Vorläufer interessant waren, im Lichte ihrer eigenen Einsichten zu erscheinen. Eine Studie, die einer Ver¬ gegenwärtigung von

Fichtes

weist, ist soeben von Dieter I. — Helmut

Girndt

Denken in konkreter Problemanalyse den Weg

Henrich

vorgelegt worden 1.

geht in seiner Arbeit mit dem vielversprechenden Titel:

Differenz des Fichteschen und Hegelschen Systems der Philosopie (Bonn: Bouvier 1965. XIX, 165 S.) von dem Bedürfnis aus, das Bild von den sich jeweils über¬ bietenden Systemen — von

Kant

bis zu Hegel — zu revidieren; er wird wenige

finden, die dieses Bedürfnis nicht mit ihm teilen. G. sieht mit Recht in Hegel den Inaugurator dieses Schemas; in der Diffe¬ renzschrift möchte er es an der Wurzel treffen (X). Diese erste Jenaer Druck-

1 D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. In: Subjektivität und Metaphysik. Fest¬ schrift für Wolfgang Cramer. Frankfurt 1966. Auch selbständig: Frankfurt 1967. (Wissenschaft und Gegenwart. Heft 34.)

Besprechungen

289

schrift Hegels erscheint ihm vor allem als Programm bedeutsam, — so sehr, daß er glaubt, die Hegel-Kritik könne sich auf diese eine Schrift beschränken. Er wid¬ met dieser Absicht eine seitenlange Rechtfertigung, um dann festzustellen, daß es ihrer nicht bedürfe (XVII). Von einer Interpretation, die sich zielbewußt auf die „isolierte Einzeluntersuchung eines Werkes außerhalb des Gesamtwerkes" (XVI) beschränkt, sollte man Konsequenz erwarten dürfen. Es wäre sogar ein Gewinn für die Hegel-Forschung, wenn das spekulative Prinzip Hegels einmal ohne An¬ leihen aus der reifen Zeit des Systems erörtert würde. Leider legt es sich G. aber unter dem Stichwort „dialektisch" zurecht (79, 85, 88, 100), das man in der Differenzschrift vergeblich suchen wird und das zu den in der Hegel-Literatur üblichen Interpretationshilfen gehört, die mehr Verständnis suggerieren als sie vermitteln. Um es gleich vorweg zu sagen: Hegel als Kritiker, wie er sich mit dieser Schrift den Zeitgenossen vorstellte, erscheint bei aller Berufung auf die absolute Idee der Philosophie tolerant im Vergleich zu der rigorosen Parteilich¬ keit, mit der bei G. die Aufgabe der Kritik gefaßt wird; zum Schaden des The¬ mas, zu Gunsten einer antiquierten Polemik, die Kajetan

Weiller

und das

Münchner Lyceum, den Kampf gegen „die Herren Schelling, Hegel und Com¬ pagnie" ins Gedächtnis ruft Bergs

(s.

das Literaturverzeichnis zu

Schelling,

das mit

Sextus oder über die absolute Erkenntnis 1804 beginnt und im selben

Jahr mit

Weillers

Geist der allerneuesten Philosophie endet; zum letzteren ist

angemerkt, es sei die „gründlichste und der vorliegenden Arbeit am nächsten kommende Kritik an Schelling/Hegel", 165). G. ist überzeugt, daß kritische Interpretation ohne eigenen absoluten Stand¬ punkt nicht möglich ist. Er entwickelt deshalb gleich im ersten Kapitel eine ab¬ solute „Wesensbestimmung" der Philosophie, bei der aus dem „Ganzen der Wirklichkeit", dem Gegenstand der Philosophie (1), das Wirkliche eliminiert wird. Es soll nämlich darunter nicht verstanden werden „die Gesamtheit des Erkennbaren als Korrelation aller empirisch festgestellten Daten, ebensowenig Korrelation aller induktiv begründeten einzelwissenschaftlichen Hypothesen, son¬ dern die allem Wirklichen gemeinsamen konstitutiven Seins- und Erkenntnis¬ momente in ihrer Einheit". Diese sollen „durch Analyse des sich selbst wissen¬ den Wissens als dem methodischen Grundprinzip der Philosophie" entfaltet werden. Da aber „die Philosophie ihr methodisches Grundprinzip, das Bewußt¬ sein, nicht als schlechthin absoluten Grund ausweisen kann, begründet sie [also doch!] die Gesamtwirklichkeit in einem dem Bewußtsein transzendenten Grund, der selbst nicht mehr in die vergegenständlichenden Strukturen des Be¬ wußtseins eingeht." (1) Es ist kaum anzunehmen, daß

Fichte

diesen Extrakt

seiner Wissenschaftslehren als absolute Wesensbestimmung der Philosophie an¬ erkannt hätte; — aber G. schreibt sie ja auch nicht

Fichte zu,

sie ist so unhisto¬

risch, wie sie absolut ist. II. — In seiner historischen Einleitung (VII ff) und im Kapitel 10 bestreitet G. Hegel die Originalität seiner FiCHTE-Kritik und unterstellt, daß Hegel, gerade weil er

sich

von Reinhold

und

Bardili

darin abhängig gefühlt habe, seine Ab-

Literaturberichte und Kritik

290

hängigkeit nicht bewußt verschleiern, aber doch durch seine abschätzigen Be¬ merkungen jeden Verdacht zerstreuen wollte, er sei von diesen beiden beein¬ flußt 2. Deshalb sei Hegel gleichsam aus Gründen der Eitelkeit gezwungen ge¬ wesen, entweder sich mit

Reinhold

auf einen gemeinsamen Boden zu stellen

oder diesen der Subjektivität zu „bezichtigen" (IX). G. zitiert als Beleg dafür u. a. J. E.

Erdmann3.

Bei

mik Hegels und Bardili

Erdmann

Schellings,

findet sich auch der Hinweis, daß weder die Pole¬ noch die Verachtung, mit der sie

Reinhold

und

behandelten, gegen die Annahme eines Einflusses streite. G. wendet

diesen Hinweis ins Positive und sagt, daß beides dafür spreche. Eine Verwandt¬ schaft in gewissen Punkten mag man zugeben, und das Beharren

Bardilis

auf

der entscheidenden Rolle einer Umformung der Logik für das Schicksal der Metaphysik — daß an die Stelle der Logik die Dialektik treten müsse, die Logik und Metaphysik zugleich sei, oder daß die Logik zur Ontologie werde, wie Bardili

1804 im Briefwechsel mit

Reinhold

forderte — wäre gewiß einer Unter¬

suchung wert 4. Aber die Art, wie G. dieses Thema einleitend darstellt und wie er es im letzten Teil seiner Arbeit mit scharfer Polemik 5 wieder aufnimmt, ver¬ rät bei aller Detailforschung wenig Verständnis für die Situation, in der Hegel sich mit seiner Erstlingsschrift befand; G. ignoriert z. B., daß Hegel sich schon in der Frankfurter Zeit die Grundzüge seiner FiCHTE-Kritik erarbeitet hatte 6. G. erregt sich vor allem an dem Hegelschen Satz,

Reinhold

scheine nicht

geahnt zu haben, daß seit Jahr und Tag eine andere Philosophie vor dem Publi¬ kum liege als reiner transzendentaler Idealismus im Sinne sage

Reinhold

doch: „das Absolute ist bei

Schelling

Fichtes

(2); — dabei

inwiefern nicht bloße

Subjektivität, bloße Objektivität". G. belehrt Hegel, daß dies ,inwieferiT „rein grammatikalisch" eine Einschränkung bedeute, die Identität nicht ausschließe.

2 Neben Bardili und Reinhold findet G. auch für Hegels „dialektische Methode" und für seine „Geschichtsmetaphysik" Originale von entscheidendem Einfluß, nämlich Ben¬ jamin Carl Hoyer und August Ludwig Hülsen, so daß Hegel kaum etwas Eigenes bleibt. Liest man das lange Zitat aus Hoyers Schrift über Philosophische Construction, das G. (67 f., Anm. 20) abdruckt, so fällt auf, daß Hoyer gerade da sich mit Fichte identifiziert, wo Hegels Kritik einsetzt, nämlich im Begriff des unendlichen Progres¬ ses. Was den Hinweis auf Hülsens Prüfung der von der Akademie etc. v. 1796 angeht, den G. im Anschluß an R. Haym und W. Flitner gibt, so sind deren vorsichtige Ur¬ teile, die G. (159, 156) zitiert, sicher berechtigt. Um der seit 1870 bekannten Sache Neuheit zu geben (er verdanke sie einem Hinweis v. Prof. R. Lauth), meint er, man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, Hegel habe in der Differenzschrift Hülsens Geschichtsauffassung als die seine übernommen. 3 7. E. Erdmann: Die Entwicklung der Spekulation seit Kant. Leipzig 1848. Bd 1. 487. 4 Vgl. ebd. 481. 5 Vgl. dazu den Stil der zeitgenössischen Rezensionen zur Differenzschrift; zu den von G. (165) genannten wäre noch die folg, hinzuzufügen: Gotting. Gelehrte Anzeigen, Stück 49 vom 22. 3. 1802. 481 ff. 0 Vgl. Hegels theologische lugendschriften. Hrsg. v. H. Nohl. Tübingen 1907. 348, 351.

Besprechungen

291

und er formuliert zum besseren Verständnis: „Das Absolute ist Identität von Subjekt und Objekt; reflektiere ich durch philosophische Abstraktion lediglich auf den objektiven Charakter des Absoluten, so ist es — eben zufolge der philo¬ sophischen Abstraktion — inwiefern nicht (bloße) Subjektivität, (bloße) Objekti¬ vität." (112) Sieht man davon ab, daß G. in der Erläuterung schon ein Zugeständnis an seine bessere Einsicht macht und das REiNHOLDsche „bloß" in Klammern setzt, so ist doch nicht zu bestreiten, daß

Schellings

Differenz zu

gerade auf

Fichte

seiner Grundthese erwächst, daß die fundierende Entgegensetzung nicht Sub¬ jektivität und Objektivität, sondern Subjekt-Objekt und Subjekt-Objekt, eine viergliedrige Relation ist und so erst Intelligenz und Natur in ihrer Identität und Differenz (durch Überwiegen des objektiven oder subjektiven Faktors in einer der beiden Relationen) konstruierbar werden können. So argumentiert Schelling

im Briefwechsel mit

Fichte,

es komme darauf an, unter Abstraktion

von Subjektivität „nicht eine solche zu verstehen, durch welche etwas bloß Objektives" übrigbleibe, denn „mit einem solchen läßt sich schlechterdings nichts anfangen". Vielmehr bleibe nach der Abstraktion vom Subjekt ein „Ideal-Reales" übrig als Basis für die rein theoretische Konstruktion der Natur 7. Die Natur¬ philosophie kann deshalb niemals, wie

Reinhold

meint, „Wissenschaft der

absoluten Objektivität" oder „reiner Materialismus" werden (vgl. das Zitat 113). Hätte Hegel hier an

Reinhold

Reinhold-

angeknüpft, wie G. ihm zumutet, so

hätte er nur ein Mißverständnis bestätigt. Auch daß Hegel zur Auseinandersetzung getragen habe — vielmehr seien es nicht haltbar.

Schelling

Bardili

Schellings

und

mit

Reinhold

Fichte

gewesen

nichts bei¬ (XIV)

— ist

hat noch am 15. März 1801 von der Ergänzung der

Wissenschaftslehre durch ein System des Intelligiblen erwarten können, daß sie „alle obwaltenden Differenzen ganz und für immer" aufhebe8. Im Antwort¬ schreiben

Fichtes

an

Reinhold

sah er am 24. Mai ein Zeichen der Überein¬

stimmung, das ihn stellenweise' erschütterte: „Fortan werde ich nie mehr in Verlegenheit seyn, zu sagen, was ich will, ist nur dasselbe, was Vom Oktober 1801 an jedoch spricht

Schelling

Fichte

denkt." 9

eine andere Sprache, in der sich

der Hegelsche Stil erkennen läßt; jetzt spricht er von der wahren Spekulation im Unterschied zum Philosophieren, vom Realgrund der Getrenntheit des Ein¬ zelnen, der für die „von unten aufsteigende Verstandesreflexion" unbegreiflich ist, weil sie sich „mit dem Gegensatz der Endlichen ... und Unendlichen ... in unauflösliche Widersprüche verwickelt". Die „Vernunft-ewigkeit", das „eigent¬ liche Prinzip aller Speculation und des wahren Idealismus" sei „das Vernichtende der Causalreihe des Endlichen" 10. Deshalb sei es „speculativ betrachtet" völlig

7 J. G. Fichte: Briefwechsel. Hrsg. v. H. Schulz. Leipzig 1925. Bd 2. 297. 8 Ebd. 314. 9 Ebd. 318 f. 10 Ebd. 336.

292

Literaturberichte und Kritik

gleichgültig, „ob ich die Reihe des Bedingten reell oder ideell mache, denn in dem Einen Falle so wenig wie in dem anderen, komme ich aus dem Endlichen heraus. Sie glaubten durch das Letztere die ganze Forderung der Speculation erfüllt zu haben; und hier ist der Hauptpunkt unserer Differenz." 11 III. — G. steigert die allgemeinen Reflexionen Hegels über Bedürfnis, Voraus¬ setzung, Grundsätze etc. zum Entwurf einer Geschichtsmetaphysik, deren Mo¬ mente er in rationaler Analyse auseinanderlegt. Nach G. ist Hegels These: die Voraussetzung der Philosophie sei ein Bedürfnis, das notwendig eintrete, wenn die lebendige Vernunfterkenntnis in der Bildung verloren gegangen sei. (12) Hegel aber sagt von dieser These, die er nur als möglich einführt: „Es ist un¬ geschickt, das Bedürfnis der Philosophie als eine Voraussetzung derselben aus¬ zudrücken; denn hierdurch erhält das Bedürfnis eine Form der Reflexion." An solche Sätze könne gefordert werden, daß sie sich rechtfertigen, und so gehe das Ergründen und Begründen vor und außer der Philosophie los 12. G. läßt jedoch diese Warnung Hegels, das Verhältnis von Bildung und Philo¬ sophie nach der Grund-Folge-Beziehung auszulegen, außer acht und zieht aus der „Hegelschen Geschichtsmetaphysik" folgende „Behauptungen" heraus: „1. Die Erkenntnis der Wahrheit ist begrifflich. 2. Das zeitliche Werden ist entsprechend dem zeitlichen Progreß ein progressiver Fortschritt in der Wahrheitserkenntnis zu einer vollendeten Philosophie; jede Philosophie ist Moment innerhalb der Ge¬ samtteleologie. — Für die eine wie die andere Behauptung bleibt Hegel eine Rechtfertigung schuldig. Keine dieser beiden Thesen ist in Wahrheit gerecht¬ fertigt." (17 f) Was G. unter 2 feststellt, verrät seine Unsicherheit in der Sache durch den einhämmernden Stil, der durch Wiederholung überreden will (zeitliches Werden — entsprechend dem zeitlichen Progreß — ein progressiver Fortschritt) — und auch die kritische Konklusion sagt noch einmal in zwei Sätzen dasselbe. Wo hätte Hegel in der Differenzschrift behauptet, geschichtliches Werden sei ein Prozeß der Determination? oder jede Philosophie sei Moment innerhalb der Gesamt¬ teleologie? Im Gegenteil: „Jede Philosophie ist in sich vollendet, und hat, wie ein ächtes Kunstwerk, die Totalität in sich.

Mit einem Satz wie diesem grenzt

sich Hegel vielmehr gegen die teleologische Manier seiner Zeit ab, die er in These von der Perfektibilität der Philosophie bei jeder Gelegenheit bekämpft13. Reinholds

Auch wo der Begriff der Entwicklung in der Differenzschrift auftritt, hat er keinen teleologischen Sinn, vielmehr nur die Bedeutung von Produktion unend¬ licher Mannigfaltigkeit. Der Begriff des „Fortgangs" ist zwar in der Geschichte der Bildung vorhanden; etwa in der wachsenden Verallgemeinerung der Gegen-

11 Ebd. 338.

12 Hegel: Differenz des Fichte'schen und Schelling'sehen Systems der Philosophie (im Folg. zit. als Diff.). In: Werke. Bd 1. Berlin 1832. 177. 13 Vgl. insbes. Diff. 170, 172.

Besprechungen

293

sätze zu absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität. Aber auch hier ist es die mannigfaltige „Entwicklung der Äußerungen des Lebens . . ., in welche die Entzweiung sich verschlingen kann". Und je weiter die Bildung gedeiht, „desto größer wird die Macht der Entzweiung . ., desto fremder dem Ganzen der Bil¬ dung und bedeutungsloser die Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wieder zu gebären". 14 Diese Art von Entwicklung ist das Gegenteil von positiv fortschreitender Entfaltung des ursprünglichen Prinzips, — es geht vielmehr der Begriff des allumfassenden Zusammenhangs verloren und die Kultur hat sich fortschreitend mit der höchsten Vollkommenheit entzweit. Was die Bildung in der ihr eigenen Weise der Erzeugung von Gegensätzen schafft, ist immer nur die äußere Möglichkeit der Vereinigung, die ergriffen werden kann oder auch nicht: wann, wo, in welcher Form Selbstreproduktionen der Vernunft auftreten, ist zufällig 15. Das Verhältnis des Wesens der Philo¬ sophie zur Form der Bildung ist immer ein negatives und damit freies. Hegels geschichtsphilosophischer Gesichtspunkt der in „unendlich mannig¬ faltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft" ist in der Diffe¬ renzschrift primär ein Kriterium der Beurteilung philosophischer Systeme. Es ist eine Betrachtung der Geschichte sub specie aeternitatis, ein Gesichtspunkt, von dem aus es weder Vor- noch Nachgänger gibt, und

Spinozas

Philosophie eine

vollkommenere Selbstreproduktion der Vernunft sein kann als die Reflexions¬ kultur der Moderne. Das ,Metaphysische' in der Geschichte, wenn anders es der lebendige Geist einer Philosophie ist, streift vor dem „geschichtlichen Benehmen" als „ein fremdes Phänomen vorüber und offenbart sein Inneres nicht". 16 G. beweist mit seiner Theorie einer angeblichen Geschichtsmetaphysik nur, daß er unter einem — aus zweiter Hand genommenen — Schema des späteren Hegel steht, das er in die Differenzschrift einlegt; und dies ist nun wirklich im Sinne G/s eine „Rückinterpretation", die er einleitend ebenso aufdringlich für „keinesfalls statthaft" erklärt hatte (XVIII), wie er hier stattgibt. IV. — Die drei kritischen Ansätze in den Kapiteln 3—5 sind für G.s HegelKritik zentral. Er glaubt damit, wie er zu Beginn des zweiten Teils seiner Arbeit feststellt, den metaphysischen Ansatz Hegels als ungerechtfertigt erwiesen und Hegels Kritik an

Fichte,

welcher der zweite Teil gewidmet ist, schon „im Grund¬

prinzip implizite" (55) mitwiderlegt zu haben. In den „Ansätzen": am Prinzip der absoluten Vernunftidentität (22 f), am Verhältnis der absoluten Vernunft zur Erscheinung (27 ff) und an der intellek¬ tuellen Anschauung (35 ff) geht es G. um die „alles begründende" Unterschei¬ dung von Vernunft und Verstand (24). Er fragt nach der Begründung dieser Unterscheidung und gibt als einzig mögliche Antwort Hegels an: die höhere

14 Diff. 175. 15 Diff. 174. 16 Diff. 168.

294

Literaturberichte und Kritik

Vernunft sei faktisch die Einheit einseitigen und wechselseitigen Bestimmens. Diese Behauptung aber sei „uneinsichtig, d. h. philosophisch unbegründet". Hegel behaupte die absolute Identität als Einheit von relativer Einheit und rela¬ tivem Gegensatz, also sei seine eigene Position als „übergreifend und nicht nicht-übergreifend unterschieden von den übergriffenen Positionen" (25). Damit will G. beweisen, daß Hegel de facto selber auf dem Reflexionsprinzip stehe, über das er sich nur scheinbar hinweggesetzt habe; der dritte Ansatz soll diese These an den Verwahrungen Hegels gegen eine solche formallogische Auslegung seines Einheitsprinzips bewähren. Da G. von vornherein sich auf „rationale Analyse" festlegt (2), sich also ver¬ bietet, auf den eigentümlichen Begriff des Spekulativen bei Hegel einzugehen und seine kritische Interpretation auf dem Konstatieren eines „Behauptungs¬ zusammenhanges" (3) beharrt, räumt er Apologeten allzuleicht den Rückzug auf Hegels eigentliche Intentionen ein. Eine Hegel-Kritik muß jedoch diese Inten¬ tionen möglichst angemessen darstellen, um wirklich zu treffen. Fundamental ist für Hegel gerade nicht die aufgestellte Differenz von Vernunft und Verstand, Absolutem und Erscheinung, sondern die Weise, wie diese Unterscheidungen, die er in der zeitgenössischen Philosophie vorfindet, Zustandekommen. Hierbei ist die Differenz von bloßer Abstraktion, die vom Heterogenen nur absieht, um es in der Ausgestaltung des Systems wiederherzustellen, und von spekulativer Abstraktion maßgebend, die das Heterogene „vernichtet". Hegels Bestreben ist es, nicht in ein einseitiges „Ansich" zu fallen, das sein Korrelat nicht los wird, solange dem reinen Denken als unendlicher Möglichkeit eine endliche Wirklich¬ keit gegenübersteht. Die Bedeutung der absoluten Negation, in der die Substanz als negative Totali¬ tät erscheint und in der Hegels Eigenstes faßbar wird, kann G. nicht zu Gesicht bekommen, da er Hegels spekulativen Idealismus im Anschluß an

Fichte

als

Dogmatismus klassifiziert, für den charakteristisch ist, den Begriff des absoluten Ich durch den „höher sein sollenden Begriff des Dinges (Ens)" zu überbieten 17. Hegel hat aber

an Spinozas

Begriff der Substanz, an dem er sich offensichtlich

bei seiner Kritik der Reflexionsphilosophie orientiert, stets das Moment des Negativen hervorgehoben: das Verschwinden des Endlichen und Bestimmten im Abgrund der Vernunft, in dem sie ihr Reflektieren der absoluten Identität „und ihr Wissen und sich selbst" versenkt18. Von dieser absoluten Vernichtung der Reflexion aus, bei der auch die Ver¬ nunft als möglicher Grund der Reflexion im Abgrund verschwindet und mit ihr das Grund-Folge-Verhältnis, kann erst erfaßt werden, wie das Verhältnis der

17 J. G. Fichte: Werke. Hrsg. v. I. H. Fichte. Bd 1. 120.

18 Diff. 188. Vgl. auch Hegel, Werke, Bd 15. 370, 376, 378. Die Bemerkungen Hegels im Spinoza-Kapitel seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie lesen sich wie ein — zugleich kritischer Rückblick auf seine eigenen, auch von Schelling bestimmten Anfänge: „Wenn man anfängt zu philosophieren, muß man zuerst Spino-

Besprechungen

295

Reflexion zur transzendentalen Anschauung beschaffen ist. Es ist am besten zu erläutern an der Figur des Raumes zwischen zwei nicht-konzentrischen Kreisen, die

Spinoza

auf das Titelblatt seiner Prinzipien der cartesischen Philosophie

gesetzt hatte und die Hegel immer als ein echtes Symbol für das Verhältnis der empirischen zur wahrhaften Unendlichkeit empfunden hat 19. Der Raum zwi¬ schen den Kreisen kann nicht durch ein bestimmtes Verhältnis ausgedrückt werden — und doch ist dieser Raum für die Anschauung ganz und gegenwärtig: Spinoza

hat in diesem Beispiel „die empirische Unendlichkeit aus dem endlosen

Hinaustreiben des Einbildens zurückgeholt und vor sich hingebannt." 20 Es kommt Hegel nicht darauf an, das Inkommensurable von Denken und Sein kommensurabel zu machen (wie es in

Fichtes

drittem Grundsatz — durch einen

Machtspruch der Vernunft — im Begriff der Teilbarkeit geschieht). Er will viel¬ mehr den Begriff der Totalität, dadurch, daß er ihn in bezug auf das Endliche negativ werden läßt, davor bewahren, das Endliche außer sich zu lassen. Hegel gewinnt seinen Begriff der Spekulation im Unterschied zur Reflexion nicht da¬ durch, daß er einseitiges Bestimmen der Reflexion durch ein wechselseitiges Bestimmen ergänzt, worunter G. den Begriff des Dialektischen zu verstehen scheint, sondern dadurch, daß er das „immanente Gesetz" des Widerspruchs, wo¬ durch sich Reflexion als absolute konstituiert, unter ein „höheres Gesetz" stellt, das der Vernunft angehört: das Gesetz der „Vernichtung" 21. Dies ist es, wodurch die Vernunft „höher" als der Verstand ist, und nur in diesem Sinne kann man sie als höhere Vernunft charakterisieren. Es gibt „keine Wahrheit der isolierten Reflexion, des reinen Denkens, als die ihres Vernichtens"22. In der absoluten Negation sieht Hegel die einzige Möglichkeit, von der Reflexion aus wahre Tota¬ lität zu denken, ein Ganzes, das nicht mehr innerhalb der Modalitäten der er¬ kennenden Subjektivität sich lokalisieren läßt: nicht als unendliche Möglichkeit eines Endlichen oder als Idee, nicht als sukzessive, sondern als vollendete Syn¬ thesis. Die Bruchstelle, in der

Fichtes

„ächt spekulative" 23 Philosophie für Hegel in

ein Reflektiersystem umschlägt, läßt sich genau angeben. Es ist die Synthesis

zist sein ... Es ist diese Negation alles Besonderen, zu der jeder Philosoph gekommen seyn muß, sie ist die Befreiung des Geistes und seine absolute Grundlage." (376) „Das Unendliche des Intellekts nennt Spinoza die absolute Affirmation. Ganz richtig! Nur hätte er es besser ausdrücken können: Es ist die Negation der Negation." (382 f) — Es ist charakteristisch für Hegel, daß er im Spinozismus — im Unterschied zu Fichte — nicht das dogmatische, sondern das eigentlich kritische Prinzip sieht, das die cartesische Befreiung zum cogito sum, den Zweifel durch die absolute Negation überbietet und so auch das fundamentum inconcussum aus den Angeln hebt. 19 Hegel: Werke. Bd 1. 69; vgl. auch Bd 15. 383. 20 Hegel: Werke. Bd 1. 69. 21 Diff. 180. 22 Diff. 182. 23 Vgl. Diff. 204, 209, 272.

296

Literaturberichte und Kritik

des dritten Grundsatzes der WL, die nach der Exposition der Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich dem Widerspruch die leitende Funktion einräumt und die Vereinigung dadurch zustandebringt, daß sie das Absolute (Ich) in einen niede¬ reren Begriff, nämlich den der Teilbarkeit herabsetzt. Es ist eine absteigende Synthesis, bei der das absolute Ich als absolut Unbeschränktes zurückbleibt und bloß regulative Funktion übernimmt: aus dem philosophischen Prinzip ist ein systematisches geworden. Hier konstituiert sich das Unendliche in dem kleinen Zirkel des unendlichen Sich-setzens. 24 Schon in der Art, wie Fichte die höchste Entgegensetzung formuliert: Ich — Nichtich, zeigt sich die kontradiktorische Form einer analytischen Entgegenset¬ zung, die dem Einen nicht das Andere entgegensetzt, sondern im Einen die Nega¬ tion desselben. Damit ist der Widerspruch in einer Weise ausgesprochen, die die äußerste Zuspitzung zur Antinomie ausschließt. Die antinomische Auflösung oder besser: Selbstauflösung des Widerspruchs, die keine Lösung mehr sein kann, ist für Hegel der Punkt, an dem die Reflexion oder der Verstand ihre Nichtigkeit erkennen müssen. Hegel anerkennt den Satz vom Widerspruch nicht als das oberste Denkgesetz. Er will die höchste Entgegensetzung vielmehr so darstellen, daß der Satz vom Widerspruch weder zwischen der Gültigkeit des Einen oder des Anderen entscheiden läßt, noch die Vermittlung durch einen „Machtspruch der Vernunft" 25 erzwingt, — also die Form der Disjunktion über¬ haupt zerstört und in den Abgrund der Vernunft" 26 gestürzt wird. Hier — in diesem Umschlag von der unbestimmten Totalität (Nacht) zur voll herausgetretenen Bestimmtheit (Mittag) 27 liegt der Ansatzpunkt einer möglichen Kritik an der Differenzschrift, die das Prinzip trifft — nicht darin, daß Hegel das absolute Subjekt als in einer Vorstellung gesetztes verstehe (41), was er nie getan hat. Man kann gegen Hegel einwenden, daß er das höhere Gesetz der Vernunft nur in Metaphern auszusprechen in der Lage sei, aber nicht, daß er vergessen habe, wie er selbst das Prinzip der absoluten Identität in der Reflexion konzipiert habe; zumindest ist dieser Einwand nicht in der Form einer bloßen Erinnerung diskutierbar, da Hegel ein solches Vergessen selber fordert. Es ist eine fundamentale Schwäche im Aufbau von G.s kritischen Ansätzen, daß er jeweils am Ende eines Abschnittes Fichtes ScHELLiNG-Kritik hören läßt, die alles vorher Gesagte bekräftigen soll und bei der er an einer Stelle sogar ein Zitat aus dem „Bericht über die WL" von 1806 als Brief Fichtes an Schelling ankündigt28. Diese Stelle ist deshalb interessant, weil Fichte nicht mehr einfach das Argument der täuschenden Reflexionsform vorbringt, sondern das zweite anschließt: das Absolute sei bei Schelling durch den Gegensatz eines NichtAbsoluten bestimmt. Dies letztere Argument deutet auf die veränderte Position

24 25 28 27

Fichte: Werke. Bd 1. 256. Ebd. 106. Diff. 188, 231. Diff. 188.

Besprechungen

297

Fichtes

in der WL von 1804 und berührt sich eher mit Hegels FiCHTE-Kritik

als mit

Fichtes

früherer ScHELLiNG-Kritik. G. bemerkt nicht, daß

Fichte

1804

ausdrücklich auf das Reflexionsargument verzichtet, weil es ihm da selber den Weg verlegen würde. Da G. sich ausschließlich an

Schelling

orien¬

tiert, so verschwindet ihm sein Thema fast aus den Augen: Differenz von und Hegel.

Fichte

Fichtes

Wo ihm die Differenz von Kritik an

Schellings

Auseinandersetzung mit

Schelling

und Hegel aufgeht

(29),

in

Fichtes

Identitätssystem („daß aber die eine absolute Vernunft

außer der nichts sein sollte, nicht die Differenz des Subjektiven und Objektiven sein könne, ohne zugleich auch in derselben ungeteilten Wesenheit die Differenz derselben zu sein . . ."), deckt er sie rasch wieder zu mit der Bemerkung: „Mag man auch die Einsicht, das Absolute sei sowohl Indifferenz als auch Differenz des Subjekts und Objekts, Hegel zuschreiben und in dieser Behauptung den wesentlichen Unterschied zwischen

Schelling

und Hegel sehen — das Problem,

wie aus dieser so oder so konzipierten Vernunft zur Entfaltung des Systems herausgegangen werden soll, bleibt dasselbe." Obwohl ihn stößt — G. will die entscheidende Differenz zwischen

Fichte

Schelling

selber darauf

und Hegel nicht

wahrhaben. Aus Hegels späterer SpiNOZA-Kritik läßt sich leicht belegen, daß Hegel sich mit

Fichte

in diesem Punkte völlig einig ist: „In die eine Substanz

gehen alle Unterschiede und Bestimmungen der Dinge — und des Bewußtseins nur zurück; so, kann man sagen, wird im spinozistischen System alles nur in diesen Abgrund der Vernichtung hineingeworfen. Aber es kommt nichts her¬ aus; und das Besondere . . . wird nur vorgefunden, aufgenommen aus der Vor¬ stellung, ohne daß es gerechtfertigt wäre. Sollte es gerechtfertigt seyn, so müßte Spinoza es deduzieren, ableiten aus einer Substanz; sie schließt sich nicht auf, das wäre die Lebendigkeit, Geistigkeit." 28 V. — Im dritten Teil (Kap. 11) wartet die wichtigste Aufgabe in G.s Thema: nämlich die WL in ihrer reifsten Gestalt in Beziehung zu setzen zu Hegels spekulativer Kritik der WL von 1794. Spätestens hier hätte einmal die Frage nach möglichen Berührungspunkten von

Fichte

und Hegel gestellt werden müs¬

sen. G. ist jedoch von der vordringlichen Aufgabe einer „endgültigen Abgren¬ zung" von Hegel und

Fichte so

in Anspruch genommen, daß er auch jetzt die

unfruchtbare Identifikation von Hegel mit

Schelling

— sie sind (139, 140, 141)

immer nur durch einen Schrägstrich getrennt — nicht aufzugeben vermag. Er kann so wiederum auf die Polemik

Fichtes

gegen

Schelling

zurückgreifen,

aber die Chance für eine unbefangene Interpretation nicht wahrnehmen, die gerade darin liegt, daß

Fichte

zu Hegels Philosophie nicht Stellung genommen

hat, und Hegel von der esoterischen Entwicklung Kenntnis haben konnte.

28 Hegel: Werke. Bd 15. 377.

Fichtes

nach 1800 keine

298

Literaturberichte und Kritik

G. schafft sich einen künstlichen Ausgangspunkt, indem er einen Idealismus Hegel/Schellings (formaler Reflexionsstandpunkt) und einen Realismus Reinholds (das ,Urwahre') in eine „doppelte Frontstellung" (136) zu Fichte treten läßt, — obwohl Fichte eigens vor einem solchen Verfahren gewarnt hatte: „Halte man diesen Idealismus und Realismus ja nicht für den der künstlichen philosophischen Systeme, denen die WL sich hierdurch etwa entgegenstellen wolle: in dem Umfang der Wissenschaft selber angekommen, haben wir es mit der Kritik der Systeme nicht mehr zu tun." 29 Die Intensität, mit der Fichte 1804 das Moment des Vernichtens der objekti¬ vierenden und subjektivierenden Reflexion herausarbeitet, mit der er auch noch das Sehen 30 (als Ausdruck des absoluten Wissens) in das „absolute Entspringen des Lichts" transponiert, ist ein Zeichen dafür, daß Fichte sich jetzt in einer Dimension befindet, die eine in der Sache gegründete Auseinandersetzung mit Hegel zuließe. Fernab davon wählt G. jedoch einen paradoxen Weg, um auch dort Hegel zum Gegner Fichtes zu machen, wo er es nicht mehr ist. Bei der Konstruktion des Ansichseins macht sich Fichte selber einen idealistischen Ein¬ wand, den G. zitiert (142): „Die absolute Einsicht als vernichtend das Denken am Ansich ist nämlich nur möglich unter Voraussetzung des in der Intuition zu vernichtenden Denkens: ,damit wir das Ansich einsahen, als vernichtend das Sehen, mußten wir ja energisch auf dasselbe reflektiren. Also, ungeachtet wir nicht läugnen können, daß es sich selber construirt und mit sich das Licht, war doch dieses Alles bedingt durch unsere energische Reflexion, diese [ist] sonach das höchste Glied von Allem/ " Nun da Fichte diesen Einwand selber aufgibt und ihn an mehreren Stellen der WL von 1804 als untauglich bezeichnet31, legt G.ihn—wieder aufgewärmt — Hegel in den Mund („der Idealismus Hegel/Schelling abstrahierte vom als abso¬ lut behaupteten Inhalt, um auf der Form der Reflexion zu bestehen" (145), ohne zu beachten, daß Fichte es war, der einst so gegen Schelling räsonnierte (vgl. 26). Er sieht nicht, daß Argumente dieser Art es waren, die in Schelling und Hegel das Bewußtsein von Fichtes subjektivem Idealismus bestärkten. In¬ dem G. — durchaus innerhalb des Schemas von der Vollendung des deutschen Idealismus in einem seiner Vertreter — die Argumente umkehrt, bringt er sich um die Möglichkeit, Fichtes Destruktion des subjektiven Idealismus im Ver-

29 Fichte: Werke. Bd 10. 180. (WL 1804) 30 Gegen Schelling hatte sich Fichte früher darauf berufen: „Es muß von einem Sehen ausgegangen werden ..Seyn ist — sich nicht durchdringendes Sehen." Brief¬ wechsel. Bd 2. 325. 31 So etwa Werke. Bd 10. 184 u. 231 f: „Ich will hier weder selbst so räsonnieren, wie alle . .. Idealismen räsonniert haben; mithin hängt das Sein von der Konstruktion desselben ab, und diese ist sein Prinzip — denn dieser Satz könnte Wahrheit und Bedeutung haben doch nur in Beziehung auf das faktische Dasein des Seins in der äußeren objektivierenden Existenzialform, welche Existenz sodann absolut voraus¬ gesetzt."

Besprechungen

299

gleich und in der Auseinandersetzung mit der Hegelschen darzustellen. Hegel soll schon 1794, in der damaligen Kritik

Fichtes

am quantitativen Idealismus

(in dem G. „unschwer" die Hegel'sche Konzeption erkennt, 81), widerlegt sein, noch ehe sein philosophischer Weg begonnen hat. Mit dieser These trägt G. unfreiwillig dazu bei, daß der Fortschritt Hegels über

Fichte

hinaus immer wie¬

der von seiten der Hegel-Apologeten scheinbar einleuchtend bewiesen werden kann. Dabei ließen sich schon äußerliche Anzeichen nennen, die zu einem Blick auf Hegel von der WL in ihrer reifsten Gestalt aus geradezu herausfordern: 1. Die von Hegel als eine „Unbequemlichkeit"32 für die Darstellung des spekulativen Prinzips bezeichnete Form der drei Grundsätze ist weggefallen. 2. Die methodische Bedeutung des Idealismus und des Realismus wird als ebenbürtig anerkannt: als ein Widerstreit der Maximen, der nur durch die Auf¬ stellung eines Gesetzes der Maximen selber gehoben werden kann 33. 3. Die fundamentale Rolle der Negation im Versuch, das Absolute zu denken, wird von

Fichte

erkannt (vgl. die von G. 141 zit. Stelle).

4. Die beiden Teile der WL sind nun nicht mehr ein theoretischer und ein prak¬ tischer (eine Einteilung, die für Hegels Subjektivitätsthese maßgeblich war), son¬ dern: I. Die Wahrheits- und Vernunftlehre, II. Phänomenologie, Erscheinungs¬ und Scheinlehre 34. Da an der endgültigen Formulierung der setzung mit

Schelling

nicht das gültige Urteil

Fichteschen

WL die Auseinander¬

wesentlichen Anteil hat, läge es nahe, zu fragen, ob hier Fichtes

zum Thema „Differenz des Fichteschen (von 1794!)

und des Schellingschen Systems der Philosophie" vorliege und damit Hegels Thema von 1801 jetzt die eigentliche Antwort von

Fichte

erhalte 35. Diese Frage

ließe sich allerdings nicht mehr anhand zeitgenössischer Polemiken klären. „Die oberflächliche Ansicht der philosophischen Streitigkeiten läßt nur die Differenzen der Systeme erblicken, aber schon die alte Regel: contra negantes principia non est disputandum, gibt zu erkennen, daß wenn philosophische Systeme miteinander streiten, - ein Anderes ist es freilich, wenn Philosophie mit Unphilosophie streitet, - Einigkeit in den Principien vorhanden ist, welche über allen Erfolg und Schicksal erhaben, sich nicht aus dem, worüber gestritten wird, erkennen lassen . .." 36 Hermann Braun (Heidelberg)

32 Diff. 210. 33 Fichte: Werke. Bd. 10. 177. 34 Ebd. 195. 35 Auch im Sprachgebrauch finden sich 1804 Hinweise auf mögliche Gemeinsam¬ keiten in der Sache; so setzt Fichte jetzt auch „Vernunfteinheit" ab gegen „Verstan¬ deseinheit" (Werke. Bd 10. 234, 232). Ebenso wäre auf die gegenüber der WL v. 1794 anders akzentuierte Spinoza-Kritik zu achten (ebd. 147), die mit der des späteren Hegel übereinstimmt. 36 Hegel: Werke. Bd 16. 73.

300

Literaturberichte und Kritik

Heinrich Beck: Der Akt-Charakter des Seins. Eine spekulative Weiterfüh¬ rung der Seinslehre Thomas v. Aquins aus einer Anregung durch das dialektische Prinzip Hegels. München: Hueber 1965. 392 S.

Mit seinen Untersuchungen zum „Sein" bei

Thomas

von Aquin schließt

sich jener Reihe von Bemühungen der letzten Jahrzehnte an,

Thomas

Beck

von Hegel

her neu zu durchdenken oder zumindest sich von einer Begegnung und Ausein¬ andersetzung mit Hegel bei den Versuchen einer Neuaneignung und Verlebendi¬ gung thomasischen Seinsdenkens inspirieren zu lassen. G.

Siewerth,

der hier

an erster Stelle zu nennen ist und dem sich der Verfasser auch weitgehend ver¬ pflichtet weiß, hat in seinen Anfängen — gleichsam auch wie sein eigenes, da¬ mals mit einem gewissen Enthusiasmus konzipiertes, Programm — „die innere Begegnung zwischen Scholastik und deutschem Idealismus" als „die größte Auf¬ gabe der abendländischen Philosophie" bezeichnet L Beck

kommt es in seinem zugleich in einer spanischen Lizenzausgabe ver¬

öffentlichten Buch darauf an, durch eine „Zusammenführung" von

Thomas

und

Hegel das Denken beider sich ergänzen zu lassen — allerdings mit dem Ziel einer „höheren Gestalt" des thomistischen Denkens (HO). Es ist die Einbeziehung einer eigenen Bewegtheit, einer Art Dialektik in das Sein, was bei

Beck zu

der

von einem gegenwärtigen Problembewußtsein her neu ausgelegten Seinslehre des Thomas

aus der Anregung durch Hegel hinzukommt und was sowohl die innere

Selbstentfaltung des „Seins" in den Transzendentalien als auch die Entäußerung des unendlichen Seins in Endlichseiendes besser verständlich machen soll. Daß „das Sein in seiner Aktnatur (sich) als ein kreisender Rhythmus" bekundet, be¬ zeichnet der Verfasser selbst als den entscheidenden Grundgedanken seiner Ar¬ beit: „Das Sein tritt aus sich heraus, geht ideell auseinander, um dadurch tiefer in sich selbst zurückzukehren und mit sich zusammenzugehen; im Rhythmus des ,Auseinander-Zusammen' ist der volle Aktcharakter des Seins ausgeprochen. Die erste Phase des Aus-sich-heraus-Schwingens (in den Modus der Idealität) ist das Erkennen; die zweite Phase des Zurück-und-in-sich-hinein-Schwingens (in den Modus der Bonität) aber ist die Liebe" (121).

1 Im Vorwort zur 1. Aufl. von Der Thomismus als Identitätssystem (1938); 2. Aufl. Frankfurt 1961. XXXIII. Zu nennen wären weiterhin: E. Coreth (Metaphysik. Eine methodisch-systematische Grundlegung. Innsbruck-Wien-München 1961), B. Lakebrink (Hegels dialektische Ontologie und die thomistische Analektik. Köln 1955), J. B. Lotz Ss. aber seine Kontroverse mit Siewerth, der Lotz in Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger. Einsiedeln 1959. 259 ff, einen „in nicht geringe Schwierigkeiten" geratenden Hegelianismus vorwirft: Scholastische Urteilslehre und Hegelsche Seins¬ dialektik. In: Scholastik. 36, 1961, 550 ff), M. Müller und im Ausland z. B. C. Fabro (Partecipazione e causalitä secondo S. Tommaso d'Aquino. Turin 1960), der die häu¬ fige Beiziehung von Hegel (und Heidegger) bei seinen umfassenden Thomasinterpreta¬ tionen zum methodischen Prinzip erhebt (Vorwort des Autors).

Besprechungen

301

Grundgelegte weiter (111 ff). Die Frage, wie Endlichseiendes — dessen Wirklich¬ keit aposteriori feststeht — überhaupt möglich ist, wenn Sein von sich aus — was apriori einsichtig ist — Unendlichkeit besagt 2, hatte in G.

Siewerths

Identitäts¬

system eine Antwort gefunden mit dem Hinweis auf den in der Entfaltung des Seins auftretenden Modus der Idealität als einer Identität von Sein und Nichts, durch die das endliche Sein ermöglicht, jedoch der reine göttliche Seinsakt nicht begrenzt wird (weil das Nichts nicht Prinzip, sondern nur Produkt der göttlichen Selbsterkenntnis sei). In der ideellen Selbstausprägung des unendlichen Seins ist zugleich das Endliche mit entworfen, als Möglichkeit mit gegeben. Die An¬ satzstelle für eine Dialektik im Sinne einer gewissen Einheit von Sein und Nichts, ohne die diese Konzeption eines ideellen Entwurfes des Endlichen (d. h. unter bestimmter Rücksicht Nichtseienden) im Unendlichen nicht auskommt, sieht Beck

bei

Thomas

darin, daß auch für diesen der göttliche Seinsakt zugleich

Erkenntnisakt ist und als solcher auch die Ideen der Dinge in sich ausprägt, „als aktiver Grund der ,ideellen Möglichkeit' des endlichen Seienden" (70). Worin Beck

über

Siewerths

Ansatz hinaus weiterzukommen sucht, ist die Beantwor¬

tung auch noch der Frage, warum denn der göttliche Seinsakt sich in diese ideelle Identität von Sein und Nichts überhaupt setzt (122), warum die Idealität als Identität des Seins und Nichts die — im Unterschied zu Hegel — keine in¬ haltliche, sondern nur eine modale sein soll (118), aus dem Wesen des Seins¬ aktes notwendig hervorgeht. Die Antwort soll sich im Vollzug der „spekulativen Weiterentfaltung der Aktnatur des Seins" ergeben.

Dabei erweist sich die

Idealität „als Möglichkeitsbedingung nicht nur für die endlichen Seienden (wie bei

Siewerth),

sondern — grundlegender noch — für den integren Seinscharakter

des Seins selbst" (120). Die Erste Untersuchung



über die innere transzendentale, noch vor aller

kategorischen Besonderung liegende Bewegtheit des Seins, die von der Realität, vermittelt durch die Idealität, zur Bonität und damit umso tiefer in sich selbst hinein-, zu sich selbst zurückgeht — stellt sich dementsprechend dar als eine „metaphysische Entfaltung" des Widerspruchs- und Identitätsprinzips, in denen sich die Grundeinsicht in das Wesen des Seins ausspricht, die der Mensch in seinem geistigen Selbstbewußtsein vollzieht (120). Im Hinblick auf die Verendlichung des Seins im Seienden, das Entspringen der „Gesamtheit des endlichen Seienden aus der Natur des kreisenden Ak¬ tes" (112) — das Thema der Zweiten Untersuchung



ergibt sich aus dem

Widerspruchs- und Identitätsprinzip das „metaphysische Kausalprinzip" (251), in dem wiederum bei dem besonderen Charakter der Kausalität als Seinsmit¬ teilung das Finalitätsprinzip wurzelt. Auch die Bewegung vom Sein zum Seien-

2 — oder m. E. besser: jedenfalls von sich aus mindestens nicht Endlichkeit, als Sein nicht auch Nichtsein besagen kann.

Literaturberichte und Kritik

302

den bleibt bei

Beck

von einer Dialektik bestimmt, ohne daß diese jedoch — darin

anders als die Hegelsche — das Endliche zu einem mit Notwendigkeit sich er¬ gebenden Entfaltungsmoment des Unendlichen machen soll (womit entweder letztlich dieses selbst verendlicht oder die Endlichkeit des Endlichen letztlich auf¬ gehoben wäre). Schon die Ausprägung des Endlichen in seiner Möglichkeit, noch vor seinem Ausfluß in die eigene endliche Realität, spielt sich in der göttlichen Idealität in einem Dreischritt ab: vorgängig zu sich selbst ist es in der Idee Gottes zuerst völlig identisch mit dem realen göttlichen Sein; dann ist es absolut Nichts, insofern als das absolute Nichts später ist als das absolute Sein (es ist ja nur der kontradiktorische Gegensatz des absoluten Seins), und schließlich erst endliches Sein-Nichts, insofern als es als relatives Sein später als das abso¬ lute Nichts ist (238 f) 3. Natürlich kann es sich bei dieser Dialektik nicht um ein Nacheinander oder auch nur um ein wie immer geartetes Zueinander real unterschiedener „Schritte ', also überhaupt nicht um eine Realdialektik handeln — schon deshalb nicht, weil das absolute Nichts ein bloßes ens rationis ist 4 —, sondern nur um einen Versuch des (endlichen) spekulativen Denkens, durch Distinktion, Negation und Gegen¬ setzung gedanklich auseinanderzulegen und so in einer Vielzahl von Begriffen zu verdeutlichen, was in der Sache — dem göttlichen Sein als Urgrund aller mög¬ lichen Wesenheiten und ihrer Wirklichkeit — absolute Einheit und reine Positivität ist. Darum ist die Nähe, in die der Verfasser sich selbst „durch die Bestim¬ mung des Aufgangs des Endlichen als eines relativen Sein-Nichts in der unend¬ lichen (göttlichen) Idee" zu Hegel gelangen sieht, bei dem das Endliche als dynamisches Durchgangsmoment aus der unendlichen Identität des Seins und des Nichts entspringt, tatsächlich nur „eine größtmögliche" (245), bei der also der unaufhebbare Unterschied bestehen bleibt. Jene „Dialektik" im göttlichen Wesen soll also keine Einbeziehung des Werdens und wirklicher Gegensätze ins Absolute bedeuten. Jene Bewegung (in Gott) des Heraustretens seines We¬ sens „aus seinem einfachen In-sich-selbst-sein (Realität) ... in die Andersheit (Idealität) nur zu dem Ziel, um mit sich zusammenschwingen zu können (Boni¬ tät)" (311), soll keinen zeitlichen oder sonst auch nur „wesenhaften" Prozeß der Selbstwerdung, keinen „werdenden Gott" bedeuten, sondern nur den Selbstvoll¬ zug des immer schon alles, aber in lebendiger Fülle und „ternarischer Struktur" seienden Gottes. Offenbar entfaltet sich hier die philosophische Spekulation in einer Art analogia trinitatis. In einem Exkurs zu dieser ins Theologische über¬ gehenden Problematik schätzt der Verfasser seine Gedankengänge selbst so

3 Zu dem Versuch, den realen Hervorgang des in seiner Möglichkeit im subsistenten Sein ideell konstituierten endlichen Seienden durch eine Unterscheidung einer „bloßen Seinshaftigkeit" von der Subsistenz des subsistenten Seins ontologisch verständlich zu machen (264 ff), habe ich ausführlich Stellung genommen in meiner Rezension des Buches in: Philosophisches Jahrbuch. 74 (1966) 201 ff. 4 Beck sogar: „bloße ideelle Fiktion" (263).

Besprechungen

303

ein, daß man „fast von einem philosophisch-ontologischen Vorentwurf einer möglichen theologischen Trinitätslehre sprechen" könnte, „in der sowohl die thomasischen als auch die hegelschen Aussagen über die göttliche Trinität . . . ,aufgehoben' " wären (200; 203). Im Unterschied zu der „übermodalen Notwendigkeit" der Übergänge im „Pro¬ zeß der göttlichen Selbstermöglichung" betont Beck für den „Prozeß der Ermög¬ lichung des Endlichen in Gott" — auch hierin nur größt mögliche Nähe zu Hegel wahrend - die „Freiheit Gottes zur Schöpfung" (287; 299). „Freiheit" (Gottes) und damit „Kontingenz" (des Endlichen) ergeben sich daraus, daß der göttliche Seinsakt nicht nur Erkenntnis-, sondern auch Willensakt „ist", bzw. im Beckschen Sinne (modal) „wird". Die „letzte, unmittelbare Möglichkeit" liegt „ hin¬ ter

der ,bloßen

Erkenntnishaftigkeit . . . des Seins; sie entspringt im Sein erst

(und unmittelbar), nachdem dieses Liebe (Wille) geworden ist . . . Jetzt erst,

nach dem göttlichen Entschluß . . . zur Schöpfung, ist diese unmittelbar konkret¬ real möglich"

(286 f). — Die Frage ist nur, ob in dieser Konzeption „Frei¬

heit/Kontingenz" tatsächlich dann doch nicht wieder von der „Dialektik" be¬ droht ist. Denn der Prozeß der Erschaffung ist „in den unendlichen Prozeß Gottes in sich selbst eingebettet" (268 f). Ergibt sich aber damit nicht doch eine

Notwendigkeit von Schöpfung? Denn nachdem das Geschöpf in der göttlichen Idealität bereits gewisse Konturen angenommen hat und eine gewisse Differenz von Gott sich zeigt (264), nachdem also das, was Gott nicht ist, erst einmal irgendwie aufgetreten ist, scheint doch die Vollendung der Identität Gottes nicht mehr möglich zu sein, ohne daß dieses „Sein-Nichts" ausgeschieden wird. So der Verfasser selbst: „Indem Gott sich in sich selbst vollends notwendig macht und sich ganz mit sich zusammenschließt, schließt er gerade das, was er nicht ist, von sich aus und sondert so das Endliche vollends von sich ab" (269). Josef Stallmach (Mainz)

Joachim Christian Horn: Monade und Begriff. Der Weg von Leibniz zu Hegel. Wien u. München: Oldenbourg 1965. 201 S. (Überlieferung und Aufgabe. Abhandlungen zur Geschichte und Systematik der europäischen Philosophie. Hrsg, von Erich Heintel. 3.)

Der Weg des Denkens ist ein Kreisgang; seine Bahn verläuft in einem in sich zurückkehrenden Kreis, der seinen Anfang voraussetzt und ihn nur im Ende erreicht. Diesem von Hegel entdeckten ,Weltgesetz' folgt das anspruchsvolle Nachdenken

Horns,

indem es den bahnbrechenden Anfang, der im Ende ein¬

geholt wird, neu akzentuiert. Er findet ihn im einzigen Gedanken von in der Monade als der ,sich perzipierenden Perzeption', der sich bei

Leibniz,

Fichte

als

Literaturberichte und Kritik

304

sich setzendes Setzen und bei Hegel als sich absolut begreifender Begriff durch¬ setzt und vollendet. Die Tendenz, den anfänglichen Gedanken der Monade vom Ende her zu kon¬ struieren, hat ihre zentrale Aufgabe darin, die individuelle Substanzialität der Monade und ihre Zeitlichkeit mit einem Unendlichkeitsstandpunkt zu vermitteln, wie ihn Hegels Begriff konkretisiert. Der Vf. verlegt solche Vermittlung in drei Grundsätze der Logik, sofern diese nicht Regelungen des Urteilens, sondern ,Axiome der Wirklichkeit' sind, nämlich das Axiom der Konvertibilität von Sein und Einessein, der Satz der Identität des Ununterscheidbaren und der Satz vom Grunde. In dieser dreifachen Gesetzlichkeit sei das individuelle Wesen der Monade in ihrem zeitlich verlaufenden Strom von Perzeptionen ,zeitlogisch' mit der unendlichen Allheit der anderen vermittelt. Die im Satz vom Grunde zu¬ sammengefaßten Wirklichkeitsaxiome stellen die ,Logisierbarkeit der totalen (stets individuellen) Wirklichkeit als Leben und Geschichte' (37) und die Einheit ,des sich mit sich selbst vermittelnden Weltgesetzes', und d. h. Gott selber (31), dar. Aber sind in der Verstandesmetaphysik der Monadologie diese willkürlich zur ,Trinität' zusammengelesenen Axiome wirklich das Göttliche selbst? Sie sind es ebensowenig, wie etwa das Axiom des

(der Satz vom Wider¬

Aristoteles

spruch) das Göttliche ist. Den Namen Axiom verdient solches, dem Wissen und Sein entsprochen haben müssen, um haltbar zu sein. Grundsätze der Logik haben für

Leibniz

die Seinsverfassung von verites eternelles. Mit dem Standpunkt

des Unendlichen in Gott vermittelt'

sich endliches

Bewußtsein durch ent-

schränkende Reflexion auf seine Schranken mit den überlieferten Mitteln der Analogie, und jedes Endliche findet sich mit allen anderen durch die Gesetzlich¬ keit der prästabilierten Harmonie vermittelt. Werden die Methoden solcher Vermittlung als Wege einer unfruchtbar gewordenen rationalen Theologie — zu Recht — verlassen, dann bleibt allein eine Besinnung auf die monadische Einheit des Bewußtseins in ihrer Endlichkeit übrig. Darin, in der epochalen Neufassung der Endlichkeit, liegt m. E. das Einleuchtende der Monadologie — es muß in einer Überlichtung der Monade vom absoluten Begriff her dunkel bleiben. Daher wird das Eigentümliche des Monadenbegriffs bei

Horn

nicht einmal erwähnt:

die Urstiftung der Individualität durch portee und point de vue des Bewußt¬ seins, die Bestimmung von Welt durch Perspektivität und Horizontalität, die Einsetzung der Intersubjektivität als Fundierung der Objektivität usf. Die prin¬ zipielle Bedeutung der individuellen ,repraesentatio mundi' bricht auch erst in Husserls

phänomenologischer Reduktion auf das monadische Ich und die Mona¬

dengemeinschaft und in

Heideggers

Anlage des In-der-Welt-seins wieder auf.

Sie wurde in den Systemen des Idealismus beiseite gelassen. Horn

unternimmt es dagegen, mit Hilfe des Schlüsselbegriffs der Monade als

der ,logisierten Substanz' die dialektische Logizität des Ich' bei schließen. Dieses Unternehmen ist gewalttätig. Es biegt

Fichtes

Fichte

aufzu¬

Grundlegung

des Ich mit den LEiBNizschen Begriffen von Substanz, Zeit, Individualität und

Besprechungen

305

mit dem ,trinitarischen' Satz vom Grunde ohne Rücksicht auf die geschichtliche Kluft zusammen. So faßt der Vf. die Ichheit /wie bei

Leibniz

als Substanz',

d. i. als Totalität oder als Absolutes auf, das Relation sein soll und dies nur sein kann auf dem Grunde einer dialektischen Gesetzlichkeit. So gedacht, „läßt sich dieses Gesetz darstellen nur als dialektisches Zeitgesetz" (122). Wir nehmen diese These als Beispiel für

Horns

allzu rasch entschlossenes Kombinieren

auseinander. Zunächst: Substanz ist in der Tat Relation und Totalität; denn seit und

Kant

Leibniz

bildet Substanz eine Kategorie der Relation, die sich in Fichtes

Grundlage von 1794 als diejenige Art Wechselbestimmung darstellt, welche das Vorstellen der theoretischen Vernunft als Wechselwirkung von absolutem und eingeschränktem Ich erklärt. Insofern beansprucht die Kategorie der Substanz die Totalität des Ich. Nun belehrt aber doch der Fortgang der FiCHTESchen Deduktion: die Substanz ist bloß einseitige Relation; wird sie absolut gesetzt, dann gerät das Selbstbewußtsein in einen Zirkel (von Substanzialität und Kau¬ salität). Die Wissenschaftslehre hat daher stets erklärt: Die Ichheit ist nicht Substanz, schon gar nicht im Sinne der Monade und deren Zeitgesetze. (Für Fichte

ist die Monadologie schlechtester qualitativer' Idealismus).

Fichtes

me¬

thodischer Grundsatz ,keine Antithesis ohne Synthesis v.v.' bildet kein dialekti¬ sches Weltgesetz, das nur aus der Logizität der Monade zu verstehen wäre, er gibt den methodischen Leitfaden ab, die Bedingungen der Möglichkeit des Selbst¬ bewußtseins systematisch zu entwickeln. Dabei ist der Vorgang dieser Entwick¬ lung nicht das bewegte Leben des Bewußtseins selbst, sondern — von Hegel her gesprochen — äußere Reflexion. Deren Bewegung verläuft mithin weder zeit¬ logisch noch dialektisch. „Aber

Fichte

hat doch wohl erwiesen, daß Setzung und Entgegensetzung ein

und derselbe Akt sind, welche Einsicht eben den Begriff der Dialektik aus¬ macht" (127). Und „der Satz vom Grunde vermittelt — ähnlich wie bei

Leibniz —

auch die Begründung der trinitarischen Grundsätze der Wissenschaftslehre" (124). Die Aufstellung der drei obersten Grundsätze in § 1 der Grundlage findet das Gegenteil: Entgegensetzen ist ein der Form nach unbedingter und aus dem Setzen nicht ableitbarer Akt, der nicht das Selbe sondern das Gegenteil des Setzens ist. Und sein Widerspruch gegen das Setzen ist nicht dialektisch aufzu¬ heben, sondern wie in

Kants

3. Antinomie durch Einschränkung (Limitation)

aufzulösen. Die Limitation bricht gerade — wieder von Hegel her gesehen — die Kraft des Widerspruchs oder die Negativität, welche die dialektische Bewegung treibt. Alles Reden von

Fichtes

,Dialektik' läßt sich durch den formalen Drei¬

schritt von Thesis, Antithesis und Synthesis täuschen und übersieht, daß die Thesis bei

Fichte

(das sich setzende Setzen) als schlechthin Unbedingtes und

selbständig Bleibendes gar nicht auf- und emporzuheben, sondern für eine trans¬ zendental beschränkte Untersuchung allein zu limitieren ist. Und weil der Grund¬ satz der Einschränkung (der 3. Grundsatz) den Satz vom Grunde in seiner transzendentalen Gestalt vorträgt, leitet der Satz vom Grunde lediglich die Ge-

Literaturberichte und Kritik

306

setze endlicher Bewußtheit — er geht das ,absolute Subjekt' des 1. Grundsatzes nichts an. Dieses bleibt eben für ein Begreifen nach dem Satze vom Grunde der Abgrund. Fichtes

transzendental-logische Vermittlungen reichen weder zur Logik Hegels

und ihrer Dialektik vor noch zur Gesetzlichkeit der individuellen Gesetzlichkeit bei

Leibniz

zurück. So energisch die Sittenlehre von 1798 und die späten Tat¬

sachen des Bewußtseins das Problem der individuellen Iche und die Vermittlung ihrer monadischen Vielheit aus der Gesetzlichkeit des absoluten Wissens in An¬ griff genommen haben (darüber sagt

Horn

nichts), es ist kein Grundlagen¬

problem. Und überhaupt kann die Durchdringung der Individualität für ein System, „dessen Anfang und Ende und ganzes Wesen darauf geht, daß die Individualität theoretisch vergessen, praktisch verleugnet werde” (2. Einleitung in die Wissenschaftslehre; Ausgabe von Medicus. Bd. 3. 101), auch nicht wie in der Monadologie der individuellen Substanz zur Lebensfrage werden. Sind diese Bedenken von Gewicht, dann bricht

Horns

Konstruktion eines Weges von

Leibniz zu Hegel in der Mitte zusammen. Wird nun die Dialektik nur als Fortführung des FiCHTEschen Verfahrens an¬ gesehen, dann folgt aus der Kritik an dem Zusammenhang von Monade und Ichheit, daß sich auch die Hegelsche Logik des Begriffs nicht bruchlos mit der logischen Struktur der Monade zusammenfügen läßt. Die These

Horns,

der Mo¬

nade fehle zum ,Begriff' bloß die Dialektik (137), gesteht unabsichtlich, daß es der Monade an jeglichem spekulativen Ansehen und an der Lebendigkeit der Negativität gebricht, d. h. an allem, was den absolut begriffenen Begriff aus¬ zeichnet. In Wahrheit ist die Monade ein einzigartiger und unverwechselbarer Inbegriff, deren Gesetzlichkeit (die durch den Satz vom Grunde und die anderen ,großen Prinzipien' geprägt ist) das Schicksal des Individuums in der Zeitfolge von Natur und Geschichte /determiniert', und d. h. — entschieden durchdacht — der Freiheit qua Selbstbestimmung entzieht. Ein so ,logisierter' Inbegriff ist durch den zweifachen Umbruch der Logik in ihre transzendentale und spekulative Gestalt von den dialektischen Kreisgängen eines Begriffs geschieden, der sich in Natur und Geist frei entäußern muß, um sich seiner Identität gerade im absolu¬ ten Anderssein zu vergewissern. Über die Eigenart des Hegelschen Begriffs vom Begriff ist sich der Vf. im Klaren. Er hat sie in einer Interpretation der drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität gesichert und ihre ,Werdenseinheit' im Rhythmus von an sich seiender Selbstbewegung (Natur), für sich seiender und sich wissender Selbst¬ bewegung (Geist) und an und für sich seiender Selbstbewegung, die ihr Wissen ,methodisch' versteht (Philosophie), vorgeführt. Diese Partie ist nach meinem Urteil die beste einer Arbeit, die das Verstehen jedoch durch eine exaltierte Terminologie - wie ,diachrone Spiralstruktur', ,Zirkeldilemma des Systems', ,trinitarische fundamentallogische Wirklichkeitsaxiome', ,realdialektische Final¬ zeit

usw. — durchweg erschwert. Auch über den interessanten Versuch, die

Zeit des Begriffs als absolute Gegenwart in ihrer Zeitigung von abstrakter Ver-

Besprechungen

307

gangenheit (Raum als geronnene Zeit), wirklicher Gegenwart (der Blitz, der Bewußtsein heißt) und Zukunft (Wiedererweckung des Denkens aus seinem notwendigen Tode im Gedachten) ließe sich fruchtbar diskutieren. Indiskutabel aber bleibt die Behauptung, Einsicht in die gesetzlichen Bewegungs- und Zeit¬ charaktere des Begriffs wäre allein dann zu gewinnen, wenn zuvor die Monade zureichend erschlossen sei, da beide, Monade und Begriff, als „Selbstbewegung, d. h. als sich zeitigende Logizität aufzufassen" (163) seien, so daß „die Monaden die Totalität genauso, wie dies die Momente des Begriffs auch tun" (136), re¬ präsentieren. Dieser Einspruch lenkt jedoch keineswegs zur Auffassung zurück, die Kritik Kants

hätte die Wahrheit der Monadologie als Illusion enthüllt und geschicht¬

lich vernichtet.

Kants

sicht nach die bei

Kritik an der rationalen Psychologie konnte meiner An¬

Leibniz

aufbrechende Einsicht in das, was wahrhaft seiend und

eines ist, nicht aufhalten, weil diese Wahrheit in

Kants

obersten Grundsatz

eingeht und über dessen Fixierung hinausweist. Es sind m. E. drei geniale Vor¬ blicke der Monadologie, welche das idealistische Denken bewegen: 1. Wahre Einheit ist Einheit der Seele; sie gewinnt ihre höchste Durchsichtigkeit in der sich wissenden und sich gleich ursprünglich wollenden Einheit von Ich (Wissen) und Welt (Gegenstand). 2. Diese Einheit setzt die Vielheit, den Gegensatz, die Entzweiung nicht außer sich sondern in sich; sie ist so ,autark', daß sie das Andere im Ganzen in sich trägt. 3. Diese das Universum austragende Einheit ist nicht ruhig beharrende Identität; sie ist Ausfaltung, Leben, Selbstentwicklung. Aber das sind nichts als Weg weisende Geistesblitze. Von ihnen bis zur Kon¬ kretisierung dieser Einheit in Hegels Begriff ist ein noch lange nicht freigelegter Weg. Und der ist in seinem scheinbar so durchsichtigen Woher und Wohin frag¬ würdig geworden. Die fraglose Auslegung des Weges der Metaphysik als eines Kreisganges, der in der Vollendung des Begriffs den vorausgesetzten Anfang der Monade einholt, stammt selbst aus dem Hegelschen Vollendungsplan einer Geschichte der Philosophie als dem Innersten der Weltgeschichte und so aus dem Umkreis der Historie. In welche Ursprünge aber reicht der Weg des Philosophierens, wenn Meta¬ physik als eine (notwendige) Epoche der ,Geschichte des Seins' erinnert wird? Erhalten dann nicht Anfang und Abschied, Fortgang und Rückkehr, Ankunft und Austrag, Ende und Vollendung einen Sinn, der in allen problemgeschichtlichen Betrachtungen auf dem Boden Hegelscher Geschichtlichkeit unverständlich blei¬ ben muß? Die ,Zumutung' einer seinsgeschichtlichen Erinnerung in die Meta¬ physik ist — nicht zuletzt durch

Heideggers

Dialog mit Hegel — gestellt. Wesent¬

liche, ein Zeitalter angehende Fragen erledigen sich nicht dadurch, daß man sie ignoriert. Wolfgang Janke (Köln)

Literaturberichte und Kritik

308

Erhard Oeser: Die antike Dialektik in der Spätphilosophie Schellings. Ein Beitrag zur Kritik des Hegelschen Systems. Wien u. München: Oldenbourg [1965]. 147 S. (Überlieferung und Aufgabe. Abhandlungen zur Geschichte und Systematik der europäischen Philosophie. Hrsg. v. E. Heintel. 1.) Diese Arbeit, die wohl als Dissertation aus der Schule von Erich

Heintel

(Wien)

gewachsen ist, verbirgt ein wenig in ihrem Titel, worum es eigentlich geht. Erst ihr Untertitel öffnet ins Eigentliche: es geht um eine Konfrontation der Hegel¬ schen „Logik" mit der „reinen Vernunftwissenschaft" des späten Alle Erörterungen über

Schellings

geschlossen und damit alle Einwände, die

Schelling

Hegel erhoben hat. Aus solcher Sicht heraus kann allen Kritikern ...

Schelling

Schelling.

„positive Philosophie" bleiben darum aus¬ in diesem Bereich gegen

Oeser

betonen, daß „von

wohl Hegel am nächsten gestanden [hat], seine

philosophischen Ansprüche sind fast bis in den Wortlaut hinein die gleichen wie bei seinem großen Gegner", — eine Formulierung, deren Recht kaum bestritten werden kann. Im Gegenteil:

Schellings

emphatische Erklärung bei seinem

Vorlesungsbeginn in Berlin 1841 im Angesicht der vielen anwesenden Hegelianer hat solches entscheidend betont: „Nichts soll durch mich verloren seyn, was seit für echte Wissenschaft gewonnen worden: wie sollte ich zumal die Philo¬

Kant

sophie, die ich selbst früher begründet, die Erfindung meiner Jugend aufgeben?" Oeser

hat nun eingehend herausgearbeitet, wo solche Nähe lag: im Hindrängen

zu einer apriorischen Wissenschaft, als jener philosophischen Grundwissenschaft, von der her alles andere Erkennen seine Grundlegung erfährt. Über hinausgehend hat danach idealistisches Philosophieren schon in

Fichte

Kant

nicht nur

die „Formen" des Erkennens zu erreichen versucht, sondern ein Wissen, wo der Nus durchaus selbstwirkend Stoff wie Form von sich selbst nimmt" bzw. wo — mit Hegels Worten — es keine „Trennung des Inhalts der Erkenntnis und der Form" gibt, wo Erkennen der Denkgesetze Erkennen des Seins selbst zugleich ist, wo die „Logik" jene Logoi begreift, aus denen reales Sein geboren wird. Nach

Oesers

Meinung ist freilich Hegel in der näheren Fassung dieser Logoi

indem er sie als von Grund auf „dialektisch" d. h. über sich hinausdrängend faßte - dem Pantheismus verfallen. Ist der „Begriff" die „substantielle Macht", die hindrängt zu Welt und alles aus sich erzeugt, so hat nach

Oeser Schelling

mit Recht gesagt, daß hier für Gott „nichts anderes übrig [bleibe] als die Be¬ wegung des Begriffs, d. h. selbst nur Begriff zu seyn". Die Grundwissenschaft verlor danach die Transcendenz des Absoluten, die zurückzugewinnen darum das tiefste Anliegen des späten

Schelling

gewesen ist, - wobei

nichts von Hegels Ansatz aufgeben durfte und wollte. Auch

Schelling

Schellings

aber

„Logik"

als Versuch, die Grundprincipien alles Seienden zu erhellen, wollte Wissenschaft rein aus dem Denken sein. Das Nähere konnte dabei freilich nur aus

Schellings

„ReaZ-Idealismus" kommen, wonach Seiendes nicht allein aus dem „Idealen" geboren ist, aus dem „Monismus" des Begriffs, sondern aus der wirkenden Macht des „Idealen

und „Realen". Diese Mächte sind aber auch nach dem

Besprechungen

späten

Schelling

309

rein im Denken erkennbar, ja mit Hegel: durch ein „dialekti¬

sches" Denken, wobei

Schelling

freilich im Rückgriff auf

Plato

„dialektisch"

als „gesprächsweise" faßte: indem das Denken versucht, das Seiende zu denken, erfährt es, daß Seiendes nur in einer Folge mehrerer Elemente denkbar ist. In solchem Denkversuch erlangt das Denken so nach

Schelling

den Schlüssel zu

allem Seienden. Indem sich ihm apriori die weltgestaltenden Urmächte erschließen, „weiß

die Vernunft um alle Möglichkeiten des Seins. Aber

Aufgabe war damit

das scheint mir bei

Oeser

Schellings

ein wenig zu kurz zu kommen —

nicht zu Ende. Im Gegenwurf gegen Hegel lag ihm vielmehr daran, zu zeigen, daß solche Mächte nicht „freischwebende" Mächte sind, die „von selbst" ins Da¬ sein drängen. Wäre es so: alles Seiende wäre in eine reale Dialektik hinein¬ gerissen, dem es nicht zu entrinnen vermag. Diese Mächte müssen vielmehr zunächst „gehaltene" Mächte sein, die nur aktiv werden, wenn ein sie besitzen¬ der Wille sie freigibt. Die Erhellung der Seinsprincipien drängt so zur Erhellung des Urprincips, dessen Möglichkeiten die „Potenzen" allererst sind. Und es ist hier, wie

Oeser zu

Recht sieht, vor allem

Aristoteles

gewesen, der dem späten

Schelling das Geleit gegeben hat: mit seiner fundamentalen These, daß Möglich¬ keit nie als Prius sein könne, sondern nur als Möglichkeit einer Wirklichkeit: daß von Grund auf der Akt vor aller Potenz sei. Die philosophische Grund¬ wissenschaft gelangt so im Vollzug ihres Denkens notwendig zum Absoluten, das dieses wahrhaft ist: von aller Dialektik „ge-löstes" Sein. Woraus mit Not¬ wendigkeit folgt, daß endliches Seiendes nicht „mit Notwendigkeit", will sagen: mit dialektischer Notwendigkeit aus dem Ab-soluten entspringt, sondern nur aus dessen freier Setzung. Führt Dialektik zum Absoluten hin, so nicht von ihm weiter. „Hier reißt der Faden ab" ... Es ist ein Verdienst von

Oesers

Studie,

auf diese Gründe, ja Ab-gründe des späten ScHELLiNGschen Grübelns aufmerk¬ sam zu machen. Es scheint mir freilich zu hoch gegriffen, wenn

Oeser

formu¬

liert: „Und hier ist zu sagen, daß diese Dialektik, die als Gegenwurf gegen Hegels Dialektik zu verstehen ist, wohl das Bedeutendste ist, was der alte

Schelling

geleistet hat. Diese Auseinandersetzung mit Hegel und seiner absoluten Dialek¬ tik stellt einen Gipfel in der abendländischen Philosophie dar" (115). Am Rande: auch

Oeser

kann sich nicht entschließen, genauer auf die Phasen

des ScHELLiNGschen Weges zu achten, worauf ich in den Kantstudien (Bd 47, 48, 1955 ff) eindringlich hingewiesen habe. Schelling hat keineswegs schon 1827

seine entscheidenden Formulierungen gegen Hegel vorgetragen.

Das S.

VJ.

Bd 10. 126 ff Mitgeteilte ist nicht von 1827; es stammt aus einer späteren Phase: erst 1832 begann Schelling eine eingehendere Auseinandersetzung mit Hegel, die sich dann in den folgenden Jahren weiter vertieft hat. Horst Fuhrmans (Köln)

Literaturberichte und Kritik

310

Oskar Negt: Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1964. (Frank¬ furter Beiträge zur Soziologie. Bd 14.) Vergleiche systematischer Theorien, die nicht nur auf genetische Zusammen¬ hänge abzielen, sind sinnvoll und für das Begreifen der jeweiligen Theorien förderlich, wenn sie spezifische Differenzen innerhalb eines gemeinsamen Frage¬ horizonts sichtbar machen können. Oskar

Negts

Vergleich der Hegelschen Philo¬

sophie, soweit sie die Gesellschaft zum Gegenstand hat, und der philosophie posi¬ tive

Comtes

ist ein solcher sinnvoller und erleuchtender Vergleich, bei dem es

eher Wunder nimmt, daß er nicht längst schon angestellt wurde — wenn wir von einem Aufsatz von

Salomon-Delatour

in der Revue Positiviste Internatio¬

nale von 1935 absehen. Allerdings ist die Schwierigkeit, das Denken Hegels und Comtes

aufeinander abzubilden, nicht gering.

hat seine Aversion gegen

Comte

Hegels Geistbegriff ausgedrückt und dessen Geschichtsphilosophie „encore trop metaphysique" genannt. Andererseits aber sieht gerade

Comte

im Unterschied

zu Hegel Geschichte als bloße Funktion eines gesetzmäßigen Ablaufs von Ideen und schätzt — trotz seines Lehrers straktion gering.

Comte

Saint-Simon

— die Ökonomie als bloße Ab¬

scheint der „Fortschrittlichere" zu sein, wenn wir das

heutige öffentliche Bewußtsein seine Utopie einer totalen Herrschaft der Er¬ fahrungswissenschaften beurteilen lassen, aber ebenso offenkundig ist seine apologetische Tendenz, der Primat des ordre vor dem progres, das politische Bündnis mit den konservativen Institutionen, das läßt. (Charles

Maurras

Negt

übrigens unerwähnt

konnte sich als politischer Testamentsvollstrecker

betrachten.) Wiederum aber hält

Comte

Comtes

selbst den utopischen Entwurf einer

rationell organisierten Menschheit als ens realissimum der Gegenwart kritisch entgegen, während Hegel die Philosophie streng zum Begreifen dessen, was ist, zurückholt. „Hierin zeigt sich, daß progressive und reaktionäre Elemente in den Gesellschaftstheorien von

Comte

und Hegel, in denen freilich nur der Zwiespalt

der bürgerlichen Klasse des beginnenden 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt, untrennbar miteinander verflochten, aber verschieden verteilt sind." Diese Be¬ merkung

Negts

Schwächen

enthält die These seines Buches in ihrer schlechtesten, die

enthüllendsten

Form:

Die undialektisch

verwendeten

Kategorien

„progressiv" und „reaktionär" führen zu einem äußerlichen Verteilen und Ver¬ rechnen von einzelnen Zügen der Hegelschen und Comteschen Theorie, die positiv oder negativ zensuriert werden — „Lebendes und Totes" — und diese Äußerlichkeit wird dadurch nicht aufgehoben, daß die Divergenz der Elemente mit Hilfe der soziologisch interpretierten Ausdruckskategorie verständlich ge¬ macht wird. Das Buch ist in den meisten Teilen jedoch viel besser, wie ja über¬ haupt die dialektischen Analysen der Frankfurter Schule von einer Kraft und Subtilität des Aufschließens sind, die das eifrige Vorzeigen des materialistischen Instrumentariums als eigentümliches Understatement erscheinen läßt. Weit ent¬ fernt, Hegel wie

Comte

nur als „Ausdruck" der Situation des Bürgertums in

Besprechungen

311

der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sehen, begreift

Negt

mit Hilfe Hegels. Und auch der Vergleich von Hegel und

diese Situation

Comte

geschieht in

Hegelscher Perspektive. Gerade diese „Parteilichkeit" ist es, die ihn fruchtbar macht. Die Übereinstimmung von Hegel und „Für

Comte

Comte

hat zahlreiche Aspekte:

und Hegel ist die Geschichte ein gesetzmäßiger Zusammenhang,

durch den die Einzelerscheinungen untereinander und in Beziehung auf das Ganze bestimmt

sind.

Dem Comteschen fundamentalen Entwicklungsgesetz,

das die Hauptstufen der gesellschaftlichen und logisch-begrifflichen Entwicklung wiedergibt, entspricht bei Hegel die notwendige Folge der Volksgeister." (96) Hegel und

Comte

sehen die Geschichte teleologisch auf Freiheit als Endzweck

sich hinbewegen, wobei Freiheit bei theoretischen und

Comte

„einen definitiven, von wissenschafts¬

sozialen Widersprüchen

meint; was er bei Hegel meint, spricht

freien

Negt

Zustand

der Menschheit"

weniger deutlich aus, sondern

merkt nur an, er umfasse — als idealistischer Begriff — „noch nicht die reale Existenz des Menschen in allen ihren Erscheinungsformen, sondern wesentlich den Bereich des Bewußtseins." (108) Wie freilich jene Vermittlung und Negativi¬ tät, die eine dialektisch gedachte Freiheit von bloß positiver unterscheidet, anders als „im Bewußtsein" sich realisieren könne, diese Frage beträfe wiederum jene Prämissen, die

Negts

Arbeit als offenbar nicht mehr der Diskussion würdig

voraussetzt. Einig aber sind sich

Comte

und Hegel darin, als Prinzip der Be¬

freiung die Arbeit zu sehen, und zwar „knechtliche Arbeit" und in deren Folge Verinnerlichung des Arbeitszwanges und Herausbildung realitätsgerechter Ver¬ haltensweisen, durch die der Mensch aus dem Kreislaufgeschehen der Natur ausbricht. Indem Hegel wie

Comte

diese Befreiung nicht an einen personalisti-

schen und substantiellen Begriff des Individuums knüpfen, „werden die anti¬ individualistischen Konzeptionen von

Comte

und Hegel der Realität des Men¬

schen gerechter als jene, welche die Menschlichkeit des Menschen als unverlier¬ bare

Qualität aus

den Vermittlungen der wirklichen Geschichte heraushal¬

ten." (100)

Allerdings geschieht dieser Ausbruch nur in eine Gesellschaft hinein, deren Selbsterhaltung und Systemzusammenhang selbst wiederum durch naturhaften Zwang konstituiert werden. Hegel wie Comte gemeinsam ist daher nach Negt auch das gewaltsame Zurückholen der Geschichte in diesen Kreislauf der Natur durch die Festlegung eines Zieles der Geschichte, das die geschichtliche Dynamik in einem gegebenen Zustand zum Stillstand bringt und Philosophie zur Apo¬ logetik werden läßt. Daß Hegels Staat hinreichend dadurch definiert ist, jene gesellschaftsstabilisierende Funktion zu erfüllen, die die bürgerliche Gesellschaft aus sich heraus nicht zu leisten vermag, ist dabei vorausgesetzt. Der Unterschied von Hegel und Comte liegt dann vor allem darin, daß Comtes Philosophie methodisch und der politischen Tendenz nach von vorn¬ herein affirmativ und aufs Statische aus ist, Hegel dagegen — eine zentrale These der Frankfurter Schule — im negativen Detail besser ist als im „unkriti¬ schen Positivismus" (Marx) des Ganzen. Hegel hält gegenüber der positivisti-

Literaturberichte und Kritik

312

sehen Einschränkung des Wissens auf Methoden und Resultate der Einzel¬ wissenschaften fest an einer Idee von Wahrheit und Wissenschaft, in der „die Vernunft nicht schlafen darf", sondern jede Gestalt der Erfahrung an ihrem eigenen Anspruch mißt und damit über sich hinaustreibt. Während für

Comte

die philosophisch-soziologische Theorie das Erkenntnismaterial koordiniert, ohne je den Oberflächenzusammenhang des Gegebenen zu durchbrechen, und so durch ihren Objektivismus gerade subjektiv bleibt, insistiert Hegel auf der für die Selbstreflexion des Denkens notwendigen Spannung zwischen Begriff und Realität, zwischen Erscheinung und Wesen. „Die Erklärung der Gesamtgesell¬ schaft als ein System wechselseitig voneinander abhängiger Kräfte, bis zu der die positivistische Soziologie allenfalls sich vorwagt, ist nach Hegel noch nicht bis zum wirklichen Begreifen des Zusammenhangs, zur inhaltlichen Vermittlung von Wesen und Erscheinung gekommen." (69) Hegel dagegen hat den starren Gegensatz von Realismus und Nominalismus hinter sich, und Methode wird ihm zum „Bewußtsein über die Form der inneren Selbstbewegung ihres Inhalts". Wieweit die konkrete Negation, der Aufweis der Nichtidentität von Subjekt und Objekt, von Wesen und Erscheinung allerdings möglich und sinnvoll ist, „wenn nicht das Absolute an und für sich schon bei uns wäre" (Hegel), also ohne jene von der Frankfurter Schule perhorreszierte Theorie des Ganzen, diese Frage zu stellen ist vielleicht die Rezension dieses Buches nicht der Ort, aber sie drängt sich doch auf angesichts der Tatsache, daß nicht die dialektische, son¬ dern die positivistische Soziologie in Ost und West zur maßgebenden Theorie der gesellschaftlichen Realität zu werden im Begriff ist. Was jene „Aufhebung der entfremdeten Realität, die einzig der Idee des Fortschritts angemessen wäre" und von

Comte

nicht erhoben wird, bedeuten soll, kann so keineswegs mehr als

verständlich vorausgesetzt werden. Die Ohnmacht der dialektischen Philosophie, die sich für Herrschaftszwecke ohnehin nicht eignet, wird tödlich, wenn diese nicht mehr deutlich artikulieren kann, in Namen wovon sie auf dem Nicht¬ einverständnis zu bestehen sich erlaubt. Robert Spaemann (Stuttgart)

Günther Hillmann: Marx und Hegel. Von der Spekulation zur Dialektik. Interpretation der ersten Schriften von Karl Marx im Hinblick auf sein Verhältnis zu Hegel (1835—1841). Frankfurt a. M.: Europäische Verlags¬ anstalt 1966. 456 S.

Die vorliegende Arbeit enthält eine umfassende „philosophisch-soziologische Analyse" der ersten Schriften von

Marx

bis zum Jahre

1841. H.

interpretiert

zunächst den deutschen Abituraufsatz, zeigt dann an den Romantischen Dich-

Besprechungen

313

tungen MARxens Opposition gegen Hegel auf und deutet schließlich den Brief an den Vater als „Abschied von der Romantik” und „Übergang zu Hegel”. Die weitere Auseinandersetzung mit Hegel wird an den Vorarbeiten zur Dissertation und an der Dissertation selbst entwickelt. Dabei gelingt es H., die Darstellung des Werdegangs von

Marx

in seiner Nähe und Unterschiedenheit nicht nur zu

Hegel, sondern auch zu den Junghegelianern und zum Hegelschen Zentrum mit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der bisherigen MARX-Interpretation zu verbinden, ohne daß jemals der Zusammenhang der Arbeit zerstört oder undurchsichtig wird. Hauptanliegen ist die Darstellung des „Werdens des wesentlichen Gedankens von

Marx,

das identisch ist mit dem Prozeß seiner Unterscheidung von der

Hegelschen Philosophie" (28); und da

Hillmann

sich grundsätzlich zu

Marx,

d. h. zum Marx seiner Interpretation, bekennt, anerkennt er die Problematik der Hegelschen Philosophie nur soweit, wie sie „aus ihren Folgen, welche die Auf¬ lösung dieser Philosophie als Totalität bezeichnen, abgeleitet” werden kann (28). Dadurch verzichtet die Auseinandersetzung mit Hegel auf eine grundsätzliche Erörterung des Hegelschen Systems und begrenzt sich auf eine bloße Darstellung des MARxschen Hegelverständnisses. Wie MARxens Interesse an der Geschichte der Philosophie sich lediglich auf die „Resultate" der Tradition beschränkt (368), da für ihn letztlich nur die „historische Existenz” eines Systems und sein Ver¬ hältnis „zur ,Wurzel' des gesellschaftlichen Lebens” den Wert eines Systems be¬ stimmt (335) — H. geht sogar soweit,

Marx

unter Anwendung der Kategorie

der „historischen Existenz” so zu deuten, als habe ihm „seine eigene Situation . . . keine andere Wahl gelassen” (124) — so distanziert sich H. von der „gesamten bisherigen Forschung” aus dem von im Anschluß an

Breuer

Marx

her bestimmten Interesse, wenn er

dieser vorwirft, sie habe sich „bei der Untersuchung

des Maßes der Bedeutung von Hegel und

Feuerbach

für

Marx

bewußt oder

unbewußt auf die Untersuchung der Beziehungen im Raume des philosophischen Denkens beschränkt”, während die „Frage nach den Beziehungen im Ethos, aus dessen Tiefenschicht doch die echten existentiellen Entscheidungen aufbrechen . . . bisher gänzlich außer acht gelassen worden” seien (94). Der hier ausgesprochene grundsätzliche Anschluß an

Marx

veranlaßt H. dazu, Hegel nicht aus der

immanenten Bewegung seines Systems oder von der innerphilosophischen Ge¬ samtproblematik her zu interpretieren, sondern ihn allein zur Darstellung „des Werdens des wesentlichen Gedankens von stellung von

Marx

Marx” zu

benutzen. Die Gegenüber¬

und Hegel ist daher, sowohl was die Gemeinsamkeit als

auch die Unterschiedenheit beider Systeme betrifft, eine Gegenüberstellung der bloßen Resultate, die ihrerseits — und das liegt völlig in der Konsequenz des hermeneutisch-soziologischen Interesses der vorliegenden Arbeit — weniger „im Raume des philosophischen Denkens” als vielmehr in ihrer Herkunft und Be¬ stimmung durch die „historische Existenz” des jeweiligen Denkers erfaßt wer¬ den. Dadurch erschließt sich der im eigentlichen Sinne nicht mehr philosophischen Argumentation ein weites Feld bisher ungeahnter Möglichkeiten. Die inner-

Literaturberichte und Kritik

314

philosophische Fundamentalproblematik scheint sich angesichts der von

Marx

behaupteten grundsätzlichen Unlösbarkeit im „Raum des philosophischen Den¬ kens" unmittelbar in eine praktische Problematik transformieren zu lassen. So erfährt nach H.s Interpretation die bei Hegel lediglich in der Praxis des rei¬ nen Denkens versöhnte Problematik bei

Marx

eine Umformung in Probleme

der wirklichen Praxis des Handelns. Die vorliegende Arbeit glaubt dies an mehreren „Resultaten" der Tradition aufzeigen zu können; es sei hier nur auf die Umkehrung der Gottesbeweise Hegels in Beweise der Nichtexistenz Gottes, in Beweise des Selbstbewußtseins des Menschen hingewiesen (228 ff). Dasselbe trifft auch für die Unterschiede der Hegelschen und MARXSchen Epikunnterpretationen zu; denn diese erweisen sich für H. keineswegs aus der subtilen innerphilosophischen Problematik, sondern lassen sich auf die verschiedenen geschichtlichen Situationen und die hieraus resultierenden Einstellungen der Denker zurückführen. Hegel, im Sinne MARxens von H. verstanden als „Resultat der Verdrängung praktischer Sehnsucht" (5), erscheint in seiner Beschränktheit in „den Bannkreis des ,reinen' Denkens" (317) unfähig, den „Materialismus bzw. Empirismus"

Epikurs,

„indem er ihn mit seinen wesentlichen Funktionen

aus der eigentlichen Philosophie eliminierte", als „Prozeß des menschlichen Denkens" (321) zu begreifen, während

Marx,

dem es darum geht, „aus der

Stellung zum Leben selbst die Funktion des epikureischen Systems zu er¬ schließen" (328) in

Epikurs

(332)

einen Retter

würdigend,

Theorien, diese „aus ihrer praktischen Bedeutung" der

Freiheit

sieht

und

die

„Funktion

des

Materialismus in der Geschichte" dazu bestimmt, „den Menschen die An¬ eignung des Wissens und der Technik zu ermöglichen, die sie benötigen, um die Macht der Natur über die Menschheit zu brechen . . ., den Menschen auf sich selbst zu verweisen" (352). Das Verhältnis der innerphilosophischen Probleme und ihrer Lösungsversuche zur Welt bestimmt bekanntlich

Marx

als den nicht zu vermeidenden Wider¬

spruch im absoluten System Hegels. Dieser wird an Hegel selbst aufgezeigt, wenn unter dem Hinweis auf die These vom „isolierten Priesterstand" der Philosophie, „der mit der Welt nicht Zusammengehen darf" die Alternative von „sich selbst begreifendem Versöhntsein und kalter Verzweiflung"

(265)

als

eben dieser Widerspruch verstanden wird. Für H. formuliert sich im Anschluß an

Marx,

der sich vor die Alternative „Vergegenständlichung des Subjekts oder

sterile Adaption" gestellt sah (265), das Problem von Theorie und Praxis als Approximation der Praxis an die Theorie (227). Damit ist freilich eine Ent¬ scheidung gefallen, die schon für

Marx

schwerwiegende Folgen hatte, wenn er

sich dieser auch nie bewußt geworden ist. Die von ihm erhoffte Formierung der Praxis (381) ist durch eine bloße Approximation der Praxis an die Theorie näm¬ lich grundsätzlich nicht zu erreichen. Wird das Problem von Theorie und Praxis als „Vergegenständlichung des Subjekts", etwa als Konkretisierung der theoreti¬ schen Reflexion im Sinne einer soziologischen (oder gar ökonomischen) Analyse verstanden, so bleibt schließlich nichts als das Geheimnis, auf welche Weise die

Besprechungen

315

Praxis sich formieren lasse und wie sie, wenn nicht von einer beliebigen Ideo¬ logie, formiert werden solle. Das so angesetzte Problem von Theorie und Praxis bringt mit der Verkürzung des philosophischen Interesses auf die für sich genommen notwendig leeren Resultate der Tradition den Verlust der eigentlich philosophischen Problematik mit sich, der schließlich zur Gleichsetzung von Weltanschauung und Philosophie überhaupt führt, eine Gleichsetzung, zu der sich H. in Anlehnung an

Marx

ausdrücklich bekennt.

Das Problem von Theorie und Praxis hat zwar ungeachtet seiner Formulierung bei

Marx

gerade durch die Auseinandersetzung mit Hegel entscheidende Be¬

deutung erlangt. Als Formulierung der Frage nach der Affinität von reflexiver Sinnbestimmung und sinnhafter Existenz bestimmt sich freilich in ihm eine Thematik, die im bloßen Ausgang von den „Resultaten" der Tradition nicht erreicht und daher von worden ist. Damit soll

die

Marx

— und insofern auch von H. — notwendig verfehlt

philologisch-soziologische

Leistung

Hillmanns

nicht

ge¬

schmälert werden. Sein Anliegen war nicht eine kritische Auseinandersetzung mit dem MARXSchen Ansatz, ihm ging es vielmehr darum, den Werdegang der Gedanken MARxens zu verfolgen. Dies konnte nur unter dem Rückgriff auf Hegel und dessen Schüler erfolgen und war schließlich nur möglich unter grund¬ sätzlicher Beibehaltung der Position des jungen

Marx,

den die philosophische

Tradition in ihrer innerphilosophischen Thematik nur am Rande beschäftigt hat. Dietrich Benner (Bonn)

L(oris) Ricci Garotti: Heidegger contra Hegel e altri saggi di storigrafia filosofica con una presentazione diArturo Massolo. Urbino: Argalia 1965. V, 333 S. (Studi filosofici.) Der Band enthält alle im Druck erschienenen Arbeiten des jungen Gelehrten, Schülers von A.

Massolo

an der Universität Urbino und dort später Dozent für

Philosophie, der so frühzeitig und tragisch im Juni 1965 verstorben ist. Drei Auf¬ sätze sind hier von besonderem Interesse: Interpreti italiani di Hegel del dopoguerra, Leggendo Heidegger che legge Hegel und Heidegger contra Hegel:. Es sind dies nicht historische Untersuchungen im eigentlichen Sinn, sondern eher Aufzeichnungen „im Tagebuchstil" (wie

Massolo

in seinem Vorwort sagt),

die beim Studium der Texte entstanden sind und ausgearbeitet wu-den. Aus diesem Grund ist es schwierig, sie in einer kritischen Zusammenfassung darzu¬ stellen. Wir werden daher nur die Themen der verschiedenen Arbeiten angeben. Interpreti italiani di Hegel del dopoguerra ist die erschöpfendste Darstellung dieses Aspekts der gegenwärtigen italienischen Philosophie, die man in Zukunft

Literaturberichte und Kritik

316

zusammen mit N.

Bobbio:

Rassegna di studi hegeliani (in: Belfagor. 5/1950,

Heft 1 u. 2) wird nennen müssen. Es werden in der Tat alle italienischen Wissen¬ schaftler genannt und kritisch beurteilt, die sich seit Kriegsende mit Hegel be¬ schäftigt haben. Wir müssen uns hier darauf beschränken, einige der wichtigsten Namen und Gruppen zu erwähnen, in deren Umkreis die Diskussion angeregt oder durchgeführt wurde. Der italienische Neoidealismus, der sogenannte „neohegelismo" ist noch gegenwärtig in der Nachkriegszeit mit V. (der von Ruggiero

Gentile

(von

herkommt), mit

Gentile

und

C. Antoni

Croce

(von

Croce

Fazio Allmayer

her) und mit G.

de

herkommend), aber es handelt sich nur

noch um vereinzelte Stimmen. Eine neue bewußtere Hegel-Interpretation bildet sich heraus, von verschiedenen Zentren ausgehend. Es sind dies: E.

mit

de Negri

seinem Buch Interpretazione di Hegel (Firenze 1943) und mit seinen Über¬ setzungen der Phänomenologie (1. Ausg. Firenze 1933) und einer Sammlung von Hegelschen Jugendschriften (1949); A.

Banfi

(Incontro con Hegel) und seine

Schule in Mailand; die Diskussion, die in Italien durch die Verbreitung und Übersetzung der Werke von

Hypfolite,

Lukäcs,

Kojeve,

Loewith,

Gang kam; und schließlich die Veröffentlichung der Schriften von

Weil

in

Gramsci,

besonders seines Buches II materialismo storico e la filosofia di B. Croce (1948). Mit

Gramsci

sind wir schon im Bereich der marxistischen Hegel-Interpretation,

die in Italien überaus lebhaft, scharfsinnig und reich an interessanten Problemen war und ist. Hier sind aus der älteren Generation G. und A.

Massolo zu

Della Volpe, C. Luporini

nennen; von der jüngeren Generation, die unmittelbar nach

dem Krieg ihre Studien begann oder abschloß, P. Salvucci.

M.

Rossi, N.

Merker, L.

Co-

letti,

Der Aufsatz Leggendo Heidegger che legge Hegel ist eine vergleichende Studie über die „Einleitung" zur Phänomenologie und die Abhandlung Hegels Begriff der Erfahrung von

Heidegger.

Der Autor geht philologisch analysierend an den

Text Hegels und vor allem an den

Heideggers

heran, erörtert das Problem der

Möglichkeit überhaupt der „Einleitung zur Phänomenologie" (= System) (und hierhin haben wir den positiven Beitrag

Heideggers),

warnt aber vor dem Ver¬

such, die Hegelsche Problematik der Phänomenologie zu vermindern, gemäß der zusammenfassenden Formel

Heideggers:

„Die Phän. d. G. ist die Parusie

des Absoluten. Die Parusie ist das Sein des Seienden." Die Studie ist von Inter¬ esse, auch weil sie einige unveröffentlichte Forschungsergebnisse A. verarbeitet.

Massolos

Heidegger contra Hegel? schließlich ist eine Analyse der Seiten, die

Heidegger

Hegel gewidmet hat, vor allem in Sein und Zeit und in den Schriften, die sich auf den Brief über den Humanismus beziehen. Die Arbeit ist gewissermaßen die Fortsetzung der vorhergehenden und behandelt, so kann man sagen, die Frage: wie liest

Heidegger

Hegel? Die Antwort darauf findet man in

zweibändigem Werk über

Nietzsche,

Heideggers

dessen Behandlung der Vf. breiten Raum

gibt. Es enthält das Problem des „Endes", der „Destruktion" der Philosophie, ein Thema, das

Heidegger

hegelisch erscheint. Der Vf. schreibt: „Mit

Nietzsche

Besprechungen

317

hat die Philosophie als Metaphysik nunmehr alle ihre Möglichkeiten erschöpft. Wenn auf der einen Seite das, was

Nietzsche

gewesen ist, auf der Grundlage

der Geschichte der Metaphysik als Vergessen des Seins verständlich ist, so ist andererseits auch wahr, daß es

Nietzsche

ist, der die Wiederholung einer solchen

Geschichte ermöglicht, insofern als er deren abschließendes Ereignis darstellt. Die dauernde Gegenwärtigkeit

Nietzsches

ist nun in

Heidegger

wahrnehmbar

als abschließendes und zerstörendes Ereignis der ganzen Metaphysik. All das mag hegelisch erscheinen, nur muß man daran denken, daß auch Hegel die Ge¬ schichte des Denkens und der Weltgeschichte rekonstruiert hat, indem er von einer Situation des Abschlusses ausging. Aber gerade diese scheinbare Paralleli¬ tät muß in Frage gestellt werden." (31 f) Und der Autor beweist einerseits die Unhaltbarkeit dieser HEiDEGGERSchen Interpretation, und andererseits, daß der Hegelsche Begriff des Abschlusses der Geschichte von dem Verhältnis abhängt, das Hegel zwischen Philosophie und Situation setzt, also zwischen christlich¬ germanischer Welt, wo alle Menschen frei sind, und Philosophie der Welt¬ geschichte, zwischen Französischer Revolution und der Möglichkeit des Absolu¬ ten Wissens. Wir können hier nur einen ersten Eindruck der Arbeit von L.

Ricci Garotti

vermitteln. Sein Text und seine Analysen sind so konzentriert, daß man aus¬ führlich darüber sprechen müßte. Es ist sicher, daß er mit diesen Studien heute einen Platz in der Geschichte der italienischen Hegelstudien der Nachkriegszeit, die er selbst dargestellt hat, einnimmt. Livio Sichirollo (Urbino)

NEUERE POLNISCHE HEGEL - L I TERATUR

G. W. F. Hegel: Wyklady o estetyce [Vorlesungen über die Ästhetik].

Bd 1—3. Warszawa 1964—67. Es ist dies die erste vollständige polnische Übersetzung der hegelschen Ästhe¬ tik, erschienen in der Bibliothek der Klassiker der Philosophie, einer für Polen sehr bedeutungsvollen Serie, die seit ihrem Beginn (1951) über 100 Bände der philosophischen Klassiker herausgegeben hat. Hegel ist in der Bibliothek schon durch drei seiner Werke repräsentiert: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (2 Bde, Warszawa 1958, übersetzt von J. Landmann,

eingeleitet von T.

setzt und erläutert von A.

Kroi