Health Literacy im Kindes- und Jugendalter: Ein- und Ausblicke [1. Aufl.] 9783658298159, 9783658298166

​Das Thema Health Literacy, für das sich im deutschen Sprachgebrauch der Begriff der Gesundheitskompetenz etabliert hat,

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German Pages XVI, 619 [615] Year 2020

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Health Literacy im Kindes- und Jugendalter: Ein- und Ausblicke [1. Aufl.]
 9783658298159, 9783658298166

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVI
Health Literacy im Kindes- und Jugendalter – ein Streifzug (Paulo Pinheiro, Torsten M. Bollweg, Janine Bröder)....Pages 1-7
Front Matter ....Pages 9-9
Von Chicago 1958 bis Shanghai 2016: Ein Rückblick auf zentrale Entwicklungstrends in der Geschichte der Gesundheitskompetenz (Orkan Okan, Paulo Pinheiro)....Pages 11-38
Definitionen und Konzepte von Health Literacy – Überblick und Einordnung (Kristine Sørensen)....Pages 39-53
Health Literacy von Kindern und Jugendlichen: entwicklungsbezogene Überlegungen (Janine Bröder, Graça S. Carvalho)....Pages 55-72
Gesundheitskompetenz messen bei Kindern: aktuelle Ansätze und Herausforderungen (Torsten M. Bollweg, Orkan Okan)....Pages 73-98
Health Literacy im Jugendalter: Anforderungen an Messinstrumente (Susanne Jordan, Olga Domanska, Anne-Kathrin Loer)....Pages 99-115
Im Dialog: Aktuelle Perspektiven zu Theorien & Messmethoden der Health Literacy (Kristine Sørensen, Jürgen Pelikan, Janine Bröder, Torsten M. Bollweg)....Pages 117-142
Front Matter ....Pages 143-143
Eine Einführung in das Konzept Mental Health Literacy (Anthony F. Jorm)....Pages 145-160
Im Dialog: Zur Berücksichtigung zielgruppenspezifischer Besonderheiten bei der Betrachtung der Mental Health Literacy von Kindern psychisch erkrankter Eltern (Ullrich Bauer, Albert Lenz, Janine Bröder)....Pages 161-174
Ein empirischer Blick auf das Konzept „Mental Health Literacy“ im Fokus von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil (Dirk Bruland, Patricia Graf, Elena Groß)....Pages 175-191
Lernen zu verstehen – Durch Psychoedukation die mentale Gesundheitskompetenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern stärken (Torben Reher, Patricia Graf, Albert Lenz)....Pages 193-206
Förderung psychischer Gesundheit von Schüler*innen: ein ganzheitlicher Schulansatz basierend auf Mental Health Literacy (Sandra Kirchhoff)....Pages 207-222
Front Matter ....Pages 223-223
Der Umgang mit Gesundheitsbotschaften aus traditionellen und digitalen Medien – Media Health Literacy und digitale Gesundheitskompetenz (Isabella Bertschi, Diane Levin-Zamir)....Pages 225-238
Neuen Medien und digitale Gesundheitsinformationen im Alltag von weiblichen Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland (Zeynep Islertas)....Pages 239-252
Konzipierung und Messung von eHealth Literacy bei Jugendlichen – Welche Stärken und Grenzen weisen das Lily Modell und seine Operationalisierung hierbei auf? (Zeynep Islertas)....Pages 253-269
Health Literacy als Voraussetzung für balancierte digitale Mediennutzung am Beispiel einer Präventionsmaßnahme für das Vorschul- und Grundschulalter (Lea Kuntz, Simone Flaig, Paula Bleckmann, Hanna Schwendemann, Thomas Mößle, Jasmin Zimmer et al.)....Pages 271-284
Im Dialog: Die Rolle von Medien und Gesundheit in der Jugendphase: Reduktion oder Reproduktion von Ungleichheiten? (Diane Levin-Zamir, Uwe H. Bittlingmayer, Janine Bröder)....Pages 285-297
Front Matter ....Pages 299-299
Der HLCA-Forschungsverbund 2015–2021 (Orkan Okan, Uwe H. Bittlingmayer, Eva Maria Bitzer, Maren A. Jochimsen, Susanne Jordan, Fabian Kessl et al.)....Pages 301-325
Im Dialog: Interdisziplinär und kommunikativ?! Wissenschaftsmanagement am Beispiel des HLCA-Forschungsverbunds (Maike Müller, Julia-Lena Reinermann, Torsten M. Bollweg)....Pages 327-335
Mut zu zukunftsfähiger Wissenschaft – zur Integration der Geschlechterperspektive in die Health Literacy Forschung (Maren A. Jochimsen, Judith Hendricks)....Pages 337-358
Eine gesundheitsökonomische Perspektive auf Health Literacy im Kindes- und Jugendalter (Jürgen Wasem, Janine Biermann-Stallwitz)....Pages 359-369
Front Matter ....Pages 371-371
Health Literacy in der Kindheit und Jugend: Analyse des aktuellen Diskurses und damit verbundene Herausforderungen und konzeptionelle Überlegungen (Janine Bröder)....Pages 373-392
„Health literacy is linked to literacy“: Eine Betrachtung der im Forschungsdiskurs zu Health Literacy berücksichtigten und unberücksichtigten Beiträge aus der Literacy Forschung (Paulo Pinheiro)....Pages 393-415
Die soziale Einbettung von Gesundheitskompetenz (Ullrich Bauer)....Pages 417-435
Die Einbettung von Health Literacy in das Paradigma der Salutogenese (Luís Saboga-Nunes, Uwe H. Bittlingmayer, Marlene Pieper, Orkan Okan)....Pages 437-460
Gesundheitskompetenz für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen? Inklusion als ernstzunehmende Herausforderung für die Gesundheitskompetenz (Uwe H. Bittlingmayer, Paulo Pinheiro, Diana Sahrai)....Pages 461-482
Health Literacy in der Praxis der Sozialen Arbeit (Laura Bader, Lena Gemander, Wietke Sophie Herdejürgen, Sonja Hölzl, Maria Hoffmann, Johanna Salewski)....Pages 483-502
Im Dialog: Gesundheitliche Bildung, Gesundheitskompetenz und gesundheitsfördernde Schulen (Malcolm Thomas, Dirk Bruland, Torsten M. Bollweg)....Pages 503-521
Die ethischen Grundlagen für die Entwicklung von Health Literacy in Schulen (Leena Paakkari, Shanti George)....Pages 523-547
Kinder als aktiv Mitgestaltende in Health Literacy Forschung und Praxis? Von Rhetorik zu Rechten (Emma Bond, Vanessa Rawlings)....Pages 549-561
Die natürliche Neugier von Kindern als Grundlage für das Children’s International Press Centre (CIPC) (Elise Sijthoff)....Pages 563-573
Stimmen aus dem Off: Interdisziplinäre Forschungsperspektiven auf die Gesundheitskompetenz von Kindern aus der Mitte eines informellen Netzwerks (Paulo Pinheiro, Shanti George, Orkan Okan, Elise Sijthoff, Uwe H. Bittlingmayer, Rahel Kahlert et al.)....Pages 575-597
IUHPE Positionspapier zur Gesundheitskompetenz: eine praktische Vision für eine gesundheitskompetente Welt (Diane Levin-Zamir)....Pages 599-619

Citation preview

Gesundheit und Gesellschaft

Torsten M. Bollweg · Janine Bröder Paulo Pinheiro Hrsg.

Health Literacy im Kindes- und Jugendalter Ein- und Ausblicke

Gesundheit und Gesellschaft Reihe herausgegeben von Ullrich Bauer, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Matthias Richter, Institut für Medizinische Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Uwe H. Bittlingmayer, Institut für Soziologie, Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland

Der Forschungsgegenstand Gesundheit ist trotz reichhaltiger Anknüpfungspunkte zu einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsfelder – z. B. Sozialstrukturanalyse, Lebensverlaufsforschung, Alterssoziologie, Sozialisationsforschung, politische Soziologie, Kindheits- und Jugendforschung – in den Referenzprofessionen bisher kaum präsent. Komplementär dazu schöpfen die Gesundheitswissenschaften und Public Health, die eher anwendungsbezogen arbeiten, die verfügbare sozialwissenschaftliche Expertise kaum ernsthaft ab. Die Reihe „Gesundheit und Gesellschaft“ setzt an diesem Vermittlungsdefizit an und systematisiert eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf Gesundheit. Die Beiträge der Buchreihe umfassen theoretische und empirische Zugänge, die sich in der Schnittmenge sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Forschung befinden. Inhaltliche Schwerpunkte sind die detaillierte Analyse u. a. von Gesundheitskonzepten, gesundheitlicher Ungleichheit und Gesundheitspolitik.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12229

Torsten M.  Bollweg · Janine Bröder · Paulo Pinheiro (Hrsg.)

Health Literacy im Kindes- und Jugendalter Ein- und Ausblicke

Hrsg. Torsten M. Bollweg Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft Bielefeld, Deutschland

Janine Bröder Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft Bielefeld, Deutschland

Paulo Pinheiro Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft Bielefeld, Deutschland

ISSN 2626-6172 ISSN 2626-6180  (electronic) Gesundheit und Gesellschaft ISBN 978-3-658-29815-9 ISBN 978-3-658-29816-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29816-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­ grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Katrin Emmerich Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Die Entstehungsgeschichte, Zielsetzung und Struktur dieses Sammelbands lassen sich kaum nachvollziehbar vermitteln, ohne an dieser Stelle auch den Forschungsverbund „Health Literacy im Kindes- und Jugendalter“ – in Anlehnung an die englische Selbstbeschreibung kurz: HLCA-Verbund – einmal zumindest in seinen Grundzügen zu beschreiben. Die Verknüpfung von HLCAVerbund und Sammelband ist hierbei deshalb so bedeutsam, da 2015 nicht nur ein koordinierter Zusammenschluss von Forschungsprojekten und -standorten seine Arbeit aufnahm, sondern sich ein Netzwerk von Professor*innen, Nachwuchswissenschaftler*innen und externen, oft internationalen Expert*innen formierte, die sich für einen Zeitraum von zunächst drei Jahren einem Forschungsgegenstand widmen sollten, der in Deutschland bis dato noch nicht etabliert, und im internationalen Raum nur rudimentär ausgebildet war: Die Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen bzw. auch derjenigen Erwachsenen, die mit ebendieser Zielgruppe arbeiten. Im Rahmen des HLCA-Verbunds wurden Prozesse intensiven wissenschaftlichen Austauschs initiiert, angetrieben von Neugier und Wissensdurst, aber auch Skepsis gegenüber dem noch neuen Feld der Gesundheitskompetenzforschung. Diese Prozesse wurden von vielfältigen disziplinären Denkweisen geleitet und gestützt durch verschiedenste Methoden der theoretischen und empirischen Forschung. Dieser Sammelband stellt nun den Versuch dar, ebendiese Prozesse in konzentrierter Form zu dokumentieren und wesentliche Erkenntnisse aus den insgesamt elf Forschungsprojekten des HLCA-Verbunds zusammenzutragen. Hierbei kommen diejenigen Akteur*innen mit Beiträgen zu Wort, die als Forscher*innen und Projektleiter*innen die einzelnen Projekte vorangetrieben haben, aber auch internationale Health LiteracyExpert*innen, die dem Verbund beratend zur Seite standen, sowie weitere Externe.

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Vorwort

Dieses Werk ist ganz bewusst als Sammelband angelegt, der vielfältige Perspektiven auf und um Gesundheitskompetenz erfasst. Erklärtes Ziel ist hierbei, einen strukturierten und kritischen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung zum Thema Health Literacy im Kindes- und Jugendalter, insbesondere in Deutschland, zu geben. Aber auch weiterführende Perspektiven sind Teil dieses Sammelbands, die über die unmittelbare Arbeit des Verbunds hinausgehen und weiterführende Entwicklungsmöglichkeiten und Potenziale für die internationale Gesundheitskompetenzforschung aufzeigen. Auch der Kreis der Autor*innen ist darauf ausgelegt, die Diversität der im Forschungsfeld Gesundheitskompetenz Tätigen abzubilden. Vertreten sind beispielsweise Fachdisziplinen wie Erziehungswissenschaft, Soziologie, soziale Arbeit, Medizin, Public Health, Epidemiologie, Geschlechterforschung, Gesundheitsökonomie, Wissenschaftskommunikation oder Psychologie, wodurch ein multiperspektivischer Blick auf Health Literacy ermöglicht wird. Das Buch ist in fünf Abschnitte unterteilt, die einerseits eine strukturierte Einführung in die Thematik erlauben und andererseits die Struktur des Forschungsverbunds wiedergeben. Der erste Abschnitt des Sammelbands bietet eine Hinführung zum Gegenstand Health Literacy und stellt grundlegende theoretisch-konzeptionelle Zugänge sowie Grundlagen der Messung von Health Literacy bei Kindern und Jugendlichen vor. Im zweiten Abschnitt erfolgt eine Fokussierung auf das Thema Mental Health Literacy und somit auf Aspekte der mentalen Gesundheit. Der Zugang erfolgt exemplarisch durch die Bezugnahme auf die Zielgruppe Kinder psychisch erkrankter Eltern, die aufgrund der familiären Belastungen einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, selbst eine psychische Erkrankung im weiteren Lebenslauf zu erfahren. Hierbei wird insbesondere die Mental Health Literacy derjenigen Erwachsenen und Institutionen in den Blick genommen, die relevant für das Aufwachsen dieser Kinder sind. Die Perspektive ist hierbei eine ressourcenorientierte, in der die Förderung der Mental Health Literacy und die Prävention psychischer Erkrankungen im Vordergrund stehen. Der dritte Abschnitt des Sammelbands widmet sich der Rolle von digitalen Informationsangeboten für die Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention im Kindes- und Jugendalter, sowie dem kompetenten Umgang mit digitalen Medien. Im Zentrum des Abschnitts steht folglich der Themenbereich eHealth Literacy bzw. Media Health Literacy. Adressiert werden unter anderem die Bedeutung des digitalen Angebots und der multimodalen Möglichkeiten des Zugangs zu gesundheitsbezogenen Informationen für Kinder und Jugendliche, wobei auch Zielgruppen aus bildungsfernen und/oder ressourcenschwachen

Vorwort

VII

Milieus in den Blick genommen werden. Der vierte Abschnitt widmet sich Aspekten der Forschungsorganisation, die im Kontext des HLCA Verbunds von Relevanz gewesen sind. Er beinhaltet eine Vorstellung des Verbunds, seiner Projekte und Strukturen, und thematisiert forschungsrelevante Querschnittsthemen beispielhaft entlang der Leitthemen Wissenschaftskommunikation, Genderforschung und Gesundheitsökonomie. Der fünfte und letzte Abschnitt vereint weiterführende Perspektiven und Ansätze, die Impulse für die künftige Weiterentwicklung des Gegenstands Health Literacy im Kindes- und Jugendalter setzen wollen. Zu nennen sind hier beispielsweise bislang vernachlässigte, ethische Dimensionen von Health Literacy(-Forschung) sowie die Verknüpfung von Health Literacy mit Themenfeldern wie Literalität, Salutogenese, Inklusion und sozialer Arbeit. Während der Großteil der Beiträge dieses Sammelbands als wissenschaftliche Artikel verfasst ist, sind fünf der Beiträge als informelle Dialoge angelegt, um die diskursartige Bearbeitung ausgewählter Fragestellungen ermöglichen. Hierbei treten verschiedene Mitwirkende des HLCA-Forschungsverbunds ins persönliche Gespräch, um im jeweils eigenen Forschungsfeld bedeutsame Leitthemen zu diskutieren. Das vorliegende Werk vereint Elemente eines einführenden Handbuchs, einer Dokumentation aktueller Ergebnisse für Deutschland, sowie einer kritischen Diskussion und Weiterentwicklung des Gegenstandes Health Literacy im Kindes- und Jugendalter. Der Sammelband setzt sich mit aktuellen Herausforderungen an Prävention und Gesundheitsförderung bei Aufwachsenden auseinander und gibt multiperspektivische Ausblicke auf die künftige Auseinandersetzung mit dem Thema. Dieser Sammelband adressiert somit gleichermaßen Forscher*innen, Praktiker*innen und Entscheidungsträger*innen, die in verschiedensten Bereichen zur Förderung der Gesundheit und Gesundheitskompetenz arbeiten, aber auch Studierende und Auszubildende in den entsprechenden Fachdisziplinen. Hiermit gemeint sind all solche Professionen, in denen die Kommunikation von und der kompetente Umgang mit gesundheitsbezogenen Informationen eine zentrale Rolle spielt – wodurch keineswegs eine Einschränkung auf den medizinischen Sektor oder den Bildungsbereich impliziert wird. Unser besonderer Dank gilt all denjenigen, die die Arbeit des Verbunds unterstützt und tatkräftig an der Vorbereitung dieses Werks mitgearbeitet haben. Zunächst danken wir dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das mit seiner Förderung die Arbeit des HLCA-Verbunds erst

VIII

Vorwort

ermöglicht hat (Förderkennzeichen 01EL1424A-E sowie 01EL1824A-E). Wir danken allen Autor*innen, die ihre Zeit und Expertise zur Verfügung gestellt haben, um wertvolle Beiträge zu diesem Sammelband zu leisten. Ein besonderer Dank geht zudem an unsere Kolleg*innen am Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes und Jugendalter der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld, die uns bei der Prüfung und Bearbeitung der Beiträge unterstützt haben: Marlene Pieper, Vanessa Ohm, Elena Groß, Christina Janner und Eva Mahr. Bielefeld Februar 2020

Torsten Michael Bollweg Janine Bröder Paulo Pinheiro

Inhaltsverzeichnis

Health Literacy im Kindes- und Jugendalter – ein Streifzug. . . . . . . . . . . 1 Paulo Pinheiro, Torsten M. Bollweg und Janine Bröder Theoretische und empirische Grundlagen von Health Literacy im Kindes- und Jugendalter Von Chicago 1958 bis Shanghai 2016: Ein Rückblick auf zentrale Entwicklungstrends in der Geschichte der Gesundheitskompetenz . . . . . 11 Orkan Okan und Paulo Pinheiro Definitionen und Konzepte von Health Literacy – Überblick und Einordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Kristine Sørensen Health Literacy von Kindern und Jugendlichen: entwicklungsbezogene Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Janine Bröder und Graça S. Carvalho Gesundheitskompetenz messen bei Kindern: aktuelle Ansätze und Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Torsten M. Bollweg und Orkan Okan Health Literacy im Jugendalter: Anforderungen an Messinstrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Susanne Jordan, Olga Domanska und Anne-Kathrin Loer Im Dialog: Aktuelle Perspektiven zu Theorien & Messmethoden der Health Literacy. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Kristine Sørensen, Jürgen Pelikan, Janine Bröder und Torsten M. Bollweg

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Mental Health Literacy – konzeptionelle Überlegungen und ein ­multi-perspektivischer Blick auf Kinder psychisch erkrankter Eltern Eine Einführung in das Konzept Mental Health Literacy . . . . . . . . . . . . . 145 Anthony F. Jorm Im Dialog: Zur Berücksichtigung zielgruppenspezifischer Besonderheiten bei der Betrachtung der Mental Health Literacy von Kindern psychisch erkrankter Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Ullrich Bauer, Albert Lenz und Janine Bröder Ein empirischer Blick auf das Konzept „Mental Health Literacy“ im Fokus von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil . . . . . . . . 175 Dirk Bruland, Patricia Graf und Elena Groß Lernen zu verstehen – Durch Psychoedukation die mentale Gesundheitskompetenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern stärken . . . . . 193 Torben Reher, Patricia Graf und Albert Lenz Förderung psychischer Gesundheit von Schüler*innen: ein ganzheitlicher Schulansatz basierend auf Mental Health Literacy . . . . . . . . . . . . . 207 Sandra Kirchhoff Media und eHealth Literacy im Kindes- und Jugendalter Der Umgang mit Gesundheitsbotschaften aus traditionellen und digitalen Medien – Media Health Literacy und digitale Gesundheitskompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Isabella Bertschi und Diane Levin-Zamir Neuen Medien und digitale Gesundheitsinformationen im Alltag von weiblichen Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Zeynep Islertas Konzipierung und Messung von eHealth Literacy bei Jugendlichen – Welche Stärken und Grenzen weisen das Lily Modell und seine Operationalisierung hierbei auf?. . . . . . . . . . . . . . 253 Zeynep Islertas

Inhaltsverzeichnis

XI

Health Literacy als Voraussetzung für balancierte digitale Mediennutzung am Beispiel einer Präventionsmaßnahme für das Vorschul- und Grundschulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lea Kuntz, Simone Flaig, Paula Bleckmann, Hanna Schwendemann, Thomas Mößle, Jasmin Zimmer und Eva Maria Bitzer Im Dialog: Die Rolle von Medien und Gesundheit in der Jugendphase: Reduktion oder Reproduktion von Ungleichheiten?. . . . . . . . . . . . 285 Diane Levin-Zamir, Uwe H. Bittlingmayer und Janine Bröder Der HLCA Verbund: Forschungsstrukturen, Verbundorganisation und projektrelevante Querschnittsthemen Der HLCA-Forschungsverbund 2015–2021. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Orkan Okan, Uwe H. Bittlingmayer, Eva Maria Bitzer, Maren A. Jochimsen, Susanne Jordan, Fabian Kessl, Albert Lenz, Paulo Pinheiro, Jürgen Wasem und Ullrich Bauer Im Dialog: Interdisziplinär und kommunikativ?! Wissenschaftsmanagement am Beispiel des HLCA-Forschungsverbunds. . . . . . . . . . . . 327 Maike Müller, Julia-Lena Reinermann und Torsten M. Bollweg Mut zu zukunftsfähiger Wissenschaft – zur Integration der Geschlechterperspektive in die Health Literacy Forschung. . . . . . . . . . . . 337 Maren A. Jochimsen und Judith Hendricks Eine gesundheitsökonomische Perspektive auf Health Literacy im Kindes- und Jugendalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Jürgen Wasem und Janine Biermann-Stallwitz Health Literacy im Kindes- und Jugendalter – Ausblick, Impulse und Perspektiven Health Literacy in der Kindheit und Jugend: Analyse des aktuellen Diskurses und damit verbundene Herausforderungen und konzeptionelle Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . 373 Janine Bröder „Health literacy is linked to literacy“: Eine Betrachtung der im Forschungsdiskurs zu Health Literacy berücksichtigten und unberücksichtigten Beiträge aus der Literacy Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Paulo Pinheiro

XII

Inhaltsverzeichnis

Die soziale Einbettung von Gesundheitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Ullrich Bauer Die Einbettung von Health Literacy in das Paradigma der Salutogenese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Luís Saboga-Nunes, Uwe H. Bittlingmayer, Marlene Pieper und Orkan Okan Gesundheitskompetenz für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen? Inklusion als ernstzunehmende Herausforderung für die Gesundheitskompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Uwe H. Bittlingmayer, Paulo Pinheiro und Diana Sahrai Health Literacy in der Praxis der Sozialen Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Laura Bader, Lena Gemander, Wietke Sophie Herdejürgen, Sonja Hölzl, Maria Hoffmann und Johanna Salewski Im Dialog: Gesundheitliche Bildung, Gesundheitskompetenz und gesundheitsfördernde Schulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Malcolm Thomas, Dirk Bruland und Torsten M. Bollweg Die ethischen Grundlagen für die Entwicklung von Health Literacy in Schulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Leena Paakkari und Shanti George Kinder als aktiv Mitgestaltende in Health Literacy Forschung und Praxis? Von Rhetorik zu Rechten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Emma Bond und Vanessa Rawlings Die natürliche Neugier von Kindern als Grundlage für das Children’s International Press Centre (CIPC). . . . . . . . . . . . . . . . 563 Elise Sijthoff Stimmen aus dem Off: Interdisziplinäre Forschungsperspektiven auf die Gesundheitskompetenz von Kindern aus der Mitte eines informellen Netzwerks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Paulo Pinheiro, Shanti George, Orkan Okan, Elise Sijthoff, Uwe H. Bittlingmayer, Rahel Kahlert, Almas Merchant, Dirk Bruland, Janine Bröder und Ullrich Bauer IUHPE Positionspapier zur Gesundheitskompetenz: eine praktische Vision für eine gesundheitskompetente Welt. . . . . . . . . . . . . . . 599 Diane Levin-Zamir

Autorenverzeichnis

Laura Bader Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Paderborn, Deutschland Prof. Dr. Ullrich Bauer  Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Isabella Bertschi  Universität Zürich, Psychologisches Institut, Zürich, Schweiz Dr. Janine Biermann-Stallwitz Universität Duisburg-Essen, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Essen, Deutschland Prof. Dr. Uwe H. Bittlingmayer  Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Soziologie, Freiburg, Deutschland Prof. Dr. Eva Maria Bitzer Pädagogische Hochschule Freiburg, Abteilung Public Health and Health Education, Freiburg, Deutschland Prof. Dr. Paula Bleckmann Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Fachbereich Bildungswissenschaft, Alfter, Deutschland Torsten M. Bollweg  Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Prof. Dr. Emma Bond  University of Suffolk, Graduate School, Ipswich, England Janine Bröder Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Dr. Dirk Bruland Fachhochschule Bielefeld, Institut für Bildungs- und Versorgungsforschung im Gesundheitsbereich, Bielefeld, Deutschland

XIII

XIV

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Graça S. Carvalho University of Minho, Research Centre on Child Studies CIEC-UM, Braga, Portugal Olga Domanska Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland Simone Flaig  Pädagogische Hochschule Freiburg, Abteilung Public Health and Health Education, Freiburg, Deutschland Lena Gemander Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Paderborn, Deutschland Shanti George  WISHES Network, Amsterdam, Niederlande Dr. Patricia Graf Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Elena Groß  Universität Bielefeld, Deutschland

Bielefeld,

Fakultät

für

Erziehungswissenschaft,

Judith Hendricks  Universität Duisburg-Essen, Institut für Soziologie, Duisburg, Deutschland Wietke Sophie Herdejürgen Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Paderborn, Deutschland Maria Hoffmann Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Paderborn, Deutschland Sonja Hölzl Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Paderborn, Deutschland Zeynep Islertas Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Soziologie, Freiburg, Deutschland Dr. Maren A. Jochimsen Universität Duisburg-Essen, Essener Kolleg für Geschlechterforschung, Essen, Deutschland Dr. Susanne Jordan Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland Prof. Dr. Anthony F. Jorm University of Melbourne, Melbourne School of Population and Global Health, Centre for Mental Health, Melbourne, Australien Dr. Rahel Kahlert European Centre for Social Welfare Policy and Research, Wien, Österreich

Autorenverzeichnis

XV

Prof. Dr. Fabian Kessl Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Humanund Sozialwissenschaften, Fach Erziehungswissenschaft, Wuppertal, Deutschland Sandra Kirchhoff Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Lea Kuntz Pädagogische Hochschule Freiburg, Abteilung Public Health and Health Education, Freiburg, Deutschland Prof. Dr. Albert Lenz  Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Institut für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie, Paderborn, Deutschland Prof. Dr. Diane Levin-Zamir University of Haifa, School of Public Health, Haifa, Israel & Clalit Health Services, Department of Health Education and Promotion, Tel Aviv, Israel Anne-Kathrin Loer Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland Almas Merchant Medizinische Universität Wien, Innere Medizin I, Abteilung für Onkologie, Wien, Österreich Prof. Dr. Thomas Mößle  Hochschule für Polizei Baden-Württemberg, Fakultät II - Kriminalwissenschaften, Villingen-Schwenningen, Deutschland Dr. Maike Müller Universität Duisburg-Essen, Zentrum für Medizinische Biotechnologie, Essen, Deutschland Dr. Orkan Okan Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Dr. Leena Paakkari University of Jyväskylä, Faculty of Sport and Health Sciences, Research Center for Health Promotion, Jyväskylä, Finnland Prof. Dr. Jürgen Pelikan  Gesundheit Österreich GmbH, Wien, Österreich Marlene Pieper Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Dr. Paulo Pinheiro  Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld, Deutschland Vanessa Rawlings  University of Suffolk, Graduate School, Ipswich, England Torben Reher Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Institut für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie, Paderborn, Deutschland

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Autorenverzeichnis

Dr. Julia-Lena Reinermann Kulturwissenschaftliches Institut Essen, Essen, Deutschland Prof. Dr. Luís Saboga-Nunes Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Soziologie, Freiburg, Deutschland Prof. Dr. Diana Sahrai  Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Pädagogische Hochschule, Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie, Muttenz, Schweiz Johanna Salewski Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Paderborn, Deutschland Dr. Hanna Schwendemann Pädagogische Hochschule Freiburg, Abteilung Public Health and Health Education, Freiburg, Deutschland Elise Sijthoff  WISHES Network, Amsterdam, Niederlande & Fysio Educatief, Amsterdam, Niederlande Dr. Kristine Sørensen  Global Health Literacy Academy, Risskov, Dänemark Prof. Dr. Malcolm Thomas Aberystwyth University, School of Education, Aberystwyth, Wales Prof. Dr. Jürgen Wasem Universität Duisburg-Essen, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Essen, Deutschland Jasmin Zimmer Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Fachbereich Bildungswissenschaft, Alfter, Deutschland

Health Literacy im Kindes- und Jugendalter – ein Streifzug Paulo Pinheiro, Torsten M. Bollweg und Janine Bröder

In jüngster Vergangenheit ist dem Thema Health Literacy in unterschiedlichen Forschungs-, Politik- und Praxisfeldern eine zunehmende Bedeutung zuteil geworden. Mit der europäischen Gesundheitskompetenz-Studie HLSEU und dem deutschen Health Literacy in Childhood and Adolescence (HLCA) Forschungsverbund sind beispielhaft zwei umfangreich angelegte Verbundprojekte zu nennen, die sich – gefördert von der Europäischen Kommission bzw. dem Bundesministerium für Bildung und Forschung – der Erforschung des Gegenstands Health Literacy im europäischen und nationalen Raum angenommen haben. Mit Blick auf die internationale Forschungsliteratur lässt sich ferner seit Beginn der Jahrtausendwende ein steter Anstieg an Publikationen zum Thema Health Literacy beobachten, der gemäß der bibliografischen Datenbank PubMed mit über 1200 Publikationen allein im Jahr 2019 seinen Zenit noch nicht überschritten zu haben scheint. Auf der politischen Agenda kann das Thema Health Literacy mittlerweile ebenfalls seinen Platz beanspruchen, so zum Beispiel in der Shanghai Deklaration zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation, oder aber in Form nationaler Aktionspläne zur Förderung von Health Literacy, ­vorliegend unter anderem für Schottland, England, die Vereinigten Staaten, Österreich, Australien, Portugal und nicht zuletzt auch Deutschland. Mehrheitlich

P. Pinheiro (*) · T. M. Bollweg · J. Bröder  Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. M. Bollweg et al. (Hrsg.), Health Literacy im Kindes- und Jugendalter, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29816-6_1

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wird in diesen Aktionsplänen die umfassende und nachhaltige Förderung von Health Literacy in allen Bevölkerungsgruppen sowie innerhalb institutioneller Settings anvisiert, beispielsweise mit Hinblick auf die Förderung der Gesundheit, das gesundheitsbezogene Empowerment der Allgemeinbevölkerung, den Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten und die Verbesserung des Zugangs zu hochqualitativen Gesundheitsinformationen. Health Literacy gilt hierbei gleichermaßen als Zieldimension von Förderstrategien wie auch als Mittel zur Verbesserung einer Reihe gesundheitsbezogener Outcomes. Parallel wird die Relevanz von Health Literacy für verschiedene Praxis- und Handlungsbereiche zunehmend anerkannt. Beispiele sind die alltägliche Nutzung von (digitalen) Medien und das hierin liegende Potenzial für die Vermittlung von gesundheitsrelevanten Informationen, aber auch die klinische Versorgungspraxis von beispielsweise chronisch kranken Patient*innen, Hilfs- und Unterstützungsangebote für Menschen, welche psychisch belastet sind, Alphabetisierungsund Bildungsangebote für Erwachsene sowie die schulische Bildungs- und Erziehungspraxis zu gesundheitlichen Themen. Trotz seiner offenkundigen Relevanz erweist sich eine inhaltliche Annäherung an das Thema Health Literacy jedoch als schwierig. Statt einem einheitlichen Begriffsverständnis existiert eine beeindruckende Bandbreite von Definitionen und Konzepten, die zudem nicht immer widerspruchsfrei sind. Als Kern der verschiedenen Auffassungen von Health Literacy lässt sich jedoch meist der (zweckorientierte) Umgang von Individuen mit gesundheitsbezogenen Informationen ausmachen. Diese Fokussierung legt nahe, dass verschiedene Zugänge zum Thema Health Literacy in Abhängigkeit von konkreten Inhalten, Kontexten und Zwecken ganz unterschiedlich und bisweilen kontrovers ausfallen können. Von Natur aus inhaltlich unbestimmt, kann Health Literacy den Umgang mit Gesundheitsinformationen zu verschiedensten Themen adressieren, hierunter etwa Zahngesundheit, Ernährung, Sport, Rauchen, sexuell übertragbare Krankheiten, Unfallvorbeugung, psychische Gesundheit, Körpergewicht, Mediennutzung, Substanzmissbrauch, u. a. Der Umgang mit Informationen zu all diesen Themen kann mehr oder weniger „kompetent“ sein, wodurch sich eine Reihe thematischspezifischer Ausprägungen von Health Literacy bestimmen lassen, die mitunter in keinem Bezug zueinander stehen (z. B. Mental Health Literacy, Diabetes Health Literacy, Oral Health Literacy). Eine ähnliche Bandbreite ist in Bezug auf mögliche Kontexte des Umgangs mit Gesundheitsinformationen zu beobachten, die grob mit den Begriffen Krankheitsversorgung, Krankheitsprävention, und Gesundheitsförderung umrissen werden können und hiermit das Spektrum von klinischen Kontexten bis hin zu ganz alltäglichen Situationen aufspannen.

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Mit Hinblick auf den Sinn und Zweck von Health Literacy offenbart sich ein weiteres Feld möglicher Standpunkte, beginnend bei funktionalen Perspektiven, die auf basale Fertigkeiten des Umgangs mit Schriftsprache abzielen, um lebensalltägliche oder gesellschaftliche Anforderungen zu erfüllen (Lese-, Schreibund Rechenkompetenzen), bis hin zu emanzipatorischen Aspekten, die auf mehr Autonomie bei der eigenen Lebensgestaltung sowie auf die aktive Teilhabe an gesundheitsbezogenen Entscheidungsprozessen ausgerichtet sind. Da Health Literacy oftmals auch mit positiven gesundheitlichen Outcomes in Verbindung gebracht wird, stehen nicht nur Kompetenzen im Fokus der Betrachtung, sondern auch Aspekte wie Wissen, gesundheitsrelevante Einstellungen und motivationale Aspekte. Ebenso spielen sozio-kulturelle Bedingungen eine wesentliche Rolle für den Kompetenzerwerb und das Gestalten des Umgangs mit schriftsprachlichen Materialien und rücken die Bedeutung der Umwelten, in denen das handelnde Individuum eingebettet ist, stärker in den Vordergrund. Ein flüchtiger Seitenblick auf Forschungsperspektiven zum Gegenstandsfeld Literacy, das sich mit dem Lesen und Schreiben befasst und in deutschsprachigen Raum mit der Bezeichnung Alphabetisierung und Grundbildung abgebildet wird, eröffnet alternative Zugänge mit der Bereitstellung von Perspektiven, die sich vorranging an die soziale Praxis richten, bei der ein Schriftstück zentraler Gegenstand von Interaktionsprozessen ist. Vor diesem Hintergrund wird zunehmend klar, dass die im deutschsprachigen Raum für Health Literacy etablierte Übersetzung „Gesundheitskompetenz“ die Bandbreite an Zugängen nicht vollständig reflektiert. Mit der Begriffswahl Gesundheitskompetenz wird ein Verständnis- und Deutungsrahmen nahegelegt, der zwar einen wesentlichen Teil der internationalen Diskussionen abbildet – mit einem starken Fokus auf die Fähigkeiten von ­ Individuen – genauso jedoch relevante Perspektiven zu vernachlässigen oder gar auszublenden scheint. An denkbaren Alternativen oder Impulsen mangelt es hierbei nicht – was deutlich wird, wenn wir das Experiment unternehmen, Aktivitäten im Forschungsfeld Health Literacy entsprechend ihrer Inhalte zu paraphrasieren: Gesundheitsinformationsverarbeitungskompetenz, theoretisches und praktisches gesundheitsrelevantes Wissen, gesundheitliche Grundbildung, kritisches Denken und Reflexionsfähigkeit, Selbstbewusstsein in der Kommunikation in klinischen Kontexten, Nährwertangabeninterpretationsfähigkeit, patient*innenorientierte Gestaltung von Institutionen und Dienstleistungen, adressat*innengerechte Gestaltung von gesundheitsbezogenen analogen und digitalen Informationsmaterialien,… In Anlehnung an die Alphabetisierungs- und

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­ rundbildungsdebatten aus der Erwachsenenbildung erscheint es daher legitim, G eine Erweiterung des Gesundheitskompetenz-Begriffs zu provozieren und alternative Umschreibungen wie z. B. gesundheitliche Grundbildung zur Diskussion zu stellen. Hiermit wird beabsichtigt, den vorherrschenden engen Fokus auf kognitive Kompetenzen zu hinterfragen und anderen, bildungsbezogenen Faktoren mehr Raum zu gewähren. Während uns an dieser Stelle der Begriff Health Literacy aufgrund der Tragweite eines modernen Literacy-Begriffs (s. o.) sympathisch erscheint, muss jedoch auch anerkannt werden, dass der Begriff Gesundheitskompetenz bereits einigen Anklang im deutschsprachigen Diskurs gefunden zu haben scheint. Aus der Sichtung der Forschungsliteratur wird ferner ersichtlich, dass der Gegenstand Health Literacy in der Vergangenheit von verschiedenen Disziplinen und Handlungsfeldern unterschiedlich aufgegriffen worden ist. So ist Health Literacy im Bereich der Erziehungswissenschaft vor allem als Ergebnis schulischer Gesundheitsbildung und -erziehung begriffen worden, während es in der Erwachsenenbildung im Rahmen von Alphabetisierungs- und Grundbildungsangeboten stärker auf den Umgang mit gesundheitsbezogenen Alltagsanforderungen bezogen worden ist. Interessanterweise ist die jüngere Debatte um Health Literacy überwiegend durch Impulse aus den Gesundheitsdisziplinen geprägt worden, mit eher marginaler Berücksichtigung der Beiträge aus dem Alphabetisierungs- und Bildungsbereich, was teilweise zu einer Verengung der Debatte geführt hat. So hat Health Literacy etwa im klinischen Versorgungssetting als Werkzeug für die Verbesserung der Kommunikationen zwischen Ärzt*innen und Patient*innen Anklang gefunden, insbesondere hinsichtlich der Verbesserung von Therapieadhärenz und -compliance. Eine weitere Strömung ist im Bereich Public Health und dort besonders ausgeprägt in der Gesundheitsförderung wahrnehmbar, die Health Literacy vornehmlich als Maßnahme begreift, um Empowerment und Partizipation an gesundheitsbezogenen Entscheidungsprozessen zu fördern. In der Gesundheitsökonomie wiederum ist Gesundheitskompetenz dadurch attraktiv, potenziell Kosten für Gesundheitssysteme und Versicherungen einsparen zu können. Wie diese ausgewählten Beispiele zeigen sollen, ist der Gegenstand Health Literacy derzeit von professions- sowie disziplinübergreifendem Interesse und in unterschiedlichen Ausformungen für unterschiedliche Zielsetzungen sowie für unterschiedliche Denkschulen und Bezugstheorien anschlussfähig. Dies lässt zumindest einen Teil der Vielfalt an vorliegenden Interpretationen von Health Literacy nachvollziehbar werden. Die vorrangige Charakterisierung von Health Literacy als der zweckorientierte Umgang mit gesundheitsbezogenen Informationen legt die Vermutung nahe, dass sich der spürbare Bedeutungszuwachs des Themas u. a. aus

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aktuellen Herausforderungen des sozialen Wandels im Hinblick auf Gesundheit und Bildung speist. Mit Health Literacy wird hierbei ein vielversprechender Lösungsansatz ins Spiel gebracht, um nachweisbaren, vermuteten oder antizipierten Problemlagen der gesundheitlichen Fürsorge zu begegnen. Weiterführende Überlegungen hierzu werden nachfolgend und exemplarisch entlang der Digitalisierung vorgenommen. Der digitale Wandel und die damit verbundenen fundamentalen Veränderungen sowohl im Angebot von Gesundheitsinformationen als auch den Möglichkeiten ihrer Beschaffung stellen Individuen unmittelbar vor die Herausforderungen, die Flut von Informationen kompetent kanalisieren und h­ insichtlich ihrer Qualität und ihres Lebensweltbezugs prüfen zu können. Der erweiterte Zugriff auf Gesundheitsinformationen wirft ferner Fragen auf, die die Rollenverhältnisse zwischen Ärzt*innen und Patient*innen sowie generell zwischen Expert*innen und Lai*innen betreffen. Es ist zunächst davon auszugehen, dass das veränderte Informationsangebot die traditionelle Informationsasymmetrie abschwächt und somit die von vielen Seiten eingeforderte informierte und partizipative Entscheidungsfindung mehr in den Bereich des Möglichen rückt. Gleichzeitig wird aber auch ein nicht unerheblicher Teil der Verantwortung für gesundheitsbezogene Entscheidungen auf die Seite von Patient*innen bzw. Lai*innen verschoben. Dies kann auch als Ausdruck von gesellschaftlichen Ökonomisierungsdynamiken aufgefasst werden, die das Rollenverständnis von Bürger*innen als Konsument*innen sowie eine Verdinglichung von Gesundheit und Informationen im Sinne von Dienstleistungen und Waren geprägt, und den Rückgang wohlfahrtstaatlicher Arrangements gefördert haben. Als weiteres Phänomen lässt sich hier die Erwartung an eine zunehmend unternehmerische Rolle des Selbst erkennen, die auch sprachlich durch Begriffe wie das SelbstManagement chronischer Erkrankungen, oder die Selbst-Optimierung des alltäglichen Lebens sichtbar geworden ist. Wenngleich Health Literacy mitunter auch als das Verhältnis zwischen individuellen Fähigkeiten und systembezogenen Anforderungen gefasst wird (Stichworte: Gesundheitsinformationen in einfacher Sprache, gesundheitskompetente Krankenhäuser), überwiegt bei der Erforschung von Health Literacy bis dato eine individuumszentrierte Sichtweise, die in erster Linie individuelle Kompetenzdefizite und einen persönlichen Mangel an Wissen betont. Kinder und Jugendliche werden im Kontext von Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention, und somit auch in der Debatte um Health Literacy, als besonders relevante Zielgruppe verstanden. Der gesonderte Blick auf diese Altersphasen lässt sich gut mit der Bedeutung begründen, die ein gesundes Aufwachsen nachweislich für ein nachhaltiges Wohlbefinden und für Gesundheit im

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Erwachsenenalter hat. Darüber hinaus sind (früh-)kindliche Entwicklung und Bildung als wichtige Zieldimensionen bekannt, um sozial bedingte Ungleichheiten der Gesundheit zu reduzieren. Hinsichtlich der thematischen Verknüpfung von Health Literacy und der Lebensphasen Kindheit und Jugend wird ferner die Rolle von Eltern und anderen signifikanten Erwachsenen für ein gesundes Aufwachsen betont, oder auch die Relevanz des Erwerbs von (Schrift-)Sprache für die Förderung von Autonomie und Teilhabe. Tatsächlich ist die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen in der bisherigen Diskussion über Health Literacy aber eher sporadisch als systematisch berücksichtigt worden. Unklarheiten bestehen beispielsweise darüber, was diese Zielgruppe von der Zielgruppe der Erwachsenen abgrenzt, wie eine Definition von Health Literacy speziell für Kinder und Jugendliche aussehen könnte und wie die Health Literacy dieser Zielgruppen adäquat erfasst werden kann. Ähnlich spärlich fällt die Literatur darüber aus, mit welchen Strategien, Programmen und Maßnahmen die Health Literacy von jungen Menschen am besten gefördert werden kann. Dies betrifft sowohl Informationen über Angebote und deren Anbieter*innen als auch über Adressat*innen, zu denen neben Kindern und Jugendlichen auch relevanten Bezugspersonen zählen. Es ist daher offensichtlich, dass die Forschungsliteratur im Bereich Health Literacy genauso auf die Bedeutung von Kindern und Jugendlichen verweist und das Desiderat äußert, sie in zielgruppenspezifischen Ansätzen zu berücksichtigen. Ein erster Streifzug durch das Gegenstandsfeld Health Literacy und seine Zuspitzung auf das Kindes- und Jugendalter macht abschließend deutlich, dass die zunehmende Anerkennung von Health Literacy als Leitkonzept für das Handeln in den Bereichen Gesundheit und Bildung nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass zahlreiche Schlüsselfragen weiterhin offen bleiben und als Forschungsdesiderata benannt werden können. Hierzu gehören zum Beispiel Fragen der theoretischen Konzipierung, Fragen nach den Determinanten von Health Literacy, nach der Positionierung von Health Literacy innerhalb des kausalen Pfads der Entstehung von Gesundheit, nach der Operationalisierung und Erhebung des Konstruktes oder Fragen nach der Übersetzung von Forschungsergebnissen in Praxis und Politik. Diese Feststellung ist eigentlich wenig überraschend vor dem Hintergrund, dass Forschungsaktivitäten rund um Health Literacy erst um die Jahrtausendwende an Dynamik gewonnen haben und eine umfassende Evidenzbasis folglich weiterhin erst im Entstehen ist. Überraschender und eine kritische Reflexion wert erscheint hier vielmehr, dass Health Literacy als Antwort auf zentrale Herausforderungen in der bildungs- und gesundheitsbezogenen Politik und Praxis gesehen wird, trotz einer fragmentierten oder gar mangelhaften wissenschaftlichen Untermauerung. Der Streifzug durch das

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­ egenstandsfeld lässt zudem erahnen, dass das Thema selbst und die thematische G Zuspitzung auf das Kindes- und Jugendalter mit einer Reihe von Forschungsperspektiven assoziiert sind, die vom wissenschaftlichen Diskurs noch nicht hinreichend aufgegriffen worden sind. Hier lassen sich auf unterschiedlichen Analyseebenen Leerstellen identifizieren, die z. B. den Gegenstand selbst und seine Konstruktionen betreffen, sich an die theoretisch konzeptionelle Rahmung und die sich daran anschließenden Pfade der Operationalisierung richten, oder an der Verschränkung des Themas mit übergeordneten Leitmotiven wie Digitalisierung und gesundheitlichem Wandel ansetzen.

Theoretische und empirische Grundlagen von Health Literacy im Kindes- und Jugendalter

Von Chicago 1958 bis Shanghai 2016: Ein Rückblick auf zentrale Entwicklungstrends in der Geschichte der Gesundheitskompetenz Orkan Okan und Paulo Pinheiro 1 Einführung Das Thema Gesundheitskompetenz hat in den letzten Jahren einen spürbaren Zuwachs an Bedeutung erfahren (z. B. IOM 2004; Kickbusch et al. 2013) und sich innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums zu einem breit diskutierten und zunehmend erforschten Thema im Gesundheits- und Bildungsbereich entwickelt. In den letzten zehn Jahren hat das Thema zudem zunehmend Zugang in das politische Agenda Setting erhalten hat (z. B. Heijmans et al. 2015; WHO 2017, 2019a, b; Weishaar et al. 2018; Rowlands et al. 2018), so dass mittlerweile zahlreiche nationale und internationale Strategien und Maßnahmen vorliegen, die eine Stärkung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung und in Organisationen anstreben (z. B. Pleasant 2013a, b; Heijmans et al. 2015; Trezona et al. 2018; Rowlands et al. 2018). Das vorliegende Kapitel zielt darauf ab, eine Rückschau auf die wesentlichen Entwicklungspfade vorzunehmen, die zur Etablierung des Gegenstands Gesundheitskompetenz maßgeblich beigetragen

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Aufsatz des Erstautors, der 2019 im von Okan et al. herausgegebenen und von Policy Press verlegten „International Handbook of Health Literacy“ veröffentlicht worden ist (Okan 2019). Bei der aktuellen Fassung auf Deutsch handelt es sich um eine aktualisierte, hinsichtlich der Inhalte deutlich erweiterte und übersetzte Version des ursprünglichen Beitrags. Bearbeitung und Übersetzung aus dem Englischen: Orkan Okan, Marlene Pieper und Paulo Pinheiro. O. Okan (*) · P. Pinheiro  Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. M. Bollweg et al. (Hrsg.), Health Literacy im Kindes- und Jugendalter, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29816-6_2

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haben. Ein historischer Rückblick auf die Entwicklungslinien der Gesundheitskompetenz kann helfen, ein erstes Verständnis dafür zu entwickeln, welche Impulse für die Entwicklung von Gesundheitskompetenz maßgeblich gewesen sind, und in welchen forschungsdisziplinären, anwendungsbezogenen oder gesellschaftspolitischen Kontexten und somit mit welchen Prämissen die bisherige Auseinandersetzung mit dem Thema stattgefunden hat. Das Ziel des vorliegenden Beitrags liegt somit in der literaturbasierten Rekonstruktion der zeitlich-historischen Entwicklung des Gegenstands Gesundheitskompetenz in den letzten Jahrzehnten. Es handelt sich daher um eine erste Annäherung, die eine Topographie des Gegenstands ermöglicht und somit einen Teilbeitrag für die Erklärung der gegenwärtigen Bedeutung von Gesundheitskompetenz leisten kann. Eine weitere Beobachtung in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheitskompetenz liegt nämlich darin, dass der Bereich der Gesundheitskompetenzforschung in Bezug auf konzeptionelle und methodische Ansätze auf heterogene Art und Weise Auskunft gibt. Konsens und somit Ausgangspunkt der meisten Definitionen und Modelle ist, dass der Umgang mit schriftsprachlich vermittelten Informationen, die gesundheitsrelevante oder -bezogene Inhalte haben, adressiert wird. Hiervon ausgehend erfolgt dann jedoch eine breite Auffächerung des Gegenstands. Diese kann sich dann z. B. entweder an der Beschreibung des Phänomens selbst im Sinne einer sozialen Praxis orientieren oder wird – wesentlich häufiger – an individuelle Handlungsvoraussetzungen wie Kompetenzen und Wissen gekoppelt. Die Differenzierung des Gegenstands Gesundheitskompetenz erfolgt in der Forschungsliteratur darüber hinaus entlang weiterer Markierungen, die beispielsweise gesetzt werden durch unterschiedliche Bezugstheorien, disziplinäre Verortungen, unterschiedliche Zieldimensionen und zweckrationale Überlegungen. Ein historischer Rückblick auf diese impulsgebenden Strömungen kann hier hilfreich sein, um die unterschiedlichsten Nuancen und Akzentuierungen greif- und begreifbar, sowie Schnitt- und Leerstellen sichtbar zu machen. Das Kapitel versteht sich als verkürzte narrative Übersichtsarbeit und greift hierbei auf überwiegend englischsprachige Forschungsliteratur und weitere Dokumente zurück, die in bibliografischen Datenbanken und Suchmaschinen auffindbar sind. Der Beitrag macht sich dezidiert auf Spurensuche zur Begriffskombination „Health Literacy“ und nimmt den Versuch vor, bis zum frühesten dokumentierten Gebrauch dieser Begrifflichkeit vorzudringen, um davon dann ausgehend sowie entlang zentraler Texte die wesentlichsten Strömungen, welche die Entwicklung des Gegenstands beeinflusst haben, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nachzuzeichnen.

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Einleitend greift der Beitrag zunächst den frühesten und anekdotisch verbliebenen Versuch von 1958 auf, die Begriffskombination „Health Literacy“ zu bedienen und etablieren (Dixon 1959), und zeichnet anschließend vier wesentliche Entwicklungslinien (schulische Gesundheitserziehung, Erwachsenenbildung, Versorgungsforschung und öffentliche Gesundheit) nach, die seit 1974 mit einer sich nach und nach verstetigenden Kontinuität das Verständnis von Gesundheitskompetenz geprägt haben. Das Kapitel rekonstruiert den historischen Weg, der 1973 in Saranac Lake, NY, USA, begann (Simonds 1974) und 2016 einen vorläufigen Höhepunkt auf der neunten Global Conference on Health Promotion der Weltgesundheitsorganisation WHO in Shanghai, China (WHO 2017) erreicht hat. Für jede der vier Strömungen erfolgt die Profilbildung durch die Beschreibung von zentralen Merkmalen, die sich aus den leitgebenden Forschungs-, Praxis- und Politikansätzen für die jeweilige Auseinandersetzung mit Gesundheitskompetenz ergeben haben. Abgerundet wird der Beitrag mit einer Gesamtschau auf die vier Hauptströmungen, die – im Sinne der Leitthemen des vorliegenden Sammelbands – u. a. eine erste Einordnung der das Verständnis der Gesundheitskompetenz prägenden historischen Entwicklungsmuster für die Zielgruppe Kinder und Jugendliche vornimmt.

2 Gesundheitskompetenz: Erste anekdotische Signale zwischen 1958 und 1962 In der Fachliteratur zu „Health Literacy“ hat sich mittlerweile Konsens eingestellt, dass die erstmalige absichtsvolle Verwendung der Begriffskombination „Health Literacy“ in einer Fachpublikation im Jahr 1974 (Simonds 1974) erfolgt ist (vgl. IOM 2004; Speros 2005). Die Festlegung dieses Datums als Geburtsstunde des Gegenstands wird bisweilen noch vom Hinweis begleitet, dass sich Linien der Kontinuität in der Erforschung und Anwendung von „Health Literacy“ von 1974 an bis in die Gegenwart entwickelt haben (Okan 2019). Aus der eigenen Recherche für den vorliegenden Beitrag hat sich jedoch ergeben, dass eine Benennung von „Health Literacy“ in einer zwar anekdotischen aber bereits klar beabsichtigten Form weit davor stattgefunden hat. Die frühesten Hinweise, die sich aus unseren Recherchearbeiten zur erstmaligen Verwendung der Begriffskombination „Health Literacy“ ergeben, finden sich in einem Beitrag, der 1959 in der Januarausgabe der Fachzeitschrift American Journal of Public Health and the Nation’s Health erschienen ist. Der Verfasser James P. Dixon, der zu der Zeit als Gesundheitsreferent an der Abteilung für Öffentliche Gesundheit der Stadt Philadelphia tätig war, legt hier die Verschriftlichung eines Vortrags vor, den er im

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Rahmen der 58. Annual National Conference on Social Welfare am 14. Mai 1958 in Chicago gehalten hat. Dixon thematisiert und diskutiert in seinem Beitrag die Rolle, die zu der Zeit vom öffentlichen Sektor für die medizinische und gesundheitliche Versorgung einzunehmen sei. Hierbei greift er in seiner Argumentation unterschiedliche Facetten auf. So werden z.  B. Verantwortlichkeiten, die öffentlichen Einrichtungen für das gesundheitliche Versorgungsgeschehen einer Bevölkerung zugewiesen werden, erörtert, ungleichheitsorientierte Überlegungen zu Bedarfslagen von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen kulturellen, ethnischen und materiellen Ressourcen angestellt, oder Vorschläge zur Gestaltung von öffentlichen Versorgungsstrukturen samt Finanzierungsaspekten gemacht. Die Begriffskombination „Health Literacy“ wird dann im Schlussteil des Beitrags eingebracht (Dixon 1959, S. 81). In diesem werden u. a. die möglichen Schwerpunkte, welche die Diskussionen über die öffentlichen Systeme und Einrichtungen der gesundheitlichen Fürsorge in der Folge bestimmen könnten, thematisiert. Benannt werden hier eine zunehmende Sensibilisierung für sozial benachteiligte Gruppen, Bedarfe nach und gerechte Verfügbarkeit von öffentlichen Gesundheitsdiensten sowie öffentliche Vorsorgemaßnahmen für den Umgang mit möglichen bevölkerungsweiten Katastrophen und Notfällen. Diese eher bevölkerungsbezogene Perspektive erfährt dann eine Erweiterung um Aspekte, die auf einer personalen Ebene verortet werden. Eine Konkretisierung erfolgt hier mit dem Verweis auf die Bedeutung von Eigenverantwortung und dem Hinweis auf die Individualisierung von Möglichkeiten der Absicherung sowie mit der abschließenden Benennung der Bedeutung von „Health Literacy“. Leider wird der letztgenannte Aspekt in dem Beitrag nicht weiter erörtert. Es lässt sich daher nicht klären, welches Verständnis dem Begriff „Health Literacy“ hier zugrunde liegt. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die Begriffskombination hier erstmalig in einer absichtsvollen Form eingesetzt und in einen Kanon von personalen Attributen, die eine Stärkung der individuellen Eigenverantwortlichkeit bedingen, eingefügt wird. In einem weiteren von Dixon veröffentlichten Beitrag aus dem Jahr 1962 beschreibt er Gesundheitskompetenz dann u. a. als ein Ergebnis von schulischer Gesundheitserziehung: „Finally, the public health movement in this country has had a profound educational component. That part of the movement that is reflected in health education in schools and community, despite the drag of cultural lag, is rapidly creating in our country a high level of health literacy. This in turn improves the capacity of people to serve as their own physicians, and the effective custodians of their personal health“ (Dixon 1962, S. 132/133).

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Dixon führt hier einerseits aus, dass gesellschaftliche Gesundheitsprobleme nicht zu lösen sind, wenn ausschließlich individuelle (Gesundheits-)Kompetenzen adressiert werden, und vielmehr durch Public Health-Maßnahmen insbesondere auf der politischen und strukturellen Ebene anzugehen sind (Dixon 1962, S. 133). Andererseits sieht er mit dem Aufkommen von Gesundheitskompetenz ein Zeichen der Veränderung in der Wahrnehmung und dem Umgang mit Gesundheit. Demnach hat sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine durch Public Health geförderte Bewegung in Gang gesetzt, die es den Menschen ermöglicht, ihr Gesundheitswissen und ihre gesundheitlichen Verhaltensweisen über den Erwerb von Gesundheitskompetenz als Ergebnis einer schulischen Gesundheitserziehung zu verbessern. Damit geht – so Dixon – folglich auch ein verändertes Bewusstsein der Menschen für ihre Rechte und Freiheiten bezüglich ihrer Gesundheit einher. Dieser Zugewinn an gesundheitlichen Ressourcen, also die Stärkung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung, wird durch Dixon (1962) als ein nicht gänzlich reibungsloser und von allen Beteiligten gewollter Prozess beschrieben. Durch die schulische Gesundheitserziehung und eine Stärkung der Gesundheitskompetenz – so das Argument – würden Bürger*innen in gesundheitlichen Themen gebildet und somit in die Lage versetzt, sich selbst das sonst Ärzt*innen und Gesundheitsexpert*innen zugeschriebene Fachwissen anzueignen und anzuwenden. Eine Befürchtung aus der Perspektive des medizinischen Versorgungssettings war folglich, dass in Gesundheitsfragen kompetente und belesene Bürger*innen weniger oft die Dienstleistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen und somit gesundheitsökonomische Nachteile für diesen Bereich entstehen könnten.

3 Gesundheitskompetenz: Entwicklungs- und Verstetigungslinien seit 1973 3.1 Schulische Gesundheitserziehung Der Kontext, in dem der Ursprung des Themas Gesundheitskompetenz für den Bereich der schulischen Gesundheitserziehung gesehen wird, wird in der Fachliteratur mit der Saranac Lake Konferenz von 1973 beschrieben (Simonds 1974). Im Rahmen dieser bildungs- und sozialpolitischen Fachkonferenz erfolgte der Vorschlag, „Health Literacy“ als Lehr- und Lernziel in der schulischen Gesundheitserziehung zu definieren (Simonds 1974). Wie bereits erwähnt, wird in der Fachliteratur einhellig auf diese Publikation als Ursprung des Gegenstands „Health Literacy“ verwiesen. Simonds begreift „Health Literacy“ als Ergebnis

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schulischer Gesundheitserziehung und spricht sich für eine Stärkung der Gesundheitskompetenz von Schüler*innen aus. Er begreift Gesundheitskompetenz zugleich als wichtigen Faktor in der Lehrkräfteausbildung, da diese es erst ermöglicht, dass Lehrpersonen relevante Inhalte im Unterricht vermitteln und somit erst die Gesundheitskompetenz der Schulkinder fördern können. Trotz dieser relativ frühen Datierung und Verortung im Bildungssektor ist der weitere Umgang mit dem Thema Gesundheitskompetenz in Schule, Lehrplänen und in der Ausbildung von Lehrkräften bis in die 1990er Jahre nicht dokumentiert. Der Begriff „Health Literacy“ taucht erst im Jahr 1990 in einer Veröffentlichung wieder auf, in der das US-amerikanische Joint Committee on Health Education Terminology die Begrifflichkeit Gesundheitskompetenz definiert und in ein Glossar wichtiger Begriffe der Gesundheitserziehung aufnimmt (Joint Committee on Health Education Terminology 1991). Mit dem Curriculum „Achieving Health Literacy“, das die Stärkung der Gesundheitskompetenz im Rahmen der schulischen Gesundheitserziehung beabsichtigt, wurde nachfolgend eine an entwicklungstheoretische Aspekte orientierte Programmatik für den schulischen Unterricht vorgelegt (Joint Committee on National Health Education Standards 1995). Gesundheitskompetenz wurde dabei als personale und soziale Fähigkeit, um mit gesundheitsbezogenen Informationen und Dienstleistungen umzugehen, definiert: „Health literacy is the capacity of individuals to obtain, interpret, and understand basic health information and services and the competence to use such information and services in ways which enhance health“ (Joint Committee on National Health Education Standards 1995, S. 5).

Als gesundheitskompetent wird hier eine Person erachtet, die durch die schulische Gesundheitserziehung in Gesundheitsthemen gebildet bzw. gut ausgebildet ist (well-educated, health literate person) (Joint Committee on National Health Education Standards 1995, S. 5). Gesundheitskompetentes Handeln einer Person zeichnet sich demzufolge durch vier Hauptmerkmale aus: 1) die Fähigkeit zum kritischen Denken und zur Problemlösung, 2) das bürgerschaftlich verantwortungsvolle Verhalten und das produktive Handeln, 3) das eigenverantwortliche Lernen sowie 4) die Fähigkeit zur effektiven Gesundheitskommunikation (siehe Okan 2020). Dieser Definition wohnt zudem die normative Zielvorgabe inne, die personalen Kompetenzen und das Wissen in einer gesundheitsförderlichen Art und Weise zu verwenden. Im Jahr 2007 wurde das Curriculum „Achieving Health Literacy“ zum „Achieving Excellence“-Curriculum erweitert und mit weiteren Themen der Gesundheitserziehung querverbunden (Joint Committee on National Health Education Standards 2007).

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In den USA ist das Thema Gesundheitskompetenz mittlerweile in den ganzheitlichen Schulansatz „Whole School, Whole Community, Whole Child Model“ integriert worden (Lewallen et al. 2015). Dieser stellt das US-Pendant zum WHO-Ansatz der „Health Promoting School“ (Gesundheitsfördernde Schule) dar (Langford et al. 2015). Neben dem Curriculum in den USA liegen zudem für Finnland (Finnish National Board of Education 2014) und für Australien (Australian Curriculum et al. 2012) zwei weitere Kernlehrpläne für Gesundheitskompetenz in der Schule vor. Allen drei Curriculum-Ansätzen ist gemein, dass Gesundheitskompetenz ähnlich wie bei Simonds (1974) als Outcome von schulischer Gesundheitserziehung definiert wird. Unterschiedlich sind allerdings die konzeptionellen Ansätze für entsprechenden Schulsysteme. Versuche der Implementierung des Ansatzes der Gesundheitsfördernden Schule hat es auch in Deutschland gegeben. In der jüngeren Zeit hat sich im Rahmen weiterer Modellprojekte und Netzwerkvorhaben der alternative Ansatz „Gute Gesunde Schule“ zunehmenden durchgesetzt (vgl. Paulus 2004). Während der WHO-Ansatz der Gesundheitsfördernden Schule in zahlreichen Regionen der Welt implementiert worden ist (Langford et al. 2014, 2015), ist das Thema Gesundheitskompetenz erst viel später mit der schulischen Gesundheitsförderung in diesen Regionen verknüpft worden (vgl. Nutbeam 1993; St Leger 2001; Lee 2009; Australian Curriculum et al. 2012). Ein weiteres Modell, das Gesundheitskompetenz in der schulischen Gesundheitserziehung adressiert, findet sich in Finnland (Finnish National Board of Education 2014; Paakkari und Paakkari 2019). Im WHO-Ansatz der Gesundheitsfördernden Schule und im australischen Curriculum-Ansatz wird die Definition von Gesundheitskompetenz nach Nutbeam (1998, 2000) verwendet. Gesundheitskompetenz wird dort in funktionale, interaktive und kritische Gesundheitskompetenz aufgeteilt und durch soziale und kognitive Fähigkeiten repräsentiert, um gesundheitliche Informationskompetenzen im Rahmen der Gesundheitsförderung einzusetzen (vgl. Nutbeam 1998, 2000, 2008). Neben der für die Gesundheitskompetenz zentralen Informationskompetenz liegen zwischen diesen Ansätzen und dem Curriculum-Ansatz in den USA auch weitere Schnittmengen vor, zum Beispiel in den personalen interaktiven Kommunikationskompetenzen sowie im Bereich des kritischen Denkens. Der finnische Schulansatz zur Gesundheitskompetenz unterscheidet sich auf der Modellebene signifikant von den anderen Ansätzen. So fehlt z. B. der Bezug zur Informationskompetenz, der in den meisten Ansätzen für sowohl Kinder, Jugendliche und Schule (vgl. Okan et al. 2015, 2018; Bröder et al. 2017) als auch für Erwachsene (Speros 2005; Wills 2009; Sørensen et al. 2012; MalloyWeir et al. 2016) ein zentrales Element der Gesundheitskompetenz d­arstellt.

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Diese konzeptionelle Variante ist jedoch nicht willkürlich, sondern geht daraus hervor, dass das finnische Modell im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie entstanden ist, bei der Schüler*innen bezüglich ihrer Erwartungen an die schulische Gesundheitserziehung befragt worden sind. Dieses hierauf aufbauende Modell wurde zudem mit Lerntheorien und Aspekten der Persönlichkeitsentwicklung angereichert (vgl. Paakkari und Paakkari 2012; Paakkari 2015). Folglich wird Gesundheitskompetenz als Ergebnis schulischer Gesundheitsbildung im finnischen Ansatz durch fünf Dimensionen widergegeben: 1) theoretisches Faktenwissen, 2) praktisches Wissen (die Fähigkeit, das Faktenwissen in Handlungen zu übersetzen), 3) kritisches Denken, 4) Selbstwahrnehmung und 5) bürgerschaftliches Verhalten bzw. „Citizenship“ im Sinne einer sozialen und politischen Dimension im Kontext von Gesundheit (vgl. Paakkari und Paakkari 2012). Mit einer Ausrichtung an personale Kompetenzen lassen sich Gemeinsamkeiten mit den anderen skizzierten Schulansätzen vorfinden. Die Schnittstellen liegen hierbei im Gesundheitswissen, im kritischen Denken und in der Verknüpfung mit der soziokulturellen und soziopolitischen Dimension von Gesundheit. Das finnische Modell wird über das Curriculum hinaus auch als Grundlage für die Skala im Fragebogen zur Erfassung der Gesundheitskompetenz von Jugendlichen in der „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC) Studie der WHO verwendet (Paakkari et al. 2016, 2018). Folglich orientiert sich dieser Fragebogen an ein Modell von Gesundheitskompetenz, das sich von den Referenzmodellen, die in anderen Erhebungsinstrumenten stärker auf gesundheitsbezogene Informationskompetenzen von Erwachsenen (vgl. Wang et al. 2012; Sørensen et al. 2012, 2015; Bo et al. 2014), Kindern (Okan und Bollweg 2018; Bollweg et al. 2020) oder Jugendlichen (Röthlin et al. 2013; Messer et al. 2016; Domanska et al. 2018) Bezug nehmen, unterscheidet. Im deutschen Schulsystem ist der Ansatz der Gesundheitskompetenz noch nicht angekommen. Es liegen allerdings diesbezüglich bereits einige bildungspolitische Ziele (Schaeffer et al. 2018; Bauer et al. 2018) und weitere Dokumente auf Ebene der Bundesländer und der Kultusministerkonferenz vor (Okan et al. 2019). Die Hinwendung zur Gesundheitskompetenz als Thema für Schule und Bildung lässt sich mittlerweile in vielen Ländern feststellen (Perry 2014; Kilgour et al. 2015; Hagell et al. 2015; Okan et al. 2015; Velardo und Drummond 2017; Fleary et al. 2018). Für diese Entwicklung sind nicht zuletzt zahlreiche gesundheitspolitische Dokumente von sowohl Regierungs- als auch NichtRegierungsorganisationen ausschlaggebend. So wird die Stärkung der Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen in der Schule z. B. bei der WHO (McDaid 2016; WHO 2017), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD (OECD 2018) und der International Union for

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Health Promotion and Education (IUHPE 2018) als zentrales Ziel der schulischen Gesundheitsförderung definiert. Auch in diesen eher neueren schulischen Ansätzen liegen konzeptionelle Unterschiede in den verwendeten Gesundheitskompetenzmodellen vor. Die WHO (2017) und IUHPE (2018) greifen auf das Modell der gesundheitlichen Informationskompetenz zurück, während bei der OECD keine Definition vorliegt, sondern Gesundheitskompetenz sich allgemein aus Wissen, Fähigkeiten, Werten und Einstellungen – also schulischen Bildungs- und Kompetenzzielen – zusammensetzt (vgl. OECD 2018). Die unterschiedliche Verwendung in den verschiedenen Ansätzen und Dokumenten führt folglich zu einem Nebeneinander von Konzepten, die Gesundheitskompetenz im Kindes- und Jugendalter adressieren. Obwohl diese Konzepte Gemeinsamkeiten aufweisen, wäre ein höherer Grad an Harmonisierung für die schulbezogene Ausrichtung durchaus wünschenswert, um die Stärkung und Messung der Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen systematischer im Bildungswesen zu adressieren. Neben dem schulischen Bildungsbereich betreffen solche Konzepte natürlich auch den Bereich der Erwachsenenbildung – ein Bereich, der für die Entwicklung der Gesundheitskompetenz eine tragende, nachfolgend zu beschreibende Rolle gespielt hat.

3.2 Erwachsenenbildung Die Einführung von Gesundheitskompetenz in den Bereich der Erwachsenenbildung lässt sich ebenfalls mit der Saranac Lake Konferenz von 1974 verbinden (vgl. Simonds 1974), da Gesundheitskompetenz dort auch als Ergebnis von Bildungsmaßnahmen in der Erwachsenenbildung definiert worden ist. In der Folge hat sich das Konzept mit einer eigenen Entwicklungsdynamik im Feld der Erwachsenenbildung etabliert. Dabei ist Gesundheitskompetenz eng an die Tradition des Literacy-Lernens – im Sinne von Literalität, Grundbildung und Alphabetisierung – geknüpft worden (vgl. Rudd 2000, Speros 2005; Wills 2009). Hierbei liegt ein Fokus z. B. darauf, den Folgen unzureichender Bildung auf gesundheitliche Ergebnisse entgegenzuwirken und erwachsene Menschen im Generellen, aber insbesondere in ihren Rollen als Patient*innen, dazu zu ermächtigen, Verantwortung für ihre Gesundheit und ihre gesundheitliche Fürsorge zu übernehmen. In diesem Sinne adressiert Gesundheitskompetenz daher in erster Linie die Lese- und Rechtschreibfähigkeit sowie alltagsmathematische Rechenkompetenzen von Menschen. Die Stärkung dieser Kompetenzbereiche und

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der gesundheitlichen Grundbildung soll Menschen folglich in erster Linie dazu befähigen, aktiv und effektiv an der Ärzt*innen-Patient*innen-Interaktion teilzunehmen (Gesundheitskommunikation) und positiv auf die eigene Gesundheit (Prävention und Gesundheitsförderung) sowie auf den Genesungsprozess bei Erkrankungen einzuwirken (Therapie, Behandlung und Selbstmanagement). Gleichzeitig zielt dieser Ansatz auch auf die Selbstbestimmung und die Förderung von Autonomiepotenzialen (Empowerment) bei Erwachsenen ab (Doak et al. 1996). Im Bereich der Erwachsenenbildung ist Gesundheitskompetenz in Alphabetisierungs- und Grundbildungsdebatten eingebettet worden und hatte früh u. a. das Ziel, die Gesundheitskommunikation insbesondere zwischen Patient*innen und Gesundheitsprofessionellen zu verbessern (Doak et al. 1996; Speros 2005). Hierzu finden sich bereits für die 1960er und 1970er Jahre Studien, die insbesondere Interaktionsprozesse untersuchten und dabei auf die Bedeutung von Lese- und Schreibfähigkeiten für eine effektive Gesundheitskommunikation hinwiesen. In den 1970er Jahren haben Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung das Thema Gesundheit über Bottom-up-Ansätze in den Unterricht eingebracht (Doak et al. 1996; Santos und McKinney 2019). Da zu dieser Zeit noch kein strukturiertes oder verbindliches Curriculum für Gesundheit vorlag, wurde das Thema von Lehrkräften eher aus Eigeninteresse mit Alphabetisierungs- und Grundbildungsmaßnahmen verknüpft. Ein Ziel der Unterrichtsgestaltung war es, lebensweltliche Bezüge herzustellen. Dabei sollte der alltagspraktische Gebrauch des Lesens und Schreibens entlang gesundheitlicher Themen veranschaulicht werden, um hierdurch u. a. auch die an die erwachsenen Adressat*innen gestellten alltagsrelevanten Anforderungen aufzugreifen (Doak et al. 1996; Rudd et al. 2000). Die Erstarkung des Themas Gesundheit in der Erwachsenenbildung und die Verknüpfung mit Maßnahmen der Alphabetisierung und Grundbildung in den 1970er und 1980er Jahren hat nachfolgend auch zum Konzept der Patient*innenkompetenzen beigetragen. Hierbei haben sich die Entwicklungen, die in der Erwachsenenbildung und in dem Versorgungssystem zum Thema Gesundheitskompetenz stattgefunden haben, gegenseitig beeinflusst (Doak et al. 1996), sodass die Patient*innenkompetenz-zentrierte Lesart der Gesundheitskompetenz in der Erwachsenenbildung eine hohe konzeptionelle und praktische Nähe zum Gesundheitskompetenzansatz im Versorgungsbereich aufweist (Okan  2019, 2020). In Deutschland lässt sich die Forderung nach der Vermittlung von Gesundheitskompetenzen im Bereich der Erwachsenenbildung für die 1990er Jahre

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dokumentieren (Blättner 1998, S. 133 ff.). Hierbei liegen zum einen ähnliche Bezugspunkte zum Ansatz der Gesundheitskompetenz in der Erwachsenenbildung in den USA vor, zum anderen lassen sich Ähnlichkeiten zum frühen Public Health-Ansatz der Gesundheitskompetenz nach Nutbeam (vgl. Nutbeam 1998, 2000) feststellen. Das Konzept in Deutschland bezog sich anfänglich auf einen Ansatz der Gesundheitskompetenz(en), der eine gesundheitspsychologische Orientierung aufwies (Hornung 1989). Gesundheitskompetenz wurde hierbei vor dem Hintergrund personaler Gesundheitsressourcen, Persönlichkeitseigenschaften, Selbstwirksamkeit und gesundheitlicher Bewältigungsstrategien (Coping) diskutiert. Diese Ausrichtung konnte sich jedoch scheinbar nicht verstetigen und verebbte im Laufe der Zeit. Gegenwärtig werden in der Erwachsenenbildung vorwiegend Konzepte, welche die Förderung von gesundheitsinformationsbezogenen Kompetenzen adressieren, bedient und vor dem Hintergrund von Maßnahmen der Alphabetisierung und Grundbildung eingesetzt (vgl. Mania und Tröster 2018). Diese Ausrichtung weist Ähnlichkeiten zum Vorgehen auf, das seit Anfang der 1990er Jahre für die US-amerikanische Erwachsenenbildung beschrieben werden kann, und hat eine große Nähe zu Konzepten der Gesundheitskompetenz, die vorrangig im medizinischen Versorgungsbereich bedient worden sind.

3.3 Versorgungsforschung und Medizin Die Entwicklungslinien, die das Thema Gesundheitskompetenz in der medizinischen Versorgung genommen hat, gelten gemeinsam mit den Entwicklungsbewegungen, die der Gegenstand im Public Health-Bereich erfahren hat, als die maßgeblichen Strömungen, die zum gegenwärtig vorherrschenden Verständnis von Gesundheitskompetenz in Forschung und Praxis beigetragen haben (Nutbeam 2008; Peerson und Saunders 2009). Im medizinischen Versorgungsbereich findet ein risikobasierter Ansatz der Gesundheitskompetenz Berücksichtigung, der den Umgang von Patient*innen mit medizinischen Versorgungsangeboten aus einer eher defizitorientierten Perspektive heraus adressiert (vgl. Nutbeam 2008). Dieser Entwicklungspfad lässt sich bis in die frühen 1990er Jahre in die USA zurückverfolgen und kann für sich beanspruchen, das Thema Gesundheitskompetenz in die internationale Gesundheitsforschung und in gesundheitspolitische Diskurse eingebracht zu haben. Das Thema Gesundheitskompetenz hat sich seitdem zu einem internationalen Mainstream-Thema in der zeitgenössischen Gesundheitsforschung und teilweise auch in der gesundheitsbezogenen Bildungsforschung entwickelt (vgl. IOM 2004; Pleasant 2013a, b).

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Die Wurzeln des heutigen Stammkonzepts von Gesundheitskompetenz sind daher in den Bereichen der Versorgungsforschung und Medizin zu verorten. Allerdings weisen die hier erfolgten Entwicklungsbewegungen Überschneidungen mit denjenigen Entwicklungslinien  auf, die das Thema Gesundheitskompetenz in der Erwachsenenbildung gezeichnet hat. Eine trennscharfe konzeptionelle Ausdifferenzierung zwischen den Konzepten in diesen beiden historischen Strömungen kann folglich nicht vorgenommen werden. Das Verständnis von Gesundheitskompetenz in der Versorgungsforschung und Medizin sowie in der Erwachsenenbildung weist folgende Gemeinsamkeiten auf: Beide Perspektiven bedienen sich einer engen Auslegung der Literacy-Dimension und sind in erster Linie auf Patient*innenkompetenzen ausgerichtet. Der Begriff der Patient*innenkompetenz (patient literacy) wurde im Gesundheitskompetenzdiskurs ab den 1990er Jahren zugunsten von Begrifflichkeiten wie „medical literacy“ und „functional health literacy“ abgelegt (vgl. Speros 2005; Wills 2009; Peerson und Saunders 2009; Sørensen et al. 2012). Eine Charakterisierung des Gegenstands Gesundheitskompetenz durch das medizinische Versorgungssetting kann entlang der nachfolgenden Definitionen nachgezeichnet werden: In einer frühen Definition wird Gesundheitskompetenz begriffen als „(…) the ability to use reading, writing, and conceptual skills at a level adequate to meet the needs of everyday life situation“ (Parker et al. 1995, S. 537).

Gleichzeitig wurde in dieser Annäherung auch eine Verknüpfung mit der konkreten gesundheitlichen Handlungsebene vorgenommen, in der die funktionalen Aspekte von Gesundheitskompetenz wie folgt beschrieben werden: „(…) being able to apply literacy skills to health-related materials such as prescriptions, appointment cards, medicine labels, and directions for home care“ (Parker et al. 1995, S. 537).

Eine weitere Definition, die von der American Medical Association (1999) aufbauend auf ersten Erkenntnissen aus Studien zur Gesundheitskompetenz in Versorgungssystem bei Patient*innen festgelegt worden ist, ähnelt der Definition von Parker et al. (1995) und beschreibt Gesundheitskompetenz als: „the constellation of skills, including the ability to perform basic reading and numeral tasks required to function in the healthcare environment“ (American Medical Association 1999).

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Ein solches Verständnis von Gesundheitskompetenz prägt auch heute noch Konzepte der funktionalen Gesundheitskompetenz, die den Fokus auf grundlegende Lese- und Schreibkompetenzen, grundlegendes Wissen und alltagsmathematische Rechenkompetenzen in Bezug auf Gesundheit legen (z. B. Nutbeam 2017; WHO und UNICEF 2018). Die weiteren Forschungsaktivitäten zur Gesundheitskompetenz gingen maßgeblich von diesen Impulsen aus. Für den Zeitraum zwischen 1990 und 2010 lassen sich dabei zwei Trends beobachten: Einerseits wurde die funktionale Gesundheitskompetenz in zahlreichen Studien im Versorgungssetting bei Patient*innen erfasst und hinsichtlich gesundheitlicher Outcomes der Zielgruppen untersucht. Andererseits wurden fast zeitgleich bevölkerungsbezogene Erhebungen durchgeführt, um die gesundheitsbezogene Literacy von Erwachsenen zu erfassen. Mit zwei umfassenden systematischen Literaturübersichtsstudien von DeWalt et al. (2004) und Berkman et al. (2011) konnten dann erste umfassendere Beiträge für eine Evidenzbasierung der Gesundheitskompetenz herangezogen werden. Zusammengefasst ergaben die empirischen Resultate aus quantitativen Studien ein recht einheitliches Bild: Geringere Niveaus von Gesundheitskompetenz wiesen einen sozialen Gradienten auf und waren mit schlechteren gesundheitlichen Outcomes, erhöhten Versorgungsbedarfen und vermehrter Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen und Präventionsangeboten, sowie mit höheren Kosten für das Gesundheitssystem assoziiert (DeWalt et al. 2004; Eichler et al. 2009; Berkman et al. 2011). In den 1990er und 2000er Jahren wurden auch zunehmend bevölkerungsweite Studien zur Erhebung der Gesundheitskompetenz von Erwachsenen durchgeführt (Kirsch et al. 1993; Rudd et al. 2004; Kutner et al. 2006; Australian Bureau of Statistics 2008), die zumeist auf Lese-, Schreib- und/oder Rechenkompetenzen in medizinischen Versorgungskontexten ausgerichtet waren. Die Ergebnisse dieser Erhebungen legten nahe, dass eine Inanspruchnahme von Angeboten der medizinischen Versorgung, Prävention und Gesundheitsförderung für einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung aufgrund mangelnder Lese-, Schreib- oder Rechenkompetenzen unzureichend war. Insgesamt lagen die Ergebnisse aus den Studien in der medizinischen Versorgung im Einklang mit Erkenntnissen aus der Literacy-Forschung (vgl. Doak et al. 1996) und zeigten, dass eine geringe Alphabetisierung und Grundbildung sich nachteilig auf das medizinische Versorgungs- und Gesundheitsförderungsgeschehen auswirken kann.

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Im medizinischen Versorgungsbereich war der Gegenstand Gesundheitskompetenz auf einer konzeptionellen Ebene über fast ein Jahrzehnt von dieser sehr eng an funktionale Lese- und Schreibkompetenzen ausgerichteten Lesart von Literacy geprägt. Erst durch die Vorstellung einer weiteren Definition im Jahr 2000 konnte diese Enge zumindest auf der theoretischen Ebene aufgebrochen werden (U.S. Department of Health und Human Services 2000). Ein genauer Blick auf diese neuere Definition lässt vermuten, dass sich die für diese Definition verantwortliche amerikanische Gesundheitsbehörde in ihrem Bericht „Healthy People 2010“ an die Definition der Gesundheitskompetenz aus dem Glossar des „Joint Committee on Health Education Terminology“ (1991) orientiert zu haben scheint, welche auch im Curriculum-Ansatz „Achieving Health Literacy“ für die Schule herangezogen wurde (Joint Committee on National Health Education Standards 1995). In der Definition von 2000 wird Gesundheitskompetenz wie folgt charakterisiert: „the degree to which individuals have the capacity to obtain, process and understand basic health information and services needed to make appropriate health decisions“ (U.S. Department of Health und Human Services 2000, S. VI).

Im Vordergrund stehen hier personale Kompetenzen genauso wie eine normative Ausrichtung, Entscheidungen in einer Weise zu treffen, dass sie gesundheitsförderliche Effekte auf die handelnde Person haben. Im weiteren Verlauf wurde vom U.S.-amerikanischen „Institute of Medicine“ (IOM) im Bericht „Health literacy: A prescription to end confusion“ (IOM 2004) eine überarbeitete Definition vorgeschlagen, welche die individuumszentrierte Ausrichtung mit strukturellen Dimensionen angereichert hat. Diese Definition erfuhr mit der Zeit eine weitere Entwicklung, die zu dem geführt hat, was heute als relationales Modell der Gesundheitskompetenz begriffen wird (Baker 2006; Parker und Ratzan 2010). Im relationalen Modell werden personale Kompetenzen den Anforderungen und Komplexitäten von Versorgungsstrukturen gegenübergestellt, sodass Gesundheitskompetenz in der Schnittstelle zwischen personalen und strukturellen Merkmalen zu verorten ist (Baker 2006; Parker und Ratzan 2010). Diese Perspektive greift zusätzlich die sich verändernden Informations- und Kommunikationsbedarfe von Patient*innen auf, die in vorherigen Definitionen weitgehend unberücksichtigt blieben (Parker und Ratzan 2010). Dem relationalen Modell zufolge sind die Kommunikations- und Gesundheitskompetenzen von medizinischen und Gesundheitsexpert*innen ebenso von Bedeutung wie die Aufbereitung und Bereitstellung leicht verständlicher Gesundheitsinformationen, lebensweltnaher Gesundheitsmaterialien sowie Praxismaßnahmen

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und ­Interventionen. Eine weitere Orientierung stellen strukturelle Barrieren dar, die den Zugang zu Gesundheitsinformations- und Versorgungsangeboten erschweren und dadurch ein gesundheitskompetentes Handeln einschränken. Der relationale Ansatz ist in der Folge grundlegend für die Entwicklung des Konzepts der gesundheitskompetenten Organisation gewesen (Brach et al. 2012). Als weitere Entwicklungslinie, die Versorgungsforschungskontexten entsprungen ist, lässt sich der als „Public Health Literacy“ benannte Ansatz nach Freedman et al. (2009) beschreiben. Dieser setzt an handlungsleitenden Prinzipien von Public Health an und transportiert Gesundheitskompetenz in Lebensbereiche, die außerhalb des medizinischen Versorgungssektors liegen. Über die Ausrichtung an gesundheitliche Ungleichheitsperspektiven hinaus ist für den Ansatz nach Freedman et al. (2009) kennzeichnend, dass dieser nicht ausschließlich auf personale Kompetenzen blickt, sondern einen weiteren Schwerpunkt auf die Gesundheitskompetenz von Kommunen bzw. der sozialen Lebensräume sowie von politischen und anderen Entscheidungsträgern setzt. In Laufe der ersten Dekade der 2000er Jahre haben zahlreiche U.S.-amerikanische Gesundheitsbehörden und -organisationen das Thema der ­ Gesundheitskompetenz auf die Agenda gesetzt. Für die politiknahe Entwicklung des Gegenstands sind vor allem die Aktivitäten des „Institute of Medicine“ (IOM) hervorzuheben, das mit dem bereits oben erwähnten Bericht zur Sichtbarkeit von Gesundheitskompetenz in Politik und Praxis beigetragen hat. In diesem Bericht werden das Konzept selbst vorgestellt, die zu dem Zeitpunkt vorliegende Evidenzbasis präsentiert, Interventionen und praktische Ansätze zur Stärkung der Gesundheitskompetenz vorgeschlagen sowie zahlreiche weitere n­ icht-medizinische Handlungsbereiche in Bezug zu dem Thema gesetzt. Gesundheitskompetenz wird hier von einer primär medizinischen Perspektive heraus erstmals auch außerhalb des Versorgungssystems gedacht, wenn mit den öffentlichen Lebensbereichen „Kultur und Gesellschaft“ und dem „Erziehungssystem“ zwei weitere Settings für Interventionen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz adressiert werden. Ausgehend von seinem Bericht hat das IOM selbst, das aktuell unter dem Namen „National Academy of Medicine“ (NAM) weitergeführt wird, seine eigenen Aktivitäten zur Gesundheitskompetenz fortgeführt und veröffentlicht auch weiterhin Ergebnisse zum Thema. Zu den Aktivitäten zählen auch die Etablierung von unterschiedlich spezialisierten Arbeitsgruppen, die regelmäßige Durchführung von Workshops, Symposien, Konferenzen und Tagungen sowie der Aufbau von landesweiten Netzwerken zum Thema Gesundheitskompetenz (z.  B. Hernandez 2013; National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine 2016).

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Mittels solcher Entwicklungen konnte sich das Thema Gesundheitskompetenz auch im gesundheitspolitischen Diskurs etablieren. Dokumentieren lässt sich dies mit zahlreichen politischen Strategiepapieren, die im Laufe der letzten rund zehn Jahre in den USA zum Thema Gesundheitskompetenz veröffentlicht worden sind (vgl. Santos und McKinney 2019). Das übergeordnete Ziel dieser Maßnahmen liegt in der Stärkung der Gesundheitskompetenz. Es konnte allerdings bislang nur in Ansätzen wirksam umgesetzt werden (vgl. Weishaar et al. 2018), sodass in der Folge ein Umsetzungsplan für verschiedene Handlungsbereiche in Wissenschaft, Praxis und Politik vorgeschlagen worden ist (Pleasant et al. 2016). Dieser verweist insbesondere auf die Relevanz der Gesundheitskompetenzforschung und benennt Handlungsbedarfe sowohl für die konzeptionellen und messmethodischen als auch für die anwendungsbezogenen Forschungsperspektiven. Der vorwiegend im medizinischen Versorgungsbereich entwickelte Ansatz der Gesundheitskompetenz hat sich in den letzten Jahren stark geöffnet und sukzessive zu einem eher breiten Ansatz weiterentwickelt (vgl. IOM 2004; Pleasant et al. 2016), der mittlerweile starke Bezüge und Überschneidungen zu Gesundheitskompetenzansätzen aufweist, die primär aus einer Public HealthPerspektive heraus entwickelt worden sind.

3.4 Public Health und Gesundheitsförderung Die Entwicklungsgeschichte der Gesundheitskompetenz in Public Health ist eng mit der Ottawa Charta der WHO (1986) verknüpft und kann daher in dem Handlungsfeld der Gesundheitsförderung verortet werden. Es zeigt sich, dass sich die Ottawa Charta ihrerseits auf Ideen und Konzepte, die bereits Anfang der 1970er Jahre im sogenannten Lalonde Report vorgestellt worden waren, bezieht. Die in diesem gesundheitspolitischen Dokument vorgestellte Ausrichtung, die als „Health Field Concept“ bekannt geworden ist, legt erstmals zwei Hauptziele für den öffentlichen Gesundheitsbereich fest: Die medizinische Versorgung sowie die Prävention von Gesundheitsproblemen und die Förderung einer guten Gesundheit. Der Bericht war somit das erste Regierungsdokument in der westlichen Welt, das Handlungsfelder jenseits des traditionellen Gesundheitssystems für eine Verbesserung der Gesundheit einer Bevölkerung adressiert hat. Das „Health Field“ Konzept geht von mehreren interdependenten Bereichen aus, die die Gesundheit des Einzelnen beeinflussen. Es transportiert Gesundheit aus der biomedizinischen Tradition in einen sozio-ökologischen Kontext und bezieht dabei sowohl individuelle Fähigkeiten, Entscheidungskompetenzen und Lebensstile als auch strukturelle Determinanten der sozialen und räumlichen Umwelt

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ein. Im Lalonde-Bericht wird zudem die Bedeutung des politischen Handelns betont, um Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention flächendeckend umzusetzen, Zugangsbarrieren zu Gesundheitsdienstleistungen abzubauen und der Ungleichverteilung von Gesundheitschancen entgegenzuwirken (Lalonde 1974). Die Neuausrichtung im Lalonde-Report ist nachfolgend von der Ottawa Charta der WHO zur Gesundheitsförderung aufgenommen worden. Diese und die in ihr formulierten Prinzipien und Strategien stellen mittlerweile einen zentralen Bezugspunkt für Gesundheitsförderung und Prävention dar. Direkte Verweise auf den Begriff „Health Literacy“ finden sich in der Ottawa Charta zwar noch nicht, jedoch kann die Empfehlung einer Förderung der personalen (Gesundheits-) Kompetenzen in der vierten von insgesamt fünf vorgestellten Strategien als erster Versuch gedeutet werden, Gesundheitskompetenz in der Strategie zur Gesundheitsförderung zu berücksichtigen (vgl. Nutbeam 1993, 1998; Kickbusch 1997). Eine explizite Berücksichtigung von Gesundheitskompetenz als Baustein der Gesundheitsförderung kann anhand der Aufnahme der Begrifflichkeit „Health Literacy“ in das WHO-Glossar zur Gesundheitsförderung (Nutbeam 1998) dokumentiert werden. Die in diesem Glossar eingebrachte Definition von Gesundheitskompetenz kann als Gegenentwurf zum engen Verständnis, das sich im medizinischen Versorgungsbereich entwickelt hat, aufgefasst werden: „Health Literacy represents the cognitive and social skills which determine the motivation and ability of individuals to gain access to, understand and use information in ways which promote and maintain good health“ (Nutbeam 1998, S. 357).

Es wird deutlich, dass Gesundheitskompetenz hier weiter gefasst wird und sich über die enge Begriffsbestimmung des Versorgungs- und Medizinansatzes hinweg setzt, die etwa durch Parker et al. (1995) und die American Medical Association (1999) vorgenommen wurde. „Thus, health literacy means more than being able to read pamphlets and make appointments. By improving people’s access to health information, and their capacity to use it effectively, health literacy is critical to empowerment“ (Nutbeam 1998, S. 357). „Health literacy implies the achievement of a level of knowledge, personal skills and confidence to take action to improve personal and community health by changing personal lifestyles and living conditions“ (Nutbeam 1998, S. 357).

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Diese Ausrichtung löst Gesundheitskompetenz aus dem medizinischen Versorgungssetting und verortet sie im Lebensalltag von Menschen. Zugleich wird Gesundheitskompetenz als gesundheitsbezogene Lebens- und Schlüsselkompetenz für das 21. Jahrhundert und als Voraussetzung für eine gute gesundheitliche Lage auf Bevölkerungsebene definiert (Nutbeam 2000). Mit dem von Nutbeam vorgeschlagenen Dreistufenmodell (funktionale, interaktive und kritische Gesundheitskompetenz) ist der Gegenstand zudem mit weiteren Kompetenzbereichen und einer soziopolitischen Dimension angereichert worden. Die Einführung von kontextuellen und kompositorischen Faktoren, von denen die personale Gesundheitskompetenz von Menschen abhängig ist (Nutbeam 2000), stellt eine weitere Neuerung dar, die konzeptionell in der Nähe zum relationalen Modell nach Parker und Ratzan (2010) bzw. zu Baker (2006) steht. Somit werden in diesem Ansatz sowohl die personalen Kompetenzen als auch die Umweltfaktoren, welche die Gesundheitskompetenz maßgeblich beeinflussen, berücksichtigt (Nutbeam 2000, 2008). Zusammenfassend lassen sich die Merkmalsunterschiede zum früheren Modell im Versorgungs- und Medizinansatz wie folgt festlegen: 1. Gesundheitskompetenz geht über Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen hinaus und umfasst weitere soziale und kognitive Kompetenzen im Sinne einer erweiterten gesundheitsbezogenen Lebenskompetenz. 2. Gesundheitskompetenz stellt eine gesundheitsbezogene Informationskompetenz dar, die mit gesundheitsbezogenem Wissen, personalen Kompetenzen und weiteren Dispositionen verknüpft ist. 3. Gesundheitskompetenz kann in drei Stufen unterteilt werden: funktionale, interaktive und kritische Gesundheitskompetenz. 4. Gesundheitskompetenz ist stets in Abhängigkeit von kompositorischen und Kontextfaktoren zu betrachten. Ähnlich wie in den anderen bereits erörterten Handlungsfeldern hat das Thema Gesundheitskompetenz auch in Public Health eine gesundheitspolitische Relevanz entwickelt. Diese ist eng mit dem Wirken der WHO verknüpft. So hat das Thema Gesundheitskompetenz insbesondere mit der WHO-Konferenz zur Gesundheitsförderung in Nairobi (Kanj und Mitic 2009) Sichtbarkeit in Public Health erlangt und durch eine fortlaufende Berücksichtigung auf weiteren WHO-Konferenzen eine Verstetigung erfahren. Einen vorläufigen Höhepunkt der Aufmerksamkeit hat Gesundheitskompetenz auf der WHO-Konferenz in Shanghai im Jahr 2016 erfahren, als es zum Schwerpunktthema von Gesundheitsförderung ernannt wurde (WHO 2017) und dies im Jahr 2018 mit der

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Deklaration von Astana bekräftigt worden ist (WHO und UNICEF 2018). In der jüngsten Vergangenheit hat das WHO-Regionalbüro für Europa eine Resolution zur Gesundheitskompetenz (WHO 2019b) und eine Roadmap zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in Europa veröffentlicht (WHO 2019b). Beide Dokumente gehen maßgeblich aus dem WHO-Bericht „Gesundheitskompetenz: die Fakten“ (Kickbusch et al. 2013) hervor, der mittlerweile als wegweisender Meilenstein für das Aufkommen wissenschaftlicher Studien und politischer Maßnahmen zum Thema erachtet wird. Im Bericht werden Fakten zum Thema Gesundheitskompetenz zusammengetragen und mit zahlreichen Ansätzen der Gesundheitsförderung verknüpft. Im ähnlichen Zeitraum ist zudem ein WHOPolicy Brief erschienen, der das Hauptaugenmerk auf die europäischen Bildungsund Erziehungssysteme als Settings der Gesundheitsförderung legt (McDaid 2016). Das Dokument spricht sich dafür aus, Gesundheitskompetenz stärker mit dem Bildungssektor zu verknüpfen und hebt insbesondere schulische Ansätze der Gesundheitsförderung sowie den gesundheitsökonomischen Langzeitnutzen einer frühen Förderung der Gesundheitskompetenz hervor (McDaid 2016, 2017). In Südostasien wurde parallel das „Health Literacy Toolkit“ der WHO vorgestellt (Dodson et al. 2015), das in erster Linie für den Einsatz in Mittel- und Niedrigeinkommensländern zur Stärkung der Gesundheitskompetenz und gesundheitspolitischen Gestaltung gedacht ist. Die Entwicklungsdynamik von Gesundheitskompetenz in Public Health und im medizinischen Versorgungsbereich ist gekennzeichnet von zahlreichen Wechselwirkungen, die sich zwischen den gesundheitspolitischen und wissenschaftlichen Handlungsfeldern eingestellt haben. So hat beispielsweise die politische Diskussion über Gesundheitskompetenz insbesondere in Europa durch die Ergebnisse des Forschungsprojekts zum European Health Literacy Survey (HLS-EU) (Sørensen et al. 2012, 2015) Auftrieb erhalten. Die Realisierung der HLS-EU Studie selbst wurde durch gesundheitspolitische Entwicklungen unterstützt, die zuvor in einem White Paper der Europäischen Union Gesundheitskompetenz als wichtiges Gesundheitsziel in Europa herausgestellt hatten (European Commission 2007). Das HLS-EU Forschungsnetzwerk kann heute als wichtiger Katalysator für die Gesundheitskompetenzforschung verstanden werden, da es maßgeblich zum Verständnis von Gesundheitskompetenz beigetragen hat und entscheidende Impulse für Folgestudien wie z. B. die HLS-AsiaErhebung (Duong et al. 2017) liefern konnte (vgl. Pelikan et al. 2019). Die Entwicklung des Gegenstands Gesundheitskompetenz wird gegenwärtig in Public Health mit hoher Intensität fortgeführt und erfährt dabei gleichermaßen Zuspruch aus Wissenschaft, Praxis und Politik. Kürzlich wurden z. B. ein WHO-Kollaborationszentrum (Deakin University 2017) und zwei europäische

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­ HO-Netzwerke zum Thema Gesundheitskompetenz gegründet. Das Netzwerk W „WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy M-POHL“ kann als Folgevorhaben der HLS-EU Studie betrachtet werden. Es verfolgt das Ziel, ein europaweites Monitoringsystem zur Gesundheitskompetenz in 28 Ländern zu implementieren (siehe https://m-pohl.net/). Das zweite Netzwerk „WHO European Action Network on Health Literacy for Prevention and Control of NCDs“ wurde ins Leben gerufen, um die Förderung von Gesundheitskompetenz für das Management von nichtübertragbaren Krankheiten in Europa zu adressieren (WHO 2019a, b). Abschließend sei noch der Hinweis gegeben, dass insbesondere in Nordamerika, Europa und Asien zahlreiche Aktivitäten zur Gesundheitskompetenz zu verzeichnen sind, wohingegen sich für Südamerika und Afrika ein zurückhaltendes Bild ergibt (Pleasant 2013a, b).

4 Diskussion und Ausblick In diesem Beitrag wurden wesentliche historische Strömungen nachgezeichnet, die in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart zum Aufkommen des Themas Gesundheitskompetenz beigetragen haben. Es konnten vier Entwicklungslinien identifiziert werden, die sich zunächst mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickelt und sich in der Folge zunehmend wechselseitig informiert und bereichert haben. Mit Bezug auf die im vorliegenden Sammelband adressierten Zielgruppen der Kinder und Jugendlichen ist insbesondere auf die Entwicklung des Themas Gesundheitskompetenz in den Bereichen schulische Gesundheitserziehung und Public Health hinzuweisen, da hier eine Betrachtung der Gesundheitskompetenz für das Kindes- und Jugendalter von vornherein vorgenommen wird. Bei einer ersten Betrachtung der vorliegenden Erkenntnisse lassen sich auch besondere Herausforderung für die künftige Erforschung der Gesundheitskompetenz im Kindes- und Jugendalter benennen. Diese setzen z. B. an der Beobachtung an, dass zahlreiche unterschiedliche Konzepte zur Gesundheitskompetenz vorliegen. Diese weisen zwar ein gewisses Maß an Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich aber deutlich voneinander, wenn Lernen, Handlungspraxis oder die Messung der Gesundheitskompetenz thematisiert werden. Daneben zeigt sich, dass die Definitionen und Modelle von Gesundheitskompetenz in den vier dargestellten Bereichen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vornehmen. Dies mag dazu beitragen, dass beispielsweise die WHO in offiziellen Dokumenten auf vier verschiedene Definitionen und Modelle von Gesundheitskompetenz verweist: 1) In der HBSC-Studie (Paakkari et al. 2018), 2) im Bericht „Gesundheits-

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kompetenz: die Fakten“ (Kickbusch et al. 2013), 3) im WHO-Glossar (Nutbeam 1998) und 4) im „Toolkit“ (Dodson et al. 2015). Unterschiedliche Lesarten der Gesundheitskompetenz zeigen sich auch, wenn selektiv auf Definitionen und Modelle für Kinder und Jugendliche geschaut wird. So stehen z. B. Modelle mit einem Fokus auf Informationskompetenzen (USA, WHO, Australien) solchen mit einem Fokus auf schulbezogene Kompetenzansätze gegenüber (Finnland, WHOHBSC, OECD). Die Bandbreite an Gesundheitskompetenzmodellen trägt zur Komplexität der am Gegenstand orientierten Diskussion bei und erschwert teilweise den Zugang zum Konzept. Eine naheliegende Schlussfolgerung wäre daher der Vorschlag, die Modelle nach eingehender Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in einem gemeinsamen Bezugsrahmen zusammenzuführen. Eine solche Zusammenführung von unterschiedlichen Komponenten, die das Konzept gegenwärtig für unterschiedliche Zielgruppen charakterisieren, wäre eine Ausgangsbedingung, um einen ganzheitlichen Ansatz zu ermöglichen. So sind beispielsweise Informationskompetenzen ähnlich von Bedeutung wie das Gesundheitswissen und andere personale Kompetenzen. Zugleich wäre die konsequente Berücksichtigung einer Strukturperspektive hilfreich, um verhältnisbezogene Perspektiven auf das Konzept im Kindes- und Jugendalter von Anbeginn zu ermöglichen und somit sozial bedingte Ungleichheiten in der Gesundheit aufzugreifen und zu adressieren. Ein solches Vorgehen hätte auch Auswirkungen auf die Messung des Gegenstands und auf die Gestaltung von Interventionen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in den Zielgruppen. Es liegt nahe, dass insbesondere Forschung und Wissenschaft anzusprechen sind, um auf diese konzeptionellen, methodischen und praktischen Herausforderungen weiter einzugehen. Anzustreben wäre hier eine interdisziplinäre und intersektorale Herangehensweise. Obwohl mit der schulischen Gesundheitserziehung bereits ein Entwicklungsrahmen identifiziert werden konnte, der Gesundheitskompetenz in den Bereichen Bildung und Erziehung verortet und auf Heranwachsende ausrichtet, lässt sich feststellen, dass bis vor kurzem nur wenig Forschungsaktivitäten zur Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen gewesen ist. Daher sollten zukünftige Aktivitäten an den weiterhin vorhandenen Leerstellen ansetzen, um die Grundlagen für die weitere Erforschung der Gesundheitskompetenz im Kindes- und Jugendalter und Strategien zu ihrer Stärkung zu schaffen.

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Definitionen und Konzepte von Health Literacy – Überblick und Einordnung Kristine Sørensen

1 Einleitung „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“ (Weltgesundheitsorganisation 1986).

Die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung beschreibt, wie Gesundheit sowohl vom Individuum als auch von der Gesellschaft, in der man lebt, geschaffen wird. Darüber hinaus fordert die Charta eine Neuausrichtung der Gesundheitsdienste, angepasst an die Bedürfnisse des Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit und beschreibt, dass die Verantwortung für die Gesundheitsförderung im Gesundheitswesen zwischen Individuen, Gruppen, den Ärzt*innen und anderen

Der vorliegende Beitrag baut auf Inhalten auf, die bereits im von Okan et al. herausgegebenen und von Policy Press verlegten „International Handbook of Health Literacy“ vorgestellt wurden (Sørensen 2019), sowie im von Logan und Siegel herausgegebenen und von IOS Press verlegten Handbuch „New Directions in Health Literacy Research, Theory and Practice“ (Sørensen und Pleasant 2017). Bei der aktuellen Fassung auf Deutsch handelt es sich um eine überarbeitete und übersetzte Fassung der ursprünglichen Beiträge. Übersetzung aus dem Englischen: Christina Janner und Torsten M. Bollweg. K. Sørensen (*)  Global Health Literacy Academy, Risskov, Dänemark E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. M. Bollweg et al. (Hrsg.), Health Literacy im Kindes- und Jugendalter, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29816-6_3

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K. Sørensen

Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens, den Gesundheitseinrichtungen und dem Staat geteilt wird (Weltgesundheitsorganisation 1986). Zu betonen ist hierbei besonders, dass die Verbesserung der Health Literacy der Bevölkerung die Grundlage dafür bildet, Bürger*innen in die Lage zu versetzen, eine aktive Rolle bei der Verbesserung ihrer eigenen Gesundheit zu übernehmen, sich erfolgreich an Aktionen der Gesundheitsförderung zu beteiligen und ihre Regierung in die Pflicht zu nehmen, ihrer Verantwortung für Gesundheit und gesundheitliche Chancengleichheit gerecht zu werden. Für den Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten und für das Erreichen der Ziele für nachhaltige Entwicklung ist es unerlässlich, auf die Health Literacy-bezogenen Bedarfe der am stärksten benachteiligten und marginalisierten Menschen einzugehen (Menabde 2017).

1.1 Health Literacy auf dem Vormarsch „Health Literacy stellt die kognitiven und sozialen Fähigkeiten dar, die die Motivation und Fähigkeit von Individuen bestimmen, sich Zugang zu Informationen zu verschaffen, sie zu verstehen und so zu nutzen, dass die Gesundheit gefördert und erhalten wird.[…] Health Literacy bedeutet also mehr, als Flugblätter lesen und Termine vereinbaren zu können. Durch eine Verbesserung des Zugangs zu Gesundheitsinformationen und durch die Verbesserungen der Fähigkeiten der Bevölkerung, diese Informationen effektiv zu nutzen, ist Health Literacy wesentlich für Empowerment.“ (Nutbeam 1998, S. 357; Übers. d. Hrsg.).

Health Literacy impliziert das Erreichen eines Niveaus an Wissen, persönlichen Fähigkeiten und Selbstvertrauen, um durch eine Veränderung des individuellen Lebensstils und der Lebensbedingungen sowohl die eigene Gesundheit, als auch die Gesundheit anderer Menschen zu verbessern (Nutbeam 1998). Gesundheitskompetent zu sein, bedeutet, die eigene Gesundheit und die der Familie und der Gemeinschaft im Kontext zu sehen; zu verstehen, welche Faktoren auf sie einwirken und zu wissen, wie man diese beeinflussen kann (McQueen et al. 2007). Neben der individuellen Sichtweise ist Health Literacy eine grundlegende Gesundheitsressource für Organisationen, Gemeinschaften und Gesellschaften. Wie in der Ottawa-Charta beschrieben, liegt die Verantwortung für die Herstellung von Gesundheit nicht allein beim Individuum, weshalb Health Literacy eine Fähigkeit ist, welche auf allen Ebenen berücksichtigt werden muss. Während Health Literacy bisher vor allem ein westliches Phänomen war, steht das Thema heute weltweit auf der Agenda und erfährt als globale Bewegung Aufwind (Sørensen et al. 2018). In der Praxis wird Health Literacy als ein vielschichtiges Konzept anerkannt, jedoch wird seit den 1990er Jahren eine Antwort

Definitionen und Konzepte von Health Literacy …

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auf die Frage gesucht, wie das volle Potenzial des Begriffs ausgeschöpft werden kann. Obwohl die Bedeutung von Health Literacy zunehmend anerkannt wird, gibt es verschiedene, sich überschneidende Definitionen, die eine Messung und Anwendung bisweilen erschweren.

1.2 Die Ursprünge der Health Literacy Rückblickend lässt sich das Konzept „Health Literacy“ in schriftlicher Form erstmals in einem Bericht der interdisziplinären Will Rogers Conference on Health Education am Saranac Lake im Bundesstaat New York (USA) nachweisen, auf der die Zukunft des amerikanischen Bildungssystems diskutiert wurde. Hier machte Scott Simonds (1974) auf Health Literacy als wichtiges gesellschaftspolitisches Thema zur Stärkung des Bildungssystems aufmerksam. Doch erst 1995 definierte das US Joint Committee on National Health Education Standards Health Literacy klar als das Wissen und die Fähigkeiten „grundlegende Gesundheitsinformationen einzuholen und Gesundheitsdienste zu nutzen, zu interpretieren und zu verstehen, sowie die Kompetenz, diese Informationen und Dienste gesundheitsfördernd zu nutzen“ (Joint Committee on National Health Education Standards 1995; Übers. d. Hrsg.). Seitdem ist die Health LiteracyForschung in den letzten vier Jahrzehnten exponentiell gewachsen – seit der ersten Forschungspublikation im Jahr 1985 sind Tausende von wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht worden (Sørensen und Pleasant 2017). Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die am häufigsten verwendeten Definitionen von Health Literacy, wobei erörtert wird, dass diese trotz unterschiedlicher Formulierungen tatsächlich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede aufweisen. Schließlich wird auf die Wichtigkeit von Transparenz bei der Wahl einer Definition hingewiesen, um zu mehr Qualität in Forschung, Praxis und Politik beizutragen.

2 Health Literacy theoretisch erfassen Das Konzept „Health Literacy“ setzt sich aus den Worten Health und Literacy zusammen. Alleinstehend hat jedes Wort eine eigene Bedeutung und kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. In der von Sørensen und Brand (2013) vorgestellten Studie zu Übersetzungen des Begriffs „Health Literacy“ wurden die Synonyme des Begriffs Health untersucht und eine breite Palette von Konzepten

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identifiziert: Fitness, Wohlbefinden, Gesundheit, Kraft, Stärke, Vitalität, Form und Kondition. Die Synonyme von Literacy wiederum umfassen Alphabetisierung, Lesefähigkeit, Wissen, Lernen, Expertise und Versiertheit. Ein Synonym für den kombinierten Begriff „Health Literacy“ konnte nicht gefunden werden. Tatsächlich konnte der Studie zufolge Health Literacy als kombinierter Begriff weder in den untersuchten englischen oder amerikanischen Wörterbüchern, noch beispielsweise in der Encyclopaedia Britannica gefunden werden. Dies könnte darauf hindeuten, dass der sich entwickelnde Bereich Health Literacy noch nicht im Mainstream angekommen ist (Sørensen und Brand 2013). Um das Konzept von Health Literacy in seiner Gänze zu verstehen, ist es sinnvoll, die beiden Begriffe Health und Literacy genauer zu untersuchen.

2.1 Health (Gesundheit) In der Antike war die Vorstellung von Gesundheit als das Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt und als die Einheit von Seele und Körper zentral. Im Mittelalter wurde die Gesundheitswahrnehmung dann stark von Religion und Kirche beeinflusst, wohingegen die antiken Gesundheitsvorstellungen in der Renaissance wiederentdeckt wurden. Gesundheit wurde während der industriellen Revolution zu einem ökonomischen Faktor, mit starkem Fokus auf eine durch gute Gesundheit gesteigerte Produktivität und die Vermeidung von krankheitsbedingten Arbeitsausfällen (Svalastog et al. 2017). In der Neuzeit wurde Gesundheit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur [als] das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (Internationale Gesundheitskonferenz 1946; Übers. d. Hrsg.) definiert und impliziert die individuelle Fähigkeit zur Selbstverwirklichung und -erfüllung. Ganzheitlich betrachtet kann Gesundheit als ein relativer Zustand verstanden werden, in dem man auf körperlicher, geistiger, sozialer und spiritueller Ebene intakt und somit in der Lage ist, die ganze Bandbreite des eigenen, einzigartigen Potenzials im Rahmen der individuellen Lebenswelt auszudrücken. Im Wesentlichen können sowohl Gesundheit als auch Krankheit als dynamische Prozesse betrachtet werden, bei denen sich jeder Mensch auf einer graduellen Skala oder einem kontinuierlichen Spektrum (Kontinuum) befindet, das von Wohlsein und optimaler Funktionalität auf der einen Seite, bis hin zu im Tod gipfelnder Krankheit auf der anderen Seite reicht. Zu beachten ist hierbei, dass Sozialmedizin und Public Health Gesundheit als das Ergebnis der Interaktion von Individuen mit ihrem sozialen Umfeld verstehen (Svalastog et al. 2017).

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2.2 Literacy (Literalität) Auch Literalität – die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben – hat eine lange Geschichte. Die erste schriftliche Kommunikation stammt aus dem Jahr 3500 v. Chr., als nur wenige Menschen lesen und schreiben lernten. In der Antike traten Menschen, die lesen konnten, öffentlich auf und stellten ihr Können unter Beweis. Die ersten bekannten Bücher stammen aus Rom, um 23 v. Chr. Auch im Nahen Osten und in mehreren asiatischen Ländern wurden um diese Zeit Bücher produziert. Mit der Erfindung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert wurden Bücher immer verbreiteter. Bis dahin galten sie als selten und teuer und waren eher für die Privilegierten bestimmt, als für das gemeine Volk. Durch die Innovation des Druckens begann die Alphabetisierungsrate zu steigen. Darüber hinaus wurde die Fähigkeit, mit dem eigenen Namen zu unterschreiben, immer wichtiger und der Stellenwert von schriftsprachlichen Fähigkeiten als Ausdruck von Status nahm zu. Später ermöglichte die industrielle Revolution neue Formen der Förderung von Literalität, z. B. durch die Herstellung von Papier, wodurch die Kosten für Bücher gesenkt wurden und die Alphabetisierung zu einem vorrangigen Ziel im öffentlichen Bildungswesen wurde. Ferner entwickelte sich das Lesen zu einer beliebten Freizeitaktivität (UTA Online o. D.). In den USA werden beispielsweise seit den 1940er Jahren die Lesegewohnheiten der Bevölkerung beobachtet, mit einem stetigen Anstieg bis zum Anfang der 1980er Jahre, als ein Rückgang um zehn Prozent erfolgte. Diese Veränderung kann möglicherweise auf die Verbreitung von anderen Arten von Unterhaltungsmedien zurückgeführt werden, sowie auf eine Veränderung der Bildungsmethoden, wobei die Förderung der täglichen Lesegewohnheiten weniger stark im Vordergrund stand. Seitdem hat sich die Bedeutung von Literalität gewandelt. Der Schwerpunkt liegt nun weniger auf den grundlegenden Handlungen des Lesens und Schreibens als vielmehr auf funktionaler Health Literacy, d. h. der Frage, ob das Bildungsniveau einer Person ausreicht, um in der modernen Gesellschaft zurechtzukommen (UTA Online o. D.). Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Literalität „die Fähigkeit, gedrucktes und schriftliches Material, das mit unterschiedlichen Kontexten verbunden ist, zu identifizieren, zu verstehen, zu interpretieren, zu erstellen, zu kommunizieren und zu berechnen. Literalität beinhaltet ein kontinuierliches Lernen, um Individuen in die Lage zu versetzen, die eigenen Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial zu entwickeln und voll an Gemeinschaft und Gesellschaft im weiteren Sinne teilzunehmen“ (OECD 2019; Übers. d. Hrsg.). Street (2017) stellt fest, dass Alphabetisierung weder „neutral“ oder notwendigerweise hilfreich ist (d. h. dass sie andere Lebens-

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bereiche positiv beeinflusst), noch nur auf das Lesen und Schreiben beschränkt ist. Stattdessen betrachtet er Alphabetisierung als stark normativ, wenn es darum geht, was als gute „Alphabetisierung“ anerkannt wird. Vielmehr geht es um die soziale Praxis (Street 2017).

2.3 Health Literacy Die unterschiedlichen Interpretationen der Begriffe Health und Literacy spiegeln sich auch in der Interpretation des kombinierten Begriffs Health Literacy wider. Wissenschaftler*innen erklären Health Literacy als ein heterogenes Phänomen (Mårtensson und Hensing 2012), das von funktionaler Health Literacy, beispielsweise im klinischen Umfeld, bis hin zu einer breiteren, umfassenderen Interpretation reicht, die in Gesundheitsförderung und Public Health verortet ist und beispielsweise interaktive und kritische Health Literacy einschließt (Nutbeam 2000; Sørensen und Pleasant 2017). Bei der Übersetzung in andere Sprachen wird deutlich, wie unterschiedlich die Verständnisse des Begriffs Literacy sind. Hinzu kommt, dass es oftmals kein spezifisches Wort gibt, um das zu beschreiben, was Literacy im Englischen meint. Eine Analyse ergab, dass Health Literacy in miteinander verknüpfte Wörter wie „health competencies“, „abilities“, „capabilities“, „skills“, „capacities“, „knowledge“ und „awareness“ übersetzt wird. Ein erneuter Blick in die Wörterbücher zeigt deutlich, wie sich diese Begriffe überschneiden (Sørensen und Brand 2013): • „competence“ kann verstanden werden als „die Fähigkeit, etwas erfolgreich oder effizient zu tun“ oder als „der Umfang des Wissens oder der Fähigkeiten einer Person oder Gruppe“, also auch als „Fähigkeit oder Fertigkeit“ (Übersetzung hier und im Folgenden durch die Hrsg.). • Unter „skill“ wird die Fähigkeit verstanden, „etwas gut zu machen; Fachwissen“ und hat seinen Ursprung im altenglischen Begriff „scele“ (Wissen). • „Ability“ bedeutet „die Fähigkeit, etwas zu tun“ und „Talent, das es jemandem ermöglicht, viel zu erreichen“. • „Capacity“ bedeutet „die Fähigkeit oder Macht, etwas zu tun, zu erleben oder zu verstehen“. • „Knowledge“ bedeutet „Fakten, Informationen und Fähigkeiten, die eine Person durch Erfahrung und Ausbildung erworben hat; das theoretische oder praktische Verständnis eines Themas sowie das Bewusstsein oder die Vertrautheit, die durch die Erfahrung einer Tatsache oder einer Situation gewonnen wurde“.

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• „Awareness“ bezieht sich „auf die Kenntnis oder Wahrnehmung einer Situation oder eines Sachverhalts“.

3 Health Literacy definieren Trotz der rasanten Entwicklung der Health Literacy-Forschung in den letzten Jahren haben nur wenige Studien die Definitionen des Begriffs hinterfragt. Drei Studien sind hervorzuheben, die diesbezüglich vertiefende Erkenntnisse liefern. Die erste umfassende Studie wurde von Sørensen et al. (2012) durchgeführt, die sich auf Definitionen und Modelle konzentriert, gefolgt von einem zweiten Review von Malloy-Weir et al. (2016) hinsichtlich der Interpretationen und Implikationen für die Politik. Ein dritter Review von Bröder et al. (2017) konzentrierte sich auf die Analyse von Definitionen der Health Literacy mit Hinblick auf Kinder und Jugendliche. Die in diesem Kapitel untersuchten Definitionen haben nicht den Anspruch, die Gesamtheit aller Definitionen wiederzugeben. Interessierte Leser*innen finden in oben genannten Reviews jedoch eine ausführlichere Beschreibung der Diskussionen.

3.1 Die (Weiter-)Entwicklung der Definitionen von Health Literacy In den 1990ern definierte die WHO Health Literacy im Health Promotion Glossary (Nutbeam 1998) als „die kognitiven und sozialen Fähigkeiten, die die Motivation und Fähigkeit von Individuen bestimmen, sich Zugang zu Informationen zu verschaffen, sie zu verstehen und so zu nutzen, dass die Gesundheit gefördert und erhalten wird“ (Übers. d. Hrsg.). Das Health LiteracyKomitee der American Medical Association (1999) definierte Health Literacy als eine Konstellation von Fähigkeiten, einschließlich der Fähigkeit, grundlegende Lese- und Rechenaufgaben zu bewältigen, welche erforderlich sind, um im Gesundheitswesen zu agieren. Im Jahr 2000 definierte das US-amerikanische nationale Strategiepapier Healthy People 2010 Health Literacy als das Maß, in dem Individuen die Fähigkeit besitzen, grundlegende Gesundheitsinformationen zu beschaffen und Gesundheitsdienstleistungen zu nutzen, zu verarbeiten und zu verstehen, die für angemessene Gesundheitsentscheidungen erforderlich sind (United States Department of Health and Human Services 2000). Später beschrieb das U.S. Institute of Medicine Health Literacy als „eine gemeinsame Funktion von

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sozialen und individuellen Faktoren, die sich aus dem Zusammenspiel der Fähigkeiten des Einzelnen und den Anforderungen der Sozialsysteme ergibt“ (NielsenBohlman et al. 2004; Übers. d. Hrsg.). In ähnlicher Weise schlugen Kickbusch et al. (2008) eine kontextbezogene Definition von Health Literacy vor: „die Fähigkeit, fundierte Gesundheitsentscheidungen im Alltag, zu Hause, in der Gemeinschaft, am Arbeitsplatz, im Gesundheitssystem, sowie auf wirtschaftlicher und politischer Ebene zu treffen“ (Übers. d. Hrsg.). Sie bekräftigten auch, dass „Health Literacy eine wichtige Empowerment-Strategie ist, um die Kontrolle zu vergrößern, die Menschen über ihre Gesundheit haben, sowie um ihre Fähigkeit zu verbessern, Informationen zu beschaffen und Verantwortung zu übernehmen“ (Übers. d. Hrsg.). Kwan et al. (2006) definieren Health Literacy als „die Fähigkeit von Menschen, Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und zu kommunizieren, um die Anforderungen verschiedener Gesundheitskontexte bewältigen zu können, mit dem Ziel, die Gesundheit im Laufe des Lebens zu fördern“ (Übers. d. Hrsg.). In ähnlicher Weise haben Zarcadoolas et al. (2003) Health Literacy als „das breite Spektrum von Fähigkeiten und Kompetenzen [definiert], die Menschen entwickeln, um Gesundheitsinformationen und -konzepte zu suchen, zu begreifen, zu bewerten und zu nutzen, um informierte Entscheidungen zu treffen, Gesundheitsrisiken zu verringern und die Lebensqualität zu erhöhen“ (Übers. d. Hrsg.). In diesem Sinne argumentieren auch Freedman et al. (2009), dass die medizinische Perspektive auf gesundheitsbeeinflussende Faktoren auf die gesellschaftliche Ebene verlagert und dass zwischen öffentlicher und individueller Health Literacy unterschieden werden sollte. Das European Health Literacy Project Consortium (Sørensen et al. 2012) untersuchte 17 Definitionen und kombinierte sie zu einer allumfassenden Forschungsdefinition, welcher zufolge „Gesundheitskompetenz auf allgemeiner Literalität [basiert] und das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen [umfasst], relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in den Bereichen der Krankheitsbewältigung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung Urteile fällen und Entscheidungen treffen zu können, die ihre Lebensqualität während des gesamten Lebensverlaufs erhalten oder verbessern“ (Übers. d. Hrsg.). Obwohl das Konzept der Health Literacy nach wie vor unterschiedlichen Definitionen und konzeptionellen Ansätzen unterliegt, finden sie insofern eine gemeinsame Grundlage, als sie die Fähigkeit von Individuen in den Blick nehmen, Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden,

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um gesundheitsbezogene Entscheidungsfindungsprozesse zu verbessern und letztlich die Gesundheit und Lebensqualität zu steigern und/oder gesundheitliche Ungleichheiten im Laufe des Lebens abzubauen (Pleasant und Kuruvilla 2008). Darüber hinaus beziehen viele Definitionen die Kontextbezogenheit von Health Literacy mit ein, indem sie die Interaktion und Partizipation in Gemeinschaft und Gesellschaft betonen (Sørensen et al. 2012).

3.2 Health Literacy ist kontext- und inhaltsspezifisch Aus klinischer Sicht wird argumentiert, dass Wissen eine individuelle Ressource ist, „die Health Literacy fördert, aber an sich noch keine Health Literacy darstellt“ (Baker 2006; Übers. d. Hrsg.). Einig ist man sich auch darüber, dass Health Literacy sowohl für die oder den Einzelnen als auch für die Gesellschaft von Bedeutung ist und in Abhängigkeit von Inhalten und Kontexten von Situation zu Situation unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann (Mårtensson und Hensing 2012). Pleasant und Kuruvilla (2008) zeigen in ihrem Artikel A tale of two health literacies („Eine Geschichte von zwei Health Literacies“) zwei zentrale Wege auf, die auf einem klinischen sowie auf einem Public Health-Ansatz zur Health Literacy basieren. Während im klinischen Setting die Beschaffung von Informationen über und von Patient*innen im Vordergrund steht, konzentriert sich die Arbeit im Bereich Public Health auf die Vermittlung von Wissen, z. B. über sichere Sexualpraktiken, Abstinenz zur Verhinderung von HIV/AIDS oder die Verwendung oraler Rehydratationslösungen bei Diarrhoe (Pleasant und Kuruvilla 2008). Nutbeam (2000) versteht Health Literacy in erster Linie als ein Outcome von Gesundheitsförderung, das aus einer funktionalen, interaktiven und kritischen Perspektive untersucht werden kann. Health Literacy wurde im Nairobi Call to Action (Weltgesundheitsorganisation 2009) hervorgehoben, in welchem darauf hingewiesen wurde, dass Maßnahmen zur Förderung von Health Literacy entsprechend gesundheitlicher, sozialer und kultureller Bedürfnisse entwickelt werden müssen. Health Literacy ist inhaltsund kontextspezifisch, d. h. sie steht in unmittelbarer Verbindung zum jeweiligen Gesundheitsthema und dem Umfeld bzw. Kontext, in dem dieses diskutiert wird. Häufig wird die spezifische Unterart der Health Literacy im Namen angegeben, wie z. B. diabetes literacy, vaccine literacy („Impf-Literacy“) oder occupational literacy („berufsbezogene Literacy“). Darüber hinaus sind die Kontexte in Bezug auf ihre Interpretation, Umsetzung und Auswirkungen von Bedeutung, da sie von den gesellschaftlichen Systemen abhängen, in denen Health Literacy entwickelt oder angewandt wird.

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3.3 Das Risiko der Fragmentierung Angesichts des Umfangs der Health Literacy-Forschung sind Bedenken bezüglich der Gefahr einer Fragmentierung geäußert worden. Mackert et al. (2015) haben insbesondere vier Strömungen in der Health Literacy Forschung identifiziert, die sich auf Gesundheitsbereiche (z. B. verschiedene Krankheitsbilder und Beschwerden), Bevölkerungsgruppen (z. B. nach Rolle oder Alter), bestimmte Kanäle und Kontexte (z. B. eHealth) sowie Sprachen konzentrieren. Mackert et al. (2015) weisen darauf hin, dass Zunahme und Ausdifferenzierung der Forschung zur Schaffung von spezialisierteren Ansätzen beigetragen hat – z. B. hinsichtlich der Messung von Health Literacy – was sie als „Zeugnis für die Bandbreite der Wissenschaftler*innen [beschreiben], die sich für das Thema interessieren, sowie für ihre Kreativität und ihr Interesse an der Förderung der Evidenz zu einem entscheidenden Gesundheitsthema“ (Übers. d. Hrsg.). Die potenzielle Fragmentierung wirkt sich also nicht unbedingt negativ aus. Tatsächlich können bereichs- und bevölkerungsspezifische Studien zur Health Literacy zu einem tieferen Verständnis des Begriffs und der Wirkung auf Gesundheitsindikatoren beitragen. Generell ist das kontinuierliche Bestreben, Health Literacy in verschiedenen Kontexten zu untersuchen und verbesserte Instrumente und Messmethoden für die Forschung zu entwickeln, ein entscheidendes Element, um das Forschungsfeld Health Literacy voranzubringen und schließlich „spezifische Gesundheitskompetenzen auf Grundlage allgemeiner Health Literacy zu entwickeln und aufzubauen“ (Mackert et al. 2015; Übers. d. Hrsg.).

4 Die Wahl einer Definition – Ein Appell für mehr Transparenz Die Existenz so vieler Definitionen von Health Literacy und der vielen unterschiedlichen Interpretationen, die selbst für die am häufigsten verwendeten Definitionen möglich sind, können von politischen Entscheidungsträger*innen, Praktiker*innen und Forscher*innen mitunter als problematisch empfunden werden. Für die Akteur*innen in diesem Bereich ist es deshalb von entscheidender Bedeutung, dass sie explizit angeben, welche Definition sie verwenden, und dass sie zeigen, wie sie diese in ihrer Arbeit anwenden.

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4.1 Transparente Wahl einer Definition Während sich die Definitionen von Health Literacy weiterentwickeln, ist es wichtig, die Definition(en), die sich bereits in der Praxis etabliert haben, zu beachten, sowie "die unterschiedliche und potenziell problematische Art und Weise, in der Definitionen ausgelegt werden können; und die Art und Weise, in der sich unterschiedliche Auslegungen auf die Durchführung von politischen Initiativen im Zusammenhang mit Health Literacy auswirken können“ zu berücksichtigen (Malloy-Weir et al. 2016; Übers. d. Hrsg.). „Erstens ist nicht klar, welche Definition von Health Literacy in einem bestimmten Kontext am besten geeignet ist und nach welchen Kriterien dies beurteilt werden sollte. Zweitens: Wenn politische Entscheidungsträger*innen Definitionen anders verstehen als die, die Health Literacy-Initiativen umsetzen und bewerten, kann es zu Verwirrung und Missverständnissen kommen. Drittens kann es zu unbeabsichtigten oder ungewollten Konsequenzen führen, wenn politische Entscheidungsträger*innen auf Grundlage von Annahmen handeln, die nicht vollständig durch empirische Forschung gestützt werden“ (Malloy-Weir et al. 2016; Übers. d. Hrsg.).

Hinzu kommt, dass die Übersetzungen von Health Literacy potenzielle Träger der latenten Bedeutung von Literacy sind und als solche in verschiedenen Bereichen mehr oder weniger anschlussfähig und nützlich sind, abhängig von der spezifischen Auslegung des Begriffs. Unter Umständen können mit einer Übersetzung der Literacy-Komponente auch eine bestimmte Agenda transportiert und ein Handlungsrahmen vorgegeben werden (Sørensen und Brand 2013). In den Niederlanden beispielsweise wird Health Literacy in Health Skills übersetzt. Der Diskurs wird hierbei von Akteur*innen der klinischen Praxis sowie des Bildungsbereichs dominiert, welche Literacy als Skillset in der Gesundheitsversorgung thematisieren. In den USA wird Health Literacy meist aus einer funktionalen Perspektive verhandelt, während die Health Literacy-Agenda in Schottland vom Nationalen Gesundheitssystem (NHS) dominiert wird (Sørensen 2016).

4.2 Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen Es gibt ein wachsendes Verständnis dafür, Health Literacy vor dem Hintergrund ihrer Multidimensionalität zu betrachten. Mackert et al. (2015) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es von entscheidender Bedeutung ist, dass Wissenschaftler*innen im „Wald“ der Health Literacy die „Bäume“ nicht mit

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ihren Partikularinteressen verwechseln (Mackert et al. 2015). Die breite Palette an Definitionen repräsentiert hierbei die Bäume und ist Gegenstand von Interpretation bzw. Auslegung. Die Unterschiede liegen eindeutig in den Details in Bezug auf spezifische Aspekte der Health Literacy und nicht in tiefgreifenden Unterschieden zwischen den Definitionen. Wie in den vorangegangenen Kapiteln erläutert wurde, sind die Gemeinsamkeiten größer als die Unterschiede.

5 Abschließende Bemerkungen Health Literacy entsteht durch das Zusammentreffen und -passen von Bildungsund Gesundheitsdiensten sowie sozialen und kulturellen Faktoren und führt Forschung und Praxis aus verschiedenen Bereichen zusammen (Nielsen-Bohlman et al. 2004). Jeder der mehrdimensionalen Aspekte liefert ein Stück des Puzzles, das helfen kann, zu definieren, was Health Literacy ist und warum sie wichtig ist. Sprachlich gesehen impliziert der Begriff selbst mehrere Interpretationen, die auf dem Verständnis der beiden Einzelbegriffe Health und Literacy aufbauen. Health Literacy ist jedoch mehr als die Summe ihrer Teile und hat sich als eigenständiger Forschungsbereich etabliert (Sørensen und Brand 2013).

5.1 Ausblick Während Health Literacy vor dem Hintergrund der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung als Ressource betrachtet wird, werden die Messung von Health Literacy und die Auswirkungen auf gesundheitliche Ungleichheit oft unter einem defizitären Aspekt beleuchtet. Darüber hinaus bemängeln Kritiker*innen, dass Health Literacy zu oft auf der Ebene von Individuen diskutiert wird, während in Wirklichkeit die Bedingungen der Gesellschaft und ihrer Institutionen einen größeren Einfluss auf die Entwicklung und Anwendung von Health Literacy haben. Es muss hierbei allerdings betont werden, dass Definitionen von Health Literacy den Ansatz nahelegen, Informationen aller Art zugänglich, verständlich, überprüfbar und anwendbar zu machen, sodass Menschen im Sinne ihrer eigenen Gesundheit sowie der Gesundheit ihrer Familie, der Gemeinschaft und der Gesellschaft handeln können. Die Diskussionen über die Wahl einer Definition sollten kein Hindernis bei der Bewältigung der eigentlichen Aufgabe sein, eingeschränkte Health Literacy und den starken sozialen Gradienten der Health Literacy zu überwinden. Dies sind

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wichtige Herausforderungen für Gesundheitspolitik und -praxis in den Gesundheitssystemen weltweit. Das Defizit an Health Literacy und die möglicherweise damit verbundene Ungleichheit müssen von Gesundheitsplaner*innen und politischen Entscheidungsträger*innen angegangen werden, die sich mit den sozialen Determinanten von Gesundheit und gesundheitlichen Ungleichheiten befassen, um geeignete Strategien für Public Health und Gesundheitsförderung zu entwickeln. Diese Strategien sollten auf einem zweiseitigen Ansatz aufbauen, der einerseits die Kompetenzen von Bürger*innen und Patient*innen stärkt, sowie andererseits die Kompetenzen der Gesundheitssysteme zur Befriedigung der Bedarfe und Bedürfnisse der Menschen (Parker und Ratzan 2010). Health Literacy zu definieren, ist eine Aufgabe, die die beteiligten Akteur*innen höchstwahrscheinlich auch weiterhin herausfordern wird; am förderlichsten wird es jedoch sein, wenn bisherige Unklarheiten durch evidenzbasierte Forschung gelöst werden können, sodass die Komplexität des Begriffs anerkannt und als gemeinsame Grundlage für weitere Maßnahmen akzeptiert werden kann.

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Health Literacy von Kindern und Jugendlichen: entwicklungsbezogene Überlegungen Janine Bröder und Graça S. Carvalho 1 Einleitung Das Interesse an Health Literacy ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Zugleich sind Kinder und Jugendliche als Zielgruppe mehr und mehr in den Fokus der Health Literacy-Forschung und -Praxis gerückt (Bröder et al. 2017). Kindheit und Jugend sind Lebensphasen, in denen für das gesamte Leben entscheidende biologische, kognitive, psychologische, emotionale und soziale Entwicklungsprozesse stattfinden (Ansell 2017; Oerter und Montada 2008). Ebenso entwickeln sich bereits in diesen Lebensphasen gesundheitsfördernde Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen, welche unterstützt werden können, indem den Informationsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen entsprochen und ihre aktive Mitwirkung an der eigenen Gesundheit gefördert wird (u. a. Witte et al. 2019; Eschenbeck et al. 2016). Daher wird die

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Aufsatz der Autorinnen, der 2019 im von Okan et al. herausgegebenen und von Policy Press verlegten „International Handbook of Health Literacy“ veröffentlicht worden ist (Bröder und Carvalho 2019). Bei der aktuellen Fassung auf Deutsch handelt es sich um eine aktualisierte und erweiterte Fassung des ursprünglichen Beitrags. Übersetzung aus dem Englischen: Janine Bröder. J. Bröder (*)  Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] G. S. Carvalho  University of Minho, Braga, Portugal © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. M. Bollweg et al. (Hrsg.), Health Literacy im Kindes- und Jugendalter, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29816-6_4

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Auseinandersetzung mit Health Literacy von klein auf als vielversprechende Investition in die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern heute und in ihrer gesamten Jugend und im Erwachsenenleben angesehen (Borzekowski 2009; Sanders et al. 2009a; Paakkari und Paakkari 2012); Velardo und Drummond 2016). Die Berücksichtigung von den in der Kindheit und Jugend stattfindenden Entwicklungsprozessen kann helfen, die Bedeutung, Relevanz und Ausbildung von Health Literacy in diesen Lebensphasen besser zu verstehen. So lassen sich die folgenden Fragestellungen ableiten: a) Wie, wann und in welchem Umfang bilden sich bestimmte Teilbereiche (Komponenten) der Health Literacy und verwandte Kompetenzen in der Kindheit und Jugend aus? b) Welche Bedingungen sind für die Entwicklung von Health Literacy in welcher Lebensphase Voraussetzung, welche sind förderlich, oder sogar hinderlich? c) Wie nehmen die in der Kindheit und Jugend stattfindenden kognitiven und sozialen Entwicklungsprozesse und -veränderungen Einfluss auf die Health Literacy von Kindern und Jugendlichen? Um die Besonderheiten der Lebensphase für die Konzeptualisierung des Health Literacy-Konzepts bei Kindern und Jugendlichen herauszustellen, wird ein Überblick über die in der Fachliteratur diskutierten entwicklungsbezogenen Zugänge und Überlegungen gegeben. Hierfür werden zunächst psychologische und soziologische entwicklungsbezogene Ansätze beschrieben und dann das Health Literacy-6D-Modell vorgestellt, welches eine explorierende Perspektive auf Health Literacy im Kindes- und Jugendalter durch die Herausstellung zielgruppenspezifischer Besonderheiten vornimmt.

2 Entwicklungsbezogene Perspektiven auf Health Literacy in der Kindheit und Jugend Dieser Abschnitt beschreibt Ansätze, wie Entwicklungsaspekte zu Health Literacy von Kindern und Jugendlichen in der aktuellen Literatur und Forschung diskutiert werden. Die Einteilung erfolgt in psychologische und soziologische Perspektiven.

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2.1 Psychologische Perspektive auf Health Literacy und Entwicklung Die psychologische Perspektive befasst sich mit der Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten mittels der zentralen Frage, für welches Lebensalter bzw. welche Entwicklungsstufe welche Ausprägung von Health Literacy entwicklungsangemessen für Kinder und Jugendliche ist. Also, in welchem Entwicklungsstadium sie kognitiv in der Lage sein sollten bestimmte Aufgaben und Situationen im Kontext von Health Literacy zu bewältigen. Ein gängiger Zugang hierfür ist die Festlegung von entwicklungsabhängigen, altersbezogenen Health-LiteracyLevels, beispielsweise entlang vier aufeinanderfolgender Entwicklungsstufen (Borzekowski 2009; Sanders et al. 2009a, b; Lambert und Keogh 2014). Im entwicklungsbezogenen Modell von Sanders und Kolleg*innen (2009a) wird Health Literacy beispielsweise entlang  von  vier Kompetenzbereichen beschrieben: Prosa-/Lesekompetenz, mündliche Kommunikation, Rechenfertigkeit und Systemnavigation. Sie geben Beispiele für Aktivitäten nach Alter und Entwicklungsstand an (Sanders et al. 2009a, S. 311): • „Im Alter von 4 Jahren sollte ein Kind in der Lage sein, mit einem Erwachsenen oder einer Gesundheitsfachkraft über konkretes Gesundheitsverhalten, z. B. Zähne putzen, körperliche Aktivität zu kommunizieren (mündliche Kommunikation) und den jeweiligen Wert von Gesundheitsentscheidungen, z. B. Portionsgrößen von Lebensmitteln (Rechenkenntnisse), zu erkennen. • Im Alter von 10 Jahren sollte ein Kind in der Lage sein, den Inhalt einer kindgerechten Informationsbroschüre über den Gebrauch von Fahrradhelmen zu verstehen (Prosa-/Lesekompetenz); Wege zur Vorbeugung häufiger Verletzungen und Gesundheitsprobleme bei Kindern zu beschreiben (mündliche Kommunikation); die Merkmale gesunder und nicht gesunder Lebensmittel auf der Grundlage des Zucker- oder Fettgehalts in der Nährwertkennzeichnung zu identifizieren (Rechenkenntnisse); zu beschreiben, wie die Medien das Gesundheitsverhalten beeinflussen können (Systemnavigation). • Im Alter von 14 Jahren sollte ein*e Heranwachsende*r in der Lage sein, einen schriftlichen Plan zur Erreichung eines persönlichen Gesundheitsziels zu entwickeln, der die persönlichen Stärken, Bedürfnisse und Risiken berücksichtigt (Prosa-/Lesekompetenz); Verweigerung, Verhandlung, und Kooperation hinsichtlich des Einflusses von Gleichaltrigen und Familien auf das individuelle Gesundheitsverhalten zu demonstrieren (mündliche Kommunikation); bei

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ungesundem Verhalten das damit einhergehende persönliche Risiko für Verletzungen, Krankheiten oder Tod zu analysieren (Rechenkenntnisse); die Aussagekraft von Gesundheitsinformationen, Produkten und Dienstleistungen zu bewerten und auf valide Gesundheitsinformationen und Beratungsdienste zuzugreifen (Systemnavigation). • Im Alter von 18 Jahren sollte ein*e Heranwachsende*r in der Lage sein, die eigene Krankengeschichte und (Gesundheits-)Bedürfnisse schriftlich zu formulieren oder in einem Formular einzutragen sowie die eigene Patientenakte zu lesen und zu verstehen (Prosa-/Lesekompetenz); eigene sowie Gesundheitsverhaltensweisen in der Familie zu bestimmen und persönliche Gesundheitsziele festzulegen (mündliche Kommunikation); einfache Medikamente zu verstehen und zu verwenden und die Ergebnisse von Kindervorsorgeuntersuchungen zu verstehen (z. B. Ergebnisse von Neugeborenen-Screening, Wachstumstabelle) (Rechenkenntnisse); die Anmeldung für die Kinderkrankenversicherung abzuschließen und schulbasierte Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen (Systemnavigation).“ Ein inhaltlich anders gelagertes Beispiel eines Stufenmodells sind gesundheitliche Bildungsstandards, welche Health Literacy als Outcome von schulischer Gesundheitsbildungen definieren. So beschreiben die US National Health Education Standards (Joint Committee on National Health Education Standards 1995; CDC 2019) acht Standards, bzw. Ziele: „Die Lernenden können… • Konzepte der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention zur Verbesserung der Gesundheit verstehen; • den Einfluss von Familie, Gleichaltrigen, Kultur, Medien, Technologie und anderen Faktoren auf das Gesundheitsverhalten analysieren; • Zugang zu fundierten Informationen sowie wirksamen Produkten und Dienstleistungen erhalten, um die Gesundheit zu verbessern; • zwischenmenschliche Kommunikation nutzen, um die Gesundheit zu verbessern und Gesundheitsrisiken zu vermeiden oder zu reduzieren; • ihre Entscheidungsfindungsfähigkeiten zur Verbesserung der Gesundheit nutzen; • ihre Gesundheit durch die Festlegung von Zielen verbessern; • gesundheitsförderndes Verhalten praktizieren und Gesundheitsrisiken vermeiden oder reduzieren; • sich für die persönliche, familiäre und kommunale Gesundheit einsetzen.“

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Für jedes dieser Ziele ist in einer umfassenderen Aufschlüsselung beschrieben, welche Fähigkeiten von Schüler*innen mit Abschluss einer bestimmten Klassenstufe erwartet werden können. Diese Art der Stufenmodelle können einen Überblick darüber oder einen Orientierungsrahmen dafür geben, welche Health Literacy-Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in einer bestimmten Entwicklungsphase erwartet werden können und ermöglichen damit Vergleiche zwischen Individuen sowie auf Bevölkerungsebene. Dennoch haben diese Stufenmodelle gemeinsam, dass sie allgemeine, normative Entwicklungsstandards setzen – unabhängig von individuellen Lebenssituationen, Ausgangslagen oder milieuspezifischen Rahmenbedingungen und Interdependenzen. Da diese Modelle definierte Attribute und Kompetenzen mit konkreten Beispielen vorgeben, sind sie gut operationalisier- und überprüfbar. Zugleich liegt ihnen ein defizit-orientiertes Verständnis von Health Literacy zugrunde: Wenn ein Kind sich konform der Beschreibung entwickelt wird es als gesundheitskompetent eingestuft. Beim schlechten Abschneiden in einzelnen Kategorien wird dem Kind ein Defizit an Health Literacy konstatiert. Stufenmodelle sind hinsichtlich ihres implizierten idealisierten, universellen Entwicklungsverständnisses, welchem zufolge Kinder sich mit gleicher Geschwindigkeit entwickeln, im Lichte der aktuell geführten Inklusionsdebatte sowie soziologischer, individuumszentrierter Überlegungen (welche im Folgenden beschrieben werden), kritisch zu hinterfragen. Beispielsweise haben Gossen und Nürnberger (2013) für Computer-Literacy gezeigt, dass Kinder in immer jüngerem Alter Informationstechnologie- und Computerkenntnisse erwerben und dieser Erwerb stark durch das soziale Umfeld bedingt ist. Daher argumentieren sie, dass gerade das Alter kein guter Indikator für die Klassifizierung von besonderen (Meta-)Fähigkeiten von Kindern ist.

2.2 Soziologische Perspektiven auf Health Literacy und Entwicklung Forschende im Bereich Health Literacy haben die Bedeutung der Interdependenz zwischen persönlichen Fähigkeiten und strukturellen, situativen Faktoren in einem bestimmten Umfeld und dessen Bedeutung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen betont (bspw. Fairbrother et al. 2016). Soziologische Perspektiven fokussieren genau diese Wechselwirkungen, weshalb sie wichtige Impulse liefern für konzeptionelle Überlegungen zur Health Literacy von Kindern

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und Jugendlichen. Im Folgenden werden drei soziologische Zugänge in Bezug auf Health Literacy beschrieben und diskutiert: sozial-kulturelle & sozial-ökologische Ansätze, Kindersozialisation im Zeitalter der sozialen Medien und die „neue Kindheitssoziologie“.

2.2.1 Sozial-kulturelle Ansätze Borzekowski (2009) wendet in ihrem Beitrag zur Health Literacy im Kindesalter Vygotskys (1978) Theorie der soziokulturellen Entwicklung auf Health Literacy an, um die fundamentale Rolle sozialer Interaktionen in Bezug auf Health Literacy und Gesundheit hervorzuheben. Indem Lernen als ein in einem sozialen Kontext stattfindender Prozess betrachtet wird, wird die Bedeutung der sozialen Interaktion betont. Eine zentrale Annahme Vygotskys Theorie ist, dass ein Unterschied zwischen dem tatsächlichen Entwicklungsstand des Kindes und dessen potenziellen Entwicklungsstands, welcher durch unterstützende Anleitung erreicht werden kann, besteht („Zone der proximalen Entwicklung“). Demnach wäre ein gesundheitskompetenzbezogener Entwicklungs- und Lernprozess besonders dann erfolgreich, wenn dieser innerhalb dieser individuellen Zone liegt und durch sogenanntes „Scaffolding“, also eine bedarfsorientierte und zielgerichtete Unterstützung begleitet wird (Borzekowski 2009). Eine optimale Lernumgebung wäre demnach von sozialer und kooperativer Natur und sollte die Lernenden fordern, aber nicht überfordern. Paradise und Rogoff (2009) schlagen hierfür den Ansatz der „geführten Partizipation“ vor, welcher sich auf die Ideen Vygotskys (1978) stützt. Übertragen auf Health Literacy bedeutet dieser, dass Kinder sich aktiv an kulturellen Praktiken mit Hinblick auf die Suche und den Umgang mit Gesundheitsinformationen und das Treffen gesundheitlicher Entscheidungen beteiligen, gleichzeitig allerdings Erwachsene als verlässliche Vorbilder und Beurteilende fungieren. Zudem bieten sie in Form von temporären Unterstützungsmechanismen, sogenannten „scaffolds“, eine angemessene Anleitung für den Umgang mit unbekannten Praktiken und für die Überführung von alten gesundheitlichen Handlungsmuster in neue an (Ansell 2017).

2.2.2 Sozial-ökologische Ansätze Die sozial-ökologische Entwicklungsperspektive wurde von Bronfenbrenner (1979) entwickelt und stellt einen bedeutenden Ansatz dar, um die Beziehung zwischen Individuen und ihrer sozialen Umwelt zu betrachten und Interdependenzen zu verdeutlichen. Ein solcher sozial-ökologischer Zugang zu Health Literacy wurde beispielsweise von Wharf Higgins und Kolleg*innen (2009) für Kinder und Jugendliche beschrieben. Die Autor*innen beschreiben Haupteinflussfaktoren für die Mikro-, Meso- und Makroebene und berücksichtigen

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dabei aber auch die Lebensverlaufsperspektive als chronologische Dimension. Beschrieben werden: • innere Einflüsse auf die Health Literacy von Kindern und Jugendlichen auf der Mikroebene, u. a. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Überzeugungen, Werte, Erfahrungen und sozioökonomischer Status; • interaktive und interpersonelle Einflüsse auf der Mesoebene, die zwischen dem Mikro- und dem Makrokontext vermitteln und Faktoren wie soziale Einflüsse, Unterstützung sowie die Art und Qualität der Interaktionen mit und der Beziehungen zu Peers und Familie beinhalten; und • externe Einflüsse auf der Makroebene, nämlich kulturelle und strukturelle Faktoren in der Gesellschaft, der Gemeinde und der Nachbarschaft, welche die Gesundheit sowie gesundheitliche Verhaltensweisen und Entscheidungen der Menschen indirekt beeinflussen und prägen. Wharf Higgins und Kolleg*innen (2009) argumentieren, dass jedes Bestreben, Health Literacy in der Zielgruppe zu fördern oder zu operationalisieren, die Struktur der sozialen Welten junger Menschen und die gegenseitige Interaktion zwischen Individuen und ihrem sozialen Umfeld berücksichtigen sollte. Sozioökologische Zugänge haben sich im Bereich der Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere im schulischen Umfeld, als hilfreicher Ansatz erwiesen (St. Leger und Young 2009).

2.2.3 Sozialisation von Kindern in Zeiten von Social Media Moderne Sozialisationsforscher*innen heben die gegenseitige Abhängigkeit und die ständige Interaktion von persönlicher Handlungsfähigkeit, gesellschaftlichen Strukturen und habituellen Trägheitseffekten hervor (Hurrelmann et al. 2015; Bauer et al. 2012). Sozialisation wird daher definiert als der Prozess der Entstehung, Bildung und lebenslangen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit, der die gegenseitige Anpassung von Individuum und Gesellschaft mit sich bringt (Bauer et al. 2012). Paek und Kolleg*innen (2011) greifen den Sozialisationsansatz auf, indem sie ein Gesundheitssozialisationsmodell für Health Literacy vorschlagen, das sich auf die direkte, relative und vermittelnde Rolle von zwischenmenschlichen (d. h. Eltern, Gleichaltrige, Schule) und für Health Literacy relevanten, medialen Sozialisationsinstanzen von Jugendlichen konzentriert. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass zwischenmenschliche und mediale Sozialisationsagent*innen in ihrer Rolle ähnlich wichtig bei der Entwicklung der Health Literacy von Jugendlichen sind (Paek et al. 2011). Ferner wird berichtet, dass die Entwicklungen von Social Media und sozialen Netzwerken die Grenze zwischen

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den „traditionellen“ Medien und den zwischenmenschlichen Kommunikationskanälen verwischt hat, indem diese neue Arten des Austauschs ermöglichen und soziale Beziehungen prägen. Dies betrifft auch Sozialisation im Umgang mit gesundheitsbezogenen Informationen, d. h. hinsichtlich der Frage, wie diese zur Verfügung gestellt und entsprechend von Kindern und Jugendlichen geteilt und genutzt werden (Paek et al. 2011). Gerade digitale Medien, einschließlich populärer Social-Media-Kanäle wie YouTube, Instagram und TikTok verwenden meistens multimodale Informationsformate, also eine Kombination aus textbasierten, visuellen und auditiven Formaten und Symbolen (Tse et al. 2015; Kress 2010; Cope und Kalantzis 2005). Daher erscheint es sinnvoll, dass Kinder und Jugendliche in der Schule und in ihrem Alltag den Umgang mit multimodalen Gesundheitsinformationen, -angeboten und -formaten erlernen. So haben Tse und Kolleg*innen (2015) beispielsweise herausgefunden, dass die Nutzung multimodaler Social-Media-Designs für die Förderung von Health Literacy bei Jugendlichen hilfreich sein kann, da Jugendliche so entsprechende multimodale Literacy-Fähigkeiten ausbilden können und im Umgang mit multimodalen Informationsformaten geschult werden. Da gängige Health LiteracyKonzepte ein hohes Maß an Handlungskompetenz und -fähigkeit voraussetzen, kann die Berücksichtigung einer Sozialisationsperspektive helfen, den Blick dafür zu schärfen, inwieweit Kinder und Jugendliche diese Handlungskompetenzen besitzen (können) und zu welchem Zeitpunkt sie Health Literacy-bezogene Handlungskompetenzen ausbilden.

2.2.4 Kindheitssoziologische Ansätze Neben modernen Sozialisationsmodellen haben Health Literacy-Forscher*innen, darunter Fairbrother und Kolleg*innen (2016) sowie Velardo und Drummond (2016), die Relevanz „neuer“ kindheitssoziologischer Ansätze, wie sie beispielsweise von Bühler-Niederberger (2011) sowie James und Prout (2015) beschrieben werden, für einen zielgruppenorientierten Health Literacy-Diskurs hervorgehoben. Die Kindheitssoziologie betont die Rolle von Kindern als aktive soziale Akteur*innen und Mitmenschen in ihrer sozialen Welt („embodied beings“). Damit überwindet sie die traditionelle soziologische Perspektive auf Kindheit, die im strukturfunktionalistischen Paradigma verwurzelt ist, in dem Kinder als zukünftige Werdende („future becoming“) angesehen werden, die darauf warten, von Erwachsenen „geformt“ zu werden (Bühler-Niederberger 2011). Zudem erforschen die Forscherinnen Alanen (2009) und Mayall (2009) das Konzept der (inter-)generationalen Ordnung, welches auch einen hilfreichen Ansatz zum Verständnis der sozialen Dimensionen von Health Literacy darstellt. Während traditionelle Ansichten Erwachsene und Kinder in zwei Kategorien mit spezifischen Pflichten und Rechten unterscheiden, die je nach

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Alter, Entwicklungsstadium und Kontext variieren, betont das Konzept der intergenerationalen Ordnung die Dynamik der Erwachsenen-Kind-Beziehungen durch ungleiche Machtverhältnisse (Mayall 2009). Dieser Argumentation folgend, sollte eine Health Literacy-bezogene Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, auch als Agency bezeichnet, deren tatsächliche – und somit nicht theoretische oder potenzielle – Möglichkeiten, sich mit Gesundheitsinformationen und -entscheidungen in einer bestimmten Umgebung auseinanderzusetzen, in den Fokus nehmen. Agency ist zudem eng an die Gegebenheiten in sozioökonomischen Kontexten geknüpft, an die im direkten Umfeld verfügbaren und nutzbaren sozialen und materiellen Ressourcen sowie an die Ausrichtung intergenerationaler Beziehungen (Brady et al. 2015). Lareau (2011) zeigte in einer umfangreichen ethnographischen Studie, dass sich eine ungleiche Verteilung von Ressourcen, vor allem verursacht durch Verteilungs- und Ressourcenungleichheiten in der Sozialstruktur, in Mustern ungleicher intergenerationeller Beziehungen und Erziehungsansätze manifestiert. Die Studie bestätigte die Beständigkeit der sozialen Verhältnisse, in die Kinder hineingeboren werden sowie die Manifestation und Reproduktion dieser Verhältnisse in den Lebensverläufen der Kinder durch ungleiche Machtstrukturen und Erziehungsstile. Gerade letztere unterscheiden im Umfang elterlicher Mitwirkung bzw. Einmischung hinsichtlich der institutionellen Laufbahn ihres Kindes, des Grads der Strukturiertheit und Förderung von Freizeitaktivitäten sowie der Kultur der verbalen Interaktion (Lareau 2011). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Forschung und Praxis im Bereich Health Literacy durch die Perspektive auf die Positionierung von Kindern und Jugendlichen in intergenerationalen Beziehungen profitieren kann. So wirft dieser Ansatz Licht auf ungleiche Machstrukturen und macht sichtbar, auf welche Art und Weise Kinder und Jugendliche als eigene soziale Gruppen in verschiedenen gesundheitsbezogenen Situationen, wie z. B. zu Hause, in der Schule oder im Gesundheitswesen, gesehen, gehört und in Health Literacy-bezogene Prozesse einbezogen werden, bzw. können und sollten.

3 Das 6D-Modell der Health Literacy Die in Abschn. 2 beschriebenen Perspektiven zeigen auf, dass die Entwicklung und der Erwerb von Health Literacy durch unterschiedliche entwicklungsbedingte und teilweise altersspezifische Faktoren beeinflusst werden. Die unterschiedlichen Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung entwicklungsbezogener Aspekte für die Health Literacy von Kindern und Jugendlichen

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wurden im Rahmen der Forschungsarbeit des HLCA-Forschungsverbunds von Okan, Bröder und Kolleg*innen in einer explorierenden Arbeit aufgegriffen. Darin wird eine Synthese der Faktoren, welche Health Literacy im Kindes- und Jugendalter bestimmen, entlang 6 „Ds“ vorgenommen, wobei ein „D“ jeweils eine Dimension ist, die mit dem Buchstaben D anfängt (Okan et al. 2016; Okan et al. 2016; Bröder et al. 2019). Als Hintergrundschablone hierfür dient das „4D-Modell“ nach Forrest und Kolleg*innen (1997), für welches von Rothman et al. (2009) bereits eine erste Hinführung zur Health Literacy bei Kindern aus einer Versorgungs- und medizinischen Perspektive erfolgte. Das 4D-Modell dient dazu, die Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters gegenüber dem Erwachsenenalter herauszustellen. Allerdings werden im 4D-Modell entwicklungs- und zielgruppenbezogene Perspektiven für eine umfassende Betrachtung von Health Literacy im Kindes- und Jugendalter nur unzureichend ausgearbeitet. Daher wurde für das 6D-Modell das Modell von Rothman und Kolleg*innen (2009) einerseits mit Konzepten inhaltlich angereichert, die im Prozess der Gesundheitssozialisation von Heranwachsenden besonderen Einfluss ausüben. Andererseits wird das Modell mit „Democracy“ und „Digitalisation“ um ein fünftes und sechstes D erweitert, wodurch sich das 6D-Modell der Health Literacy mit folgenden Dimensionen ergibt: 1) Disease Epidemiology, 2) Demography, 3) Development, 4) Dependency, 5) Democracy und 6) Digitalisation. Die Dimensionen stellen somit exploratorische Ansatzpunkte für die Betrachtung von Health Literacy in der Kindheit und Jugend dar.

3.1 Disease Epidemiology: Altersspezifische Krankheiten & Gesundheitsverständnisse Diese Kategorie repräsentiert die „klinisch-epidemiologische Perspektive auf altersspezifische Kinder- und Jugendkrankheiten. Diese münden in spezifische Risikofaktoren und Vulnerabilitätsprofile, die charakteristisch für die Epidemiologie der frühen Lebensphasen sind“ (Okan et al. 2017) und sich teilweise von den Krankheits- und Risikoprofilen im Erwachsenenalter unterscheiden (Inchley et al. 2016). Zudem sind „Gesundheit“, „Wohlbefinden“ oder „Krankheit“ kulturell und sozial und kulturell unterschiedlich kodierte und interpretierte Konstrukte. Ihre Bedeutung kann daher beispielsweise innerhalb von und zwischen Altersgruppen, aber auch Berufsgruppen (z. B. zwischen „Expert*innen“ und „Lai*innen“) unterschiedlich sein (Becker 2006). Kinder und Jugendliche verstehen Health Literacy-bezogene Konstrukte und schreiben ihnen Bedeutung zu, indem sie sich beispielsweise auf Deutungen, Haltungen

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und Definitionen aus ihrem sozialen Umfeld stützen oder diese entsprechend ihrer persönlichen Erfahrungen (um)interpretieren (Fairbrother et al. 2016).

3.2 Demography: Soziale Lebenslagen Die Dimension Demography repräsentiert „die sozialstrukturelle Perspektive und dadurch den Einfluss der sozialen Lebenslage auf Kinder und Jugendliche. Der Analogie des sozialen Gradienten in der Gesundheit folgend, stehen der Blick auf Armut, Deprivation und daraus resultierende geringe Verfügbarkeit von Hintergrundressourcen, Handlungsalternativen, ungleiche Gesundheitschancen und diesen inhärente sozioökonomische und psychosoziale Belastungsfaktoren an zentraler Stelle“ (Okan et al. 2017). So sind Kinder und Jugendliche besonders anfällig für soziale und gesundheitliche Ungleichheiten, da ihre Gesundheit von einer Vielzahl komplexer und miteinander verbundener Faktoren in ihrem nahen und fernen sozialen Umfeld beeinflusst wird (Inchley et al. 2016; Marmot 2015). Sie sind nach soziodemografischen Merkmalen die Altersgruppe mit dem höchsten Armutsrisiko (Eurostat 2016). Faktoren wie der niedrige sozioökonomische Status der eigenen Familie, schlechte Lebensbedingungen, schlechter Zugang zu sozialen Unterstützungsstrukturen sowie ein Migrationshintergrund sind mit einem erhöhten Risiko von Bildungsbenachteiligung, mangelnden Fähigkeiten, Kenntnissen und Kompetenzen oder sogar psychosozialen Entwicklungsstörungen verbunden (Inchley et al. 2016). Kinder und Jugendliche, die diesen Faktoren ausgesetzt sind, haben beispielsweise ein doppelt so hohes Adipositasrisiko und bewerten ihren subjektiv wahrgenommenen Gesundheitszustand und ihre Lebensqualität schlechter als der Durchschnitt der Altersgruppe (Eurostat 2016; Marmot und Wilkinson 2003).

3.3 Development: Entwicklung & Sozialisationsprozesse Development thematisiert „die entwicklungspsychologische Perspektive auf Kinder und Jugendliche. In dieser stehen nicht nur die körperlichen, psychologischen, kognitiven, sozialen und emotionalen Veränderungen im Lebensverlauf im Vordergrund, sondern auch die aktive, partizipatorische Auseinandersetzung mit der Umwelt, die maßgeblich die Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst“ (Okan et al. 2017). Jede Entwicklungsphase wird von spezifischen Entwicklungsmerkmalen, typischen Entwicklungsaufgaben und sozialen Erwartungen

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begleitet (z. B. Havinghurst 1973). Kinder und Jugendliche müssen mit diesen Erwartungen umgehen, um ihren Entwicklungsprozess nutzbringend zu gestalten, was ihre Reife und Eigenständigkeit fördert (Ansell 2017; Oerter und Montada 2008). Demnach ist es essenziell, neben der kognitiven Entwicklung von entsprechenden Fähigkeiten und Kompetenzen auch die in Bezug auf Health Literacy und Gesundheit stattfindende Sozialisation sowie Auseinandersetzung mit und Vermittlung von kulturellen und sozialen Health Literacy-bezogenen Praktiken, Aufgaben und Prozessen in den Fokus zu nehmen.

3.4 Dependency: Dependenz und Interdependenz in intergenerationalen Machtgefügen Im 6D-Modell befasst sich Dependency mit der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Kindern einerseits und Eltern oder erwachsenen Bezugspersonen andererseits. „Erwachsene stellen zugleich wichtige Sozialisationsinstanzen und Helferakteur*innen von Kindern und Jugendlichen als auch Gegenakteur*innen im Gefüge einer durch ungleiche Machtverhältnisse gekennzeichneten Interaktion dar. Während Erwachsene einerseits unterstützen, Autonomieanteile zu erhöhen und Kinder- und Jugendliche zu emanzipieren, wirken andererseits die Effekte der generationalen Ordnung auf die soziale Praxis von individuellen Verwirklichungschancen und Handlungsoptionen“ (Okan et al. 2017). So sind Kinder einerseits, abhängig vom ihrem Entwicklungsstatus, in unterschiedlichem Umfang auf die Hilfe, Kompetenz, wirtschaftlichen Ressourcen und soziale Unterstützung ihrer Erziehungsberechtigten angewiesen. Andererseits engagieren und gestalten sie jedoch zugleich bereits ab einem jungen Alter und mit zunehmendem Maße aktiv ihre eigene soziale Welt bzw. Realität (Alanen et al. 2015; Bühler-Niederberger 2011). Charakteristika der generationalen Ordnung und der sozialen Position werden täglich innerhalb von Peergroups sowie zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verhandelt (Alanen et al. 2015; Bühler-Niederberger 2011).

3.5 Democracy: Partizipation & Bürgerschaft Democracy repräsentiert „die partizipative Perspektive, welche Kinder und Jugendliche als gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmende Subjekte beschreibt“ (Okan et al. 2017). Kinder und Jugendliche haben demnach ein Recht darauf, informiert zu werden und aktiv an ihrer eigenen Gesundheit mitzuwirken, Zugang zu Gesundheitsinformationen zu erhalten und diese Informationen in

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verständlicher und angemessener Form präsentiert zu bekommen (Bond und Rawlings 2019; Fairbrother et al. 2016). Sie sind aktive soziale Akteur*innen und Mitmenschen in ihrer sozialen Welt („embodied beings“), die in ihrem Alltag täglich mit Gesundheitsinformationen und gesundheitsrelevanten Situationen in Kontakt kommen und sich mit diesen auseinandersetzen müssen (Simovska und Bruun Jensen 2009). Somit nehmen sie eine aktive Rolle in der Gestaltung ihrer Lebenswelten ein. Durch die Förderung von Health Literacy soll ihnen ermöglicht werden, aktiv an Entscheidungen teilzuhaben, die ihre eigene Gesundheit betreffen (Okan et al. 2016).

3.6 Digitalisation: Aufwachsen in einer digitalen Welt Digitalisation greift die Bedeutung von digitalisierten, multimedialen Lebenswelten und die Herausforderungen und Vorteile der heutigen digitalen Informations- und Wissensgesellschaft auf. Viele Kinder und Jugendliche wachsen in hoch digitalisierten und multimedial gesättigten Umgebungen auf (Hausmann et al. 2017; Tse et al. 2015). Einige bezeichnen Kinder und Jugendliche als „Digital Natives“, was bedeutet, dass Kinder „natürlich“ mit digitalen Medienformaten lernen und sozialisiert werden, da digitale Medien ein integraler Bestandteil ihres täglichen Lebens sind (Srinivasan und Thomas 2016). Als solches begegnen und nutzen sie Gesundheitsinformationen in verschiedenen digitalen Formen und Formaten. Somit ist die Berücksichtigung von Chancen und Herausforderungen in multimodalen digitalen und medialen Umgebungen entscheidend, um Health Literacy in der Kindheit und Jugend zu verstehen (Chuen et al. 2016; Wharf Higgins und Begoray 2012).

4 Fazit Ziel dieses Kapitels war es, einen Überblick über entwicklungsbezogene Zugänge und Überlegungen zur Health Literacy in der Kindheit und Jugend zu geben, die in der Fachliteratur diskutiert werden. Hierdurch wurden die Besonderheiten der Lebensphase für die Konzeptualisierung von Health Literacy bei Kindern und Jugendlichen herausgestellt. Es wurde gezeigt, dass in der Fachliteratur im Bereich Health Literacy zwar einige Überlegungen zu verschiedenen entwicklungsbezogenen Ansätzen existieren, welche sich in psychologische und soziologische Ansätze unterteilen lassen. Zugleich bleiben allerdings noch viele Fragen hinsichtlich der Bedeutung der in der Kindheit und Jugend stattfindenden

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Entwicklungsprozesse für Health Literacy offen. Beispielsweise wurde bisher nur unzureichend empirisch überprüft, inwieweit Kinder und Jugendliche in Bezug auf Health Literacy in einem bestimmten Alter und Entwicklungsstadium aktiv handlungsfähig sind und wie diese Handlungsfähigkeit gefördert werden kann. Neben der Notwendigkeit, die aktive Rolle von Kindern und Jugendlichen bezogen auf ihre Health Literacy anzuerkennen, bedarf es auch der Anerkennung und Wertschätzung von Perspektiven, Überzeugungen und Bedürfnissen, welche von Kindern und Jugendlichen geäußert werden. Während psychologische Ansätze zwar einerseits einfacher empirisch operationalisierbar und überprüfbar sind, zeigt der Rückgriff auf soziologische Entwicklungsansätze, dass eine Fokussierung auf individuelle, kognitive Attribute zu kurz greift, um die Komplexität des Gegenstands in der Praxis abbilden zu können. Abschließend lässt sich basierend auf den vorausgehenden Überlegungen konstatieren, dass Health Literacy nicht als individuelles Attribut, sondern als Produkt des Zusammenspiels von kontextuellen Anforderungen und Bedingungen mit individuellen gesundheitsbezogenen Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Suche nach und im Umgang mit Gesundheitsinformationen und gesundheitsbezogenen Entscheidungen ,betrachtet werden sollte (siehe dazu Bröder et al. 2019 oder Nutbeam 2017). Wie gut eine Person ihre Health Literacy einsetzen kann, hängt daher stark von der jeweiligen Situation oder Aufgabe und den Wechselbeziehungen mit den bedingenden Umgebungsfaktoren ab. Die Berücksichtigung von Erkenntnissen aus der Kindheitssoziologie und Sozialisationsforschung ermöglicht ein differenziertes Verständnis dieser individuellen, kontextabhängigen Interaktionen und Interdependenzen. Dies kann als die soziale Einbettung von Health Literacy bezeichnet werden, die in der aktuellen konzeptionellen und empirischen Forschung noch wenig erforscht ist. Da generationenübergreifende Beziehungen und ungleiche Machtverhältnisse offensichtliche Ungleichheiten darstellen, beeinflussen sie die Entwicklung der Health Literacy von Kindern und Jugendlichen und bedingen ihre Möglichkeiten, an den eigenen gesundheitsbezogenen Entscheidungen teilzunehmen. In der zukünftigen Forschung sollte daher untersucht werden, wie Health Literacy von Kindern und Jugendlichen durch den generationsübergreifenden Transfer von Fähigkeiten, Werten, Gewohnheiten und Normen sowie die Internalisierung sozialer Praktiken gefördert oder behindert wird. Es ist wichtig, den Zusammenhang zwischen den sozialen und materiellen Strukturen der Umwelt und der persönlichen Handlungsfähigkeit, einschließlich der biologischen und psychologischen Faktoren, in seiner Bedeutung für Health Literacy zu verstehen. Zukünfte Forschung sollte sich daher darauf konzentrieren, wie Kinder und Jugendliche, eingebettet in sozialen Machtgefügen und durch soziale Praktiken geprägten

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Sozialstrukturen, ihre Health Literacy in den unterschiedlichen Settings ihres Alltags anwenden. Also wie können sie ihre Ressourcen und Fähigkeiten mit Blick auf Health Literacy tatsächlich mobilisieren, um dann gesundheitsförderliche Entscheidungen zu treffen? Solche Forschungsansätze schließen gut an soziokulturelle Paradigmen der allgemeinen Literacy-Forschung an, welche Literacy als kulturell und historisch eingebettet und in der Alltagspraxis verankert betrachten und somit in den Fokus nimmt, wie Literacy-Kompetenzen im Alltag angewendet und praktiziert werden (Barton et al. 2000). Zudem profitieren zukünftige Überlegungen zur Health Literacy in der Kindheit und Jugend davon, Kinder und Jugendliche als aktive und reflektierende Mitglieder der Gesellschaft zu betrachten und ihre individuellen Perspektiven, Überzeugungen, ihr vorhandenes Fach- und Erfahrungswissen und ihre persönlichen Ressourcen wertzuschätzen. Für die Operationalisierung des Untersuchungsgegenstands bedeutet dies, dass neben der defizit-orientierten Beurteilung bzw. Klassifizierung der individuellen Health Literacy, welche an kognitiv-psychologische Entwicklungsansätze anschließt und durchaus in bestimmten Kontexten eine berechtigte Anwendung findet, eine anwendungsbezogene Ausrichtung des Untersuchungsgegenstands erfolgen muss. Eine mögliche Operationalisierung könnte beispielsweise durch eine qualitative Beobachtung erfolgen, wie Kinder und Jugendliche Health Literacy in einer Situation anwenden und ausbauen, welche Health Literacy erfordert, also z. B. im Umgang mit gesundheitsbezogenen Informationen. Die beschriebenen Dimensionen des 6D-Modells könnten hierfür eine erste Orientierung bieten.

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Gesundheitskompetenz messen bei Kindern: aktuelle Ansätze und Herausforderungen Torsten M. Bollweg und Orkan Okan 1 Einleitung Nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder sind in ihrem alltäglichen Leben schon mit einer Fülle von gesundheitsbezogenen Informationen konfrontiert: Wenn Eltern mit ihren Kindern darüber sprechen, was gesunde Ernährung ist, wie man vermeiden kann, sich anzustecken, oder warum Sport gut für die Gesundheit ist. Gesundheitsinformationen sind aber auch Inhalt schulischer Bildung, sie werden medial vermittelt oder sind Thema bei Gesprächen mit Freund*innen. Während inzwischen gut belegt ist, dass ein großer Teil der erwachsenen Bevölkerung es mitunter als schwierig empfindet, gesundheitsbezogene Informationen zu verstehen und effektiv zu nutzen (Sørensen et al. 2015), gibt es kaum Forschung zu Fragen wie:

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Aufsatz der Autoren, der 2019 im von Okan et al. herausgegebenen und von Policy Press verlegten „International Handbook of Health Literacy“ veröffentlicht worden ist (Bollweg und Okan 2019). Bei der aktuellen Fassung auf Deutsch handelt es sich um eine aktualisierte, erweiterte und übersetzte Fassung des ursprünglichen Beitrags. Übersetzung aus dem Englischen: Torsten M. Bollweg.

T. M. Bollweg (*) · O. Okan  Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. M. Bollweg et al. (Hrsg.), Health Literacy im Kindes- und Jugendalter, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29816-6_5

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T. M. Bollweg und O. Okan

• Wie schwierig ist es für Kinder, Gesundheitsinformationen zu finden? • Können Kinder verstehen, was sie über das Thema Gesundheit erfahren? Wie verarbeiten sie Gesundheitsinformationen? • Inwiefern gehen Kinder schon kritisch mit Gesundheitsinformationen um und prüfen diese? Auf welches Wissen und welche Vorerfahrungen wird hierbei zurückgegriffen? • Welche Möglichkeiten haben Kinder überhaupt, Gesundheitsinformationen in ihrem alltäglichen Leben anzuwenden? Welche Faktoren müssen adressiert werden, damit Kinder Gesundheitsinformationen in Gesundheitsverhalten überführen können? • Inwiefern sind Kinder motiviert, etwas über ihre Gesundheit zu lernen und gesund zu bleiben? Das Forschungsfeld zum Thema Gesundheitskompetenz (GK; im Englischen: Health Literacy) beschäftigt sich mit ebendiesen Fragen und Verfahren zur Messung der GK können dazu beitragen, sie zu beantworten. Tatsächlich hat sich die GK-Forschung der letzten Jahrzehnte aber vergleichsweise wenig mit jungen Menschen auseinandergesetzt (Okan et al. 2018; Ormshaw et al. 2013). Ganz im Gegenteil hierzu hat die Forschung zur GK von Erwachsenen geradezu einen Boom erfahren, sodass für diese Altersgruppe nun eine ganze Reihe von Messinstrumenten vorliegen, die in Studien in verschiedensten Kontexten Anwendung gefunden haben (Haun et al. 2014; Pleasant et al. 2019). Gesundheitskompetenz umfasst entsprechend einer gängigen Definition „[…] das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen, relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden […]“ (Sørensen et al. 2012; aus dem Englischen übersetzt durch Schaeffer et al. 2018). Inzwischen konnte der negative Effekt niedriger GK auf verschiedene Gesundheitsindikatoren gut belegt werden. Zum Beispiel wird eine niedrige funktionale Gesundheitskompetenz (d. h. Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten in gesundheitsbezogenen Kontexten) mit einem erhöhten Hospitalisierungsrisiko assoziiert, sowie mit schlechterem Wissen und Fähigkeiten zur korrekten Einnahme von Medikamenten und einem erhöhten Risiko, Beipackzettel und Nährwertangaben falsch zu verstehen (Berkman et al. 2011). Vor diesem Hintergrund wird GK als „wesentliche Gesundheitsdeterminante“ („critical determinant of health“, WHO 2017) beschrieben sowie als Ansatz für das Empowerment und für gleiche Gesundheitschancen aller Menschen. Die WHO hat daher die Empfehlung ausgesprochen, GK schon im Schulalter gezielt zu fördern (WHO 2017).

Gesundheitskompetenz messen bei Kindern: aktuelle …

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1.1 Gesundheitskompetenz und Kindheit Der Ansatz, GK durch das schulische Setting zu fördern, ist keinesfalls neu, sondern wurde schon vor fast einem halben Jahrhundert verschriftlicht. So mahnte Simonds schon 1974 an: Bildungseinrichtungen, die ihrer Verantwortung zur gesundheitlichen Bildung („health education“) nicht nachkommen, sollten wegen Vernachlässigung angeklagt werden (Simonds 1974). Als konkrete Zielsetzung für nationale Gesetzesinitiativen fügt er hinzu: Für alle Schuljahre zwischen Kindergarten und Abschluss sollen „Mindeststandards für „health literacy“ eingeführt werden“ (Simonds 1974, S. 9). Damals noch als Wortneuschöpfung zurückhaltend in Anführungszeichen gesetzt, hat sich GK heutzutage zu einem ernstzunehmenden Forschungszweig entwickelt. Allerdings brauchte es einige Zeit, bis die GK von Kindern wieder in den Fokus genommen und die Verbindung von GK und Schule aufs Neue entdeckt wurde (Ormshaw et al. 2013) – nachdem das Konzept auch kurz vor der Jahrtausendwende schon einmal für das schulische Bildungssetting wiederentdeckt wurde (Joint Committee on National Health Education Standards 1995). Heutzutage gilt es zunehmend als Konsens, dass der Grundstein für gute GK und Gesundheit im weiteren Lebensverlauf bereits im Kindesalter gelegt werden kann (Manganello 2008, S. 840; WHO 2017). Tatsächlich existieren aber bisher kaum verlässliche Daten zur GK von Kindern, die zur Entwicklung von Curricula, Interventionen und GK-Programmen herangezogen werden können (vgl. Okan et al. 2018). Ebensolche verlässliche Daten sind allerdings für die evidenzbasierte, effektive und nachhaltige Förderung der GK kommender Generation zwingend notwendig.

1.2 Studienlage Der Mangel an verlässlichen Daten lässt sich relativ unmittelbar auf eine vergleichsweise geringe Anzahl an Verfahren1 zurückführen, die verfügbar sind, um die GK von jungen Menschen zu messen, sowie auf die geringe Anzahl repräsentativer Studien, die sich dieser Aufgabe widmen. Es liegen fünf

1Die

Begriffe „Messverfahren“, „Erhebungsinstrumente“ oder „Tests“ meinen hier alle dasselbe: (teil)standardisierte Verfahren, die angewendet werden können, um bestimmte Aspekte der GK von Kindern zu ergründen. Dies können Fragebögen sein, aber auch standardisierte Interviews, Verhaltensbeobachtungen, Leistungstests, u. a.

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T. M. Bollweg und O. Okan

Tab. 1   Literaturreviews zu Studien zur GK von jungen Menschen Review

Art

Zeitraum d. Suche Alter

GK

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