Hausen im wilden Tal: Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600-1800) 9783412215606, 9783412209797

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Hausen im wilden Tal: Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600-1800)
 9783412215606, 9783412209797

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Norm und STRUKTUR STUDIEN ZUM SOZIALEN WANDEL iN mittelalter und früher Neuzeit In Verbindung mit Gerd Althoff, Heinz Duchhardt, Peter Landau, Klaus Schreiner Herausgegeben von

Gert Melville Band 41

Hausen im wilden Tal Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600–1800) von

Nicolas Disch

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Interacademic Commission for Alpine Studies (ICAS) der Akademien der Wissenschaften Schweiz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Samuel Birmann, Das Tal von Engelberg, 1819 (Bleistift, Feder, Aquarell). Kunstmuseum Basel, Sammlung Birmann, Bi 30.49. © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20979-7

Vorwort

An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die durch Ihre vielfältige Hilfe und Unterstützung dazu beigetragen haben, dass die vorliegende Darstellung vollendet werden konnte. Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Kaspar von Greyerz, der das SNF-Forschungsprojekt ermöglicht und geleitet hat, aus dem diese Arbeit hervorgegangen ist. Er hat mich stets sorgfältig und weitsichtig betreut, aber zugleich jene intellektuelle Freiheit gewährt, ohne die wirkliches Forschen nicht möglich ist. Auch regte er durch seine Lehrveranstaltungen mein Interesse für die Geschichte der einfachen Leute nachhaltig an, wofür ich ihm besonders dankbar bin. Nicht zuletzt haben mir sein Wohlwollen und seine Freundlichkeit über manche Hürden hinweggeholfen. Als Zweitbegutachter hat mich Prof. Dr. Jon Mathieu vorbildlich unterstützt: Seine wertvollen Ratschläge und Anregungen haben zu mancher Verbesserung beigetragen. Ungeachtet der Hilfe beider bleibt jedoch klar, dass ich für die Überlegungen, die in dieser Arbeit entwickelt werden, alleine die Verantwortung trage. Der Schweizerische Nationalfonds hat durch seine finanzielle Unterstützung das dreijährige Forschungsprojekt ganz sowie die vorliegende Publikation massgeblich ermöglicht. Grosszügige Druckkostenzuschüsse haben ferner die Interakademische Kommission Alpenforschung ICAS sowie die Kulturpflege des Kantons Obwalden gewährt. Prof. Dr. Gert Melville, dem Herausgeber, danke ich für die bereitwillige Zusage, diese Untersuchung in die Reihe »Norm und Struktur« aufzunehmen. Schliesslich bin ich dem Böhlau-Verlag und insbesondere Elena Mohr sowie Julia Beenken für die reibungslose Zusammenarbeit zu grossem Dank verpflichtet. Diese Darstellung hätte nicht entstehen können ohne die Mithilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Archive, Bibliotheken und Museen, deren Bestände ich benutzt habe. Ein besonderer und ausdrücklicher Dank gebührt dem Stiftsarchivar des Benediktinerklosters Engelberg, Dr. Rolf de Kegel. Seine Hilfsbereitschaft und Zuvorkommenheit mir gegenüber waren oft bewundernswert. Dem Einwohnergemeinderat Engelberg danke ich ferner für den vereinfachten Zugang ins Gemeindearchiv. Während der Forschungsarbeit wurde mir bald klar, wie hilfreich es für das Verständnis dieser Untersuchung wäre, eine räumliche Vorstellung des frühneuzeitlichen Engelbergs zu schaffen. Die Suche nach einer inhaltlich geeigneten sowie wissenschaftlich vertretbaren Visualisierung bereitete mir allerdings viel Kopfzerbrechen – mehr als jeder andere Teil dieser Arbeit. Mit Geschick und Feingefühl ist es Barbara Meienberger gelungen, meine vertrackten Vorgaben graphisch umzusetzen und entsprechende Ansichtszeichnungen anzufertigen. Ihre Arbeit bereichert diese Darstellung sehr, wofür ich ihr herzlich danke.

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Vorwort

Manche Hilfeleistungen durfte ich bei der Klärung von Einzelfragen sowie bei der Textgestaltung erfahren. Dr. Edwin Huwyler verdanke ich wichtige Auskünfte bezüglich der alpinen Landwirtschaft, während mir Dr. Michael Tomaschett mit seinem Wissen über die barocke Klosterkirche behilflich war. PD Dr. Claudius Sieber-Lehmann schulde ich hinsichtlich der Wirkungsgeschichte der Solddienste wichtige weiterführende Überlegungen. Eugen Hess, Marta Scheuber und Arnold Zeugin halfen mir bei der Verortung einiger Engelberger Flurnamen weiter. Bernadette und Werner Küng übernahmen die Korrektur der Textentwürfe. Meinem Bekanntenkreis an der Universität Basel verdanke ich unzählige Anregungen, die in diese Arbeit eingeflossen sind. So geht manche Textstelle auf Unterhaltungen anlässlich der Doktorandenkolloquien, der Schreibtischarbeit, der Mahlzeiten und Kaffeepausen sowie der zufälligen Begegnungen zurück. Auch machten kollegiale Ablenkungen eintönige Arbeitsschritte viel erträglicher – meinen Studienkolleginnen und -kollegen sei Dank, v. a. Said Bafandi, Patrick Beeler, Kirstin Bentley, Michael Blatter, Simona Canevascini, Patrik Eggenberger, Sundar Henny, Carmen Furger, Raoul Richner, Daniela Ruppen, Christiane Sibille, Delia Sieber, Magdalene Stoevesandt und Aurel Waeber. Während der Forschungsarbeit wurde mir bewusst, wieviel ich Menschen verdanke, die mir durch ihre Bekanntschaft zu persönlichen und intellektuellen Vorbildern geworden sind. Ich möchte an dieser Stelle besonders jene erwähnen, denen ich infolge ihres Hinschieds nicht mehr persönlich danken kann, nämlich meinen Freund und Musiklehrer Anton Schöb (1916–2002) sowie meine beiden Mittelschullehrer Robert Bürcher OSB (1942–2010) und Roman Hofer OSB (1942– 2011). Meiner Familie danke ich für die wohlwollende Begleitung auf meinem bisherigen Lebensweg. Was ich schliesslich meiner Lebensgefährtin Corinne Küng in den vergangenen Jahren zu verdanken habe, lässt sich kaum angemessen ausdrücken. Ihr sei diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Engelberg, an Ostern 2012

Nicolas Disch

Inhaltsverzeichnis

Kartenverzeichnis............................................................................................................. 9 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................... 19

1 Einführung............................................................................................................ 21 1.1 Die Herrschaft Engelberg in der Frühen Neuzeit ..................................... 21 1.2 Forschungsinteresse ......................................................................................... 24 1.3 Zielsetzung ........................................................................................................ 29 1.4 Methode und Aufbau ..................................................................................... 30 1.5 Quellen .............................................................................................................. 34 2 Wirtschaft............................................................................................................ 37 2.1 Landwirtschaft.................................................................................................. 37 2.1.1 Talgüter................................................................................................. 37 2.1.2 Alpen ..................................................................................................... 83 2.1.3 Gemeindebesitz................................................................................... 100 2.2 Aussenhandel und Lohnarbeit ...................................................................... 141 2.2.1 Säumerei ............................................................................................... 141 2.2.2 Handwerk und Gemeindeämter...................................................... 165 2.2.3 Dienstboten und Tagelöhner ........................................................... 177 2.2.4 Seidenkämmelei .................................................................................. 189 2.3 Soldwesen .......................................................................................................... 194 2.3.1 Zum eidgenössischen Soldwesen..................................................... 195 2.3.2 Soziales Profil der Soldaten............................................................... 199 2.3.3 Dienstbedingte Netzwerke ............................................................... 207 2.3.4 Die Wanderungsentscheidung ......................................................... 226 3 Gesellschaft........................................................................................................ 231 3.1 Partnerschaften................................................................................................. 231 3.1.1 Gerichtsherrliche Ehen...................................................................... 231 3.1.2 Unrechtmässige Liebesbeziehungen .............................................. 243 3.2 Familie................................................................................................................ 272 3.2.1 Vor- und Fürsorge ............................................................................... 272 3.2.2 Übler Lebenswandel .......................................................................... 297 3.3 Gemeinwesen.................................................................................................... 320 3.3.1 Öffentliche Versammlungen ........................................................... 320 3.3.2 Äbtische Herrschaftsstile ................................................................. 339

8

Inhaltsverzeichnis

4 Kultur ...................................................................................................................... 365 4.1 Geselligkeit........................................................................................................ 365 4.1.1 Hausstuben........................................................................................... 365 4.1.2 Wirtshäuser.......................................................................................... 386 4.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit................................................................. 396 4.2.1 Zur Erfindung der Volkskultur......................................................... 400 4.2.2 Moderne Sagensammlungen ............................................................ 402 4.2.3 Vormoderne Erzählkontexte ............................................................ 407 4.2.4 Kulturelle Aneignungsweisen .......................................................... 449 4.3 Religiöses Leben .............................................................................................. 452 4.3.1 Wildenen und Alpen ......................................................................... 453 4.3.2 Fluren, Bäche und Wege.................................................................... 457 4.3.3 Ürten ..................................................................................................... 464 4.3.4 Freihof ................................................................................................... 468 4.3.5 Pfarr- und Klosterkirche.................................................................... 472 4.4 Zeitordnungen ................................................................................................. 489 4.4.1 Tag ......................................................................................................... 490 4.4.2 Jahr......................................................................................................... 497 4.4.3 Lebenszeit ............................................................................................ 512 4.4.4 Zusammenfassung .............................................................................. 516 5 Schluss ..................................................................................................................... 519 5.1 Zusammenfassung............................................................................................ 519 5.2 Ausblick ............................................................................................................. 522 6 Anhang: Soldatenverzeichnis ................................................................ 526 7 Literaturverzeichnis.................................................................................... 533 7.1 Quellen .............................................................................................................. 533 7.2 Werkausgaben................................................................................................... 534 7.3 Hilfsmittel und Sammlungen ....................................................................... 534 7.4 Literatur ............................................................................................................. 535

Kartenverzeichnis

Karte A Karte B Karte C Karte D Karte E Karte F Karte G

Unterberg..................................................................................................... 10 Schwand....................................................................................................... 11 Niederberg I................................................................................................. 12 Niederberg II............................................................................................... 13 Mühlibrunnen............................................................................................. 14 Horbis........................................................................................................... 15 Oberberg...................................................................................................... 16

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Karte A

Karte B

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Karte C

Karte D

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Karte E

Karte F

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Karte G

Legenden zu den Karten A–G

Karte A: Unterberg 1 Aa 2 Herrenhaus 3 Husmatt 4 Elschbüel 5 Englerts 6 Steinhaus 7 Chaltibach 8 Geren 9 Baumgarten 10 Hüttismatt 11 Vogelsang 12 Grüenisperg 13 Boden 14 Hasenmatt 15 Gerbi 16 Gerbibach 17 Flüemättli 18 Obermettlen 19 Löli 20 Mettlen (Ottnei) 21 Hintermettlen 22 Rugisbalm 23 Reinerts 24 Obermatt 25 Ägertli 26 Reinertsflue 27 Fang 28 Eschlen Karte B: Schwand 1 Loch 2 Rietigboden 3 Untere Bütschlen (Grossmatt) 4 Obere Bütschlen 5 Ledi 6 Rüteli (Chnabenrüti) 7 Hinteregg 8 Stäghalten 9 Bränd 10 Spisboden 11 Lüssli 12 Hedigen 13 Müttligen

14 Froholz 15 Boden 16 Chneubos (Pörtli) 17 Dossen 18 Bäch 19 Matthostatt 20 Spis 21 Schafmattli 22 Sumpf 23 Chilchweg 24 Oberstutz 25 Hintere Heg 26 Vordere Heg 27 Erlen 28 Oberes Bergli 29 Vorhag 30 Hüttstett 31 Landstrasse 32 Ghärst 33 Aa 34 Widerwäll 35 Schuemettlen 36 Schuemettlenbach 37 Widerwällhubel 38 Grüenenwald 39 Aperschwändli Karte C: Niederberg I 1 Gschneit 2 Oberschluchen 3 Unterschluchen 4 Trögli 5 Boden 6 Büntli 7 Rosshimmel 8 Aa 9 Schwändi 10 Unterer Eschboden 11 Oberer Eschboden 12 Mattli 13 Eggli 14 Hegmatt 15 Spechselmatt 16 Stapfmatt 17 Hinterörtigen

18 Örtigen 19 Vorderörtigen 20 Sand 21 Schwybbogen 22 Wegmatt 23 Espen 24 Galgenweid 25 Rütimatt 26 Riedmatt 27 Auli 28 Schiterbüel 29 Grüenigerwald 30 Unterbiren 31 Hostatt 32 Oberbiren 33 Unteres Rohr 34 Rohrhalten 35 Oberes Rohr 36 Ulrichsbrücke 37 Benzenrüti 38 Ziegelhütte Karte D: Niederberg II 1 Oberrain 2 Unterrain 3 Saummattli 4 Bockbschneidig (Stollermattli) 5 Obere Städlen 6 Untere Städlen 7 Acher 8 Untererlen 9 Steinacher 10 Stiernenrüti 11 Mantelzopf/Ei 12 Sören 13 Bockti 14 Riedmatt 15 Dorfstrasse 16 Obererlen 17 Chli bzw. Unteres Ägertli 18 Grossmatt 19 Chlimatt 20 Acherboden 21 Zelgen

18 22 Stollermattli 23 Fellenrüti 24 Schürgaden 25 (Rohr-)boden 26 Grünhalten 27 Chli Grüss 28 Grüss 29 Grüssboden 30 Grüsshalden 31 Züg 32 Unteres Bergli 33 Oberes Bergli Karte E: Mühlibrunnen 1 Vogelsang 2 Gross bzw. Vorderes Ägertli 3 Gruobi 4 Spichermattli 5 Acherli 6 Brandstätt 7 Büelhubel 8 Büel 9 Seelenmattli 10 Dorf 11 Mühligraben 12 Mühlimatt 13 Sage 14 Mühle 15 Tanzlaube 16 Engel 17 Gand 18 Mühlibach 19 Pfistermatt 20 Abtsbrunnen 21 Ökonomiegebäude 22 Erlenbach 23 Insel(haus) 24 Wetti 25 Leuengrube bzw. Spital 26 Blackenmattli 27 Ochsenmatt 28 Nollen 29 Durren 30 Rübigraben 31 Buechli 32 Aeschi 33 Mühliwald 34 Untere Flüematt 35 Mittlere Flüematt

Legenden zu den Karten A–G 36 Obere Flüematt 37 Hintere Flüematt Karte F: Horbis 1 Oberes Ried 2 Unteres Ried 3 Oberes Bord 4 Unteres Bord 5 Obere Hirmi 6 Untere Hirmi 7 Mehlbach 8 Oberes Gmeinegg 9 Unteres Gmeinegg 10 Chilchbüel 11 Lusthushubel 12 Sieben Quellen 13 Höll 14 Wintermais 15 Nassboden 16 Oberes Eggli 17 Unteres Eggli 18 Dürrbach 19 Festi 20 Gandli 21 Chleygandli 22 Hostatt 23 Meiland 24 Schwändi 25 Grundli 26 Grotzenhaus 27 Barmettlen 28 Fürholzrain 29 Vorder Rüti 30 Rüti 31 Vorder Horbis 32 Stolliwald 33 Bärenbach 34 Hinter Horbis 35 Löcherflue 36 Schletterenwald Karte G: Oberberg 1 Herrenrüti 2 Sulzbach 3 Stalden 4 Tätschbach 5 Egg 6 Chüelauigraben 7 Seeligraben 8 Lüssli

9 Rotigraben 10 Winkel 11 Berg 12 Feierabendhostatt 13 Strumpfloch 14 Langensteinhostatt 15 Chalcheren 16 Tellenstein 17 Gass 18 Holz 19 Melchtal 20 Althaus 21 Buschen 22 Wegscheid 23 Holzhostatt 24 Böslehn 25 Rüteli 26 Bannwald 27 Hinterbann 28 Grossbann 29 Vorderbann 30 Ruossdili 31 Riet 32 Stocki 33 Acher 34 Langacher 35 Stockli 36 Städeli 37 Sod 38 Ort 39 Dürrbach 40 Löli 41 Widen 42 Aa 43 Vordere Eien 44 Furi 45 Laui 46 Hintere Eien

Abkürzungsverzeichnis

AH Acta Helvetica ASR Actensammlung zur Schweizerischen Reformationsgeschichte CBe Cista Bern CCr Cista Crivelli CEb Cista Engelberg CFD Cista Fremde Dienste ChE Cista heiliger Eugen CLu Cista Luzern CSz Cista Schwyz CUr Cista Uri DW Deutsches Wörterbuch EM Enzyklopädie des Märchens ETP Engelberger Talprotokolle Gfr. Der Geschichtsfreund HBLS Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz HLS Historisches Lexikon der Schweiz HZSW Huldreich Zwinglis sämtliche Werke KMB Kunstmuseum Basel MGH Monumenta Germaniae Historica MLW Martin Luthers Werke OF Obwaldner Flurnamen OWB Obwaldner Mundart-Wörterbuch QESE Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft QSG Quellen zur Schweizer Geschichte RGA Reallexikon der Germanischen Altertumskunde SI Schweizerisches Idiotikon StB Stammbuch StR Sterberegister TfR Taufregister UWB Urner Mundart-Wörterbuch VkB Verkündbuch WdA Wörterbuch des Aberglaubens ZBZ Zentralbibliothek Zürich

1 Einführung

1.1 Die Herrschaft Engelberg in der Frühen Neuzeit Das Engelberger Hochtal war bis ins 19. Jahrhundert eine knappe Tagesreise von der Stadt Luzern entfernt. Reisende mussten zunächst an der städtischen Lände eine Fähre besteigen, um über den Vierwaldstättersee zur Stanser Ebene überzusetzen. Von dort führte der Landweg – vorbei am nidwaldnerischen Hauptort Stans – weiter nach Süden ins Engelbergertal, dem Lauf der Engelbergeraa aufwärts. Die Reise zog sich über ein Dutzend Kilometer durch die Gemeinden Dallenwil und Wolfenschiessen dahin. Mächtige Bergketten beidseits des Weges zeigten auswärtigen Besuch ern das nahende Alpengebirge an. Weiter südlich stiessen Reisende beim Weiler Grafenort auf eine herrschaftliche Gebäudegruppe, die seit dem späten 17. Jahrhundert den Übergang zur Herrschaft Engelberg kennzeichnete. Wappen mit Krummstab und Schwert prangten an den Gebäuden und kündeten – inmitten der innerschweizerischen Landsgemeindeorte – geistliches Herrschaftsgebiet an. Jenseits der besagten Schwelle erstreckte sich auf rund 75 Quadratkilometern ein selbständiger Kleinstaat, der bis 1798 der Eidgenossenschaft als Zugewandter Ort angehörte. Nach Grafenort zog die alte Landstrasse an einigen Bauerngütern vorbei, ehe sie – eine steile und enge Gefällstufe überwindend – stark anstieg und schliesslich in östlicher Richtung ins Engelberger Hochtal auf 1‘000 Metern ü. M. mündete. Hier kam eine ausgeprägte Streusiedlung zum Vorschein, die sich über den ganzen Talboden ausbreitete und an dessen Flanken hinaufreichte. Die bäuerlich geprägte Bevölkerung des Hochtals belief sich um 1800 auf knapp 1‘500 Seelen. Im Dorfkern ragte das Benediktinerkloster Engelberg mächtig heraus. Über dem Talboden schlossen sich weite Wald- und Hochweideflächen an, die schliesslich in einen weitgeschwungenen, teils gletscherbedeckten Bergkranz übergingen. Mehrere Passübergänge milderten in der schneefreien Zeit die Abgeschiedenheit des Hochtals, so vor allem der Jochpass gegen Süden (hin zur Grimsel) und der Surenenpass gegen Osten (hin zum St. Gotthard). Fremde gerieten nicht selten ins Staunen, wenn sie inmitten der rauen Gebirgswildnis erstmals das sonderbar belebte Hochtal erblickten.1 1 Eine besonders anmutige Beschreibung einer Reise ins Hochtal bei Thomann (1912: 26, 33–34), der auf einen Bericht Johann Konrad Füsslis zurückgreift. Bemerkenswert auch der Bericht Johann Rudolf Maurers über seinen Abstieg vom Juchlipass nach Engelberg, vgl. Dufner (1978: 33–34).

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Einführung

Diese Untersuchung befasst sich mit der Geschichte der Herrschaft Engelberg und ihrer Bevölkerung von 1600 bis 1800. Das Untersuchungsgebiet ist durch die Herrschaftsgrenzen des einstigen Kleinstaats grob abgesteckt: Es wird allerdings häufig zu erweitern sein, insofern das Hochtal vielfältige Beziehungen zur näheren und ferneren Umgebung unterhielt. Die Untersuchung setzt zeitlich um 1600 ein, wobei mehrere Gründe für diesen Einschnitt sprechen. In jener Zeit kam die Hartkäserei im Hochtal auf, die das heimische Wirtschaftsleben für die folgenden 250  Jahre massgeblich bestimmen sollte. Zur selben Zeit gewann die Herrschaft Engelberg auch ihre politische Selbständigkeit zurück, indem die Schirmorte Luzern, Schwyz und Unterwalden ihren (seit dem frühen 15. Jahrhundert) bestimmenden Einfluss einbüssten. Schliesslich erreichten damals neue kulturelle Einflüsse das Hochtal, als sich der barocke Katholizismus von Südeuropa allmählich nach Norden ausbreitete.2 Die abschliessende Zeitgrenze von 1800 drängt sich hinsichtlich des Untergangs der alten Eidgenossenschaft geradezu auf, als auch die Herrschaft Engelberg ihr Ende fand. Die politische Umbruchzeit darf jedoch nicht die Beständigkeit vieler wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse vergessen lassen, die bis weit ins 19. Jahrhundert andauerten. Die Herrschaft Engelberg wandelte sich auch in der Zeit zwischen 1600 und 1800 stark, so dass Binnenentwicklungen entsprechend berücksichtigt werden müssen. Da allerdings ein allgemeiner Überblick angestrebt wird, kann auf zeitliche Vereinfachungen, wo sie sachlich vertretbar sind, nicht verzichtet werden. Der bisherige Forschungsstand zur frühneuzeitlichen Herrschaft Engelberg gründet auf einem Vorurteil, das Theodor von Liebenau 1876 in seiner Skizze zur Talgeschichte so umschrieb: „Die Geschichte des Thals Engelberg ist grossen Theils eine Geschichte des Klosters Engelberg […].“3 Dieser Sichtweise verhalf zum Durchbruch, dass viele Arbeiten zum frühneuzeitlichen Engelberg von heimischen Konventualen verfasst wurden. Das anspruchsvollste Werk dieser Art legte Gall Heer OSB 1975 mit »Aus der Vergangenheit von Kloster und Tal Engelberg 1120–1970« vor. Der Titel war jedoch irreführend gewählt, insofern Heer weder eine Tal- noch eine Klostergeschichte, sondern eine Äbtegeschichte vorlegte. Heer blendete die Talbevölkerung in seiner Darstellung weitgehend aus. Konventualen verfassten auch zahlreiche heimatkundliche Schriften, die sich für die frühneuzeitliche Talgeschichte als wesentlich ergiebiger herausstellen. Diese Arbeiten bringen – trotz ihrer jeweils eng begrenzten Fragestellung – wichtige Er2 Zur Datierung des Barock, vgl. Hersche (2006: 948–949). 3 Vgl. von Liebenau (1876: 75).

Die Herrschaft Engelberg in der Frühen Neuzeit

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kenntnisse über das Leben im frühneuzeitlichen Hochtal.4 In die klosternahe Geschichtsschreibung reihen sich ferner verschiedene Untersuchungen zu den (oft in der Barockzeit entstandenen bzw. ausgestalteten) Sakralbauten des Hochtals und deren Ausstattung ein.5 Früh erschienen auch rechtsgeschichtliche Arbeiten zum frühneuzeitlichen Engelberg, wobei hier weltliche Gelehrte federführend wirkten. So veröffentlichte Johannes Schnell bereits 1858 umfangreiche Quellenbestände zum frühneuzeitlichen Talrecht. Rechtsgeschichtliche Forschungen wurden nicht zuletzt aus kulturgeschichtlichem Interesse für vergangene Sitten und Gewohnheiten betrieben.6 Die Rechtsgeschichte trug auch zur besseren Kenntnis des Talgerichts bei, das im frühneuzeitlichen Hochtal das öffentliche Leben massgeblich bestimmte.7 Zur frühneuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte Engelbergs sind dagegen nur vereinzelte Arbeiten erschienen, die dem Hochtal selten eigens gewidmet sind und dieses oft eher beiläufig erwähnen.8 Die demographische Entwicklung Engelbergs ist in einer einzigen Arbeit von 1911 behandelt worden.9 Als Theodor von Liebenau 1876 die Engelberger Geschichte umrisshaft skizzierte, wies er ausdrücklich darauf hin, nur »Miniaturbilder« zusammengestellt zu haben. Der Forschungsstand zur Geschichte des frühneuzeitlichen Engelbergs hat sich zwischenzeitlich wenig verbessert: Wichtige Gesichtspunkte sind nur lückenhaft oder überhaupt nicht untersucht, zudem lassen die zerstreuten Einzeluntersuchungen kaum Zusammenhänge erkennen. Ferner sind viele Arbeiten wissenschaftlich überholt und nur noch von geringem Erkenntniswert. Da schliesslich die Geschichte des frühneuzeitlichen Hochtals grösstenteils als erweiterte Klostergeschichte behandelt worden ist, sind Leben, Denken und Handeln der damaligen Talbevölkerung noch weitgehend unbekannt. 4 Vgl. die zahlreichen Schriften Georg Dufners und Ignaz Hess‘ im Literaturverzeichnis, ferner auch Beck (1973), Egger (1913) und Hunkeler (1947), alle OSB. Für den hier behandelten Zeitraum sind weitere heimatkundliche Arbeiten (weltlicher Herkunft) erwähnenswert, so Berchtold (1950), Blättler (1997), Durrer (1900), De Kegel (1993), Fleiner (1889) und Reznicek (1964). 5 Vgl. Achermann (1979), Durrer (1971), Hodel (1989), Hunkeler (1947), Müller (1996), Tomaschett (2007) und Achermann u.a. (2009). 6 Vgl. Schnell (1858), Liertz (1906), Thomann (1912), Kuster (1912) und Hegglin (1929). 7 Vgl. Cattani (1935) sowie ergänzend bzw. kontrastierend dazu Blatter (2006a) und Blatter (2006b). 8 Vgl. Beck (1973), Bruckner (1946), Fassbind (1954/55), Huwyler (1993), Küchler (2003), Loepfe (2007) und Roth (1993). Mit neuen Ansätzen Blatter (2009). 9 Vgl. Egger (1911), ferner auch Ruesch (1979).

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Einführung

1.2 Forschungsinteresse Die frühneuzeitliche Herrschaft Engelberg bildet den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Gleichzeitig ist diese Fallstudie mit dem Anspruch verbunden, allgemeinere Einsichten herauszuarbeiten, die deutlich über die Grenzen der besagten Talschaft hinausreichen. Daraus ergibt sich doppelter Erklärungsbedarf: So sollen in diesem Abschnitt erstens die allgemeinen Erkenntnisse genauer umschrieben werden, die sich aus einer solchen Untersuchung erwarten lassen – der Übersichtlichkeit halber lassen sie sich dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen bzw. kulturellen Bereich zuordnen. Zweitens ist klärungsbedürftig, inwiefern sich aus einer einzelnen Fallstudie überhaupt allgemeine Aussagen erschliessen lassen. Die Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse Engelbergs kann zum besseren Verständnis der frühneuzeitlichen nordalpinen Wirtschaft beitragen. Am Beispiel Engelbergs lassen sich etwa die Folgen des Pastoralisierung beispielhaft nachzeichnen, welche die nordalpinen Gegenden seit dem Spätmittelalter erfasste und zu einer fast ausschliesslichen Ausrichtung auf die Vieh- und Milchwirtschaft führte – was den betroffenen Gegenden die spätere Bezeichnung »Hirtenland« eintrug. Diesbezüglich kann die verbreitete Annahme überprüft werden, wonach die Wirtschaftsweise des Hirtenlandes extensiv (d.h. arm an Arbeits- und Kapitaleinsatz) gewesen sei.10 In diesem Zusammenhang lässt sich auch zeigen, welchen Stellenwert Arbeit in einer alpinen Gesellschaft jener Zeit besass. Mit der Wirtschaftsweise ist ferner die Frage verknüpft, wie wirksam und haushälterisch die alpine Bevölkerung mit ihren wirtschaftlichen Ressourcen (insbesondere den Kollektivgütern) umging. Diesbezüglich blieb das Urteil vieler Aufklärer von nachhaltiger Wirkung, wonach die bäuerliche Bevölkerung mit den ihr verfügbaren Ressourcen unsachgemäss und verschwenderisch umgegangen wäre.11 Die vorliegende Untersuchung wird eine genauere Bewertung dieses Urteils erlauben. Im Fall Engelbergs lässt sich ferner das gesellschaftliche Leben einer alpinen Gesellschaft jener Zeit bis in Einzelheiten beleuchten. So kann aufgezeigt werden, wie die Talleute in ihren alltäglichen Handlungsweisen von gesellschaftlichen Normen beeinflusst waren, inwieweit sie diese auslegten und sich gegebenenfalls über sie hinwegsetzen konnten. Ferner wird deutlich werden, wie es denselben Talleuten gelang, sich angesichts einer durchaus anspruchsvollen Lebensumgebung die Soli10 Zur alpinen Wirtschaftsgeschichte, vgl. Bircher (1979), Hauser (1961), Bergier (1968) und Dubois (1979), mit sozialgeschichtlicher Erweiterung auch Braun (1984). Demographische Untersuchungen legten Bickel (1947), Schelbert (1976) und Mattmüller (1987) vor. Eine neuere Übersichtsdarstellung bietet Mathieu (1998). 11 Die einschlägigen aufklärerischen Urteile bezüglich der alpinen Wirtschaft sind in Bircher (1979) zusammengetragen.

Forschungsinteresse

25

darität ihrer Verwandten, Freunde und Bekannten zu erwerben bzw. zu sichern. Am Beispiel Engelbergs lassen sich auf diese Weise die sozialen Netzwerke einer alpinen Gesellschaft beispielhaft rekonstruieren. Die Herrschaft Engelberg zeichnete sich schliesslich durch eine sonderbare politische Mischverfassung aus, die sowohl fürstenstaatliche als auch landsgemeindliche Züge aufwies. So bietet deren Erforschung einerseits einen neuen Zugang zu geistlichen Herrschaften, nicht zuletzt indem sie Voraussetzungen für vergleichende Untersuchungen schafft, z.B. mit den schweizerischen Benediktinerherrschaften Disentis und Einsiedeln oder den schwäbischen Fürst- bzw. Reichsstiften. Andererseits eröffnet die Herrschaft Engelberg einen ungewohnten Blick auf die innerschweizerischen Landsgemeindeorte, zu denen der Kleinstaat trotz aller äusseren Unterschiede zählte.12 Eine Darstellung des frühneuzeitlichen Engelbergs liefert auch neue Erkenntnisse über die kulturellen Verhältnisse im damaligen Alpenraum. Am Beispiel Engelbergs lassen sich etwa Bedeutung und Grenzen mündlicher Überlieferung in einer ländlichen Gesellschaft beschreiben, aber auch die oft unterschätzten Einflüsse der Schriftkultur erforschen. Ausgehend von den Überlieferungsträgern kann auch gefragt werden, an welchen Orten und bei welchen Gelegenheiten sich die alpine Bevölkerung über kulturelle Inhalte austauschte. Nicht zuletzt lässt sich anhand der Herrschaft Engelberg erkennen, wie sich der barocke Katholizismus in einer bäuerlich geprägten Hochgebirgsgegend ausprägte.13 Dieser Untersuchung liegen also Erkenntnisinteressen zugrunde, die durchgehend allgemeiner Art sind. Demzufolge bedarf die Wahl eines kleinräumigen Untersuchungsgebiets einer Rechtfertigung. Zunächst ist zu bemerken, dass sich die dargelegten Fragen nur beantworten lassen, wenn genaue Kenntnisse konkreter gesellschaftlicher Beziehungen und individueller Handlungsweisen gegeben sind.14 Deren Erforschung kann jedoch nur 12 Zum allgemeinen Forschungsstand bezüglich geistlicher Herrschaften, vgl. Andermann (2004) und Hersche (2006). Zur Erforschung der Landsgemeindeorte, vgl. Brändle (2005) mit ausführlichen Literaturangaben. 13 Zur alpinen, insbesondere innerschweizerischen Kulturgeschichte liegen bisher nur wenige, methodisch problematische Arbeiten vor, vgl. etwa Wackernagel (1936), Renner (1937), Renner (1978) und Zurfluh (1994). Zum barocken Katholizismus vgl. die Übersichtsdarstellung bei Hersche (2006). 14 Sozialgeschichtlich ausgerichtete Mikrohistoriker untersuchen vornehmlich gesellschaftliche Beziehungen, während kulturgeschichtlich arbeitende Mikrohistoriker individuellen Handlungsweisen grössere Aufmerksamkeit schenken. So unterscheidet Gregory (1999: 102) hinsichtlich der Mikrogeschichte systematische und episodische Verfahrensweisen. Die beiden Vorgehensweisen schliessen einander jedoch keineswegs aus und können – wie z.B. in der vorliegenden Untersuchung – miteinander verbunden werden.

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Einführung

auf kleinräumiger Untersuchungsebene sinnvoll erfolgen. Die Fragestellung bedingt den kleinen Massstab auch aus weiteren Gründen. Während bei grossräumigen Untersuchungen übergeordnete historische Bedingungen und Entwicklungen erforscht werden, können kleinräumige Untersuchungen deren tatsächliche Implementierung feststellen. Nicht selten erweisen sich dabei die „grossen Erzählungen des menschlichen Fortschritts“ als brüchig, unvollkommen, widersprüchlich und von Zufälligkeiten bestimmt.15 Ferner bewahrt die Erschliessung individueller Wahl- und Handlungsmöglichkeiten vor voreiligen Schlüssen – z.B. wenn angenommen würde, in der Vormoderne sei das Verhalten einfacher Leute weitgehend durch sozioökonomische Gründe festgelegt gewesen. Überhaupt lassen sich einseitige Erklärungsmuster bei kleinräumigen Untersuchungen eher vermeiden, da wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Gesichtspunkte zusammen gedacht werden können. Schliesslich erlauben kleinräumige Untersuchungen eine dichte Auswertung der verfügbaren Quellen: Je schwächer die Quellenauslese ausfällt, desto geringer die Gefahr, dass die Überlieferung durch eigene Vorannahmen und entsprechenden Ausleseverfahren unangemessen verzerrt wird. Insgesamt lässt sich festhalten, dass kleinräumige Untersuchungen Gesichtspunkte der geschichtlichen Wirklichkeit sichtbar machen, die bei grossräumiger Betrachtung unerkannt blieben. Auf dieser Grunderkenntnis bauen alle mikrogeschichtliche Forschungen auf, zu denen auch die vorliegende Untersuchung zählt.16 Nun stellt sich grundsätzlicher die Frage, wie aus einer Fallstudie überhaupt allgemeine Erkenntnisse gewonnen werden können. Mehrere Forschungsbeiträge haben diese Frage in jüngerer Zeit aufgegriffen, was die Anziehungskraft von Fallstudien in der Geschichtswissenschaft belegt.17 So lassen sich Fallstudien als Antwort auf jene Mängel verstehen, die historischen Darstellungen mit hohem Allgemeinheitsgrad innewohnen. Bei Untersuchungen letzterer Art werden allgemeine Aussagen gewöhnlich induktiv aus Einzelfällen ermittelt: Dies setzt allerdings voraus, dass die individuellen Merkmale der untersuchten Einzelfälle ausgeblendet werden. Auf diese Weise lässt sich aber die Bedeutung der besonderen Umstände, die zu jeder geschichtlichen Wirklichkeit gehören, kaum mehr ermessen.18 Ohnehin lassen sich solche Verfahrenweisen nur auf quantifizierbare Untersuchungsgegenstände anwenden.19 15 Vgl. Sabean (2006: 283). 16 Zur Mikrogeschichte vgl. die Überblicksdarstellungen von Levi (1991) und Ulbricht (2009). Hinsichtlich der hier aufgeworfenen Fragen enthalten Medick (1996: 13–37), Gregory (1999) und Sabean (2006) weiterführende Überlegungen. 17 Vgl. diesbezüglich die Sammelbände von Passeron/Revel (2005) sowie Süssmann u.a. (2007), ferner auch Fabiani (2007). 18 Ähnlich auch Passeron/Revel (2005: 22). 19 Zu den Möglichkeiten und Grenzen quantifizierender Verfahrensweisen, vgl. Ulbricht (2009: 52–54).

Forschungsinteresse

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In Fallstudien hingegen können allgemeine Erkenntnisse ohne Induktionsverfahren der beschriebenen Art gewonnen werden. Die vorrangigen Darstellungsmittel sind nicht Abstraktion und Reduktion, sondern dichte Beschreibung und Vergleich.20 Geschichtliche Sachverhalte werden aus mehreren Gründen möglichst vollständig erfasst: Erstens ermöglicht dieses Verfahren, eigene Vorannahmen so weit wie möglich zurückzustellen – was erheblich ist, steht also nicht bereits vor der Untersuchung fest. Zweitens lässt sich die Vielschichtigkeit jeder historischen Situation mit ihren je besonderen Umständen darstellen, die wesentlich zum geschichtlichen Geschehen gehören. Drittens können übergeordnete Annahmen bezüglich geschichtlicher Bedingungen und Entwicklungen am Einzelfall auf ihre Stichhaltigkeit überprüft und gegebenenfalls verändert werden. Die geschichtliche Wirklichkeit bleibt dadurch der Prüfstein jeder Theoriebildung. Viertens schliesslich bringen dichte Beschreibungen Sachverhalte zum Vorschein, die unsichtbar blieben, wenn sich die Untersuchung auf die blosse Bestätigung bzw. Widerlegung eigener Vorannahmen beschränken würde. Die Fallstudie wird so zum Experimentierfeld für neue Begriffs- und Theoriebildungen. Auch dichte Beschreibungen können allerdings geschichtliche Wirklichkeit nicht vollständig erfassen und bleiben auf Abstraktions- und Reduktionsmethoden angewiesen. Wenn Induktionsverfahren dem Untersuchungsgegenstand unangemessen sind, können idealtypische Darstellungsverfahren im Sinne Max Webers weiterführen.21 Idealtypen stellen begriffliche Verallgemeinerungen dar, die „durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit“ gewonnen und durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedanken […]

gefügt werden.22 Idealtypen sind an der Wirklichkeit ausgerichtet, bilden sie aber nicht ab, sondern überzeichnen in bestimmter Hinsicht deren Merkmale. Sie er20 Vgl. dazu Sabean (2006: 282–283). Das vergleichende Verfahren beschränkt sich nicht nur auf den Vergleich von Einzelfällen, sondern kann auch im Rahmen desselben Einzelfalls angewendet werden, vgl. Passeron/Revel (2005: 31). 21 Diese Aussage impliziert zugleich, dass induktive Verfahren auch bei Fallstudien ihre Berechtigung haben. Anders dagegen Ginzburg (2007: 45). 22 Welche Gesichtspunkte dabei ausgewählt werden, ist nicht vorgegeben. Diesbezüglich wird das idealtypische Verfahren gelegentlich missverstanden, so etwa bei Cerutti (2007: 67). Idealtypen stellen keine „ihrer Besonderheiten entkleideten Träger von Eigenarten“ dar. Dass ferner konkrete historische Situationen „nach dem Verlust jeglicher Individualität sich in eine Abstraktion verwandeln und so zum Objekt der Analyse werden“, stellt

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möglichen es, geschichtliche Sachverhalte begrifflich zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Idealtypen sind dadurch „von hohem heuristischen Wert für die Forschung“.23 Fallstudien können aufgrund ihres begrenzten Untersuchungsrahmens kaum allgemeine Erkenntnisse auf induktivem Weg gewinnen. Hingegen eignen sie sich durchaus zur Ermittlung von Idealtypen und können so neue Forschungsanstösse geben. Wenn gute Geschichtsschreibung in ihrem heuristischen Wert begründet ist, dann bilden Fallstudien unverzichtbare Hilfsmittel dafür.24 Fallstudien brauchen sich nicht auf Untersuchungseinheiten zu beschränken, die durchschnittlich und möglichst frei von besonderen Merkmalen sind. Auffällige, aussergewöhnliche Eigenschaften können sogar vorteilhaft sein, sofern idealtypische Erkenntnisse angestrebt werden.25 Ein – durchaus willkürlich gewähltes – Beispiel mag dies veranschaulichen: So sind in jüngerer Zeit bedeutsame Einzeldarstellungen zum frühneuzeitlichen Augsburg erschienen. Die Fallstudien unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihrer Forschungsgebiete, erheben jedoch gleichermassen den Anspruch, Erkenntnisse zu liefern, die weit über Augsburg hinaus gültig sind.26 Die augsburgischen Verhältnisse werden in den besagten Arbeiten als weitgehend repräsentativ eingestuft, auch wenn feststeht, dass das damalige Augsburg kaum eine Durchschnittsstadt darstellte. Die Repräsentativität rührt also nicht daher, dass im frühneuzeitlichen Augsburg etwelche Durchschnittswerte verkörpert gewesen wären. Es sind vielmehr besondere Merkmale Augsburgs (Lage, Einwohnerzahl, Bikonfessionalität, Überlieferungssituation, usw.), welche die Stadt zur geeigneten Untersuchungseinheit machen, indem sie eine idealtypische Darstellung begünstigen. Aus diesem Blickwinkel kann Augsburg tatsächlich als »Chiffre eines Allgemeineren« betrachtet werden.27

keine Bedingung des idealtypischen Verfahrens dar – zumindest lässt sich diese Deutung mit Webers diesbezüglichen Äusserungen kaum vereinbaren. 23 Das ausführliche Zitat bei Weber (1904: 65). Weitere Belegstellen sind Weber (1904: 58, 64, 68, 72, 86–87). Vgl. ferner Weber (1980: 9–11). Jüngere geschichtswissenschaftliche Arbeiten bestätigen den Wert idealtypischer Darstellungsverfahren, vgl. etwa Passeron/ Revel (2005: 26–27). 24 Vgl. die diesbezüglichen Äusserungen David Warren Sabeans in Mathieu (2000: 12–13). 25 Die Attraktivität des »aussergewöhnlichen Normalfalls« wird auch in der mikrogeschichtlichen Forschung anerkannt, vgl. Grendi (1977). 26 Neben zahlreichen weiteren Arbeiten vgl. insbesondere Roper (1989: 4), François (1991: 16–17), Roeck (1991: 7–8), Häberlein (1998: 393–396), Stuart (1999: 17–19), Werkstetter (2001: 20–22) und Tlusty (2005: 18). 27 Vgl. Roeck (1991: 7).

Zielsetzung

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Hinsichtlich der Erforschung ländlicher Gesellschaften fällt auf, dass unauffällige und durchschnittliche Dorfschaften eher untersucht werden als Dörfer mit klaren individuellen Merkmalen.28 Dafür liegen jedoch keine zwingenden Gründe vor. Vielmehr spricht einiges dafür, dass der Erkenntnisgewinn höher ausfiele, wenn vermehrt dörfliche Gesellschaften mit starker individueller Prägung untersucht würden. Schliesslich steht der heuristische Wert kleinräumiger Fallstudien gerade für die Erforschung alpiner Geschichte fest, wie etwa die klassische Arbeit John W. Coles und Eric R. Wolfs über die beiden Dörfer St. Felix und Tret im oberen Nonsberg belegt.29

1.3 Zielsetzung Arbeiten zu kleinräumigen Untersuchungseinheiten erlauben es, der Vielschichtigkeit geschichtlicher Wirklichkeit zu begegnen. Sie zwingen den Beobachter dazu, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Gesichtspunkte zusammenzudenken. Umfassende, kleinräumige Untersuchungen kommen somit der von Menschen erfahrenen Wirklichkeit – ihrer Lebenswelt also – besonders nahe.30 So wird in dieser Darstellung untersucht, wie die Engelberger Talleute – Männer wie Frauen – sich selbst sowie ihre natürliche und gesellschaftliche Umwelt wahrnahmen, deuteten und bewerteten. Zugleich wird auch danach gefragt, wie die Talleute in dieser Umwelt handelten und wie sie ihr Tun begründeten. Auf diese Weise sollen die individuellen Deutungs- und Handlungsspielräume der Talleute aufgezeigt werden. Individuelles Deuten und Handeln erfolgte auch im frühneuzeitlichen Engelberg zumeist in gesellschaftlichen Bezügen: Gemeinsamer Umgang und Austausch prägten das Denken und Tun der einzelnen Talleute. Zudem hatten die Talleute (aufgrund ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Stellung) sehr ungleiche Chancen, ihren eigenen Willen innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen durchzusetzen.31 Entsprechend hing individueller Erfolg wesentlich von erfolgreicher Vernetzung ab. Diese gesellschaftlichen Voraussetzungen ermöglichten und begrenz28 Einen Überblick bietet Ulbricht (2009: 27, 45–47). Eine neuere Untersuchung, die sowohl sozial- als auch kulturgeschichtliche Gesichtspunkte beispielhaft miteinander verbindet, stellt Peters (2007) dar. Hinsichtlich der oft angestrebten Durchschnittlichkeit der Untersuchungseinheit ist bemerkenswert, wie z.B. Beck (1993: 17) die Wahl Unterfinnings als Untersuchungseinheit beschreibt. 29 Vgl. Cole/Wolf (1995). 30 Vgl. Schlögel (2003: 10). Zum Begriff der Lebenswelt vgl. Haumann (2003) und Haumann (2006). 31 Die Formulierung lehnt sich an Max Webers Machtdefinition an, vgl. Weber (1980: 28).

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ten zugleich die individuellen Spielräume der Talleute: Ihre Erforschung ist für die gewählte Fragestellung daher unerlässlich. Weiter mussten die Talleute auch mit gegebenen, wenig veränderbaren Bedingungen zurechtkommen. So konnten sie nicht frei über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung des Hochtals verfügen, sondern mussten sich zunächst mit den bestehenden Verhältnissen abfinden und ihr Handeln entsprechend ausrichten. Wenn sich ferner die Talleute ihre Umwelt verständlich machen wollten, trafen sie auf verbreitete (mehr oder weniger zwingende) Sinn- und Deutungsangebote, die sie nicht ohne Weiteres zurückweisen konnten. Die Talleute waren somit in ihrem individuellen Denken und Handeln von diesen Rahmenbedingungen beeinflusst, veränderten diese aber auch durch ihr eigenes Tun. Aufgrund dieser Überlegungen lässt sich das Ziel dieser Darstellung nun genauer bestimmen: Die Untersuchung soll aufzeigen, wie die Talleute innerhalb gesellschaftlicher Bezüge und vorgefundener Rahmenbedingungen ihre Umwelt deuteten und diese durch ihr Handeln mitgestalteten.

1.4 Methode und Aufbau Die Erforschung von Lebenswelten bedeutet also, individuelles Deuten und Handeln in gesellschaftlichen Bezügen unter gegebenen Rahmenbedingungen verstehen zu suchen. Diesbezüglich stellen sich drei methodische Fragen: (1) Wie lässt sich individuelles Deuten und Handeln erfassen? (2) Wie lassen sich gesellschaftliche Vernetzungen beschreiben? (3) Wie lassen sich gegebene Rahmenbedingungen untersuchen? (1) Wenn frühneuzeitliche Lebenswelten einfacher Leute erforscht werden, ergeben sich besondere Überlieferungsschwierigkeiten. Zumeist liegen keine Selbstzeugnisse vor, die über individuelles Deuten und Handeln Auskunft geben könnten. Dies trifft auch auf die Überlieferungslage zum frühneuzeitlichen Engelberg zu. Ein bewährter Ausweg besteht darin, gesellschaftliche Konfliktsituationen zu untersuchen, die wesentlich besser überliefert sind. Es kann sich dabei um politische Konflikte zwischen Obrigkeit und Untertanen, aber auch um Streitigkeiten jedweder Art handeln.32 Insofern die Beteiligten in solchen Konflikten (durch Wort 32 Zur Unruheforschung vgl. etwa Suter (1985), Blickle (1988) und Würgler (1995). Zwischenmenschliche Streitigkeiten werden vornehmlich von der Kriminalitätsgeschichte untersucht, vgl. etwa Schwerhoff (2000). Auch für die Microstoria bildet der »aussergewöhnliche Normalfall« einen bevorzugten Zugang zur Lebenswirklichkeit einfacher Bevölkerungsschichten, vgl. Grendi (1977).

Methode und Aufbau

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und Tat) ihre Ansichten und Überzeugungen ausdrückten, ergeben sich aus der entsprechenden Überlieferung wertvolle Aufschlüsse über deren Denkweisen. Ebenso aufschlussreich sind auch überlieferte Kooperationssituationen, die in vielfältigen Spielweisen von familiären bis zu politischen Zusammenschlüssen reichten. Wenn Menschen in irgendeinem Lebensbereich längerfristig zusammenarbeiteten, entwickelten sie in der Regel entsprechende Werthaltungen, unternahmen gemeinsame Anstrengungen und ermittelten Handlungsrichtlinien. Überlieferte Kooperationssituationen erlauben so ebenfalls Rückschlüsse auf die Denkweisen der Beteiligten. Aus dem frühneuzeitlichen Engelberg sind glücklicherweise zahlreiche Konflikt- und Kooperationssituationen überliefert. Aus ihnen lässt sich in vielen Fällen ermitteln, wie die beteiligten Talleute ihre Umwelt deuteten und entsprechend handelten. Sie zeigen zudem, wie individuelle Deutungen im gesellschaftlichen Umfeld entstanden und sich veränderten.33 (2) Eine erprobte Möglichkeit, soziale Vernetzungen zu beschreiben, bietet die Netzwerkanalyse.34 Diese geht von der Annahme aus, dass Angehörige einer sozialen Gruppe in Netzwerken eingebunden sind und darin unterschiedlich günstige Stellen einnehmen. Ob eine Stelle günstig liegt, hängt von der Zahl und Güte der Beziehungen ab, die das jeweilige Gruppenmitglied unterhält. Je zahlreicher die Beziehungen und Verständigungsmöglichkeiten, je gefragter die eigene Unterstützung und die eigenen Ressourcen bei anderen Gruppenmitgliedern, je einflussreicher die Freunde und je näher die eigene Stelle am Nachrichtenfluss des Netzwerks, desto grösser ist das soziale Kapital eines Gruppenmitglieds. Als soziales Kapital wird dabei das jeweilige Beziehungsnetz bezeichnet, das ein Gruppenmitglied für seine eigenen Interessen beanspruchen kann. Soziales Kapital erleichtert den Zugang zu anderen Ressourcen des Netzwerks, insbesondere zu dessen wirtschaftlichen Ressourcen. Gesellschaftlicher Erfolg hängt schliesslich davon ab, welches soziale Kapital einem Gruppenmitglied in die Wiege gelegt wird, aber auch von dessen späterem Geschick, sich weiteres soziales Kapital zu erwerben.35 33 Dies entspricht auch der Annahme, dass individuelle Sinnstiftungen meist in gesellschaftlichen Bezügen entstehen, vgl. dazu Berger/Luckmann (2007), Blumer (1998) und Schütz/Luckmann (2003). 34 Zu den folgenden Ausführungen vgl. etwa Trappmann u.a. (2005), Jansen (2006) und Holzer (2006). Die Netzwerkanalyse hat sich in den vergangenen Jahrzehnten für sozialwissenschaftliche Untersuchungen bewährt. 35 Der Begriff der Taktik wird in der historischen Familienforschung seit Bourdieu (1972) erfolgreich verwendet, vgl. auch Hareven (1978), Hareven (1990), Kok (1994) und Viazzo/Lynch (2002). Zum berechtigten Einwand, dass sich der Begriff der Taktik bei Unterschichten besser eignet als jener der Strategie, vgl. De Certeau (1980: 59–63). De Certeau (1980: 125–134) hat gelungenes gesellschaftliches Handeln auf drei Bedingun-

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Der Handlungsspielraum eines Gruppenmitglieds lässt sich – so die Netzwerktheorie weiter – aus dessen jeweiliger Stellung innerhalb des Netzwerks erschliessen. Der jeweiligen Stellung eines Gruppenmitglieds entsprechen auch seine Chancen, eigene Interessen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern oder innerhalb der Gruppe durchsetzen zu können. Gesellschaftliche Macht kann somit als Kräfteverhältnis zwischen Menschen innerhalb eines Netzwerks beschrieben werden. Macht lässt sich dabei von den Kräfteverhältnissen im Netzwerk nicht lösen. Die Vernetzung der Talleute wird in dieser Untersuchung mit Hilfe des vorgestellten Modells erschlossen. Dieses ermöglicht es zugleich, die Machtverhältnisse innerhalb der Talbevölkerung aufzuschlüsseln.36 (3) Schliesslich stellt sich die Frage, wie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen eines frühneuzeitlichen Dorfes untersucht werden sollen. In methodischer Hinsicht bereitet die Erschliessung kultureller Gegebenheiten besondere Schwierigkeiten. Vordergründig muss dabei geklärt werden, welche Sinn- und Deutungsangebote die Dorfangehörigen vorfanden, um sich ihre natürliche und gesellschaftliche Umwelt verständlich zu machen. Grundlegender aber lässt sich fragen, wie sie von diesen Sinn- und Deutungsangeboten erfuhren bzw. auf welche Weise diese überliefert wurden. Es ist also sinnvoll, die Überlieferungsfrage bei der Erforschung kultureller Bedingungen in den Mittelpunkt zu rücken. Schwerpunktmässig werden in dieser Darstellung drei Überlieferungsträger genauer untersucht: mündliche Überlieferung, Schriftgut und räumliche Umwelt. Diesbezüglich scheint erklärungsbedürftig, inwiefern auch räumliche Umwelt kulturelle Vorstellungen überliefern kann. Eine geeignete Hilfestellung bietet Maurice Halbwachs‘ 1947 veröffentlichter Aufsatz »Das kollektive Gedächtnis und der Raum«.37 Soziale Gruppen übertragen – so Halbwachs’ Grundannahme – gedankliche Vorstellungen auf ihre räumliche, sinnlich erfahrbare Umwelt. Die Landschaft wird zur Gedankenstütze, um Bedeutungen und Erinnerungen abzuspeichern, aber auch zum Ordnungsraster neuer Erfahrungen. Soziale Gruppen laden ihre räumliche Umwelt mit Bedeutungen auf, indem sie jene materiell gestalten. Die entsprechenden Inhalte werden dadurch langfristig gen zurückgeführt: Gesellschaftlich erfolgreich ist, wer (1) seine eigenen Ressourcen so sparsam und effizient wie möglich einsetzt, (2) fehlende bzw. knappe Ressourcen durch geschicktes Vorgehen ausgleicht, was ein entsprechendes Handlungswissen voraussetzt und (3) Zufälle und günstige Gelegenheiten bestmöglich ausnutzt. 36 Diesbezüglich besteht der wesentliche Vorteil der Netzwerkanalyse darin, dass Machtverhältnisse faktisch-deskriptiv erfasst werden können, was normative Zugangsweisen (etwa über rechtliche Verfassung oder gesellschaftliche Wertvorstellungen) kaum zu leisten vermögen. 37 Vgl. Halbwachs (1997: 193–236).

Methode und Aufbau

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abgespeichert bzw. abrufbar. Entsprechend löst jeder Gang durch die Landschaft (zumindest bei den Gruppenmitgliedern) Erinnerungsvorgänge aus: Die räumliche Umwelt wird durch die Menschen ebenso geprägt wie umgekehrt. Halbwachs verdeutlichte seine Annahme u.a. an einem Beispiel aus der bäuerlichen Welt:38 Weiden, Felder, Wälder, Höfe und Häuser rufen Eigentumsrechte, Kaufverträge, Dienstbarkeiten, Grundpfänder, Pachten und Grundstücksgrenzen in Erinnerung, d.h. eine ganze Reihe rechtlicher Handlungen und Verhältnisse – die eine reine und blosse Sicht auf den Landstrich, so wie dieser einem Fremden erscheint, nicht umfasst – die sich im rechtlichen Gedächtnis der bäuerlichen Gruppe über diesen Anblick legt.

Neben der wirtschaftlichen Nutzung liessen sich im Sinn Halbwachs‘ noch weitere raumgestaltende Einflüsse im bäuerlichen Dorf nennen, so z.B. das gesellige oder das religiöse Leben. Für die Untersuchung des frühneuzeitlichen Engelbergs ergibt sich daraus der Schluss, dass die vormalige Landschaft des Hochtals – neben der mündlichen und schriftlichen Überlieferung – einen wichtigen Zugang zur Gedankenwelt der Talleute eröffnet. Die beigelegten Landschaftskarten bilden deshalb eine unverzichtbare Ergänzung zur vorliegenden Studie. In praktischer Hinsicht dienen sie der leichteren Orientierung in der Engelberger Landschaft des späten 18. Jahrhunderts, wie sie sich aus den zeitgenössischen Tal- und Gültprotokollen erschliessen lässt. Die Darstellungsweise ist so gewählt, dass die Abbildungen der tatsächlichen Landschaftserfahrung so nahe wie möglich kommen. Gleichwohl sei eingeräumt, dass die Überlieferung keine genaue Rekonstruktion der historischen Landschaft zulässt. Die Landschaftskarten sind deshalb bewusst umrisshaft gestaltet: So bleiben Häuser, Wege und Wasserläufe nur angedeutet. Da sich ferner der frühneuzeitliche Waldbestand vielerorts nicht sicher ermitteln liess, wurde einheitlich auf den heutigen Bewaldungszustand abgestellt, nicht zuletzt um die Vermischung verbürgter Tatsachen und blosser Mutmassungen zu vermeiden. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass auf den Landschaftskarten nur die gängisten Orts- und Flurnamen eingetragen sind: Das frühneuzeitliche Hochtal war wesentlich reicher an Ortsbezeichnungen. Die Landschaftskarten dienen über ihren praktischen Nutzen hinaus weiteren Erkenntniszwecken. Einerseits sollen die Skizzen erahnen lassen, welche Komplexität das Siedlungsbild des frühneuzeitlichen Hochtals aufwies. Auf dem Talboden hatte sich eine vielfältige, über die Jahrhunderte gewachsene Streusiedlung mit intensiv bewirtschaftetem Kulturland entwickelt. Das Siedlungsgeflecht war weit vielschichtiger als „in der Mitte das Gottshaus und tausend hütten durch das selbe verstreut“, wie es Reisende der Aufklärungszeit aus schierer Unkenntnis der Dinge 38 Vgl. Halbwachs (1997: 205), hier in eigener Übersetzung.

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gelegentlich beschrieben.39 Andererseits mögen die Landschaftskarten näher an das alltägliche Erleben der Talleute heranführen. Während nämlich in dieser Untersuchung die Lebensbereiche Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur getrennt behandelt werden, bildeten diese im Alltag der Talleute eine Einheit, die sich buchstäblich an Ort und Stelle herausbildete. Persönliche und kollektive Erinnerungen blieben am und durch den jeweiligen Ort des Geschehens gegenwärtig. Demgemäss lassen sich die Landschaftskarten als das wirklichkeitsgetreueste Inhaltsverzeichnis dieser Studie betrachten. Diese Darstellung gliedert sich in drei Kapiteln zu den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Im Wirtschaftskapitel (Kap.  2) werden die wichtigsten Wirtschaftszweige des Hochtals untersucht, nämlich Landwirtschaft, Aussenhandel und Lohnarbeit sowie Soldwesen. Das folgende Gesellschaftskapitel (Kap.  3) beschreibt soziale Netzwerke auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und führt so an die zwischengeschlechtlichen, familiären und politischen Beziehungen innerhalb der Talbevölkerung heran. Die Reihenfolge ist so gewählt, dass die Untersuchung von den engeren zu den weiteren Netzwerken führt. Das Kulturkapitel (Kap.  4) untersucht die Überlieferungsorte und -weisen kultureller Inhalte: die dörfliche Geselligkeit, das Verhältnis schriftlicher und mündlicher Überlieferung, die raum- und handlungsgebundene Frömmigkeit sowie die gesellschaftlichen Zeitvorstellungen.40 Im letzten Kapitel (Kap. 5) werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung zusammengefasst. In sämtlichen Kapiteln wird die räumliche Umwelt – wo immer möglich – als Gliederungshilfe und Raster für die jeweiligen Ausführungen herangezogen.

1.5 Quellen Die Talschaft Engelberg verfügt über eine zwar nicht einzigartige, aber doch (für eine ländliche Gesellschaft der frühen Neuzeit) unübertroffene Überlieferungslage: Das Talleben jener Zeit ist in den sogenannten Engelberger Talprotokollen bis in Einzelheiten überliefert. Dieser Quellenbestand wurde erstmals 1858 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als Johannes Schnell die Talprotokolle in seiner Pionierarbeit zum Engelberger Talrecht heranzog. Die Talprotokolle wurden seither

39 So etwa 1780 Johann Rudolf Maurer, vgl. Dufner (1978: 34). 40 Der Kulturbegriff ist in der betreffenden Kapitelbezeichnung im enggefassten Sinn verwendet. Der weitgefasste Kulturbegriff liegt der Untersuchung insgesamt zugrunde. Zur Unterscheidung eines engen und weiten Kulturbegriffs, vgl. etwa Landwehr (2009: 1–17).

Quellen

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wiederholt zum Gegenstand rechtsgeschichtlicher Arbeiten.41 Dass die Aussagekraft der Talprotokolle weit über rechtsgeschichtliche Belange hinausreicht, liessen bisher jedoch nur heimatkundliche Arbeiten erahnen.42 In den Talprotokollen sind einerseits die Beratungen und Beschlüsse der Engelberger Gemeinden, Räte und Gerichte verzeichnet, andererseits die Amtsgeschäfte der herrschaftlichen Kanzlei, d.h. der öffentlichen Verwaltung. Die Talprotokolle stellen also gleichermassen Gemeinde-, Rats-, Gerichts- und Verwaltungsakten dar. Die Engelberger Obrigkeit begann ab den 1580er Jahren, die Tagesgeschäfte des Tals mit zunehmender Ausführlichkeit zu protokollieren. Für die Zeit zwischen 1580 und 1798 sind so 21 Bände von fast 10‘000 handschriftlichen Seiten Umfang erhalten, wobei 42 Protokollschreiber namentlich bekannt sind. Die Protokolle jener Zeit umfassen ungefähr 6‘500 Sacheinträge mit rund 30‘000 Namensnennungen. Die Erschliessung der Talprotokolle ist durch eine typographische Abschrift erleichtert worden, die vom Engelberger Konventualen Georg Dufner von 1967 bis 1971 erstellt worden ist. Die Protokollführer waren gewöhnlich bestens mit den örtlichen Verhältnissen vertraut. Es handelte sich entweder um ansässige Stiftsangehörige oder um äbtische Beamte, die sich oft für Jahre im Tal niederliessen. Die Protokollführer verkehrten täglich mit den Talleuten und kannten die bäuerliche Lebenswelt aus eigener Erfahrung. Die Rats- und Gerichtsherren, deren Beratungen und Entscheidungen in den Talprotokollen verzeichnet sind, gehörten alteingesessenen Familien an. Protokollführer und Entscheidungsträger hatten also genaue Kenntnis der örtlichen Lebenswirklichkeit: Sie beobachteten bzw. protokollierten entsprechend scharf und genau. Zweck und Aufgabe der Talprotokolle wandelten sich im besagten Zeitraum von 220  Jahren. In der Frühzeit wurden darin vornehmlich die vom Talgericht behandelten Rechtsfälle verzeichnet. Später wurden zunehmend auch Amts- und Verwaltungsgeschäfte protokolliert. Ein eigentlicher Verschriftlichungsschub fand diesbezüglich unter der Abtsherrschaft Ignaz Betscharts (1658–1681) statt. Verwaltungsangelegenheiten aller Art stellten im 18.  Jahrhundert gut die Hälfte (!) der protokollierten Geschäfte dar. Ab jener Zeit wurde die Protokollführung gewöhnlich vom Vorsteher der herrschaftlichen Kanzlei (d.h. der öffentlichen Verwaltung) besorgt, der zugleich als Rats- bzw. Gerichtsschreiber amtete. Die Talprotokolle geben zahlreiche Auskünfte über das Alltagsleben der Talschaft. Gemeinden, Räte und Gerichte befassten sich meist mit alltäglichen, wenig aufseherregenden Angelegenheiten. Auch die Kanzlei war vorwiegend mit einfa41 Vgl. u.a. Schnell (1858), Liertz (1906), Cattani (1935) und neuerdings Blatter (2006a), der allerdings nur die anderthalb ersten Bände der Talprotokolle einbezieht. 42 Hier sei auf die zahlreichen Arbeiten Ignaz Hess‘ und Georg Dufners verwiesen, die im Literaturverzeichnis aufgeführt sind.

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chen Tagesgeschäften beschäftigt. So erlaubt das überlieferte Schriftgut erstens breiten Einblick in die Art und Weise, wie die Talleute ihren Alltag und dessen Herausforderungen bewältigten. Zweitens zeigen die überlieferten Versammlungsberichte auf, wie lebhaft die Talleute über Alltagsfragen berieten und wie unterschiedlich ihre jeweiligen Standpunkte gewöhnlich ausfielen. Gemeinde-, Rats- und Gerichtsbeschlüsse waren meist das Ergebnis zäher Verhandlungen, in denen die beteiligten Talleute um eine gemeinsame Haltung rangen. Die Talleute äusserten ihre Meinung umso freier, als in den allermeisten Fällen nicht Fragen von Leib und Gut verhandelt wurden. Drittens geben die Talprotokolle darüber Auskunft, wie Gemeinde-, Ratsund Gerichtsbeschlüsse jeweils in die Wirklichkeit umgesetzt wurden. Normen wurden nicht einfach Wirklichkeit, nachdem sie beschlossen wurden: Sie stiessen im dörflichen Alltag nicht selten auf hartnäckigen Widerstand, der in den Talprotokollen vielfach belegt ist. Weitere Quellenbestände wurden ergänzend zu den Talprotokollen herangezogen, so Schriftgut aus der Pfarrei (Pfarr-, Verkünd- und Familienstammbücher), der Abtei (Amts- und Verwaltungsakten) sowie vereinzelte Nachlässe. Schriften des Engelberger Pfarrers Ildephons Straumeyer (1701–1743) wurden ferner benutzt, um das liturgische Leben der Talschaft ansatzweise zu beleuchten.

2 Wirtschaft

2.1 Landwirtschaft 2.1.1 Talgüter Die frühneuzeitliche Bevölkerung Engelbergs lebte hauptsächlich vom Milchvieh, genauer von den Erzeugnissen, die sich durch dieses gewinnen liessen. Die Milchund Viehwirtschaft besass damit für das Hochtal eine überragende Bedeutung. Der Ertrag des Milchviehs liess sich allerdings nur sichern, wenn das besagte Vieh ausreichend gefüttert werden konnte. So hing das wirtschaftliche Gedeihen letztlich von der Nutzung des verfügbaren Viehfutters (d.h. des Grases) ab. Engelbergs Grasflächen liessen sich allerdings – bedingt durch Lage und Klima – nicht ganzjährig bewirtschaften, sondern erlaubten nur eine nach Höhenlage und Jahreszeit gestaffelte Nutzung (Mehrstufenwirtschaft), wie sie für alpine Gebiete typisch ist. Eine grosse Herausforderung bildete dabei die Winterung des Viehs: Solange Witterung und Vegetationszyklus einen Weidgang des Viehs verhinderten, musste Stallfütterung betrieben werden. Dies erforderte ausreichende Heuvorräte, die während der fruchtbaren Jahreszeit angelegt werden mussten. So wurden die Grasflächen durch Weidgang und Vorratshaltung doppelt beansprucht. Das fruchtbarste Nutzland befand sich auf der Talstufe, d.h. auf der niedrigsten Höhenlage. Auf der Talstufe war die jährliche Bewirtschaftungszeit am längsten, zudem waren auf den Talweiden mehrere Nutzungsgänge im selben Jahr möglich. Auch wenn höher gelegene Nutzflächen bewirtschaftet werden konnten, wurden die Talgüter parallel weitergenutzt. Die Talgüter fielen schliesslich mit dem Bereich der Dauersiedlung überein, was ihnen für Mensch und Vieh zusätzliche Bedeutung verlieh. So bildeten die Talgüter auch im Engelberger Hochtal das eigentliche Rückgrat der heimischen Wirtschaft. Im Folgenden werden die frühneuzeitlichen Engelberger Talgüter in drei Schritten dargestellt. Erstens sollen die Eigentumsverhältnisse geklärt werden, was auch die Behandlung der klösterlichen Grundherrschaft jener Zeit miteinschliesst. Zweitens wird das Gültwesen, d.h. die grundpfandliche Belastung der Talgüter untersucht, die sich damals stark entwickelte und die zeitgenössischen Wirtschaftsverhältnisse entscheidend bestimmte. Drittens wird der eigentliche Landbau auf der Talstufe behandelt. Dabei soll auch aufgezeigt werden, wie die frühneuzeitliche Talwirtschaft von zwei gegenläufigen Entwicklungen geprägt wurde, nämlich von Wettbewerb und Zusammenarbeit unter den Bauern.

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Wirtschaft

I. Das Grundeigentum Die Engelberger Talgüter waren um 1600 grösstenteils Eigentum ansässiger Talleute. Diese konnten weitgehend frei über Haus und Boden verfügen, d.h. sie konnten Güter erwerben, verändern, grundpfandlich belasten, vererben oder veräussern. Neben den Talleuten besass auch das Kloster auf der Talstufe einige Weiden und vereinzelt auch Pachthöfe (vornehmlich am Unterberg). Das Kloster übte zwar förmlich die Grundherrschaft über das Hochtal aus, doch die grundherrlichen Zugriffsrechte waren bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Einige grundherrliche Abgaben (Herrenzins, Ehrschatz und verschiedene Naturalabgaben) wurden zwar weiterhin eingefordert, waren jedoch aufgrund fortschreitender Geldentwertung, lückenhafter Erhebung und zahlreicher Ausnahmeregelungen wirtschaftlich bedeutungslos geworden. Sinnig kommentierte Abt Leodegar Salzmann im späten 18. Jahrhundert die Vorschrift, die von der Entrichtung grundherrlicher Abgaben handelte: „Da die Zinspfennige verrostet, die Ostereier selbst gegessen, der Käs- und Ziegerzins vergrauet, so ist dieser Artikel nicht mehr in seiner alten Ordnung.“1 Ähnlich verhielten sich die Dinge bereits anfangs des 17. Jahrhunderts. Es ist fraglich, ob sich im Hochtal je eine Grundherrschaft entwickelt hatte, die klösterliche Zugriffsrechte auf Haus und Boden der Talleute einschloss. Die unwirtlichen Gebirgsverhältnisse liessen die Klosterherren und Talleute wohl seit der Besiedlung des Hochtals spüren, dass sie auf gegenseitige Unterstützung angewiesen waren. Sofern sich zwischen Klosterherren und Talbewohnern je ein Lehensverhältnis ausgebildet hatte, war dieses kaum anders als in Form der Erbleihe gefasst worden, die den belehnten Bauern eine weitgehende Verfügungsgewalt über ihre Güter zusicherte.2 Als die Klosterherren anfangs des 15. Jahrhunderts zeitweilig versuchten, ihre Grundherrschaft über das Hochtal zu straffen, stiessen sie auf erbitterten Widerstand der Talleute – der Streit fiel derart heftig aus, dass die umliegenden Orte das Hochtal mit einem Truppenaufgebot besetzten und eine Schirmvogtei über Engelberg errichteten. Die Talleute verteidigten ihre Eigentumsrechte mit Erfolg. Es gelang ihnen im Jahr 1422, sich aus dem klösterlichen Erbrecht auszukaufen und so die klösterlichen Ansprüche auch vertraglich zurückzustutzen.3 Die Auseinan1 Zitiert nach Liertz (1906: 11). 2 Zur frühen Siedlungsgeschichte Engelbergs und vergleichbarer innerschweizerischer Gebiete, vgl. Glauser (1988) und Sablonier (1990). Überholte Darstellungen bei Cattani (1935), Bruckner (1946), Schmeitzky (1951), Meyer (1954) und weiteren älteren Arbeiten. Zur allgemeinen Entwicklung der Erbleihe vgl. Liver (1970). 3 Zum Streit zwischen Kloster und Gemeinde ab 1411 vgl. Cysat I, 980. Der Schiedsspruch von 1413 ist in Gfr. 11, 1855, 195–207 ediert, die entscheidende Urkunde von 1422 in Gfr. 57, 1902, 200–207.

Landwirtschaft

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dersetzung förderte die Herausbildung der Gemeinde. Das gewonnene Gemeinschaftsgefühl bzw. Selbstbewusstsein der Talbauern spiegelte sich auch in einer neuen Selbstbezeichnung, die sich später durchsetzen sollte: Die Talbauern nannten sich fortan nicht mehr »Gotteshausleute«, sondern »Talleute«. Die Talbauern wollten sich nicht als Lehensleute, sondern als rechtmässige Bewohner des Hochtals verstanden wissen.4 Diese Entwicklung war anfangs des 17. Jahrhunderts, d.h. zwei Jahrhunderte später, längstens abgeschlossen.5

II. Das Gültwesen Die Talleute waren also seit dem 15. Jahrhundert unbestrittene Eigentümer ihrer Güter. Dies ermöglichte ihnen auch, dieselben rechtskräftig als Grundpfand einzusetzen. Die Bauern machten sich diese Möglichkeit umso mehr zunutze, als sich grundpfandliche Geschäfte seit dem 14.  Jahrhundert in einer neuartigen Rechtsform abwickeln liessen: der Gült.6 Das Gültwesen beruhte auf einem einfachen Tauschgeschäft: Der Gültaussteller verkaufte dem Gültkäufer einen dauerhaften Zins, der auf seinem Haus bzw. Grundstück haftete. Der Gültkäufer hingegen kaufte einen dauerhaften Zins, indem er dem Gültaussteller ein gewisses Darlehen übergab. Dabei blieb die Gült auf dem Haus bzw. Grundstück des Ausstellers haften, und zwar auch bei einem späteren Besitzerwechsel. So konnte sich ein Gültaussteller dank seines Haus- bzw. Grundbesitzes ein Darlehen verschaffen, ohne seine Besitzrechte zu veräussern oder eine persönliche Haftung in Kauf zu nehmen. Der Gültkäufer hingegen konnte Geld längerfristig und gesichert durch ein Grundpfand anlegen. Der Zinswert wurde in einer Idealwährung (Pfund) festgelegt, um ihn vor Geldentwertung zu schützen: Erfolgte eine Zinszahlung, wurde ihre Höhe in die gebräuchliche Kursivwährung (Gulden) umgerechnet. Anders als die Hypothek war die Gült nur einseitig kündbar, d.h. der Gültkäufer konnte ein gewährtes Darlehen nicht zurückfordern. Umgekehrt war es Haus- und Grundbesitzern jedoch möglich, Gülten abzulösen, die auf ihrem Gut 4 Zu den Ereignissen von 1422, vgl. etwa Renward Cysats Bericht in Gfr. 26, 1871, 23. Die Talleute bewahrten noch im 18. Jahrhundert eine deutliche Erinnerung an jene Unruhen, vgl. Alphons Sepp Flori Feierabends Sammelband „Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten“ von 1731, S. 10 bzw. 49. 5 Einen bemerkenswerten Einblick in die Verhältnisse des 16.  Jahrhunderts bildet eine 1519 gehaltene Rede des damaligen Klosterverwalters Heinrich Stulz, ediert bei Vogel (1875: 18–21). 6 Eine ausführliche Darstellung des Gültrechts und seiner Entwicklung findet sich bei Kuster (1912). Kuster hat vorrangig die nidwaldnerischen Verhältnisse untersucht, doch lassen sich seine Ergebnisse durchaus auf das Gültrecht Engelbergs übertragen.

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lasteten. Insgesamt erlaubten es Gülten also, sich Darlehen zu verschaffen oder umgekehrt Geld anzulegen. Die Gült verbreitete sich im Hochtal (wie auch in den umliegenden Orten) rasch. Gültrechtliche Vorschriften wurden von den zuständigen Obrigkeiten fortlaufend erlassen bzw. verfeinert, um den regen geschäftlichen Gebrauch der Gülten einigermassen zu steuern. Die Entwicklung des Gültrechts erreichte ihren Höhepunkt im 17. und 18. Jahrhundert. Rechtssatzungen sorgten z.B. dafür, dass Güter nur bis zu einem gewissen Teil ihres Schatzwertes belastet wurden. Da es ferner üblich war, dass mehrere Gülten auf demselben Haus und Boden hafteten, musste die Rangfolge der Gülten zur Vermeidung von Streitfällen rechtlich festgelegt werden. Weitere Vorschriften regelten die Zugriffsrechte der Gläubiger, falls die geschuldeten Zinszahlungen ausblieben. Gläubiger durften gegebenenfalls die Blumen (d.h. die Erträge) des haftenden Grundstücks angreifen. Äusserstenfalls wurde der Schuldner in den Auffall (d.h. in den Konkurs) getrieben und das freigewordene Gut im sogenannten Wurfverfahren an einen Dritten vergeben. Die jeweiligen Zugrechte (d.h. Vorrechte) der betroffenen Gläubiger wurden für einen solchen Fall ebenfalls rechtlich festgeschrieben. Gerade das frühneuzeitliche Gültrecht Engelbergs erwies sich als ausserordentlich leistungs- und anpassungsfähig. Es blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend unverändert. Noch 1889 hob Konrad Huber, der Schöpfer des schweizerischen Privatrechts, die Fortschrittlichkeit des Engelberger Gültrechts eigens hervor.7 Unzählige Gülten lasteten im 17. und 18.  Jahrhundert auf den Engelberger Talgütern. Die Folgen dieser grundpfandlichen Belastung waren vielschichtig. Das Gültwesen löste erstens einen eigentlichen Schriftlichkeitsschub aus. Die wachsende Zahl der grundpfandlichen Belastungen machte ihre amtliche Verzeichnung bald unerlässlich. Schon 1493 verständigten sich Abt und Talleute darauf, dass im Hochtal keine neuen grundpfandlichen Schuldtitel ohne Zustimmung der Obrigkeit errichtet werden durften. Ab 1688 waren entsprechende Schuldbriefe nur dann rechtskräftig, wenn sie amtlich beglaubigt wurden. Die Engelberger Obrigkeit unternahm 1695 erstmals einen Versuch, sämtliche grundpfandlichen Schuldtitel des Hochtals zu überprüfen und zu verzeichnen. Abt Joachim Albini schlug 1709 vor, nicht nur die Errichtung, sondern auch den Handel mit den genannten Schuldbriefen amtlich registrieren zu lassen. Das Talgericht stimmte dem Vorschlag erst 1721 zu: In den neugeschaffenen Gültprotokollen wurden sämtliche grundpfandlichen Belastungen jedes einzelnen Gutes eingetragen sowie Neuerrichtungen, Änderun7 Vgl. Huber (1889: 439). Das Engelberger Gültrecht von 1885 ist im Landbuch für den Kanton Unterwalden ob dem Wald II, 120–130 abgedruckt.

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gen und Ablösungen von Schuldtiteln laufend verzeichnet. Am Ende des 18. Jahrhunderts füllten die Gültprotokolle unzählige, akribisch nachgeführte Bände.8 Die Verschriftlichung ermöglichte es der Obrigkeit, eine genauere Aufsicht über das Gültwesen auszuüben. Die amtliche Verzeichnung erhöhte gleichzeitig die Zuverlässigkeit der Schuldtitel und erleichterte dadurch entsprechende Geschäfte. Grundbesitz und Grundpfand waren in der Herrschaft Engelberg ab dem 16. Jahrhundert derart vollständig und gründlich erfasst, wie dies zur damaligen Zeit – wenn überhaupt – nur in städtischen Gebieten der Fall war.9 Die Gült entwickelte sich zweitens zum beliebten bäuerlichen Zahlungsmittel. Grundpfandliche Schuldtitel wurden gekauft oder getauscht, haftende Grundstücke verändert oder ausgetauscht, Zinse durch Zinsüberschreibungen beglichen, usw. Der bargeldlose Zahlungsverkehr entwickelte sich umso rascher, als die amtliche Verzeichnung die Deckung der Schuldtitel garantierte. Da grundpfandliche Schuldbriefe seit alters nicht mit Auswärtigen gehandelt werden durften, beschränkte sich der bargeldlose Zahlungsverkehr auf die Talschaft. Gülten liessen sich auch bei Gutskäufen als Zahlungsmittel einsetzen: Üblicherweise durften zwei Drittel (!) der Kaufsumme mit entsprechenden Schuldtiteln bezahlt werden.10 Gülten eröffneten auch bei Erbteilungen zahlreiche Möglichkeiten. Güter- und Alpeigentum bildete gewöhnlich den einen Erbteil, grundpfandliche Schuldtitel den anderen. Wer das Familiengut nicht übernahm, konnte ausgleichend mit Schuldtiteln entschädigt werden. Reichten die vererbten Schuldtitel für eine gerechte Erbteilung nicht aus, konnten neue Gülten auf dem Familiengut aufgenommen und auf die Erben verteilt werden. Solche Gülterrichtungen ermöglichten eine ausgeglichene Erbteilung, bürdeten aber dem Familiengut bzw. dem nachfolgenden Gutsbauern oft schwere Lasten auf, falls das ererbte Gut und die neuerrichteten Gülten in keinem sinnvollen Verhältnis zueinander standen. Eine wichtige Rolle spielten die Schuldtitel auch beim Frauengut, dem Eigenvermögen der Frau also, das fest (also auch nach einer allfälligen Heirat) in deren Besitz blieb. Das Frauengut sicherte – grob gesagt – das Auskommen der Frau in verschiedenen Lebenslagen, so etwa (als Witwengut) beim vorzeitigen Tod des Ehegatten. Das Frauengut wurde häufig aus grundpfandlichen Schuldtiteln gebil-

8 Die Bestimmung von 1493 in Artikel 35 des Talbuchs in der Fassung Magnus Wasers von 1790, zur Frage der amtlichen Beglaubigung vgl. ETP 3.25–26 sowie 12.126–129, zu den Gültregistrierungen vgl. ETP 4.363–364, 15.70 und 20.88–92, ferner auch ETP 7.654–655. 9 Vgl. Bruckner (1946: 56). 10 Vgl. ETP 2b.664–665.

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det. Da Gültgeschäfte unter amtlicher Aufsicht standen, konnte die Unversehrtheit des Frauenguts obrigkeitlich überprüft werden.11 Das Gültwesen überlagerte drittens das Grundeigentum.12 Grund und Boden wurden nämlich durch das Gültwesen auf neuartige Weise nutzbar gemacht. Gülten liessen sich – anders als Grundeigentum – verhältnismässig leicht erwerben und auch rasch wieder abstossen. Schuldtitel sicherten ihrem Besitzer einen gewissen Anteil am Ertrag des haftenden Grundstücks, zugleich aber auch Zugriffsrechte auf das Grundstück selbst, falls der Gutseigentümer zahlungsunfähig wurde. Wer umfangreichere Gülten auf ein bestimmtes Gut erwerben konnte, gewann dadurch einige Verfügungsgewalt über das Gut selbst. Gülten waren somit zuverlässige Vermögensanlagen: Wohlhabende Talleute legten ihr Vermögen oft nicht an, indem sie ihr Grundeigentum vergrösserten, sondern ihren Gültbesitz. Wer sein Vermögen in Grundeigentum anlegte, tat dies vorrangig, um das erworbene Land selbst zu bewirtschaften. Wer hingegen in Gültbesitz investierte, suchte eine sichere und gewinnträchtige Vermögensanlage, ohne sich zusätzliche Landbauarbeiten oder Pachtgeschäfte aufzubürden. Investitionen der zweiten Art konnten sich in der Regel nur wohlhabende Talleute leisten. Der Vermögensstand der Talleute lässt sich für die Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts an ihrem jeweiligen Gültbesitz gut erkennen. Diesbezüglich liefern zwei Steuerrodel aus den Jahren 1769 und 1799 einen Anhaltspunkt über die damalige Verteilung des Gültbesitzes.13 Im älteren Steuerrodel wurden noch alle Talleute aufgeführt, die zum damaligen Zeitpunkt grundsätzlich steuerpflichtig waren. Die Aufstellung verdeutlicht zunächst, dass 1769 jeder vierte Steuerpflichtige überhaupt keinen Gültbesitz aufwies. Erhebliche Besitzunterschiede zeigen sich ferner bei den Gültbesitzern: 43% unter ihnen besassen 1‘000 Pfund oder weniger, weitere 50% verfügten über ein Kapital, das zwischen 1‘000 und 10‘000 Pfund lag. Zu den wohlhabendsten Talleuten mit einem Vermögen über 10‘000 Pfund zählten 7% der Gültbesitzer. Im jüngeren Steuerrodel wurden die besitzlosen Steuerpflichtigen nicht mehr verzeichnet. Ein Vergleich mit dem älteren Steuerrodel ist in dieser Hinsicht nicht möglich. Es ist jedoch bemerkenswert, wie sich die Besitzunterschiede unter den Gültbesitzern innerhalb von 30 Jahren verändert hatten. Zu den Besitzern kleinerer 11 Zur grundpfandlichen Überlastung von Gütern bei Erbteilungen, vgl. ETP 17.202–203. Zum Frauengut, vgl. Schnell (1858: 121), Artikel 27 im Talbuch Magnus Wasers von 1790 sowie Hegglin (1929: 244–245). 12 Zu praktischen Folgen dieser Überlagerung vgl. auch Hess (1931). 13 Beide Steuerrodel befinden sich heute im Gemeindearchiv der Einwohnergemeinde Engelberg. Der Steuerrodel von 1769 ist für alle Engelberger Ürten erhalten, derjenige von 1799 enthält nur die Verzeichnisse der Ürten Mühlibrunnen und Niederberg.

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Vermögen zählten nur noch 18% der Gültbesitzer, während die Zahl der mittleren Vermögen auf 62% angestiegen war. Jeder fünfte Gültbesitzer besass schliesslich ein Vermögen, das 10‘000 Pfund überstieg. Die Besitzunterschiede unter den Talleuten waren erheblich. Eine wohlhabende Minderheit stand einer Mehrheit gegenüber, die wenig oder nichts besass. Die Kluft vergrösserte sich weiter, als sich im späten 18. Jahrhundert die grossen Vermögen mehrten. Es steht fest, dass die Talleute wirtschaftlich keine einheitliche, geschlossene Gruppe bildeten. Wirtschaftliche Ungleichheit prägte das Leben im Hochtal. Wohlhabende Talleute verfügten über durchaus ansehnlichen Besitz. Beispielhaft seien hier die Vermögensverhältnisse Sepp Anton Amrheins (1716–1802) dargestellt, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den vermögendsten Talleuten gehörte. Am 17. Dezember 1772 vermachte der damals 56-jährige Amrhein seinen Kindern den grossen Teil seines Besitzes. Unter den Vermögenswerten wurden folgende Güter aufgeführt:14 Grossägertli Mühlimatt Stocki Hostatt (Niederberg) Winkel Buechli Rohr Zieblen (Alp) Summe

7‘400 Pf. 10‘050 Pf. 11‘800 Pf. 11‘200 Pf. 9‘800 Pf. 4‘200 Pf. 9‘000 Pf. 6‘000 Pf. 69‘450 Pf.

Mit diesen 69‘450 Pfund erschöpfte sich Amrheins Besitz aber noch keineswegs. Hinzu kam nämlich der Besitz von Alprechten auf allen drei Genossenalpen Obhag, Stoffelberg und Gerschni. Auf der ersten Genossenalp besass Amrhein auch Alphütten. Weiter kam noch ein Speicher auf der Mühlimatt hinzu, die Weide im Durren (einschliesslich des dortigen Waldstücks) und schliesslich ein Waldstück im Mühliwald. Damit waren aber erst die liegenden (d.h. unbeweglichen) Vermögenswerte Amrheins erfasst. In der Teilung war das zügliche bzw. fahrende Gut noch nicht berücksichtigt, zu dem vornehmlich Vieh, Hausrat und bares Vermögen gehörten. Kurze Erwähnung fand hingegen Amrheins Besitz an Holz, Heu und Streu, die ebenfalls der fahrenden Habe zuzurechnen waren. Amrhein hatte seinen Gültbesitz offensichtlich auf einige Güter verdichtet, so dass er bei der Teilung jedem seiner Kinder ein eigenes Gut überlassen konnte. Die 14 Vgl. ETP 15.325–328.

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restlichen (nicht bezifferten) Vermögenswerte kamen zu dem knapp 70‘000 Pfund schweren Güterbesitz hinzu. Insgesamt erreichte Amrheins Vermögen wohl leicht die 80‘000–90‘000 Pfund, vielleicht sogar mehr. Wenn man bedenkt, dass der Rohbau der Klosteranlage von 1729 ungefähr 31‘000 Gulden (etwa 50‘000 Pfund) kostete, lässt sich die Grösse von Amrheins Vermögen besser abschätzen.15 Jedenfalls besass Amrhein 1772 ungefähr 80 bis 90 Mal mehr als 57  Prozent seiner Talgenossen, die nur über geringen oder gar keinen Gültbesitz verfügten. Er übertraf weitere 38 Prozent seiner Talgenossen, die über einen Gültbesitz von höchstens 10‘000 Pfund verfügten, immerhin durch einen acht- bis neunfach grösseren Besitz.

III. Der Landbau Die Talgüter bildeten, wie eingangs erläutert, das Rückgrat der alpinen Gras- und Milchwirtschaft. Die Ertragsfähigkeit der Talgüter liess sich nur durch einen beträchtlichen Arbeitsaufwand sichern. Knappe Ressourcen führten überdies zu einer lebhaften Konkurrenz unter den Talbauern. Gleichzeitig liess sich ein geregelter Betrieb auf der Talstufe vielfach nur erreichen, wenn sich die Talbauern auf eine Zusammenarbeit einigen konnten. Die folgenden Ausführungen behandeln den Landbau auf der Talstufe (a), den Umgang mit den landwirtschaftlichen Ressourcen (b-e) sowie Formen der bäuerlichen Konkurrenz bzw. Zusammenarbeit (f-i).

a) Abt Emanuel Crivellis Güterbeschrieb (1742) Genaue Beschreibungen bäuerlicher Arbeiten sind für den frühneuzeitlichen Alpenraum eher selten überliefert. Das Engelberger Hochtal weist diesbezüglich eine etwas glücklichere Überlieferungslage auf: Von Abt Emanuel Crivelli ist einen Güterbeschrieb des Klosters von 1742 erhalten. Den Güterbeschrieb verfasste Crivelli zugunsten seiner Nachfolger auf dem äbtischen Stuhl: Der Abt trug im Güterbeschrieb von 1742 nicht nur den klösterlichen Land- und Alpbesitz zusammen, sondern gab für jedes Gut einige Ratschläge zur Bewirtschaftungsweise. Crivelli hob dabei deutlich hervor, dass seine Empfehlungen auf einer reichen Erfahrung beruhten, die er als langjähriger Talbewohner zweifellos besass. Der Güterbeschrieb Crivellis zeigt mit grosser Genauigkeit auf, wie die Talgüter in jener Zeit bewirtschaftet wur-

15 Zu den Kosten des Klosterbaus, vgl. Heer (1975: 282). Ein Umrechnungsverhältnis von 3:5 zwischen Gulden und Pfund war in jener Zeit gebräuchlich.

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den. Es gibt dabei keinen stichhaltigen Grund zur Annahme, dass die Talleute ihre Güter wesentlich anders bewirtschaftet hätten als das Kloster. Crivellis landwirtschaftliche Anweisungen lassen sich systematisch betrachten. Wie bereits dargestellt, gründet die nordalpine Graswirtschaft auf zwei grundlegenden Nutzungsweisen des Grases: der Gewinnung von Heu bzw. Emd einerseits und der Atzung des Viehs andererseits. Das Heuen, Emden und Ätzen stellen den Gras- und Viehbauer vor verschiedene Bewirtschaftungsfragen: (1) In welchem Verhältnis soll geheut bzw. geemdet und geätzt werden? (2) Wie kann der Grasertrag des Bodens erhalten bzw. gesteigert werden? (3) Welche Einrichtungen sind für die Bewirtschaftung der jeweiligen Nutzfläche nötig? Nach diesen Gesichtspunkten lässt sich auch der Güterbeschrieb Crivellis zweckmässig aufschlüsseln: Die äbtischen Ausführungen werden im folgenden Abschnitt sinngemäss wiedergegeben. Die Talweiden ermöglichen im Jahreskreis mehrere Bewirtschaftungsgänge: Ätzen im Frühling, Heuen im (Früh)sommer, Emden im (Spät)sommer und nochmals Ätzen im Herbst. Diese Feststellung gilt jedoch nur allgemein: Für jede Weide müssen die Bewirtschaftungsgänge und vor allem deren Zeitpunkte einzeln bestimmt werden. Die Nutzung der jeweiligen Weide hängt etwa ab von der Höhenlage, der Sonneneinstrahlung, dem Wasservorkommen, der Beschaffenheit der Vegetationsdecke, der Zugänglichkeit für die Bewirtschaftung usw. Bald muss z.B. die Atzung im Frühling weggelassen werden, um den Heuertrag zu sichern. Bald auch muss der Zeitpunkt des Heuens vorgezogen oder aufgeschoben werden, um das Gras in bestmöglicher Qualität zu ernten. Nach der Schneeschmelze im Frühling wird zunächst das Schmalvieh auf die Weiden ausgelassen. Das leichte Vieh beschädigt die feuchtnassen Weiden am wenigsten, es ist beim Passieren gefrorener Stellen auch weniger verletzungsgefährdet als das Grossvieh. Dem frühen Zeitpunkt entsprechend werden vor allem Weiden an Sonnenlage genutzt. So können Schafe bereits im März in Höhenlagen von 1100 m ü. M. auf die Weide getrieben werden.16 Die Atzung im Frühling verhilft einigen Weiden auch zu einem besseren Graswuchs, indem das Vieh grobwachsende Pflanzen gleich wegfrisst und die Grasdecke dadurch feiner wird. Allerdings ist in solchen Fällen das Galtvieh zuerst auszulassen, da sonst die Milchqualität des Melkviehs an Qualität einbüssen würde. Den rechten Zeitpunkt des ersten Ätzganges kündet das Spriessen der Schlüsselblumen an. Wenn aber schlechtes Wetter anhält und sich die Grasdecke nur langsam entwickelt, muss das Galtvieh allabendlich in den Stall getrieben und mit schlechtem Heu versorgt werden, um die Weide nicht zu überätzen. Nichts ist nämlich schädlicher als das »brandschwarze« Abätzen ei16 Crivelli zählt etwa das Grüss ausdrücklich zu den früh nutzbaren Weiden.

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ner Weide: Der Ertrag des Bodens wird so auf Jahre hinaus gemindert, bis sich die Grasdecke von der Übernutzung erholt hat. Das Überätzen gehört sich vor allem dann nicht, wenn die Weide von einem anderen Bauern nur geliehen wird. Umgekehrt ist bei grasreichen Weiden ebenfalls Vorsicht geboten: Werden die Kühe im Frühling ohne Aufsicht in solche Weiden ausgelassen, überfressen sie sich unversehens und leiden an Blähungen. Hier ist das wachsame Auge des Knechts nötig, der den Weidgang der Tiere beaufsichtigt. Das Ätzen im Frühling beeinträchtigt in der Regel das Heuen, also den ersten Schnitt des Grases im (Früh)sommer. Um dieser Einbusse zuvorzukommen, kann das Ätzen im Frühling nach Möglichkeit ganz weggelassen werden. Eine gute Lösung besteht auch darin, die Weiden im Frühling in Ätz- und Heubereiche zu unterteilen, wobei das Vieh nur in die Ätzbereiche ausgelassen wird. Bei den Heubereichen handelt es sich meist um Fettweiden, also um gedüngte Weiden. Weiter muss berücksichtigt werden, wann eine Sennte zum frühestmöglichen Zeitpunkt auf die ihr zugewiesene Alp getrieben werden kann. Ist die Alp nur spät zugänglich, müssen im Tal allenfalls kleine Ätzweiden (auf dem Weg zur Alp) gemietet werden, um die Sennte bis zum Alpaufzug zu versorgen. Einige Ätzflächen sind auch dem Hausvieh vorzubehalten, das während des ganzen Jahres im Tal bleibt und der eigenen Versorgung mit Milch und Suffi (d.h. Schotte) dient. Die Vorlieben der Tiere für diese oder jene Weide sind nach Möglichkeit zu berücksichtigen, da sich dies auf den Milchertrag bzw. die Rüstigkeit des Viehs auswirkt.17 Auf jeden Fall ist zu beachten, dass schweres Vieh für weichen und feinen Boden ungeeignet ist, da die Scholle der Belastung nicht standhält. Ferner sind auch steile Halden zu meiden, da das Grossvieh dort bald stürzen kann. Weiter sind Tränken so nahe wie möglich an die Ställe zu bauen, um die Tränkwege zu verkürzen und dem Zertreten des Bodens durch das Vieh zuvorzukommen. Kurze Tränkwege sind auch bei (eis)glattem Boden geboten, da hier das Vieh wiederum sturzgefährdet ist. Schliesslich soll das Vieh beim Weidgang nicht dicht und übereilig auf und von der Weide getrieben werden: Andernfalls stockt die Sennte beim Vorwärtsgehen und zertritt wiederum den Boden. Im (Früh)sommer ist der erste Schnitt des Grases fällig. Das geerntete Gras wird zu Heu verarbeitet, das als Rauhfutter für die Winterung des Viehs bestimmt ist. Anhand der Grösse einer Weide lässt sich errechnen, wieviel Vieh mit dem Heu dieser Weide überwintert werden kann. Eine ausgewachsene Kuh bedarf etwa sechs Klafter Heu für die Winterung. So muss der Bauer die Grundfläche seiner Heuscheune kennen: Aus der Höhe des aufgeschichteten Heus – das er mit eingekerbten Massen 17 „ [...] die Ochsen sind in keiner Matten lieber als in diser oberen [Rothaus]hostatt“, bemerkt Crivelli zur genannten Hofstatt.

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oder mit dem erfahrenen Auge misst – kann er rasch übersehen, welche Menge Vieh er im nächsten Winter füttern kann. Das Gras darf beim Schnitt weder zu jung noch zu alt sein. Wenn es zu jung geschnitten wird, fehlt es ihm an »Kraft« und lässt den angestrebten Milchertrag nicht zu. An schattigen Halden hingegen ist die Sense frühzeitig anzusetzen, da sich sonst das Moos im hohen Gras stark vermehrt und wiederum die Heuqualität beeinträchtigt. Wer den Zeitpunkt des Heuschnitts festlegt, muss besonders auch die rechte Wetterlage abwarten. Der Bauer muss die Vorzeichen des Wetters deuten können, um bei trockener Witterung heuen zu können. Wer sonnige Tage in der Hoffnung auf einen besseren Ertrag ungenutzt verstreichen lässt, zieht möglicherweise den Kürzeren, wenn darauf anhaltend schlechtes Wetter die Ernte verunmöglicht und Ertragsausfälle bewirkt. Schliesslich dürfen selbst kleine Grasflächen nicht ungenutzt bleiben: So müssen z.B. die Angehörigen des Klosters achtgeben, das Gras im inneren Klosterhof nicht zu zertreten, damit auch dieses Gras geheut und eingefahren werden kann. Das Heuen selbst ist ein arbeitsintensiver Vorgang. Im August sind im Tal derart viele Weiden zu heuen, dass die Arbeitslast die eigenen Kräfte bisweilen übersteigt. So muss das Kloster die grossen Weiden im Grüss und in den Züg an Talleute leihen, weil ihm selbst die Arbeitskräfte dazu fehlen. Das Heuen gestaltet sich je nach Beschaffenheit des Bodens leichter oder strenger: Besonderen Aufwand erfordern steile oder hüglige, mit Mulden bedeckte Heuflächen. Das Gras wird zunächst geschnitten und auf der Weide selbst getrocknet – deshalb auch die grosse Bedeutung der trockenen Witterung. Anschliessend wird das getrocknete Gras in die Scheune gebracht und dort verworfen: Durch das Verteilen und Umschichten des Grases soll die Feuchtigkeit ausgedämpft werden. Die Heuscheune muss gross und vor allem trocken genug sein, damit aus dem getrockneten Gras Heu werden kann. Bildet sich jedoch nicht genügend Wärme oder dringt Feuchtigkeit durch undichte Stellen in die Scheune, vergraut und verfault das Heu. Deshalb ist es auch wichtig, unter keinen Umständen nasses bzw. taunasses Gras in die Scheune zu führen. Wenn geschnittenes Gras auf der Weide ausgeregnet wurde, kann es beim Verwerfen im Stall schichtweise mit Salz bestreut werden: Dieses entzieht dem Gras die Feuchtigkeit und gibt ihm wieder »Kraft«. Einige wenige Weiden werden gar nicht geheut, sondern regelmässig überätzt. Die Überätzung hat dann zur Folge, dass die Weide im folgenden Jahr brach bleibt, damit sich die Grasdecke erholen kann – es handelt sich hier also um eine Variante der Gründüngung. Solche Weiden werden paarweise genutzt, so dass abwechselnd die eine und die andere Weide genutzt wird bzw. brach bleibt. Ein zweiter Schnitt im (Spät)sommer wird in der Regel nur bei Fettweiden, also bei gedüngten Weiden vorgenommen. Das so gewonnene Emd ist für die Steigerung

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des Milchertrags besonders geeignet. Schattige Weiden mit wenig Sonneneinstrahlung werden frühzeitig geemdet, zumal wenn sich im Herbst Reif zu bilden beginnt. Jeder Heu- bzw. Emdweide sind eine oder mehrere Heuscheunen fest zugeordnet. Jeder Scheune wiederum ist eine Alpsennte bzw. eine sonstige Herde zugewiesen. Nach Möglichkeit können Unregelmässigkeiten im Ertrag durch haushälterisches Umverteilen ausgeglichen werden. Das auf den Alpen und im Gemeinberg geerntete Wild- oder Bergheu scheint der Winterung des Schmalviehs zu dienen: Entsprechend werden auch die höher gelegenen Scheunen mit Bergheu versehen, da das Schmalvieh von dort aus die nahegelegenen Frühlings- und Herbstweiden ätzt. „Gleich von Anfang des Winters woll betrachtet werden, wie weit man mit dem heuw hinauslangen möge“, betont Abt Emanuel Crivelli. Heu und Emd sollen im Winter keinesfalls von nachlässigen Stallknechten vergeudet werden. Ferner erhält das Melkvieh nach Möglichkeit Emd, das Galtvieh hingegen Heu. Vor dem Wintereinbruch aber wird das Vieh nochmals auf die Ätzweiden ausgelassen. Das Schmalvieh wird im Frühling zuerst ausgetrieben, im Herbst hingegen zuletzt. Für das fremde Lehen- oder Zinsvieh werden feste Weidebezirke auf dem Weg ins Unterland ausgesondert. Diese Weiden werden allerdings vorgängig mit dem eigenen Vieh abgeätzt, da sonst das hungrige Zinsvieh alles wegfrisst. Vorsicht ist ferner bei jenen Weiden geboten, die im Herbst aufgrund der geringen Niederschläge vertrocknen, so etwa die Weiden im Vorsäss des Horbis: Hier mag der Ertrag geringer ausfallen als erhofft. Sonnige und vom Reif wenig betroffene Weiden werden aufgespart und als letzte abgeätzt: Manche von ihnen werden erst am Gallustag (16. Oktober) mit Vieh beladen. Im Herbst entscheidet der Bauer, wieviel Vieh er überwintern will. Schmalvieh wird nur soweit überwintert, als der Ertrag an Wildheu ausreicht. Beim Grossvieh ist die gespeicherte Menge von Heu und Emd ausschlaggebend: Der Abgang der Kühe im Herbst muss allerdings mit jungen Kühen, Mais- und Zeitrindern gedeckt werden können. Die gewichtige Entscheidung beeinflusst nämlich den möglichen Ertrag des Folgejahres. Das richtige Mass erfordert hier Klugheit und Erfahrung. Eine schlechte Heuernte kann etwa dazu verleiten, das schwere Zugvieh (insbesondere die Ochsen) vor dem Wintereinbruch abzustossen. Da aber die Ochsen die Heuwagen ziehen, Steine und sandgefüllte Kästen (z.B. für die Wasserwehren oder Ausbesserungen aller Art) transportieren, Bäume und Saghölzer in der Holzwirtschaft schleppen, Salzfässer tragen usw., kann nicht so leicht auf sie verzichtet werden. Wer keine Zugtiere besitzt und diese von anderen Bauern mieten muss, ist von deren Preisforderungen abhängig. Diese können dann ihre Preise „aufschlagen, dass dir grausen wird“, mahnt Crivelli diesbezüglich. Der Ertrag von Heu und Emd sowie jener der Atzung hängen von der Beschaffenheit des Bodens ab. Vielfache äussere Einwirkungen können den Bodenertrag min-

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dern: Nahegelegene Wasserläufe übersaren bei Hochwasser das Land (bedecken es also mit Geschiebe) oder reissen Landstücke gleich ganz weg. Gewisse Weiden wie das Furri stehen alljährlich unter Überschwemmungsgefahr. Der untere Teil der Herrenrüti andererseits wurde um das Jahr 1723 von der Engelberger Aa nachhaltig verwüstet. An den empfindlichen Stellen müssen Wasserwehren mit Steinen oder allenfalls Baumstämmen errichtet werden. Werden die Wehren klug angelegt, lässt sich dabei sogar etwas Land gewinnen. Allerdings kostet das Wehren viel Geld und Arbeit. Rietige, d.h. sumpfige Landstücke müssen regelmässig entwässert werden: Dafür müssen Wassergräben errichtet werden, die periodisch gesäubert werden müssen, damit das Wasser ungehindert abfliessen kann. Umgekehrt müssen trockene Weiden mit Wasserleitungen erschlossen werden. Lange Tränkwege sind zu meiden. Lawinenschutt und Geröll- bzw. Schlammrüfen gefährden all jene Weiden, die nahe an den Bergflanken gelegen sind. Besonders im Frühling nach der Schneeschmelze sind oft aufwendige Aufräumarbeiten notwendig. Das Entfernen von Steinen und Schlamm ist wie das Wehren des Wassers mit erheblicher Arbeit und damit erheblichen Kosten verbunden. Im Herbst sind alle Zäune abzulegen, die Lawinengängen oder starken Schneelasten ausgesetzt sind, um sie vor der Zerstörung zu retten. Rasch vermehrt sich auch unerwünschtes Gewächs aller Art (Farne, Dorngewächse, Brüsch usw.), wenn es nicht regelmässig in mühsamer Handarbeit entfernt wird. Mäuse müssen regelmässig gejagt werden und die aufgebrochenen Scharrhaufen wieder geglättet werden. Schliesslich muss streng darüber gewacht werden, dass andere Bauern keine neuen Treib- und Fahrwege einrichten, die den Ertrag des eigenen Landstücks schmälern könnten.18 Eine erhebliche Bedeutung kommt der Gewinnung und dem Einsatz von Streu zu.19 Es gibt verschiedene Arten von Streu: Laubstreu besteht aus gefallenem Herbstlaub (Ahorn, Buche, Esche u.a.), Kraut-, Farn-, Rupf- bzw. Riedstreu aus Farnen und Moosen, Aststreu aus kleinen Baum- und Staudenzweigen, Rech- bzw. Nadelstreu aus gefallenen Baumnadeln (Chries), usw.

18 Crivellis Ausführungen sind diesbezüglich zu ergänzen: Alle genannten Arbeiten wurden nicht nur einmal verrichtet, sondern standen regelmässig und bisweilen alljährlich an. Entsprechend gross war der Arbeitsaufwand. 19 Die Streu diente zunächst als Einstreu im Stall – im nordalpinen Gebiet fehlte ja zu dieser Zeit der Ackerbau, der zum selben Zweck Stroh hätte liefern können. Die Streu gab dem Vieh ein warmes und trockenes Lager. Die Hauptaufgabe der Streu war es allerdings, den Dung des Viehs (also den Kot) zu binden. Die Streu und der Dung bildeten zusammen den Bauw (d.h. den Mist), der als Dünger auf die Fettweiden ausgetragen wurde. Die Streu wurde von Hand, mit Besen oder Rechen zusammengelesen.

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Jede Weide hat fest zugewiesene Streubezirke, die auch beim Verkauf der Weide in der Regel zusammen veräussert werden. Die Streurechte im Tal sind bis auf den einzelnen Baum genau geregelt. Manche Weiden haben weit auseinanderliegende Streubezirke, was ihre Bewirtschaftung entsprechend erschwert. Bei höher gelegenen Streubezirken ist die Streu rechtzeitig vor dem ersten Schneefall einzusammeln, da sich die Schneedecke möglicherweise nicht mehr auftut. Laub, das auf den Weiden liegt, muss unbedingt entfernt werden, da sonst das entsprechende Weidestück bald mit Moos überwachsen wird. Die Streu wird nach der Lese – ähnlich wie das Heu und Emd – zuerst getrocknet. Dann wird sie im Stall, aber auch bei den Melk- und Tränkplätzen ausgestreut, damit der Dung besser gebunden werden kann. Streu und Dung sind gut miteinander zu mischen, dann mit Karren auf die Weide auszutragen und dort fein und gleichmässig zu verteilen. Bei grobschlächtigem Austragen verwest der Mist zu langsam und bleibt zu lange liegen. Trotz des grossen Arbeitsaufwandes muss darauf geachtet werden, den Mist nicht nur um den Stall selbst zu verteilen, sondern auf der ganzen Fettweide. Der Mist von Pferden, Kühen und Schweinen ist dabei unterschiedlich und je nach gewünschtem Bodenertrag einzusetzen. Der Aufwand des Düngens lohnt sich. Die Herrenrüti liefert ein ganzes Drittel mehr Ertrag, wenn sie regelmässig mit Mist gedüngt wird. Nicht nur der Ertrag, sondern auch der Wert einer Weide kann mit der Düngung stark steigen: Die Weide auf dem Grüss erfuhr in einem Dutzend Jahren eine Wertsteigerung von 1‘000 Gulden. Fettweiden und Magerweiden werden deshalb genauer voneinander unterschieden: Als Matte wird die gedüngte, heu- und emdbare Fettweide bezeichnet, während die ungedüngte Magerweide lediglich Weide genannt wird. Entsprechend begehrt sind grasreiche Fettweiden. Als das Kloster vor 1742 die grasreichen Matten des Acher erwerben konnte, „haben einige von den reichern bauern [es] schier nit verschmertzen können“, erklärt Crivelli nicht ohne Stolz. Die Bewirtschaftung von Vieh und Heu bzw. Emd verlangt nach festen Einrichtungen. Diese sind umso notwendiger, wenn der Viehbestand hauptsächlich aus teurem und empfindlichem Grossvieh besteht. Die landwirtschaftlichen Gebäude sind ausgesprochen kostspielig. So erklärt Crivelli beispielsweise, dass das Kloster für die kurz vorangegangene Errichtung der grossen Scheune auf der Ochsenmatt eine Summe von 2‘700 Gulden aufgewendet hat. Welche Bauten waren für den landwirtschaftlichen Betrieb nötig? Crivellis Ausführungen bedürfen an dieser Stelle einer Ergänzung. Als erstes Gebäude ist der Stall zu nennen, in welchem das Vieh untergebracht werden kann. Dann folgt die Scheune bzw. Scheure, die der Speicherung von Heu und Emd dient. Die Scheunen müssen besonders eifrig unterhalten werden, damit die Lagerräume trocken bleiben. Insbesondere das Scheunendach muss regelmässig auf seine Dichtigkeit geprüft wer-

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den, damit keine Feuchtigkeit eindringt und das Heu verfaulen lässt. Der kleinere Gaden stellt eine Kombination von Stall und Scheune dar, so dass Vieh und Heu bzw. Emd dort gleichzeitig untergebracht werden. Zu diesen Gebäuden auf der Talstufe kommen noch jene Räumlichkeiten hinzu, die für die Käserei notwendig sind. Dazu gehören die sogenannten Wellhütten, die im Tal das Gegenstück der Sennhütte auf der Alp sind. Und schliesslich der Käsespeicher, in welchem der frische Käse bis zur Reife gelagert und gepflegt wird. Die dargestellten Empfehlungen Crivellis zeigen klar auf, wie vielschichtig und aufwendig der Landbau auf der Talstufe sein mochte. Zusätzliche Arbeiten fielen überdies in der Holzwirtschaft sowie in der eigentlichen Hausstatt an, auf die Crivelli allerdings nicht näher einging. Die autonome Darstellung der Talwirtschaft soll die zahlreichen Verbindungen zur Alpwirtschaft nicht vergessen lassen. Tal und Alpen bzw. Vorsässe wurden während knapp der Hälfte des Jahres gleichzeitig bewirtschaftet. Man kann sich nur schwer vorstellen, welcher Arbeitsumfang sich in den Sommermonaten anhäufte, wenn Tal- und Alpstufe gleichzeitig bewirtschaftet wurden. Auch der Austausch von Gütern zwischen Alp- und Talstufe brachte einen zusätzlichen Arbeitsbereich hervor. In einer Zeit, in der keine Seilbahnen, keine motorisierten Fahrzeuge und keine asphaltierten Strassen zur Verfügung standen, mussten Menschen bzw. Lasttiere den Transport zwischen Alp und Tal alleine bewältigen. Hinzu kam der Unterhalt eines ausgedehnten Wegnetzes. Immerhin konnten Güter, die nicht vor dem Winter ins Tal geführt werden mussten, bei geschlossener Schneedecke mit Schlitten nach unten befördert werden.

b) Gras und Heu Das Heu besass für die Winterung des Viehs eine herausragende Bedeutung. So versteht sich auch die Ermahnung des Gerichts 1680, jeder Bauer solle „so vill müglich, seine Güetter heüwen und embden“. Im ganzen Hochtal waren die Weiden in heubare Matten einerseits und ätzbare Weiden andererseits gegliedert. Diese Einteilung beruhte auf einer langjährigen Erfahrung, wieviel Heu für die Winterung des Talviehs nötig war. Verstösse gegen die Umnutzung von Weiden wurden geahndet, besonders wenn die Versorgung mit Heu knapp war. So mussten sich 1681 Anton Töngi und Balzer Dillier vor Gericht verantworten, weil sie ihre eigenen Hausmatten (mit ihrem eigenen Vieh!) geätzt statt geheut hatten. Die Fehlbaren suchten sich damit zu rechtfertigen, dass sie ihr Vieh ansonsten weit von ihrer Hofstatt ätzen müssten. Das Gericht wies ihre Begründung jedoch ab.20 Die Umnutzung von Wei20 Vgl. ETP 4.112.

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den wurde auch geahndet, wenn Auswärtige bzw. deren Vieh dadurch begünstigt worden waren. Das Gericht bestrafte auch jene, die ihre Matten nur teilweise mähten und dann fremdes Vieh auf denselben ätzten.21 Die Umnutzung war in der einen wie der anderen Richtung strafbar: 1707 wurde Sepp Amrhein gebüsst, weil er eine ätzbare Weide gemäht hatte, umgekehrt wurde ein Jahr später Franz Hess verurteilt, weil er eine heubare Matte als Ätzweide genutzt hatte.22 Nur wenn ein Viehhaupt krank und zum Weidgang nicht fähig war, machte das Gericht eine Ausnahme und erlaubte das Mähen von Matten für die Notdurft des kranken Viehs.23 Die Heuarbeit im Sommer führte einen grossen Zeit- und Arbeitsaufwand mit sich. Während des Alpsommers reichten die eigenen Kräfte oft nicht aus, um die eigenen Matten heuen zu können. Dementsprechend wurden ganze Matten an Dritte geliehen oder aber Arbeitskräfte für die Heuarbeit eingestellt. So überliess die verwitwete Barbara Zniderist 1668 ihre Hausmatten im Chneubos (auch Pörtli genannt) Plazi Zniderist und Hans Kuster. Die Besitzerin der Matten hatte sich dabei einen bestimmten Heuanteil vorbehalten, diesen jedoch nicht erhalten und deshalb einen Arrest über das gemähte Heu verfügt. Hans Kuster setzte sich jedoch über den Arrest hinweg und führte seinen Heuanteil ab. Plazi Zniderist erklärte seinerseits, er wolle „des wibs worten nit lossen, müost ihm sin als wan ein vogel bi sinen ohren durch pipsete“. Anders sah es das Gericht, als es sich mit dem Fall beschäftigte: Beide wurden mit Bussen bzw. mit Haft bestraft.24 Regelmässig kam es zwischen Mattenbesitzern und Heuarbeitern zu Streitigkeiten, wenn die einen mit der erledigten Arbeit unzufrieden und die anderen den ausstehenden Lohn forderten. Hans Lienhart Müller klagte etwa 1674 gegen Hans Melcher Matter vor Gericht, weil dieser weit mehr als die vereinbarte Fläche geemdet hätte, und verweigerte die Auszahlung des Lohnes. Übermässiges Heuen schadete den Mattenbesitzern ebenfalls. So mussten sich 1759 die Pächter des Bann, Geni und Hans Töngi, gegen den Vorwurf wehren, sie hätten die Matten bis zum Boden abgemäht. Ein belastender Zeuge erklärte, die Matten seien „bis auf den härd grausam nachgemäht gsin“.25 Die Übergriffe der Heuer kamen bisweilen dem Diebstahl nahe. So waren die Brüder Sepp und Plazi Häcki 1783 eingestellt worden, um auf dem Bergli die Heuarbeiten und die Streulese zu besorgen. Die Anstellung war nötig, weil der Besitzer des Bergli, Joachim Lenz Häcki, ein Jahr zuvor gestorben war. Seine Söhne (23, 20, 9 bzw. 2 Jahre alt) konnten das grosse Gut nicht selbst bewirtschaften. Den Werkleu21 22 23 24 25

Vgl. ETP 4.56–57. Vgl. ETP 4.531 und 5.6. Vgl. ETP 11.92–93. Vgl. ETP 3.98. Zu Fragen des Heuarrest vgl. auch ETP 3.124, 3.158 und 3.203. Vgl. ETP 14.104–105.

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ten wurde der stattliche Lohn von 120 Gulden und ein Anteil an Heu und Streu versprochen. Die angestellten Brüder erfüllten jedoch die Anforderungen bei weitem nicht. Der Vormund der Söhne musste später vor Gericht klagen, die Brüder hätten allzu frühzeitig und gähling geheüwet an einem schönen tag mit angesteltem volkh, gar zu vill zusammen, auf ein stockh in den gaden gethann, und dardurch alles schwarz und beschediget worden.

Auch die Streu lasen die Werkleute nur mangelhaft zusammen. Schlimmer noch: Sie hatten nach dem Mähen einige Burden (d.h. Bündel) Emd entwendet und unter einem Haufen Laub versteckt. Entsprechend erlaubte das Gericht eine Kürzung ihres Werklohnes und büsste sie wegen des verborgenen Emds.26 Auch in der Scheune war das Heu vor dem Zugriff anderer Bauern nicht geschützt. So stritten sich 1626 die beiden Talsäumer Melcher Zniderist und Jakob Rupp um das Allmendheu. Zniderist hatte das Heu in seine Scheune gebracht und die Tür mit »schlenggen [Seilband] und schloss« zugesperrt. Dies hinderte Rupp jedoch nicht daran, das Schloss kurzerhand aufzubrechen und nachts mehrere Male Heu aus der Scheune zu tragen. Auch Hans Müller wurde ein Jahr später eines nächtlichen Scheunengangs verdächtigt: Ein Zeuge berichtete, wie dieser nachts eine Burde aus der Scheune im Acher getragen habe und beim Grusswort des Zeugen vor Schreck zusammengefahren sei.27 Nicht immer gingen Klagen über Heuraub auf einen tatsächlichen Diebstahl zurück. Als ehrverletzendes und rufschädigendes Gerücht diente eine solche Bezichtigung allemal.28 Wirkliche Diebstähle hingegen kamen auf den Alpscheunen vermehrt vor: Dort wurde das Heu im Sommer eingelagert und im Winter ins Tal gebracht bzw. im Frühling bei schlechtem Wetter verfüttert. 1689 musste sich Kaspar Amstad beklagen, dass ihm in seinen Alphütten auf Arni Heu für 20 Kühe und drei Tage und Nächte gestohlen worden war. Nicht besser erging es dem Kloster 1729, als es die Heuarbeit auf Dagenstal verdingte und daraufhin zehn Burden Heu entwendet wurden. 1772 verschwand Heu gleich in mehreren Hütten auf Trübsee und Arni sowie im Espen, bis der Dieb gefasst werden konnte.29 Es wurde bereits festgestellt, dass das Kloster nach dem Mähen das Heu auf seine verschiedenen Scheunen verteilte und allfällig entstandene Lücken auf der einen oder anderen Weide dadurch ausglich. Den gleichen haushälterischen und ausglei26 27 28 29

Vgl. ETP 16.368–370 und 16.370–371. Vgl. ETP 2a.55b-56 und 2a.74–75b. Vgl. u.a. ETP 3.91. Vgl. ETP 4.282–283, 9.442–443 und 14.508–510.

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chenden Umgang mit Heu lässt sich auch bei den Talbauern beobachten. Hier allerdings wurden Vereinbarungen getroffen und Geschäfte abgeschlossen. Diese wohl mündlich und mit Handschlag getroffenen Abmachungen boten zu manchen späteren Reibereien Anlass. So wollte Melcher Amrhein 1665 nichts mehr davon wissen, dass sein Vieh Heu von Jakob Langenstein geätzt und er dafür eine Entschädigung versprochen hatte. Ein ähnliches Missgeschick erfuhr auch Hans Melcher Amstutz 1695, als er Sepp Häcki das Gras in der vorderen Heg verkaufte. Häcki verweigerte die Zahlung mit der Begründung, der Schneefall habe die Nutzung des Grases verhindert. Ferner sei ihm als Ersatz Heu versprochen worden, das er allerdings nicht erhalten habe.30 Einiges Ungemach widerfuhr auch Hans Jakob Feierabend 1668. Feierabend hatte mit Kaspar Töngi den Kauf eines Klafters Heu vereinbart, doch hatte Töngi daraufhin das Heu einem Dritten verkauft, der offenbar mehr geboten hatte als Feierabend. Nun stand dieser ohne Heu da. Ähnlich erging es 1771 auch Hans Zniderist, dem Joachim Waser die Herbstnutzung der Rohrhalten zugesichert hatte. Als die Zeit der Nutzung gekommen war, hatte Waser die Weide bereits einem Dritten übergeben. Auch hier ging Zniderist mit seinem hungrigen Vieh leer aus.31 Für die Speicherung des Heus konnten die Gebäude anderer Bauern geliehen oder mitbenutzt werden. Schwierigkeiten ergaben sich, wenn es um den Unterhalt dieser Gebäude ging oder Schäden am Heu entstanden. So hatte Hans Rohrer von Bernhardin Feierabend 1697 Räumlichkeiten auf Fürren geliehen. Allerdings hatten undichte Dachstellen Feuchtigkeit eindringen lassen, worauf das gespeicherte Heu verfaulte. Rohrer klagte daraufhin gegen Feierabend, weil er diesen als Besitzer für den Unterhalt des Daches verantwortlich machte.32 Der eigene Heuvorrat konnte natürlich auch durch Kauf bzw. Verkauf den Bedürfnissen angepasst werden. Ein Klafter Heu kostete im 17. Jahrhundert unter gewöhnlichen Umständen über acht Gulden. Für eine Burde konnte immerhin ein halbes Gulden verlangt werden. Unter Verwandten und Verschwägerten wurden wohl andere Preise geübt. Wenn sich allerdings ein Vormund selbst begünstigte, indem er seinem Mündel Heu für einen Spottpreis abkaufte, schritt das Gericht unverzüglich ein.33 Ebenso verpönt waren »Winkelkäufe«, bei denen der eine Bauer dem anderen Heu abkaufte und dieses darauf an Fremde abgab. Dadurch wurden die Nutzungsbeschränkungen für Auswärtige rechtswidrig umgangen. Ähnliche »Winkelzüge« kamen übrigens auch auf den Alpen vor, wenn ein Talmann 30 Vgl. ETP 3.44 und 4.375. 31 Vgl. ETP 3.91 und 14.492–494. 32 Vgl. ETP 4.401–402. 33 Vgl. zum Heupreis ETP 2b.513, 3.42–43, 4.288–289 und bezüglich des geschilderten Falls ETP 4.17.

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gegenüber einem Fremden sein Zugrecht geltend machte, aber später die Alp (zu einem höheren Alpzins) einem anderen Fremden lieh.34 Bei knappen Vorräten besorgten sich reichere Bauern das Heu auch ausserhalb des Tals. So kaufte Joachim Amrhein 1789 für über 100 Gulden in Horw Heu ein.35 Die Käufer mussten auswärts bisweilen erhebliche Überzeugungsarbeit leisten, um an Heu zu kommen. So hatte Niklaus Feierabend 1709 von einem Nidwaldner Ratsherrn Heu kaufen wollen. Um den Ratsherrn günstig zu stimmen, zeigte sich Feierabend einfühlsam und klagte darüber, dass Abt und Kloster die Nidwaldner von der Alpnutzung in Engelberg verdrängt hätten. Feierabend kam tatsächlich zu seinem Heu, aber zugleich auch zu einer Gerichtsverhandlung in Engelberg, als das Gericht von seinen Aussagen erfuhr.36 Schliesslich ist noch die Kirchensteuer zu nennen, welche die Pfarrei bei auswärtigem Verkauf von Heu bezog – bei Heugeschäften innerhalb des Tals wurde der Heuzehnt nicht erhoben. Einige Talleute verweigerten 1668 die Entrichtung des Heuzehnten. Die Gruppe der Widerspenstigen wurde vom damaligen Ammann (!) Melcher Dillier angeführt. Abt Ignaz Betschart war sich seiner Rechte gewiss und suchte an der Talgemeinde vom 2. März 1668 die offene Auseinandersetzung: Er drohte den Talleuten unverhohlen, die Schirmorte zum Schiedsspruch nach Engelberg zu berufen. Für den konsensorientierten Herrschaftsstil der Engelberger Äbte war Betscharts Kraftspiel eher ungewöhnlich: Doch der Erfolg gab dem Abt Recht. Die widerspenstigen Talleute lenkten ein. Der Heuzehnt blieb bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Kirchensteuer bestehen.37

c) Streu Die Streu bildete eine weitere wesentliche Ressource für die Bewirtschaftung der Talgüter. Meistens wurde die Streu im Waldgebiet gesammelt. Wie bereits dargelegt, waren jeder Matte im Tal feste Streubezirke zugeteilt. Diese Streugrenzen stimmten mit den Grenzen des Grundbesitzes selten überein. So teilten sich z.B. sechs Talgüter die Streu im Waldstück von Gschneit und Hüttstett auf, wobei dieser Wald im Besitz des Klosters war.38 Streurechte und Grundbesitz konnten (mussten aber

34 35 36 37 38

Vgl. ETP 3.175 und 4.56. Vgl. ETP 18.196–197. Vgl. ETP 5.75. Vgl. ETP 3.89 und 3.92–97 sowie Hess (1915: 63–66). Vgl. ETP 8.418–421.

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nicht) unabhängig voneinander gehandelt werden.39 Nimmt man noch die Holzrechte hinzu, konnten im selben Wald der Boden, das Holzrecht und das Streurecht drei verschiedenen Talleuten gehören. Bisweilen wurde bei der Streu sogar zwischen dem Laub einerseits und der übrigen Streu andererseits unterschieden.40 Wer Streurechte versilbern wollte, konnte auf einen guten Erlös zählen: So verkaufte 1781 Hans Feierabend seine Streurechte auf dem Schiterbüel für 80 Gulden. Dieselbe Summe konnte ein Jahr später Niklaus Stephan Hess für seine Streurechte im Mühliwald lösen.41 Für Streugebiete auf der Allmend wurden sogenannte Streuzettel verteilt, die dem Besitzer des Zettels einen genau bestimmten Streubezirk für das laufende Jahr zuwiesen. Entsprechend konnte mit diesen Streuzetteln gehandelt werden.42 Ferner wurden Streurechte auch gegenseitig ausgetauscht, was meistens mit dem Ziel geschah, die Streubezirke näher an das eigene Gut legen zu können. So gab z.B. Geni Waser 1713 seine Streurechte im Rietli dem Kloster ab und erhielt dafür Streurechte im hinteren Chilchbüel und in der Herrenrüti.43 Die Überschneidung von Grundbesitz und Streurechten führte erwartungsgemäss zu manchen Zwistigkeiten. So beanspruchte Balzer Amrhein 1692 die Streurechte im Lediwald, die er zusammen mit seinem Gut Müttligen erworben haben wollte. Hans Michel Hermann, der Besitzer des Lediwaldes, weigerte sich allerdings standhaft, Amrheins Anspruch anzuerkennen. Die Rechtsverhältnisse liessen sich erst durch die genaue Prüfung einer gesiegelten Gült klären.44 Ebenso umstritten war 1705 das Streurecht im Lüssli, das nach dem Tod Niklaus Amrheins in den Besitz seiner Enkel gelangt war. Die Erben beklagten sich vor Gericht, dass Karl Sepp Langenstein das Streurecht auf ihrem Gut beanspruche und deshalb einen Arrest auf gefälltes Holz legen liess. Der Sachverhalt wurde vor Gericht noch verworrener, da Hans Melcher Matter, der Statthalter des Gerichts, nun ebenfalls Anspruch auf das Streurecht im Lüssli erhob.45 Die meisten Güter waren mit bestimmten Streubezirken ausgestattet. Allerdings war nicht immer klar, welche Streubezirke mit welchen Grenzen zum jeweiligen Gut gehörten. Die Frage stellte sich vornehmlich dann, wenn ein Gut den Besitzer 39 Als Beispiel für die gemeinsame Veräusserung von Boden und Streurechten siehe ETP 12.314–316, für getrennte Veräusserung dagegen ETP 12.351–353. 40 Vgl. ETP 16.554–555. 41 Vgl. ETP 17.379–381 und 17.411. 42 Vgl. ETP 7.281–286. 43 Vgl. ETP 7.426–428. Wie der Sachverhalt im Rechtsstreit zwischen Geni Waser und dem Kloster wirklich lag, ändert an der grundsätzlichen Austauschbarkeit von Streurechten nichts. 44 Vgl. ETP 4.333–334. 45 Vgl. ETP 4.498.

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wechselte. So zogen Bernhardin Häcki und sein Sohn 1674 die Schwändi an sich und forderten gleichzeitig Streurechte auf der Gerschni ein. Die betroffenen Alpgenossen jedoch waren nicht bereit, ihre Streurechte abzutreten.46 Als der Acherboden 1760 seinen Besitzer wechselte, geriet dieser mit den Besitzern des hinteren und des vorderen Bockti ebenfalls in Streit um gewisse Streurechte auf der Gerschni. Mündliche Vereinbarungen widersprachen dem Wortlaut des Kaufbriefs. Das Gericht beschloss, die gewohnte Übung nicht zu ändern und teilte die Streurechte auf alle drei Güter auf.47 Bisweilen vermochten nicht einmal schriftlich festgehaltene Nutzungsbestimmungen Eintracht zu schaffen. So hatte Joachim Ignaz Feierabend 1770 die Hälfte der Bütschlen von Sepp Anton Waser gekauft. Im Kaufbrief behielt sich Waser jedoch die Streurechte ausdrücklich vor. Dies hinderte Feierabend aber nicht daran, die besagten Streurechte vor Gericht einzufordern. Selbst als der Kanzler ihm den Kaufbrief nochmals vorlegte, zeigte sich Feierabend uneinsichtig.48 Besonders knifflige Schwierigkeiten ergaben sich, wenn die Streubezirke zwischen Eigengütern, Genossenschaftsgebieten und Allmend unklar waren. So klagten die Talleute 1688 gegen die Genossen der Eien wegen des Streurechts im Wald zwischen Dagenstal und Eien. Die Talleute forderten, dass der dortige Streubezirk weiterhin allen Talleuten offenstehen solle, während die Genossen der Eien erklärten, die Streunutzung sei den Talleuten nur »aus Güetigkeit« überlassen worden. Ein ähnlicher Streit entstand 1765 nach dem Verkauf derselben Genossenalp. Die Talleute forderten auch nach dem Verkauf der Alp die Nutzung des Laubes ein, welche ihnen die neuen Besitzer allerdings nicht gewähren wollten. Das Gericht schlug den Parteien daraufhin vor, die Streunutzung der Talleute auf einen Bereich der Eien (nämlich den Buchenwald im Sulzgraben) zu beschränken.49 Die Streunutzung auf der Genossenalp Gerschni war noch umstrittener. Eben wurde der Fall Bernhardin Häckis erwähnt, der 1674 die Schwändi gekauft hatte und dazugehörige Streurechte auf der besagten Alp einforderte. Die Genossen lehnten Häckis Ansprüche mit der Begründung ab, er habe die Schwändi seinem Sohn übergeben. Häckis Sohn gehörte aber – anders als sein Vater – nicht zur Genossenschaft der Gerschni und galt damit als Ungenosse. Das Gericht beschloss darauf, der Genossengemeinde der Alp Gerschni einen Änderungsvorschlag vorzulegen. Die Streurechte auf der Alp sollten allen Genossen einschränkungslos offenstehen. Auf die Nutzungsrechte der Ungenossen ging das Gericht zunächst nicht ein, die Unklarheit blieb weiterhin bestehen. 1695 baten Talleute das Gericht um die langersehnte Klärung der Frage: Das 46 47 48 49

Vgl. ETP 3.237. Vgl. ETP 14.139–140. Vgl. ETP 14.442–447. Vgl. ETP 4.261–263 und 14.244–247.

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Gericht erklärte allerdings, dass es in dieser Frage nicht zuständig sei und verwies das Geschäft an die Talgemeinde. Die Rechtsfrage wurde erst an der denkwürdigen Talgemeinde vom 19. Juni 1707 gelöst.50 Die Streunutzung stellte selbst bei klaren Besitz- und Nutzungsverhältnissen manche Herausforderungen. So klagten 1694 Hans Langenstein und Sepp Häcki gegen Sepp Geni Töngi, den neuen Besitzer des Ghärst. Dieser hatte nach dem Kauf der Liegenschaft eine Hütte abgerissen, die sich auf dem Grundstück befand. Die Kläger allerdings hatten diese Hütte zuvor genutzt, um die dort gelesene Streu zu lagern. Ferner beschwerten sich die Kläger, dass Töngi im Ghärst zuviel Holz schlage und damit ihren Streuertrag schmälere. Das Gericht hiess die Klage gut und forderte Töngi auf, die Hütte wieder aufzubauen und bescheidener Holz zu schlagen.51 Die Streulese biss sich mit der Holznutzung einerseits und mit der Weidnutzung andererseits. Wenn Streu- und Weidnutzung aneinander grenzten bzw. sich überlagerten, waren Nutzungskonflikte fast unvermeidlich. Die Nutzer der Streu förderten den Baumwuchs, um den Streuertrag zu erhöhen. Die Nutzer der Weide hingegen schönten ihre Weiden von nachwachsenden Bäumen, die den Heu- bzw. Ätzertrag minderten. Unparteiische Dritte mussten dann herangezogen werden, die über das Fällen dieses oder jenes heranwachsenden Baumes entscheiden mussten.52 Noch verwickelter war die gleichzeitige Nutzung von Streu und Holz. Wegen einer solchen strittigen Nutzung kam es 1742 zwischen Jakob Hurschler und Christian Cattani zum Rechtsstreit. Hurschler besass im Ort das Streurecht, Cattani hingegen das Holzrecht. Nun aber hatte Cattani auf diesem Grundstück einige Eschen und einen Ahorn gefällt, was Hurschler wiederum nicht hinnehmen wollte. Salomonisch entschied das Gericht, dass Cattani über die Eschen und Stauden frei verfügen solle. Hurschler hingegen behielt das unbehelligte Nutzungsrecht über die Ahorne.53 Ein anderer Fall beschäftigte 1775 das Gericht: Anton Amrhein hatte auf seinem Grundstück eine Tanne gefällt. Beim Stürzen war die Tanne auf das benachbarte Grundstück Sepp Häckis gefallen und hatte dort einen Ahorn beschädigt. Häcki wollte den entstandenen Minderertrag an Streu nicht hinnehmen und forderte von Amrhein Schadenersatz. Abt und Gericht führten in diesem Streit einen Vergleich herbei.54

50 Vgl. 3.237, 4.159–161, 4.373 und 5.97–99. Zur Talgemeinde von 1707 siehe ETP 4.522–527. 51 Vgl. ETP 4.357–358 und 4.407. 52 Vgl. etwa ETP 4.518–519, 4.529, 5.194–195, 11.83–84 und 17.49–50. 53 Vgl. ETP 11.399. 54 Vgl. ETP 17.49–50.

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Wem gehörte ferner die Laubstreu, die durch den Wind auf das Grundstück eines Dritten geweht wurde? In dieser Frage entschied das Gericht 1738 nach einem Rechtsstreit, dass die verwehte Streu jenem gehöre, auf dessen Grundstück sie liegen blieb.55 Die Nutzung der Streu war für den Landbau und die Viehhaltung unerlässlich. Allerdings konnte eine Übernutzung auch den Wald gefährden. So beschwerten sich einige Talleute 1762 wegen der Übernutzung des Grüenigerwaldes und erklärten, dass „man den waldt zerkratze und gar zu nach [nahezu] alles nachennehme“. Das Gericht gab den Klägern Recht und stellte fest, dass „im streüwisamlen dem waldt grosser schaden kan gethan werden“.56 Die Nutzung der Streu und der Erhalt des Waldes wurden von Fall zu Fall nach ihrer Bedeutung abgewogen. So schlug 1715 Abt Joachim Albini vor, ein Waldstück unterhalb der Gerschni zum Bannwald zu erklären, damit dort neue Bäume nachwachsen könnten. Das Gericht lehnte den äbtischen Vorschlag mit der Begründung ab, man könne nicht auf die Streu und die Ätzweiden im besagten Waldstück verzichten. Hingegen einigten sich Abt und Gericht 1771 auf das Verbot, gefallene Nadeln (Chries) oder Moose aus dem Wald zu nehmen. Ausdrücklich wurde auch das Abtragen von Ameisenhaufen untersagt.57

d) Wasser An Wasser mangelte es im Hochtal in der Regel nicht. Eine Schwierigkeit bestand allerdings darin, einem zeitweiligen Übermass bzw. Mangel an Wasser beizukommen. So drohte gelegentlich ein übermässiger Wasserfluss. Gegen überbordende Bäche suchte man sich zunächst mit dem Säubern und Entsteinen der Bachbetten zu schützen. Das Wuhren, also die Säuberung der Bachbetten und die Errichtung von Uferschutzbauten, war eine alte Pflicht der Talleute. Als die Schirmorte 1413 den Streit zwischen Kloster und Talleuten schlichteten, hielten sie ausdrücklich fest:58 [...] die Tallüt süllent ouch in dem iar vier krütztag tuon, daz sy in dem bach oder grunde süllent gan, und darus stein werffen nach des Gotzhus nutzen, und darzuo süllent Inen ouch die Herren helffen, als das von alter har komen ist.

Die Talleute mussten ihrer Wuhrpflicht mindestens an vier Tagen im Jahr nachkommen. Die Arbeiten an den Kreuztagen wurden im Prozessionsrahmen (Bachpro55 56 57 58

Vgl. ETP 11.239–240. Vgl. ETP 14.174–175. Vgl. ETP 14.464–467 und 15.177. Zitiert nach der Edition in Gfr. 11, 1855, 203–204.

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zessionen) durchgeführt. Drei Bachbette wurden alljährlich zu einem jeweils festgelegten Zeitpunkt gesäubert: der Mühlibach (zwischen Aeschi und Mühlimatt), der Dürrbach (von der Brücke unterhalb des Eggli bis zum Ort) und die bereits erwähnte Aa bis zur Ulrichsbrücke. Die einzelnen Prozessionen wurden mit Feiern in der Klosterkirche eröffnet und abgeschlossen, auf dem Hin- und Rückweg betete man die Muttergotteslitanei oder den Rosenkranz. Die Arbeiten am Bachbett wurden durch den Pfarrer organisiert und beaufsichtigt. Der kultisch-symbolische Rahmen der Bachprozessionen verdrängte beinahe den ursprünglichen Zweck der Prozessionen: Die Bachbetten wurden nur noch in Ausnahmefällen von schweren Steinen gesäubert.59 Abt und Gericht konnten die Talleute aber auch für ausserordentliche Wuhrarbeiten heranziehen. Insbesondere an der Engelberger Aa wurden die Talleute regelmässig in die Pflicht genommen. So musste 1673 ein Abschnitt der Aa dringend ausgebessert werden. Andres Dillier, der Anstösser am betreffenden Abschnitt, erklärte vor Gericht, „das werk sie [sei] ihm allein zu schwer, so könn er auch nicht wider den gwalt des wassers.“ Die Talleute beteiligten sich aber nur ungern an solchen Arbeiten. Noch im selben Jahr musste Abt Ignaz Betschart feststellen, dass sich viele Familien an den Arbeiten nicht beteiligt bzw. Hilfskräfte geschickt hatten, die für solche Verrichtungen untauglich waren. Peinlich war auch die Tatsache, dass selbst Gerichtsherren bzw. ihre Familien den Wuhrarbeiten ferngeblieben waren. Das Versäumnis zeigte bald schädliche Folgen: Ein Hochwasser verursachte grossen Schaden, bestehende Wehren und eine Brücke wurden vom reissenden Strom mitgerissen. Die Talleute liessen sich aber davon nicht beeindrucken: Als im folgenden Jahr das mit Geschiebe aufgefüllte Bachbett gesäubert werden sollte, wollten wiederum einige ihre Mithilfe verweigern. Dem Gericht wurde berichtet, „es sie ein murren bei etwelchen, die da meinen, man könn sie nit zwingen, alhier zuo arbeiten.“ Die widerspenstigen Talleute lenkten erst ein, als Abt Ignaz Betschart andeutete, er werde in dieser Sache die Schirmorte zum Schiedsspruch anrufen.60 1696 blieben einige Talleute den befohlenen Säuberungsarbeiten an der Engelberger Aa und am Dürrbach wiederum fern. Dieses Mal belegte das Gericht die Fehlbaren mit Bussen. Die Streitereien um die Wuhrpflicht setzten sich im 18. Jahrhundert unvermindert fort. So weigerten sich 1729 einige Talleute, die Aa bis zur Ulrichsbrücke zu säubern. Ihrer Ansicht nach endete ihre Wuhrpflicht bereits weiter bachaufwärts im Ort, beim Zusammenfluss von Aa und Dürrbach. Abt und Gericht schenkten diesen Einwänden allerdings kein Gehör. 1734 schliesslich regte Abt Emanuel Crivelli an, 59 Vgl. Hess (1951: 196–197). 60 Vgl. ETP 3.210–212 und 3.229.

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die Aa in vier Abschnitte zu teilen: Jeder Engelberger Ürte (Mühlibrunnen, Oberberg, Niederberg und Schwand samt Unterberg) wurde ein eigener Abschnitt zum Unterhalt zugewiesen. Eine vergleichbare Unterteilung wurde auch für den Dürrbach vorgenommen.61 Die Wuhrarbeiten am Dürrbach gaben nicht weniger Anlass zu Streit. Gemeinde und Anstösser stritten sich dauernd über die Frage, ob die Gemeinde im besagten Bachabschnitt nur säubern oder auch wehren müsse. Abt und Gericht hatten alle Mühe, zwischen beiden Parteien zu vermitteln. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung wurde sicherlich 1789 erreicht, als die Talleute am 10. Mai 1789 eine ausserordentliche Talgemeinde abhielten. Abt Leodegar Salzmann verzichtete wohlweislich auf eine Teilnahme. Dem Abt wurde daraufhin berichtet, „was für tumult und unordnung in ihrer [der Talleute] thallgemeindt underloffen und von darumben nichts wohlbedachtes und überlegtes habe können abgeschlossen werden“.62 Die Widerspenstigkeit einiger Talleute mag befremdlich erscheinen. Sie wird hingegen verständlicher, wenn man um den damaligen Grundsatz beim Hochwasserschutz weiss: Jeder Anstösser eines Baches war für das Wuhren an seinem Bachabschnitt selbst verantwortlich. Die Wuhrpflicht war also mit dem entsprechenden Gut verbunden: Die Kaufbriefe führten genau an, wieweit sich die Wuhrpflicht eines jeweiligen Gutes erstreckte. Güter, die an Bäche angrenzten, konnten günstiger erstanden werden, da ihre Gefährdung durch Hochwasser und die Wuhrpflicht mitberücksichtigt wurden.63 So erklärt sich auch der Unwillen mancher Talleute, den Anstössern Arbeit und Zeit kostenlos zur Verfügung zu stellen. Wohl befürchteten manche auch, dass die allgemeine Wuhrpflicht nicht alleine auf die drei Bachabschnitte der Aa, des Dürrbachs und des Mühlibachs beschränkt bleiben könnte. Privatpersonen waren sogar für den Unterhalt grösserer Wehren alleine verantwortlich, „allgemeine noth iedoch und hochobrigkeitlicher rueff und befälch vorbehalten“.64 So mussten die Alpgenossen bzw. später die Besitzer der Eien den Unterhalt einer grossen Wehr gegen die Aa selbst besorgen. Die sogenannte Kastenwehr oder Grosse Wehr war eine lange Mauer von 1 m Höhe und Breite, die sich von der Buschenfurre aus (talabwärts und landeinwärts) erstreckte. Da der Weg in die hintere Eien durch die Wehr hindurchführte, musste für die Lücke eine entsprechende Schliessvorrichtung gebaut werden.65 Die Grosse Wehr schützte fast den 61 Vgl. ETP 4.387–388 und 9.469–471, sowie Hess (1951: 196–197). 62 Zu den Geschehnissen von 1789 und ihrer Vorgeschichte vgl. ETP 13.282–283, 14.204– 206, 14.220–221, 14.222, 14.231, 14.235–237, 16.274–278 und 16.580–588. 63 Besonders deutlich wurde dieser Sachverhalt beim Verkauf der Alp Eien, vgl. Hess (1951). 64 Vgl. ETP 16.274–278. 65 Zur grossen Wehr siehe Hess (1951: 190).

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gesamten Oberberg vor Überschwemmungen. Schon 1663 sind Wasserwehren bei der nahegelegenen Wegscheid belegt.66 Im beschriebenen Ausmass wurde die Wehr allerdings nach dem Unwetter von 1762 errichtet. Bereits 1765 musste der Bau der Grossen Wehr abgeschlossen sein, da deren Unterhalt den Eienbesitzern gemeinsam zugewiesen wurde.67 Wer das Ufer der Aa wehren musste, hatte Anspruch auf entsprechende Holzrechte, um die Wehren erstellen zu können. Die Holzrechte für Wasserwehren waren ebenfalls fest mit dem jeweiligen Gut verbunden.68 Allerdings war die Holznutzung am Ufer selbst besonderen Beschränkungen unterworfen. So klagte Gerichtsherr Sepp Anton Amstutz 1773 Geni Anton Dillier an, weil dieser [...] die ehrlen und stauden bei und sogar innert denen selben [Wehren] weghauwen und gentzlich ausreüthen wolle, zu und für er [Amstutz] vermeine, dass selber nit solte befüegt sein oder berechtiget, dieweilen ersagte stauden und ehrlen besonders deren selben wurtzen nit wenig zum schirm und befestigung der wehrenen selbsten dienen.

Es war unbestritten, dass die Anstösser für das Säubern und Wehren der Bäche verantwortlich waren.69 Schwieriger gestaltete sich die genaue Abgrenzung der jeweiligen Wuhrpflicht. 1762 traten die Besitzer der Hostatt (im Niederberg) und des Auli vor Gericht, weil sie sich nicht über das Wuhren am Erlenbach einigen konnten. Da die Hostatt um einiges mehr wert als das Auli war, legte das Gericht die Wuhrpflicht im Verhältnis von 2:1 fest.70 1786 gerieten die links- und rechtsufrigen Anstösser der Eien wegen ähnlicher Schwierigkeiten in Streit: Die Anstösser waren sich uneinig darüber, wer den Bachgraben der Aa bis zu welcher Grenze zu säubern habe.71 Besondere Schwierigkeiten ergaben sich, wenn die Allmend an einen Bach grenzte. Hier stritten sich die Gemeinde und die privaten Anrainer um die jeweiligen Wuhrpflichten: Genau darauf waren auch die unzähligen Auseinandersetzungen bezüglich der Wuhrpflicht am Dürrbach zurückzuführen. Wer seinen Wuhrpflichten nicht oder nur nachlässig nachkam, wurde von Abt und Gericht in die Pflicht genommen. So musste das Gericht 1691 feststellen, dass Andres Dillier die Aa nur unzureichend gewehrt hatte, so dass der Bach bereits einige Landstücke seines Guts mitgerissen hatte. Dadurch wurde auch eine bachab-

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Unklar ist hier die Bezeichnung »hinter« der Wegscheid, vgl. ETP 2b.696. Vgl. ETP 13.225, 13.298–299, 16.405–407, 16.424–441 und 18.32–33. Vgl. ETP 11.612–613, 14.370–371, 14.400–401 und 17.339–340. Vgl. ETP 16.15–18, ferner auch ETP 14.298–299. Vgl. ETP 14.184–186. Vgl. ETP 16.466–469.

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wärts gelegene Brücke gefährdet. Dillier musste sich verpflichten, das Versäumte rasch nachzuholen.72 Das Hochtal wurde allerdings nicht nur von Aa, Dürrbach und Mühlibach durchflossen, sondern auch von vielen kleineren Wasserläufen. In kleinerem Ausmass stellten sich hier ähnliche Probleme. Wer die Bachgräben und –ufer auf seinem Grundstück ungenügend unterhielt, gefährdete auch die bachabwärts gelegenen Güter. So musste Joachim Häcki 1763 gegen Geni Niklaus Töngi klagen, dessen Gut weiter bachaufwärts lag. Töngi hatte den Bau einer Wehr versprochen, aber lange hinausgezögert. Das Gericht hielt Töngis Versäumnis „für ein grosse nachlässigkeit oder gar für ein bosheit“ und ordnete die sofortige Errichtung der Wehr an.73 Umgekehrt konnte eine bachabwärts gelegene Wehr den Abfluss des Wassers erschweren, so dass die bachaufwärts gelegenen Güter Schäden zu gewärtigen hatten.74 Sicheren Schutz vor Hochwasser boten aber auch die Wehren nicht. Schmerzlich mussten dies die Besitzer der Widen während des Hochwassers vom 29. Juni 1781 erfahren. Während des Unwetters war der Graben des Dürrbachs derart von Geschiebe aufgefüllt worden, dass das Gericht die Öffnung einer Wehr oberhalb der Widen anordnete, um den Abfluss des Wassers zu erleichtern. Die geschädigten Besitzer fügten sich nur mit grossem Unwillen.75 Ebenso folgenreich wie das Wehren konnte das Verändern der Bachgräben sein. So hatte Baschi Töngi 1650 den Lauf eines Baches so verändert, dass das bachabwärts gelegene Gut Kaspar Kusters stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der Bach liess Kusters Land versumpfen, schwemmte Geschiebe heran und bildete im Winter unerwünschte Eisflächen. Ähnliche Vorwürfe wurden 1683 an den Besitzer des Widerwäll, Michel Plazi Müller, gerichtet: Er hatte den Schuomettlenbach offenbar so umgeleitet, dass die Landstrasse (d.h. die Hauptstrasse des Tals) regelmässig von Wasser überschwemmt und mit Eis bedeckt wurde.76 Manche Bauern legten Wassergräben auf ihren Gütern an, um den Abfluss des Regenwassers zu beschleunigen. Unterhalb gelegene Güter konnten aber von solchen Wassergräben Schaden leiden: So beklagte sich Hans Melcher Kuster 1726 über ebensolche Wassergräben, „welche das Wetterwasser dermassen starck zusam gezogen, dass ihm in seine Güäther Sand heraus gefüörth“. Umgekehrt musste sich 72 73 74 75 76

Vgl. ETP 4.308. Vgl. ETP 14.409. Vgl. ETP 4.517–518. Vgl. ETP 16.278–281. Vgl. ETP 2b.517–518 und 4.173. Ähnlich auch ETP 19.247–248.

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Balzer Zniderist 1673 beschweren, dass ein anderer Talmann ihm seinen Wassergraben mit ungeästeten Stämmen verstellt hatte. Der Abfluss des Regenwassers war dadurch behindert und Zniderists Land übersart worden.77 Ziemlich kühn ging Sepp Anton Häcki 1774 vor. Er sprengte im Rotigraben kurzerhand einen grossen Stein weg, um das abfliessende Wasser umzuleiten. Keine Freude an der neuen Wasserführung hatten allerdings die bachabwärts wirtschaftenden Bauern.78 Überhaupt beschäftigten grosse und kleine Bachumleitungen regelmässig die Gerichte. Häufig wurde die Rückführung des Baches in den ursprünglichen Graben angeordnet. Umgekehrt wollte das Gericht bachaufwärts liegende Güter nicht verpflichten, Bäche von ihrem hergebrachten Lauf umzuleiten, auch wenn bachabwärts liegende Güter dadurch geschädigt wurden.79 War auch der Verlauf des ursprünglichen Grabens umstritten, mussten die Gerichtsherren vor Ort entsprechende Wassermarchen setzen. Der Bachverlauf wurde bis auf das Klafter genau vermessen und amtlich protokolliert.80 Unabsehbare Folgen führte auch das Anlegen von Gärten mit sich. So beabsichtigte Sepp Anton Kuster 1768, in der unteren Erlen 100 Klafter Weideland in Garten umzuwandeln. Die Besitzer der bachabwärts gelegenen Güter befürchteten allerdings, dass das Aufbrechen der Erdscholle ihren Gütern schaden würde: Beim nächsten Hochwasser würde die Erde weggeschwemmt, der Graben aufgefüllt und ihr Land überschwemmt werden. Das Gericht hielt diese Befürchtungen für berechtigt und untersagte Kuster die Umwandlung seines Weidelands. Bisher war die Rede von einem Übermass an Wasser. Doch einige Talgüter litten auch unter Wassermangel. In diesem Fall mussten die Viehherden ausserhalb der eigenen Güter getränkt oder Wasserleitungen erstellt werden. Solche wurden im Talboden und auf den Alpen vielerorts angelegt. Der früheste Beleg für Wasserleitungen geht auf das 14. Jahrhundert zurück.81 Die Leitungen wurden zunächst offen als sogenannte (Wasser-)Kennel verlegt, später auch unterirdisch in geschlossenen Holzröhren, den sogenannten Dünkel(-Leitungen). Die unterirdischen Dünkel waren beliebter, weil sie das Nutzland nicht verstellten und das Wasser darin weniger leicht gefrieren konnte.82 Wasserleitungen wurden gebaut, um Tränkwege zu ersetzen. Diese waren nicht nur beschwerlich für den Bauer, der sein Vieh über längere 77 Vgl. ETP 3.210 und 9.334–335. 78 Vgl. ETP 16.117–124. 79 Vgl. ETP 14.426. 80 Vgl. ETP 3.241–242, 4.97–98, 11.53, 11.205–206 sowie 19.38–40, 19.38–40 und 19.55–58. 81 Zu den folgenden Ausführungen vgl. De Kegel (1993: 11–19). 82 Vgl. ETP 16.10–14.

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Strecken treiben musste, sondern auch für jene Grundbesitzer, über deren Liegenschaft die Tränkwege führten. Die Anstösser eines Baches konnten den Verlauf und die Ausdehnung der Leitungen im Konsens festlegen. So einigten sich 1770 die Besitzer der beiden Güter im oberen Bord, wer die Dünkelleitungen mit dem Näpper (Dünkelbohrer) ausbohren, verankern und reinigen müsse.83 Doch prallten gegenläufige Interessen auch beim Bau von Wasserleitungen aufeinander. So beschwerte sich 1647 Andres Kuster, der Besitzer der Obermatt, über die Umleitung des Schuomettlenbachs, die Hans Müller, der Besitzer des Widerwäll, vorgenommen hatte. Der bachabwärts gelegene Kuster beklagte sich, dass Müller den Bach so umgeleitet habe, dass er selbst an Wasser mangle. Kuster wollte die Umleitung des Wassers erst recht nicht hinnehmen, weil die Quelle des Bachs auf Genossengebiet lag und Müller kein Genosse war.84 Ähnliche Schwierigkeiten boten sich überall dort, wo Bäche nur wenig Wasser führten. Wer weiter bachaufwärts wirtschaftete, nutzte und leitete das Wasser nach seinen Bedürfnissen. Die bachabwärts liegenden Güter konnten aber dabei buchstäblich auf dem Trockenen bleiben. Manche Bauern erhoben deshalb Anspruch auf das sogenannte Ab- oder Restwasser eines Baches. So beschwerten sich 1745 die Besitzer der unteren Flüematt über die Besitzer der oberen Flüematt, diese würden zu wenig Wasser ableiten und verschwenderisch mit dem Wasser umgehen. Wortwitzig bemerkten die Beschuldigten, es „habe der nechste bey dem wasser das beste recht, gleichwie wan wasser unden aus käme, wurden die underen auch wöllen die erste seyn.“ Sie ergänzten ferner, dass die untere Flüematt über ausreichend Wasser verfüge. Man brauche das Wasser nur vom Trog aus zu dünkeln (d.h. Dünkelleitungen zu erstellen). 85 Das Gericht musste sich 1768 mit einem ähnlichen Fall beschäftigen: Dieses Mal lagen die Besitzer des (Gross) Grüss und des Chli Grüss im Streit. Von der Fellenrüti floss nämlich Wasser ins Chli Grüss hinunter, wo es in einen Trog gefasst wurde. Der Besitzer des Grüss beanspruchte nun das Recht, das Wasser ebenfalls nutzen und auf sein tiefer liegendes Gut leiten zu dürfen. Der Besitzer des Chli Grüss erklärte hingegen, er wolle das Abwasser nur aus Güte und nicht aus Verpflichtung gewähren. Der Sachverhalt erschwerte sich weiter, als ein dritter Besitzer, jener der Stirnenrüti nämlich, ebenfalls Anspruch auf das Abwasser erhob. Erbost stellte dieser fest, dass man seinen Schluckdünkel (d.h. das Anfangsstück seiner Leitung) kurzerhand vom Trog entfernt hatte.86 Das Gericht sprach darauf ein vermittelndes Urteil, doch tra83 An dieser Stelle ist zu vermerken, dass auch Dritte gegen Lohn mit der Erstellung von Dünkelleitungen beauftragt werden konnten, vgl. ETP 2b.498 und 4.408–409. 84 Vgl. ETP 2b.462, 2b.486–487 und 2b.550–551. 85 Vgl. ETP 11.468–474. 86 Vgl. ETP 14.312–314, 14.319–320 und 16.10–14.

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ten dieselben Parteien 1773 erneut vor die Gerichtsherren. Sepp Feierabend, der Besitzer der Stirnenrüti, stellte dabei aufgebracht fest, dass er kein Wasser mehr erhalte, indemme sie aus paur lauterem eyffer und missgunst alles fleisses trachten, dass nit mehr wasser geleitet werde als just eben sie, die obere, genueg haben, und wan auch wasser für alle und somit für die Stierrenrütti da wäre, leithen sie solches bey ihren trögen mit schindlen oder kändlen über den trog hinaus, damit nichts oder doch zu wenig in den schluckhdünckhel des Klein Greüsslins-Trog kommen möge. Wollen sogar die schluckhdünckhell in ihren oberen haus und güetter trögen aus eifer und missgunst nit abbutzen lassen [...].

Feierabends Aussage verdeutlicht einen grundsätzlichen Sachverhalt: Nutzungsstreitigkeiten waren oft nicht rein wirtschaftlicher Natur. Vielmehr entluden sich nachbarschaftliche und zwischenmenschliche Spannungen oft in bäuerlichen Nutzungsfragen. Längere Wasserleitungen erheischten viel Arbeit und verursachten beträchtliche Kosten. Deshalb war der Gedanke naheliegend, solche Leitungen im Verbund zu errichten und zu unterhalten. So beschlossen 1750 die Besitzer der Güter im Espen, eine gemeinsame Wasserleitung zu bauen. Wer sich am Bau und Unterhalt der Leitung nicht beteiligte, musste ausdrücklich auf die Wassernutzung verzichten.87 Ein ähnliches Gemeinschaftsunternehmen wurde 1754 im Tellenstein unternommen. Die Leitungen mussten nach ihrer Erstellung unterhalten werden, um funktionstüchtig zu bleiben. So mussten insbesondere alte Dünkelhölzer regelmässig ersetzt werden. Wenn die Leitungen nicht periodisch überprüft wurden, waren Landschäden unvermeidlich. So mussten die Gutsbesitzer im Espen 1782 für einen Schaden aufkommen, den eine defekte Leitung im Acher bewirkt hatte.88 Ähnlich verursachten 1789 auch die Leitungen im oberen Bord Schäden in den tiefer gelegenen Gütern Barmettlen und Nassboden. Das Gericht urteilte in diesem Fall, dass die 1770 gebauten Leitungen wieder abgebaut werden müssten. Das Gericht befasste sich 1790 mit einem weiteren Schadensfall. Die Besitzer der Chalcheren und des Langacher hatten einen Wasserlauf, der zu ihren Gütern führte, in eine Dünkelleitung gefasst und waren im Begriff, den alten Wassergraben zuzuschütten. Dagegen erhob Plazi Cattani, der bachaufwärts gelegene Besitzer des Tellenstein, energisch Einspruch. Er klagte 87 Dies ergibt sich aus ETP 11.662. Markus Infanger wollte 1750 vom Bau der Wasserleitung ins Espen abstehen, doch verweigerte ihm dies das Gericht, weil er sein Gut nicht »ledig«, d.h. alleine besass. Mit anderen Worten: Das Wassernutzungsrecht war mit den einzelnen Gütern verbunden und nicht mit den Bauern, die sie gerade bewirtschafteten. Infanger konnte nicht auf das Wasserrecht verzichten, weil er nicht die volle Verfügungsgewalt über sein Gut besass. 88 Vgl. ETP 14.22, 14.23–24, 14.109–111 und 16.330–331.

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insbesondere, dass bei Hochwasser die Leitungen das Wasser nicht zu schlucken vermöchten. In der Folge würden seine Matten durch das zurückgestaute Wasser überschwemmt. Das Gericht hielt Cattanis Behauptung nicht für erwiesen. Sollte einmal ein Schadensfall trotzdem auftreten, gestand das Gericht Cattani zu, den erneuten Aushub des Grabens verlangen zu dürfen.89 Offener Widerstand trat auch zu Tage, wenn gemeinschaftlich genutzte Leitungen nachträglich verlegt oder angezapft wurden. So beschwerten sich 1790 die Besitzer der hinteren Winkelmatt über die Besitzer der vorderen Winkelmatt, weil diese die gemeinschaftlich genutzte Leitung mit einer weiteren, neugebauten Leitung angezapft hatten. Die neue Leitung schmälerte nicht nur den Wasserfluss der Hauptleitung, sondern senkte auch den Druck und die Fliessgeschwindigkeit des Wassers. Als Folge gefror das Wasser im Winter wesentlich schneller.90 Schliesslich ist noch der Waschplatz am Büel zu erwähnen. Diese Waschstelle bildete gewissermassen den Vorplatz zur Brunnenstube des besagten Weilers. Die Büelleute stauten dort von alters her das Wasser mit Holzlatten und Steinen, um „darinnen ihr kraut, gewandt oder anderes wäschen“ zu können. Die Nutzung des Platzes missfiel jedoch 1773 der Gattin des Grundbesitzers, Sepp Anton Amrhein – vom reichen Bauern war ja bereits die Rede. Amrheins Gattin warf Latten und Steine kurzerhand weg, so dass die im Wasser eingelegten Gegenstände in die Kennel der nahegelegenen Mühle weggeschwemmt wurden. Die Büelleute suchten darauf Hilfe und Unterstützung beim Abt. Dieser schirmte die Büelleute in ihrer hergebrachten Übung und verwies den Fall gleichzeitig ans Gericht. Auch die Gerichtsherren bestätigten die Büelleute in ihrem Recht und entschieden gegen ihren Mitrichter Sepp Anton Amrhein.91

e) Vieh Eine weitere wesentliche Ressource bildete das Vieh. Zum einen unterschied man den Viehstand nach Grossvieh (Pferde, Ochsen, Kühe und Rinder) und Schmalvieh (Schafe und Ziegen), zum anderen nach Melkvieh (Milchvieh) und Galtvieh (ohne Milchertrag). Weiter bestand ein Unterschied zwischen dem Alpvieh, das man im Sommerhalbjahr in die Vorsässe bzw. Alpen trieb, und dem Haus- oder Gassenvieh, das ganzjährig im Talgut (zur Selbstversorgung) verblieb. Ochsen und Pferde dienten einerseits dem Personen- und Warenverkehr, andererseits waren sie als Zugtiere bei der Verrichtung schwerer Arbeiten unerlässlich. Eine besondere Bedeutung kam den Schweinen zu: Dank dieser konnte die Restmilch nach dem Käsevorgang (die 89 Vgl. ETP 16.633–638. 90 Vgl. ETP 19.1–4. 91 Vgl. ETP 16.44–48.

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Suffi also) verwertet werden. Hunde wurden bei der Jagd eingesetzt, Hauskatzen hingegen bekämpften die Mäuseplage auf den Feldern und in den Speichern. Hühner schliesslich lieferten Fleisch und Eier. Der eigene Viehstand musste im Herbst periodisch überprüft und allenfalls abgebaut werden, falls das Rauhfutter für die Winterung des ganzen Viehs nicht ausreichte. Im Frühjahr hingegen musste der Viehstand wieder aufgestockt werden, da während des fruchtbaren Halbjahrs alle verfügbaren Ressourcen ausgeschöpft werden sollten. Deshalb mussten Bauern entweder Viehkäufe tätigen oder aber sogenanntes Zinsvieh leihen. Das Zinsvieh konnte sowohl Talbauern gehören als auch auswärtigen Viehbesitzern. Der Abschluss eines Viehkaufs bzw. einer Viehleihe war mit mannigfachen Vorsichtsregeln verbunden. Beide Parteien mussten diese Regeln kennen, um nicht übers Ohr gehauen zu werden. Zunächst konnte das Vieh beim Kauf einige Mängel aufweisen, die von blossem Auge nicht ersichtlich waren. Diese Viehmängel konnte der Käufer bzw. Ausleiher oft erst nachträglich feststellen.92 Der Verkäufer musste deshalb eine Nachwähr einräumen, d.h. er musste nach dem Kauf während einer bestimmten Frist für auftretende Viehmängel (mit)haften. Die Frist der Nachwähr dauerte ein Jahr. Verstarb das Vieh innerhalb dieses Jahres, brauchte der Käufer anstelle des Kaufpreises dem Verkäufer nur die Haut des Viehs zu übergeben. In Nidwalden wurde 1770 die Frist auf ein halbes Jahr herabgesetzt. Da Nidwalden der wichtigste Handelspartner Engelbergs war, entschieden sich Abt und Gericht für eine entsprechende Anpassung des Engelberger Rechts.93 Die Viehgeschäfte mit Obwalden gestalteten sich schwieriger: So wollte 1743 ein Obwaldner Viehbesitzer diese übliche Regelung nicht anerkennen, zum Schaden eines Engelberger Talmanns. Als die Engelberger Kanzlei den Obwaldner Landammann deshalb um Hilfe bat, verweigerte dieser seine Unterstützung. Abt und Gericht entschlossen sich darauf, bei Viehgeschäften mit Obwalden keine eigene Nachwähr mehr anzuerkennen.94 Krankheiten und Mängel aller Art konnten gekauftes Vieh befallen: Manche Leiden traten erst bei der Schlachtung des Viehs zum Vorschein. Das Gericht musste sich entsprechend häufig um Haftungsstreitigkeiten kümmern.95

92 Zur Frage der Viehmängel allgemein und ihren rechtlichen Folgen, vgl. Huber (1898: 854–858). 93 Vgl. ETP 14.418. 94 Vgl. ETP 12.202. Zur Bezahlung mit der Viehhaut auch ETP 1.205–206 und 1.366– 367. 95 Vgl. ETP 2b.31–32, 2b.509, 4.341, 11.413–414.

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Manche Kühe wechselten im trächtigen Zustand den Besitzer. Die Trächtigkeit liess allerdings den Milchertrag sinken.96 Nach dem Kalben stieg die Milchleistung der Kuh erheblich, doch musste auch für die Aufzucht des Kalbes gesorgt sein. Dieser Aufzucht liessen die Bauern übrigens alle Aufmerksamkeit zukommen: Die Aufzucht der Kälber galt – so der Bericht des Talscherers Maurus Feierabend im späten 18. Jahrhundert – als „des bauern studium“. Weiter musste der Bauer einberechnen, dass die Winterung mit Rauhfutter den Milchertrag ebenfalls herabdrückte. Sobald man mit der Grünfütterung im Frühling einsetzte, stieg jedoch der Milchertrag wieder. Aus diesen verschiedenen Parametern wurden Erfahrungsregeln gewonnen. So schien es besonders geeignet, wenn Kühe im November bzw. um Lichtmess (2. Februar) kalbten oder gleich zu Beginn der Grünfütterung.97 Wer also trächtiges Vieh verkaufen oder ausleihen wollte, musste den ungefähren Zeitpunkt des Kalbens angeben. Fiel der tatsächliche Zeitpunkt des Kalbens nicht mit dem angegebenen überein, wurden entsprechende Klagen auf Schadenersatz bald erhoben. So erlebte Sepp Feierabend 1725 eine schlechte Überraschung, als er von Hans Infanger zwei trächtige Kühe kaufte. Die Kühe hätten nach Infangers Angaben am Martinstag (11. November) kalben müssen, tatsächlich kalbten sie jedoch erst an der folgenden Weihnachten. Andere Fälle waren peinlicher: Manchmal stellte sich heraus, dass eine als trächtig verkaufte Kuh gar nicht trächtig war. In anderen Fällen wurden Kühe als Milchkühe ausgegeben, worauf sie sich aber als trächtig erwiesen.98 Bei Geschäften mit Kühen war es auch üblich, den ungefähren Milchertrag einer Kuh anzugeben. Doch auch hier klafften zwischen den Angaben und der Wirklichkeit manchmal grosse Unterschiede. Entsprechend erbost beschwerten sich die Käufer bzw. Ausleiher des Viehs.99 Bevorstehende Viehkäufe liessen sich auch mutwillig sabotieren, indem Gerüchte über das angebotene Vieh verbreitet wurden. So wollten das Kloster und einige Talleute 1675 gemeinsam einige Kühe nach auswärts verkaufen. Dieser Verkauf war allerdings Jakob Langenstein ein Dorn im Auge. Der reiche Bauer erzählte den möglichen Käufern, dass die Kühe des Klosters zwar stattlich seien, nicht aber jene der Talleute. Ausgesprochen zornig wandte sich darauf der geschädigte Hans Gerster gegen Langenstein. Gerster bemerkte, es wäre besser ein Wolf im Tal als Langenstein und ergänzte, er würde lieber einem Türken eine Schuld geben als Langenstein.

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Vgl. Pfister (1984, I: 53). Vgl. Schürmann (1974: 209). Vgl. ETP 2a.9, 2b.80, 4.342–343, 4.344–345 und 9.419–420. Vgl. ETP 2b.410–411, 4.58, 4.286 und 4.341.

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Das Gericht untersagte Langenstein, der übrigens Statthalter des Gerichts war, sein geschäftsschädigendes Gebaren.100 Zusätzliche Schwierigkeiten ergaben sich beim Handel mit Zinsvieh. Wer Vieh leihen wollte, begutachtete das entsprechende Vieh nach Möglichkeit vorgängig, um späteren Überraschungen vorzubeugen. Viehpächter hatten allerdings wenig Freude daran, wenn sie dann anderes Vieh erhielten. So erging es Ignaz Müller, der 1702 von Kaspar Haas vier Kühe zum Zins von 44 Gulden auslieh. Ein anderer Pächter hatte Haas offenbar ein besseres Angebot unterbreitet, so dass er die vier Kühe diesem überliess und Müller mit minderwertigen Kühen bediente. Mit schlechten Kühen musste sich 1785 auch Melcher Müller abgeben, wobei er die Bezahlung des vollen Zinses entschlossen verweigerte.101 Auch über die genaue Dauer der Viehpacht konnten nachträglich Uneinigkeiten auftauchen. Selbstredend sah es ein Viehpächter ungern, wenn der Viehbesitzer ihm das Pachtvieh vorzeitig abzog. So erlitt Hans Müller 1649 einiges Ungemach, als er von Melcher Amrhein Vieh lieh. Das Vieh kalbte zum falschen Zeitpunkt, lieferte weniger Milch als versprochen und wurde ihm noch vorzeitig durch den Viehbesitzer abgezogen. Ähnliche Fälle kamen regelmässig vor.102 Doch auch der Viehbesitzer ging bei der Pacht erhebliche Risiken ein. Wenn jemand auswärtiges Zinsvieh beziehen wollte, musste er in der Regel eine Bürgschaft für das Vieh stellen. Die Bürgschaft erfolgte in Form einer Versicherung. Verwickelte Folgen ergaben sich dann, wenn der Bürge zwischenzeitlich in den Auffall geraten war. Unter Umständen ging der Viehbesitzer leer aus.103 Während das vorzeitige Abholen des Viehs im Herbst den Pächter schädigte, so erlitt umgekehrt der Viehbesitzer Einbussen, wenn der Pächter das Vieh vorzeitig abholte.104 Vor allem musste der Viehbesitzer Einbussen gewärtigen, wenn der Pächter nachlässig mit dem Vieh umging. Oft wurde das Ertrohlen, also das Abstürzen von Vieh in steilem Gelände, dem Pächter als Schuld angerechnet. Brach sich das Stück Vieh dabei ein Bein, so brauchte es aufwendige Pflege: Gras musste gemäht und zum kranken Tier gebracht werden, dessen verletzte Glieder mit Rinden geschient wurden. Meistens aber fiel eine Notschlachtung günstiger aus. Manche Viehbesitzer beschwerten sich, der Pächter habe sein Vieh nicht auf die versprochenen Weiden getrieben, sondern auf abschüssige Halden. Dem Gericht oblag es dann zu urteilen, wie gefährlich diese oder jene Weide einzustufen war. Oder aber 100 Vgl. ETP 4.4–7. 101 Vgl. ETP 4.471–472 und 16.414–419. 102 Vgl. ETP 2b.501 oder 16.221–225. 103 Vgl. ETP 11.595–600. 104 Vgl. ETP 3.109.

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der Viehpächter hatte das Vieh nicht – wie versprochen – selbst gehütet, sondern einem Knaben anvertraut. Andere pachteten Vieh und überliessen es unrechtmässig an Dritte zur Nutzung. Unsachgemässe Fütterung schadete dem Vieh ebenfalls: So beschwerte sich Michel Barmettler 1785 über Melcher Müller, dieser habe ihm sein Vieh mit Streu statt mit Heu gefüttert.105 Auch beim Handel mit Schafen kamen ähnliche Konflikte vor. Schafe wurden bisweilen an andere Bauern zur Fütterung übergeben. In diesem Fall bezahlte der Besitzer einen Zins für die Fütterung und die Hut seines Viehs. Waren die Schafe jedoch schlecht gehütet worden, verweigerten die Besitzer die vollständige Zahlung des versprochenen Zinses. Auf wenig Verständnis stiessen ferner die Verkäufer von Schafen, welche nach Abschluss des Kaufs die Schafe schorten und so die neuen Besitzer um die Wolle brachten.106 Wenn Viehseuchen drohten, wurde die Einfuhr auswärtigen Viehs untersagt. Während das Grossvieh im 17. und 18. Jahrhundert keiner grösseren Seuche zum Opfer fiel, erkrankte das Schmalvieh mehrfach an seuchenartigen Leiden. So brach 1627 eine Ziegenseuche im Tal aus, worauf Abt und Gericht für dieses Vieh die Stallpflicht anordneten. Krankes Vieh musste aus dem Tal gebracht oder getötet werden. Auch 1641 wütete wieder eine Ziegenseuche. Dieses Mal ging man der Frage nach, wer das kranke Vieh ins Tal geführt und das gesunde Talvieh dadurch angesteckt hatte. Trotz mancher Verdächtigungen und Befragungen gelang es jedoch nicht, den oder die Fehlbaren haftbar zu machen.107 Um allerlei Ansteckungen zu vermeiden, war verendetes Vieh gründlich zu vergraben. Wer dieser Forderung nicht nachkam und die leblosen Tierkörper liegen liess, musste mit einer entsprechenden Busse zählen. So beklagte sich 1683 eine schwangere junge Frau, eine ungenügend verscharrte Pferdeleiche verbreite im Wald schrecklichen Gestank und habe sie in Atemnot gebracht.108 Umgekehrt wurde die Ausfuhr von Schlachtvieh verboten, wenn sie die eigene Versorgungslage verknappte. Besonders in den 1790er Jahren musste darauf geachtet werden, die Selbstversorgung im Tal nicht durch übermässigen Viehhandel zu gefährden.109

105 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155 und – als Beispiel – ETP 4.384–385. Ferner ETP 2b.176– 177, 2b.350–351, 2b.465–466, 4.20–21, 4.184–185, 9.283, 9.286–287, 9.329–331 und 16.221–225. 106 Vgl. ETP 9.286–287 und 14.33–34. 107 Vgl. ETP 2a.66b-67, 2a.70b-71, 2a.72, 2b.341–342 und 2b.359–362. 108 Vgl. ETP 2b.556–557 und 4.157–159. 109 Vgl. ETP 20.96–99, ferner auch ETP 14.457–458.

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Vieh war im Tal und auf den Alpen zahlreich vorhanden. Entsprechend wurden die Tiere mit Zeichen versehen, welche die Zugehörigkeit eines Tiers anzeigten. Meistens wurden wohl identifizierbare Schnitte und Löcher in die Ohren der Tiere eingeschnitten.110 Manche suchten sich fremdes Vieh unrechtmässig anzueignen, indem sie dieses mit ihren eigenen Zeichen versahen. Der geprellte Besitzer hatte es dabei nicht einfach, die Entwendung zu beweisen. Als Eigentumsmarken konnten auch Tricheln (Viehglocken) dienen. Wenn jemand fremdem Vieh die Tricheln abnahm, war bald Verdacht geschöpft.111 Übrigens trugen die Kühe und Rinder auch eigene Namen. Beiläufig wird in einem Gerichtsprotokoll von 1779 der Kuhname »Walpi« erwähnt.112 Mit der Umzeichnung von Vieh wurde der Viehraub bereits angedeutet. Der Viehraub konnte verschiedene Formen annehmen und war auch nicht immer klar festzustellen. Zu den harmloseren, wenn auch strafbaren Vergehen gehörte das Melken fremden Viehs.113 Schwieriger war die Sachlage bei ausgerissenem Vieh zu beurteilen. Der Finder bewahrte das aufgefundene Vieh zunächst bei sich selbst: Die Grenze zwischen Verwahren und Entwenden war schwammig.114 Wer ein Stück Vieh vermisste, suchte es entweder selbst oder beauftragte einen Helfer, dem dafür ein Finderlohn versprochen wurde. Manchmal machten sich solche Helfer verdächtig, wenn sie den Standort des Viehs bereits kannten, ehe sie die Suche begonnen hatten. Andere tauchten mit einem Stück Vieh auf, das gar nicht das verlorene war.115 Offensichtlicher und absichtlicher Viehraub kam gelegentlich vor. In solchen Fällen wurde fremdes Vieh mit Wissen und Willen entführt und oft gleich geschlachtet. So mussten sich Sepp Zniderist sowie Anton und Kaspar Waser 1713 vor Gericht verantworten, weil sie auf den Urner Alpen im Surenental vier Ziegen entwendet und darauf gebraten hatten. Neben einer Haftstrafe verpflichtete sie das Gericht zur sinnigen Strafe, den Galgenplatz fein säuberlich von Unkraut freizumachen.116 Wenn sich Vieh beim Weidgang verletzte, waren Haftungsforderungen rasch gestellt. Da Schafe und Ziegen oft über den Kuhweiden in unwegsamem Gelände weideten, lösten sie nicht selten Steinschlag aus. Wurde weiter unten weidendes Vieh von herunterfallenden Steinen erschlagen, forderten die Besitzer Schadenersatz von den Schmalviehbesitzern. Ziemlich schwierig war es allerdings herauszufinden, welches 110 Zur Zeichnung des Viehs vgl. allgemein Weiss (1992: 114–118). 111 Vgl. ETP 7.559–562, 7.615–620 und 9.78–80. 112 Vgl. ETP 16.221–225. 113 Vgl. ETP 3.226–227 und 11.616–618. 114 Vgl. ETP 2b.483, 4.13–14 und 4.455. 115 Vgl. ETP 2b.130 und 14.19–20. 116 Vgl. ETP 2a.85b-86, 7.309–318, 7.344–346 und 11.655–658.

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Schmalvieh welchen Stein ins Rollen gebracht hatte. Ähnliche Forderungen auf Schadenersatz wurden gestellt, wenn Vieh bei Holzarbeiten von fallenden Baumstämmen verletzt wurde. Auf den Alpen konnten Stiere für das übrige Vieh zur tödlichen Gefahr werden, wenn es von diesen angegriffen wurde. Stürzte ferner Vieh auf Genossengebiet abschüssige Hänge hinunter, wurden die Bannwarte (d.h. die Alpaufseher) bald wegen versäumter Einfriedungen zur Rechenschaft gezogen. Gegen eine solche Forderung musste sich etwa Christian Cattani als Bannwart von Obhag 1726 zur Wehr setzen. Er erklärte, „dass kein einziger im gantzen Thal das Bahnwarthenambt versehen wolte noch könte“, wenn man ihn für einen solchen Schaden haftbar mache.117 Das Vieh wurde bisweilen auch von ( Jagd-)Hunden gehetzt, gebissen oder sogar zerrissen. Die Viehbesitzer griffen in solchen Fällen ohne langes Zögern zum Gewehr. Das Gericht musste entsprechende Klagen wegen mutwillig oder versehentlich (auf der Jagd) erschossener Hunde entgegennehmen. Auch Hühner, die auf ein fremdes Grundstück gelangt waren, wurden kurzerhand erschossen.118 Tiere wurden ansonsten selten mutwillig verletzt. Manche Tiere wurden von gewissen Weideflächen „mit retschen, steübben und unzimlichem sprengen“ verscheucht, also durch Lärmen, Bewerfen und Hetzen. Im Zorn wurde das eine oder andere Tier geschlagen oder zu Tode gehetzt.119

f ) Einfriedungen und Marchen Nutzungskonflikte ergaben sich meist dann, wenn mehrere Berechtigte ihre Nutzungsbereiche voneinander abgrenzen mussten. Augenfällig wurden die Abgrenzungen durch die Einfriedungen, sei es in Form von Holzzäunen oder Steinmauern. Die Einfriedungen waren zu respektieren und schadlos zu halten. So bestimmte das Talbuch von 1582 in Art. 59:120 Welcher dem anderen ein Lückhen aufthuet oder ein thürlin & nit wider zuethuet & vermacht, der soll verfallen seyn um 1 Pf. seinem sächer. beschicht auch schaden da, den soll er abtragen.

Wer Einfriedungen öffnete und sie zu schliessen versäumte, musste für entstandene Schäden aufkommen. Manche Grundbesitzer verschlossen den einen oder anderen 117 Vgl. ETP 2a.79b-80, 2b.45–46, 2b.332–336, 2b.340–341, 3.40–41 und 9.329–331. 118 Vgl. ETP 2b.241, 4.379–380, 4.406, 9.295–298, 9.303–304, 14.207–208, 16.351, 5.71–72, 9.327–328 und 11.250–251. 119 Vgl. ETP 2a.25b, 2b.119–120, 2b.324–328, 2b.332–336, 3.46–47, 3.192–193 und 14.429–431. 120 Zitiert nach dem Talbuch von 1790.

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Durchlass auf ihr Gut, was wiederum zu handgreiflichen Auseinandersetzungen dies- und jenseits des Zaunes führte. Wer sich erfrechte, Holz von einem fremden Zaun zu entwenden, musste entsprechenden Schadenersatz leisten. Auch Zaunschäden, die etwa bei Holzarbeiten vorkamen, mussten prompt vergütet werden. Wer lawinengefährdete Güter lieh, war zum Niederlegen der Zäune verpflichtet, die sonst von den Schneemassen weggerissen wurden. Als der Holzbedarf im Tal immer grösser und der Wald immer lichter wurde, beschlossen Abt und Gericht 1771, dass Holzzäune mit Steinmauern zu ersetzen seien. Jeder Gutsbesitzer musste darauf jährlich auf zehn Klafter Zaun mindestens eine Elle Steinmauern errichten.121 Undichte Einfriedungen ermöglichten es fremdem Vieh, auf das Grundstück einzudringen und dort zu ätzen. Während die geschädigten Grundbesitzer oft eine fahrlässige oder gar absichtliche Öffnung der Zäune vermuteten, erklärten die Besitzer des eingebrochenen Viehs, die Einfriedungen seien schlecht unterhalten oder lückenhaft gewesen. Gehörte das durchgebrochene Vieh mehreren Besitzern, stellte sich noch zusätzlich die Frage, welches Stück Vieh den Zaun zuerst durchbrochen und den Weg geöffnet hatte. Wer fremdes Vieh auf seinem Grundstück beim Ätzen vorfand, sperrte es bisweilen bei sich ein, bis der Viehbesitzer um die Herausgabe des Viehs bat. Ein Streit konnte sich bis zu Handgreiflichkeiten steigern. Für heftige Auseinandersetzungen war auch gesorgt, wenn Grundbesitzer und Viehbesitzer beim durchgebrochenen Vieh unmittelbar aufeinandertrafen. Der Streit konnte mit Beschimpfungen oder gleich mit den Fäusten ausgetragen werden. So war 1756 das Vieh Geni Wasers auf das Grundstück Anton Amrheins eingedrungen. Als Wasers Frau das durchgebrochene Vieh wieder zurücktreiben wollte, eilte bereits Amrheins Frau herbei und schwang ihr einen Besen über den Kopf. Zu den streitenden Frauen kam nun Anton Amrhein selbst hinzu, packte Wasers Frau am Hals und schleppte sie von seinem Grundstück weg. Wasers Frau wurde darauf bettlägerig, klagte über Schluckschmerzen und berichtete von blutiger Speie. Ein Zeuge der Gegenpartei erklärte hingegen vor Gericht, er wisse nicht, ob Amrhein ihr bloss „flö abgelesen old ihme [Wasers Frau] wehe gethan habe.“ Selbst Geissbuben waren vor roher Gewalt nicht gefeit. So wurde 1763 dem Gericht eine Auseinandersetzung zwischen Katharina Zniderist und dem Geissbuben Anton Kusters gemeldet. Zeugen berichteten, Zniderist habe „dem knaben das stäckhli [Hirtenstecken] genommen und ihne zu boden geschlagen“.122

121 Vgl. ETP 2b.25–26, 2b.282–283, 2b.399, 3.89–90, 4.83–84, 4.185–186, 4.517, 14.468–474, 16.405–407, 16.558–559 und 20.85–86. 122 Vgl. ETP 2a.82–82b, 2b.678, 3.19, 3.57, 3.89–90, 4.219–220, 9.38–42, 9.233–235, 14.53–56 und 14.211–212.

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Nicht nur die Einfriedungen waren umstritten, sondern oft auch der genaue Verlauf der Marchen. Unsicherheiten über den Marchenverlauf konnten auf Dauer nicht bestehen bleiben, zumal wenn Interessenkonflikte bestanden oder eines der angrenzenden Güter den Besitzer wechselte. In solchen Fällen wurden zunächst die Gülten herangezogen: Diese beschrieben meist sehr genau, welches Landstück ihnen als Grundpfand diente. Bisweilen waren die Gülten unklar oder widersprachen einander, manchmal wurde auch die Rechtskraft einer Gült bestritten bzw. auf einen Fehleintrag des Kanzlers zurückgeführt, der die Fertigung der Gült vorgenommen hatte. In diesen Fällen holte das Gericht Kundschaft ein. So befragte das Gericht 1679 den greisen Jörg Dillier, ob er über den Marchenverlauf zwischen Widerwäll und Rosshimmel Genaueres wisse. Dillier berichtete darauf, was ihm „sin Vatter erzelt, undt habs von dess Georgen Grossvatter naher, der im Raht [Gericht] anno 1600 gsi sie“.123 Weiter als zwei Generationen reichte jedoch das mündlich tradierte Wissen nicht. Oft musste das Gericht bzw. ein Gerichtsausschuss vor Ort einen Augenschein nehmen und die Revision der Marchen in Angriff nehmen. Während der Winterszeit konnten wegen der Schneedecke oft keine Marchrevisionen vorgenommen werden: In solchen Fällen musste die Schneeschmelze abgewartet werden. Die Revision fand meist in Anwesenheit der betroffenen Grundbesitzer statt. In heiklen Fällen waren der Konvent, das Gericht und die Talleute mit je eigenen Ausschüssen vertreten. Selbst die Äbte waren sich nicht zu schade, sich einen Weg durch den Wald zu schlagen und an Marchrevisionen teilzunehmen. Es spricht für das Herrschaftsverständnis der »Hochwürdigen Gnädigen Herren«, wenn sich z.B. Abt Emanuel Crivelli 1748 im Wald der Hüttstett den Marchenverlauf vor Ort erklären liess.124 Alte Marchzeichen wurden gesucht und aufgefrischt, neue gesetzt. Nach Möglichkeit wurde in grösseren Steinen ein Kreuz eingemeisselt. Die Schrittzahl zwischen den einzelnen Marchzeichen wurde protokolliert und mit der jeweiligen Himmels- bzw. Blickrichtung ergänzt. Wurde ein Marchenverlauf gerichtlich geändert, mussten die Gülten entsprechend umgeschrieben werden. Die Marchrevisionen wurden derart häufig verlangt, dass Abt Maurus Rinderli 1725 die Bildung eines dauernden Ausschusses für Marchfragen anregte. Es kam vor, dass der Verlauf von Einfriedungen nicht der Marchgrenze entsprach. Oft war kaum auszumachen, ob Unwissen oder unlautere Absicht zur falschen Zäunung geführt hatte. Grundbesitzer neigten besonders zur unrechtmässigen Erweiterung ihres Grundstücks, wenn sie an der Allmend angrenzten. Bei der Allmend war die gegenseitige Kontrolle der Anstösser schwächer ausgeprägt. War eine Ein123 Vgl. ETP 4.74. 124 Vgl. ETP 12.318–325.

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friedung mit Wissen und Willen unrechtmässig verlegt worden, sprach das Gericht schwere Bussen aus. So musste Melcher Vogel 1705 wegen eines verlegten Zaunes satte 100 Gulden Busse bezahlen. Die Marchen im Hochtal gestalteten sich schwierig, weil die Grundbesitzmarchen nicht immer mit den Gültmarchen zusammenfielen. So hatte Baschi Hess beide Ägertli erworben und den Zaun 1683 zwischen beiden Gütern weggelegt. Abt Gregor Fleischlin beanstandete jedoch diese Entfernung, da auf den vormals getrennten Gütern unterschiedliche Gülten lasteten. Der Abt fürchtete offenbar, dass der fehlende Zaun Streitigkeiten bezüglich der Gültgrenzen zur Folge hätte. Neue Marchen andererseits liessen sich nicht so einfach setzen. So beantragten Franz Waser und Sepp Kuster 1763 die Setzung einer neuen March: Beide hatten gemeinsam Anteil am selben Wald, doch fiel ihnen die gemeinsame Nutzung oft schwer. Sie sprachen sich also für eine klare Teilung des Waldes aus. Das Gericht lehnte ihren Antrag jedoch mit der Begründung ab, dass noch weitere Talleute in diesem Wald ein Holzrecht hätten. Deren Ansprüche wären durch eine neue March gefährdet worden. Wem gehörte schliesslich die Laubstreu, die der Wind vom einen Grundstück zum anderen verfrachtete? Wem gehörten die Äste eines Baumes, die vom einen zum anderen Grundstück hinüberhingen? Auch solche Fragen waren bei Marchstreitigkeiten zu lösen.125

g) Dienstbarkeiten Unter Dienstbarkeiten sind die Verpflichtungen eines Grundbesitzers gemeint, bestimmte Nutzungen seines Gutes zu dulden. Die Dienstbarkeiten hafteten am Grundstück selbst und nicht am jeweiligen Besitzer, der diese dulden musste. Eine verbreitete Dienstbarkeit war der sogenannte Holzzug. Wenn im Wald Fällarbeiten erledigt wurden, musste das Holz irgendeinmal aus dem Wald geschaffen werden. Dabei war der Durchzug durch die Güter, die am Wald angrenzten, nicht zu vermeiden. Die Holzarbeiten wurden hauptsächlich während des Winters vorgenommen, denn während des übrigen Jahres waren die Arbeitskräfte bereits ausgelastet. Ferner waren die Schäden an den Weiden geringer, wenn das Holz auf der Schneedecke bzw. auf dem ruhenden Gras transportiert werden konnte. Die Holzzüge wurden ab dem Andreastag (30. November) freigegeben und standen bis Mitte 125 Vgl. ETP 2b.18–20, 2b.137–138, 2b.149, 2b.422–423, 2b.662, 2b.671, 2b.688, 2b.691–692, 3.124, 3.177, 3.181, 3.199, 4.61–62, 4.72–73, 4.74, 4.172, 4.214, 4.504, 7.510, 8.2, 8.72–77, 8.415–416, 8.418–421, 9.276–279, 11.32, 11.179–182, 12.318– 325, 14.210–211, 14.214–215.

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März offen. Vereinzelt wurde der Holzzug schon am Gallustag (16. Oktober) erlaubt. Gelegentlich beschwerten sich Grundbesitzer, dass die Holzarbeiter die falschen Holzzüge benutzt hätten. Andere beklagten beschädigte oder mit Holz versperrte Strassen. Auch Schäden an Gebäuden wurden bisweilen dem Gericht gemeldet.126 Zu den Dienstbarkeiten waren auch sämtliche Wegrechte zu zählen. Das leichteste Wegrecht war der Fussweg. Der Name ist selbsterklärend: Fusswege durften bei Bedarf zu Fuss gebraucht werden. So hatten viele Matten nicht nur feste Streubezirke zugeteilt, sondern auch einen festen Fussweg, der in und aus diesen Streubezirken führte. Auch beim Transport der schweren Heuburden waren Fusswege eine willkommene Hilfe. So bat 1765 Niklaus Waser um einen zusätzlichen Fussweg durch die Buschen, „um mit den burdenen desto leichter nacher haus kommen zu können“. Fusswege konnten abgelöst werden: Hans Thomas Waser z.B. verkaufte 1783 Hans Geni Müller einen Fussweg für 45 Gulden.127 Ein schweres Wegrecht war mit einem Fahrweg verbunden. Wer hier das Nutzungsrecht besass, durfte sein Vieh beim Alpaufzug bzw. bei der Alpabfahrt auf diesem Weg treiben. Bei den Fahrwegen war die Gefahr gross, dass sich ein aus Güte gewährter Durchzug wiederholte und zur festen Gewohnheit wurde. Aus der Übung wurde nach einigen Jahren bald ein Recht beansprucht. So beklagte sich der Grosskellner Bernhard Zimmermann 1690 vor Gericht,128 wasgestalten man sich nit mehr scheüche, underschidliche neüwe Weeg durch die Güeter zue machen, die Lückhen mit Gewalt zue öffnen, [...] dardurch villen grosser Schaden zuegefüegt, auch entlich, da man etwelche Jahr aus Güetigkeit nachgesehen, eine Gerechtigkeit wolle praetendiert werden.

Umgekehrt geriet jener Bauer in erhebliche Schwierigkeiten, der keine verbrieften Fahrwegrechte besass. Ziemlich ratlos musste Heini Amrhein, der Besitzer der Alp Bödmen, 1681 feststellen, dass nur zwei Wege in seine Alp führten: der Weg über die Herrenrüti bzw. über das Hohfad. Nun hatten ihm die Besitzer beider Alpen den Fahrweg verweigert. Amrhein forderte einen Fahrweg nun gerichtlich ein, „weilen er sein Vich nit uff der Achsell in sein Alp tragen könne“.129 Für den Unterhalt der Fahrwege waren die jeweiligen Grundbesitzer verantwortlich. Dieser Grundsatz galt auch, wenn dabei eine Brücke zu unterhalten war oder der Fahrweg bloss einem 126 Vgl. ETP 2b.414–415, 2b.464–465, 3.27–28, 3.193, 3.195–196, 3.210, 11.340–343, 14.218–220, 14.293–294 und 14.343–345. 127 Vgl. ETP 13.453–454, 14.257 und 17.638. 128 Vgl. ETP 4.300–301. 129 Vgl. ETP 4.105–106.

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einzigen Nutzungsberechtigten diente. Zum Schadenersatz war ferner verpflichtet, wer ein Gut verkaufte, ohne die Belastung durch einen Fahrweg anzuzeigen.130 Zu den schwersten Wegrechten gehörte der Treibweg. Hier durfte der Nutzungsberechtigte sein Vieh nicht nur im Frühling und im Herbst durchtreiben, sondern jeden Tag. Solche Wegrechte wurden jedoch nur in zwingenden Fällen gewährt.131 Dem Treibweg durchaus ähnlich war der Tränkweg. Hier durfte der Nutzungsberechtigte sein Vieh durch ein Grundstück treiben, um das Vieh an eine Wasserquelle führen zu können. Einige Tränkwege waren nur während der (trockenen) Winterszeit freigegeben, andere nur in Zeiten der Trockenheit. Manche Grundbesitzer beschwerten sich, dass die Zaunlücken nach dem Tränken des Viehs nicht verschlossen worden waren. Die Nutzungsberechtigten ihrerseits klagten darüber, dass manche Lücken verbaut würden, um ihnen den Durchgang zu verunmöglichen. Bisweilen wurde das Vieh nicht eilig genug durch das fremde Grundstück getrieben. So warf Hans Geni Matter 1744 Geri Waser vor, „dass er Gregori im träncktreiben weyden lassen, ja, seyen die khüö in der weid umen gangen wohl vast ein stund lang“.132 Grundsätzlich waren alle Weganstösser im Tal verpflichtet, für den Unterhalt ihres Strassen- oder Wegabschnittes zu sorgen. Während der Winterszeit brauchten die Wege – zumindest die kleineren – nicht geöffnet zu werden. Die Gemeinde lehnte es ab, sich am Unterhalt des Strassen- und Wegnetzes zu beteiligen. Davon ausgenommen waren lediglich die Landstrasse nach Nidwalden und der Bau wichtiger Forststrassen wie jene zur Alp Wand.133

h) Ausschluss von Auswärtigen Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Nutzung der Ressourcen – soweit möglich – auf die Talleute selbst beschränkt. Auswärtige wurden von der landwirtschaftlichen Nutzung des Hochtals weitgehend verdrängt. Der Ausschluss der Auswärtigen wurde an erster Stelle von Abt und Gericht angestrebt. Ein Grund für diese Abschliessung nach aussen lag einerseits in der Verknappung der Ressourcen, die sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch die intensivere Bewirtschaftung einstellte. Andererseits entsprach die Bildung geschlossener Herrschaften dem zeit-

130 Vgl. ETP 4.438–439, 4.443, 4.451–452, 9.143, 11.236–238, 11.50–51, 14.225–227 und 14.250. 131 Vgl. ETP 12.160–161 und 14.269–270. 132 Vgl. ETP 2b.282–283, 3.114–115, 4.299–300, 4.372, 4.528–529, 4.531, 11.442–444 und 19.72–73. 133 Vgl. ETP 2a.4, 4.122–125, 14.272–273 und 16.146.

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genössischen politischen Denken: Ähnliche Abschliessungstendenzen kamen auch andernorts vor. Abt und Gericht bestimmten z.B. 1661, dass weder Alpen noch Matten (also gedüngte, heubare Fettweiden) an Auswärtige verkauft werden durften. Ebenso wurde die Winterung fremden Viehs im Tal verboten.134 Zwei Jahre später wurden Talleute vom Gericht bestraft, weil sie Matten nicht geheut hatten, sondern fremdes Vieh darauf geätzt hatten. Die Umnutzung der Matte hatte den Heuertrag vermindert, auf den das Talvieh für die Winterung angewiesen war. Abt Ignaz Betschart warnte im Frühjahr 1665 vor dem Mangel an Rauhfutter und „der gefahr, dass man bei ingefallenem bösen kalten wetter und vilem schnee selbsten zuo mangell des heüws kommen möchte“. Die Einfuhr fremden (wie auch gekauften) Viehs wurde deshalb erst für Mitte Mai erlaubt.135 Diese Massnahme wurde bei Heumangel auch in späterer Zeit wiederholt getroffen, so 1736 und 1737.136 Das Gericht verbot 1669, Auswärtigen Weiden zu leihen. 1675 wurde auch der Verkauf von Heu an Fremde untersagt. Im selben Jahr erliessen Abt und Gericht eingehende Vorschriften bezüglich der Weidenutzung von Auswärtigen. Demnach durften heubare Weiden an den Austagen (d.h. im Frühling) nicht an Fremde zur Atzung überlassen werden. Ausgenommene Weiden wurden im Mandat namentlich aufgeführt. Die Nutzung der Herbstweiden hingegen durfte den Fremden nur gewährt werden, wenn a) die Weiden richtig geheut worden waren, b) dem Talvieh ausreichend Herbstweiden zur Verfügung standen und c) die Talleute das Zugrecht behielten.137 Die erlassenen Vorschriften behielten bis zum Ende der alten Herrschaft und darüber hinaus ihre Geltung. Das Gericht beschäftigte sich viele Male mit Verstössen gegen diese Bestimmungen. Was lockte denn den einzelnen Talbauern, Gras, Heu oder Nutzungsrechte an Auswärtige zu verkaufen? Wahrscheinlich konnten von Fremden höhere Preise gefordert werden. Wer ferner auf fremdes Lehen- bzw. Zinsvieh angewiesen war, hatte allen Grund, auf dessen frühe Einfuhr ins Tal zu drängen. Die Durchsetzung der Vorschriften gestaltete sich schwierig. Wie sollte nämlich erfasst werden, wer wieviel eigenes Vieh besass? Oder wer sich von auswärts Zinsvieh lieh? Wurde das Zinsvieh zu eigenem Nutzen oder im Auftrag Auswärtiger bewirtschaftet? Das Gericht war auf Hinweise aus der Talschaft angewiesen, um bei Verstössen einschreiten zu können. Wie schwierig die Umsetzung war, mag folgendes Beispiel veranschaulichen: Bernhardin Häcki ertappte 1671 Hans Waser bei der Winterung fremden Viehs und verzeigte diesen vor Gericht. Waser gestand vor Ge134 Vgl. ETP 2b.664–665. 135 Vgl. ETP 3.25. 136 Vgl. ETP 12.1–5 und 12.69–70. 137 Vgl. ETP 3.169, 4.9, 4.12 und v.a. 4.18–19.

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richt ohne weitere Umstände seinen Fehler ein. Allerdings stellte sich während der Verhandlung heraus, weshalb Häcki den fehlbaren Waser wirklich verzeigt hatte. Häcki hatte von Waser Heu kaufen wollen, das dieser zum Verkauf herausgab. Waser wollte das Heu allerdings nicht an Häcki verkaufen. Dieser erpresste ihn darauf, er werde die Winterung des fremden Viehs anzeigen, wenn er ihm das Heu nicht verkaufe. Das Gericht büsste daraufhin Häcki für sein unredliches Vorgehen. Die Pointe dabei war: Bei Häcki handelte es sich um den Ammann des Tals, also um den Vorsitzenden des Gerichts!138

i) Feuer- und Elementarschäden Das Feuer gefährdete das bäuerliche Gut wohl am nachhaltigsten: Eine Feuersbrunst zerstörte die Habe des Bauern bis »auf Grund und Boden«. Mehrere Bauernfamilien mussten dieses schwere Schicksal erfahren: 1740 verlor die Familie Balzer Niklaus Hurschlers ihr ganzes Haus, 1753 wurden Karl Dominik Waser und Anton Häcki ebenfalls Opfer einer Feuersbrunst, 1759 brannte das Haus Sepp Geni Schleiss’ ab, 1776 musste Joachim Sepp Geni Feierabend nach dem vollständigen Brand seines Hauses um Almosen bitten.139 Auch Alphütten waren vor Bränden nicht gefeit, wie Matthias Weiss 1674 und Abt Emanuel Crivelli 1740 schmerzhaft erfahren mussten.140 Die grösste Feuersbrunst im Tal ereignete sich aber zweifellos am 27. August 1729, als die spätmittelalterliche Klosteranlage fast vollends in Asche gelegt wurde. Die Gefährdung durch das Feuer erheischte vorbeugende Massnahmen. So wurde im Sommer 1671 wegen der herrschenden Hitze und Trockenheit verboten, in der Nähe von Wäldern Feuer zu entzünden.141 1713 erliessen Abt und Gericht die Weisung, die das Entzünden von Feuer sowie das Rauchen in der Nähe von Ställen verbot. Die Weisung richtete sich dabei besonders gegen fremde Bettler, denen solche Fahrlässigkeiten – zu Recht oder Unrecht – unterstellt wurden.142 Energisch griffen Abt und Gericht zehn Jahre später gegen gefährliches Rauchen ein, als Jugendliche nachts auf einer Holzbeige in der Dorfmitte geraucht und dadurch beinahe einen Grossbrand ausgelöst hatten.143 Andererseits sah man Heu- und Streugäden in unmittelbarer Nähe zu Hausstätten ungern, da die Feuergefahr dadurch merklich anstieg: Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn belegen dies. Erst 138 Vgl. ETP 3.170–172. 139 Vgl. ETP10.101–103, 11.78–79, 12.185–188, 14.113 und 17.74–75. 140 Vgl. ETP 3.236 und Crivellis Güterbeschrieb von 1742. 141 Vgl. ETP 3.169. 142 Vgl. ETP 7.406–407. 143 Vgl. ETP 8.57–60.

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recht war Vorsicht geboten, wenn Heu und Streu in der Hausstatt selbst gelagert wurden.144 Abt Emanuel Crivelli regte 1734 die Bestellung zweier Wachen an, die während der Nacht allfällige Feuergefahren rechtzeitig erkennen sollten. Die sogenannten Nachtwächter mussten auf ihr Amt ein Gelübde ablegen und übernahmen die Verantwortung für allfällige Vorkommnisse. Zu ihrer Besoldung wurde von den Bewohnern des Dorfes eine entsprechende Steuer eingezogen.145 Den Nachtwächtern oblag die Aufgabe, in der Nacht die Stunden auszurufen und zum Löschen von Feuer und Licht zu mahnen.146 Das Amt blieb bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in gewandelter Form bestehen.147 Feuerpolizeiliche Bedenken weckte immer wieder die Tanzlaube, die mitten im Dorf neben der Mühle und der Sägerei lag. Das Rauchverbot wurde hier aus naheliegenden Gründen öfters übertreten.148 Überhaupt ging von jeder Feuerstelle eine Gefahr aus: Deshalb wurde 1748 eine vierteljährliche Prüfung aller Kamine und Feuerherde befohlen. Kamin und Herd mussten den Sicherheitsanforderungen genügen und ausreichend entrusst sein. Für die Prüfung bestellte das Gericht zwei Männer als Feuerbeschauer.149 Präzisere Vorschriften wurden für den Umgang mit Feuer bzw. entzündbaren Materialien allmählich erlassen. Sägemehl und Asche durften nicht in der Nähe von Holz gelagert werden, überhaupt wurde das (An)heizen mit Sägemehl unter Strafe gestellt. Ebenso verboten wurde das Einstützen von Holz über Nacht, also das Aufschichten von Holz im Herd ohne Beaufsichtigung. Anordnungen der Feuerbeschauer setzte das Gericht durch und bestrafte Fehlbare mit Bussen.150 Je enger die Häuser beieinander standen, desto grösser war auch die Gefahr eines übergreifenden Brandes. So genügte die Wetti, wo mehrheitlich arme Leute lebten, 1787 den Sicherheitsanforderungen wegen „gar schlecht und engen behausungen und feürstetten“ bei weitem nicht mehr. Abt und Gericht verboten daraufhin den Bewohnern der Wetti insbesondere das Waschen auf dem eigenen Herd. Ein eigenes Waschhaus sollte für die Wetti errichtet werden, wie dies schon 1784 für das Büel bestimmt worden war. Auch die Feuerwehr wurde genauestens organisiert. Die Feuerordnung von 1779 definierte die Abläufe bei Feuerausbruch mit akribischer Genauigkeit. Die rüstigen Talleute wurden namentlich auf die Wasserspritzen, Kessel, Äxte usw. mit genauem Pflichtenbeschrieb verteilt. Andere Talleute mussten als Wächter an be144 Vgl. ETP 7.661–662 und 14.274–275. 145 Vgl. ETP 11.54 und 11.445. 146 Vgl. ETP 15.227–232. 147 Vgl. Dufner (1983: 23). 148 Vgl. ETP 8.57–60, 11.594–595 und 14.82. 149 Vgl. ETP 11.594–595. 150 Vgl. ETP 11.71, 14.82, 14.522–526, 16.136–138, 16.189–190, 16.195a-197a, 16.213– 221, 16.297, 16.378–380 und 16.520–521.

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stimmte Orte eilen, um die Entwicklung des Feuers zu beobachten und aus den Flammen gerettete Gegenstände zu bewachen. Lawinen waren eine seltene Gefahr, die allerdings grosse Schäden verursachen konnte. Am 29. Februar 1780 riss eine Staub- und Schneelawine einen Gaden mit sich, „wo man es weder vermuten noch möglich zu seyn geglaubt hätte“.151 Bei dieser Lawine erstickten 28 Stück Vieh in den Schneemassen. Vom Unglück verfolgt war auch Christian Matter, als ihm 1796 eine Lawine sein Gut schädigte, nachdem das Hochwasser von 1795 ihn eben erst heimgesucht hatte. Innerhalb eines Jahres erlitt Matter einen Verlust von 300 Talern bzw. 600 Gulden. Die Lawinengefahr war bisweilen tödlich. So wurde Jakob Töngi am 1. Juni 1732 im Schafberg von einer Lawine erfasst, die sich aus Neuschnee gebildet hatte. Allein schon die Bergung der Leiche gestaltete sich schwierig, da sich niemand in das gefährdete Gebiet wagen wollte.152 Der Lawinenschutz bildete ein weiteres Erfordernis. So beschlossen Abt und Gericht 1689, an besonders gefährdeten Stellen Lawinenverbauungen zu errichten. Man beschloss,153 das erstlich wegen den Lauwenen man in den Zügen, wo sie ihren Lauf haben, grosse Schwirren an 2 old 3 Ohrthen schlagen, und Holtz darfellen solle, damit den Lauwenen der Gang abgeschnitten werde, und die junge Danli und Buochli wider auferwachsen mögen.

Es ist nicht bekannt, ob solche Massnahmen den gewünschten Erfolg zeigten. Auf jeden Fall bildete der Wald den wichtigsten Schutz gegen Lawinenniedergänge. Abt Maurus Rinderli mahnte die Talleute 1729 daran, dem Wald Sorge zu tragen und ihn wie ein »Kleinod« zu schonen.154 Hochwasser ausserordentlichen Ausmasses stellten die Talleute ebenfalls vor grosse Herausforderungen. Am 9. und 10. Juli 1762 wurde das Hochtal von einem Unwetter heimgesucht, das in diesem Ausmass seit Menschengedenken nie vorgekommen war. Mehrere Familien verloren in diesem Unwetter ihr Haus oder gar ihre ganze Habe. Joachim Kusters Haus wurde unterspült und brach darauf zusammen, Sepp Michel Zniderist musste die Resten seines Hauses und seines Gadens im Bachbett zusammenlesen. Anton Dillier und Geni Benedikt Hurschler erlitten dasselbe Schicksal. Das Unwetter hatte alle derart getroffen, „dass ihre häuser, gärten und matten theils versarret, theils gäntzlich zu grundt gerichtet und also sie in die gröste armuth und noth

151 Vgl. ETP 20.175–176. 152 Vgl. den Eintrag im Sterbebuch unter dem Datum vom 01.06.1732. 153 Vgl. ETP 4.278–279. 154 Vgl. ETP 8.356–361.

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gestürtzt worden seien.“155 Die Geschädigten waren auf die Solidarität ihrer Talgenossen angewiesen. Grosszügig entkräftete z.B. Jakob Geni Hurschler 1763 eine Gült von 700 Pfund, um den schwer geschädigten Sepp Häcki zu unterstützen. Wer hingegen nicht auf ein Beziehungsnetz zählen konnte, ging leer aus. So beklagte Sepp Michel Zniderist 1769 vor Gericht, er habe sieben Jahre nach dem Unwetter noch immer keine Beisteuer (Spende) erhalten. Das Gericht lehnte sein Hilfsgesuch ebenfalls ab.156 Im niederschlagsreichen Hochtal kam es regelmässig zu Hochwasser geringen und mässigen Ausmasses. Hier konnten durchaus Massnahmen zur Vorbeugung grösserer Schäden getroffen werden. Gegen Unwetter wie jenes von 1762 war allerdings nicht anzukommen. Am 10. September 1774 ereignete sich im nahegelegenen Altdorf ein schweres Erdbeben, das Todesopfer und schwere Gebäudeschäden verursachte. Auch in Engelberg verspürte man das Beben, wie die Kapitelakten des Klosters berichten:157 Aber um halb fünf Uhr nachmittags ertönte aus der Erde, zugleich mit einem Stosse, ein so grosses Krachen, dass man geschworen hätte, das Ende der Welt sei gekommen, und von allen Seiten herab war von den Bergen und aus den Erdhöhlen eine Masse zersprengter Steine gestürzt und zugleich ein schwefliger Rauch, und, wie es hiess, auch Feuer gesehen worden, so dass jedermann nicht bloss das Haus verliess, aber nicht auf die Berge, sondern auf die Wiesen floh.

Der Klosterkoch Joachim Zniderist wurde von herunterfallenden Ziegeln getötet, als er aus dem Kloster zu flüchten suchte. Flori Bernhard Hurschler wurde im Chruterli unterhalb der Oberstafel Planggen von herabstürzenden Steinen erschlagen.158 Am folgenden Sonntag ordnete Abt Leodegar Salzmann eine Wallfahrt in die Kapelle der Schwand an, an der über 700 Menschen teilnahmen. Das Erdbeben gab als einmaliges Ereignis zu keinen weiteren Massnahmen Anlass. Immerhin wurden die beschädigten Kamine im Tal einer genaueren Prüfung unterzogen.159

2.1.2 Alpen Die Engelberger Alpgenossen versammelten sich wie jedes Jahr auch 1769 zu ihrer Jahresgemeinde, die traditionsgemäss am Thomastag (21.  Dezember) 155 Vgl. ETP 13.195–197 und 13.204–205. 156 Vgl. ETP 14.398–399. 157 Zitiert nach der Übersetzung Ignaz Hess’ in Reznicek (1964: 32–33). 158 Vgl. das Sterberegister vom 10.09.1774 im Pfarrbuch. 159 Vgl. ETP 16.125–126.

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stattfand. Abt Leodegar Salzmann eröffnete die Versammlung mit folgender Ansprache:160 Ehrendte liebe alpgenossen! [...] Nun hat der alles weyslichest anordnethe schöpfer uns dem eüsserlichen ansechen nach eine harte und steinächte, auch unfruchtbahre erden gegeben, welche aber, sofehrn sie wohl besorget und sorgfältig gearbeitet werden solte, uns den grösten nutzen und sicherste, ja reicheste früchten bringen kann und zum theil bringen thuet. Es ist zwar wahr: Wir haben keine ackherfelder, keine weinberg, keine obs- und baumgerthen! Dessen ohnerachtet behaubte ich, ja die erfahrung überzeüget uns, dass wir in der nutzniessung der erden weit glückhlicher und sicherer seyen als jene, welche solche, ohne den veichnutzen zu haben, besitzen. [...] Die berg und gemein alpen seynd das jenige uns, was anderen die äckher, felder, weyn und baum-gerthen, dann aus disen ziechen wir meistentheils das liebe brodt, die kleider und alles andere, so zum mentschlichen underhalt erforderlich ist: dahero wir billigest nach dem exempell unser vorfahrer und vorelteren allen fleiss und sorgen anwenden sollen, damit wir vermittlest göttlicher gnad und seegens die gemeinalpen also nutzen, brauchen und genissen können, damit unser liebes thahl dardurch getröstet, weib und kinder erhalten werden mögen.

Die äbtische Rede lässt auf den hohen Stellenwert schliessen, den die Talbevölkerung in jener Zeit der Alpwirtschaft beimass. Die Alpen galten als wirtschaftliche Grundlage des Hochtals, doch ging ihre Bedeutung darüber hinaus: Sie prägten auch die Identität der Talschaft. Einerseits unterschied die Alpwirtschaft die Talleute von den Acker- und Weinbauern des Flachlands, andererseits verriet sie die Spuren der eigenen Vorfahren. Im folgenden Abschnitt wird die frühneuzeitliche Alpwirtschaft Engelbergs dargestellt. Erstens soll der Stellenwert der Alpen für die heimische Landwirtschaft geklärt werden. Zweitens wird auf die Hartkäseherstellung eingegangen, die nach ihrer Einführung im 16. Jahrhundert die Entwicklung der Alpwirtschaft nachhaltig prägte. Drittens sollen die Besitzverhältnisse der Engelberger Alpen erläutert werden. Viertens wird nach dem Alpvieh und seiner Herkunft gefragt. Die Darstellung schliesst mit einigen Bemerkungen zur Alparbeit.

a) Bedeutung der Alpwirtschaft Das Hochtal lebte von der Milch- und Viehwirtschaft, deren Gedeihen von einer ausreichenden Grasversorgung massgeblich abhing. Die Gras- bzw. Heuerträge stammten grösstenteils von den Gütern der Talstufe: Dort lagen die fruchtbarsten Weiden, die auch die intensivste Bewirtschaftung erlaubten. Zusätzliches Gras liess 160 Siehe ETP 15.77–79.

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sich auf den höhergelegenen Weiden der Alpstufe gewinnen: Deren Erträge fielen zwar aufgrund der Höhenlage geringer aus, stockten aber gleichwohl die verfügbare Futtermenge auf. Die höhergelegenen Weiden liessen sich während des (verhältnismässig kurzen) Alpsommers nutzen, während gleichzeitig die Talweiden weiter bewirtschaftet wurden. So erlaubte der sommerliche Grasüberschuss, Vorräte zur Winterung des Viehs anzulegen. Indem Weiden unterschiedlicher Höhenlagen im Zusammenspiel bewirtschaftet wurden, stellte sich im Hochtal jene Mehrstufenwirtschaft ein, die für alpine Gebiete kennzeichnend ist. Die Alpgüter vergrösserten also die verfügbaren Grasvorräte und ermöglichten mittelbar die Haltung eines grösseren Viehstandes. Es steht jedoch fest, dass die wirtschaftliche Bedeutung der Alpen – im Verhältnis zu jener der Talgüter – nachrangig blieb.161

b) Die Hartkäserei und ihre Folgen für die Alpwirtschaft Die Engelberger Alpen wurden bereits im Hochmittelalter bewirtschaftet. Das Alpwesen wandelte sich jedoch im Laufe der Zeit. Die einschneidendste Veränderung erfuhr die Alpwirtschaft in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Einführung der Hartkäserei. Die alpwirtschaftlichen Verhältnisse des 17. und 18. Jahrhunderts waren durch diese Neuerung massgeblich geprägt. Hartkäse war nicht nur deutlich haltbarer als andere Käsesorten, sondern auch viel transportfreundlicher, was ihn zu einem geeigneten Ausfuhrerzeugnis machte. Die Hartkäserei eröffnete neue Absatzmöglichkeiten. Herstellung, Pflege und Ausfuhr des Hartkäses waren zwar sehr aufwendig, ermöglichten aber bei entsprechender Nachfrage eine hohe Wertschöpfung. Für die Hartkäserei wurden grosse Mengen fetter, d.h. nichtentrahmter Milch benötigt. Während Magerkäse und Butter sich aus derselben Milch herstellen liessen, war dies im Fall des Hartkäse nicht mehr möglich. Der steigende Milchbedarf führte indes zu vermehrter Grossviehhaltung und wachsenden Sennten. Weiter verlangte die Zunahme des Grossviehs eine neuartige Infrastruktur: Auf der Talstufe mussten Ställe und Heuscheunen gebaut werden, um das Vieh wintern bzw. die Heuvorräte lagern zu können. Weiter mussten neue Käsespeicher für die Reifung des Hartkäses errichtet werden. Auf der Alpstufe wurde die Infrastruktur ebenfalls ausgebaut. Zudem zogen Grossviehhaltung und Hartkäserei einen erheblich grösseren Arbeitsaufwand nach sich, was den Bedarf an Arbeitskräften steigen liess. Für die eigentliche Hartkäseherstellung waren überdies ausgebildete Arbeiter nötig.162 161 Zur Alpwirtschaft im Allgemeinen, vgl. die Darstellung bei Weiss (1992). Zur wirtschaftlichen Bedeutung der Alpwirtschaft, vgl. Mathieu (1998: 48–49). 162 Vgl. Huwyler (1993: 466).

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Das Hochtal nahm hinsichtlich der Hartkäserei eine Pionierrolle in der Innerschweiz ein. So ist die Herstellung von Hartkäse in Engelberg bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts belegt.163 Vermutlich förderte das Kloster frühzeitig die neue Käsetechnik. Überhaupt wurde der blühende Käsehandel durch die starke Nachfrage der städtischen, norditalienischen Märkte erst ermöglicht. Die Hartkäseausfuhr nahm rasch zu und entwickelte sich in den folgenden beiden Jahrhunderten zur wichtigsten Einkommensquelle des Hochtals. Das jährliche Handelsvolumen erreichte im 18.  Jahrhundert beeindruckende Ausmasse. So erfuhr Gottlieb Sigmund Gruner 1778 anlässlich eines Besuchs im Hochtal, dass das Kloster „jährlich 40‘000 Gulden aus Käsen erlöst“. Hierbei ist anzumerken, dass damit der Erlös der gesamten Produktion des Hochtals gemeint war, da die Talleute ihren Käse für die Ausfuhr an das Kloster verkauften – „die Thalleute liefern alle ihren Vorrath an die Magazine [des Klosters] ab“, berichtete diesbezüglich 1798 ein anderer Reisender, Gerhard Philipp Heinrich Norrmann. Die Summe von 40‘000 Gulden bestätigen weitere zeitgenössische Reiseberichte.164 Engelberger Hartkäse wurde im 18. Jahrhundert als Spalenkäse zu Laiben von ungefähr 25 bis 30 Pfund gehandelt.165 Reiseberichten zufolge wurden innerhalb eines Jahres 10‘000 Laibe für die Ausfuhr hergestellt. Daraus folgt, dass im Hochtal jährlich rund 125 Tonnen Hartkäse hergestellt wurden. Johann Rudolf Schinz schätzte die Käsemenge 1782 gar auf 16‘000 Stück bzw. 200 Tonnen Käse ein. Erhaltene Rechnungsstücke aus dem frühen 19.  Jahrhundert lassen die niedrigere Schätzung wahrscheinlicher erscheinen.166 Gleichwohl bleibt festzustellen: Das Produktionsvolumen und die mit ihm verbundenen Aufwendungen an Rohstoffen, Investitionen und Arbeit waren – auch aus heutiger Sicht – von erstaunlichem Umfang.

163 Vgl. Odermatt (1981: 182–183), dann auch Grass (1988: 165), Huwyler (1993: 465– 466) und Roth (1993: 13). 164 Vgl. Gruner (1778: 275), William Coxes Bericht bei Dufner (1978: 64), Norrmann (1798: 3074) und Meisner (1823: 82). Ob die Reisenden dieselbe Zahl in Erfahrung brachten oder voneinander abschrieben, lässt sich kaum abschliessend ermitteln. Weit darüber liegt die Schätzung Johann Rudolf Maurers von 1780: „Die Alpen insgesammet sollen den Thalleuthen jährlich eine Summe von 42‘000 T[aler] eintragen.“ Die Angabe beruht möglicherweise auf einer Währungsverwechslung, vgl. Johann Rudolf Maurers Bericht bei Dufner (1978: 40). 165 Vgl. Johann Rudolf Maurers Bericht bei Dufner (1978: 37), dann William Coxes Bericht bei Dufner (1978: 64), Norrmann (1798: 3074) und Meisner (1823: 82). 166 Vgl. Heer (1975: 338, 382–383) und Heer (1985: 59) sowie Johann Rudolf Schinz’ Angaben bei Jakob Werner (1910: 154).

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Hartkäseherstellung und Alpwirtschaft standen in einem bestimmten Zusammenhang. Während die Talwirtschaft die eigene Versorgung (von Mensch und Vieh) sicherstellte, waren die Erzeugnisse des Alpsommers hauptsächlich für die Ausfuhr bestimmt. Die ausgeführten Waren stammten zur Hauptsache aus der Alpwirtschaft. Die Talwirtschaft diente also der Selbstversorgung, die Alpwirtschaft hingegen der Wertschöpfung. So wird auch Salzmanns Aussage verständlich, wonach die Talschaft „meistentheils das liebe brodt, die kleider und alles andere, so zum mentschlichen underhalt erforderlich ist“, aus der Alpwirtschaft bezog. Tatsächlich lebte das Hochtal vom Erlös seiner Ausfuhrwaren, die zum grossen Teil in den Alpbetrieben hergestellt wurden. Der blühende Aussenhandel begünstigte ein starkes Bevölkerungswachstum. So nahm die Bevölkerung des Hochtals zwischen 1709 und 1799 von 678 Einwohnern auf 1468 Einwohner zu. Engelbergs Bevölkerung nahm also innert 90 Jahren um ganze 117 Prozent zu. Dieses Wachstum ging nicht ausschliesslich, aber doch zum grossen Teil auf den bäuerlichen Aussenhandel zurück. Ein Rückgang der alpwirtschaftlichen Produktion konnte den Aussenhandel empfindlich treffen. Ungünstige Klimabedingungen konnten zu einer Verkürzung der Weidezeit führen, sei es durch eine späte Schneeschmelze oder frühe Wintereinbrüche. Lange Winter und nasskalte Sommer beeinträchtigten den sommerlichen Viehertrag und minderten die Rauhfutterernte, die zur Winterung des Viehs benötigt wurde. Verzögerte Schneeschmelzen im Frühjahr und frühe Wintereinbrüche im Herbst wirkten nicht nur ertragsmindernd, sondern erzwangen auch eine vorübergehende Verringerung des Viehbestandes.167 Doch wie schwerwiegend wirkten sich Klimaverschlechterungen auf die Milch- und Viehwirtschaft aus? An dieser Stelle bietet sich die Gelegenheit, die Auslassungszeichen in der eingangs angeführten Rede Leodegar Salzmanns zu füllen. Salzmann begründete die bessere Lage des Viehbauern vor dem Acker- und Weinbauern nämlich so:168 Das gemeine sprüchworth bekreftiget solches auch selbsten, da es heisset: Ein Ackhersmann ein armer mann, ein weinpaur ein geschlagner mann, ein veichpaur aber ein glückhseeliger mann! dessen ist die ursach gantz klar: dan der ackhersmann und weinpaur müessen in zubereitung des ackhers und weinbergs nit nur gross und fast umbegreifliche arbeith sondern auch sehr grosse kösten haben, welche ein eintziger sturmwindt, ein starckher reifen, das anhaltendte regenwätter, eine grosse trockhenheit oder ein hagell in weniger zeit, wo nit gentzlich, doch zum grösseren theil zuschanden richtet: da herogegen wir von solchen üblen niemahlen so sehr beschediget werden mögen, indemme wir noch vorleüffig einigen kostbahren saamen

167 Bezüglich schwieriger Klimabedingungen vgl. die ausführlichen Angaben bei Pfister (1984, I: 127–143). 168 Siehe ETP 15.77–79.

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Wirtschaft auf die wisen und alpen auswerfen oder kostbahre arbeith darzu nötig haben, sonder alles von der alles güetigest anordnethen gnad gottes, welche die natur also fruchtbahr machet, herkommet.

Unversehens bewahrheitete sich Salzmanns Einschätzung zwei Jahre später, als die schlechten Erntejahre 1771 und 1772 eine europaweite Teuerungskrise auslösten. An der Talgemeinde vom 29.  September 1771 wurde festgestellt, dass in vielen „ohrt und lender ein sehr empfindlicher und grosser mangell der lebensmittlen und aller vorderst des täglich lieben brodts und danachen nothwendig entstehendte hungersnoth getruckhet“. Gleich darauf wurde aber festgehalten: „Was andere deshalben gelitten, das unserige noch erträglich gewesen.“169 Gleichwohl ergaben sich schmerzhafte und langfristige Einbussen, wenn weniger Waren ausgeführt und der Viehstand wegen Futtermangels vermindert werden musste.170 Noch weit folgenreicher als Wetterverschlechterungen konnten sich Viehseuchen auf den alpwirtschaftlichen Ertrag auswirken: Viehverluste führten zu schweren Einbussen im Milch-, Käse- und Fleischertrag. Die Lücken im Viehbestand konnten erst nach einiger Zeit wieder geschlossen werden. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass der Verhütung und Vorbeugung von Viehseuchen grösstes Gewicht beigelegt wurde. „Wo ein solches Unheil [einer Viehseuche] unter uns käme, wären wir ganz arme Lüt“, schrieben Abt und Talgericht bereits 1546 an Schultheiss und Rat von Luzern.171 Die Maul- und Klauenseuche und der Milzbrand waren die häufigsten Viehseuchen: Seuchenwellen bedrohten das Tal in den Jahren 1732, 1734, 1763 und 1776. Der rege regionale Viehverkehr förderte die Ausbreitung dieser Krankheiten. Wie andere eidgenössische Orte verboten auch Abt und Gericht in solchen Notzeiten jede Ein- und Ausfuhr von Vieh. Die abgelegene Lage des Tals versprach einer solchen Massnahme einigen Erfolg. Der gesamte Warenverkehr musste nun buchstäblich auf dem Rücken der Säumer erfolgen.172 Das Hochtal blieb im 17. und 18. Jahrhundert von Viehseuchen weitgehend verschont.173 169 Vgl. ETP 15.227–232. 170 Wie sich die Klimaverschlechterungen auf die Engelberger Milch- und Viehwirtschaft im Einzelnen auswirkten, lässt sich mangels einschlägiger Untersuchungen leider noch nicht beantworten. Pfister (1984, I: 64) glaubt diesbezüglich, das »Hirtenland« habe häufiger, intensiver und länger an Versorgungskrisen gelitten als das »Kornland«: Diese Einschätzung liegt allerdings im Widerspruch zur Arbeit Zurfluhs über die Urner Demographie im 18. Jahrhundert (vgl. Zurfluh 1986), aber auch zur oben angeführten Einschätzung des Zeitgenossen Leodegar Salzmann. 171 Zitiert nach Hess (1939: 3). 172 Vgl. Hess (1939: 2). 173 Vgl. zur Frage der Viehseuchen in Engelberg bzw. deren Vorbeugung die Arbeit von Hess (1939).

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c) Besitzverhältnisse Engelbergs Alpen wurden im 17.  und 18. Jahrhundert von ungefähr 1‘200 Rindern bestossen, wie zeitgenössische Quellen sicher berichten.174 William Coxe, der das Hochtal 1786 bereiste, hielt in seinem Reisebericht hinsichtlich des Viehstands gar fest: „Die Einwohner von Engelberg besitzen ohngefähr 1‘800 Kühe mit Einschluss derjenigen, die dem Kloster zugehören.“175 Möglicherweise bezog Coxe nicht nur das Alpvieh, sondern auch das Heimvieh in seine Schätzung ein. Ferner wurde nicht nur Grossvieh, sondern auch Schmalvieh (d.h. Ziegen und Schafe) auf die Alpweiden getrieben. Die Stosszahlen lassen sich nur bedingt mit jenen der Gegenwart vergleichen. Zum einen ist das Grossvieh durch Züchtung heute bedeutend schwerer und ertragreicher als in früherer Zeit. Ferner sind viele Alpgebiete durch mangelnde Pflege in den vergangenen zwei Jahrhunderten vergandet. So betrug die Gesamtstosszahl der Engelberger Alpen im Jahr 1903 nur noch 950 Rinder, im Jahr 1911 bereits nur noch 880 Rinder.176 Vier Genossenalpen nahmen den grössten Teil der nutzbaren Alpweiden ein: Am Südhang des Hochtals lag auf der westlichen Seite die Alp Stoffelberg (einschliesslich Wand und Wallen), die von rund 1400 m bis 2150 m ü. M. reicht und heute eine Fläche von 484 Hektaren einnimmt. Die Stosszahl der Alp belief sich im 18. Jahrhundert auf 233  Rinder.177 Die Alp wurde in zwei Stafeln (Unterstoffelberg und Oberstoffelberg) bewirtschaftet. Die Alpbezirke Wand und Wallen dienten in der Frühen Neuzeit als Galtviehalpen. Ebenfalls am Südhang, aber auf der östlichen Seite lag die Alp Obhag (einschliesslich Planggen), die sich von 1400 m bis rund 2400 m ü. M. erstreckt und heute eine Fläche von 1‘292 Hektaren misst. Die Stosszahl der Alp betrug im 18. Jahrhundert 202 Rinder. Während Obhag selbst als untere Stafel diente, wurde Planggen als obere Stafel genutzt. Am Nordhang befand sich auf einem weiten Hochplateau auf 1200 m ü. M. die Alp Gerschni, die heute 327 Hektaren umfasst. Gerschnis Stosszahl betrug im 18. Jahrhundert 222 Rinder. Als obere Stafel Gerschnis konnte die angrenzende Alp Laub genutzt werden, die in steiler Lage bis über 2000 m ü. M. reicht und nur im Hochsommer nutzbar ist. Die Alp Eien war bis 1763 die vierte Genossenalp im Hochtal: Sie befand sich auf dem Talboden selbst, und zwar rechtsseitig der Aa (Vordere Eien) und linksseitig 174 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155. 175 Vgl. William Coxes Bericht in Dufner (1978: 64). 176 Vgl. Etlin (1903: 278) und Schneebeli (1912: 142). 177 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155, ebenso für die folgenden Angaben der Stosszahlen für das 18. Jahrhundert.

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der Aa (Hintere Eien). Im Osten grenzte sie an die Herrenrüti, im Westen schloss der Zusammenfluss vom Dürrbach und der Aa ihre Weideflächen ab. Ihre Stosszahl betrug 56 Rinder.178 Die Gesamtstosszahl der Genossenalpen betrug demnach über 700 Rinder bzw. Kuhschweren. Jede Genossenalp gehörte einer Genossenschaft, deren Mitglieder über bestimmte Besitzanteile (sogenannte Alptitel oder –gerechtigkeiten) verfügten. Der Besitz der Genossenalp blieb stets in der Hand der Genossenschaft: Eine Realteilung, d.h. die Aussonderung eines bestimmten Besitz- bzw. Flächenanteils, war nicht möglich. Alpgerechtigkeiten konnten vererbt und verkauft werden. Wer Alptitel einer Engelberger Genossenalp erwerben wollte, musste gewöhnlich das Talrecht besitzen, wiewohl Ausnahmen möglich blieben.179 Die Besitzrechte waren nicht durch Flächenmasse, sondern durch Anteile am Alpertrag bestimmt. Dieser wurde durch die sogenannte Alpstuhlung (auch Besatz) gemessen: Die Alpstuhlung legte fest, mit wie vielen Häuptern Vieh eine Alp bestossen, d.h. genutzt werden konnte. Der einzelne Genosse besass also einen bestimmten Anteil an der Alpstuhlung, wobei dieser Anteil seit dem Spätmittelalter durch entsprechende Auftriebsrechte bestimmt wurde, den sogenannten Kuhrechten oder -schweren. Diese Kuhrechte wurden in den Einheiten von Rind, Fuss und Klaue ausgedrückt, wobei ein Rind mehrere Füsse und ein Fuss mehrere Klauen umfassten.180 Die kleineren Einheiten von Fuss und Klaue, die einen bestimmten Bruchteil eines Kuhrechts bezeichneten, dienten der Erfassung junger Rinder oder des Kleinviehs. Gewöhnlich berechtigte also der Besitz eines Rindes Alp, ein Stück Rind auf die Alp auftreiben zu dürfen.181 Der einzelne Genosse konnte sein Auftriebsrecht selbst wahrnehmen und sein Vieh auf der Alp versorgen, sein Vieh durch Arbeitskräfte besorgen lassen oder seine Nutzungsrechte einem Dritten gegen Zins überlassen. Die Abgabe von Nutzungsrech178 Vgl. Hess (1951: 187). 179 Vgl. auswärtige Verhältnisse bei Hess (1945d: 9), Bielmann (1972: 97) und Odermatt (1981: 112). 180 Der früheste Beleg der Bezeichnung »Rind« als Alpanteil geht im nidwaldnerischen Raum auf 1327 zurück, vgl. Odermatt (1981: 96). 181 Die Stuhlung einer Alp war allerdings nicht unabänderlich: Eine Vergrösserung bzw. Verkleinerung der Alpfläche führte in der Regel zu einer Anpassung der Alpstuhlung. Die drohende Übersetzung (d.h. Übernutzung) einer Alp konnte andererseits vermieden werden, indem die Alpstuhlung durch Beschluss der Genossen herabgesetzt wurde. Die tiefere Alpstuhlung beeinflusste ihrerseits die Nutzungsrechte des einzelnen Genossen: Wenn die Alpstuhlung z.B. um ein Fünftel gesenkt wurde, so musste ein Genosse über 1 ¼ Rinder besitzen, um ein Stück Rind auf die Alp treiben zu dürfen.

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ten an Dritte wurde in den Alpgenossenschaften durch das sogenannte Zugrecht geregelt. Das Zugrecht bestimmte, wer und mit welchem Vorrang Anspruch auf die Alpnutzung erheben durfte. Hier ging der Genosse dem Ungenossen vor, ferner der Ungenosse dem Fremden. Weiter besass das im Tal gewinterte Vieh Vorrang gegenüber auswärtigem Vieh.182 Wer ein Zugrecht besass, durfte eine bereits beschlossene Alpleihe innert gesetzter Frist brechen und die Alpnutzung bei gleichbleibendem Alpzins für sich beanspruchen. Das Zugrecht zielte also darauf ab, die einheimischen Alpleute bzw. das einheimische Vieh bei der Alpnutzung zu bevorzugen. Grössere Genossenalpen erlaubten es zudem, selbständige Alpgebiete für das Galtvieh auszusondern und von den eigentlichen Kuhalpen zu scheiden. Unter Galtvieh rechnete man jenes Vieh, das im Unterschied zum Melkvieh (noch) keine Milchleistung erbrachte: Darunter fielen alle männlichen Tiere, aber auch Kälber (einjährige Rinder), Maisrinder (zweijährige Rinder), Zeitrinder (dreijährige Rinder), Ochsen, Pferde und weitere Nutztiere. Als Galtvieh- oder Ochsenalpen wurden meist minderwertige Alpgebiete ausgesondert, während die schönsten Alpweiden dem milcherzeugenden Vieh vorbehalten blieben. Gewöhnlich bestellten die Genossen für die Hut des Galtviehs gemeinsam einen Hirten. Die Hartkäserei wirkte sich nachhaltig auf den Alpbetrieb aus, insofern grössere Milchmengen zur Käseherstellung erforderlich wurden. Dieser Bedarf veränderte den Sennereibetrieb, wie ein später Bericht aus Nidwalden verdeutlicht:183 Ein grosses Sennten besteht aus wenigstens 24 Kühen und einem Stiere; kleinere Sennten bestehen aus 12–16 Kühen. [...] Die eigentlichen Unternehmer der Sennerei sind die grössern Senntenbauern, weil sie im Besitze der dazu erforderlichen Anzahl von Kühen stehen, die eine gleichförmige Nahrung und Pflege erhalten, und dadurch gleichsam allein im Stande sind, die gehörige Menge Milch zur Käsebereitung zu verwenden, und unabhängig von andern den gehörigen Gewinn daraus zu ziehen. Alle übrigen Sennereien, die nur aus zusammengetragener Milch von verschiedenen Kühen, mit verschiedenem Futtergenusse bestehen, haben daher weder den Werth noch den Vortheil der ersten, und ihr Fortbestand ist um so misslicher, je grösser die Zahl der Theilnehmer ist. Von noch geringerm Belange ist die Sennerei des einzelnen Mannes, der nur aus Tage lang aufgesparter Milch seine Käse bereiten kann.

Eine ertragsfähige Sennte musste also aus rund 25 Kühen bestehen. Nur reiche Bauern konnten sich einen solchen Viehstand leisten. Ärmere Bauern waren hingegen auf Zusammenarbeit angewiesen: Insofern förderte die Hartkäserei den gemeinsa182 Vgl. etwa die ausführliche Regelung des Zugrechts für die Engelberger Genossenalpen bei Bruckner (1946: 88–91), dann auch Odermatt (1981: 131–133, Anm. 82). 183 Businger (1836: 59).

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men Sennereibetrieb, der zahlreiche Spielformen erlaubte. Genossen konnten ihr Vieh selbst auf der Alp versorgen bzw. versorgen lassen, die Käseherstellung jedoch gemeinsam besorgen bzw. Dritten anvertrauen. So konnten Talbauern Alprechte und Vieh einem Sennen leihen, der ihnen als Gegenleistung Alp- und Viehzinse bezahlte. Wer wieviel Vieh dem Alpbetrieb beisteuerte, wer dieses versorgte, wer welche Arbeiten in der Käseherstellung übernahm usw. waren Fragen, die bei einer kleinen Gruppe von Beteiligten sehr unterschiedlich und den jeweiligen Verhältnissen angepasst geregelt wurden. Dies galt insbesondere bei Formen familiärer Zusammenarbeit. Das Kloster Engelberg war an den einzelnen Genossenalpen ebenfalls beteiligt. Alpbücher aus dem späten 18. Jahrhundert belegen, dass die einzelnen Genossenalpen rund zur Hälfte dem Stift gehörten.184 Es ist angesichts dieser Besitzverhältnisse erstaunlich, dass die Engelberger Genossenalpen genossenschaftlicher Besitz blieben und sich nicht zu Eigenalpen des Klosters wandelten. Abt Gregor Fleischlin versuchte zwar 1682, alle Alpanteile des Klosters auf eine Genossenalp aufzurichten, doch blieb sein Vorhaben angesichts des Widerstandes der Alpgenossen erfolglos.185 Dieses beharrliche Festhalten am genossenschaftlichen Besitz ist bemerkenswert.186 Der grosse Klosterbesitz förderte den Pachtbetrieb im Hochtal erheblich. Die Klosterherren, die ihre Alpen nicht selbst bewirtschaften konnten, gaben ihren Alpbesitz als Pachtgüter weiter. Dies galt nicht nur für den klösterlichen Anteil an den Genossenalpen, sondern auch für die klostereigenen Alpen. Der Rostocker Professor Gerhard Philipp Heinrich Norrmann erklärte diesbezüglich in seinem 1798 erschienenen Reisebericht:187 Das Kloster selbst besitzt zwar viele eigenthümliche Alpen, Sennereyen, Waldungen, Weiden, und Wiesen im Thal und dem Gebirge umher. Vormals hielt es selbst grosse Heerden von Kühen und Schaafen, liess diese Güter durch eigene Leute benutzen, und unterhielt auch eine berühmte Stuterey. Jetzt hat es aber die meisten, besonders die Alpen und Weiden, für eine bestimmte Summe in baarem Gelde verpachtet, doch wird der Zins meist in Butter und Käsen bezahlt. An Wiesen behielt es nur so viel, wie zum Unterhalt von ungefähr 15 Pferden, einigen Kühen, 6 Ochsen und etwa 100 Schaafen zum eigenen Gebrauch erforderlich sind.

184 Vgl. Bruckner (1946: 95–97). 185 Vgl. ETP 4.142–144. 186 In anderen Alpgebieten, so auf den Glarner Alpen, gingen im 17. und 18. Jahrhundert viele Genossenalpen in den Besitz wohlhabender Einzelpersonen oder Einrichtungen über: Die Erträge der Alpwirtschaft machten aus dem Alpbesitz eine verlässliche Kapitalanlage, die zudem beträchtliche Gewinne versprach. Kleinere Alpbesitzer wurden dadurch verdrängt, was letztlich zur Auflösung der Genossenalpen führte. Vgl. Hösli (1948: 157–158). 187 Vgl. Norrmann (1798: 3075–3076).

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Ähnlich berichtete auch Christian Gottlieb Schmidt nach seiner Reise ins Hochtal 1787, dass die Talleute von „Kühen leben, die jedes gegen Erlegung eines Zinses auf die Alment des Klosters treibt“188 – der Begriff »Allmend« ist hier eindeutig verfehlt, an der Richtigkeit der Beobachtung ändert dies allerdings nichts. Auch hinsichtlich der Pachtzinse wirkte sich der Alpbesitz des Klosters förderlich aus: Im Hochtal stiegen die Pachtzinse nur mässig, während sie andernorts stark zunahmen. Die Klosterherren dämpften offenbar die Teuerung der Pachtzinse.189 Neben den Genossenalpen kamen die Eigenalpen hinzu, die sich einerseits im Besitz des Klosters Engelberg, andererseits im Besitz wohlhabender Talleute befanden. Unter den Klosteralpen stand sicherlich die Alp Herrenrüti (einschliesslich des Goldboden) an erster Stelle: Die Klosterherren gestalteten diese Alp zu einem Musterbetrieb, der seit dem 18. Jahrhundert fremden Reisenden regelmässig vorgeführt wurde. Die Alp lag im südöstlichen Ausgang des Hochtals: Im Jahr 1783 weideten auf dieser Alp 52 Kühe, 20 Kälber und 300 Stück Schmalvieh (Schafe und Ziegen).190 Die Weidezeit dieser Alp betrug knapp 120 Tage, also ungefähr vier Monate. Eine weitere bedeutende Klosteralp war Dagenstal, das auf knapp 1600 m ü. M. in einem kleinen Hochtal zwischen Hahnen und Wissberg gelegen ist. Die Weidezeit und die Stosszahl waren etwas geringer als jene der Herrenrüti. Eine dritte Klosteralp, die Alp Fang, lag im nordwestlichen Ausgang des Hochtals zwischen 950 m und 1150 m ü. M. Die Alp wurde vermutlich von knapp 30 Rindern bestossen. Die nahegelegene Alpflur Rietigboden befand sich ebenfalls in klösterlichem Besitz und konnte die Alpweiden der Fangalp ergänzen. Etwas näher, aber ebenfalls in nordwestlicher Richtung lag eine weitere Klosteralp auf Gschneit und Hüttstett. Diese Alp wurde mit einer Stosszahl von ungefähr 50 Rindern als Vorsäss genutzt. Die Gesamtstosszahl der Klosteralpen betrug also über 200 Rinder bzw. Kuhschweren. Zu den Eigenalpen, die im Besitz wohlhabender Talleute standen, zählte die Alp Fürren am Südhang des Wissbergs. Der Alpbesitz wurde bisweilen in die Vordere bzw. Hintere Fürren aufgeteilt, wobei die Stosszahl der Alp wohl gegen 100 Rinder betrug. Trotz der verhältnismässig hohen Lage von 1800 m ü. M. konnte die Alp über 100 Tage Weidezeit aufweisen. Ebenfalls im Privatbesitz befand sich die Alp Zieblen am Westhang des Hahnen, die von 1350 m bis über 1900 m ü. M. reicht. Auch diese Alp wurde bisweilen aufgeteilt, nämlich in die Untere und Obere 188 Vgl. Schmidt (1985: 87). 189 Vgl. dagegen für die Glarner Alpen Hösli (1948: 189–190). Das Kloster Engelberg stabilisiert übrigens bis heute die Alppreise, vgl. Hess u.a. (2001: 75): „Das Kloster Engelberg ist der grösste Alptitel-Besitzer. Das Kloster wirkt ausgleichend auf diesem besonderen ‚Aktienmarkt’ und viele Bürger richten heute noch die Alpzinsen nach den ‚Klosterpreisen’. Damit wird verhindert, dass die Alpung immer teurer wird und der Meistbietende alle Alpnutzung an sich reisst.“ 190 Vgl. Christoph Meiners Bericht in Dufner (1978: 58).

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Zieblen. Die Stosszahl betrug im 18.  Jahrhundert vermutlich knapp 40 Rinder. Nördlich davon lag die Alp Furggi, die wegen ihrer steilen Lage und des häufigen Steinschlags vermutlich schon früh als Kleinviehalp bewirtschaftet wurde. Unterhalb des Titlismassivs befanden sich drei weitere Eigenalpen. Am Ostfuss der Titlissteilwand lag das Firnalpeli, das etwa von 20 Rindern (das Kleinvieh nicht eingerechnet) bestossen werden konnte. Am Nordfuss befand sich die Alp Bödmen, deren Höhengrenze zwischen 1300 und 1600 m ü. M. liegt. Diese Alp wies vermutlich eine geringfügig höhere Stosszahl als das Firnalpeli auf. Am Westfuss, unterhalb des Galtibergs, lag schliesslich die Alp Hohfad zwischen 1400 und 1600 m ü. M.: Deren Stosszahl entsprach in etwa den beiden letztgenannten Alpen. Eine weitere Eigenalp lag im Talboden selbst, genauer an dessen nordöstlichem Ende: das Hintere Horbis. Diese Alp muss früher bei intensiver Bewirtschaftung wohl eine Stosszahl von 10– 20 Rindern erlaubt haben. Das Horbis scheint auch als Vorsäss genutzt worden zu sein, wobei die Abgrenzung von Alp, Vorsäss und Dauersiedlung in diesem Seitental für das 17. und 18. Jahrhundert schwierig zu rekonstruieren ist.191 Weitere Güter im Nordwesten des Tals, etwa das Hinteregg oder der Spis, könnten als Eigenalpen aufgezählt werden, doch ist auch hier der Grenzverlauf zwischen Alp- und Dauersiedlung für frühere Zeiten schwer festzulegen. Die Gesamtstosszahl der Eigenalpen betrug gut 200 Rinder. Der Alpbetrieb auf Eigenalpen unterschied sich nur unwesentlich von jenem der Genossenalpen. Die Alpbesitzer konnten ihre Alp selbst oder durch Dritte bewirtschaften lassen. Die klostereigenen Alpen wurden – wie schon erwähnt – meist zur Pacht freigegeben.

d) Das Alpvieh Ein gewinnbringender Alpbetrieb setzte einen ausreichenden Viehstand voraus. Immerhin weideten im Alpsommer ungefähr 1‘200 Rinder auf den Engelberger Alpen. Die Grasvorräte reichten jedoch kaum aus, um einen solchen Viehstand ganzjährig im Hochtal zu versorgen. Der Viehstand liess sich zwar im Frühjahr vergrössern, indem die Kühe zum geeigneten Zeitpunkt gedeckt wurden. „Die meisten Kühe kalben im hornung, märz, april; dass es recht gerüstet wird, ist des bauern studium“,192 lässt sich einem zeitgenössischen Bericht entnehmen. Doch reichte dieser Zuwachs nicht aus. Zusätzliches Vieh wurde für den Alpsommer von auswärts herbeigeholt und im Herbst wieder ins Unterland geführt. Das auswärtige Vieh stammte zunächst aus der 191 Vgl. ETP 15.237–238. 192 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155.

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näheren Umgebung, etwa aus dem unteren Engelberger Tal im nidwaldnerischen Hoheitsgebiet.193 Lehenvieh wurde aber auch aus Obwalden bezogen.194 Ein sehr beliebter Bezugsort für Lehenvieh scheint das luzernische Horw gewesen zu sein. So berichtete der Engelberger Arzt Maurus Feierabend im späten 18. Jahrhundert lapidar: „Lehenvieh kommt gemeinlich aus Luzernbiet von Horb.“195 Die geschäftlichen Beziehungen nach Horw sind gut belegt. Die fremden Sennten konnten eine beträchtliche Grösse aufweisen: 1779 wurden 71 Stück Rindervieh allein aus Horw auf den Engelberger Alpen geweidet.196 Dauerhafte Beziehungen im Viehhandel bestanden ferner mit Brienz im Berner Oberland.197 Das Vieh konnte im Frühling auswärts nicht nur geliehen, sondern auch gekauft werden. Das regionale Beziehungsnetz war gut eingespielt, wie allein schon die sehr bruchstückhafte Überlieferung verdeutlicht. Die Engelberger Alpwirtschaft stand nicht nur hinsichtlich des Aussenhandels in regionalen bzw. überregionalen Zusammenhängen, sondern bereits bezüglich der Viehbeschaffung – das Alpwesen war im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs eine bloss örtliche, abgeschottete Wirtschaftsform. Die Einfuhr fremden Viehs gab seit dem frühen 17. Jahrhundert immer wieder Anlass zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Die Einfuhrbedingungen wurden schrittweise verschärft, besonders unter dem Abbatiat Ignaz Betscharts (1658– 1681). Die Winterung von fremdem Vieh wurde nicht mehr erlaubt. Das Vieh durfte einer späteren Regelung zufolge frühestens am 22. Mai ins Tal geführt und musste am Leodegarstag (2. Oktober), am Tag des Alpabzugs, wieder zurückgetrieben werden.198 Eine übermässige Atzung der Weiden im Sommer schien die Versorgung des Heimviehs im Winter zu gefährden. Energisch schritt das Talgericht ein, wenn Bauwland und Matten mit eigenem oder fremdem Vieh geätzt wurden.199 Weiter entstand im Zugrecht neuer Klärungsbedarf, d.h. Vorrechtsfragen mussten geregelt werden.200 In eine ähnliche Richtung wiesen auch Klagen bezüglich Alpübersetzungen, die sich in jener Zeit häuften. Alpen wurden nicht selten übernutzt, zum Schaden der Pächter sowie der Alpweiden selbst. So klagten die Pächter der Alp 193 Vgl. exemplarisch ETP 16.414–419. 194 Vgl. ETP 15.299–300 und 16.138–140. 195 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155. 196 Vgl. ETP 11.34, 17.188 und 19.430–431. 197 Vgl. ETP 15.33, 15.310 und 16.191–192. 198 Vgl. ETP 2b.664–665, dann Bruckner (1946: 84). 199 »Bauw«bedeutet in der schweizerischen Mundart »Mist«. Bauwland ist dementsprechend gedüngtes Land, d.h. Fettwiesen. »Matten« heissen in Engelberg die zur Mahd bestimmten Weiden. 200 Kaufte z.B. ein Alpgenosse im Frühling auswärtiges Vieh, war dieses zwar als eigenes Vieh zu betrachten, doch war es nicht im Tal überwintert worden.

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Fürren 1669 vor dem Talgericht gegen die Alpbesitzer, denn ihnen sei „Füren aber für den tritten teil mehr geben undt übersendt worden; haben mangel glitten, dass sie müessen grass kauffen [...] undt wil schon frembdes vich darinn gangen, ihnen die alp überseidt worden.“201 Das Talgericht suchte diesem Übel mindestens auf den Genossenalpen beizukommen und beschloss 1681:202 Demnach hat auch E.E.G. [ehrsam-ehrwürdiges Gericht] für guet angesechen, das fürohin zuo Verhütung mehr dergleichen ersorgenden Fählern [d.h. der Alpübersetzungen] alle die jenige, die etwas Vichs auf die Alp treiben wollen, zuovor den Banwarthen ein Zedel einhändigen sollen, wie vill Alpig, und von wem sie solche empfangen.

Die genannten Alpzettel wurden zum unentbehrlichen Aufsichtsmittel, um die Übersetzung der Genossenalpen und mühevolle Rechtsstreitigkeiten zu verhindern. Allerdings waren nicht nur wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend dafür, dass Auswärtige von der alpwirtschaftlichen Nutzung des Hochtals ausgeschlossen wurden. Ebenso wirkte in der Herrschaft Engelberg ein politischer Abschliessungswille, der in jener Zeit vielerorts verbreitet war.

e) Die Alparbeit Der Arbeitsaufwand in einem Alpbetrieb hing zunächst von der Zahl des besorgten Viehs ab. Als ungefährer Richtwert für die Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts gilt, dass auf je zehn Kühe etwa eine Arbeitskraft entfiel.203 Dieser Wert wird für Engelberg durch einen Bericht Christoph Meiners, der die Alp Herrenrüti 1783 besuchte, ebenfalls gestützt: Auf der genannten Alp arbeiteten acht Personen für einen Viehbestand von 52 Kühen und rund 20 Kälbern, das Schmalvieh nicht eingerechnet.204 Dabei muss bedacht werden, dass die Herrenrüti einen klösterlichen Musterbetrieb darstellte: Die Arbeitsabläufe waren hier vermutlich stärker rationalisiert als auf anderen Alpen. Da die Engelberger Alpen einen Viehbestand von rund 1200 Stück Rindvieh aufwiesen, mussten während des Alpsommers gegen 120 Älpler beschäftigt sein. Weiter kamen jene Arbeitskräfte hinzu, welche die Hut und Pflege des Schmalviehs besorgten. Eine saisonale Arbeitsspitze ergab sich im Hochsommer insofern, als Arbeiten auf sämtlichen Höhenstufen der alpinen Mehrstufenwirtschaft anstanden. 201 Vgl. ETP 3.134–135. 202 Vgl. ETP 4.110–111. 203 Entsprechende zeitgenössische Quellen hat Alfred Guido Roth in seiner Arbeit über den Sbrinzer Käse gesammelt, vgl. Roth (1993: 320). 204 Vgl. Christoph Meiners Bericht bei Dufner (1978: 58).

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Die anfallende Arbeit konnte nur unter Zuzug weiterer Hilfskräfte (z.B. aus dem eigenen Familien- und Freundeskreis) gemeistert werden. Auch Frauen arbeiteten auf den Engelberger Alpen, wie Konrad Füssli 1766 bemerkte: „Die Weibsleuthe haben sich die Zeithen beschäftiget mit Arbeit in den Senten.“205 Auch Fremde mussten bisweilen eingestellt werden. So berichtete Abt Ignaz Burnott 1689 an die Schirmorte: „weilen in unserer eignen arbeit, ein solcher mangel deren männern gespüret wird, das wihr gezwungen sind, neben unseren im Sommer sonst occupireten, unsere bekannte werkh, mehrtheils mit frömbden arbeitern zu versechen.“206 Die Alparbeit beschränkte sich nicht nur auf den eigentlichen Alpsommer von Juni bis September. Die Arbeitskräfte wurden bereits bei der Bewirtschaftung der Vorsässen gebraucht, ferner führte der Alpsommer manche Vorbereitungs- und Abschlussarbeiten mit sich, die im Frühling bzw. im Herbst geleistet werden mussten. Selbst im Winter, während der Stallfütterung, musste das Vieh im Talbetrieb ohne Unterbruch versorgt und gepflegt werden. Die alpine Milch- und Viehwirtschaft kannte zwar eine saisonale Arbeitsspitze im Sommer, bedingte aber auch zahlreiche ganzjährige Arbeitsabläufe. Die Alparbeit gliederte sich in zwei Arbeitsfelder.207 In der Sennerei fielen jene Arbeitsgänge an, die mit der Käseherstellung in Verbindung standen. Die Sennten wurden zweimal täglich gemolken, die Milch zwischengelagert, Butter gewonnen, Zieger- und Hartkäse hergestellt, der frische Hartkäse gelagert, gewendet und gesalzen, ehe er ins Tal hinuntergetragen wurde, Brennholz herbeigetragen, Gerätschaften und Einrichtungen gepflegt und unterhalten, usw. Die Herstellung von Hartkäse war ein ausgesprochen anspruchsvolles Handwerk, das viel Erfahrung und Geschick verlangte. Der Senn musste auch auf die Fütterung der Kühe achtgeben, da frisches Gras nach gängiger Meinung Güte und Menge der Milch beeinflusste. „Auch hangt die Fragranza [des Käses] viel von der Exposition der Alpen und Grasarten ab“, berichtete diesbezüglich der Engelberger Scherer Maurus Feierabend im 18.  Jahrhundert.208 Die Käsepflege beanspruchte ebenso viel Aufmerksamkeit und Fleiss: „Ein jeder Käs wird wenigstens ein Jahr oder einen Winter durch in luftigen Magazinen oder Gemächern zwischen hölzernen Gestellen

205 Vgl. Konrad Füsslis Bericht bei Dufner (1978: 27). 206 Vgl. Brief von Ignaz Burnott an die Schirmherren Engelbergs (ohne Datierung), in CFD. 207 Vgl. zum Folgenden auch Lusser (1834: 56), Gutzwiller (1923: 64, 66, 79–80), Weiss (1992: 269–310, 344, 346) und Roth (1993: 320, 325). 208 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155.

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aufbewahrt, ehe er verschickt wird“,209 erfuhr der auswärtige Reisende Christoph Meiners in den Käselagern des Klosters. Die Magerkäserei spielte im Alpbetrieb eine untergeordnete Rolle. Ziegerkäse war wenig haltbar und diente meist der Selbstversorgung. Die Magerkäseherstellung fiel eher in den Talkäsereien zur kalten Jahreszeit an: „Darum wird im Winter nur magerer Käs gemacht, da man fünf Tage lang die Milch zusammenkommen lässt, auf einmal den Rahm abnimmt und anket und nur aus der blauen Milch käset“ – so Maurus Feierabend weiter.210 Wie sehr in Engelberg die ungleich geringwertigere Magerkäserei der Hartkäserei nachstand, belegt eine Aussage Norrmanns von 1798: „Man bereitet hier auch nur fette Käse, und kauft viele magere zur eigenen Konsum[p]tion in Unterwalden auf.“211 Nach Abschluss des Käsevorgangs blieb schliesslich die Schotte (auch Suffi genannt) zurück, die auf vielfältige Weise weiterverwendet wurde. Sie war als Getränk oder vermischt mit Ziegerkäse das Grundnahrungsmittel der Bergbevölkerung. Die Schotte wurde aber auch Schweinen verfüttert, die eigens dafür auf den Alpen gehalten wurden und deren Pflege ebenfalls zur Sennenarbeit gehörte. Die Sennenarbeit war streng und nicht besonders beliebt. „Gemeiniglich sind die Senn arme Leuth, auch Frömde wie Alpgenoss, wann er nicht gern Alpig entlehnt“, stellte Maurus Feierabend fest.212 Das zweite Arbeitsfeld führte auf die Alpweiden und –wälder. Jedes Jahr und besonders nach der Schneeschmelze mussten die Alpflächen geschönt, d.h. gesäubert werden. Steinschläge und entsprechende Rüfenen (d.h. Murgänge) kamen im oberen Alpgürtel regelmässig vor, bedingt durch die Erosion des darüberliegenden Hochgebirges. Auch Lawinen oder starke Niederschläge verursachten Murgänge mit entsprechenden Schäden für das Alpgebiet. Bachbetten mussten freigelegt bzw. verbaut, Tränkgruben ausgeputzt, Holztröge und die dazugehörigen Dünkelleitungen (d.h. Wasserleitungen aus Holz) aufgestellt, feuchtnasse Alpflächen entsumpft werden. Um die Begehbarkeit der Alp sicherzustellen, mussten die Viehwege ausgebessert, Brücken verlegt und Furten begehbar gemacht werden. Die Alpweiden selbst mussten von Unkräutern befreit werden, etwa von Staffelböhni, Germern, Eisenhut, Burst, Blacken, Nesseln und bei grösserem Vorkommen auch Disteln. Durch ihr massenhaftes Vorkommen konnten weitere Pflanzen wie Brüsch, Heidelbeeren und Alpenrosen zur Plage werden und grosse Flächen der

209 Vgl. Meiners Bericht in Dufner (1978: 57). 210 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155. 211 Vgl. Norrmann (1798: 3074). 212 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155.

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Alp überwachsen.213 Ungewiss ist, ob im 17. und 18. Jahrhundert auch Futterpflanzen gezielt angebaut wurden. Sichere Belege dafür finden sich erst im 19. Jahrhundert.214 Hingegen ist die Düngung der Alpweiden mit Mist schon früher belegt. In den Alpställen und bei den Melkplätzen wurde der Mist gesammelt und anschliessend auf die umliegenden Weiden ausgetragen. So beantragte Abt Ignaz Betschart vom Talgericht 1661 den Beschluss einer neuen Verordnung, es sollten „alle und iede verbunden sein, inn allen gmeinen alpen denn bauw vonn den hütten, vorrich, melchgädmen etc. auff die wytt aus ze füeren und anlegen“.215 Weiter mussten vor Weidebeginn die Zäune bzw. Mauern neu aufgerichtet bzw. verbessert werden. Diese Zäune hatten nicht nur die Aufgabe, verschiedene Alpgebiete voneinander zu scheiden, sondern auch gefährliche, meist abschüssige Stellen zu sichern und für den Weidgang des Viehs vorzubereiten. Weiter kamen die Arbeiten im Wald und auf dem Wildberg hinzu. Die Arbeiten mussten bisweilen mehrmals jährlich verrichtet werden. Mit Recht hielt der unterwaldnerische Alpprüfer Heinrich Schneebeli noch 1912 fest, es „liegt der Älpler vielfach in stetem Kampf mit den verheerenden Naturgewalten und hält es oft ausserordentlich schwer, auch nur den gegenwärtigen Besitzstand aufrecht zu erhalten, geschweige denn ihn zu mehren“.216 Liess die Alpsäuberung auch nur vorübergehend nach, setzten unweigerlich Vergandung, Verkleinerung der Alpfläche und schliesslich Verringerung des Alpertrags ein. Die grösstmögliche Nutzfläche konnte nur mit beträchtlichen, stets wiederholten Anstrengungen erhalten werden. Bedenkt man, wie rasch die nutzbare Alpfläche anfangs des 20.  Jahrhunderts abnahm, lässt sich umgekehrt erahnen, wie intensiv die Alpflächen in der vorangehenden Zeit bewirtschaftet wurden. Auf den Alpweiden fiel auch die Hut und Pflege des Viehs an. Zur Erstellung eines Wiedeplans waren Kenntnisse über Fluren, Wege, Pflanzen, Wind- und Wettervorzeichen nötig, das Vieh musste in abschüssigem Gelände oder bei ungünstiger Witterung (vornehmlich Gewitter und Schneefall) vor Unfällen bewahrt werden, kranke und verletzte Tiere mussten gepflegt, geschient und gefüttert, junge und trächtige aufmerksam beobachtet werden, usw. Schwierige Alpübergänge liessen sich nur im Verbund mit anderen Hirten bewältigen: „Bey auf- und abfahren zuo Planggen im schne oder sonsten, soll aus ieder hütten ein man erscheinen, und in der hütten das ihrig alles liggen lassen, und der banwarthen befelch scheünig nachkommen.“217 213 Vgl. Etlin (1903: 17). 214 Vgl. Businger (1836: 51). 215 Vgl. ETP 2b.664–665. 216 Vgl. Schneebeli (1912: 4). 217 Vgl. ETP 12.211–215.

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Die Hut des Viehs mochte bei schönem Wetter sicherlich etwas Beschauliches an sich haben und fremde Reisende mit sehnsüchtigen Vorstellungen erfüllen: Die Viehhut war allerdings ausserordentlich mühevoll, wenn im Hochgebirge nasskaltes Wetter über mehrere Tage anhielt. Wenn keine Wetterbesserung eintrat, musste das Vieh in tiefergelegene Weiden geführt werden – viele Alpen waren mit sogenannten Schneefluchtrechten ausgestattet, welche die Atzung des Viehs auf fremden Weiden vorübergehend erlaubte. Wenn im schlimmsten Fall das Schneewetter anhielt, musste der Alpbetrieb ganz eingestellt werden. So sahen sich die Älpler von Obhag und Planggen am 1. August 1770 gezwungen, ihr Vieh von weiterem Unheil zu beschützen, „dieselbe auch aus der alp weg zu nemmen oder anderstwo indessen verdingen zu lassen“.218 Die Arbeitsbelastung der Hirten war über den Alpsommer zwar nicht gleichmässig hoch, aber doch beachtlich. Müssiggänger waren die Hirten keinesfalls.

2.1.3 Gemeindebesitz Das Nutzland des Hochtals lag hauptsächlich in Privatbesitz. Die Güter der Talstufe gehörten einzelnen Talleuten, wobei auch das Kloster eigene Weiden und Pachthöfe (vornehmlich im Unterberg) besass. Die Alpgebiete teilten sich Genossenschaften und Privateigner auf. Verstreut und gleichsam eingepfercht zwischen diesem ausnehmenden Privatbesitz lagen einzelne Nutzflächen im kommunalen Besitz. Die Allmend war das gemeinschaftliche Eigentum all jener, welche die Rechte und Pflichten eines Talmanns besassen. Dementsprechend berieten und entschieden die Talleute gemeinsam an der Talgemeinde über die Nutzung der Allmend. Die Waldgebiete zwischen Alp- und Talstufe bildeten den bedeutendsten Teil der Allmend. Der Wald lag im Hochtal mehrheitlich in Gemeindebesitz und wurde mit dem Begriff Gemeinwald bezeichnet. Innerhalb des Gemeinwaldes waren gewisse Bezirke ausgesondert, die wegen ihrer Schutzfunktion gegen Hochwasser-, Lawinen- und Rüfenniedergänge aller Art nur beschränkt genutzt werden konnten: Diese geschützten Waldbezirke bildeten den Bannwald. Im 18. Jahrhundert liessen sich jedoch Gemein- und Bannwald immer weniger auseinanderhalten, da auch der Gemeinwald zunehmenden Nutzungsbeschränkungen unterworfen wurde. Im Talboden besass die Gemeinde zwei grössere Matten: Eine in der Schuemettlen und eine im Tellenstein. Diese beiden Matten wurden in der Regel gegen Zins an einzelne Talleute verliehen, nicht anders als das Kloster seine Matten gegen Zins 218 Vgl. ETP 15.120.

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verlieh oder verpachtete. Der Zins der beiden Matten floss in den Talsäckel, also in die Gemeindekasse.219 Zu diesen beiden Matten kamen weitere Nutzflächen hinzu, die vor allem im 18. Jahrhundert stückweise in Gartenland umgewandelt wurden. Dazu gehörten Landbezirke um das Hochgericht bei der Rütimatt, bei der Kapelle St. Jakob im Espen, an der Gasse, in der Widen und der Wetti, bei der Festi und im Fürholzrain.220 Zur Allmend gehörten auch einige Hochweiden. Dazu zählten – vereinfacht ausgedrückt – all jene Weideflächen, die sich ausserhalb der Genossen- und Eigenalpen befanden. Da die grossen, gut zugänglichen und fruchtbarsten Weiden von den Genossen- und Eigenalpen bewirtschaftet wurden, entfielen hauptsächlich kleinere, schwer erschliessbare und den Naturgewalten ausgesetzte Weiden auf die Allmend. Diese Hochweiden der Allmend wurden unter dem Begriff Gemeinberg zusammengefasst. Alles in allem mag sich der Gemeinberg auf 200 Hektaren ausgebreitet haben: Der Gemeinberg stellte also eine beachtliche Fläche dar.221 Neben dem Gemeinberg besass die Gemeinde im Hochweidegebiet eine weitere Nutzfläche, den sogenannten Geissberg. Das wichtigste Gebiet des Geissbergs (östlich der Gerschni) trägt noch heute diese Bezeichnung als Flurnamen. Der Geissberg diente, wie es der Name sagt, dem Weidgang der Ziegen und teilweise der Schafe. In Gemeindebesitz stand überdies ein ausgebautes Strassen- und Wegnetz, das nicht nur gebaut, sondern fortlaufend unterhalten werden musste. An erster Stelle ist dabei die Landstrasse zwischen dem Dorfausgang und Grafenort zu nennen, der einzigen ausgebauten Verkehrsverbindung von und ins Hochtal. Der Gemeindebesitz gliederte sich entsprechend in Gemeinwald, Talmatten, Gemeinberg sowie Strassen- und Wegnetz. Die Bewirtschaftung dieser Allmendbezirke erfolgte unterschiedlich und war mit jeweils eigenen Herausforderungen verbunden. Sie werden deshalb im folgenden Abschnitt gesondert dargestellt.

a) Gemeinwald Der Wald wurde im Hochtal vielfältig genutzt. Das Holz bildete dabei zweifellos den wichtigsten Rohstoff. Dieses wurde erstens als Bauholz zur Errichtung bzw. zum Erhalt von Gebäuden verwendet: Holz war das Baumaterial schlechthin. Zweitens wurde Holz als Hagholz genutzt: Die Erstellung und der Unterhalt von Einfriedun219 Vgl. Hess (1956: 110). 220 Vgl. ETP 15.417–420. Unklar bleibt, ob mit Gasse die Dorfgasse oder die Gasse oberhalb der Hostatt im Oberberg gemeint ist. 221 Hess (2002) hat die einzelnen Wildheugebiete Engelbergs, die sich in etwa mit dem Gemeinberg decken, hervorragend kartographiert und ausgemessen.

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gen zwischen Grundstücken verursachten einen grossen Verbrauch an Holz. Drittens stellte Holz den wichtigsten Heizstoff dar: Jeder Haushalt benötigte für das Kochen, Heizen, Waschen und ähnliche Verrichtungen Holz. Ebenfalls auf Brennholz angewiesen waren die Sennhütten auf den Alpen und die Wellhütten im Tal: Das Hartkäsen zog einen beachtlichen Holzverbrauch nach sich. Die Hartkäserei brauchte nicht nur Holz zum Feuern, sondern auch Holzrinde für die Herstellung von Käsejarben, also für die Käseverpackung. Viertens wurde Holz auch für den Bau und den Unterhalt von Brücken verwendet. Brückenholz wurde bei grösseren und kleineren Bachübergängen eingesetzt. Fünftens diente Holz auch der Erstellung und Instandhaltung von Wasserleitungen. Das Dünkelholz wurde im Talboden erst ab 1900 allmählich durch gusseiserne Leitungen ersetzt.222 Die Nachfrage nach Bau-, Hag-, Brenn-, Brücken- und Dünkelholz verursachte den grössten Teil des Holzbedarfs. Doch auch unzählige Einrichtungen und Werkzeuge im Haus und in den Wirtschaftsgebäuden bestanden aus Holz. Auch der jährliche Holzbedarf der Mühle musste gedeckt werden.223 Eine erhebliche Holzmenge erforderten schliesslich der Bau und der Unterhalt der zahlreichen Wasserwehren im Hochtal. Für die einzelnen Wehren bestanden in den naheliegenden Wäldern – ungeachtet der Besitzverhältnisse – gewisse Holzhaurechte, um die Wehren instandhalten zu können.224 Neben dem Holz bildete die Streu einen weiteren wichtigen Rohstoff des Waldes. Im Wald wurde aber auch Weidgang betrieben, vornehmlich jener des Schmalviehs. Weideflächen im Wald bzw. in den Waldlichtungen konnten nicht nur geätzt, sondern auch gemäht werden. Weidgang und Mähen im Wald gehörten wie das Streulesen bis ins 20. Jahrhundert zu den Bewirtschaftungsweisen des alpinen Waldes.225 Von eher untergeordneter Bedeutung war das Harzen, d.h. die gezielte Gewinnung von Baumharz.226 Die intensive Waldnutzung führte im 17. und 18. Jahrhundert zu einer Erscheinung, die in zeitgenössischer Sprache als »Abgang des Waldes« umschrieben wurde: Knappheit, Übernutzung und Rückgang des Waldes wurden bald zur dauerhaften Sorge und lösten unzählige Beratungen in Gerichtssitzungen, Talgemeinden und Genossengemeinden aus. 222 Vgl. De Kegel (1993: 11). 223 Vgl. ETP 5.184–185. 224 Vgl. ETP 11.37–38, 11.612–613, 14.370–371 und 14.400–401. 225 Vgl. Stuber/Bürgi (2002). 226 Das Harzen wurde 1706 wegen seiner Schädlichkeit unter Verbot gestellt, vgl. ETP 4.509.

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Schon 1627 vermahnte das Gericht mehrere Talleute, weil sie im Bannwald Holz gehauen hatten. Selbst der damalige Ammann Hans Häcki wurde mit einem Verweis bestraft.227 An der Talgemeinde vom 10. Juni 1645 musste Abt Plazidus Knüttel besorgt feststellen, „dass man kein achtung uff die banwald heig und selbige nit schirme“. Abt und Gemeinde beschlossen darauf, zwei Waldvögte zu bestimmen und gaben diesen den Auftrag, „dass sei niemant lassent hauwen, holtz darus [aus den Bannwäldern] nemen ohne ihren bevelch oder erlaubtnus“.228 Eine vergleichbare Massnahme war auf den Genossenalpen bereits 1628 getroffen worden.229 Unter Bann gestellt wurden der Stolliwald, der Wald in der Schletteren, im Tellenstein und im Fürholz, ebenso der Wald entlang des Bärenbachs und der Mühliwald. Der Holzschlag im Bannwald liess sich allerdings nur schwer beaufsichtigen. An der Talgemeinde vom 17. März 1658 wurde wiederum beklagt, dass im Bannwald weiterhin ohne Erlaubnis gehauen werde – und dies selbst von Hinter- bzw. Beisassen. Den Talleuten wurden die entsprechenden Bestimmungen und der genaue Grenzverlauf des Bannwaldes nochmals eingeschärft.230 Unter dem Abbatiat Ignaz Betscharts (1658–1681) mehrten sich die Massnahmen zum Schutz des Waldes. So bannte das Gericht am 2. Juni 1663 einen weiteren Wald auf der Eien „zu behilff des Aawasser wehrens“.231 Auch um den Aufwuchs des Waldes begann man sich zu sorgen. Den Sennen und Älplern wurde im selben Jahr verboten, Käsejarben aus Grotzen (d.h. jungen Tannen) herzustellen. Wer rechtswidrig Bäume oder Grotzen fällte, wurde neben einer Busse dazu verpflichtet, den Wald entsprechend aufzuschönen, also zu säubern.232 Als ferner ein Sturmwind 1674 viele Bäume im Bannwald umwarf, erliess das Gericht ein allgemeines Holzhauverbot, bis das Windholz aufgebraucht sei: Kein gefallenes Holz sollte ungenutzt bleiben.233 Wenn ferner ein grösserer Holzschlag anstand, wurde dieser auf verschiedene Wälder verteilt, um nicht einzelne Waldbezirke zu übernutzen.234 Der hohe Holzbedarf erschwerte Nutzungsbeschränkungen des Waldes. Wurden diese Beschränkungen erlassen, war ihre Umsetzung schwierig und der Unmut der Talleute sicher. So bat Säckelmeister Jörg Kuster 1674 das Gericht, den Bann über den Stolliwald und andere (bereits gebannte) Wälder neu zu bekräftigen – ein weiterer Hinweis, dass das Hauverbot vielfach verletzt wurde. Da Abt Ignaz Betschart damals nicht im Tal weilte und das Gericht die Verantwortung offenbar nicht al227 Vgl. ETP 2a.65b. 228 Vgl. ETP 2b.438–439. 229 Vgl. ETP 2b.41. 230 Vgl. ETP 2b.594, siehe auch ETP 2b.590–591. 231 Vgl. ETP 2b.696 und 2b.698. 232 Vgl. ETP 2b.700, siehe ferner ETP 4.484–486 und 4.489. 233 Vgl. ETP 2b.243–244. 234 Vgl. ETP 4.83.

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leine tragen wollte, kam das Gericht der Bitte nicht nach und beschied lediglich, „man müöss ihr Gnaden ankunft erwarten“.235 Tatsächlich übten die Äbte den grössten Druck aus, wenn es um den Schutz und Erhalt des Waldes ging. Das lag nicht zuletzt daran, dass das Kloster eigene Wälder besass und weniger dringlich auf die Nutzung des Gemein- und Bannwaldes angewiesen war. Die Gerichtsherren hingegen zeigten sich bei der Verfolgung forstrechtlicher Vergehen wesentlich nachlässiger. Abt Ignaz Betschart sah sich 1678 bezüglich des unerlaubten Holzschlags gar zur Anordnung veranlasst, es „solle ins künftige ein jeglicher Grichtsman schuldig sin, wo fern er etwas Fehlbahres hören, oder selbsten sehen wurde, solches an gebührenden Ohrten bey ihrem Eydt zue leiden“.236 Aus dieser Anordnung lässt sich der Umkehrschluss ziehen, dass die Gerichtsherren bei Forstvergehen öfter ein Auge zudrückten. Wie die Nutzung der Weiden durch Auswärtige stark eingeschränkt war, so wurde auch der Verkauf von Holz bzw. Wald an Auswärtige nach Möglichkeit begrenzt. Mit dem Mandat vom 1.  April 1687 beschlossen Abt und Gericht, dass jegliche Holzverkäufe an Auswärtige die Erlaubnis des Abtes voraussetzten. Die Bestimmung fand auch im 18. Jahrhundert noch Anwendung.237 Die Sorge um den Aufwuchs des Waldes beschäftigte das Gericht 1694 erneut.238 So berichtete Weibel Niklaus Kuster dem Gericht, dass man mit Schwändnus in den Wälde[r]n merklichen Schaden verursache, undt die Wälder wegen Abhauw der aufgeschossnen jungen Tandlin und anderen Schützling die Waldt dessentwegen beschediget undt des Holtzens entpleset [entblösst] werden.

Abt und Gericht entschieden daraufhin, dass kein Grünholz und kein Jungwuchs mehr ohne Erlaubnis der Waldvögte gefällt werden durfte. Im gleichen Zug wurde das Schwenden in den Wäldern grundsätzlich verboten.239 Ein eigenes Problem bildete im Hochweidegebiet der Hau von sogenannten Schutz- oder Wettertannen. Diese weit geschwungenen Tannen dienten dem Grossvieh als Schutz vor der brütenden Mittagssonne und vor Gewittern. Entsprechend

235 Vgl. ETP 3.235. 236 Vgl. ETP 4.54–55. 237 Zum Mandat vgl. Schnell (1858: 121), zur Rechtspraxis im 18. Jahrhundert vgl. ETP 11.221–222. 238 Vgl. ETP 4.362. 239 Vgl. zu diesen Bestimmungen auch ETP 4.522–527. Für einen schweren Verstoss gegen die Verordnung vgl. ETP 11.138–139.

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ihrer Bedeutung genossen Wettertannen einen stärkeren Schutz. Wer solche Tannen unerlaubterweise fällte, musste mit höheren Bussen rechnen.240 Der Waldschutz blieb auch im 18. Jahrhundert ein vordringliches Thema. Die Unterscheidung zwischen Gemein- und Bannwald verlor an Bedeutung, da auch der Gemeinwald stärkeren Nutzungsbeschränkungen unterworfen wurde. Ein eigentliches Machtwort sprach Abt Maurus Rinderli in seinem Mandat vom 15. Mai 1729, mit dem er den Gemeinwald annähernd unter denselben Schutz stellte wie den Bannwald, Weilen man [...] ohnbeliebig bemerckhen müössen, dass die gemein wälde[r]n in starckhen abgang gerathen, in dem jeder bren-, auch anderes holtz, nach eigenem belieben hauwt und fellet, sonderheitlichen dahin gewahret, dass frisch und iunge holtz weg gethan, hingegen das ligendt auch abgehend ligen gelassen wird, zuegleich so ohnbehuotsam im fellen, dass nahmhafter schaden, besonderen halb gewachsenen tan als buochlen durch das fellen verursachet wird, mit wenigem so eigennützig jeder nach gefallen sich zue beholtzen trachtet, dass anderst als der gentzliche ruin des holtzes halber in unserem thal nit ohn grund bey nechsten zeiten erfolgen wurde.241

Weiter erinnerte der Abt daran, dass besonders die Bannwälder eine wichtige Schutzfunktion gegen Lawinenniedergänge besässen, die nicht gefährdet werden durfte.242 In den folgenden Jahren wurde der Abgang des Gemeinwaldes wiederholt beklagt. Schliesslich sah sich Abt Emanuel Crivelli 1740 zur Anordnung gezwungen, Talleute dürften nur mit Einwilligung des Gerichts im Gemeinwald Holz schlagen.243 Während sich die Nutzungsbeschränkungen des Gemeinwaldes jenen des Bannwaldes anglichen, wurde dieser weiter ausgedehnt und der Schutz desselben verstärkt. So beschloss 1709 das Gericht, es dürften im gebannten Stolliwald aufs Mal nur vier bis sechs Bäume für Bauholz gehauen werden. Als im gleichen Jahr Abt Joachim Albini Teile der Alp Eien in Matten umwandeln wollte, lehnte dies das Gericht mit der Begründung ab, dass die notwendigen Einfriedungen den Holzmangel noch weiter verschärfen würden.244 Umgekehrt lehnte 1715 das Gericht den Antrag des Abtes ab, das Mühlimäs (ein Waldstück zwischen den Alpen Gerschni und 240 Vgl. ETP 4.425, 4.426, 4.530 und 7.424–425. 241 Vgl. ETP 7.356–361. 242 Wälder beugten nicht nur dem Niedergang von Lawinen, sondern auch jenem von Rüfen vor. So stoppte das Gericht 1755 den Hau eines Waldstücks, weil es durch den Holzschlag die darunterliegende Landstrasse gefährdet sah, vgl. ETP 14.32–33. 243 Siehe ETP 8.356–361, vgl. auch ETP 11.183, 11.311–313, 11.369 und 11.588–589. 244 Vgl. ETP 5.50–51 und 5.68–71.

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Trüebsee) in Bannwald umzuwandeln. Das Gericht begründete seine ablehnende Haltung damit, dass der besagte Bezirk einen grossen Ertrag an Streu liefere und für den Weidgang des Viehs von grossem Nutzen sei.245 Abt Maurus Rinderli stellte 1727 den Antrag, dass kein Bauholz mehr aus dem Stolliwald und dem Wald im Vorhag gehauen werden solle. Seinen Antrag begründete er damit,246 dass alzu sehr man die Wälder beschedige und leider seit wenig Jahren in solchen Abgang gerathen, dass in kurtzen Jahren, so man also forthfahren sollte, der grösten Holzmangell erfolgen müösse, wie dan schon würckhlichen das Bauw- auch Schindelholtz nit allein kümerlich, sonder fast nirgendts, besonders in der Nahe, zu finden.

Gleichzeitig schlug der Abt vor, die weit abgelegenen Wälder auf den Alpen Wand und Walen stärker zu nutzen, damit sich die nahegelegenen Wälder erholen könnten. 1756 war es das Gericht, dass die Bannung weiterer Waldstücke beantragte, nämlich des Waldes in der Eien einerseits und des Waldes zwischen Zisegg und Wandlücke andererseits.247 Fünf Jahre später wurden die Wälder auf Stoffelberg und im Vorhag gänzlich gebannt. Um die Nutzung der abgelegenen Wälder auf den Alpen Wand und Walen zu fördern, wurde der Bau einer neuen Forststrasse beschlossen. An der Talgemeinde vom 21. Dezember 1761 wurde der Bau der neuen Strasse gutgeheissen. Die neue Strasse musste in schwierigem Gelände angelegt und teilweise mit Schwarzpulver ausgesprengt werden: Bereits Ende 1762 war der 111 Gulden teure Strassenbau beendet. Fünf Jahre später wurde für die erschlossenen Wälder ein eigener Waldvogt bestimmt. Der Holzzug von der Wand bis zum Boden wurde vom Andreastag bis zur Märzmitte erlaubt.248 Der Waldschutz konnte in der Gemeinde für heftigen Streit sorgen, wie sich etwa nach dem Verkauf der Eienalp zeigte. Die besagte Genossenalp wurde 1763 aufgelöst und stückweise an wohlhabende Talleute verkauft. Bald wurden jedoch Klagen seitens der Gemeinde laut, dass „durch ausreüthung und landtseüffnung [d.h. Reuten und Schönen] abseiten der ietzmahligen besitzer und eigenthümer der ge-

245 Vgl. ETP 7.500–501. 246 Vgl. ETP 9.347–348. 247 Vgl. ETP 14.44–45. 248 Vgl. ETP 14.152–153 sowie ETP 13.166–169, 13.206–207 und 13.238–239, dann ETP 14.218–220 und 14.298. Zu älteren Plänen auch ETP 11.193–194 und 11.223– 224.

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meinde und sogar der pannwald schweine [schwinde]“. Diese Klagen führten 1770 zu einer sehr genauen Marchung des Bannwaldes in der Eien.249 Der Streit um die Waldnutzung in der Eien ging 1788 in eine neue Runde. Ursprünglich war die Beratung des Streits für die Säumergemeinde vom 9. März 1788 angesetzt worden. Die Säumergemeinde war eine jährliche Versammlung der Gemeinde, die – anders als die Talgemeinde – ohne Anwesenheit des Abtes stattfand und hauptsächlich über die Talsäumerei beriet. Während man die Talgemeinde im Gastsaal des Klosters zu halten pflegte, fand die Säumergemeinde jeweils in der Tanzlaube im Dorf statt. Aufgrund des strittigen Geschäfts um den Eienwald wurde jedoch die Säumergemeinde von 1788 in eine Talgemeinde umgewandelt. Abt Leodegar Salzmann versuchte zwischen der Gemeinde und den Eienbesitzern zu vermitteln, was ihm jedoch nicht gelang. In der Versammlung „kamme es zu viller widerred, einem zimmlichen tumult und endtlichen grossen stimmenmehr, man wolle denen käuferen der Eyen nichts weiters geben“.250 Am 1. Juni 1788 versammelten sich Abt, Gericht und Gemeinde erneut, dieses Mal zur ordentlichen Talgemeinde. Wegen Besteuerungsfragen wurde an dieser Talgemeinde ein sogenannter Landrat gebildet. Ein solcher Rat wurde gelegentlich gebildet, wenn wichtige Entscheidungen in der Gemeinde anstanden. Der Landrat bestand aus den neun Gerichtsherren, zusätzlich wurden für jeden Gerichtssitz zwei weitere Talleute bestimmt: Der Landrat war also ein 27-köpfiges Gremium. Abt Leodegar Salzmann schlug der Talgemeinde vor, der Landrat solle nicht nur über die Besteuerungsfragen beraten, sondern auch über eine Regelung der Waldnutzung in der Eien. Doch selbst dieser Vorschlag bewirkte einen „starchen wider- und anstandt“ seitens einiger Talleute. Erst nach jahrelangem Streit wurden die Marchund Nutzungsstreitigkeiten 1793 mit der Setzung verschiedener Marchsteine beigelegt.251 Die heftigen Auseinandersetzungen legen den Schluss nahe, dass der Waldschutz eher den Anlass als den Grund des Streites darstellte. Ärmere Talleute sahen ihre Nutzungsrechte durch den Verkauf der Genossenalp beschnitten, wofür sie die vermögenden Eienbauern verantwortlich machten. Die strittige Waldnutzung legte die sozialen Spannungen offen, die innerhalb der Gemeinde bestanden. Dem äbtischen Talherrn gelang es trotz vieler Anstrengungen nicht, einen Ausgleich zwischen den Parteien herbeizuführen. Weitere Schutzmassnahmen wurden nebst der Bannung getroffen. Um den Holzhandel soweit als möglich einzuschränken, erlaubte das Gericht 1738 zwar den Ver249 Vgl. ETP 14.412–414 und 15.130–132. 250 Vgl. ETP 18.108–111. 251 Vgl. ETP 18.133–139 und 19.115–116.

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kauf von Holz, nicht aber dessen Weiterverkauf. Die weitgehenden Einschränkungen des Holzverkaufs an Auswärtige wurden im selben Jahr nochmals bestätigt.252 Ferner beschloss das Gericht 1755, „dass man fürderhin niemand solle holtz geben als den jenigen, so solches selbsten hauwen, ausarbeiten und in boden tuen“ – die Gemeinwälder wurden also wegen der drohenden Übernutzung von der eigentlichen Holzwirtschaft ausgenommen.253 Weiter legten Abt und Gericht den Anteil des Klosters am Gemeinwald erstmals 1731 genauer fest. Abt und Konvent hatten ja als Talleute ebenfalls Anteil am Gemeinwald. Der gewohnheitsrechtliche klösterliche Anteil des »vierten Stocks« wurde im besagten Jahr vom Gericht anerkannt. Allgemein hatte das Kloster seit 1691 das verbriefte Recht, einen Viertel der Allmenderträge zu beziehen.254 Das Kloster machte allerdings sein Recht auf den vierten Teil des Gemeinholzes kaum geltend. So erklärte Abt Emanuel Crivelli etwa zur selben Zeit:255 Hat das Gottshaus das recht, den Vierthen Stokh von dem gemeinen Holtz, so jährlich ausgetheilt wird, auch zu forderen. Allein weilen die Gemeinwäld fast gänzlich erhauwen [abgeholzt] sind, hab ich bisweilen nur quid pro quo, nemlich etwan 10 oder 12 stöckh oder auch zuweilen gar nichts geforderet.

Auch die Holzrechte der Talleute wurden genauer festgelegt und nach Möglichkeit eingeschränkt. So beschloss das Gericht 1761, dass zu lähren häuseren kein holtz gezeigt, auch denen personen, so alleinig hausen und keine steür und bräuch [d.h. Tagwen] hellfen erhallten, auch kein ofen heitzen müessen, kein holtz gezeigt werden solle. Es soll auch kein theillholtz verkauft werden, und die, welchen holtz zutheill und gezeigt wird, sollen die äst und dolden sauber nachen nutzen und mitnehmen.256

Anspruch auf Gemeinholz besassen also nur noch vollwertige Haushaltungen. Der Verkauf von Gemeinholz wurde gänzlich verboten. Ferner wurden die Talleute angehalten, gefällte Bäume restlos zu nutzen. Auch für den Schutz des Jungwuchses wurde gesorgt. Diesbezüglich wurden Bedenken geäussert, dass eine übermässige Streunutzung dem Wald beträchtlichen Schaden zufügen konnte. Schon 1743 beschloss das Gericht, dass in den Gemeinwäldern „niemand mehr das mies [Moos] abschaben, erden aufschöpfen, schneitten 252 Vgl. ETP 11.207–208 und 11.221–222. 253 Vgl. ETP 14.36–37. 254 Vgl. Schnell (1858: 83–84). 255 Vgl. Crivellis »Jurisdictionalia« in Gfr. 33, 1878, 81 und ETP 11.15–17. 256 Vgl. ETP 14.158–159.

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old kriss abhauwen solle, dardurch die wälder und junge pflanzen immer geschädiget werden“.257 Ferner setzte sich Abt Leodegar Salzmann ab 1771 dafür ein, dass die zahlreichen Holzeinfriedungen im Tal schrittweise mit Steinmauern ersetzt wurden. Der verminderte Hagholzbedarf sollte die Wälder entlasten. Die Errichtung von Steinmauern war zwar „an villen ohrten beschwärlich und von wegen mangell der steinen schier ohnmöglich“, wurde aber in den folgenden Jahren gleichwohl immer wieder vorangetrieben. Abt und Gericht ordneten an, dass die Holzzäune stückweise durch Steinmauern zu ersetzen waren: Auf zehn Klafter Holzzaun sollte jährlich mindestens eine Elle Mauern errichtet werden. Für jede Ürte wurden Aufseher bestimmt, die das Voranschreiten der Arbeiten beaufsichtigen sollten.258 Die Waldschutzmassnahmen stiessen selbst bei den Gerichtsherren auf mässige Begeisterung. So musste Abt Leodegar Salzmann 1774 die Gerichtsherren ausdrücklich auffordern, den Waldschutzverordnungen Nachachtung zu verschaffen. Salzmann verlangte vom Gericht,259 dass selbes [das Gericht] ohne alles bis dahero schier angewohnte verschonnen die nachlässige und deswegen strafbahre leyden und ihme angeben sollen, damit durch beständiges übersechen die leüth nit immer frecher, sonderheitlich zum holtzstählen und zur überträttung hochobrigkeitlicher mandaten schamloser gemacht werden.

Der Abt stellte unzufrieden fest, dass ihm Klagen gegen mehrere Gerichtsherren vorgebracht worden seien. Talleute hätten sich beklagt, dass die Gerichtsherren ihrer Pflicht, Steinmauern zu erstellen, nur ungenügend oder gar nicht nachgekommen seien und dabei zu allem Übel auch noch Hagholz aus dem Gemeinwald bezogen hätten. Der Abt mahnte die Gerichtsherren, dass Fehler ihrerseits dem Einfluss und dem Ansehen der Obrigkeit schadeten und ein „stein des anstosses für die undergebnen und besonders [für] die schmächsüchtige[n]“ bildeten.260 Die Besteuerung des Holzschlags änderte die Nutzung des Gemeinwaldes auf einschneidende Weise. Die Holzsteuer wurde eingeführt, um der dauernden Geldnot 257 Vgl. ETP 11.410. 258 Zum Bau der Steinmauern sowie der schwierigen Durchsetzung dieser Bestimmungen vgl. ETP 14.468–474, 14.499–500, 14.522–526, 15.208, 16.14–15, 16.70–74, 16.136–138, 16.154–157, 16.254–256, 16.405–407, 16.422–423, 16.473–477, 16.558–559, 16.636–637, 18.108–111, 19.58–60, 19.94, 19.169, 19.177–178, 19.194 und 20.85–86. 259 Vgl. ETP 16.64–66. 260 Vgl. ETP 16.64–66.

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der Gemeinde abzuhelfen. Tatsächlich war der Talsäckel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts meistens leer. Regelmässige Einkünfte fehlten, da Steuern nur in ausserordentlichen Fällen erhoben wurden. Steuererhebungen waren ausgesprochen mühsam, da der Steuerschlüssel jedes Mal ausgehandelt wurde. Die Gemeindeausgaben waren nicht minder umstritten, so z.B. die die Besoldung der Nachtwächter, über die an eigens einberufenen Wächtergemeinden beraten wurde. An der Wächtergemeinde vom 29. September 1773 stellte Abt Leodegar Salzmann verdrossen fest, dass sich bei Steuererhebungen jedes Mal grosse schmählereyen, verweigerungen, streit und missvergnüegen erhebt[en]: wo der arme die abgab der steür auf den vermögendten, und dessen güeter und capitall allein verlegen wolle, der begüterte herentgegen vermeinth, dass in demme der arme die strassen, gemeinwesen nit weniger als er und wohl weit mehr brauche, selber auch wenigestes antheill an abtragung gemeiner steüren und auflagen nemmen sollte.261

Deutlich genug waren auch in diesem Fall die Spannungen zwischen vermögenden und ärmeren Talleuten. Der Abt wusste nur zu gut, wovon er sprach: Das Gericht hatte nämlich im Frühjahr die Erhebung einer Talsteuer angeordnet, da der Talsäckel neuerdings ausgeschöpft war. Pro Kopf waren drei  Schillinge zu entrichten, ferner sollten Kapitalbesitzer einen Zusatzbeitrag von fünf  Schillingen pro 1000 Pfund Kapitalbesitz leisten. Doch die Steuererhebung führte zu „unzufridenheit, sträflichem murren und bei eint und anderem gentzlicher verweigerung der neülich auferlegten thallsteür“.262 Nun schlug der Abt vor, die Gemeindeausgaben jenen aufzutragen, die den Gemeindebesitz nutzten. Der Abt wünschte allerdings nicht jene zu besteuern, die nur mit viel Arbeit Nutzen aus dem Gemeinwesen zogen: Dazu zählte er ausdrücklich jene, die auf der Allmend Wildheu und Streu in mühsamer Arbeit lasen. Besteuert werden sollten hingegen (1) die Besitzer von Gärten auf der Allmend, (2) die Besitzer von Ziegen, die diese auf den Geissberg trieben und (3) die Nutzniesser des Gemeinwaldes. Für jedes Teilholz – zu diesem Begriff gleich mehr – sollte ein Schilling bezahlt werden, für ausserordentliche Holzschläge hingegen sechs Schillinge pro gefälltem Stock.263 Die Waldvögte waren für die Holzzuteilung verantwortlich. Zwei Waldvögte beaufsichtigten seit 1645 die Nutzung des Bannwaldes. Spätestens ab 1729, als der Gemeinwald unter ähnliche Schutzbestimmungen gestellt wurde wie der Bann261 Vgl. ETP 15.413a-416. 262 Vgl. ETP 16.22–27 und 16.32–35. 263 Vgl. ETP 15.417–420.

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wald, waren die Waldvögte auch für die Nutzung des Gemeinwaldes zuständig. Die Waldvögte mussten bei ihrer Amtseinsetzung – wie die anderen Amtsträger der Gemeinde – einen Eid auf die Forstverordnungen ablegen. Die Waldvögte hatten vornehmlich die Aufgabe, das jährliche Brennholz aus dem Gemeinwald „auf jedes haus und first“ zu verteilen. Zu diesem Zweck mussten die Waldvögte die für den Holzschlag bestimmten Stöcke in den Gemeinwäldern zeichnen (d.h. mit Zeichen versehen). Anschliessend wurde die zur Verfügung stehende Holzmenge durch die Anzahl der Haushalte geteilt und die einzelnen Holzanteile bzw. –lose schriftlich festgehalten. Diese einzelnen Holzlose wurden Teilholz genannt. Da nun nicht jedes Holzlos gleich günstig gelegen war, wurde jedes Teilholz auf einem Holzzettel festgeschrieben und durch Losziehung auf die Nutzungsberechtigten verteilt. Die Waldvögte bestimmten den Tag der Losung und liessen diesen der Gemeinde durch Kirchenruf verkünden. Ähnlich wurde ja die Streu auf der Allmend mit Hilfe von Streuzetteln verteilt. Das Aufsparen von Teilholzrechten auf spätere Zeit wurde in den Forstverordnungen wiederholt für unrechtmässig befunden.264 Die Waldvögte selbst hatten zur Entschädigung ihrer Arbeit Anrecht auf mehr Teilholz und waren von allen Gemeinarbeiten (Tagwen) befreit, weilen die waldvögt sich so grosser und vieler mühe beschwärt, nemlich alle gmeinwerke [hier: Gemeinwälder] durchzulaufen, das holtz zu zeichnen und zedel auszutheilen, ohne dass dabey sie ein nutz hätten sonder nur grossen schaden.

Die Waldvögte waren ferner nicht nur befugt, in den Gemeinwäldern Holz zu zeichnen und zu verteilen, sondern auch in den Wäldern der Genossenalpen, „in so weith jedanoch dass es ohne schaden gemeiner alpen geschechen mag“.265 Deshalb mussten sich die Waldvögte mit den Bannwarten der jeweiligen Genossenalp absprechen.266 Das Privateigentum der Alpgenossen wurde also hinsichtlich der Waldnutzung weitgehend aufgehoben. Selbst das Windbruch- und Lawinenholz – also durch Windstürme, Gewitter und Lawinen umgeworfene Bäume – durfte nicht ohne Erlaubnis und Zeichnung der Waldvögte genutzt werden.267 Um wertvolles Bauholz zu fällen, reichte die Erlaubnis der Waldvögte allerdings nicht aus. Dafür musste die Erlaubnis und ein entsprechender Holzzettel von Abt und Gericht eingeholt werden. Gewohnheitsmässig spielte sich das Pfingstgericht (an Fronfasten vor dem Dreifaltigkeitssonntag) als jene Gerichts-

264 Vgl. auch den Gerichtsfall in ETP 5.7. 265 Vgl. ETP 11.167–168. 266 Vgl. ETP 5.7 und 11.311–313. 267 Vgl. ETP 12.215 und 20.87–88.

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sitzung ein, an der die Holzgesuche behandelt wurden.268 In den 1780er Jahren wurden dem Gericht jährlich an die fünfzig, sechzig und mehr Holzgesuche gestellt.269 Die Holzgesuche nahmen in den ordentlichen Gerichtsprotokollen so viel Platz ein, dass sie ab 1787 in einem eigenen Register geführt werden mussten.270 Bereits ein einziger Hausbau erforderte beträchtliche Holzmengen: So erbat sich Jakob Hess 1756 für sein (neues) Haus achtzig Bänder Holz. Nicht nur die Bewilligung, sondern auch die genaue Verteilung des Holzschlags auf die Gemeinwälder bereitete in solchen Fällen Schwierigkeiten.271 Bisweilen wurde der Bau eines neuen Hauses vom Gericht ausdrücklich abgelehnt, weil „das holtz im gemein wesen völlig erschöpfet“ schien.272 Das Waldvogtamt war ausserordentlich schwierig. Die vielfältigen und sich überschneidenden Interessen der Talleute mussten mit dem Waldschutz abgestimmt werden. Die Durchsetzung der gerichtlichen Forstverordnungen erwies sich oft als Sisyphosarbeit. So bat der Waldvogt Sepp Amstutz das Gericht 1737 um Hilfe,273 weil die wäld jetz so entschwächet werden durch mittelhägen holtz [Unterhagungen], dünckellatten, neüe häuser und gädmer, auch die Schwander das holtz für sich zu zeichnen begehren ehender auf Stoffelberg dieserer alp zum schaden, als auf der Wand selbes annemen wollen, item viele das zeichnete holtz gar nicht nemmen, wan es ihnen nit gefallet, sonder anders haben wollen, auch hingegen andere dasselbige nemmen aber schlechtlich aufschönen [säubern], dass in kurtzem die gemein wälder gar kein rechtes holz mehr haben werden.

Da zwei Waldvögte gleichzeitig amteten, stellte sich 1708 die Frage, ob die Erlaubnis zum Holzschlag bei einem Waldvogt oder bei beiden einzuholen sei. Das Gericht urteilte in dieser Frage, dass ein Holzschlag die Bewilligung beider Waldvögte voraussetzte. Gleichwohl wussten sich die Talleute das doppelte Waldvogtamt zunutze zu machen. So beklagte das Gericht 1774, dass oft unschammige holtzbättler von einem zu dem anderen oder doch demme von denen zwey bestelten waldvögten gegangen, welcher ihnen etwann günstiger gewesen, oder die

268 Vgl. ETP 16.259. 269 Vgl. ETP 16.198a-199a, 16.380–381, 16.398–400 und 16.452–453. 270 Vgl. ETP 16.506. 271 Vgl. ETP 14.48. 272 Vgl. ETP 11.369 und 11.588–589. 273 Vgl. ETP 11.183. Zum dortigen Verweis auf die Holzverordnung von 1729 vgl. ETP 8.356–361. Siehe auch die Holzverordnung von 1737 bei ETP 12.96–99.

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waldvögt selbst mit austheilung nit alles gnugsamm under sich aus[-] und abgeredt, einer ohne den anderen, zu zeiten beyde einem oder mehreren holtz erlaubt.

Manche Talleute nutzten also die ungenügende Absprache unter den Waldvögten und liessen sich ihr Teilholz zweimal anzeigen. Deshalb entschied das Gericht zur Vermeidung von „ungleichheit, parteylichkeit und betrugs“, nur noch einen Waldvogt zu bestimmen.274 Die Waldvögte mussten öfter Klagen des Gerichtes oder der Talleute über sich ergehen lassen. So beschwerte sich Hans Sepp Amstutz, Bannwart der Genossenalp Eien, 1746 vor Gericht, die Waldvögte kämen ihrer Pflicht, das Holz zu zeichnen, nur ungenügend nach. Diese Nachlässigkeit führte nach Amstutz dazu, dass viele Talleute die Bannwarte der Genossenalpen um Holz baten.275 Das Gericht selbst ging verschiedentlich gegen die Waldvögte wegen fehlerhaften Zeichnens und mangelnder Durchsetzung der Forstverordnungen vor. Eine sinnige Bestrafung heckte das Gericht 1737 gegen Waldvogt Sepp Amstutz aus, der sich wegen unterlassenen Zeichnens verantworten musste: Das Gericht trug Amstutz zur Strafe das beschwerliche Waldvogtamt für zwei weitere Jahre auf.276 Umgekehrt bekamen die Waldvögte die Unzufriedenheit jener Talleute zu spüren, die sie mit leeren Händen entlassen mussten. So beklagte sich Waldvogt Anton Vogel 1761 vor Gericht, er sei von Simon Müller als »Schelm« beschimpft worden, weil er diesem einen Holzschlag verweigert hatte. Abt und Gericht stellten sich in diesem Fall schützend vor den Waldvogt.277 Abt und Gericht büssten im 17. und 18. Jahrhundert unzählige Talleute, Beisassen und Auswärtige wegen unerlaubten Holzschlags. Aufgrund des bisher Gesagten ist ohnehin klar, dass die Forstverordnungen oft nur teilweise durchgesetzt werden konnten und angesichts zahlreicher Verstösse immer wieder neu bekräftigt werden mussten. In der Regel sprach das Gericht über Holzfrevler Geldbussen aus und forderte einen entsprechenden Schadenersatz. In schwereren Fällen trug das Gericht dem Fehlbaren eine öffentliche Busse auf: So musste der Holzfrevler Michel Zniderist 1758 nach dem sonntäglichen Hochamt eine Viertelstunde vor dem Wirtshaus mit einer Axt in der Hand stehen bleiben. Wer sich eines besonders schweren Holzfrevels schuldig machte, lief schliesslich Gefahr, vom Gericht

274 Vgl. ETP 4.38, 4.534 und 16.70–74. 275 Vgl. ETP 11.523–524. 276 Vgl. ETP 9.359–360, 9.374–375 und 11.173–176. 277 Vgl. ETP 14.162–163.

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für einige Stunden oder Tage in den »Schelmenturm« eingesperrt zu werden.278 Fehlbare Auswärtige wurden aus den Engelberger Gerichtsgrenzen ausgewiesen.279

Leider sind Hinweise auf die Forstarbeit bzw. -technik kaum überliefert. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie schwierig die Bewirtschaftung der Engelberger Wälder im 17. und 18. Jahrhundert gewesen sein muss. So mussten die Bäume gefällt, das Holz zur Fuhr vorbereitet und schliesslich aus den Wäldern bis zur Sägerei geführt werden, ohne dass motorisierte Werkzeuge und Fuhrmittel zur Verfügung standen. Erschwerend kam hinzu, dass die meisten Wälder im Hochtal in unwegsamem und abschüssigem Gelände liegen. Die Bewirtschaftung von Wäldern in Steillagen stellte grosse Anforderungen an Wissen, Fertigkeit und Geschick der Holzarbeiter. Es überrascht deshalb nicht, dass für die Forstarbeit geübtere Arbeitskräfte herangezogen wurden.280 Die Waldarbeit gliederte sich in mehrere Arbeitsgänge, nämlich das Fällen der Bäume, die Zurüstung und schliesslich die Fuhr des Holzes. Bereits das Fällen eines Baumes setzte grosse Erfahrung voraus, zumal in unwegsamem Gelände. Anschliessend mussten die gefällten Stämme zum Sägeplatz geführt werden. Dies geschah meist durch Reisten: Die Stämme wurden auf natürlichen oder künstlich angelegten Gleitbahnen hinuntergezogen bzw. -gestossen. Dabei kamen sichelartige Werkzeuge zum Einsatz, die sogenannten Zapin.281 Das Ausnützen natürlicher Gleitbahnen, das Anlegen künstlicher Holzrutschen und die Handhabung der schweren Stämme erforderte viel Geschick und Arbeit. Die gleitenden Stämme stellten für

278 Der Schelmenturm befand sich im Eckturm des Wirtschaftsgebäudes, genauer gesagt: Die drei Kerkerzellen waren unterirdisch in den Fundamenten des Eckturms angelegt worden. Eine Zelle war 1.5 m lang, weniger als 1 m breit und 1.7 m hoch. Mehrere Gitter und Türen schlossen die lichtlosen Räume ab. Abt Jakob Benedikt Sigerist liess 1611 zwei solche Türme bauen, wobei der Eckturm des 1725 vollendeten und heute noch bestehenden Wirtschaftsgebäudes, des sogenannten Albinibaus, an derselben Stelle errichtet wurde wie der ältere Westturm, vgl. Durrer (1971: 112, 1105). Neben dem Schelmenturm wird sich vermutlich auch die Folterstube befunden haben, wo peinliche Verhöre am Folterseil oder mit der Daumenschraube in seltensten Fällen vorgenommen, aber einige Male angedroht wurden, vgl. zur Situierung ETP 14.512–514 und zur Folterstube u.a. ETP 2b.677, 7.346–347, 7.527–534, 7.534–536, 7.568 und 16.99–107. 279 Vgl. als Beispiel und neben zahlreichen weiteren Fällen ETP 3.27–28, 3.62, 14.93 und 19.242. 280 Vgl. ETP 3.66–67, 3.110–111, 11.308–310, 11.420–422, 11.634–635 und 14.20–21. 281 Vorgänger des späteren Zapin war der sogenannte Halbmond, ein sichelartiges und massives Werkzeug, das für die Handhabung der Stämme verwendet wurde, vgl. Schmitter (1991: 96). Der Zapin ist in ETP 16.204–209 belegt.

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die Holzarbeiter keine geringe Gefahr dar. So verunfallte Geni Waser am 21. Juni 1755 tödlich, als er von einem Fichtenstamm zermalmt wurde.282 Wenn in der Nähe ein Bach genügend Wasser führte, konnte das Holz durch Flötzen transportiert werden, also indem das Holz ins Wasser eingeworfen, mit Flösshaken getrieben und am Bestimmungsort wieder geländet wurde. In Engelberg war das Flötzen eine gängige Fuhrmethode, insbesondere bei Waldarbeiten nahe der Aa.283 Auch das Flötzen barg für die Holzarbeiter eine erhebliche Unfallgefahr. So starb Hans Emanuel Schleiss am 26. Mai 1768 in den Fluten der Aa in Grafenort, als er beim Flötzen in den Bach fiel und ertrank. Schleiss war dabei kein unerfahrener Flötzer, betont doch der entsprechende Eintrag im Sterberegister, der Verunfallte habe die Holzfuhr an der Aa schon lange betrieben. An vielen Orten war jedoch das Flötzen nicht möglich. Hier erfolgte die Fuhr erst bei geschlossener Schneedecke. Schlagwege mussten erstellt, Schlittenwege freigeräumt, Bachgräben mit Hilfsbrücken passierbar gemacht werden, usw. Als Zugtiere wurden wohl Ochsen und Pferde eingesetzt. Da die Schlittenwege oft quer durch abschüssiges Gelände angelegt werden mussten, verlangte die Holzfuhr mit Schlitten grosse Vorsicht, Erfahrung und nicht wenig Glück. Dieses Glück war Sepp Michel Erni am 31. Januar 1783 nicht beschieden, als er mit einer Ladung Holz von der Gerschni hinunterfuhr und dabei tödlich verunfallte. Wenige Tage später berichtete der Engelberger Arzt Maurus Geni Feierabend von dessen Tod:284 Vor 2 tagen wurde ein junger Mensch bey der holtz fuhr unglüklich [getötet]. Es gieng berg ab, und er vermochte den schlitten nicht mehr auf zu halten, dieser leitete den steurman selbst, aber nicht die recht strass. Er schosse an einem beine mit ihme, und der gutte Mensch zerschmetterte seinen kopf gantz. Alle hälfe [Hilfe] war unmöglich. In 2 stunden gab er den geist auf.

Die Waldarbeit setzte also die Beherrschung anspruchsvoller Arbeitstechniken voraus, aber auch Gerätschaften und Zugtiere. Die Nutzung der Bergwälder war ausgesprochen arbeitsintensiv: Die Holzarbeiten beschränkten sich dabei keineswegs nur auf die Winterszeit. Schliesslich setzten sich die Holzarbeiter bei der Waldarbeit beträchtlichen Gefahren aus, die zu Verletzungen aller Art bis hin zum Tod führen konnten. 282 „a pino trucidatus“, vgl. den Eintrag im Sterberegister zum entsprechenden Datum. 283 Vgl. ETP 3.110–111, 3.168–169, 3.206–209, 3.226–227, 5.120–122, 17.475–479 und 17.541–544. 284 Vgl. den Brief Maurus Geni Feierabends an Johann Rudolf Schinz vom 3. Februar 1783 in ZBZ, Ms. Car. XV 164.4. Vgl. auch den Eintrag vom 31. Januar 1783 im Sterberegister.

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b) Gartenland Beiläufig beschloss das Gericht an seiner Sitzung vom 24.  April 1614, dass „dem Lienhart Zniderist ein Gartten uff der Almendt zuegelassen“ werde. Das Gericht wies Zniderist ein Allmendstück als Garten zu, wobei die Zuteilung auf zwei Jahre befristet wurde.285 Gärten wurden in jener Zeit auch auf privaten Gütern angelegt. So geschah es an der Talgemeinde vom 27. Dezember 1628,286 das Benedict Zniderist für ihr gn. [vor ihr Gnaden], ein ehrs. convent und gmeinde biderbe gmeint keert und angehaltten, das man ime noch ein stuckh landt zuolassenn wolle bey seinem mattli ein gartten zuo machen oder seinen zuo weitteren [erweitern], welches ihme erlaubt, und verordnett seckhelm. Dilger, Bawmeister Niclaus Dilger und Jost Hurschler, ime ein stuckh landts auszemarchen.

Die Zuteilung von Allmendland war im 17. Jahrhundert durchaus üblich. So musste das Gericht 1671 unwillig feststellen, dass zu dieser Zeit ein Handel mit abgetretenem Allmendland entstanden war.287 Überhaupt wurden Gärten in den zeitgenössischen Talprotokollen regelmässig erwähnt: Sie waren verbreitet und ohne Neuigkeitswert. In den Gärten wurde wohl hauptsächlich Gemüse angebaut. Leider sind nur zufällige Angaben über Gemüsearten überliefert, die im Hochtal angebaut wurden. In der Überlieferung werden ausdrücklich Erbsen, Kohl (Chabis), Bohnen, Rübengewächse aller Art einschliesslich Karotten genannt, aber auch Schnittlauch, Knoblauch und Kräuter. Auch Hanfgewächse wurden zur Herstellung von Seilmaterial angebaut. Im 18. Jahrhundert rückte die Kartoffel nach ihrer Einführung, die vor 1727 erfolgte, zur wichtigsten Gemüseart vor: Der Kartoffelanbau förderte den Gartenbau im 18. Jahrhundert stark.288 Das Gartenland der Allmend wurde vornehmlich ärmeren Talleuten zur Verfügung gestellt. Überhaupt wurde die Allmend vornehmlich jenen Bewohnern des Dorfes 285 Vgl. ETP 1.189. Der folgende Zusatz „bis in das sechste Jar“ scheint sich eher auf das Jahr 1616 zu beziehen als eine Befristung auf sechs Jahre zu bezeichnen. 286 Vgl. ETP 2b.40. 287 Vgl. ETP 3.169. 288 Zu den vereinzelten Hinweisen vgl. ETP 4.27–28, 4.532, 7.319–325, 9.352–353, 10.83–87, 12.215–216, 14.337–338, 14.487–488, 16.303–305 und 18.156–157. Wegen ihres zahlreichen Vorkommens sind die Belege für den Kartoffelverbrauch hier nicht angeführt. Dass die Kartoffeln nicht (nur) von aussen ins Hochtal eingeführt wurden, sondern tatsächlich hier angebaut wurden, belegen u.a. die »herdapfellgerten« in ETP 16.553–554 und 17.156–157.

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bzw. der Weiler überlassen, die kaum eigenes Land besassen. Die ärmeren Talleute konnten auf der Allmend ihr weniges Hausvieh ätzen und einen eigenen Garten anlegen. Wie die Allmendflächen im Talboden, so war auch der Gemeinberg vornehmlich den ärmeren Talleuten vorbehalten. Die Bauern als Güter- und Alpenbesitzer waren zwar von der Allmendnutzung nicht ausgeschlossen, aber es zeichnete sich – wie Ignaz Hess zu Recht festhielt – eine „Zweiteilung zwischen den beiden Ständen“ ab.289 Im späten 17. Jahrhundert ging das Gericht dazu über, gewisse Allmendbezirke ausschliesslich ärmeren Talleuten vorzubehalten. So heisst es in einem Gerichtsentscheid von 1694:290 Mit Guotheissung Herren Praelaten ist eines ehrsamben Gerichts Meinung, das man den Ahrmen auf der Allmendt einen Platz weisen undt übergeben solte, danoch aber nicht für eigen [...].

Die Verteilung von Gartenland auf der Allmend schritt im 18.  Jahrhundert weiter voran. Als 1746 das Gericht die Vergabe der einzelnen Landstücke kaum mehr übersah, ordnete es die Erstellung eines bereinigten Verzeichnisses an. Der Bedarf an Gartenland war inzwischen derart angewachsen, dass sich das Gericht im folgenden Jahr entschied, einen guten Teil der Allmend in der Festi in Allmendgärten umzuwandeln. Zu den frühen Allmendgärten gehörten wahrscheinlich auch jene im Espen. Ausdrücklich hielt das Gericht fest, das Gartenland bleibe den armen Leuten vorbehalten. Einige Jahre später entschied das Gericht, gegen jene vorzugehen, die ohne Not einen Allmendgarten beanspruchten. So urteilte es 1754,291 dass man solche [Gärten] für die armen und bedürftigen austheillen solle und nit denen, so bey mittlen und solch nit vonnöthen haben und ihr empfangene gärten widerum umthalben geben, verlehnen old gar verkaufen.

Schon 1758 reichte das Gartenland in der Festi nicht mehr aus. Das Gericht schlug deshalb vor, zu „mehrerer beysteür und hilff der armen thallleüthen“ neue Gärten vom Fürholz bis in die Widen aufzurichten.292 Der grosse Bedarf an Allmendgärten und der leere Talsäckel führten 1763 zu einer Erhöhung des jährlichen Gartenzinses auf drei Angster für jedes Klafter. Einige neu angelegte Gärten am Fürholzrain und im Tellenstein wurden von der Besteuerung jedoch ausgenommen, weil dort „die 289 Vgl. Hess (1945d: 24–25). 290 Vgl. ETP 4.362. 291 Vgl. ETP 11.523–524, 11.528–531, 11.567–568 und 14.206–207. Die zitierte Stelle bei ETP 14.11–12. 292 Vgl. ETP 13.86.

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leüth alles mit der arbeit verdienen“ mussten. Einige Jahre später wurden die ärmsten Talleute von der Besteuerung ganz befreit, sofern sie vor versammelter Gemeinde darum baten: Nur wer seine Armut öffentlich auswies, sollte in den Genuss der Steuerbefreiung kommen. Die unterschiedliche Besteuerung der Allmendgärten führte bisweilen zu verzwickten Verhältnissen: So musste Abt Leodegar Salzmann 1791 bemängeln, dass die entfernten und deshalb steuerbefreiten Allmendgärten von Bemittelten bebaut wurden, während die dorfnahen und deshalb besteuerten Allmendgärten von den armen Talleuten bewirtschaftet wurden. Schliesslich wurde der Gartenzins im selben Jahr durch die Leistung eines Tagwen ersetzt.293 An Gerichtssitzungen wurde regelmässig über die Verteilung der Allmendgärten beraten. Auch mussten Allmendgärten, die durch den Tod des Besitzers oder die Aufgabe des Gartens verwaisten, neu verteilt werden. Abt und Gericht hatten sich auch mit Klagen zu befassen, wonach „etwelche gar zu vill [Gärten], andere gar keine haben oder doch gar wenig“. Manche Talleute zweifelten die Gerechtigkeit der Gartenzuteilung an. Allerdings scheute das Gericht, Talleute ihrer Allmendgärten zu enteignen, die sie selbst aufgebrochen und angebaut hatten.294 Die Anlage und die Bewirtschaftung von Gärten standen seit dem schweren Unwetter von 1762 auch unter dem Zeichen des Hochwasserschutzes. Tatsächlich wurde Erde bei Überschwemmungen leichter vom Gartenland als von Weiden abgetragen: Das betroffene Landstück wurde dadurch dauerhaft geschädigt, ferner füllte die weggeschwemmte Erde die Bachgräben weiter auf.295 Ein erneutes Hochwasser am Fest Peter und Paul (29. Juni) führte 1781 zu grossen Schäden an den Ufern des Dürrbach, wo sich auch die Allmendgärten in der Festi befanden. Das Gericht fällte darauf folgenden Entschluss:296 Dan solle ein ausschuss gemacht werden, welcher erkennen solle, wie, wo und [in welchem Abstand] von dem graben die gerten wieder, welche ein ewige klag, mögen gestattet werden oder aber, ob die selbige gentzlich müessen abgeschaffet und anderstwertig andere denen armen leüthen gezeigt und angewisen werden.

Abt und Gericht sorgten auch dafür, dass die Allmendgärten in gutem Zustand blieben. So trug ein Mandat von 1777 den Besitzern der Allmendgärten auf, ihre Gärten pflichtbewusst zu säubern und unbewilligte Holzhütten abzureissen. Ferner 293 Vgl. ETP 14.206–207, 16.374–375, 19.10–13 und 19.17–19. 294 Vgl. ETP 13.304–305, 16.394–395 und 16.400. 295 Vgl. dazu den bereits erwähnten Gerichtsfall von 1768 in ETP 14.310–311. 296 Vgl. ETP 16.278–281 und auch den ausführlichen Bericht des Unwetters in ETP 17.357–364.

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verbot ihnen das Gericht, die Erde und den Wasen (also die Grasscholle) von den Allmendgärten abzutragen.297 Andererseits musste das Gericht darüber wachen, dass die Gartenbesitzer die Marchen ihres Landstücks einhielten und mit dem Anbau ihrer Gärten die Durchgangswege nicht behinderten.298 Schliesslich verfolgte das Gericht auch mutwillig zugefügte Schäden an den Gärten: So mussten sich 1769 die Brüder Hans Thomas und Martin Sepp Waser vor Gericht verantworten, weil sie in jugendlichem Blödsinn in der Festi „garthen geschendt [geschändet] und die bonnen [bohnen] verstampfet und mehr anderen unfuog angefangen“ hatten.299 Ein kurzer Blick sei auf die übrigen Gärten im Hochtal geworfen. Wie auf der Allmend, so wurden Gärten auch auf privaten Grundstücken angelegt. Manche Grundeigentümer verpachteten eigenes Land, indem sie dieses als Gartenland anderen Talleuten zur Verfügung stellten. So verpachtete Lienhart Geni Hess 1790 die vorderste Eien an 15  verschiedene Talleute für zwölf Jahre. Die einzelnen Gartenbezirke erreichten eine Grösse von über 650 m2, aber auch Gärten von 1000 m2 und mehr kamen vor. Der jährliche Zins von fünf Gulden (für die grösseren Gartenflächen) war bescheiden, allerdings wesentlich höher als der Gartenzins der Allmendgärten. Übrigens waren die Gartenpächter meist Bauern und Handwerker: Sie gehörten damit keineswegs zu den mittellosen Talleuten.300 Die Auflösung einer Gartenpacht gestaltete sich nicht minder schwierig als die Umverteilung der Allmendgärten. Wer mit eigener Arbeit und Mühe einen Garten angebaut hatte, gab diesen nur unwillig wieder ab. So klagte Katharina Töngi 1760 gegen Joachim Töngi, weil sie „von dem Joachim ein stuckh garten um zins bekommen, welchen sie erbesseret, nun wolle der Joachim ihro solchen wider nehmen, dessen sie sich beschwäre“.301 Vor erhebliche Schwierigkeiten sahen sich 1787 auch die Söhne Sepp Kusters gestellt, als sie das von ihrem Vater geerbte Land im Stockli veräussern wollten. Ihr Vater hatte nämlich das betreffende Landstück als Gartenland an Dritte verpachtet, die zur Räumung ihrer Gärten nicht bereit waren. Die Auseinandersetzung mündete schliesslich in einen längeren Rechtsstreit.302 Anders als auf der Allmend lasteten auf privaten Grundstücken grundpfandliche Lasten. Wie nun an früherer Stelle schon erklärt, konnten sich Gültbesitzer bei Zahlungsverzug mit den Blumen, also den Erträgen des gepfändeten Grundstücks 297 Vgl. ETP 16.168–169. 298 Vgl. ETP 14.95 und 14.148. 299 Vgl. ETP 14.363–364. 300 Vgl. ETP 18.319–320. Ein Klafter misst sechs Fuss, dementsprechend ein Quadratklafter sechs auf sechs Fuss oder 3.24 m2. Bezüglich des Gartenzinses: 40 Schillinge machen einen Gulden aus. Für die Anlage grosser Gärten vgl. auch ETP 14.310–311. 301 Vgl. ETP 14.125–126. 302 Vgl. ETP 16.489–497.

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bezahlt machen. Als aber am Martinstag der Gültzins fällig wurde, waren die meisten Gartenerträge (vor allem das Gemüse) bereits geerntet. Den Gültbesitzern blieb nichts anderes übrig, als jene persönlich haftbar zu machen, die das Gartenland verpachtet hatten.303 Ähnliche Schwierigkeiten boten sich auch jenen, die auf einem bestimmten Grundstück Holz- und Streurechte besassen. Wenn nämlich die Eigentümer der Grundstücke Gärten anlegten, nahmen der Baumbestand und damit die Holz- und Streuerträge zwangsläufig ab. So klagten Andres Häcki und Sepp Anton Amrhein 1753, dass die Besitzer des Ghärst „vill der Aahorn ausreüthen, gärten ansezen, wordurch sie endtlich vollkommen um ihr antheil streüi komen müesten“.304 Auch bei den einzelnen Häusern wurden Gärten angelegt. Daraus ergaben sich in den Weilern, wo die Häuser- und Wirtschaftsbauten eng aneinander gebaut waren, eigene Schwierigkeiten, insbesondere bei Neubauten. So ging Jörg Dillier gegen seinen Nachbarn Joachim Waser 1739 gerichtlich vor, weil dieser den Bau eines Gadens plante. Dillier wollte den Neubau verhindern, weil der geplante Bau „gegen seinem garten die sonnen abhalte und dardurch sein gartengewächs verhindert werde“. In einem ähnlichen Fall setzte Joachim Zniderist 1748 durch, dass sein Nachbar Niklaus Hurschler einen geplanten Bau mindestens ein Klafter weit von seinem Garten entfernt (gemessen ab der Dachtraufe) versetzen musste. Zniderist begründete seine Einsprache damit, dass der geplante Hausbau „zu nach [nahe] an sein garten kome und demselben nicht allein die sonn abhalte sonderen der schnee ab dem tach darin fallen werde“.305

c) Gemeinberg Der Gemeinberg umfasste jene Hochweiden, die von der Gemeinde genutzt werden durften. Einerseits gehörten dazu alle Weideflächen, die sich ausserhalb der Genossen- und Eigenalpen befanden, andererseits besass die Gemeinde auch auf den Genossenalpen gewisse Nutzungsrechte. So durften bekanntlich Ungenossen aus den Wäldern der Genossenalpen Holz beziehen. Auch Weideflächen der Genossenalpen durften von Ungenossen genutzt werden, sofern es sich nicht um Kuhweiden handelte, die während des Alpsommers von den Kühen geätzt wurden. Die Nutzung der Kuhweiden blieb also den Genossen vorbehalten. Zum Gemeinberg gehörten also alle Hochweiden, die ausserhalb der Kuhweide der Genossenalpen und ausserhalb der Eigenalpen lagen.

303 Vgl. ETP 14.337–338. 304 Vgl. ETP 11.83–84. 305 Vgl. ETP 11.272–273 und 11.589–590.

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Der beschriebenen Regelung gingen harte Auseinandersetzungen zwischen Gemeinde und Genossenschaften voraus. Am 19. Juni 1707 wurde eine Talgemeinde eigens einberufen, um entsprechende Nutzungsstreitigkeiten zu klären. Zuerst machten Gemeindevertreter ihre Ansprüche gegenüber den Genossen geltend. So erklärte Bannerherr Melcher Hurschler als Gemeindevertreter: Es vermeinen die Thalleüth, das Gras undt Holtz, was aussert der Küeweid seye, dem gemeinen Wesen zugehöre, undt selbes nutzen undt brauchen könen, wie sie guet geduncht so woll als die Gnossen. Dan man von Alten gehört, was die Kue nit esse, seye den gemeinen Thalleüthen undt der Allmeindt. Man dörfe von Alters hero das Schmalvich von einem heiligen Creütztag zu dem anderen [3. Mai bis 14. September] in die gemeine Berg treiben. Man werde ihnen [d.h. den Talleuten] das Recht nit nemben. Man habe den Gnossen nichts anders verkauft als die Alp, [hingegen] das Holtz undt Berg der Allmeind vorbehalten. Man wüsse von Alten, das mann habe könen heüwen, wo mann wollen, es seye niemandts gewehrt worden.

Auf der anderen Seite vertrat Statthalter Hans Melcher Matter ebenso entschlossen die Interessen der Genossen. Er entgegnete seinem Vorredner,306 das[s] die gemeine Thalleüth kein Recht haben, sonderen nur beweisen könen, mann habe sie gelitten. Dermahlen aber seyen sye nit mehr zu leiden, indeme selbe Excessus brauchen im Holtzen; insonderheit, die darbey oben wohnen, thüen als Ungnossen die Wetterdannen wegghauwen, undt wenden selbe zue Tach undt Gmach an, also zwar, das zuletst denen Gnossen und Ungnossen in Feürsbrunsten undt Wassergüssen (das Gott wende) kein Holtz mehr übrig were zur Notwendigkeit. Das Schmalvich betreffendt, seye gar ein zu grosser Ueberschwall, geschehe grosser Schaden im Steintröllen [Steinschlag], seyen ser unverschambt im Heüwwegetzen, da doch solches allein den Gnossen gehöre, oder sie erweisen was anders. Wo nit, köne und müesse man sie nit mehr also gedulden. Wan auch die Ungnossen Recht heten zu den Bergen, müeste man bald mit Küen undt Rindten abfahren, undt von lauter Schmalvich besetzt werden.

Welche Rechte stritten also die Genossen den Ungenossen eigentlich ab? Die Sache ist nicht ohne weiteres zu beantworten, weil in beiden Reden die Begriffe »Gemeinberg«, »Allmend«, »Alpen« und »Berge« durchaus vieldeutig verwendet wurden.

306 Vgl. ETP 4.522–527, ebenso für die weiteren Zitate. Beim von Matter erwähnten Schmalvieh handelte es sich – wie aus dem Schiedsspruch klar wird – um Schafe und nicht um Ziegen. Die Nutzung des abseits gelegenen Geissbergs stand nicht zur Diskussion. Vgl. ferner auch die Gerichtserkenntnis von 1726 in ETP 9.331–332.

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Hurschler forderte als Gemeindevertreter den unbeschränkten Zug der Gemeinde auf die Hochweiden ausserhalb der Kuhweide. Von einem Aufsichtsrecht der Genossen über den Holzschlag wollte der Gemeindevertreter nichts wissen. Für ihn waren die Hochweiden ausserhalb der Kuhweiden und der gesamte Waldbestand der Genossenalp schlicht Gemeineigentum. Diesen Standpunkt begründete Hurschler damit, dass die Gemeinde einst den Genossen nur die Nutzung der Alpen gewährt hätte. Zwar unterschied Hurschler zwischen Kuhweide und übrigen Hochweiden, indem er die Gemeindeansprüche auf letztere beschränkte. Indem er aber gleichzeitig forderte, die Gemeinde solle die Kuhweide nach der Alpabfahrt nutzen dürfen (was die Wendung „was die Kue nit esse“ andeutete), verwischte er die Nutzungsgrenzen erneut. Die Genossen waren zwar bereit, der Gemeinde eine Teilnutzung der Genossenalpen zu erlauben. Sie hatten ja diese Nutzung bisher „wohl gelitten“, wie ihr Vertreter erklärte. Was die Genossen allerdings nicht dulden wollten, war der übermässige Holzschlag, die Gefährdung ihrer Herden durch Steinschlag und das völlige Abätzen der Hochweiden ausserhalb (und teils innerhalb) der Kuhweide. Die Genossen wünschten vielmehr eine Schonung des Waldbestandes, einen besseren Schutz ihres Viehs vor Steinschlag und ein Aufsichtsrecht über die Nutzung der Hochweiden ausserhalb der Kuhweide. In keiner Art und Weise waren die Genossen bereit, den Ungenossen die Nutzung der Kuhweide (nach der Alpabfahrt) zu erlauben. Die Genossen waren auch nicht bereit, die bisher gelittene Nutzung in einen verbrieften Rechtszustand zu überführen. Die Forderungen der Gemeinde zielten darauf ab, den Genossen die Alpverwaltung weitgehend zu entziehen. Nach hergebrachter Übung befand nämlich die Genossengemeinde über alle wichtigen Alpgeschäfte und wählte auch Amtsleute, die für die Umsetzung der gefällten Beschlüsse verantwortlich waren. Die Genossengemeinde trat jährlich und zu keinem anderen Zweck zusammen. Hätte die Genossengemeinde ihre Aufsichtsrechte abtreten müssen, wären diese an die Talgemeinde übergegangen. Die unregelmässig tagende und von inneren Spannungen oft zerrissene Talgemeinde wäre jedoch zu einer wirksamen Alpaufsicht kaum fähig gewesen: So hätte auf den Genossenalpen nach Gutdünken gealpt werden können. Eine mächtigere Talgemeinde hätte das Gemeinwesen letztlich nicht gestärkt, sondern geschwächt. Der Schiedsspruch fiel am 19. Juni 1707 Abt und Konvent zu. Die Klosterherren verteidigten grundsätzlich die Aufsichtsrechte der Genossengemeinde und ihrer Amtsleute, der Bannwarte. Manche Gemeindeforderungen wurden jedoch gutgeheissen und die Bannwarte aufgefordert, „bessere Aufsicht zu haben, damit den Alpen [d.h. den Genossen] nichts entwent [entwendet], undt der Gemeindt das Ihrige verbleibe“.

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Der klösterliche Schiedsspruch schuf klare Regeln: Abt und Konvent erlaubten erstens den Trieb der Schafe ausserhalb der Kuhweiden nur soweit, als kein anderes Vieh dadurch in Gefahr kam. Den Bannwarten wurde die Entscheidung in strittigen Fällen überlassen. Die Bannwarte erhielten zweitens die Befugnis, Fahrwege für das Schmalvieh zu bestimmen: Auf allen anderen Wegen wurde der Schmalviehtrieb untersagt. Drittens hatten die Bannwarte (nach Absprache mit dem Abt) einen Zeitpunkt festzulegen, ab welchem das Heuen ausserhalb der Kuhweide erlaubt sein solle: Vor dieser Frist blieb dort das Heuen allen (Genossen wie Ungenossen) untersagt. Viertens behielten die Talleute das Recht, Bau- und Hagholz von den Genossenalpen zu beziehen: Die Zeichnung des Holzes oblag jedoch ebenfalls den Bannwarten. Zugleich wurden die Talleute scharf ermahnt, haushälterischer mit dem Holz umzugehen. Fünftens wurde verboten, Schafe nach der Alpabfahrt am Leodegarstag (2. Oktober) auf die Kuhweide zu treiben. Die Streitigkeiten um den Gemeinberg weisen auf seine wirtschaftliche Bedeutung hin. Tatsächlich wurde der Gemeinberg auf vielfältige Weise genutzt, nämlich (1) zur Versorgung des Schmalviehs, (2) zur Gewinnung von Wildheu und Streu sowie (3) zur Jagd. Die Weideflächen des Gemeinbergs waren nicht selten schwer zugänglich, so dass Grossvieh dort kaum geätzt werden konnte. Deshalb wurde der Gemeinberg vornehmlich mit Galt- und vor allem Schmalvieh bestossen. Zum letztgenannten Vieh zählten Ziegen (Geissen) und Schafe. Spätestens seit 1688 wurde der Weidgang des Schmalviehs im Gemeinberg erlaubt. So heisst es im Mandat vom 13. Juni 1688:307 Ob zwar ein alter articul des thalbuchs ist, daß in gemeinen bergen oder gemeinen alpen kein geiß oder schmahlviech man haben oder treiben solle, sondern jeder dasselbe auf dem seinen habe, so ist doch selbiger um etwas aus tragendem mitleyden gegen den armen sonderlich anno 1688, 13. juny insweit gemilteret worden, daß solches schmahlviech weder auf gemein noch eignen alpen oder matten niemanden nichts schaden solle.

In den 1730er Jahren wurde die Bestimmung dahingehend ergänzt, dass auf den Allmendweiden im Tal zwischen den beiden Heiligkreuztagen – also zwischen Kreuzauffindung am 3.  Mai und Kreuzerhöhung am 14.  September – kein Schmalvieh gehalten werden durfte.308 Das Mandat von 1688 enthält übrigens einen aufschlussreichen Hinweis: Der Weidgang des Schmalviehs auf dem Gemeinberg wurde zu-

307 Vgl. Schnell (1858: 124–125). 308 Vgl. Schnell (1858: 132).

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gunsten der armen Leute erlaubt. Für die ärmeren Talleute waren offenbar die Ziegen und Schafe ein wichtiges Mittel zur Selbstversorgung. Für die Ziegen waren im Gemeinberg eigene Hochweiden ausgesondert, die hauptsächlich am Nordabhang des Titlis lagen – die Flurnamen Geissberg und Galtiberg bestätigen bis heute die frühere Nutzung. Die Ziegen sollten ausschliesslich auf diese Hochweiden getrieben werden. An der bereits erwähnten Talgemeinde vom 19. Juni 1707 wurde ausdrücklich bestimmt, dass „man mit den Geis[s]en in andere Berg, wo es wenig oder nit breüchlich gewesen, nit fahren“ solle. Nur nach der Alpabfahrt des Grossviehs wurde den Ziegen der Zugang zu den Genossenalpen erlaubt.309 In späterer Zeit wurde ferner das Heuen im Geissberg vor dem Johannstag (24. Juni) verboten, damit die Hochweiden nicht schon vor dem Auftrieb der Ziegen erschöpft wurden.310 Schafe hingegen durfte man nicht im Geissberg ätzen lassen. Ein Gerichtsurteil von 1755 verdeutlicht dies: Damals beschwerten sich mehrere Ziegenbauern beim Gericht, dass Schafbauern ihr Vieh neuerdings auch auf den Geissberg trieben, worauf das Gericht an das Urteil von 1707 erinnerte. Für den Weidgang der Schafe (auf Allmendgebiet) waren nämlich die übrigen Hochweiden des Gemeinbergs bestimmt.311 Weiter durfte in den Genossenalpen auf eine Sennte Rindvieh auch ein Schaf gehalten werden. Schafe wurden besonders in den Galtviehalpen Wand und Walen gehalten.312 Die Wege in den Gemeinberg verliefen alle zwangsläufig durch eine der tiefer gelegenen Genossenalpen. Entsprechend mussten für den Durchgang des Schmalviehs Fahrwege bestimmt werden. Auseinandersetzungen um diese Fahrwege kamen regelmässig vor. So beklagten sich 1677 die Genossen der Eien, dass eine Vielzahl von Wegen durch die Eien in den Geissberg genutzt würden und jeder rücksichtslos nach seinem Belieben treibe. Das Gericht ordnete deshalb an, dass man das Schmalvieh vor dem Durchzug sammle, auf einem genau bestimmten Weg treibe „undt sonsten so vill müglich verhüetten, das[s] den Gnossen kein Schaden widerfahre, sonderen mit aller müglichen Bescheidenheit über die Alp fahren“ solle.313 Nicht immer war klar, wer bei umstrittenen Fahrwegen die Schlichtungsbefugnis besass. So zitierte das Gericht 1765 den Ziegenbauern Dominik Kuster zu sich, der (offenbar als einziger Ziegenbauer) den Fahrweg nicht benutzen wollte, den die Besitzer der Eien den Ziegenbauern gezeigt hatten. Die geschädigten Besitzer 309 Vgl. ETP 4.522–527 sowie 4.530. 310 Vgl. ETP 19.194. 311 Vgl. ETP 14.34–35. 312 Die genannte Bestimmung wird etwa besprochen in ETP 16.605–606. 313 Vgl. ETP 4.37–38, siehe auch 4.55.

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forderten nun von Kuster persönlichen Schadenersatz. Kuster verweigerte aber die Gerichtsvorladung und erschien nicht vor Gericht. Dem Gericht liess er ausrichten, „dass solches das gemein wesen betreffe, darum gebe er allein nit red und antwort, sonder soll zuerst vor ein gemeindt solches kommen lassen“.314 Eigentlich stand ein persönlicher Verstoss gegen das Eigentumsrecht anderer Talleute zur Rede. Kuster wusste aber daraus ein öffentliches Anliegen zu machen in der Hoffnung, Gleichgesinnte würden ihn in der Talgemeinde unterstützen. Der Gemeinberg lag an vielen Stellen steil über den Genossenalpen. Die Fahrund Treibwege für das Schmalvieh mussten deshalb so angelegt werden, dass sie keinen Steinschlag verursachten und dadurch das Grossvieh gefährdeten. So mussten 1708 die Bannwarte von Obhag feststellen, dass „ein neuer Geissweeg zu gröster Gefahr des Rindvichs gemacht worden“ war und klagten deshalb die Schuldigen vor Gericht an, „damit erstlichen der [entstandene] Schaden ersetzt und der Weeg abgethan werde“. Das Gericht ordnete neben einem Schadenersatz die unverzügliche Aufgabe des Weges an.315 Weiter entschied 1766 das Gericht, die Genossen müssten zugunsten des Schmalviehs nur Fahrwege anzeigen, nicht aber Treibwege. Der Schmalviehtrieb wurde also nur beim Alpaufzug im Frühling und bei der Alpabfahrt im Herbst erlaubt.316 Neben der intensiven Grossviehhaltung war der Platz für das Schmalvieh knapp. Solange die Talleute nur so viel Schmalvieh hielten, wie sie zur Selbstversorgung brauchten, konnte der Gemeinberg die Bedürfnisse decken. Bald jedoch begannen die Schmalviehherden zu wachsen. Manche Schmalviehbauern besassen Herden von über 30 Ziegen bzw. Schafen.317 Wer sich eine solche Herde leisten konnte, hielt diese nicht mehr alleine zur Selbstversorgung, sondern wirtschaftete erwerbsmässig mit dem Schmalvieh und dessen Erzeugnissen. Ein eindrückliches Beispiel ist etwa der Fall Maurus Infangers: Der Schafhändler hinterlegte 1797 auf der herrschaftlichen Kanzlei eine Versicherung für 600 Gulden, um sich talauswärts zum Gegenwert mit Schafen einzudecken.318 Das empfindlichere Grossvieh verlangte erheblich mehr Pflege und Wissen im Umgang, mehr Scheunen und bessere Ställe, mehr Winterfutter, eine aufwendigere Pflege der Ätz- und Heuweiden usw. Auch erheischte die Hartkäserei vieler314 Vgl. ETP 14.253. 315 Vgl. ETP 5.5–6. 316 Vgl. ETP 14.269–270. Zu weiteren Auseinandersetzungen um Fahrwege vgl. u.a. ETP 14.80, 14.253 und 14.256–257. 317 Als Beispiel u.a. vgl. ETP 16.250–253. 318 Vgl. ETP 20.138.

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lei Einrichtungen zur Herstellung, Pflege und Lagerung des Käses, und vor allem: viel Arbeit und Erfahrung. Die Besitzer grösserer Schmalviehherden wollten diesen Aufwand offenbar nicht auf sich nehmen. Zudem konnte das Schmalvieh auf die Allmend bzw. den Gemeinberg getrieben werden, während das Grossvieh auf eigenem Land gehalten werden musste. Abt Gregor Fleischlin liess sich 1685 heftig darüber aus, dass auf den Alpen „bald ein jeder thüe was er wolle“ und fügte sogleich an, „das[s] das Schmalvich grossen Schaden zuefüege, und bald aller Orthen dem Rindervich vorgetriben werde“. Ähnlich beklagte Grosskellner Bernhard Zimmermann drei Jahre später den „grossen und unerduldlichen Schaden“, den das Schmalvieh auf den Genossenalpen verursachte. Fehlbare Schmalviehbauern liessen ihr Vieh sogar unrechtmässig auf der Kuhweide ätzen. Die Bannwarte wurden bei der „Abschaffung des Schmalviehs“ zu erhöhter Wachsamkeit angehalten.319 Das Gericht blieb auch in späterer Zeit bei seiner Weigerung, den Schmalviehtrieb auf die Kuhweide zuzulassen. Als z.B. Luzern und andere Orte 1770 die Ausfuhr von Zinsvieh verboten, beantragten die Engelberger Schaf- und Ziegenbauern dem Gericht, den Trieb des Schmalviehs auf die Kuhweide zu erlauben, da „die gemein alpen [Genossenalpen] mit rinderviech kaum werde können besetzt werden“. Das Gericht entschied jedoch einstimmig gegen das Gesuch.320 Andererseits schützte das Gericht auch die Rechte der Schafbauern, als rindviehbesitzende Ungenossen 1789 ein Zugrecht vor schafbesitzenden Genossen geltend machten.321 Abt und Gericht beschränkten 1730 erstmals die Zahl des Schmalviehs, die ein Talmann halten durfte, auf 20 Stück.322 Die Dorfoberen wollten mit der Begrenzung verhindern, dass einzelne Talleute zulasten anderer und vor allem ärmerer Talleute die Ressourcen des Gemeinbergs ausschöpften. Um dem „Übertrieb des Schmalviehs“ vorzubeugen, verboten Abt und Gericht 1739 den Zukauf von neuem Schmalvieh im Frühling.323 Das Gericht präzisierte 1749 die Beschränkung des Schmalviehs dahingehend, dass ein Talmann nur 10 Stück Schmalvieh wintern und 15 Stück sömmern dürfe. Die Höchstzahlen wurden 1764 schliesslich auf 12 Stück für die Winterung und 18 Stück für die Sömmerung festgelegt. Die Stichtage wurden auf die Zeit der Schneeschmelze und den Leodegarstag (2. Oktober) gesetzt.324

319 Vgl. ETP 4.197, 4.256–257, 4.325 und 4.479–480. 320 Vgl. ETP 14.457–458. 321 Vgl. ETP 16.605–606. 322 Vgl. Schnell (1858: 132). 323 Vgl. ETP 11.279–282. 324 Vgl. ETP 11.630–631, 12.371–372, 14.220–221, 14.468–474 und 19.144.

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Die wiederholten Einschränkungen stiessen jedoch bei den Betroffenen auf harsche Ablehnung. Nachdem 1744 eine neuerliche Einschränkung in der Kirche ausgerufen wurde, erboste sich Franz Ignaz Kuster derart, dass er die Urheber der neuen Verordnung als »Schelmen« beschimpfte und dabei namentlich Gerichtsherr Hans Geni Müller nannte. Als Kuster seine Anschuldigungen später vor Gericht wiederholte und ihn der Rat aussprechen liess, verlor Müller die Fassung: Der Gerichtsherr zog seinen Richtermantel aus, legte diesen auf seinen Stuhl, verliess die Ratsstube und liess seine Mitrichter verblüfft zurück. Schliesslich urteilte das Gericht, Kuster solle gegenüber Abt und Gericht eine Abbitte leisten. Kuster verrichtete dem Abt gegenüber seine Abbitte, verweigerte sie aber zunächst dem Gericht. Endlich lenkte Kuster ein und entschuldigte sich vor Gericht „ziemlich kaltsinnig“. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 1777, als Hans Sepp Kuster vom zuständigen Bannwart zur Einhaltung der Schmalviehverordnung ermahnt wurde. Öffentlich schimpfte Kuster auf daraufhin: „Wan er [Kuster] durch sein veich gestohlen [habe], so seye der gnädig herr auch ein schelm!“325 Kuster musste dem Abt daraufhin nicht nur eine kniefällige Abbitte leisten, sondern auch öffentlich Busse tun. Die beiden Anekdoten sind hier ihrer Beispielhaftigkeit wegen wiedergegeben: Nicht selten antworteten betroffene Schmalviehbauern mit heftigem und feindseligem Verhalten, wenn Abt und Gericht neue Verordnungen über das Schmalvieh erliessen bzw. auf deren Einhaltung bestanden.326 Eine wichtige Neuerung wurde 1765 mit der Wahl von Schmalviehaufsehern eingeführt. Die Schmalviehaufseher hatten zunächst die Pflicht, das heimische Schmalvieh regelmässig auf mögliche Seuchen zu mustern und insbesondere das eingeführte Vieh zu untersuchen. Die Besteuerung der Allmendnutzung ab 1773 erweiterte ihren Aufgabenkreis. Der genaue Viehstand jedes Talmanns musste nun verzeichnet werden, da für jedes Stück Schmalvieh, das auf den Gemeinberg getrieben wurde, eine Abgabe von einem Schilling zu leisten war. So wurden neu für jede Ürte zwei Schmalviehaufseher bestimmt: Diese mussten den Schmalviehstand jedes Talmanns aufzeichnen, die entsprechenden Abgaben einziehen und für die Einhaltung der Schmalviehverordnungen sorgen. Zu Schmalviehaufsehern wurden Besitzer grösserer Schmalviehherden gewählt.327 In einer Schmalviehverordnung von 1781 stellten Abt und Gericht einleitend fest, dass die oft wiederholten Verordnungen in dieser Angelegenheit „durch eigennützige und dem gemeinen wesen nachtheilige absichten“ verletzt würden.328 Eigennutz 325 Vgl. ETP 16.170–173. 326 Vgl. ETP 11.435–438. 327 Vgl. ETP 14.258, 14.532–533, 15.417–420, 16.93–97 und 19.164. 328 Vgl. ETP 16.260–263.

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und Missbrauch des Gemeindebesitzes war tatsächlich jenen anzulasten, welche die Ressourcen der Gemeinde über ihren Anteil hinaus zu nutzen suchten. Mancher, der vor der Talgemeinde und dem Gericht als Verfechter der Gemeinderechte auftrat, verfolgte in Wirklichkeit eigennützige Motive. Es spricht für Abt, Gericht und Talleute, dass sie trotz etwelcher Rückschläge und Widerstände den Ausgleich der Einzelinteressen und die Schonung der Ressourcen nicht aus den Augen verloren. Im Gemeinberg wurde auch Heuwirtschaft betrieben. Im Schiedsspruch von 1707 wurde diesbezüglich festgelegt:329 Heües halber in den Bergen gemeiner Alp, undt in anderen gemeinen Bergen sols verbotten sein, bis die Banwärth gemeiner Alpen vermeinen, das[s] das Heüw gewachsen, undt sollen selbe mit Consens des Gnädigen Herren einen Tag undt die Stundt im Tag bestimmen, wan die Gnossen sambt den gmeinen Thalleüthen heüwen könen.

Schon 1680 war eine vergleichbare Regelung für die Genossenalp Gerschni getroffen worden, indem das Heuen ausserhalb der Kuhweide vor dem Verenatag (1. September) verboten wurde.330 Vorher war das Heuen dort selbst den Genossen untersagt. Vom Verbot ausgenommen war lediglich das sogenannte Hüttenheu,331 nämlich dass ein jeder [Genosse] zu der hütten, wo er feür und liecht habe, solle die gewohnlichen 3 burde für die noth und das tasterenheüw [Heu für die Schlafstellen] mähen mögen, und wan sie solches droben nit brauchen, sollen sie das heüw nit abfüehren sonder droben lassen.

Für das Heuen im Geissberg bestanden ferner eigene Regelungen, um die Ätzung des Schmalviehs nicht zu gefährden. Die Hochweiden im Gemeinberg waren Magerweiden. Das Wildheu, das dort gesammelt wurde, bildete einen wichtigen Bestandteil des Rauhfutters, das für die Winterung des Viehs benötigt wurde. Der Jahresertrag der damals genutzten Wildheugebiete belief sich – heutigen Berechnungen zufolge – auf knapp 100 Tonnen Heu. Angesichts des damaligen Futterbedarfs einer Milchkuh erlaubte das gesam-

329 Vgl. ETP 4.522–527. 330 Vgl. ETP 4.94–95. 331 Vgl. ETP 4.94 und 14.158–159.

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melte Wildheu die Winterung von 50 Kühen oder einer entsprechend höheren Anzahl Schmalvieh.332 Auf das Wildheu waren besonders jene angewiesen, die auf der Talstufe keine oder nur wenige Heuflächen besassen. Entsprechend sorgfältig und gründlich wurden die Wildheugebiete gemäht. Auf seiner Reise durchs Berner Oberland 1796 bemerkte Georg Wilhelm Friedrich Hegel staunend: „Jeder grüne Fleck dieser Berge wird auf ’s Sorgfältigste benutzt und kleine Räume von einigen Quadratschuhen werden mit Lebensgefahr erstiegen, um das Gras abzuholen.“333 Robert Thomas Malthus bemerkte etwa zur selben Zeit, in den Alpen fänden sich Wiesen, die „wie Cricketplätze glatt geschoren“ seien. Lobend ergänzte Malthus, man habe in diesen Gegenden „die Kunst des Mähens bis zum höchsten Grad der Vollendung entwickelt“.334 Hegels und Malthus’ Beobachtungen trafen gewiss auch auf das frühneuzeitliche Engelberg zu. Die Bannwarte hatten also (in Rücksprache mit dem Abt) Tag und Stunde zu bestimmen, ab welchem das Mähen im Gemeinberg erlaubt wurde. Der festgesetzte Zeitpunkt wurde vorgängig in der Kirche ausgerufen. Im Hochtal wurde (und wird) das Mähen im Gemeinberg als Schiess (Schiäs) bezeichnet – ein Begriff, der der Engelberger Sprache eigen ist. Bisweilen bezeichnet dieser Begriff auch das gesammelte Wild- bzw. Bergheu selbst oder aber den Zeitpunkt, ab welchem die Heuer im Gemeinberg zugelassen sind.335 Die Konkurrenz am Schiess war gross. Sobald der Schiess eröffnet war, mähten die Wildheuer zunächst nur die Grenzen jener Heufläche, die sie für sich beanspruchten: Der Bezirk wurde durch fleckenweises bzw. »blätzweises« Mähen abgegrenzt. Das Gericht musste sich erstmals 1752 mit dem fleckenweisen Mähen beschäftigen.336 Der Wildheuer Anton Vogel wurde damals von anderen Wildheuern beschuldigt, dass er „also wüest gemähet habe, dass es ein schand und zu keinen zeiten also bräuchlich gewesen, [er] werde vermeint haben, dass niemand ihmme in 332 Zu Menge des gesammelten Wildheus vgl. Hess (2002: 43). Der durchschnittliche Futterbedarf einer Milchkuh betrug im 18. Jahrhundert ungefähr 11 kg Heu, vgl. Schürmann (1974: 193). 100 Tonnen Heu ergeben bei einem täglichen Verbrauch von 11 kg Heu 9090 Tage Winterung. Bei einer minimalen Winterungszeit von 180 Tagen oder 6 Monaten ergibt sich entsprechend ein Winterungspotential von 50 Kühen. 333 Vgl. Hegel I, 383. 334 Vgl. Malthus (1905: 323–324). 335 Der Begriff bezeichnet das gesammelte Wild- bzw. Bergheu selbst oder aber den Zeitpunkt, ab welchem die Heuer im Gemeinberg zugelassen sind. Vgl. dazu den Artikel in SI 7, 1354 sowie Hess (2002: 5). Wild- und Bergheu sind synonyme Begriffe, wobei sich im Hochtal der Begriff Bergheu durchgesetzt hat. 336 Vgl. ETP 11.61–65, ebenso für die weiteren Zitate.

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disen zeichneten plätzen meyen solle“. Vogel wurde ferner beschuldigt, er habe das Heu verderbt und wüest zermacht, zerzehrt, zerkabset [an verschiedene Orte gesteckt], hernach habe Frantz [Kuster] nachgemähet; der Antoni aber, damit ein anderer kein bürdelin könt machen, nur zerblätzet, habe unverschamt gemähet, bald nur ein halbs örteli, bald ein gantzes.

Vogel hatte also mit fleckenweisem Mähen einen Weidebezirk für sich beansprucht. Doch Franz Kuster, ein anderer Wildheuer, anerkannte Vogels Grenzsetzung nicht und begann ebenfalls in diesem Bezirk zu heuen. Bald kam es zwischen den beiden Wildheuern zu einem handgreiflichen Streit. Vom weiteren Verlauf des Streits berichtete Kuster dem Gericht, nach demme seien sey zu streichen komen und er Frantz underliegen müessen, der Antoni habe auch ihmme das maul aufzehren wollen, er aber habe ihnne in die finger bissen. Frantz selbsten redt noch weiters, namblich, er habe zu 2–3 mahlen den Antoni gebetten, er solle ihnne um 1000 Gottes willen auflassen und den hals nit verträhen [verdrehen]. Da habe Antoni gesagt: Du verfluchts ketzermandli, ich will dir den hals umthrähen und schla[gen] dazu! und habe ihme noch mehr streich geben. [...] Er Antoni habe ihne [Franz] also schlim tractiert, dass er 3 wuchen lang kein rapen verdienen und den schärer brauchen müessen.

So unsportlich war der Wettkampf um das Wildheu jedoch selten. Das Wildheuen glich einem Wettrennen, das der Schnellere, Listigere und manchmal auch der Stärkere für sich entscheiden konnte. Die Eröffnung des Schiess’ wurde auf Tag und Stunde genau festgelegt. Auf den Hochweiden war allerdings der genaue Zeitpunkt nur schwer zu ermitteln, ab welchem die Sense angesetzt werden durfte. So entschied das Gericht 1785, den Schiess mit dem Glockengeläut der Horbiskapelle zur achten Stunde einzuläuten, „damit alle gleich und mit einander anfangen zu mähen“.337 Es ist aufschlussreich, dass nicht das Vollgeläut der Pfarrkirche zum Signal bestimmt wurde, das im gesamten Engelberger Bergkranz vernehmbar war. Offenbar lagen die umstrittensten Wildheugebiete in und um das Horbistal, denn nur dort war das Kapellengeläut zu hören. Regelmässig musste sich das Gericht mit Verstössen gegen die Mähvorschriften befassen. Bald einmal mähten Genossen mehr Hüttenheu als ihnen zustand. Andere Male legten Wildheuer ihre Sensen zu früh an oder mähten widerrechtlich auf der Kuhweide bzw. im Banngebiet. Mehrmals erörterten Abt und Gericht auch die

337 Vgl. ETP 16.408–409.

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Frage, ob das von den Kühen zurückgelassene Unkraut auf der Kuhweide von Ungenossen gemäht werden dürfe oder nicht.338 Das Wildheuen setzte – wie die Holzwirtschaft im Bergwald – erhebliche Ansprüche hinsichtlich der Arbeitstechnik voraus.339 Die Arbeit erfolgte in unwegsamem, abschüssigem Gelände, wo jede Bewegung genau überlegt sein musste. Die Wetterentwicklung musste genau beobachtet werden, da Nässe die Rutschgefahr weiter erhöhte. Wer unsorgfältig vorging, bezahlte seine Unachtsamkeit mit dem Tod. So berichtete 1718 Kanzler Hans Rudolf Kreull vom tödlichen Unfall Hans Melcher Risis, der beim Wildheuen nahe der Alp Zingel abstürzte:340 Morgens [...] hat diser junge starkhe Handknab mit andern Aelplern auf der Alp geheüwet, und das Heüw über eine Dossen, und hoche nasse Flueh, oder Felsgrad gegen Grafen Orth zeigend, in eine andere Alp hinunder gestossen. Et Ecce [siehe da] ist diser auf vorhero beschechene Wahrnung[,] er nicht also auff dem Heu darvonfahren solle, möchte Ihne mit sambt dem Heu über die Dossen hinauswerfen, ohngeacht dessen fortgefahren, et factum est ita [und so geschah es], seynd Ihme auff dem heuw beide Füess entgangen, über die Felsen mit dem Heüw hinausgeflogen, und sehr hoch hinab, also dass der obere Theil des Leibs gantz zerquetz, miserable zu Todt gefallen.

Das Mähen auf steinübersäten, unebenen Steilweiden erforderte viel Übung und Geschick, das häufige Scharfklopfen der Sense ebenso. Das gemähte Gras musst auf den abschüssigen Halden gewendet werden, damit es trocken ins Tal geführt werden konnte. Die Heuer mussten die gefüllten Burden (Heunetze bzw. -seiler) mühsam auf ihrem Rücken oder auf Schlitten ins Tal führen. Anderes Heu wurde auf den Hochweiden zu Tristen aufgeschichtet und zu einem späteren Zeitpunkt genutzt bzw. ins Tal geführt.341 Nicht nur das Gras, sondern auch die Streu des Gemeinbergs wurde bewirtschaftet. Die Streugebiete befanden sich oft auf Genossengebiet, wo die Streu von

338 Vgl. die (keinesfalls erschöpfenden) Belege in ETP 4.467, 4.511, 4.519, 5.99, 5.386, 7.456–457, 9.202, 9.203, 9.275, 9.331–332, 9.355, 11.53–54, 11.105–108, 11.110, 11.125–127, 11.438, 11.467–468, 11.60–65, 11.623, 12.92 12.118, 14.96, 14.158– 160, 14.165, 14.339, 14.482–486, 16.22–27, 16.408–409, 17.76–77 und 19.194. 339 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Renner (1978: 80–83) und Ritschard/ Schmocker (1980: 79–103) sowie Hess (2002: 17–27, 48–51), dessen Arbeit hervorragende Illustrationen enthält. 340 Vgl. ETP 6.301–301a. 341 Zum Wildheuen vgl. allgemein Ritschard/Schmocker (1980), Hess (2002) sowie Blatter (2009).

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mehreren Seiten beansprucht wurde, nämlich von den Genossen selbst, von Ungenossen mit persönlichen Besitzrechten und von gewöhnlichen Talleuten. In der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts war strittig, ob Ungenossen Streubezirke auf einer Genossenalp erwerben bzw. besitzen durften. Die Genossenschaften fürchteten eine Schmälerung ihres Besitzes und längerfristig eine Privatisierung der Genossenalpen. Die Genossen standen unter erheblichem Druck, weil die Ungenossen, die private Besitzrechte geltend machten, zu den einflussreichen Talleuten gehörten. So forderte 1674 Anton Häcki, Sohn des damaligen Ammann Bernhardin Häcki, Streubezirke auf der Gerschni für sich ein. Die Genossen, die sich gegen Häckis Ansinnen wehrten, erhielten zwar die Unterstützung des Gerichts. Während der Gerichtsverhandlung sah sich Abt Ignaz Betschart jedoch veranlasst, den Gerichtsvorsitzenden, Statthalter Jakob Langenstein, mit einem harten Verweis zurechtzuweisen. Langenstein hatte nämlich „glich anfangs mit inreden undt ruchen worten“ den Vertreter der Genossen angegriffen. Das überrascht wenig angesichts der Tatsache, dass Langenstein der Schwiegervater des Klägers war. Einige Talleute baten 1695 das Gericht, die Streunutzung auf den Genossenalpen grundsätzlich zu regeln. Doch dieses hielt sich nicht befugt, die Frage selbst zu klären und verwies das Geschäft an die Talgemeinde, „allwo so wohl Gnoss als nit Gnossen zuosammen kommen, und ein jeder was ihme billich zuo sein geduckht reden könne“.342 Was weiter geschah, ist leider nicht überliefert. Eine Gerichtserkenntnis von 1773 lässt vermuten, dass die Streu auf dem Gemeinberg regelmässig genutzt wurde. Abt Leodegar Salzmann stellte damals dem Gericht den Antrag, die Streulese auf dem Gemeinberg ab einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr zu verbieten, „damit nit die neüwachsendte mit der alten [Streu] schedlich weg genommen und dann nichts mehr aufzuwachsen bis zur zeit des heüwens platz hätte“.343 Das Gericht war mit diesem Vorschlag einverstanden und verbot das Streulesen im Gemeinberg nach dem Johannstag (24. Juni). Schliesslich wurde im Gemeinberg auch gejagt. Der Wildbann und damit das Jagdrecht fielen seit alters dem Abt als Talherrn zu. Formelhaft hiess es diesbezüglich im Talbuch: „Es ist auch das thier auf dem grad, der vogell im luft, der fisch im Wasser dem Gottshaus gebannet, dass da niemand jagen, voglen noch fischen solle.“ Grundlage des klösterlichen Jagdregals bildete der Schiedsspruch der Schirmorte von 1444, wonach die Talleute nur mit äbtischer Erlaubnis Wildtiere erlegen durften. Freie Hand behielten die Talleute bei der Jagd von Untieren 342 Vgl. ETP 3.237, 4.373 und 4.467. 343 Vgl. ETP 16.22–27.

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(d.h. schädlichen Tieren) wie Bären, Wölfe und Luchse. Bären und Wölfe wurden noch im 17. Jahrhundert im Hochtal erlegt.344 Weiter bestimmte das Talbuch, dass die Jagd erst am Margarethatag (20. Juli) eröffnet werden durfte. Wer ein erlegtes Wildtier dem Kloster übergab, erhielt je nach Wildart eine Entgeltung.345 Gerhard Philipp Heinrich Norrmann berichtete in seinem 1798 erschienenen Reisebericht auch von den Jagdgewohnheiten im Hochtal. So erklärte er:346 Gemsen, Berghühner und Murmelthiere sind auf den Bergen und Felsen dieser Gegend ein gemeines und ziemlich häufiges Wildpret, das zum Theil zum eigenen Gebrauch benutzt, zum Theil auch auswärts verkauft wird, aber doch nur einen kleinen Geldgewinn geben kann. Das Fleisch der Murmelthiere isst man hier häufig geräuchert und gerne, wie Schweinefleisch.

Die Jäger bildeten gewiss keinen eigenen Berufsstand, doch verstanden sich manche Talleute sicherlich besser im Jagen als andere. So wurde Hans Sepp Amrhein (1727–1798) gewöhnlich als »der Jäger« angesprochen. Der stehende Beinamen weist darauf hin, dass Amrhein wohl ein besonders fleissiger oder gewandter Jäger war.347 Es fällt auf, dass die Jagd vor Gericht und in der Talgemeinde ausserordentlich selten zur Sprache kam. Meist schritt die Obrigkeit nur ein, wenn erlegtes Wild ausserhalb des Tals verkauft wurde. Bemerkenswert ist der Fall Hans Melcher Vogels, der 1682 zwei Füchse talauswärts verkauft hatte. Vogel rechtfertigte sich damit, er „habe bei den Jesuiteren zuo Lucern Raths gefragt, welche ihme gesagt, das die Füchs ein Unthier und wohl mögen anderstwohin verkauft werden“. Vogel überzeugte Abt und Gericht allerdings nicht und wurde für seinen Fehler gebüsst. Auch übermässiges Jagen konnte Abt und Gericht zum Eingreifen bewegen. So wurde 1768 Christoph Waser gebüsst, weil er 18 Murmeltiere erlegt und dem Kloster kein einziges Stück übergeben hatte. Schliesslich wurden unberechtigte Wildjagd und Fischfang vor allem dann bestraft, wenn der Fehlbare seinen Verstoss nicht eingestand und „vor einem E[hrsamen] G[ericht] und vor Ihr Gnaden selbsten so frech alles verlaugnet[e]“.348 344 Vgl. Hess (1956: 112–113). 345 Vgl. die Anmerkung zu Artikel 148 des Talbuchs von 1790, ferner auch ETP 4.51, dann Schnell (1858: 20), dann Art. 73 und 150 des Talbuchs von 1790 sowie Abt Emanuel Crivellis »Jurisdictionalia« in Gfr. 33, 1878, 81–82. 346 Vgl. Norrmann (1798: 3075). 347 Die früheste Erwähnung Amrheins als Jäger in ETP 14.432–435. Zur Familie Amrheins vgl. StB Amrhein 99 und 105. 348 Vgl. ETP 2b.472, 2b.644, 3.182, 4.51, 4.135–136, 4.151–153, 4.166–167, 4.527 und 14.338–339, ferner ETP 15.315 und 16.162–163.

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Wer nur mässig und zum eigenen Verzehr jagte bzw. fischte, brauchte kaum eine Strafe zu fürchten. Wer ferner beim unrechtmässigen Wildern ertappt wurde, durfte eine milde Behandlung erwarten, wenn er den äbtischen Wildbann nicht grundsätzlich in Frage stellte. Es wird nicht selten vorgekommen sein, dass Jäger mehr Wild erlegten als sie schliesslich dem Kloster übergaben. Abt und Gericht drückten wohl oft ein oder sogar beide Augen zu.

d) Strassen- und Brückenunterhalt Zur Allmend gehörten nicht nur die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen, sondern auch die grösseren Bäche sowie die Strassen und Kirchwege. An dieser Stelle ist nur auf letztere einzugehen, da Unterhalt und Instandhaltung der Wasserläufe bereits dargestellt wurden. Engelbergs wichtigste Strasse war zweifellos die Berg- oder Landstrasse, die Hauptverbindung des Hochtals nach aussen. Schon im Schiedsspruch von 1413 wurde festgelegt:349 Füge es sich ouch, das die weg, die in das tal gand [gehen], bresthaft würdent, so sol ouch ein ietklicher Tallman tagwan tuon daselbs, wenn es notdürftig ist, da söllent Inen ouch die Herren helffen, als ouch daz von Alter har komen ist.

Mit den Wegen, die ins Tal führten, konnte nur die Landstrasse gemeint sein. Die Landstrasse verband das Hochtal zunächst mit dem Nachbarort Nidwalden, vor allem aber mit den Häfen in Stansstad und Buochs am Vierwaldstättersee. Während in Stansstad der Warenverkehr von und nach Luzern abgewickelt wurde, fergte man über Buochs jene Waren, die für den Handel über den Gotthardpass bestimmt waren. Ein guter Teil der Landstrasse befand sich in der Gefällstufe zwischen dem oberen und dem unteren Engelberger Tal. Die heutige Kantonsstrasse von 1873/74 mag den ungefähren Verlauf der alten Landstrasse anzeigen, auch wenn die Strassenführung zwischenzeitlich manche Änderungen erfuhr.350 Die Landstrasse war in steilem und bewaldetem Gelände angelegt: Unterhalb des Widerwällhubel z.B. betrug die Steigung gut 23 Prozent. Die Strasse war durch den Windwurf von Bäumen, Rüfen349 Zitiert nach der Edition in Gfr. 11, 1855, 204. 350 Vgl. allgemein für die folgenden Ausführungen Loepfe (2007: 35–38). Ein Teilstück der alten Landstrasse zwischen Aperschwendli und Widerwällhubel ist noch heute sichtbar und verläuft oberhalb und parallel zur heutigen Zahnradstrecke. Der heutige Strassenverlauf im Grafenort geht vermutlich auf die Wegstreckungen von 1689 bzw. 1874 zurück.

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niedergänge, Wassereinbrüche und Strassenrutsche gefährdet. Der beschönigende Flurname Rosshimmel (unterhalb des Widerwällhubel) erinnert bis heute an die Gefährlichkeit des Weges.351 Weiter war man auch im Winterhalbjahr auf die Benutzung der Landstrasse angewiesen: Wenn also hoher Schnee über längere Zeit liegen blieb, musste die Strasse soweit vom Schnee freigeschort werden, dass sie wenigstens mit Ochsen und Schlitten passiert werden konnte.352 Abt und Gericht beschlossen 1624, die Landstrasse in vier Abschnitte zu teilen. Jeder Engelberger Ürte wurde ein Abschnitt zum Unterhalt zugewiesen. Für jede Ürte wurde ein Strassenmeister bestimmt, der die Arbeiten seiner Ürtegenossen organisieren und beaufsichtigen musste. Die Aufsicht über die ganze Landstrasse wurde einem eigens dafür bestimmten Strassenvogt bzw. Baumeister anvertraut. Weiter beschloss 1628 die Talgemeinde, jene mit einer Geldstrafe zu büssen, die sich trotz Aufgebotes nicht an den Unterhaltsarbeiten beteiligten.353 Maurerarbeiten wurden bisweilen an auswärtige Handwerker aus Gurin (Bosco) in Auftrag gegeben.354 Abt und Gericht regelten mit dem Mandat vom 22. März 1691 das Strassenwesen auf umfassende Weise. Einerseits wurde der Strassenunterhalt innerhalb des Hochtals den Strassenanrainern übertragen. Andererseits wurde bezüglich der Landstrasse die Zuständigkeit der Gemeinde bekräftigt. Der Übergang der Dorfstrasse in die Landstrasse wurde auf Höhe der Wegmatt im Espen festgelegt.355 In späterer Zeit versuchten zwar gewisse Talleute, die Gemeinde eines Teils ihrer Unterhaltspflicht zu entbinden. So bestritten 1792 einige Kläger vor Gericht, dass die Gemeinde zum Unterhalt der Landstrasse im Espen verpflichtet sei. Das Gericht ging jedoch nicht auf die Klagen ein und bestätigte die Regelung von 1691.356 Die Strassenarbeiten bedeuteten für die Talleute keinen geringen Zeitaufwand. Entsprechend suchte man 1703 eine zeitliche Überschneidung der Unterhaltsarbeiten mit den bäuerlichen Arbeiten zu vermeiden:357 Bauw- und Pannermeister [Melcher] Hurschler bringt an wegen der Strass, so bis dahin jahrl. Herbstzeit insgesambt von Gemeinen Thalleüthen gemacht worden, ob nit thuonlich, es früehlingszeits zuo verrichten, aus Ursachen, weilen der Boden alsdan nit so hart gefroren,

351 Eigenartige Deutung in OF, 197: „Hier hatten die Zug- oder Saumtiere die grösste Steigung überwunden.“ 352 Vgl. Hess (1956: 110). 353 Vgl. ETP 2a.23 und 2b.40. 354 Vgl. Hess (1956: 110). 355 Vgl. Schnell (1858: 83–84). 356 Vgl. ETP 19.81–83. 357 Vgl. ETP 4.484–486.

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auch Geschäften halben so dan man müessiger sey als im Herbst, da man über Hals und Kopf der Streüwi nachjage.

Abt und Gericht zeigten Verständnis für das Anliegen der Talleute und bewilligten den Antrag des Baumeisters einstimmig. Die Engelberger Obrigkeit befasste sich regelmässig mit dem Unterhalt der Landstrasse. So ermahnte das Gericht 1671 den Baumeister, „dass er den berg & strassen von studen und esten sübere [...], damit noch denen zuo fuoss noch ross kein schaden strass halber geschehe“.358 Wenig später beklagte sich Abt Ignaz Betschart 1679 beim Gericht, „das[s] gar unsicher undt bös in dem Berg mit Karren undt zuo Pferdt zuo reisen seye“.359 Die Ürten wurden darauf an ihre Unterhaltpflichten erinnert, ferner dingte das Gericht einen Arbeiter, der täglich Äste und Stauden von der Landstrasse schaffen sollte. Mit der Landstrasse waren die höchsten ausserordentlichen Ausgaben verbunden, welche die Gemeinde aus dem Talsäckel zu berappen hatte. Um 1762 versetzte die Gemeinde den Verlauf der Landstrasse im Ghärst, indem sie die Strassenführung talabwärts verlegte. Waldstücke mussten gefällt, Land umgegraben und die Strasse berg- und talseitig gesichert werden. Das Gericht liess vorsichtshalber die alte Strasse offenhalten für den Fall, dass die neue Strasse unpassierbar würde. Die Kosten des Strassenbaus beliefen sich auf 306 Gulden. Da die Gemeinde zur selben Zeit die Forststrasse in die Alp Wand für 111 Gulden hatte bauen lassen, beliefen sich die Baukosten der Gemeinde auf weit über 400 Gulden. Die Einkünfte des Talsäckels reichten zur Deckung der Kosten bei weitem nicht aus, zumal die Gemeinde damals noch keine regelmässigen Steuern bezog. Die Ausgaben mussten deshalb mit ausserordentlichen Steuern bestritten werden.360 Der Unterhalt der Landstrasse war bisweilen ebenso kostspielig wie der Neubau gewisser Strecken. So stürzte 1769 ein Abschnitt der Landstrasse weg: Die Behebung des entstandenen Schadens kostete die Gemeinde über 110  Gulden. Kaum hatte der Säckelmeister seine Rechnung abgelegt, fiel die Landstrasse am folgenden Tag erneut weg und verursachte damit der Gemeinde weitere Kosten.361 Der Wald vermochte die Landstrasse vor Rüfenniedergängen aller Art am besten zu schützen. Das Gericht suchte die angrenzenden Waldstücke entsprechend zu schützen. Es schaltete sich 1755 umgehend ein, als ein privates Waldstück an der Landstrasse durch einen grösseren Holzschlag bedroht wurde. Das Gericht begrün358 Vgl. ETP 3.165. 359 Vgl. ETP 4.63 und 4.65. 360 Vgl. ETP 13.205–207. 361 Vgl. ETP 15.37.

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dete sein Eingreifen, „dieweihlen man wegen der landtstrass sondere gefahr findet, wan der [...] wald durchaus solte nidergehauen werden“ und beauftragte einen Ausschuss, vor Ort einen Augenschein zu nehmen, „damit nit etwan ein grosser schaden an der landtstrassen kömftighin beschechen möge“.362 Das Gericht duldete auch nicht, dass Wasserläufe zum Schaden der Landstrasse umgeleitet wurden. So musste sich Michel Plazi Müller, der Besitzer des Widerwäll, 1683 vor Gericht verantworten, weil er Wasser aus dem Schuemettlenbach in sein Gut leitete und dadurch die Landstrasse immer wieder überschwemmte. Das Gericht mahnte, dass der Wasserfluss „nit allein den Thalleüthen zuo grossen Schaden gereiche, sonder den Durchreysenden den Weg wegen daher erfolglichen Eyses glichsamb unpassierlich mache“.363 Das Gericht schritt auch dann ein, wenn Holzarbeiter beim Holzschlag die Landstrasse unpassierbar machten.364 So beklagte sich Abt Ignaz Betschart 1673 über Hans Christen, weil er die strass übell verderbt undt unsicher gemacht undt nitt alein meine [des Abtes] leütt, güeter undt vich undt ross gehindert, da alles mit holz verlegt war, dass man mit dem win undt früchten nit hat fortkommen können sunder auch solche in grosse gefar gesetzt worden wägen holz reistens, wie dan meine RR PP [ehrsame Patres] Prior und Subprior selbst, da sey nacher Lucern gereiset, dessewegen selbst in augenschinliche grosse gefar kommen.

Die Sicherheit der Strassen beschäftigte auch 1752 das Gericht. Damals verbot es, „schliten-, reiten- und schleiffen[strecken] anzulegen auf den kilch- old sonst brauchbahren strassen“.365 Die landwirtschaftliche Nutzung der Strassen wurde also beschränkt, wenn der Strasse oder den anderen Strassennutzern Schaden drohte. In ähnlichem Zusammenhang verbot das Gericht 1765 den Kindern, auf den Kirchwegen Spielkugeln zu werfen – „in ehrbarkeit köglen“ durften die Kinder jedoch weiterhin.366 Die übrigen Strassen und Wege im Hochtal mussten von den Anrainern selbst unterhalten werden. Das Mandat von 1691 bestimmte für sämtliche Strassen und Wege ausser der Landstrasse,367 dass sie

362 Vgl. ETP 14.32–33. 363 Vgl. ETP 4.173. 364 Vgl. ETP 3.195–196. 365 Vgl. ETP 11.71. »Reiten« meint hier: sich sitzend auf etwas fortbewegen. 366 Vgl. ETP 14.250–251. 367 Vgl. Schnell (1858: 84).

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von den inhabern der güetter in ihrem eigenen kosten, so weit ihre güeter langen, mit einanderen solle erhalten und guet stäg und weg geben werden, damit man so wohl mit karren und wägen fahren, als zue fues gehen möge und niemand mit billigkeit sich beklagen könne.

Im einzelnen Fall war jedoch die Zuständigkeit für den Strassenunterhalt nicht unumstritten. Streitigkeiten ergaben sich oft dann, wenn mehrere Haushalte die Unterhaltsarbeiten an ihrer Durchfahrtsstrasse gemeinsam teilen mussten.368 Da ferner die Allmend an verschiedene Strassen grenzte, sah sich die Gemeinde ebenfalls vor Unterhaltsforderungen gestellt. Dies war etwa 1765/66 der Fall, als die Anrainer des Horbiswegs die Gemeinde zum Unterhalt der Strasse aufforderten. Die Anrainer rechtfertigten ihre Forderungen damit, dass die Gemeinde wegen der naheliegenden Allmendgärten den Weg selbst beanspruchte. Ferner beschwerten sich die Kläger, dass sich die Gemeinde weder am Holzbedarf noch am Unterhalt der Wasserwehren gegen den Bärenbach (der an die Strasse stiess) beteiligte. Die Gemeindevertreter wiesen das Ansinnen der Anrainer zurück, „weilen sonsten andere dessen sich auch beschwähren könten und zu übler folg dinen wurde“.369 Das Gericht stellte sich hinter die Gemeinde und bekräftigte nochmals die Regelung von 1691. Abt und Gericht berieten häufiger über den Zustand des Dorfweges und der Kirchwege. Die Wege mussten wegen der Witterungseinflüsse regelmässig ausgefüllt und verbessert werden. Auch das Trockenlegen und Entwässern der Strassen gehörte zu den Pflichten der Anrainer. Diese hatten die Pflicht, mittels Wassergräben und –leitungen „das Wasser aus der Gassen abzuleithen und selbiges durch die Matten auszuführen“. Das Dachwasser der Häuser und Wirtschaftsbauten war so abzuleiten, dass es nicht auf die Strasse hinauskam. Das Kloster beteiligte sich – wie übrigens an allen Arbeiten auf der Allmend – auch beim Strassenunterhalt nach seinem Anteil. Die Verordnung von 1691 sah diesbezüglich vor, das Kloster solle bei allen Strassenarbeiten „nach erheuschender nothwendigkeit mit ochßen verhülflich sein und zue jedem ochßen ein knecht geben“. Besonders stark genutzte Kirchwege wie jener durch das Büel wurden mit Besetzsteinen (Pflastersteinen) ausgebaut.370 Regelmässig mussten Abt und Gericht auch Strassenanrainer zurechtweisen, die ihre Einfriedungen zu nahe an die Strassen bauten und den Marchenverlauf allzu eigenwillig deuteten. Entsprechend wurde die Zurücksetzung der Holzzäune, Steinmauern und »lebendigen Hage« (Hecken) angeordnet. In den Hecken liessen sich

368 Vgl. u.a. ETP 14.52–53 und 14.113. 369 Vgl. ETP 14.249–250, 14.265–266 und 14.272–273. 370 Vgl. ETP 7.667–668, 14.36–37, 14.74–75, 14.101, 14.147–148, 14.489–490 und 16.146, ferner Schnell (1858: 84).

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Durchgangslücken nur schwer erstellen, so dass auf den Fusswegen wohl manche Klettereien erforderlich waren.371 Die Reinlichkeit des Dorfweges und der Kirchwege beschäftigte das Gericht vermehrt ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Gericht mahnte die Talleute wiederholt, es „solle sich niemand erfrechen, noch unsauberkeiten noch stein auf die strassen“ zu legen. Das Anlegen von Miststöcken und Aborten in der Nähe einer Strasse wurde – zumindest von obrigkeitlicher Seite – als stossend empfunden. So beklagt ein Mandat von 1771, dass in dem dorf die s[alva] v[enia] bauwstöckh [mit Verlaub: die Miststöcke] und andere für fröndt und inheymsche geistlich und weltlich fürübergehendte sehr unanständige ding nechstens an die weeg und schir in die selbe gethann werden.

Mit »unanständigen Dingen« waren ziemlich sicher Aborte gemeint, die zur Strasse hin gebaut waren. So verlangte das Gericht bei solchen bestehenden Aborten „wegen ohnanständigkeit aller vorbeygehenden“ eine bauliche Verlegung. Bei Neubauten trug das Gericht dem betroffenen Bauherrn auf, „dass er der öffnung sothannen secrets [Abort] nit gegen und auf die öffentliche gass oder kilchweeg richte, weilen ein solches unanständig“ sei.372 Der Hinweis auf geistliche Strassennutzer erinnert daran, dass auf den Strassen und Wegen eine Vielzahl kirchlicher Anlässe und religiöser Verrichtungen (Prozessionen, Versehgänge usw.) stattfanden. Dass dabei das Allerheiligste vorbei oder sogar über Mist und Kot getragen werden musste, wurde zunehmend als unanständig empfunden. Die Brücken machten einen wesentlichen Bestandteil des Strassen- und Wegnetzes aus. Über die Aa führten eine Vielzahl von Brücken, so etwa in der Eien (Eienbrücke), in der oberen Erlen (Ulrichsbrücke), im Schiterbüel (Schiterbüelbrücke), in der Örtigen (Schwybogen), in der Obermatt (Arnibrücke) und im Unterberg.373 Über den Dürrbach führten mindestens drei Brücken, nämlich im Meiland (obere Dürrbrücke), im Ort (mittlere Dürrbrücke) und in der vordersten Eien (Schwybogen 371 Vgl. ETP 7.668, 14.186, 14.247–248 und 16.184. Zu den erwähnten Hecken siehe ferner den Bericht Ramond de Carbonnières’ in Dufner (1978: 7) sowie dazu Huwyler (1993: 62). 372 Vgl. ETP 14.74–75, 14.92, 14.464–467, 15.177 und 16.271–273. 373 Vgl. ETP 2b.655, 3.178, 3.242, 5.257–258, 6.336–337, 13.107–108, 17.275–276, 18.32–33 und 19.116. Die Brücken in Grafenort lassen sich anhand der Talprotokolle nicht genau verorten.

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bzw. untere Dürrbrücke).374 Auch über die kleineren Bäche wie etwa den Tätschbach, den Mühlibach, den Erlenbach und den Schuemettlenbach waren zahlreiche Brücken angelegt.375 Der Bau und vor allem der Unterhalt von Brücken erforderten einiges Holz und einen entsprechenden Arbeitsaufwand. Bezüglich der Dürrbrücken einigten sich Kloster und Gemeinde 1691 darauf, dass die Talleute das nötige Holz fällen und bis an den Waldrand führen sollten. Das Kloster übernahm von dort die Fuhr des Holzes bis zum Bestimmungsort.376 Für die mittlere Dürrbrücke bestand seit 1733 eine eigene Regelung:377 [Der] rechtmässige inhaber dis guts, Orth genant, soll für allzeit die bruggen deckhen, nemmlich holz zu läden [Latten] und fürlege darüber, die läden grächen [tragen] aber nit führen, auch nit saaglohn geben: das gottshaus werd sie führen und der bauwm[eiste]r den saaglohn geben, auch etwan helfen bruggen, wan es noth zu decken.

Auch die Brücke bei der Sägerei wurde von Kloster und Gemeinde gemeinsam unterhalten, „dieweillen die bruggen von beyden theillen als dem gotshaus und dem thal gebraucht wird, als solle selbe von beyden theillen im guetem stand erhalten werden“.378 Den Nidwaldnern verweigerte hingegen das Kloster 1720 eine Holzlieferung zugunsten der Arnibrücke. Das Kloster begründete seinen Entscheid damit, dass Kloster und Gemeinde die besagte Brücke kaum gebrauchten.379 Ähnlich verweigerten die Genossen der Eien 1674 eine Unterhaltspflicht der Tätschbachbrücke, da diese hauptsächlich von den Alpleuten der Herrenrüti, der Fürren und der beiden Firnalpeli genutzt wurde. Teurer und aufwendiger waren gewölbte Steinbrücken. Mindestens der Bau erforderte die Anstellung eines Fachmannes. Der älteste Schwybogen des Hochtals lag in der Örtigen. Die Brücke wurde nicht nur von den Talleuten genutzt, sondern auch von den Nidwaldner Alpgenossen auf ihrem Weg nach Trüebsee. Schon im 15. Jahrhundert stritten sich Kloster und Nidwaldner Alpgenossen, wer welchen Anteil der 374 Vgl. ETP 3.242, 11.417, 14.180–182, 14.248–249 (und dazu 14.271–272), 14.422, 16.254–256, 16.401 und 18.21–27. Wie die Einträge in ETP 14.180–182 und 18.21– 27 nahelegen, war eine dieser Brücken bis 1762 eine gewölbte Steinbrücke (Schwybogen). Die Ortsangabe des „schwibogens bey der Thür hinder St. Anna-Käppelin“ macht klar, dass die obere Dürrbrücke bis 1762 eine Steinbrücke war. 375 Vgl. etwa ETP 3.242, 4.190, 13.323 und 14.250. 376 Vgl. Schnell (1858: 84). 377 Vgl. ETP 16.401. 378 Vgl. ETP 11.410. 379 Vgl. ETP 5.257–258 und 6.336–337.

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Brücke zu bauen und zu unterhalten habe. Derselbe Streit wiederholte sich auch bei der Brückenerneuerung im 17. Jahrhundert.380 Als sich im 18. Jahrhundert der Waldbestand zu verknappen begann, war der Bau von Steinbrücken geeignet, den Holzverbrauch zu vermindern. Deshalb beschloss das Gericht 1778, der Talgemeinde den Antrag zu stellen, alle Brücken aus Stein zu bauen. Leider ist die Behandlung des Antrags in der Talgemeinde nicht erhalten.381 Das Überqueren der Brücken war besonders für das Vieh nicht ungefährlich. So beschwerte sich der Talsäumer Sepp Geni Waser 1780 vor Gericht, dass die Mühlibachbrücke im Büel schlecht gebaut, ohne hinreichende Geländer versehen und keine Türe besitze, die das Vieh am Durchgang hindere. Waser fürchtete, dass „sich ein pfert leicht lemen [lähmen] in dortig engen und tieffen Müllibach oder graben fallen und zu grund gehen könnte“. Das Gericht sprach sich dafür aus, an der besagten Stelle eine Zaunlücke mit einer Stufenleiter (Stapfeten) zu errichten: Die Lücke sollte im Winter ganz geöffnet werden, wenn draussen kein Vieh mehr weidete. Das Anbringen einer Gittertüre lehnte das Gericht hingegen ab, denn „den gatter wurden die buoben verreitten oder beständig offen lassen“.382

2.2 Aussenhandel und Lohnarbeit 2.2.1 Säumerei Die Talschaft Engelberg lebte im 17. und 18. Jahrhundert grösstenteils von ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Die Landwirtschaft des Hochtals war jedoch nur beschränkt darauf ausgerichtet, den Eigenbedarf von Kloster und Talleuten zu decken. Das Hausvieh gewährleistete die tägliche Versorgung mit Milch. Wer sich solches nicht leisten konnte, bezog die Milch vom Kloster. So berichtete Maurus Geni Feierabend im späten 18. Jahrhundert: „[Das] Kloster haltet 6–8 hauskühe auf benachbarter alp Gerschni, wodann alle tag zweimal die milch herunter gebracht u. was nicht im Kloster selbst gebraucht, an die thalleüthe selbst verkauft wird, à 4 s[chilling] pr[o] m[as]s“.383 Anken (Butter), Magerkäse und Suffi ergänzten zusammen mit dem angebauten Gemüse (insbesondere der Kartoffel) das weitere Nahrungsangebot. So beschrieb Feierabend den Speiseplan im Hochtal knapp: „Täglich 380 Vgl. ETP 2b.655 und 3.178 sowie Heer (1975: 147, 235–236). 381 Vgl. ETP 16.185–187. 382 Vgl. ETP 16.239–242. 383 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155.

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Brücke zu bauen und zu unterhalten habe. Derselbe Streit wiederholte sich auch bei der Brückenerneuerung im 17. Jahrhundert.380 Als sich im 18. Jahrhundert der Waldbestand zu verknappen begann, war der Bau von Steinbrücken geeignet, den Holzverbrauch zu vermindern. Deshalb beschloss das Gericht 1778, der Talgemeinde den Antrag zu stellen, alle Brücken aus Stein zu bauen. Leider ist die Behandlung des Antrags in der Talgemeinde nicht erhalten.381 Das Überqueren der Brücken war besonders für das Vieh nicht ungefährlich. So beschwerte sich der Talsäumer Sepp Geni Waser 1780 vor Gericht, dass die Mühlibachbrücke im Büel schlecht gebaut, ohne hinreichende Geländer versehen und keine Türe besitze, die das Vieh am Durchgang hindere. Waser fürchtete, dass „sich ein pfert leicht lemen [lähmen] in dortig engen und tieffen Müllibach oder graben fallen und zu grund gehen könnte“. Das Gericht sprach sich dafür aus, an der besagten Stelle eine Zaunlücke mit einer Stufenleiter (Stapfeten) zu errichten: Die Lücke sollte im Winter ganz geöffnet werden, wenn draussen kein Vieh mehr weidete. Das Anbringen einer Gittertüre lehnte das Gericht hingegen ab, denn „den gatter wurden die buoben verreitten oder beständig offen lassen“.382

2.2 Aussenhandel und Lohnarbeit 2.2.1 Säumerei Die Talschaft Engelberg lebte im 17. und 18. Jahrhundert grösstenteils von ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Die Landwirtschaft des Hochtals war jedoch nur beschränkt darauf ausgerichtet, den Eigenbedarf von Kloster und Talleuten zu decken. Das Hausvieh gewährleistete die tägliche Versorgung mit Milch. Wer sich solches nicht leisten konnte, bezog die Milch vom Kloster. So berichtete Maurus Geni Feierabend im späten 18. Jahrhundert: „[Das] Kloster haltet 6–8 hauskühe auf benachbarter alp Gerschni, wodann alle tag zweimal die milch herunter gebracht u. was nicht im Kloster selbst gebraucht, an die thalleüthe selbst verkauft wird, à 4 s[chilling] pr[o] m[as]s“.383 Anken (Butter), Magerkäse und Suffi ergänzten zusammen mit dem angebauten Gemüse (insbesondere der Kartoffel) das weitere Nahrungsangebot. So beschrieb Feierabend den Speiseplan im Hochtal knapp: „Täglich 380 Vgl. ETP 2b.655 und 3.178 sowie Heer (1975: 147, 235–236). 381 Vgl. ETP 16.185–187. 382 Vgl. ETP 16.239–242. 383 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155.

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3 mal Suffi u. käs. erdöpfel zu ziger gemacht, vom Rumpf ziger zu Pappen gekocht; fleisch unter brey von erdöpfel u. ziger oder labkäs dazu.“ Die wertvollsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse waren allerdings nicht für den Eigenbedarf gedacht, sondern für die Ausfuhr. Hartkäse, Anken und (Schlacht) vieh wurden grösstenteils ausserhalb des Tals verkauft. Die Ausfuhr dieser Erzeugnisse bildete die wichtigste Versorgungs- und Einkommensquelle der Talschaft. Dank der ausgeführten Waren flossen neben Bargeld verschiedene Tauschwaren zurück ins Tal, vornehmlich Grundnahrungsmittel wie Wein, Getreide und Reis, aber auch andere Bedarfsgüter. Die Ausfuhr von Hartkäse und Vieh bestimmte damals nicht nur das Wirtschaftsleben des Hochtals, sondern des Alpennordhangs überhaupt. Die nordalpinen Gebiete waren in jener Zeit stark auf die Belieferung auswärtiger Märkte ausgerichtet, was nicht nur den unternehmerischen Geist förderte, sondern auch zur Steigerung der Erträge und zur Verbesserung der Handelserzeugnisse führte. Der einträgliche Handel verbesserte die Lebensbedingungen der Bevölkerung, insofern die Ausfuhrwaren zunächst hergestellt werden mussten und damit zahlreiche Verdienstmöglichkeiten (insbesondere in der Käsewirtschaft) schufen. Allerdings ist anzufügen, dass die Handelserträge vornehmlich Händlern und bäuerlichen Unternehmern zugute kamen. Der nordalpine Wirtschaftsraum war in der Frühen Neuzeit allerdings nicht gleichförmig. Eine Scheide verlief in jener Zeit zwischen Luzern und dem Gotthardpass: Westlich dieser Grenze wurde ein gemischter Handel mit Käse und Vieh betrieben, östlich hingegen herrschte der ausschliessliche Viehhandel (mit einigen Ausnahmen) vor. Somit verlief durch die Innerschweiz eine unsichtbare Wirtschaftsgrenze: Während Unterwalden (einschliesslich der Herrschaft Engelberg) und die westwärts gelegenen Gebiete sowohl Hartkäse als auch Vieh ausführten, ging die Käseausfuhr in Schwyz und Uri spätestens im 18. Jahrhundert deutlich zurück.384 Der wichtigste Absatzmarkt der Waldstätten lag im Süden. Die norditalienischen Gebiete waren für die Waldstätten der Absatzmarkt schlechthin. Die Städtedichte Oberitaliens begünstigte die Nachfrage nach Vieh und Milcherzeugnissen. So fanden die meisten Ausfuhrwaren der Waldstätten den Weg ins »Welschland«, wie die Gebiete südlich der Alpen (der romanischen Sprache ihrer Einwohner wegen) kurz bezeichnet wurden. Der Vieh- und Käsehandel ins Welschland ist ab dem 15.  Jahrhundert gut belegt.385 Die Einführung der Hartkäserei in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eröffnete neue, ungeahnte Möglichkeiten. Hartkäse war länger haltbar und einfacher 384 Vgl. Dubois (1979: 25–26) und Hauser (1961: 141). Ferner auch Bircher (1979: 31). 385 Vgl. Roth (1993: 88–90) und Küchler (2003: 85–115).

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auszuführen als Frischkäse, was eine umfangreiche Ausfuhr ermöglichte. Eine erhöhte Nachfrage während des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) gab dem Käsehandel zusätzlich Auftrieb.386 Hartkäse war ein hochwertiges Erzeugnis, insofern jeder Käselaib bezüglich Herstellung, Pflege und Fuhr einen hohen Arbeits- und Kostenaufwand bedeutete. Die Hartkäserei ermöglichte dadurch eine hohe Wertschöpfung, die weit höher lag als z.B. jene der Viehzucht. Die Käsepreise waren hoch und der Käsehandel einträglich. Dies gilt insbesondere für das 18. Jahrhundert: Der Preis des Hartkäses stieg zu dieser Zeit nach übereinstimmenden Berichten um das Zwei- bis Dreifache an. Einen besonders starken Preisanstieg verursachte der Siebenjährige Krieg (1757–1763), aber auch in den 1790er Jahren waren die Preise stark erhöht. Diese Entwicklung begünstigte die Waldstätten in unterschiedlichem Ausmass: Während Unterwalden und die Herrschaft Engelberg dem Käsehandel eine eigentliche Blütezeit verdankten, konnten die Viehhändler in Schwyz und Uri kaum vom steigenden Käsepreis profitieren. Wenn man ferner berücksichtigt, dass sich die Gesamtausfuhr von Käse aus den Waldstätten von 1720 bis 1800 verdoppelte, wird die Produktionsund Gewinnsteigerung in den Erzeugungsgebieten erst wirklich deutlich. Die Viehausfuhr der Waldstätten verzeichnete zur selben Zeit keinen vergleichbaren Anstieg, was für die Herrschaft Engelberg allerdings nur beschränkt gilt.387 Der Viehhandel war grösseren Gefahren ausgesetzt als der Käsehandel. Die Viehfuhr in den Süden war aufwendig und nicht ungefährlich, Preisschwankungen konnten binnen kurzer Zeit den Viehhandel zum Verlustgeschäft machen. Ferner war die Viehzucht weit weniger arbeitsintensiv als die Käsewirtschaft, was die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in der Heimat entsprechend schmälerte. In der Innerschweiz beteiligten sich vorwiegend vermögende Händler und Bauern am Viehhandel, indem sie in der Innerschweiz Vieh aufkauften und dieses ins Welschland verkauften.388 Der Vieh- und Käsehandel ins Welschland brachte neben Bargeld vor allem Tauschwaren in die Waldstätten zurück. Grundnahrungsmittel wie Wein, Getreide und Reis fanden schon im 14. und 15. Jahrhundert den Weg über die Alpen. Die Getreidelieferungen aus dem Süden nahmen seit den Reformationskriegen an Bedeutung zu. Später blieben die Lieferungen besonders bei knappen Ernten und

386 Vgl. Gutzwiller (1923: 29) und Grass (1988: 160). 387 Vgl. Bircher (1979: 28, 31, 36), Hösli (1948: 186), Baumann (1954: 168–169, 173), Bucher (1974: 203), Lemmenmeier (1983: 202) und Roth (1993: 233). 388 Vgl. Hösli (1948: 42–43), Heer (1975: 316, 318), Dubois (1979: 32) und Odermatt (1981: 173).

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Teuerungen im Norden bedeutsam: So wurden allein im Zolljahr 1769/1770 über 20‘000 Zentner Getreide von Italien über den Gotthardpass geführt.389 Allgemein bleibt festzuhalten, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Waldstätten und Oberitalien seit dem Spätmittelalter deutlich zunahm. Mit der Reformation verstärkte sich die Bindung der Innerschweiz an den Süden auch in kultureller Hinsicht. Die südlichen Alpentäler und norditalienischen Ebenen waren den Innerschweizern in mancher Hinsicht vertrauter als das schweizerische Mittelland. Die Innerschweiz führte einen Teil ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse auch ins Mittelland aus. Das Handelstor nach Norden war für die Waldstätten zweifellos der Luzerner Markt. Eine wichtige Rolle fiel dem Luzerner Viehmarkt zu, wo ein reger Zwischenhandel betrieben wurde.390 Für das Unterwaldner Gebiet war der Luzerner Ankenmarkt noch bedeutsamer. Über diesen Markt setzte Unterwalden, das seit alters ein »Ankenland par excellence« war, grosse Mengen an Anken ab.391 Der Luzerner Vieh- und Ankenmärkte waren auch für die Herrschaft Engelberg von einiger Bedeutung. Diese grobe Einbettung des Hochtals in das weitere Wirtschaftsgeschehen muss hier genügen. Der gegebene Rahmen wird zumindest das Verständnis der folgenden Ausführungen erleichtern. Zunächst sollen Engelbergs Wirtschaftsbeziehungen zum Welschland dargestellt werden. Hierbei wird (a)  auf die Ausfuhrwaren von Käse und Vieh einzugehen sein. Untrennbar damit verbunden ist die Frage nach der Organisation des Säumerwesens, wobei hier zwischen Gross- und Kleinsäumerei zu unterscheiden ist. Anschliessend wird (b) die Frage nach Umfang und Bedeutung des Welschlandhandels geklärt. Weiter lässt sich zwischen näherem und fernerem Ausfuhrhandel unterscheiden. Im Rahmen des näheren Ausfuhrhandels wird (c) besonders der Ankenhandel nach Luzern besprochen. Allgemein war das Fuhrwesen nach Nidwalden und Luzern durch die Gemeinde selbst organisiert: Die sogenannte Talsäumerei wickelte die Warenfuhr durch das Engelberger Tal über die Seehäfen von Stansstad und Buochs bzw. Beckenried bis zur Stadt Luzern ab. Entsprechend schliesst dieser Abschnitt (d) mit der Darstellung der Talsäumerei und der mit ihr verbundenen Einrichtungen.

389 Vgl. Baumann (1954: 163–165, 171 Anm. 548), Röllin (1969: 92–93, 164) und Küchler (2003: 117–145). 390 Vgl. Marty (1951: 28–31). 391 Vgl. Gutzwiller (1923: 31, 147–171).

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a) Ausfuhrwaren und Säumerwesen Der älteste Beleg eines innerschweizerischen Hartkäses stammt von Engelberg selbst: So sind schon 1549 zweijährige Käse aus dem Hochtal nachgewiesen.392 Das Kloster scheint die Einführung der Hartkäserei massgeblich gefördert zu haben. Der Übergang zur Hartkäserei erfolgte allerdings nur allmählich. So rühmte Konrad Gessner 1555 den Engelberger Käse zwar als den besten auf dem Luzerner Markt, beschrieb ihn aber zugleich noch als fetten, weichen Sauermilchkäse.393 Die Herrschaft Engelberg betrieb – wohl vom späten 16. Jahrhundert an – eine ausgesprochen erfolgreiche Hartkäserei. So zählte 1680 Johann Jakob Wagner den Engelberger Hartkäse ausdrücklich zu den besten Hartkäsesorten des Alpenraums. Auch im späten 18. Jahrhundert bestätigten mehrere Reisende wie Gottlob Christian Storr, Christian Gottlieb Schmidt und Christoph Meiners die herausragende Qualität des Engelberger Hartkäses.394 Etwa zur selben Zeit rühmte auch Maurus Geni Feierabend den Käse seiner Heimat: „Die hiesige käsart [ist] die allersauberste, wollen nur immer anrathen, auch [so] zu käsen in nun ferner Land.“395 Die Qualität der Ausfuhrware wurde im Hochtal durch einen eigens dafür bestimmten Käsachter überwacht. Für das 18. Jahrhundert sind einige Käsachter namentlich bekannt, nämlich Sepp Anton Häcki (1698–1780), Hans Franz Berchtold Kuster (1717–1762), Ignaz Anton Amrhein (1729–1796) und Sepp Adelhelm Feierabend (1732–1799). Der Käsachter nahm im Auftrag des Klosters von den Talleuten Käse und Anken entgegen, wog die Ware ab und bezahlte sie dem Anbietenden. Der Käsachter führte zusammen mit dem Grosskellner eine genaue Buchhaltung über die angenommene Ware.396 Die Warenannahme war sehr wahrscheinlich mit einer Qualitätsprüfung verbunden. So erklärte Abt Emanuel Crivelli 1734 der Nidwaldner Regierung, dass die Ausfuhr unreifen Käses ins Welschland „dem gantzen landt praeiudicierlich“ sei. Der Abt erliess ein entsprechendes Ausfuhrverbot, bemerkenswerterweise auch für jene, die ihren Käse „auf eigene Gefahr“ ins Welschland führen wollten. Der Abt versicherte die Nidwaldner, dass er die Käse „bis zu deren gebührenten trocknung nacher Italien nit verschickhen lassen“ wolle. Die

392 Vgl. Odermatt (1981: 182–183), dann auch Grass (1988: 165), Huwyler (1993: 465– 466) und Roth (1993: 13). 393 Vgl. Roth (1993: 52, 54). 394 Vgl. Storr (1784: XXX), Schmidt (1985: 87) und das Zitat Christoph Meiners in Roth (1993: 21). 395 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155. 396 Vgl. ETP 9.64–67, ferner 9.295–298, 11.594–595, 14.14–16, 16.198a-199a und 18.21–27.

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Massnahme zielte offensichtlich darauf ab, die Qualität und damit den Ruf der einheimischen Erzeugnisse zu sichern.397 Das Kloster liess seine Mulchen mit einem eigenen, sternenförmigen Markenzeichen versehen. Käse mit der klösterlichen Stella war in Italien eine gefragte Ware. Man kann vermuten, dass auch die Talleute oder mindestens die wichtigeren Käsehersteller ihre Mulchen kennzeichneten. Frachtbriefe aus dem frühen 19. Jahrhundert belegen, dass die ausgeführten Spalen (Käsefässer) genau nummeriert und mit den Angaben der jeweiligen Hersteller versehen wurden.398 Das Fuhrwesen ins Welschland wurde zunehmend zentral organisiert. Wie die Tätigkeit des Käsachters nahelegt, kaufte das Kloster die Käse der Talleute auf und besorgte deren Fuhr ins Welschland. Im klösterlichen Wirtschaftsgebäude waren grosse Käsespeicher zur Zwischenlagerung und Reifung des Käses eingerichtet. Der Anblick dieser Käsespeicher versetzte 1780 den Zürcher Reisenden Johann Rudolf Maurer in einiges Staunen. Gleich den „Bücherschränken einer grossen Bibliothek“ waren hier an die 10‘000  Käselaibe zu 25  Pfund Gewicht aneinandergereiht, die täglich besichtigt und besorgt werden mussten. Maurer stellte beeindruckt fest, der Anblick der Käsespeicher gebe „einen grösseren Begriff von der Handelschaft der Gebürgsbewohner, als man sich gewöhnlich dieselbe vorstelle“.399 Die zentrale Fuhrorganisation hatte wichtige Vorteile. Zunächst liess sich so das Zollprivileg besser durchsetzen, das der Herrschaft Engelberg als Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft zukam. So bemühte sich Abt Ignaz Betschart 1675 um eine Bestätigung der klösterlichen Zollprivilegien auf der Gotthardstrecke, die an der Tagsatzung von Brunnen im selben Jahr bestätigt wurden. Abt Joachim Albini bat am 22. August 1710 die Urner Regierung, die Engelberger Saumzüge auch von der sogenannten Fürleite zu befreien, die von den Urnern für die Nutzung der Gotthardstrecke eigens erhoben wurde. Der Abt erklärte ferner, dass er „erst von 3 Jahren hehr disen Handel [ins Welschland] selbsten“ betreiben lasse. Diese Bemerkung weist darauf hin, dass die zentrale Fuhr durch das Kloster vor dem 18. Jahrhundert nicht regelmässig bestand. Weiter führte der Abt bezüglich des Zolls aus, er habe sich dessen zwahr, so vill die Engelbergerkäs anbetrifft, erwehret, von den jenigen Käsen aber, so ich ausser dem Thal und von Frömbden erkauft, nie khein Gedanckhen gehabt, frey zu seyn, massen darvon die Gebühr bezahlen lassen.

397 Vgl. ETP 10.168. 398 Vgl. Roth (1993: 7–8, 191–192). 399 Zitiert nach Dufner (1978: 37).

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Daraus ergibt sich zum einen, dass nicht nur der Klosterkäse, sondern auch jener der Talleute vom Zoll befreit war. Zum anderen wird klar, dass das Kloster auch ausserhalb des Tals Käse aufkaufte und als Zwischenhändler in den Süden verkaufte. Zu dieser Zeit wurde Käse selbst aus Meiringen nach Engelberg geführt, um von hier aus nach Süden gesäumt zu werden. Der Abt zeigte sich der Urner Regierung gegenüber etwas verlegen wegen seiner wachsenden Handelschaft und versicherte, dass ihm diese eigentlich leid sei und er sie auch nicht begonnen hätte, wenn er von seinen Handelspartnern „nit schier darzu währe gezwungen worden“.400 Eine bald darauf durchgeführte Tagsatzung der Waldstätten in Treib brachte allerdings keine Klärung. Bereits am 25. September 1710 wandte sich der Abt erneut an die Urner Regierung und erläuterte nochmals seine Handelsgeschäfte. Der Abt erklärte, dass er neuerdings seine Ausfuhrwaren durch seinen Schaffner Christian Cattani bis nach Bellenz (Bellinzona) und Lauwis (Lugano) führen lasse, wo ein Geschäftsmann namens Pianta sie für den weiteren Handel übernehme. Zuvor seien die Käse Geschäftsleuten aus dem Urserental verkauft worden, die als Urner Landleute ohnehin vom Zoll befreit waren.401 Die Engelberger Zollprivilegien waren auch an der Tagsatzung vom 11. August 1722 ein Gesprächsthema. Offenbar beschwerten sich gewisse Orte über Unregelmässigkeiten an den Zollstellen von Bellenz und Magadino am Langensee (Lago Maggiore). Die ungünstige Lage liess sich erst 1724 beruhigen, als sich Abt Joachim Albini die Unterstützung Berns, Solothurns und Freiburgs sichern konnte.402 Auch Abt Emanuel Crivelli musste sich in den 1730er Jahren wiederholt mit Zollfragen beschäftigen. So hatte 1731 der bereits erwähnte Schaffner Christian Cattani Käse und Vieh nach Lauwis und Italien bringen wollen. Jedoch musste Cattani die Ware in Platifer (Piottino) gegen die bisherige Übung verzollen. Der Abt forderte darauf die Urner Regierung in hartem Ton auf, „sowohl für dismahl als in zukunft von dergleichen uns und unseren thall leüthen höchst nachtheilligen beginnen zu disistieren [abzulassen]“. Die Unstimmigkeit an der Zollstelle ging darauf zurück, dass Cattani das Engelberger Talrecht erst kürzlich erworben hatte. Die Urner fürchteten offenbar einen Missbrauch des Engelberger Zollprivilegs. Der Abt suchte ein Jahr später seinen Onkel und Urner Landammann Jost Anton Schmid in dieser Angelegenheit zu beruhigen. Beschwichtigend und bewusst tiefstapelnd 400 Vgl. ETP 5.283–285, ferner Heer (1975: 231, 266–267) und die Richtigstellung bei Roth (1993: 190 Anm. 31). 401 Vgl. ETP 5.303–305. 402 Vgl. ETP 8.19–20, 8.64–65 und 8.91. Welche Orte sich über die Engelberger Handelsgeschäfte beschwerten, lässt sich aus den genannten Quellen nicht erhellen. Zwischen Nidwalden und der Herrschaft Engelberg war es wegen Zollfragen knapp ein Jahrzehnt zuvor zu Unstimmigkeiten gekommen, vgl. Heer (1975: 268).

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erklärte der Abt, „dass wegen entlegenheit und wilde des ohrts [Engelberg] sich keiner umb das thallrecht starckh bewerben werde, der im standt ist, grosse traffica zu treiben“. Der Abt wurde diesbezüglich von seinem Bruder und Urner Landammann Sebastian Heinrich Crivelli noch 1736 gewarnt, dass die Urner nicht so sehr wegen des Klosterhandels Umstände machten als „wegen den thalleüthen, und sonderlich die nicht eingebohrne[n]“. Offenbar war für die Urner nicht nur Cattani ein rotes Tuch, sondern auch andere Händler aus Engelberg. Abt Emanuel Crivelli wandte sich 1735 erneut wegen eines erhobenen Zolls in Flüelen an seinen Onkel und Landammann Jost Anton Schmid. Die Marktpreise im Welschland waren in diesem Jahr so tief gefallen, dass Engelberger Viehhändler ihre Ware zurück über den Gotthard getrieben hatten. In Flüelen wurde von ihnen aber erneut eine Zollsteuer verlangt, obwohl sie diese bei der Hinreise bereits entrichtet hatten. Der Abt berief sich in seiner Beschwerde auf eine alte Gewohnheit, dass zurückgetriebenes Vieh nicht verzollt werden müsse. Das geschilderte Viehgeschäft macht übrigens verständlich, weshalb sich der Aussenhandel des Klosters im 18. Jahrhundert mehr und mehr auf den stabileren Käsemarkt ausrichtete.403 Abt Emanuel Crivelli musste Engelbergs Zollprivilegien auch in Nidwalden verteidigen. Der Abt beschwerte sich 1732 bei der Nidwaldner Regierung über eine neulich eingeführte Zollschuld Engelbergs und erklärte sich bereit, die Sache vor die Nidwaldner Landsgemeinde zu bringen. Immerhin konnte der Abt 1734 erwirken, dass die Zollsteuer auf die Handelswaren des Hochtals beschränkt und nicht auch auf die Bedarfsgüter ausgeweitet wurde. Die Engelberger Talleute erbosten sich heftig über die Forderungen der Nidwaldner. Als an der Genossengemeinde vom 21. Dezember 1736 Nidwaldner Landleute um erleichtertes Zugrecht auf den Engelberger Alpen baten, brach der angestaute Unmut der Talleute aus: Hierum ist eine umfrag [...] bey den gemeinen thalleüthen gehalten, von solchen einheilig wahrhaft und scharf wieder solchen verglich geschrauen worden, die Unterwaldner [Nidwaldner] ordnen, versprechen etc. viel, aber halten nichts, seye nicht zuo trauwen; haben uns mehrmal verführt, und zwar in letsten jahren, da sie uns allen [...] die alte gebrauchte zohlsfreyheit bestättet, hernach aber emergente lite Jochensi sub rmo. Mauro [bei Ausbruch des Jochstreits unter Abt Maurus Rinderli] den zohl nit nur begehrt, sondern auch solchen von den verflossnen jahren ab anno 1735 geforderet haben.

403 Vgl. ETP 10.152, 10.163–164 und 12.6–8, 12.10–11 und 12.19–20. Siehe auch Heer (1975: 316, 318).

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Der Unmut der Talleute macht deutlich, wie sehr eine Besteuerung des Aussenhandels – die Bedarfsgüter blieben ja weiterhin zollfrei – die ganze Bevölkerung des Hochtals empfindlich traf.404 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Käsehandel kräftig vorangetrieben. Die (übers Ganze gesehen) stetig steigenden Marktpreise machten den Handel zusätzlich attraktiv. Bei Amtsantritt Abt Leodegar Salzmanns kaufte das Kloster 1769 bereits für über 23‘400 Gulden Käse bei Talleuten und Fremden auf. Der Umfang des klösterlichen Käsehandels stieg in den folgenden Jahrzehnten noch weiter an, wie bereits dargestellt wurde. In der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts brachten die Klostersäumer die Handelswaren bis ins Urserental, wo sie von heimischen Geschäftsleuten übernommen wurden. Der Käsehandel erfolgte im 18.  Jahrhundert auf verschiedenen Wegen. Kurzfristige Handelsgeschäfte kamen ebenso vor wie generationenübergreifende Partnerschaften. Die Geschäftspartner des Klosters kamen bald vom Urserental, bald auch jenseits des Gotthards von Bellenz, Lauwis oder vom italienischen Canobbio.405 Der Handel nach Süden verlangte grosse Anpassungsfähigkeit und entsprechende Nachrichtennetze. Die Preise entwickelten sich rasch und erforderten allfällige Massnahmen. So berichtete Grosskellner Joachim von Deschwanden am 2. Dezember 1772 seinem Brieffreund Johann Rudolf Schinz in Zürich:406 So werth die käs im sommer waren, so unwerth scheinen selbe anietzo, und wo der zentner käs um 18 gl. dargeboten worden, kann man ietzt für 14 haben. Der butter ist in einem ertraglichen preis, das Vich aber stehet noch immer hoch, und kan es wohl seyn, dass ihre Metzger [in Zürich] solches nicht so heüfig bekommen kennen [können]; hier haltet man darfür, das Vich so wohl als andern victualia werde im preis fallen. Unsere erd apfel Ernt ware so heüffig, dass wir unsere wein, nussen, apfel usw. in Mondslanden [?] verschickt und alda verkauffen lassen.

Offenbar hatte die Nachfrage die Käsepreise gedrückt, die Viehpreise hingegen in die Höhe schnellen lassen. Der Grosskellner schaute der Marktentwicklung jedoch gelassen entgegen: Die Ankenpreise waren befriedigend und die Kartoffelernte (vermutlich jene der Klostergüter im aargauischen Sins) hervorragend. Manche überschüssigen Waren liessen sich in der Fremde absetzen. Die kurzfristige Preislage bei Vieh und Käse beunruhigte den Grosskellner nicht, da er baldige Preisänderungen voraussah. Da Saumwaren die südlichen Märkte nur verzögert erreichten, war eine solche Voraussicht unerlässlich für den geschäftlichen Erfolg. 404 Vgl. ETP 10.156–157, 10b.9 und 12.63–70. 405 Vgl. Heer (1975: 268, 299–300, 318, 337–338, 382) und Heer (1985: 58) 406 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 163.7, Brief vom 02.12.1772.

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Nach dem Käse war das (Schlacht)vieh die wichtigste Ausfuhrware, die vom Hochtal nach Süden geführt wurde. Eine ganze Reihe von Talleuten arbeiteten als Schaffner des Klosters: Sie besorgten nicht nur den klösterlichen Käsehandel, sondern auch dessen Viehhandel. Namentlich bekannt sind Hans Matter (1566– 1645), Christian Cattani (1669–1744), Niklaus Geni Amstutz (1678–1748), Hans Niklaus Amrhein (1688–1762), Hans Melcher Cattani (1715–1775), Melcher Sepp Matter (1722–1799), Sepp Anton Amstutz (1725–1782), Jakob Geni Hess (1743–1812) und Jakob Maurus Cattani (1760–1829).407 Sowohl bei den Cattani als auch bei den Amstutz ist auffällig, dass sich das Schaffneramt vom Vater auf den Sohn und sogar auf den Enkel übertrug. Unter den neun Genannten befinden sich übrigens zwei Ammänner und vier Gerichtsherren: Es waren also einflussreiche bzw. vermögende Talbauern, die sich um den klösterlichen Welschlandhandel kümmerten. Das Kloster führte mit Hilfe seines Schaffners nicht nur eigenes Vieh auf die südlichen Märkte, sondern kaufte zu diesem Zweck – ähnlich wie beim Käse – auch Vieh der Talleute auf. Die ausgeführten Herden erreichten bisweilen eine Grösse von 80 bis 100 Stück Vieh. Die konzentrierte Viehfuhr hatte für die ganze Talschaft Vorteile, denn der Aufwand für eine solche Fuhr war gross: Knechte mussten bestellt, verpflegt und entlöhnt werden, Futter bzw. Weideplätze an den Raststätten besorgt, das strapazierte Vieh gepflegt, Zollstellen passiert, Bescheinigungen aller Art vorgewiesen, der Verkehr mit Amtsstellen abgewickelt, Rechnungen geführt, Wirte bezahlt, Gebirgspässe überquert, Wetterumschwünge vorausgesehen, Viehdiebe abgewehrt, Seuchengebiete umgangen, Quarantänen erduldet, Veränderungen der Marktlage erkannt, Konkurrenten ausgetrickst, deren Fallen umgangen, Preisverhandlungen (teils in italienischer Sprache) geführt, Märkte bis nach Mailand aufgesucht, Währungen umgerechnet, Geschäftsbeziehungen gepflegt und allenfalls der Handel rechtzeitig abgebrochen werden. Satte Gewinne winkten ebenso wie grosse Verluste. Ein finanzieller Spielraum war sicher wünschenswert, um allfällige Rückschläge aufzufangen.408 Gewiss waren die kleineren Viehbesitzer heilfroh, wenn sie den Verkauf ihres Viehs dem Schaffner überlassen konnten. 407 Die jeweiligen Erstbelege in ETP 2a.10, 12.10–11, 12.337–338, 16.420–422, 17.238– 240, 20.134 und 20.139. Da der letztgenannte Schaffner in ETP nur als Maurus Cattani bezeichnet wird, kommen sowohl Jakob Maurus Cattani (1760–1829) wie auch Sepp Maurus Cattani (1759–1811) in Frage. Für den ersten spricht, dass sowohl sein Vater Hans Melcher als auch sein Grossvater Christian als Schaffner arbeiteten. Hans Niklaus Amrhein wird zwar in ETP nicht ausdrücklich als Schaffner bezeichnet, war aber doch stark am Welschlandhandel beteiligt, vgl. Heer (1975: 299). 408 Vgl. zu Engelberg Hess (1938: 86), Hess (1950: 181–182), Heer (1975: 266, 299, 318, 335–336) und Heer (1985: 58). Allgemein die massgebliche Arbeit von Marty (1951) und der Bericht von Bürgi (1975).

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Ab den 1760er Jahren zog sich das Kloster vom Viehhandel zurück und beschränkte sich weitgehend auf den Käsehandel.409 Deshalb blieb das Vieh der Talleute aber noch lange nicht im Stall. Die handelsgeübten Schaffner begannen nun auf eigene Rechnung, das Vieh im grossen Massstab ins Welschland zu führen. Ihre Handelserfahrung und ihr Beziehungsnetz machten sie sich nun selbst zunutze.410 Der Viehhandel war einträglich, denn die Preise stiegen seit der Viehseuche von 1735 stetig an. Eine Milchkuh kostete in den 1760er Jahren bereits über 70 Gulden. Bis in die 1790er Jahre verdoppelte sich dieser Wert.411 Das Handelsvolumen blieb auch nach dem Rückzug des Klosters erheblich. So zog Hans Melcher Cattani 1768 mit 88 Rindviehhäuptern und 3 Pferden nach Lauwis. Elf Personen mussten den Viehzug begleiten. Die Handelszüge ins Welschland gingen von da an wohl jährlich vonstatten. Als sich Hans Melcher Cattani altershalber vom Handel zurückzog, übernahmen sein Bruder Plazi Frowin und sein Sohn Ignaz Wolfgang die Geschäfte: Auch sie führten – so z.B. 1780 – grosse Herden von knapp 100  Viehhäuptern auf die südlichen Märkte. Den Empfehlungsschreiben der herrschaftlichen Kanzlei kann man entnehmen, dass der Viehhandel bis nach Mailand betrieben wurde. So zog Plazi Frowin Cattani 1791 nach Mailand, weil „er in Italien, besonders dem Mayländeschen, von wegen s[alva] v[enia] veich verkauf, etwelch nammhafte schuldforderung habe und von darumben dahin zu reisen benötiget“ sei.412 Wer in diesem Massstab Viehhandel betreiben wollte, musste also auch über ausreichend Kapital verfügen, um den Fürkauf in der Heimat, die Handels- und Reisespesen sowie die Zahlungsverzögerungen auffangen zu können. Es erstaunt nicht, wenn das Vermögen des 1775 verstorbenen Hans Melcher Cattani (nach Abzug aller Schulden) noch über 7300 Gulden betrug.413 Neben der konzentrierten, vom Kloster bzw. weltlichen Händlern geführten Säumerei bestand seit alters auch eine feingliedrigere Einzel- und Auftragssäumerei: So säumten einzelne Talleute eigene Waren oder Auftragsgut selbständig nach Süden. Zwischen dem Hochtal und den südlichen Märkten war ein feingeädertes Netz privater Handelsbeziehungen aufgebaut. Das Kloster beanspruchte zwar das ausschliessliche Gewerberecht im Hochtal, nie aber das ausschliessliche Fuhrrecht.414 409 Vgl. Heer (1975: 318, 335–336). 410 So tätigte etwa Schaffner Hans Niklaus Amrhein bereits 1746 private Viehkäufe bis nach Schwyz, vgl. etwa ETP 12.289. 411 Vgl. Marty (1951: 77–78). 412 Vgl. ETP 18.374. 413 Vgl. ETP 17.60–70. Zum Viehhandel ab den 1760er Jahren vgl. ETP 13.440, 15.120– 121, 15.129–130, 15.186, 17.42, 17.186–187, 17.285–286, 18.45–46, 18.174–175, 18.284 und 18.374, vgl. auch Marty (1951: 84). 414 Diese Unterscheidung ist bei Küchler (2003: 203–205) zu stark verwischt.

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Schon im frühen 17. Jahrhundert fergten Talleute Waren ins Livinental (Leventina) nach Eriels (Airolo), Pfeid (Faido), Platifer (Piottino), Bellenz (Bellinzona), Magadino am Langensee (Lago Maggiore), Luggaris (Locarno), von dort über den Munt Chänel (Monte Ceneri) nach Lauwis (Lugano), Liffenen (Livigno) oder selbst Mailand. Die Handelsbeziehungen reichten auch ins Pomatt (Val Formazza) und ins Eschental (Val d’Ossola). Diese Handelsgeschäfte wurden in der zeitgenössischen Überlieferung mit grosser Selbstverständlichkeit und oft nur beiläufig erwähnt: Ihnen haftete der Charakter des Alltäglichen, nicht des Ausserordentlichen an.415 Saumzüge wurden öfters in Gemeinschaft mit anderen Talleuten unternommen. So erklärte Balzer Dillier 1617 vor Gericht, er habe zusammen mit Melcher Zniderist verschiedenste Waren nach Bellenz zum Verkauf geführt. Dillier ergänzte, er habe Zniderist „alles vertruwet und gemein mit i[h]m ghabt, mit der Condition, allen Gwin, Verlust mit i[h]m zuo theillen“. Der gemeinsame Saumzug war jedoch gescheitert und hatte den Geschäftspartnern einen Verlust von 5000 Gulden (!) eingetragen. Zniderist verweigerte Dillier allerdings seine Hilfe, weil sein Geschäftspartner angeblich „die Rächnung Büecher o[h]n sin Wissen und Willen hinderrucks vom Hus [ge]tragen“ hatte. Ein geringerer Schaden war zwei Jahre zuvor schon Melcher Matter widerfahren. Dieser hatte ein Pferd besessen und den eben erwähnten Balzer Dillier gebeten, „das[s] ers i[h]me wolle gehn Bellenz nemmen unnd allda verkhaufen“. Allerdings wartete Matter (nach eigenen Angaben) zwei Jahre später noch immer auf den Verkaufserlös. Uneinigkeit entstand 1673 auch zwischen Franz Wirz und Melcher Amrhein wegen eines Saumgeschäfts. Wirz und Amrhein hatten gemeinsam Vieh ins Welschland verkauft und dafür eine Handschrift erhalten. Amrhein schickte jedoch nach seiner Rückkehr seinen Sohn erneut mit Vieh ins Welschland, wo dieser die besagte Handschrift zum Schaden Wirz’ auslöste.416 Gerichtsfälle sind leider die einzigen Zeugnisse, die über das private Säumerwesen Auskunft geben. So können die Berichte über umstrittene oder gescheiterte Handelsgeschäfte nur erahnen lassen, wie häufig kleinere Saumzüge ins Welschland unternommen wurden. Der häufige Besuch der südlichen Märkte bewegte manche Talleute, sich (zeitweilig oder dauerhaft) im Süden niederzulassen. So muss sich Balzer Töngi vor 1619 in Bellenz niedergelassen haben: Von dort aus betrieb er Geschäfte mit daheimgebliebenen Talleuten. Zur selben Zeit scheint sich auch Valentin Matter jenseits der Alpen (vermutlich in Mailand) niedergelassen zu haben. In der schriftlichen Über415 Vgl. u.a. ETP 1.238–239, 1.315–317, 1.319, 1.376–3.381, 1.421, 2a.83, 2b.24–25, 2b.377–381 und 3.149. Georg Dufner hat die Ortsnennungen in den ETP gründlich indexiert. 416 Vgl. ETP 1.238–239, 1.376–381 und 3.201.

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lieferung erscheint sein Name bereits in romanisierter Form, was auf einen längeren Aufenthalt Matters im Welschland hinweisen könnte.417 Die Zwischenhändler übernahmen den Verkauf der Waren, so dass sich die Säumer nur noch um die Fuhr zu kümmern brauchten. Dabei waren Umschlagplätze wie die Grimselpasshöhe innert zweier Tage vom Hochtal aus leicht zu erreichen. Die zentrale Fuhr ins Welschland erfolgte hauptsächlich über die Häfen von Buochs und Beckenried. Von dort wurde die Ware auf Fähren und Nauen nach Flüelen und anschliessend über den Gotthardpass gefergt. Kleinere Saumzüge erfolgten wohl häufiger auf dem Landweg über den Jochpass ins bernische Hasli und anschliessend über Grimsel- und Griespass ins Eschental (Val d’Ossola).418 Grosskellner Joachim von Deschwanden stellte 1773 diesbezüglich fest, „der weg von hier über die alp trüppisee ins berner gebieth ist gar brauchbar, und wohl besser als der so über die Eggen [Surenenegg] ins Urnerland führet“.419 In der Regel erfolgte die Fuhr in Strack- und nicht in Rodfuhr, d.h. die Saumwaren wurden über weite Strecken vom selben Saumzug an den Zielort geführt. Die Strackfuhr begünstigte wohl auch die Gewohnheit, das Fuhrwesen erfahrenen Säumern zu überlassen.420 Wer säumen wollte, musste Saumtiere und eine entsprechende Ausrüstung besitzen. Wetterfeste und ausdauernde Lasttiere (v.a. Pferde und Maultiere) mussten gekauft bzw. gemietet, beschlagen, mit Geschirr versehen, gepflegt und mit Futter versorgt werden. Die Fuhr auf den stark genutzten und zugleich gefährlichen Passwegen erforderte von Mensch und Tier erhebliches Geschick und Durchhaltevermögen.421 Weiter erheischte ein Saumzug verschiedene Gerätschaften wie Bränten (Traggefässe), Meissen (Traggestelle), Lägel (Weinfässer), Säcke, Seile usw.422 Saumzüge wurden oft geübten Säumern gegen Lohn in Auftrag gegeben. Ein Säumer konnte sich 1623 mit einer Reise nach Bellenz gut zehn Gulden Lohn verdienen. Grössere Saumzüge bedurften der Mithilfe mehrerer Säumerknechte. Die Säumerknechte trugen die Verantwortung über erhebliche Warenwerte. Entsprechend duldeten die Auftraggeber keine Nachlässigkeit ihrerseits. Allerdings waren

417 Vgl. ETP 1.315–317, 1.319 und 1.422. Im letztgenannten Eintrag wird Valentin Matter, der sich in Mailand niedergelassen hat, ausdrücklich als Valentino (!) Matter bezeichnet. 418 Zur Route über den Gotthard vgl. für den Käsehandel Roth (1993: 114–133) und für den Viehhandel Marty (1951: 56–60). Zur Passroute vgl. auch Küchler (2003: 29–53). 419 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 163.7, Brief vom 31.05.1772. 420 Vgl. Roth (1993: 180–181). 421 Vgl. Roth (1993: 119–127, 139–144, 171–181). 422 Vgl. ETP 1.211–212. Zur Miete von Saumpferden vgl. ETP 1.339–340.

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gewisse Warenverluste bei der Säumerei kaum zu vermeiden. So berichtete Wolfgang Christen 1642,423 dass ehr ferdrigens [letztes] jahrs mit den säumeren gefaren und zuo Luggaris [Locarno] die ross geladen und seien i[h]nen 2 ross an einandten geloffen und habe eins dem anderen an einem lagel die haubtreif abgestossen, so dass inen nit zuo nutz von dem wein worden seie [..., doch] seie inen kein heller noch pfenig geforderet worden. Auch uf der Eschenthalerstrass wolthe er ein könden zeigen, dass man 2 oder 3 lagel mit verschüttet heige, habe man auch keinem nüt geforderet, und man werde nit vil seümer finden, die etwas geben müessen.

Die Fuhrleute mussten ferner über die Beschaffenheit der Wege im Bild sein, die Wetterentwicklung sorgfältig beobachten und festgelegte Treffpunkte einhalten. Seeüberquerungen konnten bei Sturmwetter erhebliche Gefahren für die Warenfuhr mit sich bringen. Melcher Zniderist z.B. musste sich 1617 für den Verlust mehrerer Weinlägel rechtfertigen. Zniderist erklärte,424 er kön [für] etlichen Schaden nichts thun. Die Lagel beträfendt, hab er nit könden behalten; ohn sin Willen sient etliche verlohren worden. [...] Den Win beträfendt sie etwas Schaden beschächen, kön er solches nit wenden, dan der See und Wind sient des Schadens ein Ursach gsin.

Wenn Saumzüge auf der Strecke umgeladen werden mussten, waren entsprechende Fuhrmittel bereitzustellen und Treffpunkte zu vereinbaren. Verspätungen hatten unliebsame Folgen. So beschwerte sich Abt Plazidus Knüttel 1631 über Säumer Adam Schmid wegen wiederholter Nachlässigkeit. Mehrmals hatte Schmid Liefertermine nicht eingehalten. Einmal warteten die Klosterknechte am Buochser Seehafen vergeblich auf den Wein, den ihnen Schmid hätte liefern sollen. Ein anderes Mal lieferte Schmid eine Weinfracht mit acht Tagen Verspätung auf dem Grimselhospiz ab. Melcher Schleiss, der für das Kloster Waren säumte, berichtete darüber dem Gericht,425 das[s] Adam versprochen habe, an Sant Gallentag [16. Oktober] umb den mittag bim spital zuo sin mit den rossen und den win zu laden. Hierzwischen sig Adam sinem gwirb nachzogen und des gotshus [Dienst]bott[en] vergeben dahin geschickt worden. Also habe Adam den win 8 tag spötter geladen, dan er hatte versprochen; hiemit und der ursachen halben habens mit dem win nit mögen über Joch kon, wetters halben. Wan aber Adam nach sinem verheissen den win gefürt hätte, so hetten si mit dem win bis zum gotshus ein einzige nacht müssen us sin und hetten noch mögen über Joch kommen.

423 Vgl. ETP 1.428, 2b.367–369 und 2b.377–381. 424 Vgl. ETP 1. 377. 425 Vgl. ETP 2b.122–124.

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Dem Bericht lässt sich entnehmen, dass auf der Grimsel gelegentlich Warenumschläge vorgenommen wurden. Weiter scheinen die Alpenpässe noch im späten Oktober für den Warenverkehr benutzt worden zu sein. Offenbar liess sich die Strecke ins Hochtal vom Grimselhospiz in zwei Tagen zurücklegen. Ein Wetterumschwung hatte aber in diesem Fall den Übergang über den Jochpass verhindert, den Saumzug verlangsamt und dem Kloster schliesslich grosse Folgekosten verursacht. Auf dem Weg nach Süden wurde von den Säumerknechten nicht nur Sorgfalt und Geschick gefordert, sondern auch reichlich Mut und Körperkraft. Wie Hirtenhunde mussten die Säumer zu ihrem Vieh und ihren Waren schauen, wenn in den Dörfern und auf den Handelsstrassen im Süden Diebe ihr Unwesen trieben. So führte 1704 der 23-jährige Jörg Niklaus Kuster im Auftrag Hans Langensteins Vieh nach Italien. In der Nähe des Munt Chänel (Monte Ceneri) wurde Kuster ungefähr am Michaelstag (29.  September) von drei Wegelagerern mit Schusswaffen angegriffen und verletzt. Ein herbeigeeilter Händler brachte den Schwerverletzten nach Lauwis (Lugano), doch verstarb Kuster dort einen Monat später. Die Unsicherheit auf den Handelswegen des Südens erschwerte den Welschlandhandel bis ins 19. Jahrhundert.426 Welsche Säumer waren ebenfalls am Handel über die Alpen beteiligt. Das Hochtal unterhielt ja spätestens seit der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts Handelsbeziehungen mit dem Eschental (Val d’Ossola). Walliser Säumer fergten im 17. Jahrhundert ebenso Waren ins Hochtal wie italienische Säumer. Auswärtige Säumer waren in Engelberg keine ungewohnte Erscheinung.427 Als etwa die junge Elisabeth Zniderist 1662 den Eschentaler Säumer Giacomo Antonio Sciapino an ihrem Haus vorbeiziehen sah, pfiff sie ihm vom Fenster zu und winkte den (wohl nicht unbekannten) Fremden zu sich herein. Die Begegnung endete allerdings plötzlich, als andere Hausbewohner die beiden beim Liebesspiel in der Stube erwischten.428

b) Umfang und Bedeutung des Welschlandhandels Der genaue Umfang des Welschlandhandels ist aufgrund der lückenhaften Quellenlage schwierig zu klären. Grosse Warenfuhren lassen sich ab Anfang des 18. Jahrhundert regelmässig belegen. Das Kloster, aber auch handelsgeübte Talleute kauften im 426 Vgl. den betreffenden Eintrag im Sterberegister (September 1704), ferner Hess (1938: 86). Siehe auch Bürgi (1975: 37–38) und Renner (1978: 103–104). 427 Schon bzw. noch im frühen 17.  Jahrhundert waren Eschentaler Säumer häufig im Hochtal anzutreffen, vgl. Schnell (1858: 106). 428 Vgl. ETP 1.348–351, 2a.25–25b, 2b.614–615, 2b.676–677 und 2b.706, wahrscheinlich auch ETP 4.338–341. Siehe auch Hess (1945b) und Küchler (2003: 123–124).

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Hochtal Käse und Vieh auf, führten die Fuhr durch und setzten die Ware auf den südlichen Märkten ab. Die ausgeführten Warenvolumen waren beträchtlich. Nur das Kloster und vermögende Talleute verfügten diesbezüglich über genügendes Kapital, um sich als Fürkäufler (Zwischen- bzw. Grosshändler) zu betätigen. Vergleichbare Eckdaten fehlen hingegen für die feingliedrige Einzel- und Auftragssäumerei, die ab dem frühen 17. Jahrhundert sicher nachgewiesen ist. Die kleinen und weniger aufwendigen Saumzüge hinterliessen leider nur zufällige Spuren in der Überlieferung. Vermutlich fanden sich unter den beteiligten Fuhrleuten sowohl reine Säumer als auch Grempler (Kleinhändler), die den Fürkauf im kleinen Massstab betrieben.429 Auch auswärtige Säumer beteiligten sich an diesem Kleinhandel. Die kleinen Saumzüge fielen vermutlich nicht einzeln, aber doch in ihrer Gesamtheit ins Gewicht. Ein grober Irrtum wäre es, nur den klösterlich organisierten Handel als wirtschaftlich bedeutsam zu betrachten.430 Dass die Talleute in die Eigenwirtschaft zurückgefallen wären, wenn die äbtischen Talherrn sie nicht zum Ausfuhrhandel angetrieben hätten, ist ziemlich unwahrscheinlich. Der klösterliche Handel lässt sich nicht mit dem Handel des Tals überhaupt gleichsetzen. Wer ferner den Welschlandhandel nur als eine gelegentliche Erscheinung einstuft, die von äbtischer Seite bisweilen nach längeren Unterbrüchen „wieder aufgenommen“ wurde, muss sich die Frage gefallen lassen, wie denn ein Handelsvolumen mit Käse und Vieh von mehreren zehntausend Gulden jeweils innert weniger Jahre hätte (wieder)aufgebaut werden können. Besonders die Hartkäserei und die damit verbundene Grossviehhaltung setzten eine intensive Bewirtschaftung des Nutzlandes, kostspielige Einrichtungen, zuverlässige Beziehungen bei der Beschaffung von Zinsvieh, erfahrene Arbeitskräfte und den Aufbau von Handelsbeziehungen voraus. Wer auf dem einträglichen und damit umworbenen Hartkäsemarkt bestehen wollte, musste den Ruf seiner Ware über längere Zeit aufbauen und erhalten – die klösterliche Stella belegt es. Die bis zur letzten Einzelheit geregelte Nutzung der landwirtschaftlichen Ressourcen war ebenfalls das Ergebnis einer jahrzehnte- bzw. jahrhundertelangen Entwicklung und nicht die weniger Jahre. Eine bloss sporadische Beteiligung des Tals am Welschlandhandel erscheint auf diesem Hintergrund wenig glaubhaft. Der Welschlandhandel erwies sich gerade in Notzeiten als bedeutsam. So verknappte sich das Getreide infolge schlechter Ernten 1770/1771 nördlich der Alpen. Luzern sah sich zu einer allgemeinen Getreidesperre veranlasst. Die Getreidelieferungen aus dem Klosterbesitz im aargauischen Sins reichten allerdings nur für die 429 Bei den überlieferten Saumzügen ist kaum zu unterscheiden, ob es sich jeweils um eine Auftragssäumerei oder um einen (getarnten) Fürkauf handelte. Grundsätzlich – aber eben nur grundsätzlich – galt das ausschliessliche Gewerberecht des Klosters. 430 Vgl. dagegen Heer (1975: 318, 335–336, 382).

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Versorgung des Konvents aus. Am Michaelstag (29.  September) beriet sich 1771 die Talgemeinde, „auf was weis mann allhiesigen besonders armen leüthen nit von sondern zu dem brod helfen könne“. Eine Mehrheit sprach sich dafür aus, das Getreide nach dem Beispiel umliegender Orte aus Italien einzuführen. Abt Leodegar Salzmann wandte sich in dieser Angelegenheit an den König von Sardinien, Karl Emanuel I. persönlich. Tatsächlich bewilligte der sardinische König Lieferungen von 600 Saum Getreide nach Engelberg, wobei die Ware mit Käse zum Gegenwert bezahlt wurde.431 Die Käse- und Viehpreise begannen etwa ab den 1730er Jahren stark und dauerhaft anzusteigen.432 Die hohen Preise begünstigten im 18. Jahrhundert hauptsächlich jene, die am Welschlandhandel unternehmerisch beteiligt waren. Die bereits erwähnten Steuerlisten von 1769 bzw. 1799 zeigen diesbezüglich klare Veränderungen: Die Zahl der vermögenden Talleute stieg in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts deutlich an. Das Wachstum der bäuerlichen Vermögen ging zweifellos auf den Welschlandhandel und die gestiegenen Preise für Käse und Vieh zurück. Letztlich aber kam die erhöhte Vieh- und vor allem Käsenachfrage allen zugute. Die anhaltende Nachfrage liess das Handelsvolumen ebenso ansteigen wie die Arbeitsmöglichkeiten in der Vieh- und Milchwirtschaft. Es erstaunt deshalb nicht, dass Engelbergs Bevölkerung zwischen 1730 und 1770 um knapp 40 Prozent anstieg und zwischen 1770 und 1800 nochmals um 45 Prozent zulegte. Die hohen Geburtenziffern dieser Zeit (30–40 ‰) belegen das Bevölkerungswachstum auf eindrückliche Weise. Der blühende Welschlandhandel hatte an dieser Entwicklung massgeblichen Anteil.433

c) Ankenhandel Der leicht verderbliche Anken wurde nicht im Welschland, sondern vornehmlich auf dem Luzerner Markt abgesetzt. Die Talleute übergaben ihren Anken dem Talsäumer, der diesen nach Luzern führte und dort zum Verkauf anbot. Dieser Ankenhandel nach Luzern ist bereits für das frühe 17. Jahrhundert belegt.434 431 Vgl. ETP 15.227–232 und 15.329–333. 432 Vgl. Marty (1951: 78) und Roth (1993: 233). 433 Vgl. Egger (1911: 69) und Roth (1993: 319). Ruesch (1979: 167–169, 178) stellt die starke Bevölkerungsentwicklung Engelbergs ebenfalls fest, führt sie aber – ohne jede sachliche Haltbarkeit – auf ein angeblich bedeutsames Wallfahrtswesen im Hochtal zurück. Der Neubau des Klosters mag – nach dem Erklärungsversuch Eggers – das Bevölkerungswachstum in den 1730er Jahren unterstützt haben, reicht aber als Erklärung für das anhaltende und strukturelle Wachstum nicht aus. 434 Vgl. ETP 1.87–88 und 2a.80–80b.

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Der Anken gehörte als Speisefett zum täglichen Bedarf. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert war der Luzerner Ankenmarkt jedoch regelmässig unterversorgt. Die Ankenerzeugung wurde durch die Hartkäserei und den steigenden Eigenverbrauch in den Erzeugungsgebieten (bedingt durch die bessere Lebenshaltung) gebremst.435 Die Waldstätten konnten die Ankenausfuhr dennoch nicht einstellen, da Luzern als wichtigster Getreidelieferant der Waldstätten starken Druck ausüben konnte. So musste Abt Emanuel Crivelli am 19. Februar 1739 dem Gericht mitteilen,436 wie dass von einem hochlöbl. stand Lucern klag einkomen, dass von seiten dem thal Engelberg schon einige zeit sehr wenig ankhen und nicht wie sonsten gewohnlich alldorten eingeliffert werde, und hiermit zu besorgen, dass hochgedachter canton in dargebung der benötigten früchten [Getreide], in sonderheit bey disen genauen [knappen] zeiten, gegen dem thal sich auch anders resolvieren dörffe.

Abt und Gericht verboten darauf jeden Fürkauf von Anken, der nicht für den Luzerner Markt bestimmt war. Der Anken sollte für die Ausfuhr in die Talsust (Speicherhaus) gebracht und anschliessend vom Talsäumer nach Luzern gefergt werden. Vorgängig aber sollte den ärmeren Talleuten erlaubt sein, vom Talsäumer Anken (zum Marktpreis) zu beziehen. Die Einführung der neuen Regelung brachte allerdings einige Schwierigkeiten mit sich. Die sogenannten Ankenbauern wollten sich den Fürkauf nicht verbieten lassen, die Armen hingegen hielten den heimischen Ankenpreis für überrissen. Auch wurde der Talsäumer verdächtigt, dass er „den ankhen in Lucern theürer verkauft als er selben den thalleüten widerum verrechnet habe“.437 Am 19. Dezember 1786 erliessen Abt und Gericht ein weiteres Ankenmandat: Das Verbot des Fürkaufs wurde bestätigt, ebenso die Lieferung des Ankens in die Sust und dessen entgeltliche Abgabe an die Armen. Allerdings beschwerten sich 1789 die Ankenbauern heftig über die bisherige Handhabung des Ankenhandels. Sie weigerten sich, ihren wertvollen, frischen Anken in die Sust zu führen und dort „pfündlenweis“ wie der „oft gar schlechte anckhen und halb ziger“ anderer Talleute anzubieten. Die Ankenbauern wehrten sich weiter dagegen, ihren Anken „denen mäusen, dem verstümmlen oder gar dem schelmen wegen allerley dahin kommendtem volch auszusetzen und besonders dass sie selben sehr umbequemm oft weit hin und her tragen müssen“. Die Ankenbauern erklärten sich zur Unterstützung der Armen bereit, sofern sie dafür einen „billichen und der güte des Anckhens angemessenen preis“ erhielten. Abt 435 Vgl. Gutzwiller (1923: 151–169, bes. 167). 436 Vgl. ETP 11.249. 437 Vgl. ETP 11.351–354, 11.356–357, 11.442 und 11.614. Dann auch ETP 15.200, 16.177–178, 17.133, 19.208.

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und Gericht passten das Mandat teilweise an und liessen den Ankenpreis wöchentlich anschlagen.438 Der Ankenhandel brachte wöchentlich Bargeld ins Tal. So hob das Gericht 1790 die Bedeutung des Ankenhandels hervor, „dieweylen das unembährliche baargeld besten theills von dem verkauf des anckhens herfliesset“. Um den regen Handel nach Luzern zu vereinfachen, banden Abt und Gericht 1771 den heimischen Geldmarkt an die Luzerner Währungskurse.439 Der Ankenhandel in Luzern war einträglich, zumal sich dort offenbar bessere Preise erzielen liessen als im Hochtal selbst. Verschiedene Gerichtsfälle der 1790er Jahre zeigen überdies, dass auch vermögendere Bauern am Ankenhandel beteiligt waren. So verpflichtete sich Niklaus Schleiss 1794 gegenüber einem Zwischenhändler, wöchentlich eine festgelegte Ankenmenge zu liefern. Schleiss versprach, im Frühling und Herbst wöchentlich 90 Pfund, während des Alpsommers 70 Pfund und zur Winterszeit 30 Pfund abzugeben – solche Mengen hätte ein Kleinbauer kaum herstellen können. Der Rückgang der Liefermenge im Sommer zeigt übrigens, dass die Hartkäserei die Ankenherstellung (und mit ihr auch die Magerkäserei) nicht ganz verdrängte. Auch Gerichtsherren waren am Ankenhandel beteiligt, was für die Einträglichkeit des Geschäftes spricht.440

d) Talsäumerei Der mittlere und ferne Warenverkehr lagen in der Hand der Schaffner und Säumer. Der nahe Warenverkehr bis nach Luzern wurde hingegen mehrheitlich vom sogenannten Talsäumer besorgt. So erklärte die herrschaftliche Kanzlei 1777 zuhanden auswärtiger Amtsstellen, dass der Talsäumer ein von allhiesig freyer herrschaft Engelberg angehörigen sammentlichen und undergebenen thall-leüthen gemeinsamm bestelter knächt und sogenanther thallseümer seye, demme ersagte thall-leüth verschidene nothwendigkeiten in Lucern einzukaufen wuchentlich übergeben und somit nit allein für sein hausbrauch sonderen für und im nammen des gantzen thahls handlen, kaufen und verkaufen solle.

Der Talsäumer war also ein von der Gemeinde bestellter Fuhrmann. Das Kloster besass eigene Fuhrwerke und einen eigenen Karrer. Gleichwohl nahm es den Talsäumer (mit Erlaubnis des Gerichts) gelegentlich in Anspruch. Die Fuhr durch den Talsäumer hatte gegenüber der privaten Fuhr verschiedene Vorteile: Der Talsäumer 438 Vgl. ETP 16.473–477, 16.610–612, 16.613–614 und 19.159–160. 439 Vgl. ETP 5.185–186, 5.187–192, 13.199–200, 15.57, 15.200, 15.203, 18.131, 18.285 und 19.209. 440 Vgl. ETP 19.247–251, 19.253–258, 20.97, 20.104–105, 20.107–109 und 20.166.

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stand als Gemeindebeamter stärker in der Pflicht als ein privater Fuhrmann. In späterer Zeit musste der Talsäumer (vor seiner Wahl durch die Säumergemeinde) sogar eine Bürgschaft hinterlegen für den Fall, dass bei der Fuhr Waren verloren oder beschädigt würden. Ferner genoss der Talsäumer als Beamter gewisse Handelsrechte, die ein privater Fuhrmann nicht besass. Dies galt insbesondere für den Luzerner Markt. Wer dem Talsäumer Waren zur Ein- und Ausfuhr auftrug, musste – je nach Menge und Art der Ware – dem Talsäumer einen gewissen Fuhrlohn entrichten. Die Talsäumer baten die Gemeinde öfter, die Lohnansätze anzuheben. So ersuchte Talsäumer Melcher Zniderist 1626 um eine entsprechende Erhöhung, weil das Beschlagen der Saumtiere und der Fährschatz (Fahrgeld) der Schiffer immer kostspieliger wurden. Bis zur Eröffnung der Achereggbrücke 1862 führte ja – vom Renggpass und den Verbindungen nach Süden einmal abgesehen – kein Landweg nach Nidwalden und dem Engelberger Tal: Der Warenverkehr musste also über die Häfen von Stansstad, Buochs und Beckenried abgewickelt werden. Auch Talsäumer Anton Vogel beklagte 1764 seine tiefe Entlöhnung und wies auf die Kosten hin, die ihm der schlechte Fahrweg und die Witterung verursachten. Offen drohte Vogel, den Säumerdienst gegebenenfalls aufzukünden:441 Da aber niemand [sonst] freiwillig als säumer sich dargeben wollen, hat der Antoni vogel widerum angehallten, dass der lohn auf einige waaren gesteigeret oder ihme etwas zu einer entschädigung gegeben werden möchte. Ist also [...] endtlichen ermehret worden, dass mann ihme etwas wolle geben [...], wan er sich wohl aufführt; soll aber alle wuchen dem h. stadthallter [Flori Bernhard] Kuster rechnung geben von dem was er gewint und was er braucht und kösten hat, und soll auch zu dem knecht wohl schauen.

Der Talsäumer verdiente also nach Massgabe der gefergten Waren. Er sah es entsprechend ungern, wenn Talleute ihre Waren anderen Fuhrleuten übergaben. Erbost beschwerte sich 1673 Talsäumer Hans Melcher Infanger über solche Drittfuhren und pochte aufgrund »alter Verträge« auf seine Vorrechte. Gleichzeitig beklagte Infanger auch, dass ihm die Gemeinde den gewohnten Säumerbrief (seinen Arbeitsvertrag also) nie ausgestellt hätte. Der Säumerbrief sah offenbar ein weitgehendes Fuhrrecht des Talsäumers vor. Wer seine Waren durch einen Dritten fergen liess, musste dem Talsäumer den entsprechenden Fuhrlohn trotzdem entrichten. Diese Entschädigung verweigerte allerdings Karl Sepp Langenstein 1699 mit dem Hinweis, dass jeder Talmann „befüögt seie, eintweders selbsten oder durch andere insonderheit nacher Buochs wegfüöhren zuo lassen“. Der Hinweis auf Buochs lässt 441 Vgl. ETP 2a.59, 13.267–268, 13.282–28313.304–305, 15.417–420 und 19.208.

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vermuten, dass Langenstein dem Talsäumer das Fuhrrecht besonders für jene Waren absprach, die für den Welschlandhandel bestimmt waren. Die Unterscheidung des nahen Warenverkehrs von der Ausfuhr ins Welschland setzte sich spätestens im 18. Jahrhundert durch: Dabei behielt der Talsäumer die Oberhand über den erstgenannten.442 Fragen bezüglich der Talsäumerei wurden an der alljährlichen Säumergemeinde behandelt. Auch das Gericht befasste sich unzählige Male mit Angelegenheiten des Säumerwesens. Viele Streitfälle gingen auf unterlassene Annahme- und Empfangsbestätigungen, nicht eingehaltene Lieferfristen, aufgekündigte Anstellungen, ungenaue Abrechnungen, fragwürdige Währungsumrechnungen, überrissene Preisforderungen, Fuhrunfälle in rauschigem oder schläfrigem Zustand oder sonstige Nachlässigkeiten zurück. Seltener war von unerlaubtem Gewerbe, widerrechtlichem Genuss gefergter Lebensmittel, Aufbrechen verschlossener Lieferstücke, Betrugs- und Veruntreuungsversuchen aller Art bis hin zu Gewichts- und Falschmünzerei die Rede. Die Säumer zeichneten sich oft durch einige Gewitztheit aus. Wer nicht von ihnen bevorteilt werden wollte, musste selbst einige Schläue walten lassen. Andererseits war die Warenfuhr auf den schlechten Verkehrswegen und bei schwierigen Witterungsverhältnissen eine beschwerliche und mässig entlöhnte Tätigkeit. Zudem kamen bei Warenverlusten Schadenersatzforderungen rasch auf. Die Arbeit des Talsäumers war in mancher Hinsicht besonders heikel. Beim Ankenhandel musste der Talsäumer zwischen den unterschiedlichen Interessen der Ankenbauern und der Armen vermitteln. Überlegtes Vorgehen war aber auch bei der Getreideabgabe notwendig. So war es Talsäumer Sepp Anton Kuster 1745 nicht möglich, genügend gutes Getreide aus Luzern zu besorgen. Das Gericht erlaubte es Kuster darauf, das gute Getreide mit minderwertigem zu vermischen, damit die Vorräte für alle Talleute ausreichten. Wenige Jahre später warfen jedoch manche Talleute Kuster vor, dass er mit dem eingeführten Getreide nicht aufrichtig umgehe, indem er das gute Getreide den Reichen und das schlechte Getreide den Armen verteile. Hans Anton Töngi beharrte als Kläger auf seiner Meinung und erklärte vor Gericht, „er seche wohl, dass die armen das schlechte und andere das bessere haben müssen“. Das Gericht sprach zwar den Talsäumer der Anklage frei. Es bleibt gleichwohl hervorzuheben: Das angespannte Verhältnis zwischen reicheren und ärmeren Talleuten kam selbst im alltäglichen Säumerwesen zum Ausdruck. Schliesslich kam dem Talsäumer als Übermittler von auswärtigen Nachrichten und Neuigkeiten eine weitere, bedeutsame Rolle zu. Dieselbe Funktion übten auch 442 Vgl. ETP 3.200–201, 4.436, 5.93 und 11.611–612. Zum Säumerbrief siehe besonders ETP 15.94–99.

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die jeweiligen Klosterboten aus, die schon im 17. Jahrhundert mehrmals wöchentlich nach Luzern reisten und den Briefverkehr besorgten. Die ersten überlieferten Botennamen weisen auf zwei weibliche Botinnen hin: Zuerst verrichtete Maria Barbara Waser (1652–1702) den Botendienst, dann Elisabeth Töngi (1679–1739). Später übernahm Niklaus Flori Amrhein (1687–1751) diese Aufgabe, die dann über vier Generationen (!) in seiner Familie verblieb.443 Die Säumerei war auf Susten (Speicher) angewiesen, wo Waren auf dem Durchgang zwischengelagert werden konnten. In Stansstad besassen Kloster und Gemeinde eine gemeinsame Sust für den Warenverkehr nach Luzern. In Grafenort stand dem Kloster zunächst im Steinhaus und später im Herrenhaus eine eigene Sust zur Verfügung, die auch von den Talleuten genutzt wurde. In Engelberg selbst hatte die Gemeinde eine eigene Talsust, während das Kloster auf seine Wirtschaftsgebäude zurückgreifen konnte. In der Engelberger Talsust befanden sich jene Waagen und Gewichte, nach denen sich alle benutzten Gewichte im Tal zu richten hatten. Wenn im Hochtal „gewicht, mass und ehlen von gar keiner glichheit“ mehr waren, wurden die Gewichte der Talsust überprüft und amtlich gekennzeichnet. Private Gewichte, die auf die Gewichte der Talsust geeicht waren, erhielten ebenfalls die amtliche Kennzeichnung.444 Die Talsust bedurfte im späten 18. Jahrhundert einer dringenden Sanierung. An der Säumergemeinde vom 9. April 1787 kamen die Talleute überein, „die ruinlose und gantz baufehlige allhiesige thall-sust [neu] zu bauwen“. Abt Leodegar Salzmann suchte dabei den Neubau der Talsust mit der Errichtung einer Talschule zu verbinden. Darauf liessen aber manche Talleute „ville nit nur einwendungen dargegen, sonderen auch lieb- und vernunftlose widersprüch vernemmen“. Schwierigkeiten bereitete offenbar die Finanzierung des Projekts, denn an späterer Stelle heisst es, Geiz und Neid hätten 1770 den Schulbau vereitelt. Offenbar scheiterte auch das Projekt von 1787. Jedenfalls wurden die Engelberger Kinder bis zum Schulbau von 1874 im Wirtschaftsgebäude des Klosters unterrichtet.445 Geiz der Reichen und Neid der Armen: Der Neubau der Talsust und seine umstrittene Finanzierung verdeutlichen erneut, welches Misstrauen zwischen den reicheren und ärmeren Talleuten herrschte. Die Vermittlungsversuche des Gerichts und insbesondere des Abtes blieben chancenlos.

443 Vgl. Hess (1938: 89–90). 444 Vgl. ETP 4.197–198, 5.371, 11.290–293 und 17.636. 445 Zu den Projekten von 1770 und 1787 vgl. ETP 14.322, 14.401–407, 14.457–458, 14.481, 15.94–99, 16.498–499, 18.21–27 und 18.108–111.

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Seit alters teilten sich Kloster und Talleute die Sust von Stansstad. Der Neubau der Sust wurde 1538 von beiden Seiten gemeinsam bestritten:446 do sint sy [Kloster und Gemeinde] miteinander rätig worden und ubereinkon, ein nüwe Sust zuo buwen [...] und soll nun fürohin und jn ewigkeit die Sust und hoffstatt halb des Gotshus sin und halb der thallüten.

Die Sust selbst bildete eine Hofstatt, zu der auch Matten gehörten. Insbesondere der Talsäumer nutzte die Matten für die Ätzung der Saumtiere. Sust und Hofstatt waren dem Engelberger Recht unterstellt, wie der Flurname Zil noch heute verdeutlicht.447 Notwendige Instandhaltungsarbeiten der Sust gingen zulasten beider Eigentümer. Kloster und Gemeinde wählten gemeinsam einen Sustmann, der für den Betrieb und den Unterhalt der Sust verantwortlich war. Meist handelte es sich um einen Engelberger Talmann. Ein genaues Pflichtenheft regelte die Aufgaben des Sustmanns. Sustmann und Talsäumer besorgten den Umschlag von Käse, Wein, Getreide und Salz gemeinsam. Kleinere Waren hatte der Sustmann alleine umzuladen. Der rege Warenverkehr nahm im späteren 18. Jahrhundert derart zu, dass die Lagerräume der Sust nicht mehr genügten. Gelegentlich musste der Sustmann Waren in die benachbarte Sust der Nidwaldner unterbringen, die 1752 errichtet worden war. Beide Susten fielen am 9. September 1798 der Zerstörungswut der französischen Streitkräfte zum Opfer.448 In Engelberg selbst verkauften einheimische Krämer verschiedene Güter des täglichen Bedarfs. Im Krämerladen konnten Lebensmittel, Tuchstoffe, Kleider, Hüte, Haushaltsgegenstände und dergleichen gekauft werden. Ansehnliche Vorräte konnten sich im Krämerladen ansammeln. So hinterliess Hans Melcher Cattani, der sich auch als Krämer betätigte, bei seinem Tod 1775 ein Warenlager im Wert von knapp 2‘300 Gulden. Die Krämerei war vermutlich ein einträgliches Gewerbe, erst recht, wenn man es alleine betreiben konnte. So war Krämer Joachim Infanger 1747 sogar bereit, dem eben genannten Cattani eine jährliche Abfindung von 19 Gulden zu bezahlen, da446 Vgl. Vogel (1875: 89–91). 447 Der Name »Zil« weist auf ein eigenständiges und abgegrenztes Rechtsgebiet hin, vgl. Nidwaldner Orts- und Flurnamen II, 1492–1493 sowie III, 2483. 448 Vgl. auch Heer (1975: 301) und Huwyler (1993: 451), der den Neubau der Sust bereits auf 1536 datiert. Vgl. weiter ETP 4.287, 8.406–409, 11.402, 11.522, 11.664, 12.149– 152, 14.24, 14.109–111, 14.115–116, 14.140–141, 14.193, 14.218–220, 14.237– 238, 14.265–266, 14.284, 16.70–74, 16.130, 16.149, 16.159, 16.177–178, 16.185– 187, 16.213–221, 16.310–311, 16.371–373, 16.391–392, 16.412–413, 16.447 und 16.498–499.

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mit er nicht auch ins Krämergewerbe einsteige. Kanzler Ignaz Betschart, der den Vertrag fertigte, notierte unterhalb der Abschrift trocken: „Une affaire d’un juif et d’un fou“ – frei übersetzt: das Geschäft eines Geldgierigen und eines Wahnsinnigen.449 In Engelberg fanden auch Märkte statt. Ihre Bedeutung war durchaus auf die örtliche Umgebung beschränkt. Der Markttag war bis 1671 auf den Mittwoch nach dem Michaelstag (29. September) festgelegt. Da der Zeitpunkt aber zu nahe auf den Markttag von Wilen (bei Stans) fiel, wurde er auf den Tag der Kreuzerhöhung (14. September) verlegt. Ein halbes Jahrhundert später wurden vier Markttage erlaubt, nämlich am Fest Philipps und Jakobs (1. Mai), an Kreuzerhöhung, am Andreastag (30. November) und an Mariä Lichtmess (2. Februar). Die Verkäufer durften ihre Waren am Tag selbst und am Folgetag feilbieten, und zwar auf der Gand und in der Tanzlaube. Den fremden Krämern wurde das Hausieren gerichtlich verboten. Wenig erfreut stellten Abt und Gericht 1732 fest, dass einige zeit hero allerhandt gesindell, scheindoctor[en] oder so genante gütterlischreyer sich erfrechen, in das thall zu schleichen undt ohne sich an gebührentem ohrt anzumelden, zu husieren, alle heüser zu überlauffen, ja durch ihr ungestimmes schwetzen faltsches vorgeben undt anrüehmmen ihrer mehr verderblich als nützlichen wahren von den leüthen gleichsam das gelt erpressen, auch gar andere unanständigkeiten vergeben undt dan sich widerumb zum thall hinausmachen.

Das Hausierverbot wurde 1763 für jene Krämer gelockert, die „mäyen, segessen und dergleichen dienlichen sachen und werckhzeüg“ verkauften. Abt und Gericht sorgten andererseits dafür, dass die ehrlichen Krämer nicht belästigt wurden. Scharf wiesen sie Anton Cattani 1764 zurecht, nachdem er die Krämerin Maria Johanna Hauser aus Konstanz in aller Öffentlichkeit grundlos beschimpft und tätlich angegriffen hatte.450 Die Talleute besuchten auch auswärtige Märkte, wobei der wichtigste Markt zweifellos jener Luzerns war. Viele Geschäfte wurden auch auf den Märkten von Wilen und Stans abgeschlossen. Die Beschaffung von (Zins)vieh erfolgte häufig auf diesen Märkten. Schliesslich wurde der Stanser Herbstmarkt – gerade beim Handel mit Auswärtigen – oft als Zinstag bestimmt.451 449 Vgl. ETP 11.658–659, 12.305–309, 12.317, 12.355–359, 16.288–291, 17.60–70 und 17.403–407. 450 Vgl. ETP 3.177, 10.74–76, 11.19, 13.231, 13.269–270, 14.206–207. 451 Vgl. ETP 11.446–449, 11.517–520, 11.595–600, 11.655–658, 12.343–344, 13.291, 13.459–460, 14.395–397, 16.610–612, 18.142–144, 18.207, 19.220–223, 19.229–

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2.2.2 Handwerk und Gemeindeämter Die meisten Talleute besassen so viel handwerkliches Geschick, dass sie ihren Hausrat und ihre Arbeitsgeräte weitgehend selbst herstellen und unterhalten konnten.452 Erst wenn Arbeiten besondere Gerätschaften und Fertigkeiten erforderten, überliess man sie ausgebildeten Arbeitskräften. Die ausgebildeten Handwerker arbeiteten selten berufsmässig. Berufsleute waren am ehesten in jenen Handwerksgruppen anzutreffen, die auf feste und kostspielige Einrichtungen angewiesen waren, so z.B. auf eine Mühle, eine Schmiede oder eine Sägerei. Oft arbeiteten die Handwerker in der Landwirtschaft und übten ihr Handwerk nur nebenberuflich aus: Es handelte sich um Halbhandwerker. Handwerkliche Arbeiten wurden in den ruhigeren Zeiten des Bauernjahres, d.h. vor allem im Winter verrichtet: Das galt nicht nur für die handwerklich begabten Bauern, sondern auch für die bäuerlichen Handwerker. Die Halbhandwerker gingen in dieser Zeit auf die Stör, d.h. sie zogen von einem Haushalt zum anderen und erledigten vor Ort die gewünschten Arbeiten. Eine überregionale Arbeitsteilung kam nicht selten vor. Wer handwerklich arbeitete, stellte sich in den Dienst anderer Leute. Dem Handwerk kam deshalb kein besonderes Ansehen zu, denn niemand fühlte sich gerne abhängig und untergeben. So arbeiteten vor allem jene Bauern im Handwerk, die ihr bäuerliches Einkommen verbessern wollten oder mussten. Schliesslich waren die einzelnen Handwerksgruppen nach Ansehen gestuft. Der Scherer z.B. war ein allseits angesehenes Mitglied der Dorfschaft, während der Wasenmeister öffentliche Ächtung erdulden musste. Die handwerklichen Berufe waren also – nicht anders als die bäuerlichen – gegliedert und abgestuft. Die Milch- und Viehwirtschaft brachte im Hochtal gewiss den grössten Arbeitsaufwand mit sich. Die meisten Talleute waren – je nach Vermögen und Alter – als Bauern, Sennen, Hirten und Knechte aller Art beschäftigt. Unter ihnen müssen besonders die Sennen als ausgebildete Handwerker angesprochen werden. Das breite Tätigkeitsfeld der Hirten und Knechte ist bereits ausführlich dargestellt worden. Manche Knechte zeichneten sich durch besondere Fertigkeiten aus. Beispielshalber sei hier an den Salzer erinnert, der den Käse im Speicher pflegte, oder auch an den Mauser, der zum Schutz der Grasdecke und der Speicher die Mäuse einfing. So verrichtete Hans Jakob Amrhein (1672–1756) die letztgenannte Tätigkeit so lange oder so erfolgreich, dass er und seine Nachkommen den stehenden Beinamen »Mauser« erhielten.

233, 19.249–250 und 20.135. 452 Vgl. zu den folgenden Ausführungen allgemein Weiss (1946: 111–113) und Mathieu (1987: 93–100).

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Die Bereitstellung von Nahrungsmitteln zog mehrere Arbeitsfelder nach sich. Allen voran ist der Mühlebetrieb zu nennen. Kloster und Talleute hatten sich bereits 1483 geeinigt, statt einer Kloster- und einer Talmühle nur noch eine gemeinsame Mühle zu betreiben. Die Mühle im Büel leistete bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Dienste für Kloster und Tal.453 Erhebliche Kosten waren mit der regelmässigen Ersetzung des Mühlesteins verbunden. So kostete die Beschaffung eines neuen Bodensteins 1717 knapp 120 Gulden. Die Talleute bestritten ihren jeweiligen Anteil, indem sie ihre beiden Talmatten verpachteten und eine ausserordentliche Steuer erhoben. Allerdings sahen es besonders die ärmeren Bauern ungern, wenn die Talmatten der Gemeinnutzung entzogen wurden. Da das Gericht den Kauf des neuen Mühlesteins nicht gefährden wollte, blieb ihm wie 1736 nur die Möglichkeit, den Abt um eine obrigkeitliche Anordnung der Verpachtung zu bitten „und nicht, dass darum mit der hand [in der Genossengemeinde] ferners solte gemehret werden“.454 Auch die Ersetzung der Mühleräder und die Instandhaltung der Wasserleitungen übernahmen Kloster und Tal gemeinsam.455 Das Kloster beschäftigte einen eigenen Müller. Der Klostermüller mahlte aber auch für die Talleute Getreide.456 So wurde 1689 der Arbeitsvertrag des Müllers ausgelegt und die Schuldigkeit eines Müllers dahin erklärth, das[s] er mehr nit schuldig seye, als das[s] er jedem sein Sach in Treüwen mahlen, das Mähl aber zue theylen und jedem absönderlich auszemessen kein Pflicht haben solle.

Der Müller bezog von jedem Viertel Getreide einen durchaus bescheidenen Mahllohn von einem Angster.457 Verschiedentlich wurden Bedenken geäussert, der Müller teile das gemahlene Getreide ungerecht auf. So musste sich 1714 der Klostermüller Karl Haldi aus Entlebuch den Vorwurf gefallen lassen, er habe das gute Getreide der Talleute mit dem schlechten Getreide des Klosters ausgetauscht. Die Müller waren in der Regel zugezogene Handwerker. So zog auch Heini Hess (gestorben 1683) als Müller ins Hochtal und übergab später seinem Sohn Baschi Hess (1635–1692) sein Amt. Hess ist der Stammvater des gleichnamigen, heute noch bestehenden Engelberger Geschlechts. 453 Vgl. Schnell (1858: 29–30) und Hess (1915: 61). 454 Vgl. ETP 6.265–266, 11.168, 12.63–70, 12.142, 13.265, 13.282–283, 14.235 und 18.133–139. 455 Vgl. ETP 5.18–19, 5.184–185 und 11.410. 456 Vgl. ETP 4.286–287. 457 Vgl. Abt Emanuel Crivellis »Jurisdictionalia« in Gfr. 33, 1878, 88.

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Das Mehl wurde durch den Pfister zu Brot gebacken. Preis und Gewicht des Brotes waren amtlich festgelegt. Früh schon wurde die Luzerner Backordnung zum Richtmass genommen. Der Mehlpreis war ebenfalls an den Brotpreis gebunden.458 Die Gemeinde beauftragte seit alters sogenannte Brotschätzer mit der Aufsicht über den Brothandel. Die Brotschätzer hatten besonders darauf zu achten, dass der Pfister das Brot zu rechtem Preis und Gewicht verkaufte.459 Die Aufgabe der Brotschätzer war nicht leicht, wenn das Getreide knapp und teuer war. So baten die Brotschätzer 1774 um ihre Entlassung, „dieweilen es mit dem brodgewirb nit mehr recht gehe, sehr schlecht und theüre wahr verhandlet und die arme leüth darbey leiden und benachteiliget werden müessen“.460 Gleichzeitig beschwerten sich die Talleute beim Abt über die mangelhafte Arbeit des Müllers. Die Äbte suchten den Verbrauch von Lebkuchen regelmässig einzuschränken oder zu verbieten. Ähnliche Beschränkungen betrafen übrigens alle Lebensmittel, die teuer waren und nicht vorrangig der Notdurft dienten. Die öfter wiederholten Verbote belegen allerdings, dass sich die Talleute kaum an diese hielten. Das »Samichlauszeug« bzw. »Samichlausbrot« erfreute sich besonderer Beliebtheit, besonders am Niklaustag (6. Dezember) und an Neujahr. So wies das Gericht 1745 den Pfister zurecht, weil er das beste Mehl für diese Kuchen verwendete und für das gewöhnliche Brot nur schlechteres Mehl übrig blieb.461 Eine besondere Erwähnung verdient Pfister Franz Xaver Feierabend (1713– 1783). Feierabend heiratete 1738 eine Enkelin des eben genannten Müller Heini Hess. Das Paar zeugte zehn Kinder, unter denen sich auch der spätere Scherer Maurus Geni Feierabend befand, dem zahlreiche Auskünfte über das Alltagsleben im Hochtal zu verdanken sind. Die Familie besass ein eigenes Haus mit Garten auf der Pfistermatt, wo auch die Pfisterstube stand.462 Brot gab es übrigens auch aus der Klosterküche. So berichtete 1518 Grosskellner Heinrich Stulz, das Kloster gebe seit alters „jedem Thalmann so das schuldig faßnacht huhn bringt, ein brot widerumb dargegen, das fast so vil wert ist alls dz huhn“.463 Dieser Brauch bestand noch im 17.  Jahrhundert, beklagten sich doch einige Talleute 1659, „mann gebe ihnen nur mutschli, nit ein brot, wie ihr brieff melden“ würden.464 Ferner erhielten die Klosterknechte regelmässig Brot zu ihrer Notdurft. Diesbezüglich wurde 1709 ein grösserer Missbrauch aufgedeckt: Kloster458 Vgl. ETP 2a.1–2b, ferner ETP 11.71, 6.580, 18.108–111, 19.159–160 und 20.93–95. 459 Vgl. u.a. 2a.53b-55 und 13.195–197. 460 Vgl. ETP 16.93–97. 461 Vgl. u.a. ETP 2a.51–53, 4.457–458 und 11.479–480. 462 Vgl. ETP 15.18–19. 463 Zitiert nach der Edition Vogels (1875: 20). 464 Vgl. ETP 2b.618–619.

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knechte hatten über längere Zeit Klosterbrot heimlich an Talleute weiterverkauft. Die Verhöre und Gerichtsverhandlungen in dieser Sache zogen sich über drei Monate dahin, unzählige Bussen und Strafen wurden ausgesprochen.465 Bauern konnten die Schlachtung ihres Viehs dem Metzger anvertrauen. Das Geschlecht der Zniderist brachte eine ganze Reihe von Metzgern hervor, angefangen bei Niklaus Zniderist (1683–1747), seinen Söhnen Joachim Geri (1713–1774) und Hans Geni (1721–1784) bis hin zu seinem Enkel Maurus Berchtold (1756– 1795). Eine weitere Handwerkergruppe befasste sich mit der Herstellung von Kleidern und Schuhen. Ein begabter Schuhmacher scheint Sepp Geni Hurschler (1718–1786) gewesen zu sein, zumindest traten seine beiden Söhne Hans Melcher (1748–1817) und Sepp Benedikt (1755–1816) in die Fussstapfen ihres Vaters. Aus dem Geschlecht der Dillier sind ebenfalls drei Schuhmacher bekannt. Auch bei den Schneidern übertrug sich das Handwerk gelegentlich von der einen zur nächsten Generation. Sepp Töngi (1656–1734) war ebenso Schneider wie sein Sohn Joachim (1701–1761) und dessen Enkel Hans Sepp Joachim (1780–1812). Ähnliche Verhältnisse waren auch bei den Webern anzutreffen: Anna Maria Kuster (1678–1731) brachte die Weberarbeit ihrem Neffen Sepp Geni (1721–1786) bei, der sie seinerseits seinem Sohn Ignaz Geni (1761–1831) lehrte. Auch bei den Seidenmeistern, von deren Amt später die Rede sein wird, übertrug sich das Handwerk von Vater zu Sohn, nämlich von Joachim Sepp Alois Kuster (1756–1837) auf seinen Sohn Joachim Sepp (1788–1866) und dessen Sohn Ignaz Sepp Alois (1800–1844). Die Holzbearbeitung zog gleich mehrere Handwerke nach sich. An früherer Stelle wurden bereits entlöhnte Waldarbeiter erwähnt, die sich um den Schlag und die Fuhr des Holzes kümmerten. Die gefällten Stämme gelangten zunächst in die Sägemühle, in der Mundartsprache kurz Sage genannt. Der Sager bezog einen festgelegten Saglohn, gleichwie der Müller seinen Mahllohn einforderte. Im 18. Jahrhundert betrug der Saglohn drei Schilling für Saghölzer von weniger als 19 Schuhen Länge. In späterer Zeit wurde die Sage ausgebaut, so dass die Saghölzer durch einen Mechanismus zum Sägblatt geführt wurden: Die Einrichtung stiess selbst bei auswärtigen Besuchern auf Bewunderung.466 Im besagten Zeitraum stammten die meisten Sager aus demselben Geschlecht: Franz Ignaz Waser (1687–1762), Hans Geri Waser (1735–1796) und Hans Sepp Waser (1743–1823). 465 Vgl. mit Unterbrüchen ETP 5.109–218. 466 Vgl. Abt Emanuel Crivellis »Jurisdictionalia« in Gfr. 33, 1878, 88. Ferner den Bericht Christoph Meiners in Dufner (1978: 50).

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Für den Holzbau waren die Zimmerleute zuständig. So erlernte u.a. der Ammannssohn Hans Melcher Hurschler (1669–1728) die Arbeit des Zimmermanns. Sein Sohn Melcher Geni (1687–1724) trat ebenso in die Fussstapfen des Vaters wie der Enkel Niklaus Geni (1717–1757). Melcher Geni Hurschler heiratete 1708 Maria Barbara Müller, deren Cousin Simon Justus Müller (1711–1793) später die Sage übernahm. Dessen Sohn, der spätere Ingenieur und Statthalter Joachim Geni Müller (1752–1833), arbeitete zunächst ebenfalls als Zimmermann. Die Zimmerleute besorgten oft auch die Arbeit des Drechslers bzw. Drehers. Die Schreiner bzw. Tischler waren für die feineren Holzarbeiten verantwortlich. Aus der Liste der überlieferten Schreinernamen sei jener Hans Sepp Anton Kusters (1713–1763) herausgegriffen, der gleich zwei Söhnen seine Kunst beibrachte, nämlich Sepp Anton (1743–1795) und Sepp Geni (1754–1807). Auch der Schreinermeister Melcher Remigi Waser (1724–1776) gab sein Wissen seinem Sohn Sepp Martin (1756–1815) weiter. Der Küfer stellte Holzgefässe her, die mit Dauben und Reifen zusammengefügt waren. Aus dem Geschlecht der Waser sind gleich fünf Küfer bekannt: So übte Sepp Geni Waser (1694–1776) ebenso das Küferhandwerk aus wie zwei Urenkel seines Vaters, nämlich Niklaus (1752–1823) und Maurus Berchtold (1764–1812). Auch die beiden Brüder Joachim Sepp (1729–1823) und Sepp Benedikt Waser (1744– 1797) arbeiteten als Küfer. Auch die Wagner, die Räder, Wagen und dergleichen herstellten, vererbten bisweilen ihr Handwerk. So ging Sepp Bernhard Häcki (1731–1773) ebenso dem Wagnerhandwerk nach wie schon sein Vater Sepp Anton (1698–1780). Auch die beiden Vettern Thomas Maurus (1754–1813) und Leodegar Hess (1770–1813) arbeiteten als Wagner, später auch Leodegars Sohn Jakob (1808–1852). Die Verarbeitung von Metall, Stein und Glas bedurfte weiterer Handwerkskünste. Neben der Korn- und der Sägemühle kam die Schmiede als dritte gemeine Einrichtung hinzu. Das Kloster hatte seine eigene Schmiede, in der Wetti kam – zumindest im 18. Jahrhundert – eine weitere Schmiede hinzu.467 Eine ganze Reihe von Schmieden brachte die Familie Sepp Geni Wasers (1717–1770) hervor: Wie der Vater arbeitete auch der Sohn Hans Geni (1747–1817) als Schmied, gefolgt von den Enkeln Sepp Leodegar (1793–1854) und Hans Sepp (1798–1875) bis hin zum Urenkel Karl (1819–1896). Für den Hausbau waren neben den Zimmerleuten auch Maurer gefragt. Für die Familie Jakob Joachim Wasers (1688–1756) wandelte sich die Berufsbezeichnung spätestens dann zum stehenden Beinamen, als wie schon der Vater auch die Söhne

467 Vgl. ETP 18.267–268.

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Geni Anton (1725–1800) und Sepp Geni (1730–1793) das Maurerhandwerk auszuüben begannen. Für den Hausbau brauchte es ferner Dachdecker. Geübte Decker waren etwa die Brüder Joachim (1702–1779) und Sepp Frowin Waser (1707–1770). Der ältere Bruder leitete die Deckarbeiten der neuen Klosteranlage nach dem Brand von 1729. Sein Ruf als Dachdecker breitete sich über das Hochtal hinaus. So erhielt Waser 1734 vom Nidwaldner Landammann Johann Jakob Achermann den Auftrag, 27‘000 Steinplättchen ins untere Tal zu liefern.468 Als Glaser machte sich Hans Geni Infanger (1712–1765) einen Namen. An dieser Stelle mag kurz an die alte Sitte der Schild- und Fensterschenkungen erinnert werden, die wohl im 15. Jahrhundert aufkam. Wer damals ein neues Gebäude baute, erhielt von der Obrigkeit üblicherweise eine farbige Wappenscheibe als Ehr- und Freundschaftsbezeugung, später auch bloss als Bauspende. Im Hochtal pflegten Gemeinde und Kloster, neuerbauten Bauernhäusern eine geschmückte Wappenscheibe zu vermachen. Im 18. Jahrhundert konnte man in den Engelberger Bauernhäusern noch Wappenscheiben aus dem frühen 16. Jahrhundert bewundern. Die Gemeinde siegelte ihre Scheiben zunächst mit dem Talwappen und der Aufschrift »freie Gotteshausleute zu Engelberg«. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die ältere Selbstbezeichnung abgelöst vom stolzen Namen »gemeine Talleute zu Engelberg«, womit das Ideal des freien und gleichberechtigten »gemeinen Mannes« deutlich ausgedrückt wurde.469 Die völlige Auslassung des Klosters zeugt auch hier vom gewachsenen Selbstbewusstsein der Gemeinde.470 Während die Gemeinde noch im 17. Jahrhundert Fensterschenkungen vornahm, verschwand der Brauch im 18. Jahrhundert allmählich. Als 1745 ein Auswärtiger das Gericht um eine solche Schenkung bat, lehnte das Gericht mit der Begründung ab, dass „man dergleichen begehren und steüren iez auch den thalleüten abschlagt und nit mehr gibt“.471 Das seltene Handwerk des Harzer übten Franz Jakob Schleiss und möglicherweise auch sein Sohn Joachim (1705–1758) aus. Das Baumharz erfüllte als Abdichtungsmittel verschiedenste Zwecke, weshalb es auch gezielt gewonnen wurde. Abt und Gericht verboten das Harzen erstmals 1706 aus Sorge um den Waldbestand.472 Verschiedene Handwerker waren in der Klosterwirtschaft beschäftigt. Der Anteil der auswärtigen Handwerker war hier höher, zumal sich gewisse Kunsthandwerker 468 Vgl. ETP 10b.7. Vgl. auch Huwyler (1993: 143–145). 469 Zum Begriff des gemeinen Mannes vgl. Blickle (2000: 70–76). 470 Vgl. Hess (1904), Durrer (1971: 1115–1117) mit entsprechenden Rückverweisen, Hess (1956: 115–117), Huwyler (1993: 183–184). Die Talleutescheibe von 1636 zugunsten der Horbiskapelle ist abgebildet in Hess (1915: 105). 471 Vgl. ETP 4.184 und 11.466–467. 472 Vgl. ETP 4.509. Die Lebensdaten Franz Jakob Schleiss’ sind leider nicht bekannt, vgl. StB Schleiss 5.

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im Hochtal selbst nicht finden liessen. Dem Abte selbst diente der Kammerdiener als Kopist und Sekretär. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besetzten die Äbte dieses Amt öfter mit einem Talmann. Eine verantwortungsvolle Aufgabe fiel auch dem Meisterknecht bzw. Meistersenn zu: Bereits im 17. Jahrhundert wurde dieses Amt regelmässig von einem Talmann versehen. Der Grundbesitz des Klosters erforderte mit seinen Landwirtschaftsbetrieben die Beschäftigung vieler Sennen, Hirten und Knechte. Verantwortungsreich waren die bereits angesprochenen Ämter des Schaffners und des Käsachters. Auch der Karrer und der Bote wurden schon erwähnt, welche die Fuhr- bzw. Postdienste des Klosters bis nach Luzern verrichteten. Weiter bestellte das Kloster einen Marchstaller (Stallmeister) für die Pflege seines Gestüts. Auch ein Sattler leistete seine Dienste. Ferner sorgten Köche für das leibliche Wohl des Konvents. Eine Wäscherin kümmerte sich um die Reinigung der klösterlichen Wäsche. Ein Bartscherer stand der Klostergemeinschaft ebenfalls zu Diensten. Bisweilen war ein Sigerist in der Kirche beschäftigt, ebenso ein Gärtner zum Unterhalt der Klostergärten. Vom sogenannten Seidenmeister wird später noch die Rede sein. Die Versehung von Klosterämtern war ebenfalls an gewisse Familientraditionen geknüpft. Diese Bindungen waren lockerer Art, schliesslich entschied ja das Kloster über die Besetzung der Ämter. Gleichwohl blieben z.B. die Schaffner- und Botenämter über Generationen in derselben Familie. In gewissen Fällen gingen handwerkliche Tätigkeiten und öffentliche Ämter ineinander über. Das galt etwa für die Arbeit des Talsäumers oder des Sustmanns in Stansstad, aber auch für jene der Nachtwächter, die als Hattschier zugleich gewisse polizeiliche Aufgaben übernahmen. Wichtige Aufgaben fielen auch im Gesundheitsbereich an. Der Scherer kümmerte sich um die Versorgung von Kranken und Verletzten. Die Scherer und das Gericht waren sich diesbezüglich über den Erfolg gewisser Heilverfahren nicht immer einig. So mussten Hans Michel Hermann und Balzer Schleiss 1678 vor Gericht erscheinen, weil sie gewissen Kranken bis vier Adern gleichzeitig zum Aderlass geöffnet hatten. Das Gericht verbot nicht zuletzt wegen zweier Todesfälle die Anwendung solcher „Mittlen, die so baldt die letzen [falschen], als rechten sin können“. Auch die Kranken bzw. deren Angehörige wussten sich bei erfolglosen Behandlungen zu wehren. So verweigerte Karl Hurschler 1791 die Bezahlung von Schererkosten, nachdem die Behandlung seines Sohnes wegen einer Fistel fehlgeschlagen hatte. Hurschler erklärte dazu vor Gericht: Sie [Hurschler und der Scherer] haben anfänglich ein accord mit ein anderen gemacht, dass, wan selber den knab nit curiere, so dass er berg und thall gehn kenne ohne steken, so gebe er ihme nichts, wie er durch kundschaft probieren werde; weil nun aber der knab nicht curiert, so glaube er auch nichts schuldig zu sein.

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Auswärtige Scherer praktizierten gelegentlich im Hochtal, so etwa 1765 Johann Baptist Hess aus der Kurpfalz. Die Kanzlei bescheinigte Hess bei seiner Abreise, er habe während seines dreiwöchigen Aufenthalts in Engelberg viele Kuren glücklich durchgeführt. Leidende Talleute suchten aber auch Scherer in der näheren und ferneren Umgebung auf: Sepp Müller z.B. nahm 1792/93 mehrere Arztbesuche bis nach Zürich und Langnau vor, um sich wegen eines Beinleidens behandeln zu lassen.473 Zwei Engelberger Scherer seien hier besonders erwähnt, nämlich Alfons Sepp Flori Feierabend (1694–1740) und Maurus Geni Feierabend (1712–1765). Beide machten sich nicht nur um ihr Handwerk verdient. Der ältere Feierabend verfolgte die Verhältnisse im Hochtal aufmerksam und schrieb seine Beobachtungen in verschiedenen Bänden nieder. „Er schrieb mehrere Bücher eigenen, aber völlig ungebildeten Charakters“, hielt Pfarrer Adelhelm Luidl beim Tod Feierabends abschätzig fest – eine Einschätzung, die zu überprüfen und allenfalls zu berichtigen sich lohnen würde. Der jüngere Feierabend seinerseits unterhielt einen regen Briefverkehr, unter anderem mit dem Zürcher Geistlichen Johann Rudolf Schinz. Feierabend mag einer der wenigen Talleute gewesen sein, die sich mit aufklärerischen Gedanken beschäftigten. Etwa zur Zeit, als in Engelberg der Schulbau wiederholt abgelehnt wurde, beneidete Feierabend die Kinder Schinz’ um deren Ausbildung: „Wie oft habe ich schon gewünscht, das[s] ich auch fähig wäre meinen knaben eine solche angenehme, und doch lehrreiche Erziehung zu geben. Alles kömt auf eine gute bildung an.“ Vom jüngeren Feierabend ist auch eine kurze Darstellung des Engelberger Wirtschaftsund Alltagslebens erhalten, die hier schon mehrfach erwähnt wurde.474 Ein wichtiges Aufgabenfeld kam der Hebamme zu. Das Gericht setzte eine bzw. zwei amtliche Hebammen ein. Gleichwohl konnten auch andere Frauen mit gerichtlicher Erlaubnis den Dienst versehen. So musste sich die amtliche Hebamme Anna Töngi 1666 ihrer Konkurrentin Katharina Schleiss erwehren, weil diese „all zuo flissig dis [Amt] zuo verichten beger“. Die Gemeinde unterstützte die Hebamme im 18.  Jahrhundert mit Beiträgen aus dem Talsäckel und aus der Spend, d.h. der Armen- und Krankenkasse der Gemeinde. Die Gemeinde berappte auch die Gebärbzw. Kindbetterstühle, derer sich die Hebammen bedienten. Die Hebammen waren ferner vom Gericht berechtigt, Wasser zu brennen. Das war keine Selbstverständlichkeit angesichts der obrigkeitlichen Beschränkungen bezüglich der gebrannten

473 Vgl. ETP 4.54, 13.303, 14.190–193, 19.251–252, 20.154 und 20.157. 474 Vgl. den Brief Feierabends an Schinz vom 19.05.1782 in ZBZ Ms. Car. XV 164.4 sowie ZBZ Ms. Car. XV 155.

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Wasser. Hochgradige Geister dienten allerdings nicht nur als Genuss-, sondern eben auch als Heilmittel.475 Das Amt der Hebamme war beschwerlich und aufwendig. Hingebungsvoll widmete sich etwa Plazida Töngi ihrem Amt und unterstützte ärmere Kindbetterinnen sogar aus eigenen Mitteln. Auch regte Töngi beim Gericht eine bessere Unterstützung der mittellosen jungen Mütter an. Andererseits setzte sich Pfarrer und Kanzler Magnus Waser 1770 stark für eine Erhöhung des Hebammenlohnes ein und hielt das Gericht an, denen hebammen in betracht ihres beschwärlichen dienst[es] und wie dass sie oft bei armen und anderen leüthen ohne den gebührendten lohn bekommen zu mögen, tag und nacht, in ungemach, sudell, windt und wätter dienen und ihre zeit zur arbeit versaumen müessen, das wartgeld zu vermehren [...].

So bot 1790 Hebamme Maria Katharina Feierabend dem Gericht ihren Rücktritt an, weil „das sehr beschwärliche ambt über ihre kreften zu werden“ anfing. Zusammen mit ihrem Bruder Maurus Geni Feierabend, dem Scherer, hatte sie ein erfolgreiches Zweigespann gebildet, das sich mit Erfahrung und Hilfe gegenseitig unterstützte.476 Eine wichtige Aufgabe fiel auch der sogenannten Seelenmutter zu. Die Seelenmutter sorgte sich um das Beinhaus und war auch beauftragt, Gebete für die Verstorbenen zu beten. Bei Messstiftungen wurde die Seelenmutter gelegentlich mit einer Gabe bedacht. Auch die Pflege des Friedhofs war ihr aufgetragen, indem sie die Gräber „von allen ungebürlichen sachen zu reinigen“ hatte.477 Das abgegangene Vieh wurde in der Regel vom Wasenmeister ausgeweidet und vergraben. Die Entsorgung durch den Wasenmeister war sogar Pflicht, wenn das Vieh an einer Krankheit gestorben war oder die Verwesung bereits eingesetzt hatte. Die amtlich festgelegten Entsorgungsgebühren reichten von zehn Schilling für ein Kalb bis zu zwei Gulden für ein Pferd. Wer das Wasenmeisteramt versah, setzte sich der allgemeinen Verachtung der Talschaft aus. So hielt eine Verordnung von 1729 ausdrücklich fest, die Talleute hätten keine Schuldigkeit, den Wasenmeister weiter als bis zu seinem Haus (also nicht in seinem Haus) aufzusuchen. Als später die Sitzordnung der Kirche 1737 geändert wurde, erklärten die Talleute bestimmt, „man wolle den Wasenmeister [...] nit un475 Vgl. Blatter (2006b). 476 Vgl. u.a. ETP 3.52, 5.392, 11.148, 11.222, 11.436–438, 11.458, 14.154, 14.448–449, 16.391–392 und 19.8–9. 477 Vgl. ETP 16.164–165 und 16.183 sowie Hunkeler (1947: 43–44).

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ter- und bey sich leyden, gehöre ihme abgesöndert zu hinderst zu seyn“. Wasenmeister Sepp Waser musste das Gericht 1767 inständig bitten, „weilen ihne niemand behausen wolle, ihme holtz zu einem kleinen hauslin möchte begünstiget werden, damit er ein unterschlupf haben könne“.478 Aufgrund des Gesagten sei hier nochmals die Frage aufgeworfen, welches Ansehen den Lohnarbeitern im Hochtal zukam. Die Antwort muss auf jeden Fall differenziert ausfallen: Viele handwerkliche oder landwirtschaftliche Lohnarbeiten wurden keineswegs als grundsätzlich minderwertig angesehen. Andernfalls hätten sie Angehörige angesehener und teils vermögender Familien sicherlich nicht ausgeübt. Wer aber wie der Wasenmeister einem unehrlichen Beruf nachging, dem blieb eine allgemeine Geringschätzung nicht erspart. Ebenso bedeutsam ist die Tatsache, dass bei Handwerksstellen und Ämtern starke Familientraditionen bestanden. Diese Bindung war sicher wirtschaftlich zweckmässig: Kinder wuchsen mit dem Handwerk des Vaters oder eines nahen Verwandten wie selbstverständlich auf, ferner brauchten sie kein oder höchstens geringes Lehrgeld zu bezahlen. Die notwendigen Arbeitsgeräte waren vorhanden, die Zulieferer bekannt und das Kundennetz aufgebaut.479 Ein Handwerk oder ein Amt stiftete jedoch auch Identität. Dieser Umstand wird besonders deutlich bei den Rufnamen. In der Regel sprachen sich die Talleute nicht mit ihren blossen Taufnamen an – die in dieser Darstellung der Verständlichkeit halber verwendet werden –, sondern mit Rufnamen. Diese setzten sich meist aus einer kennzeichnenden Benennung und einem Namensglied des Taufnamens zusammen. Die häufigsten kennzeichnenden Benennungen waren der Name der Familienhofstatt (Bsp.: Hirmi-Klaus) oder eben die Berufsbezeichnung (Bsp.: WeberBabeli). Seltener dienten körperliche Eigenschaften (Bsp.: lahmer Sepp, roter Balzer) oder Altersbezeichnungen (Bsp.: alt Bot, uralt Bot) als kennzeichnende Beinamen. Oft reichte auch bloss die Berufsbezeichnung, die selbst nach Aufgabe der Tätigkeit beibehalten wurde. Ebenso blieb der Name der Familienhofstatt haften, auch wenn der Bezeichnete schon vor langer Zeit umgezogen war. Auf jeden Fall wirkte die traditionelle Tätigkeit einer Familie ebenso identitätsstiftend wie deren Familienhofstatt. Handwerksbezogene Angelegenheiten kommen in den Gerichts- und Verwaltungsakten regelmässig zur Sprache. Die Überlieferungsdichte ist jedoch um ein Vielfaches geringer als für den bäuerlichen Bereich. 478 Vgl. ETP 9.418, 9.435–436, 9.468–469, 11.193–194, 12.370–371, 13.223–224, 13.240–241, 13.397, 14.212, 14.287–288, 14.289–290 und 17.289–290. 479 Vgl. dazu auch Bertaux/Bertaux-Wiame (1988: 22).

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Ein Handwerk musste zunächst erlernt werden. Der Handwerksmeister und die Eltern bzw. der Vormund des Lehrlings vereinbarten nicht nur Dauer, Umfang und Kosten der Ausbildung, sondern teilten auch die Unterkunfts- und Verpflegungsspesen unter sich auf. Zu grösserer Sicherheit liess man ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Lehrverträge öfter fertigen, d.h. amtlich beglaubigen. Die erhaltenen Lehrverträge machen klar, welche Bedeutung einer handwerklichen Ausbildung beigemessen wurde. So wurde der 15-jährige Adam Marian Amrhein 1761 zu Schreinermeister Franz Sepp Ettlin nach Kerns in die Lehre gegeben, damit er „in dem schreinerhandtwerch innert zwei jahren so vill erlernen werde, dass er hernach wohl als gesell passieren und in diser profession sein stückhli brod verdinen könne“. Der Schreinermeister versprach in diesem Fall weiter, den Lehrling fleissig auf die Stör zu nehmen und ihm bei Lehrabschluss einen Lehrbrief auszustellen. Das Aufdingen (d.h. die Aufnahme des frischgebackenen Gesellen in die Zunft) und das Ledigsprechen, das meist mit einem Essen im Wirtshaus verbunden war, führten zu weiteren Kostenpunkten. So betrug das Lehrgeld im Fall des jungen Amrheins 55 Gulden. Dieselbe Schreinerlehre kostete 1763 den 16-jährigen Melcher Andres Dillier 70 Gulden. Sechs Gulden kamen für das Aufdingen hinzu, elf Gulden für das Ledigsprechen im Wirtshaus sowie 37 Gulden für Kleider und Notdurft. Insgesamt verursachte Dilliers Lehrzeit fast 125 Gulden Kosten. Ein solcher Betrag verdeutlicht, dass die Lehre eine beträchtliche Investition bedeutete. Das Gericht musste sich gelegentlich mit vorenthaltenen Lehrgeldern und abgebrochenen Lehren beschäftigten. So verweigerte 1676 Bernhard Töngi dem Webermeister seines Sohnes das vollständige Lehrgeld, weil „der Meister den Knab mit Spis nicht gehalten, das[s] man es hette erliden mögen“. In einem anderen Fall enthielt Alfons Kuster 1760 der Schneidermeisterin seiner Tochter den Lohn vor, weil „die frau das kindt nur zu anderer arbeit gebraucht, ihme nichts zeigt und die sachen hinderruckhs seiner gschnitten habe, und hab das kindt nur die magd müessen ausmachen“.480 Eine Familie konnte kaum allen Kindern eine Lehre bezahlen. Entsprechend musste ein Ausgleich zwischen den begünstigten und den benachteiligten Kindern gefunden werden. Dies konnte geschehen, indem die ungelehrten Nachkommen beim Erbgang bevorzugt wurden. In anderen Fällen wurden die ausgebildeten Geschwister dazu angehalten, ihren übrigen Geschwistern das Handwerk zu lehren und sie „darmit in standt [zu] setzen, sich ohne fernere beschwerdt der anderen geschwister zu erhalten“. Eltern und ihre Nachkommen arbeiteten wohl regelmässig zusammen, wenn sie dasselbe Handwerk teilten. Eine fliessende Geschäftsübergabe lag im Vorteil al480 Vgl. u.a. ETP 3.142, 4.27–28, 9.369–370, 11.562–564, 13.155, 13.221–222, 13.320– 321, 14.43–44, 14.136–137, 15.217–218 und 15.239–240.

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ler Beteiligten. So arbeitete Schuhmacher Sepp Benedikt Hurschler (1744–1815) lange Jahre für seinen Vater Sepp Geni Hurschler (1718–1786). Der Sohn verzichtete auf eine andere Anstellung, weil der Vater wegen schlechter Augensicht und vieler Aufträge die Arbeit nicht alleine bewältigen konnte. Beim Tod des Vaters betrachtete sich der Sohn als natürlichen Nachfolger des Vaters und erhob gegenüber seinen Geschwistern Anspruch auf den Schusterladen. Der Schuhmacher hätte sein Ziel wohl erreicht, wenn er es nicht unterlassen hätte, seinen Besitzanspruch durch den Vater verbriefen zu lassen.481 Handwerksaufträge wurden nur in seltenen Fällen amtlich eingetragen. So verpflichtete sich Baumeister Franz Ignaz Kuster 1755 gegenüber zwei Talleuten zum Bau eines fertigen Hauses. Der Vertrag wurde – wohl der Bausumme von 220 Gulden wegen – amtlich eingetragen. Genaue Vorgaben regelten die Gestaltung des neuen Hauses: Zudem bezeichneten die Bauherren im Vertrag ein bestimmtes, bereits bestehendes Haus als Vorbild für den Neubau. Lediglich um den Ofen und die Türschlösser wollte sich der Baumeister nicht selbst kümmern.482 In den meisten Fällen reichten persönliche Vereinbarungen aus, zumal die Auftragssumme selten so hoch war wie im genannten Beispiel. Dank eines Gerichtsfalles von 1761 lässt sich ziemlich genau rekonstruieren, wie Handwerksaufträge gewöhnlich vergeben wurden. Auftraggeber und Handwerker einigten sich im sogenannten Verding über die zu erbringende Leistung und die entsprechenden Spesen. Auch die Höhe des Trinkgeldes, das der Auftraggeber dem Handwerker üblicherweise schuldete, wurde bei dieser Gelegenheit vereinbart. Das Verding wurde mündlich und in Gegenwart von Zeugen geschlossen. Schriftliche Unterlagen hatten dabei eher notizhaften als verbindlichen Charakter.483 Wenn später Auftraggeber und Handwerker in Streit gerieten, kamen vermutlich gewohnheitsmässige Schlichtungsverfahren zur Anwendung. Gerichtliche Auseinandersetzungen waren jedenfalls selten und betrafen meist nur kostspielige Bauarbeiten.484 Die herrschaftliche Kanzlei stellte einheimischen Handwerkern regelmässig Wohlverhaltensscheine, Arbeitszeugnisse und Reisepässe aus. Diese Empfehlungsschreiben erinnern daran, dass sich Handwerker durch eine erhöhte Mobilität auszeichneten. Das galt sicher für die frischgebackenen Gesellen, die nach abgeschlossener Lehre auf die Walz (d.h. auf Wanderschaft) gingen. So zog Melcher Sepp Müller 1773 nach abgeschlossener Schusterlehre talauswärts, um „sein glückh und mit sol481 Vgl. ETP 16.540–544, 16.550–552 und 17.537–539. 482 Vgl. ETP 13.57 sowie Huwyler (1993: 96). 483 Vgl. ETP 14.155–156 und 14.167–168. 484 Vgl. ETP 4.88, 4.183 und 7.582–583.

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chem seinem handtwerckh sein stuckh brod zu suechen“. Wenn ein bestimmter Auftrag lockte, zogen auch gestandene Handwerker für gewisse Zeit aus dem Hochtal: So machte sich 1795 der vielseitige Niklaus Waser – er war zugleich Küfer, Kaminfeger und Dachdecker – rasch auf den Weg nach Weggis, als der dortige Kirchturm frisch gedeckt werden musste. Auch Dachdecker Joachim Töngi hatte ein halbes Jahrhundert zuvor talauswärts im Bernbiet gearbeitet. Auf der Suche nach neuen Aufträgen erlitt Töngi 1747 jedoch einiges Ungemach, weil ein anderer Talmann aus Missgunst das Gerücht verbreitete, Töngi habe im Bernbiet schlechte Arbeit geleistet. Mit Hilfe amtlicher Empfehlungsschreiben suchte sich Töngi der Rufschädigung zu erwehren. Manchmal wurden Arbeitsreisen gruppenweise unternommen: So zog Hans Melcher Kuster 1745 gleich mit drei Verwandten ins Wallis, um dort der Handarbeit nachzugehen. Eine bemerkenswerte Arbeitsreise unternahmen auch der Schreiner Adam Marian Amrhein und der spätere Seidenmeister Joachim Sepp Kuster: Sie zogen 1779 als »veichspfläg verständige« in den Dienst der kroatischen Adelsfamilie Sermage aus Varaždin, wo bereits ein anderer, ungenannter Talmann aus Engelberg seine Dienste leistete.485 Umgekehrt hielten sich im Hochtal oft auswärtige Handwerker auf, die meist für das Kloster arbeiteten. Auswärtige Handwerker waren besonders für das Kunsthandwerk gefragt, aber auch andere Handwerksstellen wurden mit Auswärtigen besetzt. Offenbar war mehr Arbeit vorhanden als einheimische Arbeitskräfte. Die fremden Gastarbeiter bildeten einen festen Bestandteil der örtlichen Gesellschaft. Eingewanderte Arbeitskräfte arbeiteten nicht nur im Handwerk, sondern auch im landwirtschaftlichen Bereich. Einige Einwanderer heirateten sich ein und wurden im Hochtal sesshaft. Zwei bedeutende Engelberger Geschlechter, die Cattani und die Hess, gehen auf diese frühneuzeitliche Arbeitseinwanderung zurück.

2.2.3 Dienstboten und Tagelöhner Dienstboten und Tagelöhner stellten im Hochtal – anders als Handwerker – keinen eigenen Berufsstand dar. Es fehlte an grösseren Betrieben, die einen dauerhaften Bedarf an Hilfskräften aufgewiesen hätten. War ein bäuerlicher Betrieb bzw. Haushalt vorübergehend auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen, wurden Knechte und Mägde in einem meist kurzfristigen, leicht kündbaren Anstellungsverhältnis verpflichtet. Als Dienstboten arbeiteten nicht selten junge Frauen und Männer, die sich dabei (oft schrittweise) von ihrem Elternhaus abkoppelten. Tagelöhner wurden 485 Vgl. u.a. ETP 12.220, 12.276–277, 12.284, 12.316, 15.119, 15.360, 17.200–201, 20.164 und 20.170.

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gewöhnlich für Gelegenheitsarbeiten gedingt, die ihnen einen willkommenen Nebenerwerb bescherten. Die Geissbuben waren die Jungknechte schlechthin. Gewöhnlich wurden sie von einem bzw. mehreren Bauern zur Hut des Schmalviehs angestellt. Während das teure und empfindliche Grossvieh von Jugendlichen oder Erwachsenen besorgt und gehütet wurde, kümmerten sich üblicherweise junge Knaben um die Hut des Schmalviehs. Auch junge Mädchen arbeiteten gelegentlich als Geisshirtinnen.486 Die Kinder verrichteten als Geisshirten meist zum ersten Mal in ihrem Leben eine selbständige Arbeit. Die Hut des Schmalviehs bedeutete den Eintritt der jungen Menschen in die bäuerliche Arbeitswelt und Lohnarbeit. Die jungen Geisshirten erlernten bei ihrer Arbeit nicht nur den richtigen Umgang mit dem Vieh. Sie begegneten bei ihrer Tätigkeit auch den vielschichtigen Regeln, welche die Bewirtschaftung von Alpen, Talgütern und Allmend bestimmten. Sie mussten sich die verwinkelten Marchverläufe des Hochtals merken, damit sie ihre Herden nicht auf fremden Grund trieben und schlimme Schelten der geschädigten Landbesitzer gewahren mussten. Auf den Alpen mussten sie den Unterschied zwischen Gemeinberg, Kuhweide und Wildheugebieten aus ähnlichen Gründen rasch erfassen. Die Geisshirten mussten sich ferner Kenntnisse über das bestehende Wegnetz und dessen abgestufte Nutzungsrechte aneignen. Der Auftrieb und der Weidgang setzten ihrerseits Kenntnisse über Witterungs- und Schneeverhältnisse voraus. Das Erkennen der Wetterzeichen mussten sich die Geisshirten von den Älteren erläutern lassen. Weidepläne mussten befolgt bzw. erstellt werden, Schneefluchtrechte hinreichend bekannt sein. Wenn die Geisshirten ihre Herden daran hindern mussten, heranwachsende Grotzen abzuätzen, kamen sie erstmals mit dem Waldschutz in Berührung. Weiter mussten sie wissen, wo und wann sie ihre Herden tränken durften. Auf den Ätzweiden selbst mussten sie das ihnen anvertraute Vieh von fremdem Vieh unterscheiden lernen. Andere Herden bedeuteten auch andere Geisshirten: Auch hier musste die Zusammenarbeit mit anderen eingeübt werden. So führte die Geissenhut die jungen Hirtenkinder schrittweise in die Arbeitswelt der Erwachsenen ein. Der Hirtendienst verschaffte den Kindern selbst einen Einblick ins Gerichtswesen. Schadenersatz wurde von den Geisshirten bzw. deren Bauern gefordert, wenn die Geissen auf fremden Grundstücken geätzt oder Steinschläge ausgelöst und dadurch anderes Vieh verletzt hatten. Wenn ein Bauer den Hirtenlohn verweigerte, mussten die Geisshirten bzw. deren Rechtsvertreter diesen gerichtlich einfordern. Wenn aber einem Geissbub eine mangelhafte Hut nachgewiesen werden konnte, musste der junge Hirt eine entsprechende Strafe gewärtigen. So mussten sich einige Geissbuben 1692 vor Gericht verantworten, weil sie ihre Herden schlecht gehütet 486 Vgl. etwa ETP 5.180–184.

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und einigen Unfug auf den Alpen getrieben hatten. Das Gericht entschied, die jungen Hirten nach dem sonntäglichen Hochamt in die Trülle zu stecken, liess aber eine Begnadigung durch den Abt offen.487 Die Geissbuben mussten schliesslich vor den Gnädigen Herrn treten, der ihnen die angedrohte Strafe »nach kräftigem Zusprechen« erliess. Abt und Gericht sorgten sich um das Wohlergehen der Geisshirten in besonderer Weise. Alle Talleute, die das 22. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, mussten an der sonntäglichen Kinder- bzw. Christenlehre teilnehmen. Ein obrigkeitliches Mandat von 1769 erinnerte an diese Erziehungspflicht, nahm aber zugleich jene aus, „welche unentpärlich etwan zu summerszeit in denen alpen zuo hüötung des viechs oder sonst nötig seynd“. Bezüglich der Geissbuben ordnete das Mandat jedoch an: Die geiss- und schafbuoben aber – als welche solcher christlichen underweisung oft am allerbedürftigisten seind, müessen und sollen alle sontäg, wo kinderlehr ist, darbey seyn, und hiermit bey annemung ihres dienstlins entweder die sontäg ausdingen oder andere zum geisshüetten bestellen.

Geisshirten, die der Kinderlehre fernblieben, wurden vom Gericht ebenso gebüsst wie die Bauern, in deren Dienst die jungen Menschen standen. Der Dienst als Geisshirt prägte sich in der Erinnerung vieler Talleute ein. Selbst Greise erinnerten sich an ihre Zeit als Geisshirt bzw. hegten davon genaue Vorstellungen. Man begegnet diesen Erinnerungen in Kundschaftsberichten, die das Gericht bei unklaren Marchverläufen einholte. Bei solchen Anlässen berichteten gestandene Männer und Frauen davon, wessen Geissen sie vor vielen Jahrzehnten auf welchen Wegen und auf welche Weiden getrieben hatten. Sie erinnerten sich, wem sie auf ihren Gängen begegnet und welche Gespräche sie dabei geführt hatten. Die Namen längst verstorbener Bauern wurden dabei aufgezählt, aber auch die Namen verstorbener Gefährten, die zur selben Zeit im Hirtendienst gestanden waren. Die Erinnerung an den Hirtendienst verschmolz geradezu mit der Erinnerung an die Kindheit und frühen Jugendjahre. Sehnsüchtig blickte etwa der alternde Kaspar Kuster um 1681 auf seine Zeit als junger Älpler zurück. Den nahen Tod vor Augen erklärte er, es „werde ihm nit mehr so manchen Schnee uf die Nasen schneyen als uf die Blanggen“, auf die Hochstafel also, wo er viele Jahre gewirkt hatte.488 487 Die Trülle war vermutlich beim Halseisen aufgerichtet. Das Strafgerät war aus einem Käfig gebildet, das sich um seine eigene Achse drehen liess. Die Trülle wurde wohl um 1661 erbaut, vgl. ETP 2b.657. Wer zur Trüllenstrafe verurteilt wurde, musste in den meisten Fällen nicht in die Trülle steigen, sondern neben ihr stehen. 488 Zum Dienst der Geisshirten vgl. ETP 2b.18–20, 2b.66–70, 2b.566–568, 4.113–114, 4.192, 4.325, 4.480–481, 4.490–491, 5.174–178, 5.180–184, 5.221–228, 14.41, 14.104–105, 14.165–166, 14.385–388, 16.140–142, 17.446–449 und 19.52–54. Ein

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Die frühen Jugendjahre zeichneten sich durch fliessende Übergänge aus. Ein gutes Beispiel dafür mag die Lebensgeschichte Andres Wasers sein, die ins frühe 17. Jahrhundert führt. Wasers Kindheit war nicht unter einem guten Stern gestanden: Früh musste er seine Eltern verloren haben, niemand wollte sich zunächst seiner annehmen. Ammann Balzer Dillier, wohl ein Verwandter Wasers, kümmerte sich schliesslich um den Jungen. Ungefähr als Achtjähriger hütete Waser bereits mit anderen jungen Burschen Schmalvieh. Es folgten während Jahren kleinere Anstellungen: Waser arbeitete über den Winter bei diesem Bauern, über den Sommer bei jenem Bauern. Manchmal diente er um Speise und Kleidung, in anderen Fällen erhielt er einen kleinen Lohn dazu. Als Zehnjähriger arbeitete er auf der Alp Fürren als Handknabe, eine Arbeit, die er während mehrerer Alpsommer versah. Als Vierzehnjähriger wechselte Waser die Stelle und arbeitete für einen anderen Bauern als Heuer. Der Bauer hatte Freude an seinem fleissigen Heuer und bemerkte später, er „hette ihn gern mehr gehabtt, hab im wol gefallen“. Doch Waser zog es zur nächsten Anstellung als Säumerknecht. Auch in diesem Amt diente er mehreren Bauern und reiste dabei gelegentlich nach Luzern. Die fremde Luft lockte Waser, und er brach in Richtung Welschland auf. Später wusste allerdings niemand genau, wie weit ihn seine Reise in den Süden geführt hatte. Wahrscheinlich fand Waser nach seiner Rückkehr eine Anstellung als Stallknecht des Klosters. Der Abt erinnerte sich an seinen ehemaligen Knecht und daran, dass er bald danach zu einem Handwerk gekommen war. Später heiratete Waser, wobei seine Frau und er selbst zunächst für zwei Jahre bei seinem Pflegevater Balzer Dillier im Dienst waren. Andres Wasers Lebensgeschichte ist gewiss nur ein einzelnes Beispiel, das einem glücklichen Überlieferungszufall zu verdanken ist. Gleichwohl mag es veranschaulichen, wie veränderlich und fliessend die Beschäftigungsweisen eines Jugendlichen sein konnten. Das Glück war Waser zwar als Waisenkind nicht in die Wiege gelegt worden: Trotz schlechter Karten hatte er aber einigermassen glücklich gespielt und sich geschickt einen Weg durchs Leben und zur Hochzeit gebahnt. Innert einiger Jahre war Waser in abwechselnder Reihenfolge Hirt, Handknabe, Heuer, Knecht, Säumer und Handwerker gewesen. Gelegenheitsarbeiten wechselten sich mit kürzeren und längeren Anstellungen ab. Während sich der Arbeitskreis zunächst auf das Hochtal beschränkte, zog es Waser allmählich talauswärts bis ins Welschland. Auf den Aufenthalt in der Fremde folgte schliesslich die Rückkehr in die Heimat.489 Knechte und Mägde dienten um Speise, Bekleidung und/oder Gehalt. Die Lohngestaltung hing von verschiedenen Bedingungen ab, etwa von der Anstellungsdauer, eindrücklicher Erlebnisbericht eines Geissbuben aus jüngerer Zeit ist jener Franz Odermatts, dessen Dienstzeit in die 1940er Jahre fiel, vgl. Hess u.a. (2001: 94–103). 489 Vgl. ETP 2b.66–70.

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dem Dienstalter, dem Arbeitsaufwand, der erforderlichen Ausbildung und Erfahrung, der unterschiedlichen Einbindung in den Haushalt des Arbeitsgebers usw. Speise und Bekleidung waren gewöhnlich im Lohn inbegriffen, wenn jemand als Gesindekraft in den Haushalt des Arbeitgebers eingebunden war. Gelegentlich war schlechtes Essen für das Gesinde Grund genug, die Stelle zu wechseln. So gab Plazi Geni Hurschler 1783 seine Knechtsstelle im Eggli auf, weil ihm dauernd Cholermues (eine Mehl- und Eierspeise) und versalzener Käse aufgetischt wurde. Selbst ein Beingebrechen führte der verdrossene Knecht auf die mangelhafte Verköstigung zurück.490 In anderen Fällen musste das Gesinde seine Verpflegung selbst mit einem Tischgeld bezahlen oder eine entsprechende Gehaltskürzung hinnehmen. Die Regelung der Verköstigung war ein wichtiger Bestandteil des Verdings, das Arbeitgeber und Gesindekraft miteinander schlossen. Das Gericht musste sich regelmässig mit nachträglichen Streitigkeiten um verweigerte Tischgelder oder umstrittene Gehaltskürzungen befassen. Es galt ferner als ungebührlich, dass ein Vormund ein Mündelkind beschäftigte und von diesem dabei ein Tischgeld forderte. Wer andererseits Tischgeld bezahlte, war weniger einfach zur Arbeit anzuhalten: So verschwieg Bernhard Töngi 1668 seinem Handknaben, dass man für ihn ein Tischgeld bezahlte, „damit er nit ful und träg sie zur arbeit“.491 Es war nicht ungewöhnlich, dass man sich in eine gute Gesindestelle einkaufte. So trat die 19-jährige Maria Emerenzia Töngi 1764 eine Magdstelle in Gersau an, wobei ihre Verwandten sieben Gulden für die Jahresverpflegung bezahlten. Die junge Magd fasste in der Fremde Fuss und fand später einen Ehemann aus dem nahegelegenen Steinerberg. Im selben Jahr wurde auch die elfjährige Vollwaise Katharina Waser in einen fremden Haushalt gegeben: Ihre Geschwister verpflichteten sich, jährlich 23 Gulden Unterhaltskosten zu bezahlen. Auch Katharina fand später einen Ehemann und übernahm mit ihm einen Hof in Buochs.492 Erfahrene Knechte und Mägde traten gegenüber ihrem Arbeitgeber selbstbewusst auf. Dies zeigte sich bereits bei den Lohnverhandlungen. So reiste Jakob Waser um 1642 nach Weggis, um Zinsvieh zu besorgen. Vor Ort traf Waser auf Kaspar Widmer, der ihm sogleich seine Knechtsdienste anbot. Widmer verlangte für seine Dienste 21 Kronen und vier Schuhpaare, die er als Schuhmacher selbst herzustellen versprach. Beide Parteien feilschten noch eine ganze Weile um den Knechtslohn, bis das endgültige Verding in Engelberg zustande kam. Ein aufschlussreiches Beispiel 490 Vgl. ETP 16.361–363. 491 Vgl. ETP 2b.664, 3.71–72 und 3.99–105. 492 Vgl. ETP 13.272 und 13.291, ferner die entsprechenden Stellen in den StB Töngi und Waser.

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findet sich auch 1764, als die Hofstatt Heg den Besitzer wechselte. Der Verkäufer Ignaz Hess verpflichtete den Käufer Ignaz Hurschler, dass er Knecht und Magd zu ihrer Zufriedenheit weiter beschäftigen solle. Der Knecht Hans Hurschler verlangte darauf von seinem neuen Arbeitgeber eine Lohnerhöhung. Als sich dieser nicht einverstanden gab, erklärte der Knecht kurzerhand, „wann er nit woll besser nachen stah, so bleib er nit bei ihm“. Der Knecht klagte daraufhin gegen den neuen Besitzer und erhielt vom Gericht eine Entschädigung zugesprochen.493 Wer eine Knechtsstelle in Aussicht stellte, tat gut daran, dem Angeworbenen keine kurzfristige Absage zu erteilen. Die enttäuschten Knechte wussten sich zu wehren und klagten auf Schadenersatz, weil sie eine andere Stelle bereits abgesagt hatten und innert so kurzer Zeit nicht eine neue Stelle finden konnten.494 Manche Knechte und Mägde kündigten vorzeitig ihre Stelle auf, wenn sie mit der Anstellung unzufrieden oder einen besseren Verdienst fanden.495 Wer hingegen mit seinem Dienst zufrieden war, blieb längere Zeit bei seinem Arbeitgeber und bemühte sich, in der Rangfolge des Gesindes aufzusteigen. So schaute Franz Müller 1709 bereits auf einen fünfjährigen Dienst als Klosterknecht zurück. Müller berichtete zu seinem Gehalt, er habe das erste Jahr nur fünf Gulden erhalten, im zweiten jedoch bereits eine Dublone „und so fortan mehrers“. Selbstsicher fügte Müller an, es werde auch sein „Senn ab ihme nit klagen, das[s] er sein Arbeith nit recht verrichtet habe“. Wieviel ein angesehener und erfahrener Knecht bzw. Senn verdienen konnte, macht das Beispiel Andres Kusters 1692 deutlich: Kuster brachte jährlich nicht weniger als 80 Gulden (!) Lohn in seinen Haushalt. Wer das Vertrauen seines Arbeitgebers erwarb, durfte auf mehr Selbständigkeit und Verantwortung hoffen. So wurden manche Knechte von ihrem Bauern mit auswärtigen Viehgeschäften beauftragt. Mägde übernahmen in Witwerhaushalten die Rolle der Haushälterin. Eine solche Stellung errang sich etwa die Magd Anna Maria Waser, die um 1746 Hans Geni Häcki, dem Besitzer der Bäch, diente. Häcki hatte mit seinem Bruder Andres eine geschäftliche Abmachung getroffen, von der die Magd nicht viel hielt. Die Magd geriet darauf in Streit mit dem Bruder ihres Arbeitgebers. Andres Häcki berichtete später davon, „das meitli hab gesagt, er Andres habe gesucht, den Eügeni um das seinige z’bringen. Daraufhin habe er es gescholten, es seye verlogen, darauf das meitli, er seye verlogen“. Aufgebracht fügte Häcki an, die Magd verhalte sich geradezu wie der Vormund seines Bruders!496 Wer eine Gesindekraft vorzeitig entliess, musste dafür gute und belegbare Gründe haben. Manche Fälle waren klar, so etwa jener des Säumerknechts Hans 493 Vgl. 2b.397–398 und 14.243. 494 Vgl. ETP 2a.12, 3.99–105 und 14.97–98. 495 Vgl. ETP 2b.161 und 14.143–144. 496 Vgl. ETP 4.330–332, 5.148–150, 2b.425–427 und 11.482–488.

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Kaspar Waser. Dieser hatte 1757 Saumwaren entwendet, bei der Arbeit geschlafen, krankes Vieh nicht gepflegt, andere Knechte nicht unterstützt und sogar mit Fluchsprüchen angegriffen. Ähnliches Ungemach erlitt 1763 Talsäumer Hans Zniderist mit seinem Knecht Anton Infanger. Infanger hatte sich nach Zniderists Aussagen ungehorsam, nachlässig und geschäftsschädigend verhalten. Als der Talsäumer den Knecht gegen seinen Willen behalten wollte, schädigte ihn Infanger auf hinterlistige Weise. Zniderist liess seinen Knecht schliesslich gehen, denn „sonsten hätte er müessen zugrundt gehn“. Das Gericht zeigte in diesen beiden Fällen Verständnis für die Anliegen der Dienstherren. Es schützte jedoch auch die Rechte des Gesindes, wenn sich die Klagen der Dienstherren nicht erhärten liessen. So verweigerte 1672 Melcher Amrhein seinem Alpknecht Hans Jakob Waser die Auszahlung seines Lohnes, weil er einen Käsekessel beschädigt, den Haushalt unsauber geführt, krankes Vieh nicht gepflegt und Käse verbrüht hätte. Die Besichtigung der Käse und die Aufnahme von Kundschaft bestätigten jedoch Amrheins Beschuldigungen in keiner Weise, so dass das Gericht die Auszahlung des Lohnes anordnete.497 Streitigkeiten zwischen Dienstherren und Knechten endeten gelegentlich vor Gericht, wobei manche Auseinandersetzungen ziemlich heftig ausfielen. So gerieten sich Melcher Hurschler und sein Knecht Kaspar Waser 1667 vor Gericht derart in die Haare, dass sie „zangget [gezankt] als hetten sie verdient in den thurn geworffen zuo werden“. Weitläufige Rechtstreitigkeiten suchte das Gericht zu vermeiden. So legten die Gerichtsherren 1648 Hans Kuster nahe, er möge seinen Walliser Knecht nicht wegen einer blossen Uneinigkeit entlassen. Sie gaben ihm zu bedenken, dass sich daraus ein weitläufiger Rechtsstreit ergeben könnte.498 Manche übernahmen eine Gesindestelle auf der Hofstatt der Eltern. So hatte Hans Häcki in der Mitte des 17. Jahrhunderts seinem Vater Bernhardin lange Jahre als Knecht beim Heuen, Hirten und Holzen gedient. Der Regelfall scheint der Gesindedienst im elterlichen Haushalt nicht gewesen zu sein. Das häusliche Leben war nicht unbedingt, was die heranwachsenden jungen Männer und Frauen suchten. So wollte einmal Melcher Dillier die Hofstatt Widerwäll aufkaufen und sie seinem Sohn Jörg übergeben. Davon aber hielt der Sohn nicht viel, der später darüber berichtete:499 Er, Georg, demme es [das Widerwäll] der Vatter antragen, hab noch kein Frauw ghabt, undt kein Lust darzuo. Der Vatter hab ihmme wollen Dorothe Firabet geben, die er nit gwolt. So

497 Vgl. ETP 2b.489–490, 3.194–195, 3.236, 3.246, 14.76–79, 14.97–98 und 14.201– 203. 498 Vgl. ETP 3.71–72 und 2b.489–490. 499 Vgl. ETP 4.74.

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hab der Vatter ihm das Widerwehl grüömbt mit dem Anzeigen, es ghöri gar ein schön Stuck Waldt zuo dem Widerwehl, es sie auch etwas.

Jörg Dillier bekam also eine stattliche Hofstatt und eine Heirat versprochen, doch er lehnte ab. Was Dillier genau dazu bewegte, ist nicht bekannt. In vielen Fällen schien jedenfalls der Gesindedienst eine willkommene Möglichkeit zu bieten, das Elternhaus zu verlassen und einen ersten Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. So besassen Jugendliche in aller Regel ein Wohnrecht im Elternhaus, auch wenn ein anderes Geschwister den Hof bereits übernommen hatte. Wollten sie jedoch das Haus für eine auswärtige Gesindestelle verlassen und ihr Glück „weiters und anderstwo“ suchen, stand ihnen der jährliche Zins ihres Erbteils zu. Die Verbriefung dieses Rechts lässt darauf schliessen, dass Jugendliche nicht selten davon Gebrauch machten.500 Auswärtige Gesindedienste sind leider schlecht belegt. Gelegentliche Empfehlungsschreiben sind nur spärlich überliefert.501 Auch die Volkszählungen geben wenig Aufschluss darüber, wie viele Talleute ausserhalb des Tals im Dienst standen. So vermerkte die Volkszählung von 1709, dass sich damals 16 Jünglinge und 24 Jungfrauen ausserhalb des Tals befanden.502 Bei den Jünglingen waren die Handwerkergesellen und Soldaten eingerechnet, so dass sich die Zahl der Knechte schwer abschätzen lässt. Die Angabe zu den Jungfrauen lässt hingegen erahnen, wie regelmässig junge Engelbergerinnen auswärts eine Magdstelle antraten. Die Steuerliste von 1769 enthält ein Verzeichnis jener (steuerpflichtigen) Talleute, die sich damals diensthalber ausserhalb des Tals befanden. Ihr jeweiliger Aufenthaltsort wurde – sofern bekannt – zusätzlich vermerkt. Die Mehrheit der Abwesenden hielt sich im Gebiet der Waldstätten auf, viele davon »in Diensten«. Das Verzeichnis gibt leider in vielen Fällen keine Auskunft darüber, ob sich die Ausgezogenen nur zeitweilig oder endgültig ausserhalb des Tals niedergelassen hatten. Der Vermerk »in Diensten« liess eine mögliche Rückkehr offen, hingegen zeigten die Vermerke »ausgehaust« oder »verheiratet« einen dauerhaften Auszug an. Das Wanderungsverhalten der jungen Engelbergerinnen lässt sich noch auf eine weitere Weise rekonstruieren. Wer im 17. und 18. Jahrhundert eine Heirat ins Auge fasste, musste über ein bestimmtes Vermögen verfügen. Wer unbemittelt heiratete, musste mit dem Verlust seines Land- bzw. Talrechts rechnen. Auch wer einen auswärtigen Partner heiraten wollte, der nicht über ausreichend Vermögen verfügte, 500 Vgl. ETP 8.84–85 und 12.83–84. 501 Vgl. ETP 13.161 und 13.303–304. 502 Vgl. das Steuerrodel von 1769 im Gemeindearchiv Engelberg sowie die Volkszählung von 1709 im Pfarrbuch.

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musste den Entzug seines Land- bzw. Talrechts gewärtigen. Da Paare meist in das Land- bzw. Talrecht des Mannes traten, mussten die künftigen Ehefrauen ein entsprechendes Frauengut ausweisen. So kam es oft vor, dass die herrschaftliche Kanzlei ausgewanderten Engelbergerinnen solche Bescheinigungen ausstellte. So erhielt die 27-jährige Maria Anna Katharina Waser 1774 eine solche Bescheinigung, um Peter Anton Bissig aus dem urnerischen Unterschächen zu heiraten. Waser hatte zuvor vier Jahre als Magd beim Kaplan von Unterschächen gedient.503 Der Kaplan hatte eine solche zufridenheit wegen ihrem wohlverhalten und danachen sich in der gemeindt erworbenes allgemeine lob, zu tag gelegt, dass er [...] sich dahin gutmütigest geeüsseret, dass er in ansechung der ihme von diser seiner magt getreüwest geleisteter guter dinsten und von wegen ihres wohlverhaltens sich entschlossen hätte, derselben die 300 gl [Gulden] als ihro nothwenidges heürathgut vorzustrechen.

Die ausgestellten Vermögensscheine sind einerseits wertvoll, weil sie die vermutlichen Dienstorte der jungen Engelbergerinnen anzeigen: Meist befanden sich diese erwartungsgemäss in den Waldstätten. Der eben geschilderte Fall Wasers verdeutlicht andererseits, dass der auswärtige Gesindedienst viele Chancen bot: Der Auszug aus dem Tal bedeutete eine allmähliche Loslösung vom Elternhaus, verschaffte einen grösseren Spielraum, erweiterte den Lebens- und Erfahrungshorizont, erlaubte den Aufbau neuer Beziehungen, liess Freundschaften schliessen und erhöhte nicht zuletzt die Chancen, einen geeigneten Ehepartner zu finden.504 Man kann auch vermuten, dass Engelberger Talleute, die sich ausserhalb des Tals niederliessen, den Nachzug weiterer Talleute begünstigten. Die ausgezogenen Männer und Frauen nutzten gelegentlich den Gesindedienst, um sich mit ihrem Lohn ein gewisses Vermögen zu ersparen. So hatte sich die 34-jährige Maria Katharina Benedikta Kuster 1772 ein bares Vermögen von 81 Gulden erspart, bevor sie einige Zeit später einen Gersauer Landmann heiratete. Knechte ihrerseits konnten bei ihrer Rückkehr ins Hochtal eigenes Vieh kaufen bzw. pachten und als Sennen ihr Brot verdienen.505

503 Vgl. ETP 15.484–486. Die überlieferten Vermögensscheine sind hier – ihrer grossen Anzahl wegen – nicht einzeln aufgeführt. 504 Vgl. dazu die unübertroffenen Ausführungen von Mitterauer (1985: 199–203). 505 Vgl. ETP 15.313–314. Zur Sitte der Knechte, während ihrer Dienstzeit ein Vermögen zu ersparen, vgl. Stalder (1797: 77–78), der über die Verhältnisse im Entlebuch berichtet: „Dann, wann er [der Entlebucher Senn] ein Kapitälchen zurückgelegt, kehrt er wieder seiner alten Heimath zu, kauft sich eine kleine Heerde und ein Weibchen, vermehrt durch fremde Zulage seinen Wohlstand, und theilt im Schoos einer gesunden Nachkommenschaft die Früchte seiner jugendlichen Sparsamkeit gutwillig und froh mit.“

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Junge Frauen und Männer nahmen oft Dienstbotenstellen ausserhalb des Elternhauses an. Die Loslösung von der eigenen Familie geschah stufenweise, indem sich auswärtige Anstellungen mit der Rückkehr ins Elternhaus abwechselten. Mit zunehmendem Alter nahmen allerdings Anstellungsdauer und Entfernung des Dienstortes zu: Der Lebens- und Erfahrungshorizont weitete sich schrittweise aus. Die Heirat bedeutete eine weitere Entwicklungsstufe, nicht aber den Abschluss dieser allmählichen Verselbständigung.506 Die zeitweilige Arbeitswanderung der Jugendlichen bedeutete einen wichtigen Schritt in der Entwicklung zur Mündigkeit. So stellte die jugendliche Arbeitswanderung auch einen Übergangsritus dar, eine Schwellenzeit zum Erwachsenwerden.507 Ein wichtiger Bestandteil dieser Übergangszeit bildete auch die sexuelle Reifung. Mit der Dienstzeit wurden die Beziehungen zum anderen Geschlecht ausgeprägter. Die (immer relative) Entfernung von den Eltern begünstigte den Umgang zwischen jungen Frauen und Männern. Man nehme das Beispiel der jungen Katharina Hurschler, die um 1771 in einem fremden Haushalt diente. Die Hausherrin Katharina Amstutz entliess Hurschler bald nach ihrer Anstellung und begründete ihren Entscheid so: 508 Dieweilen aber sie das meidtli aus eigener schuld fortschickhen müessen, indemme es die nachtbuoben nachen genommen, zum fenster innen schleüsen, sogar einen bei sich auf dem bett liggen lassen und dort verborgen, auch ihr der frauwen dise nachbuoben die kleider über ein haufen geworfen, thumult und lährmen angestelt, dass sie und der mann kein ruhe haben könne, auch ihns [Katharina Hurschler] noch nit austruckhlich morgen des fortgeschickht, sonder nur fort zu schicken getrohet, wann es mer die nachbuoben innen lasse. Worauf es aber den kopf aufgeworfen und von selbsten gegangen.

Das Gericht musste sich mit solchen jugendlichen Zusammenkünften regelmässig beschäftigen. Das Jungvolk verbrachte die Abende gerne unter sich, wobei sich auch Knechte und Mägde dazugesellten. Man traf sich an öffentlichen und privaten Festen und Tanzanlässen oder verbrachte den Abend bzw. die Nacht im engeren Rahmen. In den Hausstuben wurden nähere Bekanntschaften geschlossen. Erst recht

506 Vgl. Tilly (1978: 52), Mitterauer (1985: 199–200), Mitterauer (1990), Schlumbohm (1996: 93), Fertig (2000a: 95–97), Van Poppel/Oris (2004: 5) und Viazzo u. a. (2005). 507 Vgl. Baud (1994: 91–92), der damit den Begriff der »rites de passage« aufnahm, den 1909 Arnold van Gennep in seiner berühmten Arbeit eingeführt hatte. 508 Vgl. ETP 14.494–497.

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boten die Lauben, d.h. die Schlafkammern des Obergeschosses, eine Gelegenheit zur Zweisamkeit.509 Die Hausväter bzw. –mütter gewährten ihren Mägden und Knechten bisweilen einen grossen Freiraum. So kam es vor, dass die junge Magd Anna Katharina Waser um 1710 oft ausserhalb des Hauses schlief. Im Sommer übernachtete sie nur sonntags im Diensthaus. Waser wusch ferner die Wäsche einiger auswärtiger Knechte, die das Abholen ihrer Wäsche gerne mit einem Besuch verbanden. Sie empfing gelegentlich in ihrer Schlafkammer einen Alpknecht, der sich im Finstern zu ihr setzte und sich flüsternd mit ihr unterhielt. Bald traf man Waser nachts bei einer Scheune oder in einer Kammer des Wirtshauses an, wo sie sich allein mit einem jungen Mann aufhielt. Bisweilen verbrachte sie auch den Abend mit mehreren Jünglingen in der Ziegelhütte, die wegen des Brandofens abseits des Dorfes (bei der Ulrichsbrücke) lag. Als sie ein anderes Mal ihre Brüder auf der Alp Obhag besuchen wollte, gesellte sich ein Knecht am Vorabend zu ihr und verbrachte mit ihr die Nacht bis zum Morgengrauen – „doch alles in Ehren, dan sie haben ein Liecht gehabt“, wie Waser später erklärte.510 Wasers Geschichte ist nur deshalb so genau überliefert, weil sie später unehelich schwanger wurde. Man darf sich nicht täuschen lassen: Ihre Lebensgeschichte war kein Einzelfall. Meist wurde ein solches Verhalten erst zum Problem, wenn eine uneheliche Schwangerschaft auftrat oder die Liebespaare unmittelbar ertappt wurden. Die sexuellen Erfahrungen vor oder ausserhalb der Ehe werden später zu behandeln sein: Die gelebte Wirklichkeit deckte sich hier nur teilweise mit der gesellschaftlichen Norm, welche die Sexualität auf die Ehe beschränkte. Das Erwachen des Geschlechtstriebes fiel meist mit der Dienstzeit zusammen: Das machte diese Lebensphase zu einer spannungsvollen Zeit, in der gesellschaftliche Normen ausgelotet und oft überschritten wurden. Diese Feststellung wird später am Beispiel der Nachtbuben zu vertiefen sein. Die Arbeit der Tagelöhner ist nur bruchstückhaft überliefert. Die kurzfristigen Anstellungsverhältnisse liessen sich bei Uneinigkeit schnell auflösen, so dass der Weg ins Gericht und damit in die schriftliche Überlieferung oft wegfiel. Der Hausbau, die Maurerei, der Heuschnitt und vor allem die Holzverarbeitung scheinen jene Arbeitsbereiche gewesen zu sein, in denen Taglöhnerei öfter vorkam. Einzelne Beispiele lassen erkennen, dass die Tagelöhner oft mehrere Aufträge gleichzeitig an509 Gewöhnlicherweise bezeichnet der Begriff »Lauben« seitliche Balkone an der Hauswand. In Engelberg heissen diese Balkone jedoch »Vorlauben«, während als »Lauben« die Schlafkammern des Obergeschosses bezeichnet werden, wo allermeist die Kinder und das Gesinde schliefen. Vgl. Beck (1973: 24). 510 Vgl. ETP 5.198–218, siehe ferner ETP 3.26–273, .230–231 und 5.357–366.

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nahmen. Bald unterbrachen Tagelöhner die eine Arbeit, um bereits die nächste in Angriff zu nehmen. Bei einer Tagesentlöhnung war es zwar Brauch, ganztägig der entlöhnten Arbeit nachzugehen. Doch selbst daran hielten sich manche Tagelöhner nicht und arbeiteten gleichzeitig an mehreren Orten.511 Wie die Handwerker kannten auch die Tagelöhner Arbeitsspitzen, während sie in der übrigen Zeit einer anderen Beschäftigung nachgingen. Schliesslich sollen die Ausführungen zur Lohnarbeit nicht vergessen lassen, dass viele Arbeiten im familiären Rahmen nicht entlöhnt wurden. Das gilt insbesondere für die Arbeitsbereiche der Frauen, die sich der mangelnden Überlieferung wegen oft nur erahnen lassen. Aber auch die Arbeit der alten Menschen darf hier nicht unterschlagen werden. So arbeitete Maria Anna Amrhein in den 1770er Jahren noch lange im Haushalt ihres Verwandten Sepp Anton Amrhein, ehe sie als Achtzigjährige verstarb. Übereinstimmend wurde später berichtet, dass die alte Frau freiwillig noch viele Arbeiten unentgeltlich auf der Hofstatt erledigte. Eine Bekannte berichtete später, dass es das Maria Anna Amrhein oft gefragt, warum es aus der wahrmen stuben gehe, ob es die mutter [d.h. Sepp Anton Amrheins Frau] geheissen oder jemandt anderst? Gabe es zur antwort, es gehe nur deswegen, weilen es die buoben plagen. Ja, es habe die mutter öfters befohlen, dass es von der arbeit heimgeschickt werde, ja der Magnus [ein Sohn Sepp Anton Amrheins] ihme öfters die mistgablen und rechen aus denen händen genommen.

Auch Maria Elisabeth Dillier arbeitete als Sechzigjährige fleissig weiter. In späten Jahren hatte sie noch weit über 150 Burden Brot aus Nidwalden nach Engelberg getragen. Auf einem kleinen Zettel hielt sie ihre Botengänge fleissig fest. Weniger freiwillig arbeitete hingegen die Schwiegermutter Remigi Guts. Sie beklagte sich um 1769, sie habe für ihren Schwiegersohn „müessen werckhen und stein stossen, bis sie auf dem ruggen gross blätz abghan, dass sie schier nit mehr heim mögen“. Die Ausbeutung der Schwächsten traf gelegentlich auch Kinder. So verloren die vier minderjährigen Kinder Sepp Anton Wasers und Anna Maria Amstutz’ ihren Vater 1749 und ihre Mutter 1757. Die Kinder kamen darauf in die Obhut der Pächter, welche ihre ererbte Hofstatt im Bann übernahmen. Zwei Jahre später klagten jedoch die Kinder vor Gericht, sie seien von ihren Pflegeeltern mit Stecken und Ruten geschlagen worden. Ein Augenzeuge berichtete gar, er habe „an einem sontag [!] den knaben antroffen mit einer burdi würtzen, die hab ihn schier zu boden truckht, dass sie ihm heben müessen aufhelfen“. Die Pächter nutzten die Hilflosig-

511 Vgl. ETP 3.66–67, 4.465–466, 4.535, 11.308–310, 11.634–635 und 14.394–395.

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keit ihrer Pflegekinder offensichtlich aus. Das Gericht hob darauf das Erziehungsrecht der Pächter mitsamt der Hofpacht auf.512 Die alten Menschen durften mit ihrer Arbeit hoffen, dass sie im Krankheitsfall von ihrer Familie gepflegt würden. Um die Pflege alter und kranker Menschen kümmerte sich öfter ein eigens dafür bestellter Abwart, meist eine Magd oder eine ledige Person. Manchmal versicherten sich ältere Menschen auch durch eine Schenkung, dass ihre Verwandten und Nahestehenden sie im Krankheitsfall betreuen würden. Justus Frowin Häcki etwa übergab um 1782 einem Verwandten eine Gült von 600 Pfund, damit dieser – „er möge so lang bettligerig und krankch seyn oder leben, als es gott gefehlig – ihme auf- und abwarten, ihne beholzen und in allen vorfallenheiten, so oft er seiner hilf bedürftig, ihme beystehn müesse“. Einen zusätzlichen Erbteil schenkte 1774 Hans Marx Infanger seiner Frau Lidwina Kuster, die „ihme jederzeit, besonders in seiner villjährigen kranckheit, bettliegerigkeit, so unverdrossen als mit ehelicher liebe beygestanden“ war. Maria Regina Amrhein ihrerseits beschenkte 1782 ihren Sohn Sepp Geni Kuster, weil er „ihro in allen begebenheiten und bedürfnussen mit immer möglicher hilf und liebe, vorzüglich vor denen anderen kinderen an die hand gegangen“.513 Wenigstens der Abwartsdienst lässt erahnen, wie wertvoll die oft unentlöhnte Arbeit im Haushalt sein mochte.

2.2.4 Seidenkämmelei Das Kloster schloss 1761 einen Vertrag mit den Luzerner Unternehmern Franz Anton und Balthasar Falcini ab. Die Brüder verpflichteten sich, dem Kloster jährlich 200 Ballen Seidenabfälle zu liefern. Das Kloster seinerseits versprach, die weitere Verarbeitung der Seidenabfälle zu besorgen. Für jedes verarbeitete Pfund sollten die Brüder Falcini 20 Schilling bezahlen.514 Die besagten Ballen bestanden aus Rückständen von Rohseide und aus beschädigten Seidenpuppen. In mehreren Arbeitsgängen liess sich aus diesen Seidenrückständen sogenannte Schappen- bzw. Florettseide gewinnen. Die Seidenabfälle wurden zunächst mit einem Kamm von Unreinheiten befreit. Der gewonnene Seidenrohstoff (strusi incurati) wurde beiseite gelegt und die Rückstände nochmals verwertet. Man fäulte diese Rückstände und wusch mit Seifenwasser den leimigen 512 Vgl. ETP 11.186–189, 13.76, 14.104–105, 14.345–348 und 16.364–367. Maria Elisabeth Dillier ist im StB Dillier leider nicht eingetragen, vgl. den Eintrag vom 12.05.1737 im Sterberegister des Pfarrbuchs. 513 Vgl. ETP 16.316–320, 17.10–13, 17.196–197, 17.274–275, 17.400, 17.441–442, 17.481–482, 17.604, 17.631, 18.149–150, 18.206, 19.153–154 und 20.39–40. 514 Vgl. ETP 13.163–165.

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Bast aus den Fasern. Die entbasteten Rückstände kamen anschliessend nochmals auf den Kämmelstuhl. Der derart gewonnene Seidenrohstoff (strusi curati) war nun soweit aufbereitet, dass sich aus ihm Schappengarn herstellen liess.515 Das Kloster bearbeitete die Seide nicht selbst, sondern teilte die Rohware unter den Talleuten zur weiteren Verarbeitung aus. Im Wirtschaftsgebäude des Klosters wurde eine Seidenstube eingerichtet, wo der sogenannte Seidenmeister die rohe Ware verteilte und nach ihrer Verarbeitung wieder entgegennahm. Der erste Seidenmeister war Sepp Geni Kuster (1752–1821), der dieses Amt später seinem Bruder Joachim Sepp Kuster (1756–1837) übergab. Das Kloster sicherte sich bereits 1763 das ausschliessliche Recht zu, Seidenabfälle ins Tal ein- bzw. auszuführen.516 Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte arbeitete das Kloster nicht nur mit dem Unternehmen Falcini aus Luzern zusammen, sondern auch mit den Firmen Curti (Rapperswil), Kolin (Zug) und Camenzind (Gersau). Die Seidenkämmelei wurde im Hochtal mit wechselndem Erfolg bis 1860 betrieben, als in den Städten mechanische Kämmeleien die Handarbeit ablösten. Die Seidenkämmelei beschäftigte im 19. Jahrhundert zu besten Zeiten 800  Menschen im ganzen Engelberger Tal. Diese Zahlen lassen sich jedoch kaum unbesehen auf das 18. Jahrhundert übertragen.517 Die Verarbeitung der Seidenabfälle begann erst in den späten 1760er Jahren eine gewisse Bedeutung zu erlangen.518 Der Gesamtumsatz belief sich 1773 auf 4000 Gulden und erreichte 1782 einen Wert von 9000 Gulden. Der eigentliche Gewinn lag um gut 2000 Gulden tiefer, da verschiedene Kosten für die Fuhr und andere Aufwendungen zu bestreiten waren. Ein einzelner Kämmler konnte täglich etwa ein Pfund Seide verarbeiten und damit etwa 15–20 Schilling verdienen, was zu dieser Zeit ungefähr einem Taglohn entsprach.519 Das Seidenkämmeln war eine anstrengende Arbeit, für ungewohnte Hände sogar schmerzhaft. Beim Fäulen der Seide verbreitete sich zudem ein ausgesprochen übler Geruch.520 Das führt zwangsläufig zur Frage, welche Talleute denn eine solche Arbeit übernahmen? Die Beobachtungen der fremden Reisenden waren diesbezüglich einmütig: Das Seidenkämmeln besorgten arme Leute, vornehmlich Frauen und Kinder. Das Kämmeln und Fäulen war als Nebengewerbe gedacht und sollte insbesondere im Winter eine weitere Verdienstmöglichkeit schaffen. Die Einführung des 515 Vgl. Fassbind (1954/55: 9–14). 516 Vgl. ETP 13.225–226. 517 Vgl. Fassbind (1954/55: 23–33, 42) und Heer (1975: 425). 518 Vgl. Fassbind (1954/55: 24) und Heer (1975: 318–319). 519 Vgl. Fassbind (1954/55: 34), der Taglohnansatz ergibt sich aus zahlreichen Vermerken in ETP. Zu den Umsatzzahlen vgl. Werner (1910: 154), Maurer in Dufner (1978: 38) und Feierabend in ZBZ Ms. Car. XV 155. 520 Vgl. Fassbind (1954/55: 13–14).

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neuen Gewerbes war allerdings nicht nur wirtschaftlich bedingt. Die Klosterherren sahen in dieser Beschäftigung eine Möglichkeit, arme Leute vom Müssiggang, also vom Nichtstun abzuhalten. Dem Seidenkämmeln kam also ebenso eine wirtschaftliche wie auch eine disziplinierende Bedeutung zu.521 Maurus Geni Feierabend bemerkte zum Seidenkämmeln trocken, es gebe Nahrung, verhindere den Müssiggang, unterstütze geregelte Sitten und verschaffe eine Beschäftigung. Feierabend hob also den disziplinierenden Charakter der Arbeit deutlich hervor. Weiter fügte er nachdenklich hinzu, die Mehrung der Erwerbsmöglichkeiten mache „glücklich und unglücklich wie überhaupt die vermehrung der bedörfnisse“.522 Die Begeisterung der Talleute für das neue Gewerbe hielt sich offenbar in Grenzen. Es fällt auf, dass die Seidenkämmelei bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den Talprotokollen kaum erwähnt wird. Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, als die Überlieferungsdichte in den drei letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. Die wenigen Einträge, die sich mit der Seidenkämmelei befassten, stellten diese in ein durchaus ungünstiges Licht. Manche Hausbesitzer untersagten ihren Hausleuten, in der Stube oder in ihrer Kammer zu kämmeln. Auch Sepp Anton Kuster und seine Frau Katharina Feierabend beklagten sich 1782 heftig, dass ihre Mitbewohnerinnen im Wintermais kämmelten. Sie erklärten vor Gericht, dass sie den „seydenstaub und gestankh“ nicht mehr ertragen könnten. Das Seidenkämmeln hatte als »Weiberarbeit« gelegentlich schlimme Folgen für die Frauen. Dies bekam etwa Maria Katharina Kuster zu spüren. Ihr Mann, Joachim Benedikt Zniderist, sorgte nicht für seine Familie, war gewalttätig und hatte seine Ehefrau sogar an Leib und Leben bedroht. Die Frau beklagte sich später, ihr Mann habe die Haushaltung kaum unterstützt, so dass sie alleine mit Kämmeln ihre ganze Familie durchbringen musste. Die Eheleute wurden schliesslich 1782 geschieden. Der Fall Kusters zeigt, dass die Seidenkämmelei nicht nur einen angeblichen Müssiggang verdrängte, sondern auch eine weitere Arbeitsbelastung für die ärmeren Frauen und Kinder mit sich brachte.523 Die Seidenkämmelei verbesserte trotz allem die Lage der ärmeren Talleute. Die kleineren Vermögen im Tal nahmen in der Zeit zwischen 1769 und 1799 deutlich zu: Das zeigt der Vergleich der entsprechenden Steuerlisten. Maurus Geni Feierabend berichtete auch, dass seit Einführung der Seidenkämmelei knapp 60  Häuser im Hochtal frisch errichtet worden waren. Doch liess sich mit einem Taglohn von 15–20 Schilling genügend Geld ersparen, um selbst ein Haus zu bauen? Wohl 521 Vgl. Schmidt (1985: 87), Normann (1798: 3076–3077), Maurer in Dufner (1978: 38– 39) und Meiners in Dufner (1978: 51). 522 Vgl. Feierabend in ZBZ Ms. Car. XV 155. 523 Vgl. ETP 15.205–207, 16.204–209, 16.320–322 und 17.436–437.

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kaum. Doch das kleine Einkommen an Bargeld ermöglichte es den Armen, Gülten aufzunehmen und deren Zinse zu bezahlen. Das eigentliche Baukapital stammte nicht von der Seidenkämmelei, sondern vom weit grösseren bäuerlichen Kapital. Der blühende Käse-, Vieh- und Ankenhandel im späten 18. Jahrhundert liess ja beträchtliche Kapitalmengen ins Tal fliessen. Die vermögenden Bauern investierten ihr erwirtschaftetes Kapital in Gülten, deren Zinse sich die armen Leute dank der Seidenkämmelei nun leisten konnten. Der Umsatz der Seidenkämmelei erreichte im späten 18. Jahrhundert nur einen Bruchteil dessen, was der blosse Käsehandel eintrug. Nähme man die Umsätze aus dem Vieh- und Ankenhandel hinzu, fiele das Verhältnis noch deutlicher aus. Die Hausarbeit verbesserte zwar in den letzten drei Jahrzehnten die wirtschaftliche Lage der ärmeren Talleute, doch das Tal insgesamt verdankte seine wirtschaftliche Blüte eindeutig der Landwirtschaft. Während es in der heimischen Bevölkerung seltsam still um die Seidenkämmelei blieb, wurde das neue Gewerbe von Aussenstehenden umso mehr wahrgenommen. Der Besuch der Seidenstube gehörte zum festen Besuchsprogramm der aufklärerischen Reisenden, ebenso wie die Klosterbibliothek, die Käsespeicher und die Modellalp Herrenrüti. Die fremden Herren bewunderten die Fortschrittlichkeit der klösterlichen Unternehmer, diese ihrerseits stellten mit Stolz ihr wirtschaftliches Experiment vor. Die Hausarbeit war damals en vogue. Aufklärer waren der Meinung, dass die Untertanen zu mehr Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Betriebsamkeit, Nüchternheit, Fleiss und Nachdenken angehalten werden sollten.524 Die Hausarbeit schien dazu ein geeignetes Mittel. Eine bessere Beschäftigung sollte den Müssiggang vertreiben und die jungen Männer daran hindern, in fremde Kriegsdienste zu ziehen. Kurzum: Die eigenen Untertanen sollten durch die Arbeit diszipliniert werden. Von der vermehrten Arbeit der Untertanen erhoffte man sich nicht nur einen grösseren Wohlstand, sondern auch einen Bevölkerungszuwachs. Der Zürcher Aufklärer Johann Kaspar Hirzel erklärte 1788 diesbezüglich, dass die Arbeitsdisziplin in protestantischen Gebieten weit höher wäre als in katholischen Gegenden. Hirzel fügte an, die Protestanten seien in allen Bereichen (Ackerbau, Handwerk, Gewerbe, Künste, Wissenschaft und Religion) fleissiger bzw. entwickelter als die Katholiken. Er führte diesen Unterschied auf die Reformation zurück: Zwingli hätte seine Anhänger von schädlichem Müssiggang und fremden Kriegsdiensten ab- und zu redlicher Arbeit angehalten. Umgekehrt führte Hirzel

524 Dazu und zu den folgenden Ausführungen vgl. Hirzel (1788: 104–109) und Hirzel (1998: 386–405).

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die Rückständigkeit der Katholiken hauptsächlich darauf zurück, dass sie den Müssiggang und die fremden Kriegsdienste nie aufgegeben hätten. Der junge Hirtenlandbegriff gab solchen Vorstellungen weiteren Auftrieb. Die ackerbaufreien Alpengebiete galten ja als wirtschaftlich rückständig und ausgesprochen beschäftigungsarm. So wurde auch erklärt, warum die hirtenländische Bevölkerung angeblich zu ausgeprägtem Müssiggang neigte und sich rascher für fremde Kriegsdienste gewinnen liess. Robert Thomas Malthus bekräftigte wenig später den Zusammenhang zwischen Müssiggang und fremden Kriegsdiensten, indem er Beschäftigungslosigkeit und militärische Auswanderung in kausalen Zusammenhang brachte. Die aufklärerische Wahrnehmung der katholischen Alpengegenden war den Engelberger Klosterherren zweifellos bekannt. Sie bemühten sich deshalb eifrig, Vorbeireisende von der Fortschrittlichkeit der örtlichen Wirtschaft zu überzeugen. Der Pflichtbesuch der Seidenstube reihte sich in diese Bemühungen ein. Wie wirkte sich denn die Einführung der Hausarbeit im Hochtal aus? Einschlägigen Arbeiten zufolge hätte die Engelberger Seidenkämmelei zu einer auffallenden Zunahme der Bevölkerung und zugleich zu einer Abnahme der Auswanderung in die fremden Kriegsdienste geführt.525 Zunächst zur Frage der Bevölkerungsentwicklung: In den drei letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nahm die Engelberger Bevölkerung tatsächlich um 45 Prozent zu. Diese Entwicklung alleine der Seidenkämmelei zuzuschreiben macht allerdings wenig Sinn, denn in den fünf Jahrzehnten vor ihrer Einführung war die Talbevölkerung bereits um 48 Prozent angewachsen! Die Seidenkämmelei hatte das Wachstum höchstens unterstützt oder beschleunigt, aber sicherlich nicht begründet.526 Zudem wäre es verwunderlich, dass eine wirtschaftliche Neuerung innert kürzester Zeit das demographische Verhalten so grundlegend geändert hätte. Demographische Studien lehren, dass jedes bedeutende Bevölkerungswachstum das Ergebnis einer Entwicklung ist, die meist Jahrzehnte zuvor begonnen hat. Frühe und kinderreiche Ehen bewirken erst einen demographischen Ausschlag, wenn die Kinder selbst erwachsen sind und sich fortpflanzen.527 Engelbergs Bevölkerungswachstum erstreckte sich über das ganze 18. Jahrhundert und war weit mehr durch die Blüte des Ausfuhrhandels bedingt als durch die Einführung der Seidenkämmelei. 525 Vgl. Fassbind (1954/55: 42), dann Beck (1973: 57), Heer (1975: 335), Huwyler (1993: 378) und Garovi (2000: 118–119). Fassbind bezog sich in seinen Ausführungen ausdrücklich auf die Arbeit Bonaventura Eggers zur demographischen Entwicklung Engelbergs, vgl. Egger (1911). Egger hatte jedoch ganz andere Ergebnisse vorgelegt, als sie ihm Fassbind unterstellte. 526 Bereits Dufner (1975: 25) hat implizit auf das Missverständnis Eggers hingewiesen. 527 Vgl. Derouet (1980: 34).

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Was ist ferner von der angeblichen Abnahme der fremden Kriegsdienste zu halten? Einen ersten Ansatzpunkt bietet diesbezüglich Bonaventura Eggers Untersuchung zur historischen Demographie Engelbergs. Bemerkenswerterweise brachte Egger die Seidenkämmelei und die fremden Kriegsdienste in keinerlei Zusammenhang. Egger bemerkte zur Bevölkerungsentwicklung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielmehr: „Engelberg konnte immer noch einige Kräfte [d.h. Menschen] nach aussen abgeben.“528 Er erklärte mit Recht, dass die Seidenkämmelei eine neue Erwerbsmöglichkeit ins Hochtal gebracht hatte. Von einer Abnahme der Kriegsdienste jedoch sprach Egger, der die Quellenlage bestens kannte, an dieser Stelle mit keinem Wort. Es lässt sich vorausgreifend feststellen, dass Egger die Entwicklung durchaus richtig eingeschätzt hatte: Die Einführung der Seidenkämmelei beeinflusste das militärische Wanderungsverhalten der Talleute kaum. Das Beispiel zeigt erstens auf, wie nachhaltig überlieferte Deutungsmuster die Urteilskraft beeinflussen und bestimmte Erwartungshaltungen hervorrufen. Zweitens mag der Weg geebnet sein, um die Seidenkämmelei und ihre Bedeutung für das Hochtal wieder in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Das Seidenkämmeln erweiterte ab dem späten 18. Jahrhundert die Erwerbsmöglichkeiten der ärmeren Talleute und verbesserte deren Vermögenslage. Sie verstärkte dadurch den wirtschaftlichen Aufschwung des Hochtals, begründete ihn aber nicht. Die Lebensader des Hochtals bildete sein Ausfuhrhandel und damit verbunden seine leistungsfähige Landwirtschaft, die auf einer steten und jahrhundertlangen Entwicklung zurückging. Die Einführung des neuen Gewerbes minderte andererseits die militärische Auswanderung nicht: Der Zusammenhang zwischen Beschäftigungslage und Wanderungsverhalten war weitaus nicht so eng, wie es manche Aufklärer annahmen.529

2.3 Soldwesen Als der Affolterer Pfarrer Johann Rudolf Maurer 1780 das Hochtal besuchte, erfuhr er auch von ausgewanderten Talleuten. So berichtete er später:530 Sie [d.h. die Talleute] sollen sehr ungern ihre dürftige Heimath verlassen und in die Welt hinausgehen, aber wenn sie einmal heraus sind, ebenso ungern zurükkehren. Von 1100–1200 Seelen sollen nur etlich [d.h. einige] 20 junge Burschen in fremden Kriegsdiensten stehen.

528 Vgl. Egger (1911: 70). 529 Vgl. die Feststellung bei Baud (1994: 93), wonach bäuerliche Mobilität nur bedingt von der Beschäftigungskonjunktur abhängt. Siehe auch allgemeiner Ehmer (1998) und Fertig (2000b). Zur Migration aus Berggebieten, vgl. Fontaine (2005). 530 Vgl. Dufner (1978: 40).

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Was ist ferner von der angeblichen Abnahme der fremden Kriegsdienste zu halten? Einen ersten Ansatzpunkt bietet diesbezüglich Bonaventura Eggers Untersuchung zur historischen Demographie Engelbergs. Bemerkenswerterweise brachte Egger die Seidenkämmelei und die fremden Kriegsdienste in keinerlei Zusammenhang. Egger bemerkte zur Bevölkerungsentwicklung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielmehr: „Engelberg konnte immer noch einige Kräfte [d.h. Menschen] nach aussen abgeben.“528 Er erklärte mit Recht, dass die Seidenkämmelei eine neue Erwerbsmöglichkeit ins Hochtal gebracht hatte. Von einer Abnahme der Kriegsdienste jedoch sprach Egger, der die Quellenlage bestens kannte, an dieser Stelle mit keinem Wort. Es lässt sich vorausgreifend feststellen, dass Egger die Entwicklung durchaus richtig eingeschätzt hatte: Die Einführung der Seidenkämmelei beeinflusste das militärische Wanderungsverhalten der Talleute kaum. Das Beispiel zeigt erstens auf, wie nachhaltig überlieferte Deutungsmuster die Urteilskraft beeinflussen und bestimmte Erwartungshaltungen hervorrufen. Zweitens mag der Weg geebnet sein, um die Seidenkämmelei und ihre Bedeutung für das Hochtal wieder in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Das Seidenkämmeln erweiterte ab dem späten 18. Jahrhundert die Erwerbsmöglichkeiten der ärmeren Talleute und verbesserte deren Vermögenslage. Sie verstärkte dadurch den wirtschaftlichen Aufschwung des Hochtals, begründete ihn aber nicht. Die Lebensader des Hochtals bildete sein Ausfuhrhandel und damit verbunden seine leistungsfähige Landwirtschaft, die auf einer steten und jahrhundertlangen Entwicklung zurückging. Die Einführung des neuen Gewerbes minderte andererseits die militärische Auswanderung nicht: Der Zusammenhang zwischen Beschäftigungslage und Wanderungsverhalten war weitaus nicht so eng, wie es manche Aufklärer annahmen.529

2.3 Soldwesen Als der Affolterer Pfarrer Johann Rudolf Maurer 1780 das Hochtal besuchte, erfuhr er auch von ausgewanderten Talleuten. So berichtete er später:530 Sie [d.h. die Talleute] sollen sehr ungern ihre dürftige Heimath verlassen und in die Welt hinausgehen, aber wenn sie einmal heraus sind, ebenso ungern zurükkehren. Von 1100–1200 Seelen sollen nur etlich [d.h. einige] 20 junge Burschen in fremden Kriegsdiensten stehen.

528 Vgl. Egger (1911: 70). 529 Vgl. die Feststellung bei Baud (1994: 93), wonach bäuerliche Mobilität nur bedingt von der Beschäftigungskonjunktur abhängt. Siehe auch allgemeiner Ehmer (1998) und Fertig (2000b). Zur Migration aus Berggebieten, vgl. Fontaine (2005). 530 Vgl. Dufner (1978: 40).

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Verschiedentlich war bereits von ausgewanderten Knechten, Mägden, Handwerkern und Säumern die Rede. Doch wie war es um die Engelberger Soldaten bestellt? Die doppelte Zehntschaft, die 1780 in Diensten stand, hielt Maurer mit Recht für unbedeutend. Allerdings handelte es sich nur um eine augenblickliche Bestandesangabe. So gehörten knapp 250 Talleute vom 17.  bis zum frühen 19. Jahrhundert nachweislich dem Soldatenstand an.531 Dabei handelt es sich um eine Mindestangabe, da die Bestände ausgesprochen lückenhaft überliefert sind. Die fremden Dienste spielten im vormodernen Engelberg also keine unerhebliche Rolle. Die zahlreichen Dienstnahmen sind nicht unmittelbar verständlich. Warum liessen sich Talleute überhaupt als Soldaten dingen? Man könnte vermuten, die betroffenen Männer seien wegen ungenügender Erwerbsmöglichkeiten und entsprechender Armut weggezogen. Es wäre auch denkbar, dass sie ihre Heimat nicht freiwillig verliessen, sondern in den Dienst gedrängt wurden, z.B. von Angehörigen der innerschweizerischen Oberschicht, deren Einfluss und Reichtum massgeblich von den fremden Kriegsdiensten abhing. Schliesslich könnte man sich vorstellen, die Talleute hätten eine kriegerische Neigung besessen, wie sie Gebirgsvölkern öfter nachgesagt wird. So wären die Soldaten streit- bzw. abenteuerlustige Haudegen gewesen, denen an einer geregelten Arbeit zu Hause nicht gelegen war. Diese Fragen gilt es im folgenden Abschnitt zu klären. Talleute leisteten ihre Kriegsdienste innerhalb der eidgenössischen Solddienste, die vom 16. bis ins 19. Jahrhundert bestanden. Eine Erläuterung dieser Einrichtung ist den folgenden Ausführungen vorangestellt. Anschliessend werden die sozialen Profile der Engelberger Soldaten herausgearbeitet. In einem weiteren Schritt werden die sozialen Netzwerke dargestellt, welche die Engelberger Soldaten während ihrer Dienstzeit aufbauten. Schliesslich wird auf einige Gesichtspunkte der Wanderungsentscheidung eingegangen.

2.3.1 Zum eidgenössischen Soldwesen Seit dem Spätmittelalter liessen sich Eidgenossen von fremden Mächten für bezahlte Kriegsdienste anwerben.532 Allerdings nahm die auswärtige Nachfrage deutlich zu, als die Eidgenossen Karl den Kühnen in den Burgunderkriegen (1474–1477) besiegten. Reisläufer brachen in den folgenden Jahrzehnten scharenweise in fremde Kriegsdienste auf. Zwar versuchten die eidgenössischen Orte seit dem Pfaffenbrief von 1370, fremde Kriegsdienste bewilligungspflichtig zu machen: Vorerst aber 531 Vgl. Anhang. 532 Eine gute Übersicht über die Geschichte der fremden Dienste bei Peyer (1992).

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konnten sich die Orte weder gegenüber ihren Landsleuten noch gegenüber den auswärtigen Mächten durchsetzen, zumal sie selbst in aussenpolitischen Fragen oft zerstritten waren. Die wirren Zustände erreichten ihren unrühmlichen Höhepunkt während der Mailänderkriege (1494–1516). Die entscheidende Wende trat ein, als die eidgenössischen Orte am 5. Mai 1521 ein ewiges Bündnis mit der französischen Krone schlossen. Nicht die Form, sondern die Bedeutung des Abkommens war neuartig. Der Vertrag begründete eine Sonderbeziehung zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich, die bis zur Französischen Revolution bestehen sollte. Im Vertrag wurden die Bündnispflichten beider Seiten ausführlich festgelegt. Die eidgenössischen Orte räumten dem französischen König das Recht ein, Truppen in der Eidgenossenschaft anzuwerben. Truppengesuche mussten allerdings der Tagsatzung vorgelegt werden. Ferner wurden die Rahmenbedingungen bezüglich Werbung, Anzahl, Führung, Einsatz und Rückzug der gewährten Truppen vertraglich ausgehandelt. Dieser Vertragsteil (capitulum) gab späteren Vereinbarungen dieser Art ihren gebräuchlichen Namen, nämlich Kapitulationen. Entscheidend blieb die Tatsache, dass die Soldtruppen durch den Staatsvertrag in staatliche Bündnistruppen umgewandelt wurden. Der französische König verpflichtete sich seinerseits, die eidgenössischen Orte im Bedrohungsfall militärisch zu unterstützen. Zu den französischen Bündnisleistungen gehörten auch festgelegte Geldzahlungen (Pensionen), die den eidgenössischen Orten jährlich entrichtet werden sollten. Weiter sicherte Frankreich den Eidgenossen gewisse Handels- und Niederlassungsrechte zu. Das Bündnis von 1521 läutete die Zeit der kapitulierten bzw. avouierten, d.h. staatsvertraglich geregelten Solddienste ein. Allerdings kamen unbewilligte Werbungen trotz der Kapitulationsverträge noch längere Zeit vor. Die eidgenössischen Orte konnten erst gegen Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Hoheit über die fremden Kriegsdienste weitgehend durchsetzen. Später schlossen die Orte auch mit anderen Mächten vergleichbare Abkommen ab, wobei der Vertrag von 1521 Vorbild blieb. Als sich die Eidgenossenschaft bald darauf konfessionell spaltete, gestalteten sich Bündnisverhandlungen schwieriger. Katholische und protestantische Orte begannen, konfessionelle Sonderbündnisse einzugehen. Die katholischen Orte hatten es vorerst einfacher, da viele frühere Bündnispartner beim hergebrachten Glauben verblieben. Die protestantischen Orte hingegen fanden erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auswärtige Bündnispartner, die ihrer eigenen Konfession angehörten. Reformationsanhänger bzw. Protestanten lehnten auswärtige Kriegsdienste nicht grundsätzlich ab. Dies galt auch für den Zürcher Reformator Ulrich Zwingli. Dieser pflichtete der herkömmlichen Lehre des gerechten Krieges bei: Kriegshandlungen war gerechtfertigt, wenn sie auf einem obrigkeitlichen Beschluss, einem rechten

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Grund und lauteren Absichten beruhten.533 Einen vergleichbaren Standpunkt vertrat übrigens auch Martin Luther.534 Nun traf dies für Kriegsdienste, die der Verteidigung des Vaterlandes und des rechten Glaubens dienten, zweifellos zu. Bündnisse mit fremden Mächten waren unter solchen Umständen zulässig. Dabei lehnte Zwingli auch Pensionsgelder nicht ab, sofern sie dem Staat und nicht Einzelnen zukamen: Der Reformator erinnerte daran, dass auch Salomon von der Königin von Saba unermessliche Geschenke erhalten hatte.535 Allerdings gingen geeignete Bundesgenossen Zürich vorerst ab, da die bedeutenden Soldmächte beim alten Glauben blieben. Die Zürcher Geistlichkeit befürwortete in den folgenden Jahrhunderten wiederholt Militärbündnisse mit protestantischen Mächten. So trugen Geistliche wesentlich dazu bei, dass Zürich in den französischen Religionskriegen der protestantischen Kriegspartei zu Hilfe eilte: 3‘000 Soldaten brachen 1587 von Zürich nach Frankreich auf.536 Konfessionelle Überlegungen spielten ebenfalls mit, als sich Zürich 1614 dem französischen Bündnis anschloss: Die Annäherung an Frankreich sollte ein Gegengewicht zum Bündnis schaffen, das die katholischen Orte 1587 mit Spanien eingegangen waren.537 Weiter setzte sich Antistes Johann Jakob Breitinger im Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) für ein Bündnis mit dem protestantischen Schweden ein. Als ferner das protestantische Holland in den 1690er Jahren Zürich um Bündnistruppen bat, machte sich der damalige Antistes Anton Klinger für diesen Kriegsdienst stark.538 Das Zürcher Beispiel verdeutlicht, dass auch überzeugte Protestanten fremde Kriegsdienste guthiessen, wenn Vaterland und rechter Glaube dadurch gestärkt wurden. Eine solche Haltung liesse sich auch für Bern, dem anderen protestantischen Vorort, leicht nachweisen. Die katholischen Orte handelten grundsätzlich gleich, wenn sie kapitulierte Soldtruppen in die päpstlichen, savoyischen, spanischen oder neapolitanischen Dienste schickten. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Wenn sich katholische und protestantische Orte zwischen konfessioneller und eidgenössischer Solidarität entscheiden mussten, gaben sie nicht selten ersterer den Vorzug. Gleichwohl blieb ein Spannungsfeld bestehen, das sowohl zwischen als auch innerhalb der eidgenössischen Orte regelmässig Meinungsverschiedenheiten verursach533 Zum militärischen Denken Zwinglis vgl. Bangerter (2003). Bezüglich Zwinglis Einstellung zu fremden Diensten vgl. auch Schweizer (1895: 184–185). 534 Vgl. MLW 19, S. 616–662. 535 Vgl. HZSW 11, S. 319. 536 Vgl. Stucki (1996: 276). 537 Zur Bündnispolitik der katholischen bzw. protestantischen Orte im späteren 16. Jahrhundert, vgl. Schmid (1943) und Müller (1965). 538 Vgl. Schweizer (1895: 229–236, 373–375).

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te.539 Der Meinungskampf fand auch auf begrifflicher Ebene statt: Ob nämlich von Bündnis- oder von Söldnertruppen gesprochen wurde, hing in der Regel vom eigenen zustimmenden bzw. ablehnenden Standpunkt ab. Im 17. und 18. Jahrhundert verbündeten sich katholische Orte bevorzugt mit Mächten des katholischen Südens (Heiliger Stuhl, Savoyen, Spanien, Neapel, u.a.), während protestantische Orte vornehmlich die Mächte des protestantischen Nordens (Holland, Grossbritannien, Preussen, u.a.) unterstützten. Gemischtkonfessionelle Solddienste wurden von katholischen und protestantischen Orten hingegen argwöhnisch begutachtet, da man ihnen einen sittenverderbenden Einfluss zusprach. Kapitulierte Solddienste bestanden bis 1859, ehe sie vom jungen Bundesstaat endgültig aufgehoben wurden. Die rechtlichen Grundlagen der kapitulierten Soldtruppen wandelten sich von 1521 bis 1859 nur geringfügig. Auch die organisatorischen Grundzüge blieben weitgehend gleich: In der Regel bildeten eidgenössische Truppen in fremden Diensten eigenständige Einheiten mit eigener Gerichtsbarkeit, eigener Führung und eigenen Fahnen. Die eidgenössischen Orte beaufsichtigten zwar die Kriegsdienste, aber die Hauptleute waren für die Werbung, Ausrüstung, Ausbildung, Versorgung und Führung ihrer Truppe selbst verantwortlich. Die Hauptleute trugen damit die unternehmerische Verantwortung ihrer Einheit: Gewinne und Verluste fielen ihnen gleichermassen zu. Die Kompaniebesitzer gehörten meistens den Ratsfamilien der eidgenössischen Orte an: Die fremden Dienste trugen diesen Familien für lange Zeit Reichtum, Ansehen und Einfluss ein.540 Der eigentliche Kriegsdienst veränderte sich vom 16. bis zum 19. Jahrhundert tiefgreifend. Feuerwaffen wurden ab dem 16.  Jahrhundert auf den Kriegsschauplätzen immer entscheidender. Der zunehmende Einsatz schwerer Geschütze rief den Bau grosser Festungen (Garnisonen) hervor: Entsprechend nahmen Festungskämpfe gegenüber offenen Schlachten zu. Feuerwaffen veränderten aber auch die Kampfweise auf dem Feld: Die Feuerkraft der Handfeuerwaffen liess sich nur entfalten, indem man die ehemals geschlossenen Infanteriereihen öffnete und in walzenartigen Bewegungen vorrücken bzw. feuern liess. Die Verbände mussten eine Vielzahl festgelegter Abläufe beherrschen, um für den Linienkampf zu taugen. Die neue Kampfweise erhöhte die Ansprüche, die an den einzelnen Soldaten gestellt wurden: Längere Ausbildungszeiten und militärischer Drill waren die Folge.541

539 Eine Übersicht zum besagten Spannungsfeld gibt Lau (2002). 540 Für die Innerschweiz, vgl. etwa Suter (1971) und Kälin (1991). 541 Vgl. etwa Parker (1990).

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Nun lässt sich umrisshaft nachzeichnen, wie sich der Dienstverlauf eines Soldaten im 17.  und 18.  Jahrhundert gestaltete. Ein fremder Kriegsdienst setzte zunächst voraus, dass die Werbung von der eigenen Obrigkeit bewilligt war. Wer sich unbewilligten Truppen anschloss, musste harte Strafen gewärtigen. Dienstwillige handelten darauf mit den Hauptleuten bzw. deren Werbern die Dienstbedingungen aus. Vertraglich wurden Dienstart, Dienstdauer, Monatssold, Ausrüstungs- und Verpflegungskosten, Urlaubsbedingungen, Beförderungs- und Abschiedsregelungen, usw. vereinbart. Zudem erhielten die Gedingten bei Vertragsschluss eine einmalige Prämie, das sogenannte Handgeld – der Zuschuss war dem Trinkgeld nicht unähnlich, das Handwerkern bei grösseren Aufträgen zugesichert wurde. Allgemein konnte ein gemeiner Soldat im 17. Jahrhundert noch darauf zählen, dass er nach Dienstende einige Ersparnisse nach Hause bringen würde. Hingegen musste er sich spätestens im 18. Jahrhundert glücklich schätzen, wenn er unverschuldet wieder in die Heimat zurückkehren konnte.542 Katholische Eidgenossen zogen eher in den katholischen Süden, während protestantische Eidgenossen eher in den protestantischen Norden aufbrachen. Nach Ankunft am Dienstort wurden die Soldaten mehrheitlich im Garnisonsdienst eingesetzt, wobei Drillübungen selbstverständlich dazugehörten. Der militärische Alltag war weniger von offenen Feldschlachten geprägt als von Wachtdienst und kleineren Scharmützeln. Die Eidgenossen leisteten ihren Kriegsdienst gewöhnlich in eigenen Einheiten. Zwischenzeitlich konnten Soldaten auf Heimurlaub gehen. Manche Soldaten arbeiteten sich zum Korporal oder Wachtmeister empor. Wer seinem Hauptmann nichts schuldete, erhielt bei Dienstende seinen ehrlichen Abschied. Wer hingegen desertierte, musste darauf gefasst sein, in der Heimat dafür belangt zu werden.

2.3.2 Soziales Profil der Soldaten Wenn Engelberger Talleute im 17. und 18. Jahrhundert erstmals in fremde Kriegsdienste traten, standen sie durchschnittlich im 20. Lebensjahr. Im Einzelfall kamen drei- bis vierjährige Abweichungen von diesem Durchschnitt vor.543 Wie auch andernorts gebräuchlich, verpflichteten sich die Engelberger Rekruten meist für eine Dienstzeit von drei Jahren. Wer seinen Dienst nicht verlängerte bzw. verlängern musste, konnte noch in seinem dritten Lebensjahrzehnt in die Heimat zurückkehren. Kriegsdienste wurden – soweit sich abschätzen lässt – mehrheitlich von jungen Männern geleistet. 542 Vgl. Suter (1971: 32–37) und Bührer (1977: 43–46). 543 Das Alter bei der Werbung ist in 57 von 245 Fällen bekannt.

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Die Dienstzeit fiel hauptsächlich mit der Burschenzeit überein. Allgemein war es üblich, dass junge Männer und Frauen in dieser Lebenszeit »in Dienste« traten. Lohnanstellungen führten das Jungvolk – vornehmlich als Gesindekraft – häufig talauswärts. Als man im 18.  Jahrhundert erste Volkszählungen durchführte, wurden auch diejenigen Talleute erfasst, die auswärtige Dienste leisteten. Dabei wurden Kriegsdienste kaum von anderen Lohnanstellungen unterschieden: Der Solddienst war ein Erwerb unter anderen. Als der deutsche Gelehrte Johann Gottfried Ebel im späten 18.  Jahrhundert das Glarnerland bereiste, erhielt er bezüglich der heimischen Solddienste folgende Auskunft:544 Der Rekrut nahm gewöhnlich auf 3 bis 5 Jahr Dienste, nach deren Verlauf er in sein Vaterland zurückkehrte oder von neuem Handgeld empfing. Es ist begreiflich, wie eine so kurze Dienstzeit die rüstige und neugierige Jugend der Alpenvölker einladen musste, sich anwerben zu lassen, um ferne Länder kennen zu lernen, und als ein Mensch, der sich in der Welt umgesehen hat, nach einigen Jahren in den Kreis der Seinigen unter das stille Hirtendach zurückzukehren.

Eine vergleichbare Antwort hätte Ebel auch in Engelberg erhalten. Als zur selben Zeit der Schaffhauser Gelehrte Johann Georg Müller das bernische Meiringen (unweit Engelbergs) besuchte, überraschten ihn die zahlreichen Berichte über ehemalige und dienstleistende Soldaten. Er kam zum Schluss, „dass vielleicht von allen Einwohnern des Dorfes über dreyssig die Hälfte gedienet hat und noch dienet“.545 Zahlreiche Einheimische hatten also in früheren Lebensjahren für kürzere oder längere Zeit Kriegsdienste geleistet. Waren sie einmal in die Heimat zurückgekehrt, verriet ihr weiterer Lebenslauf oft nichts mehr vom früheren Dienst. Ehemalige Soldaten liessen sich auch in Engelberg zahlreich antreffen. Sie waren allerdings unauffällig. Diese Unauffälligkeit spiegelt sich in der Überlieferung wieder: Kriegsdienste von Talleuten sind oft nur zufällig überliefert. Ein amtliches Rekrutenverzeichnis wurde nie geführt. Kriegsdienste wurden nur sicher bezeugt, wenn Talleute während ihrer Dienstzeit verstarben. Sonst aber wurden Solddienste kaum erfasst. In der Überlieferung blieben ehemalige Soldaten als solche oft unerkannt, wenn nicht eine flüchtige Erwähnung ihren Dienst vermerkte – nicht selten Jahre danach und in ganz anderen Zusammenhängen. Ehemalige Soldaten unterscheiden sich in der Überlieferung oft nur durch einen solchen Beleg von anderen Talleuten.

544 Vgl. Ebel (1802: 264). 545 Vgl. Müller (1789: 125).

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Fremde Kriegsdienste waren vielfach eine lebenszyklische Beschäftigung, die mit dem frühen Erwachsenenalter verbunden war.546 Bewusst ist hier nicht von Ledigenzeit die Rede. Man könnte annehmen, die jungen Männer hätten solange Dienst geleistet, bis in der Heimat eine Heirat, eine Familiengründung oder eine Hofübernahme in Aussicht standen. Dieser Vermutung widerspricht allerdings, dass zahlreiche Soldaten auch nach der Heirat bzw. Familiengründung Dienst leisteten. Der Übergang vom Soldaten- zum Bauernstand erfolgte ebenfalls nicht schnittartig: Manche Talleute arbeiteten bereits in der Heimat als Alp-, Forst-, Fuhr- bzw. Saumarbeiter, Handwerker oder Dienstboten, bevor sie (erneut) für einige Jahre in den Solddienst traten. Ehemalige Soldaten kannten das Soldatenhandwerk und waren erfahren genug, um den Fallstricken des Dienstes auszuweichen: Eine Dienstnahme fiel ihnen leichter. Die Lebensübergänge waren fliessend, gerade im dritten und vierten Lebensjahrzehnt. Talleute zogen zwar schwergewichtig in der frühen Erwachsenenzeit in fremde Dienste, doch dies bedeutet keineswegs, dass die Soldtruppen eine Warteschlaufe für ledige, stellenlose Jünglinge gewesen wären. Die Kriegsdienste waren schlicht eine Beschäftigungsmöglichkeit unter anderen: Diese machten sich auch verheiratete Männer zunutze, die in der Heimat eine andere Arbeit gefunden hätten. Warum zogen manche Talleute Kriegsdienste anderen Anstellungen vor? Der familiäre Hintergrund spielte entscheidend mit: Ein Bursche trat mit viel grösserer Wahrscheinlichkeit in den Soldatenstand ein, wenn bereits nahe Verwandte (Vater, Onkel, Brüder, usw.) in die Solddienste gezogen waren. Nicht selten liessen sich Familienangehörige gemeinsam dingen, wie noch gezeigt werden soll. Eine Soldatenfamilie ging z.B. auf Plazi Hermann (1655–1737) zurück.547 Sein Vater war ein begüterter, vielseitiger Mann, der als Eingewanderter in Engelberg sesshaft wurde. Seine Mutter stammte aus einer Ratsfamilie Engelbergs. Der Sohn diente im französischen Garderegiment und stieg dort zum Wachtmeister auf. In der Heimat erwarb sich Plazi grosse militärische Verdienste, als er im Zwölferkrieg – zusammen mit Hans Melcher Dillier, einem anderen Unteroffizier der Soldtruppen – die Engelberger Miliz ausbildete und anführte.548 Er wurde diesbezüglich als „ausgezeichneter und sehr erfahrener Hauptmann“ gerühmt. In den 1690er Jahren war Plazi 546 Vgl. dazu auch Head (1979: 192), Zurfluh (1989: 363), Witschi (1994: 16) und Steinauer (1997). 547 Die zugrundeliegende Überlieferung ist für die folgenden Ausführungen über den Anhang bzw. die Namen der jeweiligen Soldaten erschliessbar. 548 Vgl. Nr. 26 und 63.

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Kammerdiener des Abtes von Einsiedeln, wo er auch eine auswärtige Frau ehelichte. Als er mit ihr nach Engelberg zurückkehrte, führte er zeitweilig das Wirtshaus zum Engel. Auch sein Bruder Ignaz zeigte sich – wie schon der Vater – reisefreudig: Im späten 17. Jahrhundert wanderte er nach Prag aus und heiratete dort. Plazis Sohn Hans Melcher Frowin (*1698) zog später ebenfalls in die Solddienste. Noch 1734 trat er als 36-Jähriger in französische Dienste ein – Melcher war zu jener Zeit bereits verheiratet und mehrfacher Vater. Melcher zeigte offenbar kein Interesse am Familiengut auf der Hinteregg, das sein Vater 1731 für 11‘000 Pfund an einen Fremden veräusserte. Melchers Söhne folgten dem Beispiel ihres Vaters und Grossvaters und leisteten ebenfalls Kriegsdienste. Melcher Geni (1724–1744) hatte weniger Glück als seine Vorfahren und starb bereits als 20-Jähriger in Savoyen. Sein Bruder Karl Sepp (1743–1783) diente ebenfalls als Soldat. Er liess sich noch 1782 als 39-jähriger Ehemann und mehrfacher Vater in spanische Dienste anwerben. Ein Jahr später erlag er vermutlich einer Erkrankung in Madrid. Noch im 19. Jahrhundert dienten Nachkommen der Familie in neapolitanischen Diensten.549 Der Solddienst übertrug sich in bestimmten Familien von einer Generation auf die andere. Dies traf auch auf die Familie Benedikt Müllers zu, der im frühen 17. Jahrhundert in französischen Diensten stand. Es scheint, dass auch sein Sohn Kaspar (1622–1678) in Frankreich diente, ehe ihn dort der Tod im 57.  Lebensjahr ereilte.550 Kaspar war bereits Vater von elf Kindern. Sein zweitjüngster Sohn Geni (1667–1688) wollte wohl dem Beispiel seiner Ahnen folgen, als er sich 1687 für den Feldzug nach Morea dingen liess: Er kehrte allerdings nie mehr zurück. Seine Brüder Sepp (1654–1703), Sepp (*1657), Oswald (1660–1725) und Niklaus Remigi (*1672) zogen ihrerseits in französische Dienste, wie es schon ihr Grossvater und ihr Vater getan hatten. Mindestens der jüngere Sepp und Niklaus Remigi waren Familienväter. Balzer Schleiss (1626–1692) leistete ebenfalls fremde Kriegsdienste. Er liess sich 1664 noch als 38-Jähriger in französische Dienste anwerben. Schleiss war damals Meisterknecht des Klosters und mehrfacher Familienvater – er verheiratete sich bis zu seinem Tod dreimal und zeugte 18 Kinder! Seine Söhne Hans Kaspar (*1652), Franz (*1653), Hans Melcher (1672–1732) und Lenz (1673–1697) zogen später ebenfalls in fremde Kriegsdienste, mehrheitlich nach Frankreich. Hans Kaspar war bereits Familienvater, als er in den 1680er Jahren mit einer fremden Ehefrau ausriss 549 Zur Familie Hermann vgl. neben Anhang auch Hess (1945b: 70). 550 Zur Familie vgl. StB Müller 1, zum Tod Kaspars vgl. den Eintrag im Sterberegister von 1679. Identität und Solddienst Kaspars sind nicht zweifelsfrei erhärtet, doch wahrscheinlich.

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und sich als Soldat dingen liess. Auch der Bruder Franz besass ein unruhiges Wesen. Anders verhielt es sich mit Hans Melcher, der über ein Jahrzehnt in französischen Diensten stand und sich das Vertrauen seiner Offiziere erwarb. Nach seiner Rückkehr arbeitete er als Küster, Heizer und Marchstaller des Klosters. Er wurde auch zum Leutnant der Miliz gewählt. Hans Melcher heiratete zweimal. Lenz schliesslich starb 1697 in französischen Diensten, als ihn eine holländische Kugel in Flandrien tödlich verletzte. Es ist denkbar, dass er mit einem seiner Brüder Dienst leistete. Bemerkenswert sind auch die Solddienste der Familie Hans Kaspar Kusters (1660– 1733). Es ist nicht bekannt, ob Hans Kaspar selbst in Solddiensten stand. Jedenfalls leisteten sein Sohn Hans Melcher (1692–1771) wie auch dessen Sohn Michel Adelhelm (1726–1807) Kriegsdienste. Weiter zogen auch Hans Kaspars Söhne Franz Benedikt (1694–1733) und Karl Dominik Leonz (1705–1780) in fremde Dienste, der letztere noch als 41-Jähriger. Es ist nicht klar, ob auch der Sohn Hans Geni Frowin (1701–1754) Soldat wurde, doch sein Sohn Benedikt Maria (1751– 1817) stand ebenfalls in Solddiensten. Die Neigung zum Kriegsdienst übertrug sich nicht nur in der männlichen Linie: Hans Kaspars Tochter Anna Maria Plazida (1688–1733) hatte drei Söhne, die ebenfalls Soldat wurden, nämlich Hans Geni (1717–1734), Hans Sepp (1720–1747) und Geni Niklaus Häcki (1727–1804). Auch die Tochter Maria Plazida Brigitta (1690–1733) zählte einen Soldaten unter ihren Kindern, nämlich Maurus Amrhein (1725–1743). Auch in der Familie des Zimmermanns Hans Andres Geni Kuster (1679–1757) gab es mehrere Soldaten. Mindestens drei Söhne zogen in die Solddienste, nämlich Hans Baschi Flori (1708–1743), Hans Ignaz Adelhelm (1709–1746) und Hans Anton (1714–1795). Von den neun Söhnen Hans Antons, die das Mündigkeitsalter erreichten, wurden mit einer Ausnahme alle Soldaten, nämlich Hans Jörg (1747– 1783), Hans Anton Ignaz (1751–1771), Jakob Sepp Benedikt (1752–1798), Hans Sepp Markus (*1755), Melcher Sepp (1758–1781), Geni Anton Anselm (1760– 1794), Hans Sepp Geni (1762–1798) und Sepp Leodegar Ignaz (1771–1830). Auch Geni Thaddä Brun, ein Stiefsohn Hans Antons, müsste zu ihnen gezählt werden. Hans Anton liess sich 1755 ein neues Haus für 220 Gulden bauen: Man kann sich berechtigterweise fragen, wer denn eigentlich noch in diesem Haus lebte. Joachim Hans Jörg Töngi (1750–1804) gelang eine gute Heirat, als er eine Tochter des begüterten und einflussreichen Gerichtsherrn Hans Melcher Cattani ehelichte. Als 30-Jähriger kaufte er für 8‘500 Pfund ein neue Hausstatt und zusätzlichen Grundbesitz für 3‘000  Pfund. Sein ältester Sohn Joachim Sepp Bernhard Maria (1774–1816) entschied sich später, in die spanischen Dienste einzutreten. Er heiratete dort und wurde fünffacher Familienvater. Sein ältester Sohn Franz Anton (1800–1875) zog von Spanien nach Neapel, wo er sich mit einer Italienerin verheiratete. Franz Anton war als Ausgewanderter der zweiten Generation des Schweizer-

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deutschen nicht mehr mächtig. In Neapel trat er eine Offizierslaufbahn an, die mit der Aufweichung der Standesgrenzen nunmehr auch einfachen Leuten zugänglich war. Franz Anton wurde 1851 schliesslich zum Major befördert. Sein Vater war um 1800 noch als einfacher Rekrut aus dem Engelberger Hochtal weggezogen.551 Weitere Beispiele von Soldatenfamilien liessen sich hier anfügen. Nebenbei fällt die familiäre Bedingtheit von Solddiensten auch umgekehrt auf: Gewisse Familien stellten über Jahrhunderte hinweg keinen einzigen Soldaten. Man darf annehmen, dass der Eintritt in die Solddienste Interesse und Wissen voraussetzte. Wem diese nicht in die Wiege gelegt wurden, fand selten den Weg in die auswärtigen Kriegsdienste. Wer hingegen den Kriegsdienst aus den Berichten von Vater, Grossvater, Brüdern, Onkeln und Vettern kannte, nahm selbst viel leichter den Dienst auf. Vielen Talleuten erging es vermutlich wie dem appenzellischen Soldaten Hans Rohner, dessen Vater im späteren 18. Jahrhundert oft ehemalige Dienstkameraden in seinem Haus empfing: „Diese kamen dann und wann in unserm Hause zusammen und erzählten einander gar vieles, was sie gesehen und erfahren hatten, so dass meine Lust, ebenfalls in die Fremde zu gehen, täglich zunahm.“552 Waren es denn nicht „Zeiten bitterster Not und äusserster Verzweiflung“, die viele Talleute in die Solddienste trieb?553 Gegen diese verallgemeinernde Vermutung lassen sich erhebliche Einwände anführen. Tatsächlich weisen die Rekrutierungszahlen im 17. und 18. Jahrhundert starke Schwankungen auf, was sich nicht nur durch die lückenhafte Überlieferung erklären lässt. Allerdings ist kein erheblicher Zusammenhang zwischen hohen Rekrutenbeständen und Jahren der Teuerung, Missernte, Schlechtwetter usw. erkennbar. Vielmehr hing die Zahl der Angeworbenen mit der auswärtigen Nachfrage zusammen. Die königlichen Garderegimenter in Paris und Madrid sorgten für eine regelmässige Nachfrage, was auch für die päpstliche Garde in Rom galt. Allgemein zogen Talleute bis in die ersten Jahrzehnte des 18.  Jahrhunderts vornehmlich in französische Dienste. Die Werbungen nahmen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts deutlich zu, als Frankreich seine nordöstlichen Grenzen auszuweiten suchte. Eidgenössische Soldtruppen spielten dabei eine wichtige Rolle, stellten sie doch bis zu einem Drittel der französischen Fusstruppen dar.554 Talleute traten in jener Zeit entsprechend häufig in die französischen Dienste ein, bis der Frieden von Ryswijk 1697 die Nachfrage kurz551 Vgl. auch Maag (1909: 741). 552 Zitiert nach Witschi (1994: 73). 553 Vgl. etwa Suter (1971: 57), der hier stellvertretend für die sozialgeschichtlichen Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre stehen kann. 554 Vgl. Carles (1991: 78).

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zeitig dämpfte. Im 18. Jahrhundert führten der spanische Erbfolgekrieg (1701–1714) und der polnische Thronfolgekrieg (1733–1735) zu einer deutlichen Zunahme der Werbungen. Allein 1734 traten 20 Talleute in die Solddienste ein! Die Nachfrage war in jenem Jahr besonders hoch, da die neue Soldmacht Neapel Truppen anzuwerben begann. Die neapolitanische Nachfrage blieb auch im österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) stark. Die spanischen Dienste wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutsamer, auch wenn Talleute bereits im 17. Jahrhundert in Spanien dienten. Talleute wirkten insbesondere bei der spanischen Rückeroberung Menorcas mit, das bis 1802 abwechslungsweise von Spanien, England und Frankreich besetzt wurde. Europäische Kriegsereignisse erhöhten also die Nachfrage stark, was sich unmittelbar auf die Rekrutierungszahlen in Engelberg niederschlug. Kriegsnachrichten trafen rasch ins abgelegene Hochtal ein und sorgten wohl für eine gewisse Kriegsstimmung. Werber traten vermehrt auf und spähten nach Dienstwilligen. Diesen fiel der Schritt zum Werbetisch gewiss leichter, wenn ein allgemeiner Aufbruch in der Luft lag. Stammten denn die Angeworbenen aus verarmten, schlecht eingegliederten Familien? Die Soldaten selbst waren nicht vermögend, was angesichts ihres oft jungen Alters auch nicht weiter erstaunlich ist. Ergiebiger ist dagegen die Frage, welche gesellschaftliche Stellung ihre jeweilige Familie einnahm. Einerseits lässt sich der ungefähre Vermögensstand der Familie in zahlreichen Fällen umreissen. Andererseits lässt sich aus den Lebensläufen naher Familienangehöriger gut erschliessen, wie stark die jeweilige Familie in der dörflichen Gesellschaft eingegliedert war. Die Soldaten stammten beileibe nicht nur aus armen Familien. Die Eltern waren oft nicht besitzlos. Vielfach belegen die Lebensläufe der daheimgebliebenen Geschwister, dass andere Zukunftsaussichten durchaus im Bereich des Möglichen lagen. Vergeblich sucht man in den Listen der Spend- und Almosenempfänger nach Namen von Soldaten bzw. deren Angehörigen. Ferner lässt sich der Verdacht, »überzählige« Söhne seien in die Solddienste abgeschoben worden, nur in Einzelfällen erhärten. Allenfalls lässt sich feststellen, dass Halbwaise ihr Elternhaus frühzeitig verliessen, wenn sich ihr verbliebener Elternteil erneut verheiratete: Der Kriegsdienst bot in solchen Fällen eine willkommene Auszugsmöglichkeit. Die meisten Dienstnahmen lassen sich aber durch Stellenlogik keineswegs erklären, sondern widersprechen ihr sogar. Dafür spricht auch, dass die Einführung der Seidenkämmelei in den 1760er Jahren nicht zu einem Rückgang der Solddienste führte: So weist nichts darauf hin, dass die Dienstwilligen die Kämmelarbeit dem Kriegsdienst vorgezogen hätten. Soldatenfamilien waren in der dörflichen Gesellschaft durchaus eingebunden. Soldaten stammten ebenso aus ratsnahen wie ratsfernen Familien, ferner bekleideten

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Angehörige der Soldaten nicht selten Gemeindeämter. Lässt man sich auf den Einzelfall ein, werden oft spannende Verbindungen deutlich: So zog Melcher Bläsi Feierabend (1663–1703) in die französischen Dienste. Sein Vater Hans Jakob (1626–1679) war langjähriger Gerichtsherr und Fürsprecher. Sein Sohn Hans Sepp Anton (1685–1755) sollte später seinerseits langjähriger Bannwart und Gerichtsherr sein. Auch Soldat Flori Bernhard Kuster (1708–1784) war gesellschaftlich eingebunden: Nachdem er in den 1730er Jahren aus französischen Diensten zurückkam, wurde er 1740 gleichzeitig zum Säckelmeister, Fürsprecher und Leutnant der Miliz gewählt. Ab 1748 war er auch Bannwart der Gemeinalp Obhag. Kuster erlangte 1762 die Statthalterwürde, ehe er 1769 zum Ammann gewählt wurde. Nebenbei heiratete der ehemalige Soldat dreimal. Aufschlussreich ist auch der Fall des Zimmermanns Hans Justus Simon Müller (1711–1793), der 1734 in französische Dienste trat. Sein Sohn Joachim Geni (1752–1833) sollte später nicht nur zum Statthalter aufsteigen, sondern ein herausragender Ingenieur werden. Bemerkenswert sind auch die familiären Beziehungen Benedikt Maria Kusters (1751–1817), der 1780 in die spanischen Dienste trat. Sein Bruder Sepp Geni (1735–1805) war damals als Seidenmeister der Hauptverantwortliche für die Kämmelarbeit der Talleute! Einen Hinweis wert sind auch die Kriegsdienste Hans Markus Wasers (*1773), der in den 1790er Jahren dingte. Zu seinen Schwiegersöhnen sollte später Geni Hess zählen, der den örtlichen Fremdenverkehr im 19. Jahrhundert entscheidend förderte. Armut war nicht der wichtigste und schon gar nicht der ausschliessliche Grund dafür, dass Talleute in die Solddienste zogen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Talleute vornehmlich durch wirtschaftliche Zwänge zum Kriegsdienst gezwungen worden wären. Ebenso lässt sich die Vermutung nicht bestätigen, dass es sich bei den Soldaten hauptsächlich um randständige Aussenseiter gehandelt habe. Grundsätzlich lassen sich die Dienstnahmen nicht einfach über dieselbe Leiste schlagen. Die Annahme, die Dienstwilligen seien rauflustige Haudegen bzw. arbeitsscheue Müssiggänger gewesen, greift ebenfalls ins Leere. Die meisten Soldaten verhielten sich vor, während und nach ihrer Dienstzeit durchaus unauffällig. Es kam zwar vor, dass das Gericht schlaglustige Nachtbuben für einige Jahre in die Kriegsdienste verschickte: In 220 Jahren wurde allerdings kaum eine Handvoll solcher Verschickungen ausgesprochen. Gelegentlich zogen Talleute auch in den Kriegsdienst, wenn sie in der Heimat einer unrechtmässigen Liebesbeziehung bzw. einer unehelichen Vaterschaft überführt wurden. Doch handelte es sich ebenfalls nur um Einzelfälle. Schliesslich musste sich das Gericht überhaupt nie mit Klagen befassen, wonach sich heimgekehrte Soldaten in irgendeiner Weise unsittlich verhalten hätten.

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2.3.3 Dienstbedingte Netzwerke Das Engelberger Soldwesen lässt sich nur verstehen, wenn man um das gesellschaftliche Netzwerk weiss, auf dem es beruhte. Die folgenden Ausführungen gehen deshalb auf die Beziehungen ein, welche die Engelberger Soldaten (a) zu anderen dienstleistenden Talleuten, (b) zu ihrem Hauptmann, (c) zu ihrer eigenen Obrigkeit und (d) zu ihren Angehörigen unterhielten.

a) Beziehungen zu anderen dienstleistenden Talleuten Talleute traten in der Regel nicht alleine in eine Kompanie ein. Gewöhnlich dingten sich Dienstwillige in Kleingruppen bei einem Hauptmann bzw. dessen Werbern. Die Gruppenstärke war selten höher als ein halbes Dutzend, oft dingte man sich auch nur zu zweit. Gemeinsame Dienstnahmen erforderten gegenseitige Absprachen, die vor der eigentlichen Werbung unternommen wurden. So erhielt der Nidwaldner Hauptmann Johann Franz Alois Achermann am Abend des 15.  Januars 1746 unerwarteten Besuch. Hans Melcher Hermann und Karl Dominik Leonz Kuster, beide aus Engelberg, suchten den Hauptmann in dessen Haus auf dem Buochser Ennerberg auf und baten ihn, sie in seine Kompanie aufzunehmen. Kuster erklärte zudem gegenüber dem Hauptmann, „wan er dienst nemme, so werden sicherlich seines bruoders und schwesters söhne mit namen Michel Kuster und Niclaus Häckhin auch mit ihme gehen“. Offensichtlich hatten die Dienstwilligen den gemeinsamen Dienst schon abgesprochen, ehe sie Hauptmann Achermann aufsuchten. Regelmässig zogen Talleute, die bereits als Soldaten dienten, weitere Dienstwillige aus der Heimat nach. So begab sich Karl Christian Amrhein am 28. Januar 1765 – mit zwei weiteren Talleuten – in spanische Dienste. Wenige Monate später trat auch sein jüngerer Bruder Sepp Geni derselben Kompanie bei: Der jüngere Amrhein liess in seinem Werbevertrag vom 5. Juni 1765 sogar festhalten, „dass – wan sein bruder den abscheid bekommen sollte – soll mann auch schuldig sein, ihne zu entlassen“. Auch Wachtmeister Maurus Bartli Schleiss holte Familienangehörige nach, als er 1789 seinen Halbbruder Hans Jakob Geni Waser für seine Kompanie anwarb. Sein anderer Halbbruder Leodegar Joachim Waser liess sich ebenfalls anwerben. Der Vater der Brüder bzw. Halbbrüder war durchaus begütert und hinterliess bei seinem Tod 1791 einen stattlichen Grundbesitz, was die dienstleistenden Brüder allerdings nicht zur Rückkehr bewegte. Nicht nur Verwandte, sondern auch Bekannte liessen sich gemeinsam anwerben. So wurden am 3. März 1713 vier Talleute in die Kompanie Beat Jakob II. Zurlaubens aufgenommen, wobei einer von ihnen einen besonderen Zuschlag erhielt,

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weil „er zwei Cameraden gebracht“. Ein fünfter Dienstwilliger brauchte etwas mehr Bedenkzeit, stellte sich aber zwei Wochen später ebenfalls in den Dienst derselben Kompanie. Die Angeworbenen leisteten darauf ihren Dienst gemeinsam. Ähnlich spielte sich eine Werbung 1727 ab: Der äbtische Kämmerer Leodegar Amstutz suchte eines Abends den Nidwaldner Hauptmann Johann Jakob Achermann auf und erklärte ihm, „dass er in fast sicherer hoffnung stande, in Engelberg eine guedte Mannschaft zu bekommen“, worauf der Hauptmann am folgenden Tag den Abt um Werbeerlaubnis bat.555 Vermutlich liefen auch die Werbungen von 1704 und 1734 nicht anders ab, als jeweils zehn Talleute gleichzeitig für dieselbe Kompanie dingten. Vielfach stiessen die Rekrutierten am Dienstort auf weitere Bekannte, die seit längerem Dienst leisteten. In den Solddiensten ging man zwar „in ein fremdes Land, aber befand sich mitten unter seinen nächsten Landsleuten“, wie Johann Gottfried Ebel mit Recht feststellte. Ganz oder doch teilweise bestanden die Soldtruppen „immer aus Bekannten, Verwandten, Nachbarn und wenigstens aus Menschen, die Empfindung, Begriffe, Vorurtheile, Gewohnheiten, Sprache gemein hatten“.556 Manche Talleute stiegen im Dienst zum Wachtmeister auf und kehrten als Werber in ihre Heimat zurück. Solche einheimischen Werber beeinflussten das Werbegeschehen entscheidend mit. So bat Hauptmann Johann Jakob Achermann 1736 den Abt um die Erlaubnis, in Engelberg werben zu dürfen, weilen ganz unerwartet der Wachtmeister Hans Melchior Hermann sambt Jacob Joseph Hermann gebürtig von hier, nacher haus kommen, welche in guether hoffnung stehen, einige ehrliche Cameraden aufzuwerben und nach der Compagnie zu begleiten.

Offenbar weilte Wachtmeister Hans Melcher Frowin Hermann (*1698) noch am auswärtigen Dienstort, als ihn Dienstwillige aus der Heimat benachrichtigten, sie möchten ebenfalls in die Kompanie eintreten. Es ist bemerkenswert, dass sich die Dienstwilligen nicht unmittelbar an den Hauptmann wandten, sondern an ihren Talgenossen: Er war ihnen bekannt und offenbar vertrauenswürdig. Ein einheimischer Werber bot Gewähr, dass man bei der Werbung nicht über den Tisch gezogen wurde. Die Wachtmeister waren kaum daran interessiert, ihren Ruf bzw. jenen ihrer daheimgebliebenen Angehörigen durch irgendwelche Machenschaften zu verspielen. Hermann wurde bald auf Heimaturlaub geschickt, um die Werbung in Engelberg abzuwickeln und die Rekruten zur Kompanie zu begleiten.

555 Vgl. CFD, Brief Johann Jakob Achermanns vom 15.02.1727. 556 Vgl. Ebel (1802: 263).

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Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr die Hauptleute das Beziehungsnetz ihrer Wachtmeister schätzten. Aber auch Abt und Gericht zogen es vor, wenn einheimische Wachtmeister die Werbung besorgten. Da man einander kannte, war man sich auch gegenseitig verpflichtet. Als z.B. Beat Jakob II. Zurlauben 1710 im Hochtal Soldaten anwerben wollte, bat ihn Abt Joachim Albini ausdrücklich, den einheimischen Wachtmeister Hans Melcher Schleiss (1672–1732) vom Dienst zu beurlauben und zur Werbung nach Hause zu schicken. Ähnliches Vertrauen wurde – neben den bereits Erwähnten – auch den Wachtmeistern Hans Niklaus Hurschler (1709–1745) und Sepp Anton Dominik Kuster (1738–1784) geschenkt. Die herrschaftliche Kanzlei stellte den einheimischen Werbern nicht nur Werbepatente und Leumundszeugnisse aus, sondern gewährte ihnen gelegentlich auch Darlehen, die sie für die Werbung benötigten. Umgekehrt mussten sich die Wachtmeister dafür verbürgen, dass die ausgehandelten Werbeverträge streng eingehalten würden. So musste Wachtmeister Hans Niklaus Hurschler 1739 eine schriftliche Versicherung hinterlegen, wonach er bei einem allfälligen Vertragsbruch selbst „zu respondieren schuldig sein solle“.

b) Beziehungen zum Hauptmann Mehrere Kompanien rekrutierten im 17.  und 18.  Jahrhundert in der Herrschaft Engelberg. Allesamt standen sie im Besitz führender Ratsgeschlechter der Innerschweiz. Es handelte sich um Familien, die „durch ihr Vermögen und ihre Staatsämter seit Jahrhunderten allgemeines Ansehen, festgegründete Achtung und unerschütterliches Vertrauen unter allen ihren Mitbürgern genossen“, wie Johann Gottfried Ebel in vergleichbarem Zusammenhang erklärte.557 Die Talschaft Engelberg unterhielt seit alters enge Beziehungen zum benachbarten Nidwalden. Dieses Sonderverhältnis drückte sich auch im Soldwesen aus, denn Talleute leisteten ihre Kriegsdienste vornehmlich in nidwaldnerischen Kompanien. Diese gehörten – wie andernorts – zum Familienbesitz angesehener Ratsfamilien: Vielfach löste der Sohn den Vater an der Spitze der Kompanie ab. Wer als Soldat zu einer solchen Einheit stiess, verpflichtete sich nicht nur gegenüber der Obrigkeit, der die Aufsicht und Rechtsprechung über sämtliche kapitulierten Truppen oblag. Eine Dingung bedeutete zugleich (und vielleicht sogar hauptsächlich), dass man sich in den Dienst einer bestimmten Rats- und Offiziersfamilie stellte. So hatten zwei Nidwaldner Landammannsfamilien die besondere Gunst der Talleute. Es handelte sich einerseits um die Familie Achermann, deren Familienhäupter sowohl einflussreiche Ratsherren als auch angesehene Offiziere waren. Viele Talleute stellten sich andererseits in den Dienst der Familie Lussi, die auf den berühmten Staatsmann und Obersten Melchior 557 Vgl. Ebel (1802: 263).

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Lussi (1529–1606) zurückging.558 Talleute liessen sich auch von anderen nidwaldnerischen Familien anwerben, so von den Familien Christen, Jann, Keyser, Trachsler, Stulz und Zelger. Die Schwyzer Kompanien waren bei den Talleuten ebenfalls beliebt: Die Familien Betschart und Reding warben im Hochtal erfolgreich Rekruten an. Die Werbungen der Familien Hedlinger, Nideröst und Stadler waren eher von untergeordneter Bedeutung. Weiter heuerten auch Urner Kompanien in Engelberg an: Diesfalls stammten die Dienstherren aus den Familien Schmid und Jauch. Obwaldner Werbungen erfolgten zugunsten der Familie Windlin. Die Familie Zurlauben aus Zug nahm ebenfalls Talleute in ihre Dienste auf. Auch Luzerner Dienstherren entsandten ihre Werber ins Hochtal, so etwa die Familien Balthasar, Dürler und Pfyffer. Die Dienstherren der Talleute bildeten einen auserlesenen Kreis, gehörten sie doch den führenden Familien der Innerschweiz bzw. der Waldstätten an. Sie unterhielten keineswegs nur militärische Beziehungen zu Engelberg. Angesehene Familien schickten ihre Sprösslinge gerne zur Ausbildung in die Klosterschule. So zählten innerschweizerische Ratsfamilien nicht selten einen Konventualen unter ihren Angehörigen. Auch wer nach der Schulzeit eine weltliche Laufbahn einschlug, blieb zeitlebens mit dem Kloster verbunden. Ratsherren der Schirmorte knüpften engere Beziehungen zur Talschaft, wenn sie daselbst die Talvogtei besorgten. Landammänner bzw. Schultheissen, Gerichte und Räte standen im Amtsverkehr mit der äbtischen Herrschaft. Die Klostergemeinschaft wurde ferner nicht nur als Geschäftspartner, sondern auch als geistlicher Dienstleister sehr geschätzt. Schliesslich zählte die altehrwürdige Benediktinerabtei zu den heiligsten Stätten der Innerschweiz: Das Stift stand – hart an der Grenze zum protestantischen Vorort Bern – sinnbildlich für die katholische Identität der Innerschweiz, deren Verteidigung gerade den Oberen oblag. Beispielhaft verkörperte der Nidwaldner Johann Jakob Achermann (1665–1737) den gemeinten Offiziersschlag.559 Achermann gehörte einer angesehenen Ratsfamilie an: Sein Vater Johann Franz (1620–1708) regierte Nidwalden mehrmals als Landammann. Die Familie besass ein stattliches Anwesen auf dem Ennerberg bei Buochs. Es ist durchaus möglich, dass der junge Johann Jakob die Klosterschule besuchte, wie es schon der berühmte Melchior Lussi getan hatte. Als der Vater in den 558 Vgl. HLS 1.80–82 sowie HBLS 4.737–738. 559 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Wagner (1897), Egger (1913: 69), Durrer (1971: 230), Heer (1975: 253, 260, 262, 281) und Tomaschett (2007: 494). Ferner auch HBLS 1.86–87.

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1690er Jahren als Talvogt von Engelberg amtete, stand Johann Jakob in französischen Diensten – seine Familie zählte eine Vielzahl angesehener Offiziere. Mehrmals in Kämpfen verwundet, wurde er von Ludwig  XIV. in den neugegründeten Ludwigsorden aufgenommen. Im Dienst begegnete Achermann anderen Ratsherrensöhnen der Innerschweiz, so z.B. dem späteren Zuger Landammann Beat Jakob II. Zurlauben (1660–1717). Achermann kehrte im frühen 18. Jahrhundert in seine Heimat zurück und trat eine Ämterlaufbahn an, die ihn 1722 zur Landammannswürde führen sollte. Ferner besass er in den folgenden Jahrzehnten eine Kompanie, die in französischen Diensten stand. Achermann besuchte als Hauptmann seit 1704 regelmässig das Hochtal, um Talleute für seine Kompanie anzuwerben. Damals warb auch sein Freund Beat Jakob II. Zurlauben in Engelberg: Mit Leonz Zurlauben, einem verwandten Konventualen, verfügte dieser über einen ausgezeichneten und zuverlässigen Werbehelfer vor Ort. Als sich katholische und protestantische Orte im Zwölferkrieg bekämpften, errang Achermann den einzigen militärischen Erfolg der katholischen Seite: Am 20.  Juli 1712 besiegte er bernische Einheiten, die ihr Lager im aargauischen Sins aufgeschlagen hatten – der besagte Ort unterstand der Herrschaft des Klosters Engelberg. Bald darauf zog Achermann am 7. August mit 200 Mann ins Hochtal, wo er bernische Soldaten zurückschlug, die über den Jochpass ins Hochtal eingefallen waren. Da der Hauptmann in Sins schwer verletzt worden war, trug man ihn in einer offenen Sänfte nach Engelberg, damit er vor Ort seine Truppen befehligen konnte. Die Talmiliz zählte in jener Zeit wohl manchen Wachtmeister bzw. Soldaten, der mit Achermann in Frankreich gedient hatte. Vielleicht kümmerte sich Achermann auch um die Ausbildung dieser Miliz, wie es einige Jahre später General Johann Dominik Reding (1673–1740) aus Schwyz tat, dessen Familie ebenfalls im Hochtal Soldaten anwarb.560 Nach Kriegsende liess Achermann auf dem Ennerberg zu Ehren der Muttergottes eine Kapelle erbauen, die an den militärischen Erfolg von Sins erinnern sollte. Beat Jakob II. Zurlauben schenkte dem Heiligtum ein Bild der Muttergottes von Loreto, während Abt Joachim Albini die Kapelle weihte. Seine Verbundenheit mit dem Kloster Engelberg bewies Achermann auch beim Klosterbrand von 1729, als er mehreren Konventualen in seinem Haus Obdach bot. Später traten Achermanns Söhne in die Fussstapfen ihres Vaters. Mindestens der Sohn Franz Alois (1708– 1779) besuchte die Klosterschule. Die meisten Söhne durchliefen eine Offiziersbzw. Ämterlaufbahn. Der Vater kümmerte sich bis in die letzten Lebensjahre um seine Kompanie: Johann Jakob Achermann reiste noch als 70-Jähriger ins Hochtal, um Talleute in seine Dienste aufzunehmen. Insgesamt besorgte der Hauptmann das Werbegeschäft während fast vierzig Jahren: Talleute zweier Generationen sollten 560 Vgl. CFD, Brief Johann Dominik Reding von Bibereggs vom 14.05.1725.

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unter Achermann dienen. Das besondere Verhältnis verlängerte sich über Achermanns Tod hinaus, als sein Sohn Franz Alois die Kompanie seines Vaters übernahm und ebenfalls während Jahrzehnten im Hochtal Soldaten anwarb. Wollte ein Hauptmann erfolgreich werben, musste er das Vertrauen der Dienstwilligen besitzen. Die meisten Hauptleute, die im Hochtal Soldaten anwarben, besassen in den Nachbarorten hohes Ansehen und beträchtlichen Einfluss. Doch ein grosser Name reichte alleine nicht. Hauptleute mussten sich immer wieder des Verdachts erwehren, sie würden sich nicht an die vereinbarten Dienstverträge halten, wenn die geworbenen Soldaten einmal im Ausland wären. Die sogenannte »Schuldenfalle« trug zum Verruf der Kriegsdienste besonders bei: Angeblich verführten Hauptleute ihre Soldaten zu überrissenen Ausgaben, bis sich diese derart verschuldet hätten, dass ihr ehrlicher Abschied in weite Ferne rückte. Dieser „niedrige Handgriff, die jungen Leute beim Regiment festzuhalten“, war in der ganzen Eidgenossenschaft berüchtigt.561 Nicht nur arglistiger Machtmissbrauch der Hauptleute konnte Soldaten in Schulden bringen: Auch unglückliche Umstände (Krankheiten, Ausrüstungsverschleiss, usw.) und eigenes Verschulden brachten die Rechnung der Soldaten in Schieflage. So diente der 23-jährige Sepp Waser (1.63 Meter gross, hellbraune Haare, graubraune Augen, längliches Gesicht) vom 20. Januar 1734 bis zum 29. Juni 1735 in der Kompanie Achermann, wobei er sich in diesen anderthalb Jahren mit über 75 Pfund verschuldete. Die ausführliche Rechnung Wasers zeigt, dass ihm vor allem Krankheitskosten, Ausrüstungskäufe und Reisespesen teuer zu stehen kamen. Nebenbei: Ein ehrlicher Abschied wurde gelegentlich aus umgekehrten Umständen verunmöglicht, wie ein halbes Jahrhundert zuvor Soldat Hans Waser erfahren musste:562 Er habe ab Herrn Haubtman Reding kein Klag, allein beklage er sich dessen, das ihmme nit seye ghalten worden, was man ihmme versprochen. Befragt, ob Herr Reding nit mit jedem abgerechnet, undt darüber befragt, undt frei gestelt, ob er widerum dingen wolle, oder nit? Antwortet Waser, man seie bezwungen gwesen zue dingen, wilen sie [als Gläubiger] vill schuldig gwesen, undt ihnen H. Haubtman wegen Abgang der Mittlen nit bezahlen können, seye dessentwegen gebunden gewesen, widerumb zue dingen.

Dienstwilligen war durchaus bewusst, dass sie sich durch dienstbedingte Ausgaben verschulden konnten. Diese Aussicht dämpfte die Dienstlust erheblich, was wiederum nicht im Sinn der Hauptleute lag. Der Missstand liess sich nur beheben, wenn 561 Vgl. Ebel (1802: 262). 562 Vgl. ETP 4.55.

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die Kompanien die besagten Kosten mindestens teilweise übernahmen. Diesbezüglich kamen Hauptleute den Dienstwilligen zusehends entgegen, wie die Dienstverträge des 18. Jahrhunderts belegen. Soldaten wurden kostenfreie Bewaffnung und Ausrüstung zugesprochen, ferner auch Reise- und Verpflegungsgelder bis zur Kompanie gewährt. Auch Urlaubsregelungen wurden vereinbart: So verpflichtete sich 1746 Johann Franz Alois Achermann, der die Kompanie seines Vaters übernommen hatte, gegenüber einem angeworbenen Talmann, er habe „nach verflüessung des ersten jahres ihme versprochen mit einem pass uff 3 monath nacher hauss zu lassen“. Achermann kam Dienstwilligen später soweit entgegen, dass er sogar die Reisekosten eines ordentlichen Urlaubs übernahm.563 Günstigere Bedingungen wurden auch hinsichtlich des ehrlichen Abschieds ausgehandelt. Als Niklaus Geni Waser sich 1765 in die Dienste des Schwyzer Obersten Ludwig Reding stellte, vereinbarte er mit dem Werber seines Dienstherrn: Notabene ist ihme anbei heiter versprochen worden, dass, wan er nach drei jahren nicht mehr dienen wollte, und nacher haus zu gehen verlangte, wan er auch schon was schuldig bleibte, ihme dannoch der abscheid und die entlassung ertheilt werden solle, hingegen er das schuldige hier im landt zu bezahlen schuldig sein solle.

Vergleichbare Abmachungen wurden bereits im späten 17. Jahrhundert getroffen, setzten sich aber erst im 18. Jahrhundert durch.564 Solche Dienstverträge wirkten nur anziehend, wenn ihre Einhaltung auch wahrscheinlich schien. Dafür bürgte der Ruf einer Kompanie bzw. eines Hauptmanns. Vertrauen war im Werbegeschäft das wichtigste Gut. Vertraute ein Dienstwilliger einem Hauptmann nicht, so zog er ihm einen anderen, zuverlässigeren Dienstherrn vor. Dies war in der Herrschaft Engelberg besonders der Fall, wo keine Kompanie einen Heimvorteil beanspruchen konnte. Auf dem Werbemarkt bestand ein sicherer Wettbewerb. Hauptleute mussten Fehlverhalten mit rückgängigen Werbungen bezahlen. So verhielt sich der Nidwaldner Landammann und Hauptmann Joseph Ignaz Stulz ausgesprochen ungeschickt, als er 1710 die Schulden eines verstorbenen Soldaten bei dessen Verwandten eintreiben liess. Die Klage löste in der Talschaft breiten Unmut aus, wie sich bei den Verhandlungen vor dem Talgericht herausstellte. Hauptmann Stulz verscherzte sich das Vertrauen der Talleute, die sich kaum mehr in seine Dienste stellten.565 563 Vgl. ETP 13.340–341. 564 Vgl. CFD, Kapitulation zwischen Abt Ignaz Burnott und Hauptmann Johann Anton Schmid vom 14.03.1688. 565 Vgl. ETP 5.243–247.

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Hauptleute hatten viel zu verlieren, wenn man ihnen zweifelhafte Machenschaften nachsagte. Das wusste auch Johann Jakob Achermann, als ihn ein Talmann 1727 anlässlich einer Werbung in Ungnade zu bringen suchte. Der Unruhestifter erklärte gegenüber Dienstwilligen, „man werde ihnen [seitens der Kompanie] versprechen aber nicht halten und werde keiner mehr heim kommen“. Ähnlich hatte ein anderer Talmann schon 1688 erklärt, die Hauptleute seien „alle Schelmen, Dieben und ungrechte Leüth“, wie es nach gemeinem Sprichwort auch alle Müller, Wirten, usw. seien.566 Achermann duldete die Schmähung nicht und beklagte sich deswegen bei Abt Maurus Rinderli. Gekränkt erklärte er ihm gegenüber:567 Ist datto über die dreissig iahr, dass ich die compagnei fast allzeit ehrlicher landthleüten von ob und nitt dem kernwald [d.h. von Ob- und Nidwalden] zue des königs dienst mit ehr und lob versechen und erhalten, als und dergestalten kein ehrlicher mann zue finden sein wird, weder ein noch aussert dem landt, der mit warheith sagen kann, das[s] ich das minder oder das merere versprochen habe und nicht gehalten, ist also diser vermessen galgenbueb der erstere, der mich an einem frömbden ohrt so schimpflich thaxiert, so doch ob und nit dem wald auch aussert dem landt von keinem ehrlichen man bis dahin gereth worden.

Achermann sah durch das Gerücht nicht nur die laufende Werbung gefährdet, sondern auch seine persönliche Würde. Die Angriffe waren nicht nur geschäftsschädigend, sondern schadeten dem ehrenvollen Namen, den sich Achermann als Staatsmann, Offizier und Schutzherr der Kirche über Jahrzehnte erarbeitet hatte. Die Hauptleute waren weitaus mächtiger als jene Talleute, die sich in ihre Dienste stellten. Und doch hatten sie nicht einfach freies Spiel: Ein angesehener Familienname verpflichtete zu rechtschaffenem Handeln. Die Hauptleute unterhielten vielfach persönliche Beziehungen zum Konvent und gaben der äbtischen Herrschaft ungern einen Grund zur Klage, sie würden deren Untertanen ungerecht behandeln. Ferner setzte eine erfolgreiche Werbung Vertrauen voraus: Wer den Ruf eines zuverlässigen Hauptmanns genoss, vermochte Dienstwillige eher anzulocken. Unbescholtene Dienstverhältnisse und persönliche Bekanntschaft stellten im Werbegeschäft entscheidende Trümpfe dar. Einheimische Werber unterstützten die Hauptleute tatkräftig. Es handelte sich in der Regel um Talleute, die eine Wachtmeisterstelle erlangt hatten. Diese Wachtmeister verfügten in ihrer Heimat über ein Beziehungsnetz, das fremden Werbern abging. Sie konnten dienstbereite Talleute leichter ausfindig machen und entsprechend angehen. Dienstwillige ihrerseits waren froh, wenn sie ihren Dienst mit ei566 Vgl. ETP 4.242–244. 567 Vgl. CFD, Brief Johann Jakob Achermanns vom 15.02.1727.

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nem einheimischen Werber absprechen konnten. Die Wachtmeister konnten den Angeworbenen wertvolle Auskünfte und Ratschläge erteilen. Wahrscheinlich blieben sie auch in der Dienstzeit die wichtigste Bezugs- und Vertrauensperson ihrer Rekruten.568 Die Wachtmeister konnten sich arglistiges Vorgehen kaum leisten, wenn sie ihren Kredit nicht verscherzen wollten. Die Wachtmeister waren nicht nur ihren Talgenossen, sondern auch ihrem Hauptmann verpflichtet. Sie waren für ihre Werbegeschäfte verantwortlich und verwalteten beträchtliche Geldsummen. Einem Werber konnte Übles widerfahren, wie etwa Wachtmeister Hans Niklaus Hurschler 1740 erfahren musste. Hurschler fasste den Auftrag, 17 Rekruten ungenannter Herkunft nach Genua zu führen. Für die Bestreitung der Reisespesen erhielt er 200 Gulden aus der Kompaniekasse. Auf halber Strecke rissen die Rekruten jedoch aus, nachdem sie ihren Wachtmeister überwältigt, an einen Baum gebunden und seines restlichen Geldes entledigt hatten. Zu allem Überfluss kehrte ein Ausreisser später zurück und beschuldigte Hurschler bei seinem Hauptmann, selbst Gelder auf der Reise veruntreut zu haben. Ähnliches Ungemach widerfuhr auch Wachtmeister Sepp Anton Dominik Kuster 1777: Damals warb er drei Talgenossen an und brach mit ihnen zur Kompanie nach Spanien auf. Unterwegs riss allerdings ein Rekrut aus, kehrte ins Hochtal zurück und verleumdete den Wachtmeister, „als hätte der Kuster an der ihme zugestandenen capitulation ermanglet und seine rechnung während dem marsch zum regiment mit widerrechtlicher forderung beschwehrt“. Die Obrigkeit sprach Kuster nach einigen Abklärungen von den Vorwürfen frei. Die Wachtmeister konnten auf die Dankbarkeit ihres Hauptmanns zählen. Ihr Sold war wesentlich höher als jener der gemeinen Soldaten. Zudem entwickelten sie oft eine persönliche Bindung zu ihrem Hauptmann, die über dienstliche Angelegenheiten hinausging. Hauptmann Johann Jost Trachsler brachte dafür 1748 einen schönen Beweis: Der eben erwähnte Hans Niklaus Hurschler hatte ihm während neun Jahren als Wachtmeister gedient, ehe er 1745 in Neapel an der Pest starb. Trachsler besuchte drei Jahre später das Hochtal und übergab Hurschlers Angehörigen dessen Restguthaben von stattlichen 50 Gulden. Der Hauptmann drückte damit seine Wertschätzung aus, die er seinem verstorbenen Wachtmeister gegenüber empfunden hatte – rechtlich verpflichtete ihn nichts zu diesem Schritt. Auch Wachtmeister Sepp Anton Dominik Kuster durfte die Achtung seiner Hauptleute erfahren. Als seine Tochter Maria Agatha 1776 geboren wurde, übernahm 568 Ein analoges Beispiel findet sich bei Gotthelf IX, 222–258. Jeremias Gotthelf schliesst als junger Soldat Freundschaft mit dem alten Wachmeister Bonjour. Der alte Berufssoldat führt den unerfahrenen Jüngling in das militärische Leben ein und bringt ihm auch das Schreiben und Rechnen bei.

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Hauptmann Arnold de Courten die Patenschaft des Kindes. Als drei Jahre später sein Sohn Sepp Anton Niklaus zur Welt kam, stellte sich Hauptmann Felix Zelger zur Verfügung. Solche Gunstbezeugungen waren nicht selbstverständlich.

c) Beziehungen zur Obrigkeit Truppenwerbungen waren auch in der Herrschaft Engelberg bewilligungspflichtig. Die äbtischen Talherren besassen die diesbezügliche Entscheidungsgewalt. Die Hauptleute bzw. ihre Werber unterliessen es nie, die äbtische Erlaubnis einzuholen – selbst dann, wenn Talleute ausserhalb der Herrschaft angeworben wurden. Die Freundschaft und das Ansehen des hochwürdigen Herrn liessen ein anderes Vorgehen gar nicht zu. Die Äbte selbst verdienten am Soldwesen kaum: Die französische Botschaft in Solothurn liess den Talherren gelegentlich Pensionen zukommen, doch die Jahresgelder von 300 Pfund waren geringfügig.569 Die klösterlichen Rechnungsbücher weisen auch nicht darauf hin, dass Hauptleute für Werbungen bezahlt hätten. Die Äbte konnten allerdings bei Bedarf damit rechnen, dass ihre Anliegen in den Nachbarorten von den begünstigten Hauptleuten unterstützt würden: Solche Gefälligkeiten waren unter Umständen viel wertvoller als Geldzahlungen. Abt und Gericht sorgten dafür, dass sich Hauptleute und Soldaten an die vereinbarten Dienstverträge hielten. Gelegentlich kam Streit schon nach der Werbung auf, wenn angeworbene Talleute den Dienst nicht antreten wollten. So beklagte sich die Nidwaldner Obrigkeit am 4. Juni 1664, dass sieben Talleute in der Kompanie Lussi gedingt hätten, aber die Abreise zur Kompanie verweigerten. Die Hauptleute fühlten sich „nicht allein an guot, sonder vill mehr an ihrer ehr und reputation“ geschädigt und baten um die Auslieferung der Betroffenen. Abt Ignaz Betschart kam dieser Bitte allerdings nicht nach. Einen Monat später schrieb Hauptmann Johann Ludwig Lussi dem Abt, „dass von den gedingten Soldaten mihr mehrere und neüwe conditiones, von welchen ich niemalen niechts gewüst, hab angemuetet worden“. Einige Rekruten versuchten also, die Dienstverträge neu zu verhandeln. Andere boten dem Hauptmann sogar an, den Streit vor das Talgericht zu bringen: Die Gedingten zählten offensichtlich auf die Rückendeckung von Abt und Gericht. Es ist ungewiss, ob die Rekruten jemals ihren Dienst antraten.570 Deserteure mussten ebenfalls damit rechnen, dass die Hauptleute sie vor ihrer Obrigkeit anklagten. So standen Sepp Hurschler und Sepp Feierabend 1743 als Angeklagte vor dem Talgericht, weil sie gemeinsam (!) desertiert waren. Das Gericht befragte die Angeklagten und erfuhr, dass 569 Entsprechende Quittungen sind in CFD erhalten. 570 Vgl. CFD, Briefe der Familie Lussi vom 04.06.1664, 04.07.1664 und 06.07.1664.

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disen zweyen von hr. pannerhr. [ Johann Ludwig Alois Lussi] mehrers sey versprochen als gehalten worden, als namblich die selbe ihr samelplatz zu Valence en Dophine haben sollen und zu jederzeiten aldorten verbleiben werden, auch aldorten mondiert und armiert werden. Jezunder aber in Savoie marchieren müssen, alwo selbe in schlechten baurenhüten logieren und auf der strauw schlafen müessen.

Das Gerichtsurteil fiel mild aus: Die beiden Deserteure kamen hauptsächlich mit einem Verweis davon. Hauptmann Lussi musste sogar die Hälfte der Gerichtskosten übernehmen. Andere Hauptleute gingen klüger vor, indem sie zunächst auf ein Rechtsverfahren verzichteten. So musste Hauptmann Franz Alois Achermann 1746 die Desertion Joachim Töngis beklagen, den er ein Jahr zuvor angeworben hatte. Der Hauptmann übte Zurückhaltung und schrieb dem Abt: Der Joachim Thöny, so mir ohne rächtmässige ursach desertiert und wie vernommen, von anderen verfüehrt worden, sich widerumb erklährt zur Compagnie zu gehen, so werde ihme von dem Regiment uss dem pardon begähren und schrüftlichen usswürken [d.h. erwirken], verlange ihne nicht in gefahr seines läbens zu setzen, sondern dass in dorth verbleiben kenne, bis der pardon mir vom Regiment autentisch zum vorschein Eüwer hochwürdte Gnaden wird einkhommen seyn.

Achermann preschte nicht einfach vor, sondern erlaubte es Töngi, straflos in den Dienst zurückzukehren. Hauptmann Johann Jost Trachsler hatte sich sechs Jahre zuvor ebenfalls gnädig gezeigt, als Sepp Anton Töngi von seinem Dienstort in Elba desertierte. Kaum war Töngi nach Hause zurückgekehrt, stellte ihn die Frau des Hauptmanns wieder ein: Der zurückgekehrte Deserteur erhielt von ihr nicht nur Handgeld, sondern auch Gewehr und Ausrüstung. Die gütliche Einigung überrascht nicht: Soldaten hatten es am fremden Dienstort schwerer, sich gegenüber ihrem Hauptmann zu behaupten. Ihre Verhandlungsaussichten waren in der Heimat weitaus besser, weil sie dort auf den Rückhalt ihrer Obrigkeit zählen konnten. Deserteure mussten übrigens nicht unzuverlässige Soldaten sein: Hans Geni Waser beispielsweisse riss 1734 aus der Kompanie Achermann aus – drei Jahre später wurde er in der Kompanie Ludwig zum Wachtmeister befördert. Die heimische Obrigkeit schlichtete auch weitere Streitfälle, die sich in fremden Diensten ereigneten. Andres Waser und Peter Zniderist hatten sich in päpstlichen Diensten derart zerstritten, dass sich das Gericht 1614 ihres Falles annehmen musste: Zniderist beschuldigte seinen Talgenossen, ihm in Rom Geld entwendet zu haben. Auch Sepp Anton Waser beschwerte sich vor Gericht über einheimische Dienstkameraden: Diese verunglimpften Waser 1780 in der Kompanie, er sei der Sohn eines Wasenmeisters. Ferner legte sich Soldat Niklaus Waser mit den Falschen an, als er 1790 Schmähschriften über hohe Schwyzer Offiziere zu verbreiten begann.

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Die Schwyzer Obrigkeit schickte deswegen geharnischte Briefe an die herrschaftliche Kanzlei. Das obrigkeitliche Nachrichtennetz war ausgesprochen leistungsfähig. So konnte Abt Joachim Albini 1717 auf sein Netzwerk zählen, als er den Aufenthaltsort des ausgewanderten Sepp Dilliers herausfinden wollte. Der Abt erfuhr über verwinkelte Wege, dass Dillier im selben Sommer in Italien gesichtet worden war. Auf Anfrage schrieb der Berner Oberst Karl Hackbrett nach Engelberg, Sepp Dillier habe ihn in Turin aufgesucht und gebeten, ihn in sein Regiment aufzunehmen. Weiter berichtete der Oberst: Ich habe ihm erläutert, dass es in seinem Alter etwas spät sei, in den Rekrutenstand zu treten. Ich bot ihm gleichwohl ein solches Auskommen im Regiment, bis er eine bessere Gelegenheit fände. Er schien sich sehr über mein Angebot zu freuen, verliess mich, doch habe ich ihn seither weder gesehen noch habe ich irgendetwas über ihn erfahren, nicht einmal, wo er in Turin wohnte.

Wer untertauchen wollte, trat besser nicht in eine Kompanie ein, die der Aufsicht der innerschweizerischen Orte unterstand: Wer sich etwas zuschulden kommen liess, fand weder in der Heimat noch im Dienst einen Schlupfwinkel. So wurde der päpstliche Gardist Hans Töngi 1663 verdächtigt, während eines Urlaubs ein uneheliches Kind gezeugt zu haben. Töngi war bereits wieder in Rom, als ihn Abt und Gericht unmissverständlich nach Hause zurückbefahlen. Hans Kaspar Schleiss zerwarf sich in den 1680er Jahren sogar vollends mit seiner Obrigkeit: Er nahm nicht nur eine fremde Ehefrau in den Solddienst mit, sondern erleichterte seinen Hauptmann auch um 90 Gulden. Abt und Gericht verbannten Schleiss lebenslänglich. Die Soldaten machten sich den äbtischen Schutz und Schirm auf vielfältige Weise zunutze. So liessen sie ihre Dienstverträge seit dem frühen 18. Jahrhundert amtlich verzeichnen. Gelegentlich wurden besagte Verträge sogar in der herrschaftlichen Kanzlei unterzeichnet. Als Ignaz Geni Kuster 1781 in die Kompanie Lussi eintrat, wurden ihm seine Dienstbedingungen von seinem Hauptmann „in der cantzley in dreier herren gegenwart versprochen“. Die Soldaten bezogen ihre eigene Obrigkeit bei der Dingung nicht zufällig ein: Tatsächlich verpflichteten sich die Hauptleute mit der amtlichen Verzeichnung nicht nur gegenüber ihren Dienstleuten, sondern auch gegenüber der äbtischen Herrschaft. Die Soldaten behielten im Streitfall die Möglichkeit, ihre Obrigkeit um Hilfe anzurufen. Nicht von ungefähr liess sich Niklaus Wolfgang Kuster 1766 von seinem Hauptmann versprechen, dass in seiner Dienstzeit „ihm erlaubt seie, an gnädigen herren zu schreiben“. Der Solddienst brachte eine längere Abwesenheit mit sich. Die Soldaten mussten entsprechende Vorkehrungen treffen: Allenfalls mussten Schulden be-

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zahlt, Vermögensverwalter bzw. Rechtsvertreter eingesetzt, Erbschaftsregelungen getroffen und Angehörige versorgt werden. Kaspar Bernhard Hess sorgte 1780 sogar für sein Seelenheil vor und hinterlegte 14 Gulden auf der herrschaftlichen Kanzlei, „dass sofern er vor seiner zurückkunft sterben sollte, ihme allervordert aus disem geld oder deposito […] zwölf hhl. Meessen gelesen werden“. Amtliche Regelungen gaben den Soldaten sichere Gewähr, dass ihre Interessen in der Heimat gewahrt würden. Gerieten Soldaten während ihrer Dienstzeit in Schwierigkeiten, baten sie ihren Talherrn regelmässig um Hilfe. Wie sehr die Soldaten auf ihren Herrn zählten, wird aus einer Briefstelle Hans Geni Töngis deutlich, der 1723 aus Bologna an seinen Abt schrieb: „Weilen ich kein ander hofnung und trost auf diser welt nit kann haben, ihro fürstlichen gnaden welle mein refugio [d.h. Zuflucht] und hilff sein.“ Die Soldaten baten ihren Abt nicht selten um finanzielle Unterstützung. So ersuchte Hans Geni Waser 1737 den Abt um ein Darlehen von 20 Gulden, als ihm sein Hauptmann eine Wachtmeisterstelle anbot. Waser konnte den Posten nach eigenen Aussagen nicht antreten, „weil ich mich nicht in kleider und anderen occasionen nicht kan aufführen“. Der Bittsteller versprach dem Abt, dass er mit dem Geld nichts Unnötiges anschaffen wolle und gelobte, „das[s] ich nichts unrechts aufgebe, sonder nur allein umb lauter nothwendige sachen, für kleider, büecher und nothwendigkeiten, von welchem ich dem herrn einstens rechnung geben will“. Es kam wiederholt vor, dass der Abt die Schulden eines Soldaten bezahlte bzw. dessen Bürgschaft übernahm, damit dieser nach Hause zurückkehren konnte. Auch Hans Niklaus Zniderist wäre 1773 ohne Hilfe seines Talherrn nicht entlassen worden. Zniderist hatte sich in einer Redingschen Kompanie hoch verschuldet. Eltern, Geschwister, Frau und Kinder wurden bei der Schwyzer Obrigkeit vorstellig und baten um die Entlassung ihres Angehörigen – allerdings erfolglos. Zniderist wurde erst aus dem Dienst zurückgerufen, als sich die herrschaftliche Kanzlei an die Schwyzer Obrigkeit wandte und eine Bürgschaft von 200 Gulden (!) leistete. Zniderist konnte allerdings vom Soldatenhandwerk nicht lassen und dingte sich vier Jahre später in eine andere Kompanie. Die Talherren mahnten dienstleistende Talleute zur Vorsicht, doch die guten Ratschläge blieben gelegentlich ungehört. So war Abt Emanuel Crivelli schwer verstimmt, als Flori Bernhard Kuster 1735 hoch verschuldet aus dem Dienst zurückkehrte. Einem Mitbruder berichtete der Abt: Der flori kuster ist aus Freyburg mit selber gesundheit dieser tags wider in hier angelangt und hat dem hauptman Lussi für sein entlassung 50 Gl. sambt dem rock geben müessen, item hat er noch aus dem seinigen [persönlichen Besitz] innert disem jahr wol 50 Gl. verbutzt. Also gets, wan man kein rath nemmen oder suchen will.

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Der Getadelte war allerdings kein Dummkopf: Fünf Jahre danach wurde Kuster zum Säckelmeister und Leutnant der Miliz gewählt. Später sollte Kuster während 37 Jahren dem Gericht angehören, wovon 15 Jahre als Ammann. Soldaten setzten den Abt auch als Mittelsmann zu ihren daheimgebliebenen Angehörigen ein. So beklagte sich Hans Paul Häcki 1759 bei seinem Herrn, er habe schon drei Briefe nach Hause geschrieben, doch sei ihm keine Antwort beschieden worden. Ratlos meinte Häcki, „ich kann nicht wüssen, ob meine brüder nicht so ville regard [d.h. Rücksicht] vor mich haben oder ob ich in so grossen ungnaden stehe“. Häcki bat deshalb den Abt, er möge seinen Bruder mahnen, dass ehr von meinen vorfallen zinsen mihr wolle 3 toblonen […] in Mollis bey der Madam Schindlerin [d.h. zur Gattin des Dienstherrn Johann Heinrich Schindler] ablegen, dan ich bin sehr kränklich alle Zeit gewesen und möchte gar einmal miht basport [d.h. Ausweis] zu haus gehen und auch schauen, wie es zu haus beschaffen were. Wan mein bruder aber so guht sein wollte und er auf Mollis kompt und bey der Madam Schindlerin guht spreche, dass ich vor etwan 3 monat möchte miht bass zu haus gehen.

Häcki zählte auf die Hilfe des Abtes und fügte an, er erwarte „eine eillende bostantwort“ seines hochwürdigen Herrn. Der Abt war für die Soldaten eine starke Stütze. Das erklärt auch, warum Schwarzwerbungen im Hochtal kaum vorkamen. Dingten sich Talleute ohne obrigkeitliche Erlaubnis, verloren sie dadurch ihren wichtigsten Verbündeten. Dieses Wagnis gingen höchstens jene ein, die ihr Bleiberecht im Hochtal bereits verloren hatten (vgl. Abschn. 3.1.2). Umgekehrt nutzten Abt und Gericht die Solddienste, um unruhige Talleute vorübergehend aus dem Hochtal zu schicken. Obrigkeitliche Verschickungen waren selten und wurden als letztes Mittel eingesetzt, wenn sanftere Erziehungsversuche gescheitert waren. So verärgerte der 19-jährige Hans Maurus Konrad Zniderist seine Obrigkeit wiederholt mit seinen „überträtungen, besonderen ausgelassenheiten, nachtbuobenstuckh, schlechtem und fast dem gantzem thall ergerlichem leben“. Das Gericht drohte Zniderist, es werde ihn zwangsweise in eine Kompanie schicken, doch der Hitzkopf besserte sich nicht. Abt und Gericht entschlossen sich 1787 schliesslich, dass Zniderist „auf vier jahr einem sicheren haubtman solle übergeben“ werden. Zniderist wurde dem Luzerner Hauptmann Jost Dürler anvertraut, dessen Kompanie dem königlichen Garderegiment in Frankreich angehörte. Derselbe Hauptmann wehrte am 10. August 1792 den berühmten Volkssturm auf den Tuilerienpalast ab. Zniderist wurde zwar zwangs-

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verschickt, kam aber keineswegs in die Hände eines dahergelaufenen Hauptmanns.571

d) Beziehungen zu den Angehörigen Familientradition spielte bei Dienstnahmen eine entscheidende Rolle: Wer unter seinen Angehörigen ehemalige oder dienstleistende Soldaten zählte, leistete viel wahrscheinlicher Solddienste als jene, die keiner Soldatenfamilie angehörten. Gewiss erfuhren Dienstwillige viel über den Dienst, wenn sie sich mit ihren Angehörigen unterhielten, die einst gedient hatten oder noch immer dienten. Die Bedeutung dieses Erfahrungs- und Wissensaustauschs kann kaum überschätzt werden. Manche Talleute zogen allerdings wider Willen ihrer Angehörigen in fremde Dienste. So dingte Hans Niklaus Benedikt Häcki um 1700, obwohl seine Familie ihm davon abriet. Sein Grossvater Bernhardin Häcki war ein angesehener Ammann gewesen, und auch sein Vater Balzer schaffte die Wahl ins Gericht. Dieser hätte seinen Erstgeborenen auf dem Heimwesen gewiss einsetzen können, zumal seine beiden anderen Söhne noch minderjährig waren: Der Sohn dingte dennoch „wider den Willen des Vatters“. Vermutlich liess auch Gerichtsherr Balzer Dillier seinen Sohn Niklaus Anton 1714 widerwillig ziehen. Der vermögende Bauer war bereits 71-jährig und dachte gewiss daran, das Familiengut an seine Nachkommen zu übergeben. Der Sohn hätte bei Ableben des Vaters ein stattliches Erbe erhalten: Allein sein Grundbesitzanteil betrug 4‘600 Pfund. Da die übrigen Söhne allesamt früh verstorben oder in die Fremde gezogen waren, war Niklaus Anton der wahrscheinlichste Nachfolger. Allerdings hatte sich der Sohn bereits 1712 mit seinem Vater zerworfen, als er als 19-Jähriger (!) eine Dienstmagd geheiratet hatte. Als Niklaus Anton zwei Jahre später in den fremden Dienst zog, war sein Sohn Karl Sepp eben geboren. Soldaten kümmerten sich vor ihrer Abreise oft um den Unterhalt ihrer Angehörigen. Manche liessen ihren Eltern einen Teil ihres Handgeldes als Notpfennig zurück, andere zweigten von ihrem Monatssold einen festen Betrag ab, der ihren Angehörigen in der Heimat zukommen sollte. Väter sorgten für ihre Familie vor: Hans Melcher Frowin Hermann sicherte seiner Familie 1704 eine Monatsrente von einem Taler bzw. 2 ¼ Gulden zu. Hans Geni Infanger liess 1747 seiner Familie sogar die Hälfte seines Monatssoldes auszahlen, nämlich sechs Gulden.572 Nicht alle Soldaten waren allerdings derart fürsorglich. So floh Geni Anton Waser 1772 bei Nacht und Nebel aus dem Hochtal und liess seine Gattin mit einem Säugling zurück. Wasers Angehörige vermuteten darauf, ihr Verwandter sei als 571 Vgl. auch den aufschlussreichen Fall Andres Müllers in ETP 4.146–148. 572 Vgl. etwa ETP 17.381 und AH 72.196.

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Soldat untergetaucht. Die verlassene Ehegattin musste feststellen, dass „ihr mann ihrer gantz unwüssendt und wider ihr willen aus dem thahl entwichen [und] sich unsichtbahr gemacht“ habe. Wasers Brüder wünschten ihrerseits, ihr Bruder möge bei seiner Rückkehr für „sein heimliche entweichung und so unanständig verlassung [von] weib und kind“ Rechenschaft geben. Als die Gattin allerdings ihre Schwager wegen Unterhaltszahlungen einklagte, erklärte der älteste Bruder Franz Remigi:573 Wann ein mutter, so oft ein mann krigs- oder anderen diensten wegen aus dem thal gehet, übrigens doch von seinem todt nichts kundbahr ist, die kinder des manns nechsten freünden [d.h. Verwandten] könnte übergeben, wurde diseres vill böse und denen kinderen schier unerträgliche folgen haben und nach sich liederliche heürathen ziechen, wo sie die mutter denkhen könnte: wan ich nit mehr ghausen mag oder friden haben kann, will ich zum thal aus […]. Das weib habe dass alles vorsechen können, sollen und müessen; es habe schon gewüsst, da es den Thoni heürathen wollen, dass er nit fromm, und vorsechen, dass er das angewohnte handwerckh nit werde lassen, hiermit grösserem seinem unglückh vorzukommen aus dem staub sich machen müesse.

Wer sich die Gunst seiner Familie wie Geni Anton Waser verspielte, konnte kaum mehr ernsthaft an eine Heimkehr denken. Es lässt sich höchstens erahnen, was Talleute zu einer solchen Flucht trieb. Die Lebensgeschichte des bereits erwähnten Niklaus Anton Dillier gibt aufschlussreiche Hinweise. Dillier verstarb 1741 in französischen Diensten. Pfarrer Gregor Zwissieni vermerkte darauf im Sterberegister: Niklaus Anton Dillier, an Ehe- und Sohnesfesseln gebunden, zog den Soldatengurt diesen Fesseln vor. Im Kriegsdienst wurde er durch den Tod in Frankreich sowohl von den Fesseln der Ehe als auch vom Soldatengurt erlöst: Dieser Sohn ist inzwischen in den Himmel gegangen.

Zwissieni zog den Fessel- bzw. Gurtbegriff leitmotivisch herbei und deutete an, dass sich der Verstorbene in der Heimat unfrei gefühlt hatte: Ehe- und Sohnespflichten hatten ihm nicht behagt. Dillier suchte den Befreiungsschlag, indem er in die Solddienste wegzog: Den soldatischen Gehorsam wertete er offenbar als das kleinere Übel. 27 Jahre später sollte ihn der Tod von allen Fesseln erlösen. Es ist bemerkenswert, dass der Pfarrherr den Landesflüchtigen nicht verurteilte, sondern dessen Beweggründe unvoreingenommen würdigte. Soldaten baten ihre Angehörigen öfter um finanzielle Unterstützung. Mancher geriet in Schwierigkeiten, „wenn er nicht durch Unterstützung seiner Verwandten 573 Vgl. ETP 15.500–506, zur Familie auch StB Waser 134.

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die Schuld bezahlen“ konnte.574 Die bereits erwähnten Hans Niklaus Zniderist und Flori Bernhard Kuster wären gegenüber ihrem Hauptmann hoch verschuldet geblieben, wenn ihre Verwandten ihnen nicht finanziell unter die Arme gegriffen hätten. Ferner setzten Soldaten einen Verwandten gelegentlich als Schaffner ein, der während ihrer Abwesenheit ihren Besitz verwaltete. Manche liessen sich ihre Zinseinkünfte an den Dienstort nachschicken. So zählte der Bologneser Gardist Hans Geni Töngi auch nach 35 Dienstjahren darauf, dass ihm seine Zinserträge aus Engelberg zugeschickt würden. Brieflich setzte er 1723 seinen Bruder Geni Ignaz als Vogt ein, damit ich meine ferfalen zinsen kene ehrhalten, welche miehr mein bruoder Georgi schuldig blibt, solche nach und nach kene und mege durch mein bruoder Eugeni Ignatzii kenet inzogen werden, welcher ich zuo meinem fogt hab ehrkent, damit ehr kene und mege schalten und waltten, als wan es sein eigen wehre […].

Ein Jahr zuvor wollte auch Andres Kuster, Gardist in Lucca, geschäftliche Angelegenheiten regeln und schickte seinen Schwiegersohn Hans Martin Schobinger mit einem Brief ins Hochtal. Der Bote erwies sich allerdings als unzuverlässig, indem er den ihm anvertrauten Brief eigenmächtig abänderte. Als Kuster davon erfuhr, schrieb er einem Angehörigen nach Hause, er möge ihm das gefälschte Schreiben nachschicken, damit er es seinem betrügerischen Schwiegersohn „under die nasen leggen“ könne. Auch Katharina Kuster musste für ihren Besitz in Engelberg sorgen, als sie ihren Mann Jakob Hermann um 1650 in die päpstlichen Dienste begleitete. Sie stammte aus einer angesehenen Familie: Ihr Vater hatte es zum Statthalter gebracht, ihr Bruder Andres stieg 1659 sogar zum Ammann auf. Die Schwester Barbara war ihrem Mann Matthias Hermann ebenfalls nach Rom gefolgt. Auch der Bruder Hans lebte bis zu seinem Tod 1694 in der Heiligen Stadt. Katharina beauftragte ihre daheimgebliebenen Geschwister, ihren Besitz zu verwalten. Als die Pest 1660 in Rom wütete, bat Katharina ihre Geschwister darum, ihr 100 Kronen aus ihrem Besitz nachzuschicken, damit sie und ihr Mann die Schulden begleichen könnten, die sie „in grosser kranckheit und pestlenzscher türer zeit“ gemacht hatten. Die Schaffnerei sorgte allerdings für wiederholten Ärger unter den Geschwistern. Katharina musste zwischenzeitlich den Abt brieflich darum bitten, in der Angelegenheit zu schlichten. Als Katharina in den 1680er Jahren nach Hause zurückkehrte, musste sie um den Besitz einer ganzen Hausstatt kämpfen. Anfangs der 1740er Jahre setzte Wachtmeister Hans Niklaus Hurschler seinen Bruder Hans Jakob als Schaffner ein. Später mahnte der Wachtmeister seinen Bru574 Vgl. Ebel (1802: 262).

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der brieflich, „dass er zu seinen sachen sorg habe“. Die übrigen Geschwister misstrauten allerdings dem eingesetzten Schaffner. Als der Wachtmeister 1745 in Neapel verstarb, bezichtigten sie ihren Bruder Hans Jakob der Veruntreuung. Immerhin hatte der Verstorbene – nebst Kleidern und Hausrat – gut 120 Gulden Kapital zurückgelassen, wobei Hurschlers Hauptmann drei Jahre später nochmals 50 Gulden beisteuerte. Ein solches Erbe weckte verständlicherweise die Begehrlichkeiten der Verwandtschaft. Soldaten waren nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gefühlsmässig mit ihren Angehörigen verbunden. Persönliche Beziehungen mussten bei längerer Abwesenheit bewusst unterhalten und gepflegt werden. Diesbezüglich spielte der Urlaub eine wichtige Rolle, der unter Umständen mehrere Monate dauern konnte. Die zwischenzeitliche Heimkehr erlaubte es den Soldaten, ihre Verwandten und Bekannten wiederzusehen. Die Urlauber freuten sich auf ihre Heimkehr und wollten wie Hans Paul Häcki 1759 sehen, „wie es zu haus beschaffen were“. Auch in der Heimat freute man sich über die Rückkehrer: Wer nach einigen Monaten wieder in den Dienst aufbrach, erhielt von der herrschaftlichen Kanzlei nicht selten die Bestätigung, „dass ihme nichts als ehren, lieb und gutes nachzusagen“ sei. Mancher Urlauber war in der Heimat „mit seinem friedliebendten und lobsammen betragen“ aufgefallen. Karl Christian Amrhein wurde 1780 sogar mit den Lobworten verabschiedet, er sei „eines solchen leütseeligen und lobsammen wandells gewesen, dass er bey villen ein nachreüwen hinderlassen“.575 Ein reger Briefverkehr erlaubte es den Soldaten, die Verbindung zu ihren daheimgebliebenen Angehörigen aufrecht zu erhalten. Briefe gelangten über die Verbindungswege der Kompanie in die Heimat, bisweilen auch über heimkehrende Urlauber. Als z.B. Andres Kuster 1722 brieflich um das Schreiben seines unehrlichen Schwiegersohnes bat, riet er zu folgendem Postweg: Solchen brief aber, damit ich ihne sicher bekomme, bitte solchen aus Lucern dem herrn leibpriester Tschiffer zu[zu]schicken, das[s] er solche[n] seinem stiefbruder herrn fendrich Roos zuschicke, und [ich] bitte, sich dessen nicht zuo saumen, dan disen brief trei guardi-knechten auf Lucern gebracht und sich ein monatt darbey aufhalten werden.

Der Nachrichtenfluss erfolgte unter Umständen sehr rasch: Als Jakob Hermann am 10.  September 1660 einen Brief nach Engelberg aufsetzte, lag sein Schreiben drei Wochen später im Hochtal vor. War ein Soldat nicht schreibkundig, konnte er bei einem Vorgesetzten oder Dienstkameraden einen Brief in Auftrag geben. Auch mündliche Botschaften liessen sich übermitteln: Als etwa Melcher Töngi 1664 Paris 575 Vgl. ETP 17.300–301, 18.217–218 und 20.172–173.

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verliess, trug ihm sein Dienstkamerad Oswald Langenstein auf, „will er nicht schreiben könt, alle zuo begrüossen, so noch der sinigen er Melcher in dem leben finde, [und] auch, so sin schwager Thomas noch leb undt Oswaldt etwas habe, solle er ihmme bei dem heiligen lib [des heiligen Eugen?] ein mess lesen lassen“. Die Briefschreiber berichteten regelmässig über ihre Erlebnisse in der Fremde. So berichtete Hans Geni Waser 1737 aus Frankreich, das[s] der poll[n]ische könig in grosser mayestet auf die statt Metz angelanget [sei], umb zu sechen, wie man die vestung auferbauen, welchem ungfähr unser 17‘538 man eine guthe stund vor die statt gemarschieret und mit trummen und pfeiffen und fähnen in gewehr und in paraden gestanden.

Niklaus Reimann übermittelte 1706 den neuesten Klatsch aus der Heiligen Stadt und schilderte eine Kardinalswahl unter Papst Clemens XI.: Einer aber uss disen [Kardinälen] hat den roten huot nit wollen nehmen, er ist zuvor in seiner jugent verhairadet gewäsen, aber doch ein guoter gottesförchtiger herr, zue wüssen aber dass als babst Ciniotelli [d.h. Innozenz XII.] geregieret hat, hat er in wollen zue Cardinall machen, der jetzige babst aber als Cardinall hat es verhindert, dieses aber nit geschechen ist, jetzt aber haben alle teologen gesagt, er sie sich schuldig, disen Filipini zum Cardinal zue machen.

Katharina Kuster gelang es 1660 mit Hilfe ihres Mannes, die Gebeine des Katakombenheiligen Eugen nach Engelberg zu schicken. Stolz hielten beide fest, dass sie als „kleinfüegigere diese hoche sach zu wegen gebracht“ und „in warheit grose gratzia von heren und gawlieren [d.h. Rittern] ghabt“ hatten. Ein anderes Mal schickte Kuster eine kleine Reliquie nach Hause und legte einen Rosenkranz mitsamt einer Muttergottesmedaille bei, die „gar vil heiliges angrüret“ hatte. Die Briefsteller äusserten sich gelegentlich über ihre Gemütsverfassung. So schrieb Katharina Kuster 1660 einem ihrer daheimgebliebenen Brüder, wie sehr sie sich über einen Brief aus der Heimat gefreut hatte: Zum anderen haben wir uns erfreüwdt und des Weine[n]s nit verhalten könen [wegen der] Ursach, sidhär mier von heimen gezogen, kein Wort von keinem nit haben könen, wie oft wir geschriben, Dir, dem Lienhard, dem Casper. Haben nit könen wüsen, ob ihr Holz oder Stein oder tot oder leben sind, bsonders der Bruoder Casper, der mins Wenigs under hends hat, haben wir in so vil Jaren kein Wort von ihm haben könen.

Auch Wachtmeister Maurus Bartli Schleiss beklagte sich 1795, dass seine Briefe unbeantwortet blieben. Der fleissige Briefsteller schätzte allerdings, „das[s] selbe brief

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müssen verlohren gegangen seyn bei diser kritischen zeit“. Ein Brief Schleiss‘ gelang tatsächlich aus dem menorcischen Maó ins Hochtal: Darin meldete der Wachtmeister den Tod mehrerer Dienstkameraden aus Engelberg, die auf einem Marsch oder auf hoher See gestorben waren. Schleiss leistete Festungsdienst in der Hafenstadt, wo man sich auf Angriffe französischer Revolutionstruppen vorbereitete. Krieg und Frieden wechselten sich, so der Wachtmeister, täglich ab. „Gott gebe Frid“, fügte Schleiss hoffnungsvoll an. Der Wachtmeister hielt sich mit anderen Neuigkeiten zurück und meinte knapp, „der veil reth, der mus veill liegen [d.h. lügen]“. Sein Schlussgruss galt seiner Mutter, seiner Familie und einigen befreundeten Gerichtsherren. Verstarb schliesslich ein Talmann im Solddienst, sorgten sich seine daheimgebliebenen Angehörigen um sein Seelenheil. Ein Soldat durfte darauf zählen, dass für ihn Gräbt, Siebenter, Dreissigster und Jahrzeit gefeiert würden, falls er im Dienst sterben sollte.

2.3.4 Die Wanderungsentscheidung Wie fügte sich der Solddienst in die Lebensgeschichte eines einzelnen Talmanns ein? Willkürlich sei hier das Beispiel Hans Franz Berchtold Kusters (1717–1762) aufgegriffen. Er trat 1734 bereits als 17-Jähriger in die Kompanie Johann Jakob Achermanns ein, die damals in französischen Diensten stand. Franz wurde von drei weiteren Talleuten begleitet. Manche Werber veranstalteten bei solchen Gelegenheiten ein Werbefest in einem örtlichen Wirtshaus: Die Werbung sollte den Dienstwilligen mit Speis, Trank und Musik versüsst werden. Doch Hauptmann Achermann unterstützte solche Anlässe nicht, wie er bereits anlässlich einer Werbung 1727 erklärte:576 Es ist mir der sichere bericht [aus Engelberg] gefallen, wie dass ich hette sollen zue erst mit ässen, trinckhen und spilleüthen derieniger [d.h. der Dienstwilligen] gunst auffwarten sollen, als dann würde es an soldaten nicht ermanglet haben. Dieser maxime habe ich nicht gewust und auch bis dahin niemahlen geüebet, sundern allezeit der soldat bey gesundem verstand aufgedinget, hernacher aber an selbigem in ehrbarkeith nicht ersparen lassen.

Franz wusste genau, was ihn im Dienst erwartete. Wahrscheinlich hatte ihn sein älterer Halbbruder Sepp Joachim (1687–1745) aufgeklärt, der spätestens seit 1713 dem Soldatenstand angehörte. Gewiss hörte Franz auch von anderen Talleuten, 576 Vgl. CFD, Brief Johann Jakob Achermanns vom 10.02.1727.

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wie sie ihre Dienstzeit erlebt hatten. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Franz die Dienstnahme mit anderen Dienstwilligen absprach. Vielleicht schöpfte er auch Mut, weil im selben Jahr bereits zehn Talleute in die Kompanie Achermann gedingt hatten: Er brauchte seinen Dienst also nicht alleine zu bewältigen. Eine gewisse Kriegsstimmung war gewiss auch im Hochtal spürbar, seitdem ein Jahr zuvor der polnische Thronfolgekrieg ausgebrochen war und sich die Auszüge mehrten. Franz hatte seine Entscheidung wohl bereits getroffen, ehe er an den Werbetisch des altehrwürdigen Hauptmanns trat, der seit über drei Jahrzehnten im Hochtal Soldaten warb. Unter Achermann hatten bereits Talleute gedient, als Franz‘ Vater noch ein junger Bursche war. Franz trat – wie die meisten dienstleistenden Talleute – in eine kapitulierte, d.h. obrigkeitlich bewilligte und beaufsichtigte Truppeneinheit ein. Er begab sich in einen Kriegsdienst, den die eidgenössischen Orte für rechtmässig befunden hatten. Die begünstigte Soldmacht war ein anerkannter Bündnispartner der Eidgenossen, wie die fünf Orte im Hochtal gewöhnlich genannt wurden. Franz durfte sich als Angehöriger einer staatlichen Bündnistruppe rechtens Soldat (und nicht etwa Söldner) nennen. Sein Kriegsdienst war umso unbedenklicher, als er eine katholische Obrigkeit unterstützte. Überhaupt dienten Talleute im 17. und 18. Jahrhundert fast ausschliesslich katholischen Staaten in Frankreich, Spanien und Italien. Franz leistete über ein Jahrzehnt Kriegsdienst, ehe er 1746 als 29-Jähriger in die Heimat zurückkehrte. Leider ist nicht bekannt, wie oft er in dieser Zeit Briefe nach Hause schickte oder urlaubsweise heimkam. Franz brachte bei seiner Heimkehr eine traurige Botschaft mit: Sein Halbbruder Sepp Joachim war um den 11. Mai 1745 in der grossen Schlacht von Fontenoy gestorben, wo gegen 100‘000 Mann gekämpft hatten. Franz selbst war mit dem Leben davongekommen. Es kam nur selten vor, dass Talleute an einer so bedeutenden Feldschlacht beteiligt waren, denn Solddienst war oft gleichbedeutend mit Festungsdienst: Dabei mussten Soldaten ansteckende Krankheiten oft mehr fürchten als feindliche Truppen. Franz kehrte endgültig in seine Heimat zurück und liess sich vermutlich auf dem väterlichen Gut im Froholz nieder. Sein Vater Sepp war bereits 1743 gestorben, worauf sein Bruder Niklaus Flori den väterlichen Hof übernommen hatte. Franz heiratete 1748 Maria Barbara Amrhein. Pfarrer Wolfgang Iten bemerkte im Eheregister, Kuster „habe vor einigen Jahren den Kriegsdienst aufgegeben und ziehe das Joch der Ehe dem Joch des Hauptmanns vor“. Franz‘ Frau kannte sich übrigens mit Soldaten bestens aus, gehörten doch von ihren Angehörigen mindestens ein Onkel und zwei Neffen dem Soldatenstand an. Ein Jahr später durfte das junge Ehepaar die Geburt seines ersten und einzigen Sohnes Joachim Sepp erleben. Ein Trauerfall überschattete 1750 das Hauswesen: Franz‘ Bruder verletzte sich beim Holzschlag schwer und

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Wirtschaft

verstarb nach einigen Wochen. Vier Jahre später starb auch Franz‘ fünfjähriger Sohn an Kinderblattern. Franz und seine Frau führten in den folgenden Jahren ein unauffälliges Leben. Vermutlich kümmerte sich Franz um die halbwaisen Kinder seines verstorbenen Bruders Niklaus Flori. Er berichtete sicher oft von seinem früheren Dienst, was seinen Neffen Plazi Sepp später wohl anspornte, ebenfalls Dienst zu nehmen. Die Gemeinde wählte Franz 1757 zum ersten Gefreiten der Miliz. Er übte in jenen Jahren auch das verantwortungsvolle Amt des Käsachters aus. Ferner arbeitete Franz wie sein Bruder im Holzgeschäft, als er 1762 als 45-Jähriger ebenfalls beim Holzschlag verunglückte. Obwohl Franz‘ Dienstzeit bereits 16 Jahre zurücklag, blieb er der Talschaft als Soldat in Erinnerung. So bemerkte Pfarrer Meinrad Wirz im Sterberegister, Franz sei „einst ein strammer Soldat“ gewesen. Es ist leider unbekannt, wie sich Franz‘ Todeskampf abspielte, doch ehemalige Soldaten fürchteten den Tod angeblich wenig. Als etwa Franz‘ Dienstkamerad Joachim Geni Hess 1737 an Husten und heftigem Fieber verstarb, hiess es von ihm, er sei „im Geist unter heftigen Schmerzen ein wahrer Soldat“ geblieben. Hess hatte sich im Dienst mit der üblen Krankheit angesteckt, ehe er schwerkrank nach Hause zurückgekehrt war. An soldatischen Vorbildern fehlte es Hess übrigens nicht: Sein Onkel Geni war 1688 auf dem Feldzug in Morea gestorben, sein Onkel Plazi war 1712 auf der Alp Trübsee bei der Verteidigung des Hochtals gefallen. Nicht minder ehrenvoll starb Hans Melcher Dillier 1741. Dillier hatte 15 Jahre lang in der Kompanie Jost Rudolf Redings gedient, ehe er anfangs des 18. Jahrhunderts – vermutlich als gestandener Wachtmeister – nach Hause zurückkehrte. Auf seinem ehrlichen Abschied war wohl zu lesen, dass er sich „in allen vorfallenden kriegsoccasionen dapfer, ehrlich und getreü verhalten [habe], wie es einem ehrlichen und dapferen Mann wohl an- und zustehet“.577 Dillier war kein Familienglück beschieden: Er heiratete zwar nach seiner Heimkehr, doch seine Frau verstarb ein Jahr darauf kinderlos. Dillier erwarb sich 1712 grosse Verdienste, als er – zusammen mit einem anderen Wachtmeister der Soldtruppen – die Miliz im Kampf gegen die Berner befehligte. Später arbeitete Dillier als Meisterknecht der Klöster Engelberg und Muri, bis er schliesslich als Talsäumer endgültig in seine Heimat zurückkehrte. Der angesehene Wachtmeister starb als 78-Jähriger in seinem Bett. Dillier erlebte im Todeskampf teuflische Anfechtungen, doch er zeigte sich standhaft und erklärte seinem Pfarrer, „er woll den deüfel nit lassen meister werden“ – so starb ein ehrsamer Soldat.

577 Vgl. CFD, Abschied Jakob Wasers vom 01.06.1734.

Soldwesen

229

Ähnliche Lebensgeschichten teilten im 17. und 18. Jahrhundert mehrere hundert Talleute, die in Soldtruppen gedient hatten. Sie gehörten – zusammen mit den Säumern, Handwerkern und Dienstboten – zu den reise- und wanderbereiten Menschen der Talschaft. Die Soldaten brachten ihre Eindrücke und Erfahrungen aus der Fremde in die Heimat zurück. Sie hatten Städte wie Paris, Madrid, Barcelona, Rom, Neapel, usw. gesehen und unter Umständen mehrere Jahre dort gelebt. Einige dienten in einer päpstlichen bzw. königlichen Garde und bekamen Päpste und Könige zu Gesicht. Wenn die Soldaten in ihrer Dienstzeit Briefe nach Hause schickten, verriet ihre Sprache nicht selten ausländische Einflüsse. Das Hochtal atmete etwas von der weiten Welt, wenn die Soldaten urlaubsweise oder endgültig in ihre Heimat zurückkehrten. Sie berichteten über das, was sie in der Fremde gesehen und gehört hatten. Ihre Erfahrungen hatten sie weitgehend in der romanischen, südländischen Mittelmeerwelt gesammelt, da sie ihre Wehrkraft bekanntlich nur katholischen Staaten zur Verfügung stellten. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr das vormoderne Alpental mit dem katholischen Süden verbunden war: Welschlandhandel, Soldwesen und Konfession verbanden Engelberg stark mit der Kultur der Mittelmeerwelt. Der protestantische Norden war der Talschaft oft weit fremder. Warum aber setzten Talleute ihr Leben aufs Spiel, indem sie als Soldaten in die Fremde zogen? Die verbreiteten Erklärungsmuster (Kriegsbegeisterung, Rauf- und Mordlust, Habgier, Armut, Unterentwicklung, Überbevölkerung, Unterdrückung, usw.) sind kaum geeignet, die Erfahrungsweisen der damaligen Soldaten angemessen zu beschreiben. Die Befunde zum Engelberger Soldwesen legen diesen Schluss nachdrücklich nahe. Talleute wogen gewiss die Nutzen und Gefahren eines Solddienstes ab, wenn sie eine Dingung ins Auge fassten. Wer erstmals Dienst nahm, stand ungefähr im 20.  Lebensjahr: Der Solddienst schloss nicht aus, dass man später in der Heimat eine Arbeit, eine Frau und Kinder haben würde. Im Hochtal lebten viele Familienväter, die einst als Soldaten gedient hatten bzw. noch immer dienten. Dienstwillige zählten unter ihren Verwandten und Bekannten nicht selten ehemalige Soldaten, die ihre Entscheidung zweifellos beeinflussten. Gewiss hörten sich Dienstwillige um, welcher Hauptmann das meiste Vertrauen genoss. Allenfalls kannten sie bereits einen Wachtmeister oder Soldaten, der in dessen Kompanie diente. Oft wurde eine Dingung mit anderen Talleuten gemeinsam geplant und ausgeführt. Die Gedingten bezogen ihre eigene Obrigkeit bewusst ein: Sie zählten auf deren Hilfe, falls sie in Schwierigkeiten geraten sollten. Nicht zuletzt rechneten sie auch mit der Unterstützung ihrer Verwandtschaft. Diesbezüglich liessen sich persönliche Beziehungen durch das Brief- und Urlaubswesen auch während der Dienstzeit pflegen.

230

Wirtschaft

Wer nach einigen Jahren mit einem ehrlichen Abschied in der Tasche zurückkehrte, wurde in der Heimat als ehrsamer Veteran geachtet. Wer es sogar zum Wachtmeister gebracht hatte, kehrte unter Umständen mit einem kleineren Vermögen und etwas Ansehen nach Hause. Die persönliche Bekanntschaft bzw. Gunst eines Hauptmanns war auch nach dem Dienst hilfreich, waren doch die meisten Dienstherren zugleich einflussreiche Ratsherren der Nachbarorte. Schliesslich bildeten die ehemaligen Wachtmeister und Soldaten der Soldtruppen das Rückgrat der heimischen Miliz. Warum aber blieben die jungen Burschen nicht in der Heimat, um als Lohnarbeiter im Hochtal und dessen Umgebung zu arbeiten? War der Solddienst nicht viel gefährlicher? Diese Gefahrenabwägung leistete gewiss auch Franz Kuster, als er 1734 Dienst nahm. Er schloss sich den Soldtruppen ausgerechnet in einer Kriegszeit an und musste damit rechnen, dass er in kriegerische Ereignisse verwickelt werden könnte. Nebenbei dingte er zu einer Zeit, als man im Hochtal arbeitsfähige Burschen gut brauchen konnte: Der Neubau der Klosteranlage bescherte reichlich Arbeit. Trotzdem entschied sich Franz für den Solddienst. Der langjährige Soldat entkam vielen Gefahren: Franz verlor manche Dienstkameraden, die an einer ansteckenden Krankheit starben. Er überlebte sogar eine der grössten Schlachten des 18. Jahrhunderts, als er Fontenoy lebend verliess. Franz wurde von tödlicher Krankheit und Kriegsverwundung verschont. Dafür kehrte er mit Eindrücken und Erfahrungen von der weiten Welt nach Hause. Doch während Franz Seuchen und Kriege überlebt hatte, verstarb sein Bruder beim Holzschlag in der Heimat. Sein eigener Sohn starb als kleiner Bub an einer Kinderkrankheit. Franz selbst fand später den Tod im Hochtal, als er von einem umgehauenen Baum getroffen wurde. Die Solddienste waren gewiss mit manchen Gefahren verbunden. Doch lauerten auch in der Heimat tödliche Gefahren. Wer einen Solddienst seiner Gefährlichkeit wegen ablehnte, konnte in der Heimat durchaus eines unnatürlichen Todes sterben. Wer hingegen in die Solddienste zog, erreichte später vielleicht ein hohes Alter. Die Gefahrenabwägung liess jedenfalls keine einfachen Schlüsse zu. Dass zudem der Mensch „keine Macht über den Sterbetag“ habe, war eine gängige, kirchlich vermittelte Überzeugung, die wohl viele Talleute teilten.578

578 Vgl. Koh 8.8.

3

Gesellschaft

3.1 Partnerschaften 3.1.1 Gerichtsherrliche Ehen Hans Ignaz Plazi Kuster starb am 21. September 1747. Sein Begräbnis fand bereits am folgenden Tag statt. Ein Leichenzug brachte den Verstorbenen frühmorgens vom Totenbett bis zur Einfriedung des Friedhofs. Unterdessen versammelte sich der Konvent mitsamt der klösterlichen Schülerschaft und schritt dem herbeigetragenen Leichnam in einer feierlichen Prozession entgegen – ausdrücklich hielt der Berichterstatter später fest, der Konvent habe dem Anlass vollzählig beigewohnt. Als die Trauergemeinde auf dem Friedhof versammelt war, eröffnete der damalige Pfarrer Wolfgang Iten das Totenoffizium. Der Konvent sang am Sarg des Verstorbenen Psalm 130 (129) De profundis und schloss diesem das Responsorium Libera me an. Zwischenzeitlich besprengten der Pfarrer, der Konvent und die Verwandtschaft des Toten den Leichnam abwechslungsweise mit Weihwasser. Gewiss waren auch die Gerichtsherren zugegen, die durch ihre Ratsherrenmäntel aus dem übrigen Talvolk hervorstachen. Anschliessend wurde der Leichnam feierlich zum Beinhaus geleitet und aufgebahrt. Die Trauergemeinde schritt in die Klosterkirche, wo an den Altären der Gottesmutter und des heiligen Eugen, den bedeutendsten Schutzpatronen des Tals, die Totenmesse und eine Nebenmesse gefeiert wurden. Choralgesang verlieh der Messfeier zusätzliche Würde. Da das Volk in derart grosser Zahl erschienen war, wurde die Kommunion an beiden Altären ausgeteilt. Nach der Totenmesse folgte die eigentliche Bestattung des Verstorbenen, bis ein dreimaliger Glockenschlag des Kirchgeläuts dem ganzen Tal anzeigte, dass Hans Ignaz Plazi Kuster seine irdische Laufbahn vollendet hatte.1 Kuster, der im Alter von 71 Jahren verstorben war, hinterliess eine kinderlose Witwe und ein nicht besonders bedeutendes Bauerngut im Nassboden. Die Feierlichkeit von Kusters Begräbnis erstaunt also, wenn man bedenkt, dass es sich beim Verstorbenen um einen alten, kinderlos gebliebenen und mässig begüterten Bauern handelte. Wie also hatte sich Kuster ein so feierliches Begräbnis verdient? Kuster war über ein Vierteljahrhundert lang Gerichtsherr gewesen. Die letzten elf Jahre war Kuster dem Gericht sogar als Ammann vorgestanden, bis ihn der Tod unversehens

1 Vgl. den Eintrag im Sterberegister des Pfarrbuchs zum 22. September 1747. Zu den Ratsherrenmänteln vgl. ETP 14.449–450 und 16.170–173.

232

Gesellschaft

ereilte. So hoch Kusters persönliches Ansehen auch sein mochte, verdankte er doch das feierliche Begräbnis seiner gerichtsherrlichen Stellung. An der eindrücklichen Trauerfeier Kusters lässt sich beispielhaft ermessen, welches gesellschaftliche Ansehen ein Gerichtsherr in der Talschaft geniessen konnte. In der Tat nahm das Gericht im gesellschaftlichen Leben des Hochtals einen bedeutenden Platz ein. Doch vorläufig soll hier nicht vom Gericht an sich die Rede sein, sondern vielmehr davon, wer denn die prestigeträchtigen Gerichtsstellen überhaupt besetzte. Oder anders gefragt: Wie wurde man im 17. und 18. Jahrhundert in Engelberg Gerichtsherr? Die Antwort auf die Frage fiele einfach aus, wenn man nur die rechtliche Regelung berücksichtigte. Die Gerichtsbesetzung war seit 1605 durch einen Schiedsspruch der Schirmorte Luzern, Schwyz und Unterwalden festgelegt, nachdem sich Kloster und Gemeinde in dieser Frage uneinig geworden waren. Die Regelung von 1605 blieb in der Folge bis zum Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft 1798 bestehen. Der eidgenössische Schiedsspruch schrieb folgende Wahlordnung vor: Dem Abt wurde das Recht eingeräumt, fünf der neun Gerichtssitze mit Talleuten seiner Wahl zu besetzen. Aus diesen fünf Gerichtsherren durfte der Abt auch den Gerichtsvorsitzenden bestimmen, d.h. den Ammann. Die Gemeinde hatte für die Besetzung der übrigen Gerichtsstellen dem Abt zwölf weitere Talleute vorzuschlagen, unter denen der Abt vier weitere Gerichtsherren auswählen durfte.2 Erstens sprach also das Wahlrecht von 1605 dem äbtischen Talherrn weitgehende Befugnisse zu, der Gemeinde hingegen nur ein schwaches Mitbestimmungsrecht. Zweitens räumte der Schiedsspruch allen Talbewohnern, die mit dem Talrecht ausgestattet waren, grundsätzlich dieselben Wahlchancen ins Gericht ein. Doch wie sah die Wirklichkeit aus? Die äbtische Vormachtstellung war weit weniger ausgeprägt, als es die rechtliche Regelung vermuten liesse. Schon bald nämlich schränkten die Äbte ihre Wahlfreiheit selbst ein und besetzten die fünf ersten Gerichtssitze, die ihnen eigentlich frei zustanden, gewohnheitsmässig mit bisherigen Gerichtsleuten. Die übrigen Gerichtsstellen besetzten die Äbte mit Kandidaten, die ihnen von der Gemeinde vorgeschlagen wurden, wobei die Äbte auch hier die bisherigen Gerichtsleute zuerst berücksichtigten. Gerichtsherr wurde also nur, wer nicht nur den Abt, sondern auch die Gemeinde für sich zu gewinnen wusste. Kein Talmann kam ins Gericht ohne die Empfehlung der Gemeinde. Hatten nun alle Talleute grundsätzlich dieselbe Chance, ins Gericht gewählt zu werden? Diesbezüglich lohnt sich ein Blick auf die Liste der gewählten Gerichtsleute, die sich für den Zeitraum von 1650 bis 1800 einigermassen vollständig zusam2 Der Spruchbrief von 1605 ist ediert bei Schnell (1858: 68–73).

233

Partnerschaften

menstellen lässt. In der folgenden Übersicht sind neben den Gerichtsleuten auch deren Ehefrauen, das jeweilige Heiratsalter der Gatten und die Zahl der Nachkommen aufgeführt. Die letzte Spalte zeigt schliesslich an, ob und welche nahen Familienangehörigen dem Gericht ebenfalls einmal angehörten. Die letztgenannten Angaben können aber erst ab dem späten 17. Jahrhundert Vollständigkeit beanspruchen. Liste der Gerichtsleute (nach 1650 gewählt) Nr. Ehemann

Ehefrau

1. Niklaus Kuster (1617–1667) 2. Thomas Töngi (?) 3. Bernhardin Häcki (1611–1695)

Katharina Waser (1628–1713) Anna Maria Langenstein (?) 1. Margaretha Waser (1611–1643) 2. Maria von Rotz (†1652) 3. Barbara Vogel (1631–1664) 4. Margaretha Amstutz (1640–1716) Anna Maria Kuster (1627–1681) 1. Agatha Matter (1613–1632) 2. Katharina Waser (1606–1673) Anna Zniderist (1628–1714) 1. Anna Maria Hurschler (1616–1662), Witwe 2. Anna Maria Zniderist (1639–1687) 1. Elisabeth Dillier (†1635) 2. Odilia Zimmermann (†1659) 1. Barbara Kuster (1632–1678) 2. Dorothea Infanger (†1687) Anna Waser (1615–1680) 1. Barbara Dillier (1624–1678) 2. Barbara Töngi (1640–1703), Witwe Agatha Kuster (1634–1716) Katharina Blättler (†1702) ledig 1. Katharina Töngi (1641–1663) 2. Anna Maria Arnet (?), Witwe Anna Maria Amstutz (1648–1693) Anna Maria Töngi (1655–1733) Maria Eva Langenstein (1659–1723) 1. Dorothea Kuster (1623–1674) 2. Maria Barbara Langenstein (1650–1684) Katharina Kuster (1651–1734) 1. Maria Theresia Hess (?) 2. Maria Kuster (1645–1720) 3. Maria Barbara Amstutz (1678–1753), Witwe

4. Jakob Langenstein (1625–1692) 5. Balzer Töngi (1614–1675) 6. Hans Jakob Feierabend (1626–1679) 7. Kaspar Kuster (1617–1678)

8. Lienhart Kuster (1604–1681) 9. Melcher Vogel (1628–1710) 10. Balzer Kuster (1617–1680) 11. Andres Dillier (1621–1693) 12. 13. 14. 15.

Niklaus Häcki (1637–1697) Jörg Dillier (1637–1696) Wolfgang Kuster (1614–1681) Jörg Hurschler (1635–1729)

16. 17. 18. 19.

Melcher Amstutz (1638–1693) Melcher Hurschler (1648–1714) Hans Melcher Matter (1655–1728) Hans Dillier (1628–1698)

20. Hans Bernhard Töngi (1650–1714) 22. Hans Lienhart Müller (1645–1721)

Ehealter M F

K

GHF M F

30 19 10/10 B

V

20 35 42 56 22 16 24 21

V

20 21 27 20 17 32 19

4/3 2/2 6/6 1/1 9/8 1/1 4/4 9/5

25 26

7/7

47 18 36 24 51 20 22 58 18 27

25

4/1 7/7 3/3 10/7

26 30 29 29 21 23 47 30 24 27

20

20 22 19 39 21

19 22 17 28 25 29 27

76 43

5/5 8/8 3/3 7/4 5/5 1/0 7/6 9/8 10/6 10/9 3/3 1/0 6/4 1/0 4/4 0

B B V V

V

V V

V V V V

V V V

V V V V

234 Nr. Ehemann 24. Hans Melcher Dillier (1640–1699) 25. Balzer Dillier (1643–1722) 26. Sepp Hans Kuster (1661–1736) 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.

37. 38. 39. 40. 41. 42.

43.

44. 45. 46. 47.

48. 50.

Gesellschaft Ehefrau

Maria Klara Kuster (1654–1698) Anna Maria Langenstein (1660–1698) 1. Maria Johanna Häcki (1679–1719) 2. Maria Scholastika Matter (1695–1727) Hans Melcher Vogel (1656–1722) Katharina Amrhein (1660–1732) Karl Sepp Langenstein (1664–1720) 1. Maria Anna Häcki (1660–1699) 2. Maria Katharina Töngi (1661–1722) Hans Geni Häcki (1664–1747) 1. Barbara Kuster (1649–1718), Witwe 2. Anna Maria Langenstein (1696–1738) Hans Melcher Amstutz (1670–1753) 1. Maria Helena Vogel (1671–1735) 2. Seraphia Barbara Müller (1689–1740) Hans Geni Hurschler (1669–1728) Anna Maria Barbara Waser (1677–1720) Bernhardin Feierabend (1667–1735) Maria Anna Töngi (1672–1741) Hans Ignaz Plazi Kuster (1676–1747) Maria Anna Katharina Töngi (1681–1752) Melcher Andres Dillier (1679–1753) 1. Maria Barbara Kuster (1672–1742) 2. Maria Anna Brigitta Waser (1705–1778) Hans Infanger (1683–1731) Maria Barbara Schwander (1683–1748) Niklaus Amrhein (1688–1762) 1. Agatha Kath. Langenstein (1683–1748), Witwe 2. Maria Plazida Amrhein (1698–1762), Witwe Benedikt Ignaz Infanger (1680–1753) Maria Katharina Hurschler (1674–1750) Alfons Sepp Flori Feierabend (1694–1740) Maria Barbara Zniderist (1670–1745) Hans Geni Müller (1673–1757) Maria Brigitta Waser (1666–1719) Karl Joachim Langenstein (1704–1757) Maria Anna Eva Cattani (1708–1767) Hans Sepp Amstutz (1681–1755) Maria Adelhelma Kuster (1685–1756) Hans Melcher Hurschler (1677–1752) 1. Maria Regina Veronika Amrhein (1673–1708) 2. Maria Regina Amrhein (1682–1735) 3. Katharina Theresia Schleiss (1674–1752), Witwe Flori Bernhard Kuster (1708–1784) 1. Maria Anna Amstutz (1709–1739) 2. Maria Klara Katharina Cattani (1711–1747) 3. Maria Agatha Barbara Häcki (1754–1799) Jörg Dillier (1683–1763) Anna Maria Langenstein (1690–1745) Sepp Geni Häcki (1691–1781) Anna Maria Johanna Amrhein (1693–1737) Sepp Geni Hess (1697–1762) Anna Klara Müller (1698–1781) Hans Sepp Anton Feierabend (1699–1777) 1. Maria Katharina Häcki (1688–1720) 2. Maria Katharina Aloisia Hurschler (1711–1761) Hans Sepp Waser (1717–1795) 1. Maria Rosa Kuster (1713–1746) 2. Maria Helena Amstutz (1720–1809) Jakob Geni Hurschler (1708–1782) 1. Maria Barbara Amrhein (1699–1768) 2. Maria Theresia Matter (1718–1781), Witwe

Ehealter M F 38 35 36 64 34 21 38 20 54 27 66 28 26

22 29 64 38 26 26

7/6 10/7 7/7 2/2 7/2 9/6 3/2 5/3 6/5 7/6 0 12/9 9/5 0 8/4 2/2 9/?

25 30

8/4

60 50

0

27 27 22 24 26

24 18 18 35 30 25 41 35 22 26 47 20 21

K

33 51 29 20 22

4/? 0 7/3 7/6 9/8

23 27

5/2

GHF M F V V V V

V V V

V V

V V

V V V V V

G V G

B V

B

V

V V V

V

31 26 13/12 V 58 61

0

26 25

2/2

33 30

1/0

68 22

4/4

33 25 29 20

26 23 28 31

7/5 9/6 0 0

36 24

9/7

23 27 32 29

2/2 7/7

33 42

1/1

64 54

0

V G

V G

G

V V G V V V G

235

Partnerschaften Nr. Ehemann 51. Jakob Geni Langenstein (1702–1759) 52.

53. 54. 55. 56.

57. 58. 59. 60. 61.

62. 63. 64. 65. 66. 67.

Ehefrau

1. Maria Barbara Amrhein (1702–1742) 2. Maria Eva Hurschler (1712–1769), Witwe Hans Sepp Anton Amstutz (1725–1782) 1. Maria Scholastika Langenstein (1733–1776) 2. Anna Maria Rosa Amrhein (1754–1833) Sepp Anton Amrhein (1716–1802) Maria Anna Katharina Waser (1719–1792) Karl Sepp Joachim Langenstein Anna Maria Katharina Agatha Waser (1727–1780) (1737–1783) Melcher Andres Dillier (1722–1798) Maria Eugenia Katharina Hess (1728–1787) Hans Melcher Cattani (1715–1775) 1. Maria Anna Barbara Infanger (1716–1768) 2. Maria Anna Barbara Töngi (1729–1770) 3. Verena Katharina Amrhein (1722–1782), Witwe Ignaz Geni Hurschler (1709–1783) Maria Katharina Dillier (1720–1776) Hans Amstutz (1739–1792) Katharina Agatha Amrhein (1746–1831) Joachim Sepp Infanger (1737–1808) Maria Anna Barbara Scheuber (*1743) Ignaz Adelhelm Langenstein (1739–1812) Emilia Stofer (†1831) Sepp Anton Kuster (1738–1812) 1. Maria Anna Rosa Müller (1747–1803) 2. Katharina Agatha Amrhein (1746–1831), Witwe Sepp Geni Adelhelm Waser (1739–1817) Maria Katharina Franziska Häcki (1748–1806) Wolfgang Ignaz Cattani (1746–1798) ledig Hans Jakob Geni Hess (1743–1812) Maria Theresia Infanger (1744–1817) Sepp Geni Feierabend (1744–1816) Maria Anna Barbara Amstutz (1750–1817) Franz Sepp Amstutz (1743–1818) Maria Anna Amrhein (1750–1808) Sepp Andres Häcki (1755–1817) Anna Maria Josepha Matter (1761–1830)

Ehealter M F

K

GHF M F

23 23 47 37

9/5 3/1

30 22

1/0

52 23 24 21

3/2 9/6

32 22

9/6

V

29 23

6/1

V

29 28

10/5

54 40

1/0

56 49

0

V G V

4/3

25 25 28 28

8/6 8/6 7/6 4/3

24 19 21 22

V V

V

44 33 0 V 25 18 11/10 B 29 23 7/? G 1/1 V 31 22 6/5 V 66 58 0 30 21

V

V V B

V V

G V

G V

Legende: M = Mann, F = Frau, K = Anzahl aller gemeinsamen Kinder / Anzahl der Kinder bis zur Volljährigkeit (18. Lebensjahr), GHF = Gerichtsherrenfamilie (einschl. Weibelamt) väterlicherseits, V = Vater, G = Grossvater, B = Bruder.

In den meisten Fällen wurden Talleute ins Gericht gewählt, deren Väter, Grossväter und andere nahe Verwandte selbst einmal dem Gericht angehörten. Diese Tatsache wird ab dem späten 17. Jahrhundert, wo sich die Überlieferungslage allmählich verdichtet, geradezu augenfällig. Umgekehrt fällt auf, dass Talleute ohne gerichtsherrliche Familientradition selten ins Gericht aufgenommen wurden. So war das Geschlecht der Langenstein im Gericht sehr gut vertreten. Jakob Langenstein (4.) gehörte dem Talgericht ebenso an wie seine beiden Söhne Hans (23.) und Karl Sepp (28.). Zwei Söhne des letzteren besetzten später ebenfalls Gerichtssitze, nämlich Karl Joachim (40.) und Jakob Geni (51.). Dessen Söhne Karl Sepp Joachim (54.) und Ignaz Adelhelm (60.) nahmen ihrerseits Einsitz ins Gericht, letzterer sogar als Ammann. Die Langenstein gehörten den demographisch kleinen

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Geschlechtern des Tals an, weshalb ihre Wahlerfolge zusätzlich ins Gewicht fielen. Wesentlich weniger glücklich erging es vergleichsweise dem Geschlecht der Schleiss, das demographisch etwa gleich stark wie das Geschlecht der Langenstein war: In anderthalb Jahrhunderten gelang es den Schleiss nicht ein einziges Mal, einen Angehörigen des Geschlechts ins Gericht zu bringen. Doch nicht nur zwischen den Geschlechtern bestanden grössere Unterschiede, sondern auch zwischen den Familienzweigen desselben Geschlechts. So folgten die Nachkommen Ammann Jörg Hurschlers (15.) ihrem Ahnen während zwei Generationen im Gericht nach, während andere Familienzweige des Geschlechts vom Gericht so gut wie ausgeschlossen blieben. Wie schon sein Vater trat auch Lienhart Kuster (8.) ins Gericht ein, wo ihm sein Sohn Plazi (21.) und sein Enkel Hans Ignaz Plazi (33.) folgten – die Laufbahn und das Begräbnis des Enkels wurden ja zu Beginn dieses Abschnitts bereits angesprochen. Auch Niklaus Kuster (1.) stand am Anfang einer langen Reihe von Gerichtsleuten: Sein Sohn Sepp Hans (26.) wurde später Ammann, seine Enkel Flori Bernhard (43.) und Hans Sepp Geni (49.) wurden ebenso Gerichtsleute wie der Urenkel Sepp Anton (61.). Viele andere Familienzweige der Kuster gingen jedoch leer aus. Der familiäre Hintergrund beeinflusste also die Wahrscheinlichkeit, ins Gericht gewählt zu werden, entscheidend mit. Es gab in der Talschaft gerichtsnahe und gerichtsferne Familien, deren Angehörige häufig bzw. kaum Aufnahme ins Gericht fanden. Bliebe das Augenmerk nur bei den Gerichtsleuten selbst, würde buchstäblich die halbe Wirklichkeit fehlen. Es fällt nämlich auf, dass auch die Ehefrauen der Gerichtsleute häufig aus einer Gerichtsfamilie stammten. Gerichtsnahe Familien verbanden sich also häufig durch die Vermählung ihrer Angehörigen. Einerseits erhöhten dadurch die besagten Familien die gesellschaftlichen Aufstiegschancen ihrer Nachkommen. Andererseits boten diese Verschwägerungen den Familien die Möglichkeit, ihre Hausmacht durch die Verbindung mit einer anderen einflussreichen Familie zu sichern bzw. zu vergrössern. So brachte es der bereits genannte Lienhart Kuster (8.) fertig, drei seiner Töchter mit späteren Gerichtsleuten zu vermählen. Balzer Kuster (10.) gelang gar das Kunststück, vier seiner fünf Töchter ebenso vielversprechend zu verheiraten. Jakob Langenstein (4.) brachte nicht nur zwei Söhne ins Gericht, sondern verheiratete auch zwei Töchter mit späteren Gerichtsleuten. Genau denselben Erfolg durfte später auch sein Sohn Karl Sepp (28.) verbuchen. Vater und Sohn waren also mit knapp der Hälfte des Neunergerichts nahe verwandt bzw. verschwägert! Das Einheiraten in eine Gerichtsfamilie war vor allem für jene Gerichtsanwärter entscheidend, die nicht zu den alteingesessenen Familien des Hochtals gehörten. So blieb dem neuzugezogenen Christian Cattani der Eintritt ins Gericht verwehrt, ob-

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wohl er an Reichtum fast allen Talleuten überlegen war. Cattani nützten auch seine guten Beziehungen zum Abt nichts: Eine erfolglose Kandidatur im Jahr 1725 setzte seinem Ehrgeiz ein jähes Ende. Cattani bereitete jedoch seinen Nachkommen den Weg vor: Zwei seiner Töchter verheiratete er mit Karl Joachim Langenstein (40.) bzw. Flori Bernhard Kuster (43.), die später beide zur Ammannswürde aufstiegen. Seinen Sohn Hans Melcher verheiratete Cattani mit der Tochter Hans Infangers (35.). Während dem Vater der Einzug ins Gericht nicht gelungen war, trat schliesslich sein Sohn 1769 in das Gericht ein. Die neuzugezogene Familie hatte sich mit den gerichtsnahen Familien derart geschickt verbunden, dass sie nunmehr selbst zu ihnen gehörte. Ähnlich erging es dem neuzugezogenen Heini Hess, der dem Gericht selbst nie angehörte. Hess verheiratete seinen Sohn Niklaus mit einer Tochter Balzer Kusters (10.), doch blieben weitergehende Pläne wegen des frühen Todes des Sohnes unerfüllt. Erst der Enkel Sepp Geni (46.) schaffte 1747 in der dritten Generation den Einzug ins Gericht, nachdem auch er die Tochter eines Gerichtsherrn geheiratet hatte. Die Solidarität unter den Gerichtsfamilien hatte für die gerichtsfernen Familien spürbare Folgen. Aussenstehende, die nicht zum Kreis der Gerichtsfamilien gehörten, hatten es schwer, einen Gerichtssitz zu erlangen. Viele alteingesessene Familien stellten niemals einen Gerichtsherrn. Neuzugezogenen fiel die Aufnahme ins Gericht noch schwerer. Meist eröffnete erst die Verbindung zu einer bestehenden Gerichtsfamilie den Weg ins Gericht. Dass eine solche Ehe überhaupt gelang, setzte gewiss ein gesteigertes gesellschaftliches Ansehen des aufstrebenden Ehepartners bzw. seiner Familie voraus. Erst aber die verwandtschaftliche Verknüpfung brachte die dauerhafte Aufnahme in den Kreis der Gerichtsfamilien mit sich. Die angesprochenen Beziehungsnetze wurden wesentlich von den Töchtern bzw. Ehefrauen der Gerichtsleute mitgetragen. Die wechselseitige Verknüpfung der Gerichtsfamilien hing nicht weniger von den weiblichen Nachkommen ab als von den männlichen. Einerseits brachten die Frauen ihr familiäres Beziehungsnetz in die Ehe ein, andererseits machten sie die Hausmacht ihres Gatten für ihre eigene Familie zugänglich. Die betroffenen Frauen nahmen damit im Netzwerk der Gerichtsfamilien eine entscheidende Rolle ein. Für einen Neuzugezogenen stellte seine Ehefrau fast den einzigen Schlüssel dar, um in das gerichtsherrliche Netzwerk aufgenommen zu werden. Für die Frauen hatte diese günstige Stellung durchaus Vorteile: Eine mächtige Herkunftsfamilie bot den Ehefrauen die nötige Rückendeckung, um sich gegenüber ihrem Gatten besser behaupten zu können. Umgekehrt konnte eine einflussreiche Schwiegerfamilie den Frauen helfen, sich bei Streitigkeiten mit ihrer Herkunftsfamilie durchzusetzen. Da ferner die Herkunfts- und die Schwiegerfamilie oft peinlich darauf achteten, dass sich die andere Familie nicht am Eigenvermögen der Frau vergriff, brauchte diese den Verlust ihres Guts nicht zu befürchten.

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Also lässt sich festhalten: Ob einem Gerichtsanwärter der Sprung ins Gericht gelang, hing nicht nur von der gerichtsherrlichen Tradition seiner Familie, sondern oft auch von jener seiner Ehefrau ab. Diese Feststellung lässt sich anhand der Wahlpraxis zwischen 1650 und 1800 klar belegen. Die Talleute hatten also in Wirklichkeit sehr ungleiche Chancen, ins Gericht gewählt zu werden. Nur wer auf die Unterstützung einer oder mehrerer Gerichtsfamilien zählen konnte, durfte auf einen Gerichtssitz hoffen – und unterstützt wurde in der Regel nur, wer selbst in diese Familien verwandtschaftlich eingebunden war. Das formelle Wahlrecht hatte allerdings von diesen informellen Zugangsbeschränkungen nicht den geringsten Begriff. Dies verdeutlicht, dass die blosse Norm die wirklichen Verhältnisse keineswegs erschöpfend beschrieb. Eine gerichtsherrliche Abstammung bot allerdings keinem Talmann Gewähr, selbst einmal eine bedeutende Stellung in der Talschaft einzunehmen. Viele Söhne und Töchter von Gerichtsleuten erreichten den gesellschaftlichen Stand ihrer Eltern nie. Gewiss, Gerichtsstellen waren – wie auch die wirtschaftlichen Ressourcen – nur beschränkt verfügbar, so dass manche Nachkommen ein Nachsehen hatten. Hier aber stellt sich die Frage: Warum waren die einen Nachkommen erfolgreicher als die anderen? Eine wichtige Voraussetzung für den gesellschaftlichen Erfolg war sicherlich eine geglückte Heirat. Die Wahl musste auf einen geeigneten Partner fallen und die Schwiegerfamilie von der Schicklichkeit der Verbindung überzeugt werden. Je angesehener der eigene Familienname in der Talschaft war, desto besser standen die Aussichten auf eine gelungene Heirat. Gewiss spielte das Geschick der Eltern, die Ehe einfädeln zu können, ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle. Eine erfolgreiche Verbindung setzte schliesslich auch voraus, dass die künftigen Ehepartner zueinander passten und einigermassen voneinander angesprochen waren. Dass die günstige Gelegenheit bzw. der passende Augenblick den Zeitpunkt der Heirat mitbestimmte, lässt sich am flexiblen Heiratsalter bei der Erstehe erkennen. Durchschnittlich heirateten die späteren Gerichtsherren im 27. Lebensjahr, ihre Gattinnen etwas früher im 24. Lebensjahr. Doch diese Durchschnittswerte besagen nicht viel, denn das Heiratsalter wich in den meisten Fällen vom Durchschnitt erheblich ab. Die durchschnittliche Abweichung vom Mittelwert betrug bei Frauen und Männern über vier Jahre. Die Engelberger Gesellschaft kannte also kein starres Heiratsalter. Wann der rechte Zeitpunkt für die Hochzeit gekommen schien, bestimmten letztlich die Heiratswilligen bzw. deren Familien selbst. Gewöhnlich fiel die Heirat ins dritte Lebensjahrzehnt. Die Eltern hatten genügend Vorlaufzeit, mögliche Lebensgefährten für ihre Töchter und Söhne ausfindig

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zu machen. Die Heiratswilligen selbst hatten während ihrer Jugend Gelegenheit, nach geeigneten Lebensgefährten Ausschau zu halten. Der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern war bei der Erstehe selten gross. Natürliche Altersunterschiede konnten durch den Aufschub der Heirat ausgeglichen werden, bis beide Heiratswilligen bereit für die Ehe waren und der rechte Zeitpunkt dafür gekommen schien. So kam auch gelegentlich vor, dass Ehefrauen um einige Jahre älter waren als ihre Gatten. In seltenen Fällen war der Altersunterschied sogar stark ausgeprägt: Hans Sepp Anton Feierabend (47.) und Hans Geni Häcki (29.) heirateten Frauen, die um 11 bzw. 15 Jahre älter waren als sie selbst. Manche Gatten nahmen mit dem fortgeschrittenen Alter ihrer Ehefrau auch in Kauf, keine Nachkommen mehr zeugen zu können. Dies war etwa bei Hans Sepp Geni Kuster (49.) und Jakob Geni Hurschler (50.) der Fall, deren Ehefrauen bei der Heirat bereits 38- bzw. 42-jährig waren. Einen noch grösseren Altersunterschied nahm Alfons Sepp Flori Feierabend (38.) auf sich: Seine Frau Maria Barbara Zniderist war 24 Jahre älter als er selbst! Frühe Heiraten vor dem 20. Lebensjahr kamen bei Männern nur ausnahmsweise vor. Dass Balzer Töngi (5.) bereits als 16-Jähriger die 17-jährige Agatha Matter 1630 heiratete, lag hauptsächlich daran, dass die Pest ein Jahr zuvor grausam im Hochtal gewütet hatte. Die Seuche hatte viele Familien empfindlich getroffen, manche sogar ausgelöscht. Die Überlebenden mussten deshalb rasch die Nachfolge der Verstorbenen übernehmen. Auch der 18-jährige Niklaus Häcki (12.) heiratete früh, als er sich 1655 mit der 21-jährigen Agatha Kuster vermählte. Häcki hatte seinen vorzeitig verstorbenen Vater nie gekannt, und auch der Tod seiner Mutter traf ihn als Neunjährigen früh. Dementsprechend musste Häcki bald selbständig werden. Der Vollwaise kam jedoch mit seinem Schicksal zurecht und stieg viele Jahre später bis zur Ammannswürde auf. Andererseits lag das Alter bei der Erstehe selten über dem 30. Lebensjahr. So heirateten 1678 die Brüder Hans Melcher (24.) und Balzer Dillier (25.) erst mit 38 bzw. 35 Jahren. Die späte Heirat der Brüder war nicht etwa durch eine verzögerte Erbschaft bedingt, war doch ihr Vater seit acht Jahren tot. Trotz ihrer späten Heirat zeugten beide Brüder zahlreiche Nachkommen. Noch älter heiratete Ignaz Geni Hurschler (57.), der sich 1753 erst im 45. Lebensjahr mit der 33-jährigen Maria Katharina Dillier verehelichte. Die späte Heirat war auch in diesem Fall kaum durch fehlende Verdienstmöglichkeiten bedingt, hatte doch Hurschler seinen greisen Vater wohl seit Jahren bei der Bewirtschaftung des Familienguts abgelöst. Späte Heiraten stellten – anders als vorzeitige – nicht unbedingt das Anzeichen für eine Notlage dar. Bis zur Heirat stellte die Partnersuche die grösste Herausforderung dar. Nach der Heirat allerdings waren die Eheleute der sogenannten »demographischen Lotterie«

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ausgesetzt.3 Ein hartes Los traf erstens diejenigen, deren Ehe unfruchtbar blieb. Die Kinderlosigkeit beeinflusste die weitere Lebensführung der betroffenen Paare massgeblich mit: Kinderlose Ehepaare wurden nicht nur der Möglichkeit beraubt, sich familiär zu vernetzen, sondern wurden etwa bei der Bewirtschaftung der Familiengüter oder der Altersvorsorge erheblichen Schwierigkeiten gegenübergestellt. Zweitens stellten Schwangerschaften und Geburten stets heikle Lebenslagen dar. Verstarb eine Frau an einer Folgeerkrankung, mussten sich der Witwer und die (allenfalls schon vorhandenen) Kinder mit einer neuen Lage abfinden. War noch kaum Nachwuchs vorhanden, musste der Witwer eine neue Heirat in die Wege leiten, falls er sich eine Nachkommenschaft sichern wollte. Auch die Pflege von mutterlosen Kleinkindern konnte zu einer erneuten Heirat drängen. Gründete jedoch der Vater mit einer anderen Gattin eine neue Familie, bedeutete dies für die Kinder erster Ehe nicht selten eine gewisse Zurückstellung. Halbwaisen zogen oft viel früher aus dem Elternhaus aus. War bereits reichlich Nachwuchs aus erster Ehe vorhanden, stand für die Witwer die Zeugung von Nachkommen nicht mehr im Vordergrund. Eher hielten diese nach Frauen Ausschau, welche die Kinder aus erster Ehe pflegen, den Haushalt besorgen und im Alter Abwartsdienste besorgen konnten. Dies erklärt auch, weshalb die Altersunterschiede zwischen Mann und Frau bei Zweit- bzw. Drittehen stark zunahmen. Die Frauen waren in diesen Fällen oft zwei oder drei Jahrzehnte jünger als ihre wiederverheirateten Gatten. Ein geradezu verblüffender Altersunterschied bestand etwa zwischen Flori Bernhard Kuster (43.) und seiner dritten Frau Maria Agatha Barbara Häcki, die um ganze 46 Jahre jünger war als ihr Mann! Und wenn etwa Hans Lienhart Müller (22.) seine dritte, um 33 Jahre jüngere Ehefrau noch im 76. Lebensjahr ehelichte, kann man sich diese nicht anders denn als Alterspflegerin vorstellen. Solche Ehen boten den betroffenen Frauen immerhin die Möglichkeit, ihre eigene Lebenshaltung zu sichern. Die demographische Lotterie bestimmte drittens mit, welche Kinder das Erwachsenenalter erreichten. Manche Paare hatten das Glück, dass fast all ihre Kinder die Volljährigkeit erreichten. So zogen Niklaus Kuster (1.) und seine Frau Katharina Waser alle zehn gemeinsamen Kinder ins Erwachsenenalter auf, Hans Amstutz (58.) und seine Frau Katharina Agatha Amrhein verloren gerade mal eines von elf Kindern vorzeitig. Hans Melcher Hurschler (42.) und seine zweite Frau Maria Klara Katharina Cattani brachten gar 12 von 13 Kindern durch. Andere Ehepaare hatten bedeutend weniger Glück. Es kam in manchen Fällen vor, dass nur die Hälfte der Kinder das Erwachsenenalter erreichte. Hans Melcher Vogel (27.) und seine Frau Katharina Amrhein sahen nur zwei ihrer sieben Kinder volljährig werden. Noch misslicher erging es Kaspar Kuster (7.) und seiner zweiten 3 Zum Begriff vgl. Smith (1984: 40).

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Frau Anna Maria Zniderist, von deren vier Kindern nur eines die Kindheit überlebte. Melcher Andres Dillier (55.) und seine Frau Maria Katharina Eugenia Hess verloren gar fünf ihrer sechs Kinder vorzeitig. Die Wechselfälle des Lebens mischten also die Karten immer wieder neu. In jeder Lebensphase konnten äussere Umstände die Lebensplanung auf den Kopf stellen. Schicksalsschläge verdunkelten die Zukunftsaussichten für die einen, eröffneten hingegen neue Möglichkeiten für die anderen. Die Unwägbarkeiten des Lebens gingen selbstredend nicht nur auf die demographische Lotterie zurück. Ein geglücktes Ehe- und Familienleben hing von vielen Einflüssen ab, die sich längerfristig nur bedingt vorsehen liessen. Nachkommen entwickelten wahrscheinlich nicht immer jene Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Neigungen, die sich ihre Eltern gewünscht hätten – geschweige davon, dass sich die persönlichen Ziele der Familienangehörigen nicht immer in Einklang bringen liessen. Nicht minder war schliesslich der wirtschaftliche und gesellschaftliche Erfolg von vielen Abhängigkeiten geprägt, die sich kaum beeinflussen liessen. Viele Lebenslagen liessen sich also nicht aussuchen, sondern nur meistern. Manche wussten allerdings geschickter mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen oder günstige Gelegenheit zu packen. So lässt sich das Beispiel Niklaus Häckis (12.) anführen, der bereits als Neunjähriger Vollwaise war und gleichwohl den Aufstieg zum Ammann erreichte. Wolfgang Kuster (14.) und Wolfgang Ignaz Cattani (63.) blieben zwar lebenslänglich Junggesellen, doch gelang ihnen dennoch der Einzug ins Gericht. Alfons Sepp Flori Feierabend (38.) seinerseits stammte nicht aus einer Gerichtsfamilie, heiratete keine Gerichtsherrentochter und blieb zeitlebens kinderlos: Doch der vielseitig begabte Scherer wusste sich die Unterstützung der Gemeinde auf andere Weise zu sichern. Wer also einen schlechten Start ins Leben erwischte oder widrige Lebensumstände bewältigen musste, konnte sein Schicksal durchaus noch zum Guten wenden. Ein Vergleich mit dem Kartenspiel lässt sich hier anstellen: Schlechte Karten brauchten nicht zu einem schlechten Ergebnis zu führen, wenn sie geschickt gespielt wurden.4 Bisher war nur von den persönlichen Lebensumständen die Rede, die eine erfolgreiche gesellschaftliche Laufbahn befördern konnten. Diese reichten alleine jedoch nicht aus. In aller Regel wurden nur Talleute ins Gericht gewählt, die schon Erfahrung in der Verwaltung des Gemeinwesens besassen und ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatten. Nur wer ein öffentliches Amt bereits erfolgreich bekleidet hatte, konnte sich eine Wahl ins Gericht erhoffen. So boten insbesondere Gemeindeämter 4 Zum Vergleich sozialen Handelns mit dem Kartenspiel, vgl. auch Bourdieu (1972: 1109).

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die Möglichkeit, sich in der Talschaft einen Namen zu machen, das Vertrauen der Talleute zu gewinnen, Freundschaften zu schliessen und Erfahrungen zu sammeln. Die meisten Gerichtsleute hatten vor ihrer Wahl bereits als Bannwarte auf einer grossen Genossenalp geamtet. Der Zusammenhang erstaunt nicht weiter: Der Alpbetrieb sicherte dem Hochtal einen grossen Teil seines Auskommens. Die Bewirtschaftung der Genossenalpen musste beaufsichtigt, die Zusammenarbeit unter den Alpleuten geregelt, vorkommende Streitigkeiten geschlichtet und Gemeinschaftsarbeiten durchgesetzt werden. Da die meisten Talleute unmittelbar oder mittelbar an der Alpwirtschaft beteiligt waren, zählte das Bannwartamt zu den einflussreichsten und anspruchsvollsten Ämtern des Tals. Wer sich als Bannwart bewährte, erhöhte seine Chancen für eine spätere Gerichtswahl. In diesem Zusammenhang wird noch einmal klar, weshalb der familiäre Hintergrund die persönliche Laufbahn so entscheidend mitbestimmte. Ein öffentliches Amt bot die Möglichkeit, ein eigenes Beziehungsnetz auf- und auszubauen. Erst dadurch war es den späteren Gerichtsanwärtern möglich, in der Gemeinde eine Mehrheit für den Gerichtsvorschlag zu finden. Die Söhne der Gerichtsfamilien brauchten nun ihr Beziehungsnetz nicht von Grund auf aufzubauen, sondern konnten auf das Netzwerk und den Ruf ihrer Familie zurückgreifen. Die junge Generation konnte auf das soziale Kapital der Familie zählen und erhielt dadurch einen Vorsprung gegenüber jenen Altersgenossen, die sich ein entsprechendes Beziehungsnetz erst erarbeiten mussten. Wer ferner ein öffentliches Amt bekleiden wollte, musste über viele wirtschaftliche und rechtliche Abläufe Bescheid wissen. Dies setzte einiges Wissen voraus. Und wer hatte zu diesem Wissen besseren Zugang als die Söhne jener, die entsprechende Ämter bereits bekleidet hatten? Die Sozialisation in einer Gerichtsfamilie verschaffte deren Nachkommen einen wichtigen Wissensvorsprung. Wer in einer traditionsreichen Gerichtsfamilie aufwuchs, entwickelte wohl auch schneller die Neigung, eine öffentliche Laufbahn einzuschlagen. Die Familientradition weckte das Interesse und den Ehrgeiz der Sprösslinge. Nun lässt sich die Ausgangsfrage erneut stellen: Wie wurde man im 17. und 18. Jahrhundert in Engelberg Gerichtsherr? Wahlchancen durften sich hauptsächlich jene ausrechnen, die von einer Gerichtsfamilie abstammten. Die gerichtsherrliche Abstammung sicherte allerdings noch keinem Talmann die Wahl ins Gericht zu. Jede Lebensphase brachte manche Unwägbarkeiten mit sich, welche die gesellschaftliche Laufbahn beeinträchtigen konnten und dementsprechend bewältigt werden mussten. In der Kindheit konnte der frühe Tod eines oder beider Elternteile den weiteren Lebensgang erschweren. Im heiratsfähigen Alter musste eine günstige Heiratsgelegenheit abgewartet bzw. vorbereitet werden. Viele spätere Gerichtsleute waren durch ihre Gattin mit weiteren Gerichtsfamilien verschwägert. Diese verwandtschaftlichen Verknüpfungen förderten die Solidarität unter den Gerichtsfa-

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milien. Wer nicht auf solche Verwandtschaftsbeziehungen zählen konnte, kam nur ausnahmsweise zu einem Gerichtssitz. Wer also seine Wahlchancen nicht schmälern wollte, musste frühzeitig auf eine aussichtsreiche Heirat bedacht sein. Das Warten auf den rechten Zeitpunkt, der fallweise um viele Lebensjahre auseinanderlag, prägte den eigenen Lebenslauf mit. Die Lebenspläne mussten auch nach der Heirat immer wieder angepasst werden, insbesondere wenn der erhoffte Kindersegen ausblieb oder die Ehefrau an den Folgen einer Schwangerschaft verstarb. Glück in der demographischen Lotterie war nicht unerheblich: Nachkommen sicherten in vielfältigen Lebenslagen eine wichtige Unterstützung zu. Selbst wenn der Ehepartner starb, blieben die Beziehungen zur Schwiegerfamilie dank der gemeinsamen Kinder bestehen. Nicht zuletzt bot ein heiratsfähiger Nachwuchs Gelegenheit, das eigene Verwandtschaftsnetz weiter auszubauen und später einmal den Familienbesitz zu vererben. Wer einmal einen Gerichtssitz besetzen wollte, konnte sich allerdings mit dem Aufbau eines Verwandtschaftsnetzes nicht zufrieden geben. Früh mussten öffentliche Ämter bekleidet werden, um auch die Talschaft für sich gewinnen zu können. Eine grosse Bedeutung kam diesbezüglich den Gemeindeämtern und insbesondere den Bannwartämtern zu. Erst wer das Vertrauen von Abt, Gericht und Gemeinde gewonnen hatte, zählte zu den aussichtsreichen Gerichtsanwärtern. Die Söhne von Gerichtsfamilien konnten leichter ein öffentliches Netzwerk aufbauen, da sie auf das Beziehungsnetz und das Ansehen ihrer Familie zurückgreifen konnten. Eine öffentliche Laufbahn setzte aber auch persönliches Interesse und reichliches Handlungswissen voraus: Auch hier spielte die gerichtsherrliche Abstammung viele gute Karten in die Hand. Es kam allerdings vor, dass auch Talleute mit schlechteren Karten ins Gericht aufgenommen wurden. Der Zugang ins Gericht war also verengt, aber nicht abgeschlossen. Der gesellschaftliche Erfolg hing stark vom persönlichen Geschick des Einzelnen ab, unabhängig seiner Abstammung. Gleichwohl bleibt die Feststellung gültig: Die Talleute hatten nur rechtlich dieselbe Chance, ins Gericht gewählt zu werden. In Wirklichkeit hingen die Wahlchancen entscheidend vom Beziehungsnetz ab, das die jeweiligen Gerichtsanwärter beanspruchen konnten. Und hier waren die Söhne der Gerichtsfamilien eindeutig im Vorteil.

3.1.2 Unrechtmässige Liebesbeziehungen „Eine Matery, von welcher ich lieber schweigen als schreiben wolte.“5 So äusserte der weltliche Kanzler Karl Dominik Betschart sein Unbehagen, als er 1682 die Gerichtsverhandlungen über einen Ehebruch protokollieren musste. Betschart fühlte 5 Vgl. ETP 4.137–142.

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sich durch die intimen Einzelheiten beschämt, die beim Verhör der Fehlbaren ans Licht gekommen waren. Die Gerichtsverhandlung brachte nämlich zur Sprache, worüber der Anstand eigentlich Schweigen gebot. Was Betschart peinlich berührte, war also verletzte Intimität. Geschlechtliche Beziehungen wurden im frühneuzeitlichen Engelberg üblicherweise vertraulich behandelt. Wie die Talleute ihre Paarbeziehungen im Alltag lebten und gestalteten, drang gewöhnlich nicht an die Öffentlichkeit. Was aber der Öffentlichkeit entzogen war, fand auch keinen Weg in die geschichtliche Überlieferung. Das Schweigen der Öffentlichkeit spiegelt sich auch in den wenigen Zeugnissen jener Zeit wieder. Die Intimität von Paarbeziehungen wurde nur in Ausnahmefällen verletzt. Ein solcher Fall trat etwa ein, wenn häuslicher Unfriede öffentliches Ärgernis erregte. Meistens aber zerbrach die Vertraulichkeit dann, wenn unrechtmässige Verbindungen zum öffentlichen Gespräch wurden. Da unter diesen Umständen die Obrigkeit früher oder später eingeschaltet wurde bzw. sich von selbst einschaltete, wurden die besagten Beziehungen bald einmal aktenkundig. Unrechtmässige Liebesbeziehungen sind also die einzigen Paarbeziehungen, in welche die geschichtliche Überlieferung Einblick gewährt. Unerlaubte Verbindungen bezeugen aber nicht nur abweichendes Verhalten, sondern geben häufig auch Aufschluss über gesellschaftlich anerkannte bzw. verbreitete Verhaltensweisen. Die Fälle verletzter und aktenkundig gewordener Intimität legen den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge und Abläufe frei, die ansonsten vertraulich und damit für aussenstehende Beobachter unsichtbar blieben. Die besagten Fälle sind »aussergewöhnlich normal«, indem sie als Ausnahmeereignis den Normalfall sichtbar machen.6 Die überlieferten Fälle unrechtmässiger Verbindungen erlauben es, verschiedene Fragen zu beantworten: Wie lernten sich Paare kennen? Wie lief das Liebeswerben ab? Welche Beziehungsnetze förderten das Verhältnis? Wie war es mit der gesellschaftlichen Aufsicht bestellt? Wo lag die Grenze zwischen Vertraulichkeit und Öffentlichkeit? Wie wurden gesellschaftliche Normen gehandhabt? Welche Rolle spielte dabei die Obrigkeit? Der Fragenkatalog macht bald klar: Vertraulichkeit ist keineswegs mit privater Vereinzelung zu verwechseln. Paarbeziehungen wurden zwar meist abseits der Öffentlichkeit gelebt, waren aber mitnichten Privatsache der Beteiligten. Paarbeziehungen entwickelten sich innerhalb eines gesellschaftlichen Bereichs, der weder öffentlich noch privat, sondern eben vertraulich war. Geschlechtliche Beziehungen wurden innerhalb eines gesellschaftlichen Netzwerks geknüpft und gelebt, das die Beziehung in der Regel nach aussen abschirmte. Meis6 Vgl. Grendi (1977: 512), der den Begriff des »eccezionalmente normale« geprägt hat.

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tens konnte eine Beziehung erst zum öffentlichen Gesprächsthema werden, wenn das Netzwerk seiner Schutzfunktion nicht mehr genügte. In solchen Fällen wurde nicht nur eine verbotene Liebe sichtbar, sondern eben auch das Netzwerk, das die Beziehung bis dahin gedeckt hatte. Die folgende Darstellung fasst die aktenkundig gewordenen Paarbeziehungen in drei Gruppen zusammen: (a) voreheliche, (b) ehebrecherische und (c) erzwungene Beziehungen. Die Mehrheit der aktenkundigen Beziehungen ist zweifellos der ersten Gruppe zuzurechnen. Diese Fälle geben nicht zuletzt Aufschluss über die Art und Weise, wie Ehen im frühneuzeitlichen Engelberg angebahnt wurden, denn voreheliche Verbindungen standen meist unter dem Zeichen einer künftigen, mehr oder weniger wahrscheinlichen Heirat. In die zweite Gruppe fallen jene unrechtmässigen Beziehungen, in denen mindestens ein Beziehungspartner verheiratet war. Die dritte Gruppe schliesslich fasst jene Fälle geschlechtlicher Beziehungen zusammen, in denen das gegenseitige Einverständnis der Partner nicht gegeben war.

a) Voreheliche Liebesbeziehungen In diesen Beziehungen stand eine spätere Eheschliessung in Aussicht oder war zumindest nicht ausgeschlossen. Wenn aber ein junges Paar eine Heirat ins Auge fassen wollte, musste es sich überhaupt einmal kennenlernen. Wo also konnten junge Frauen und Männer einander begegnen? Das frühneuzeitliche Engelberg kannte verschiedene geprägte Zeiten und Räume, die eine neue Bekanntschaft ermöglichten. Zahlreiche gesellschaftliche Anlässe boten jungen Frauen und Männern Gelegenheit, sich kennenzulernen. So gehörten die Chilbenen (Kirchweihfeste) zu den beliebtesten und auch häufigsten Festen, war doch jedem Heiligtum im Hochtal ein eigenes Fest gewidmet. Oftmals klangen die Festlichkeiten erst am Folgetag mit der Nachchilbi aus. Vergleichbare Feiern lockten auch in den benachbarten Gegenden. Hochzeiten waren ebenfalls mit Festlichkeiten verbunden. Schliesslich gehörten die Fasnachtstage zu den Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens.7 Auch kirchliche Anlässe brachten vielfältige Begegnungsmöglichkeiten mit sich, wie später gezeigt werden soll (vgl. Abschn. 4.3). Die Gottesdienste waren zwar nicht als Möglichkeit zur Anbändelung gedacht, wurden aber von jungen Leuten durchaus dazu genutzt. So hatte sich der Klosterschneider 1687 bei kirchlichen Veranstaltungen oftmals Anna Maria Vogel angenähert. „Das[s] er sich villmahlen under den Pre-

7 Zur Bedeutung der genannten Festanlässe bei vorehelichen Beziehungen vgl. ETP 2a.42b-43, 2a.43–43b, 4.227–228, 4.228–229, 4.490 und 7.625–630.

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digen undt h.[eiligem] Rosenkrantz bey disem Meitli aufgehalten“, war den übrigen Anwesenden natürlich nicht verborgen geblieben.8 Öffentliche Feste waren oft mit Tanzanlässen verbunden, was jungen Frauen und Männern zusätzliche Begegnungsmöglichkeiten bot. Zweifellos gingen manche Paarbeziehungen auf eine Bekanntschaft in der Tanzlaube des Dorfes zurück.9 Was sich in den Köpfen der Tanzenden genau abspielte, davon wusste später die Volkssage zu berichten:10 Wacker wurde anlässlich einer Hochzeit getanzt. Da sah einer der Anwesenden den Teufel unter den Tanzenden; er tanzte wacker und sagte bald diesem, bald jenem der Tänzer etwas leise ins Ohr.

Der Tanz brachte also die Anwesenden auf Gedanken, von denen besser zu schweigen als zu sprechen war. Kein Wunder also, wenn etwa Anna Margaretha Förnet 1713 ihre Sittsamkeit folgendermassen belegen wollte:11 Sie habe von Juget uf die Natur gehabt, wan sie zum Tantz gangen, das[s] sie an Gott denckht. In der Fasnacht habe der Claus Fyrabet in der Schwand ihro Brentz [Branntwein] zalt, auch vor und darnach mit ihro dantzet, darfür sie für ihne 2 heyl. Messen gehört. Sie habe wehrentem Dantz alle Zeith an die Ewigkheit und an das jüngste Gericht gedenckht.

Oftmals waren Festanlässe auch mit einem anschliessenden Wirtshausbesuch verbunden. So war es unter jungen Burschen Gewohnheit, dass wer „an einem Hochzeith ein Krantz gehabt, mit seiner Täntzerin wohl habe dörfen mit ihr in das Wirtshaus gehen“. Ein ehrlicher Bursche durfte also bei öffentlichen Tänzanlässen ein ehrliches Mädchen ins Wirtshaus führen. Die Obrigkeit wies allerdings jene Burschen scharf zurecht, die „dem meitli ein rausch anhenckhten oder noch zu letst bräntz [Branntwein] zu trinckhen zahlten“.12 Hausbesuche ermöglichten eine vertraulichere Begegnung im engeren Kreis.13 Die Treffen konnten durchaus mit dem Einverständnis der Hauseltern stattfinden. An fröhlicher Geselligkeit fehlte es auch diesen Anlässen nicht. So musste sich Gerichts8 Vgl. ETP 4.227–229. 9 Vgl. ETP 2a.43–43b und 7.625–630. 10 Vgl. Niderberger (1978: 279). 11 Vgl. ETP 7.366–368. 12 Zitierte Stellen in ETP 4.490 und 8.383–387, vgl. auch 1.370–371, 3.26–27, 4.227– 228, 4.228–229 und 7.625–630. 13 Vgl. u.a. 1.370–371, 2b.237–238, 2b.676–677, 2b.704, 3.185–186, 3.230–233, 4.46– 48, 4.194–196, 5.198–218, 5.250–257, 5.274–282, 5.292–297, 5.299–300, 5.357–366

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weibel Jost Hurschler 1638 verantworten, weil er „ein lange zeit vil misshandel, ergernussen, spielen, frässen und suffen und andere misshandlungen“ in seinem Haus geduldet hatte – was (aus der Gerichtssprache übersetzt) etwa hiess: Hurschler hatte ziemlich ausgiebige Feste in seinem Haus zugelassen bzw. veranstaltet. Seine Frau Dorothea Stulz hatte überdies fremden Burschen Besuche keineswegs verwehrt, sondern ihnen im Gegenteil viele Gelegenheiten dazu verschafft. Wie das besagte Ehepaar wussten wohl viele Eltern Bescheid, wenn junge Burschen „nachts oder anderen ziten zuo hus“ auf Besuch kamen. Die Eltern tischten bei diesen Zusammenkünften Speisen und Getränke auf, wobei sich die Becher bisweilen mit Branntwein füllten. Oder sie bestellten gar Spielleute und spornten die jungen Leute zum Tanz an. Zechereien waren ziemlich kostspielig, wie etwa Plazi Matter 1728 erfahren musste, als seine Magd Anna Matter von Konrad Waser umworben wurde. Matter klagte später: aber [als] Cuonrad um die Anna gebuohlet, habe man die gantze Nacht durch das Liecht im Haus gehaubt, folgsam in nit einbedingte [einberechnete] Kosten gerathen. Zue deme seie vill Essen und Trinckhen gewesen. Wer solches habe zahlen müössen, stehe dahin. Wohl wüsse er, namhaften Schaden gelitten zue haben, also, dass er 30 Gl. old was daran sein möchte, mit Fuog einbehalten zu haben.

Die Hauseltern waren sich nicht immer einig, welcher Besuch angebracht war. Baschi Kuster etwa missfielen 1674 die Besuche, die eine Tochter des Hauses, Anna Maria Waser, von einem Unbekannten erhielt. Nach eigener Aussage hatte er den unliebsamen Werber bei seinen nächtlichen Besuchen vertrieben. Die Tochter liess ihren Buhler jedoch regelmässig ins Haus, worauf das Paar „mit der muotter bewilligung nachts in die Schwand gangen“. Auch Hans Jakob Feierabend waren die Hausbesuche seiner Tochter nicht ganz geheuer: Als sie sich 1668 nach der Wolfenschiesser Chilbi spätabends in ein fremdes Haus begab, war der Vater selbst heimlich zur Stelle und horchte am Fenster aus, wer sich sonst noch im Haus aufhielt. Er wurde in dieser ungünstigen Lage jedoch von Fremden ertappt, was doppelt peinlich war, insofern Feierabend Gerichtsherr war.14 Vertrauter wurde die Zweisamkeit dann, wenn die Besuche in den Lauben stattfanden, wie in Engelberg die oberen Schlafräume des Bauernhauses genannt wurden. Man erinnere sich an den Fall der jungen Katharina Hurschler, die in ihrer Kammer nachts so häufig Burschen empfing, dass sie ihren Hauseltern des Lärmes wegen den Schlaf raubte. In den Lauben verbrachten die jungen Frauen und Mänund 7.625–630, besonders zu den Lauben 1.216–217, 5.326–327, 9.421–422 und 14.494–497. 14 Vgl. ETP 3.113.

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ner gemeinsam die Nacht. Oft gesellten sich Geschwister und andere Hausgenossen hinzu. Die Bekanntschaft mit Geschwistern erleichterte übrigens Annäherungsversuche: So konnte Anna Barbara Schleiss 1720 ihren Geliebten Niklaus Flori Amrhein kennenlernen, indem sie dessen Schwestern „vihlmahl zu Tag und Nacht“ besuchte. Nächtliche Begegnungen schienen auch unverdächtiger, wenn sich ein Paar nicht unbegleitet traf. So rechtfertigte 1710 Anna Katharina Waser die Besuche eines Burschen damit,15 [er] seye am Abent zu ihr khomen, und sie seyen die gantze Nacht als der Tag anbrechen wollen uffgebliben, doch alles in Ehren, dan sie haben ein Liecht gehabt, und seye die Hausdochter bey ihnen auch die gantze Nacht aufgebliben, dan der ietzige Marchstaller seye bey der Haus Dochter gewesen.

Wohnten also mehrere junge Frauen im Haus, besuchten sie die Burschen öfter gemeinsam. Es kam aber durchaus vor, dass ein Mädchen und ein Bursche alleine nachts beieinander lagen. In diesem Kontext war das »Liegen« ein stehender Begriff und bedeutete, dass ein Paar zwar beieinander aber nicht miteinander schlief – eine Praxis, die in frühneuzeitlichen Gesellschaften weit verbreitet war.16 „Es solle nur bei i[h]m ligen, es schade nüt“, erklärte etwa Benedikt Zniderist 1616 seiner Schwester Maria, als sie von den Besuchen eines jungen Burschen verwirrt wurde.17 Die Fenster und Türen der Mädchenzimmer waren also keineswegs fest verschlossen. Wenn etwa von Niklaus Häcki 1616 erzählt wurde, „er habe acht Tag lang dess Maegret Hurschlers Laubenschlüssel in Hosen tragen“, so wirkte das Gerücht gerade wegen seiner Wahrscheinlichkeit umso glaubwürdiger.18 Hausbesuche boten grössere Vertraulichkeit als gesellschaftliche Anlässe. Gleichwohl war eine gewisse Aufsicht der übrigen Hausgenossen nicht zu vermeiden. Wirkliche Zweisamkeit versprachen deshalb nur abgelegene Orte. Die zahlreichen Wirtschaftsbauten, die im ganzen Hochtal verstreut waren, luden zu entsprechenden Treffen ein. Die abseits gelegenen Alphütten z.B. schützten vor fremden Blicken und erlaubten ungestörte Begegnungen: Was in den Tastern (Schlafstellen) der Alpen geschah, blieb unter gewöhnlichen Umständen verborgen.19 Abgeschiedenheit boten auch die Speicher und Gäden, die sich fast auf jeder Flur befanden. So flüchteten manche Paare hinter die schützenden Bretter eines Gadens. Baschi 15 16 17 18 19

Vgl. ETP 5.198–218. Vgl. etwa Lischka (2006: 126–133) mit entsprechenden Literaturhinweisen. Vgl. ETP 1.219–220. Vgl. ETP 1.216–217. Vgl. ETP 1.445–446 und 2a.3b.

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Matter etwa traf 1616 Margaretha Furrer bei einem Gaden an und schmeichelte ihr: „Du bist ein feines Schelmlin“. Matters Begrüssung öffnete nicht nur das Herz der jungen Frau, sondern auch die Türen des Gadens, in das sich das junge Paar küssend und umarmend zurückzog. Die Begebenheit blieb durchaus kein Einzelfall.20 Schliesslich boten auch die Heuarbeiten, die im Sommer überall anfielen, willkommene Begegnungsmöglichkeiten, die nicht ungenutzt blieben. Auch auf den zahlreichen Wegstrecken des Hochtals konnten sich junge Paare ohne Aufsehen begegnen. Jedes Fest brachte seinen Heimweg mit sich, den die Mädchen bisweilen in männlicher Begleitung antraten. Gemeinsame Arbeitswege erlaubten ebenfalls mehr oder weniger zufällige Begegnungen. So traf Balzer Töngi 1615 regelmässig ein Mädchen auf seinem Melkweg, wobei sich bald herausstellte, dass Töngi das Mädchen auch im übertragenen Sinn gerne als Weggefährtin gewonnen hätte. Die Saumstrecke nach Luzern bot jungen Paaren ebenso die Gelegenheit, sich fremden Blicken zu entziehen – zumal die Reise nach Luzern oft mit einer auswärtigen Übernachtung verbunden war. So liessen 1665 Maria Hasler und ein Klosterknecht auf der Reise nach Luzern keine Gelegenheit aus, einander näherzukommen und schliefen miteinander (nicht beieinander) in der Stansstader Sust, im Wirtshaus und in einem Gaden nahe der Landstrasse.21 Das bisher Gesagte lässt sich an Anna Katharina Wasers Lebensgeschichte gut veranschaulichen, die weiter oben bereits angesprochen wurde. Man erinnere sich: Das Mädchen pflegte 1709 zahlreiche Beziehungen zu jungen Burschen, die ihre Dienste als Wäscherin und Näherin schätzten. Viele Jünglinge gingen deshalb bei Waser (selbst zu später Nachtstunde) ein und aus. Man konnte sie spätabends bei einer Männerrunde in der Ziegelhütte antreffen oder in ein Gespräch vertieft sehen, das sie mit einem Burschen auf den Stufen eines Speichers führte. Gewiss kam die tüchtige Heuerin auch bei der Heuernte mit manchen jungen Männern ins Gespräch. Nicht zuletzt tanzte Waser gerne, so dass man ihr in der Tanzlaube und beim anschliessenden Wirtshausbesuch öfter begegnete. Ein befreundeter Senn besuchte das Mädchen gelegentlich in ihrer Schlafkammer. Bald lud sie diesen zum nächtlichen Besuch einer Verwandten ein, bald begleitete sie ihn frühmorgens nach gemeinsam verbrachter Nacht auf die Alp. Am letzten Julisonntag hielt sich Waser mit zwei weiteren Frauen abends in ihrer Stube auf, als auch der Schneidergeselle Hans Geni Feierabend zu ihnen stiess. Man plauderte miteinander bis gegen Mitternacht. Da ergriff Feierabend die Hand Wasers und führte sie in die Küche hinaus, wo beide miteinander schliefen, „ohne das[s] sie mit einandern was geredt“. Als Feierabend das Haus wieder verliess, fragte 20 Vgl. u.a. ETPP 1.220–221, 1.370–371 und 3.26–27. 21 Vgl. ETP 3.26 und 3.26–27.

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ihn Waser, ob er sie in Unehren würde stehen lassen. Feierabend verneinte dies und erklärte, „wan sie etwas wüsse, so solle sie es ihme nur sagen“. Diese Gelegenheit – auf die beide wohl gerne verzichtet hätten – drängte sich auf, als Waser eine Schwangerschaft bemerkte. Sie begegnete Feierabend am Konradstag (26. November) wieder, als sich die Tanzlaube anlässlich des Erntedankfestes wieder füllte. Waser tanzte drei Tänze mit, ehe sie sich bereit fühlte, Feierabend in ihr Geheimnis einzuweihen. Da war es allerdings zu spät, denn Feierabend war bereits mit der Schneiderstochter auf dem Heimweg ... Wasers Geschichte ist in verschiedener Hinsicht beispielhaft: Sie führt (1) fast alle Gelegenheiten auf, die junge Frauen und Männer einander näherbringen konnten. Es wird (2) sichtbar, wie zahlreich, schnellebig und zugleich vielgestaltig die Beziehungen zum anderen Geschlecht ausfallen konnten. Mädchen und Burschen verfügten diesbezüglich über einen Spielraum, der unter Umständen ziemlich weit ausfiel. Auch zeigt (3) Wasers Geschichte auf, dass ein geschlechtliches Verhältnis durchaus kein Eheversprechen voraussetzte: Der Geschlechtsverkehr konnte folgenlos bleiben, sofern die Öffentlichkeit nicht vom Verhältnis erfuhr. So sicherte Feierabend dem Mädchen eine Heirat nur im Fall einer Schwangerschaft zu. Eine Heiratsabsicht war also nur bedingungsweise gegeben, was den Begriff des Vorehelichen – wie er hier verwendet wird – präzisiert und zugleich relativiert. Schliesslich lässt Wasers Geschichte (4) jenen Graubereich hervortreten, der zwischen öffentlicher und privater Sphäre lag. Kam die junge Frau mit Burschen zusammen, waren Dritte zugegen oder wussten zumindest über die Treffen Bescheid. Das war selbst dann nicht anders, als es zum Beischlaf mit dem Schneidergesellen kam. Dass sich die jungen Leute bei ihren Begegnungen nicht gestört fühlten, zeigt nicht zuletzt, wie sehr sie auf die Verschwiegenheit der Eingeweihten zählten. Verschiedene Gründe konnten die Eingeweihten dazu drängen, sich in eine Beziehung einzumischen. Einmal stellten sich einer Beziehung erhebliche Hindernisse in den Weg, wenn das Paar miteinander verwandt oder verschwägert war. Seit dem vierten Laterankonzil von 1215 waren in der katholischen Christenheit nämlich nur Ehen „über den vierten Grad der Verwandtschaft und Verschwägerung hinaus“ erlaubt. Die kirchliche Einschränkung reichte damals viel weiter als das heutige Zivilrecht und brachte in einer kleinräumigen, dicht vernetzten Gesellschaft erhebliche Schwierigkeiten mit sich.22 Eingeweihte versuchten meist, solchen Beziehungen ein rasches Ende zu setzen. So geschah es auch 1674, als die Beziehung zwischen

22 „Prohibitio quoque copulae coniugalis quartum consanguinitatis et affinitatis gradum de caetero non excedat“, lautete die Stelle der betreffenden Konzilskonstitution. Vgl. dazu Wohlmuth (2000: 257–258).

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Hans Kaspar Schleiss und Anna Maria Waser ruchbar wurde. Beide waren im vierten Grad miteinander verwandt. Viele Leute ermahnten darauf das junge Paar:23 So habe ihnne [Schleiss] desswegen R.P. [Reverendus Pater] Gabriel als dazmahl pfarherr, pater Bernardus grosskeller, pater Franciscus, P. Athanasius iüngst in dem augstmonat, als ihr gnaden in Fideris gwesen, ernstlich ermanet, dis hus zuo miden, auch sie der dochter [Waser] zuogesprochen worden von R.P. Gabriele, Athanasio undt anderen weltlichen.

Wer also wusste über die Beziehung Bescheid? Gleich drei Geistliche, worunter der Pfarrer und der Grosskellner, hatten auf die jungen Leute eingeredet, aber auch mehrere Weltliche, die nicht namentlich genannt wurden. Der ausdrückliche Hinweis auf die Abwesenheit des Abtes war hier nicht zufällig: Auch der Talherr selbst war über ungelegene Beziehungen regelmässig im Bild. So redete der Abt manchen Fehlbaren mit der Unterstützung von Gerichtsleuten zu. Das gute Zusprechen verfing jedoch nicht immer, so oft das Paar auch ermahnt wurde. Auch Hans Kuster gehörte zu den unbelehrbaren Burschen, als er 1647 seine Beziehung zu Otilia Dillier auch nach unzähligen Ermahnungen nicht abbrach und „über alles geistlich und weltlich verbot“ mit ihr verkehrte. Das gute Zusprechen hatte übrigens auch in umgekehrter Richtung seine Richtigkeit. So hatte der Klosterbeschliesser Hans Scholzer 1674 mehreren Klosterknechten vorschriftswidrig ermöglicht, nachts das Gotteshaus zu verlassen. Seinen Fehler wollte Scholzer dem Abt allerdings nur bei günstiger Gelegenheit beichten, denn „es sie nit guot, zuo allen ziten ihr gnaden etwas anzuzozeigen, man müöss daruff luogen, man könn ihr gnaden auch in guoten lunen antreffen“.24 Verwandte bzw. verschwägerte Paare waren übrigens unmittelbar auf den Abt angewiesen, wenn sie eine kirchliche Dispensation erwirken wollten, die ihnen eine Heirat trotz Ehehindernis ermöglichen konnte. Erwartungsgemäss drängte sich ein solches Vorgehen auf, wenn eine Schwangerschaft eine baldige Heirat nahelegte. So zeigte sich Kaspar Amrhein um 1642 entschlossen, seine geschwängerte Geliebte zur Frau zu nehmen. Er „welle zuo ihro gn. [Gnaden] und welle schaffen, dass gen Rom geschriben werde“, erklärte Amrhein einem Vertrauten. Es ist dabei kaum anzunehmen, dass sich der Abt dem Vorhaben Amrheins widersetzte. Geistliche und Weltliche mahnten aber auch sonst zur Vorsicht. So hatte Anna Maria Waser 1672 dem jungen Hans Langenstein bereits ein Eheversprechen gegeben, als sie mit Kaspar Amrhein näher zu verkehren begann. Nicht nur nahe Angehörige 23 Vgl. 3.230–233, sowie zu den folgenden Ausführungen ETP 1.208–209, 2b.365, 2b.448–449 und 2b.459–460. 24 Vgl. ETP 3.231–232.

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bemerkten darauf, dass die junge Frau eigentlich Amrhein liebte und diesem nachhing. Auch Pfarrer Gabriel Bircher und Statthalter Jakob Langenstein, der Vater des unglücklichen Verlobten, entschieden sich, mit der jungen Frau vertraulich über ihre Absichten zu sprechen. Der Pfarrer war nicht zuletzt durch eine Aussage von Wasers Mutter beunruhigt, „sie gspür ein liebe in dem meitlin gegen den Caspar“. Weiter hatte die Mutter angegeben:25 Die muotter hatt in glichem einer zit die dochter gemanet, da selbige ein buohlbildt dem Caspar geben wolt, man müösse solche bilder nit geben, es sie dan einem in dem hertzen, wie auff dem bildt geschriben oder zuo lesen, auch ein fatzenet darzuo gethan.

Waser hatte also ihrem Schwarm ein Bild mit ziemlich eindeutiger Aufschrift geschenkt und diesem ein (wohl selbstgesticktes) Taschentuch beigelegt. Amrhein hatte ihre Herzensneigung damit hinreichend kundgetan und eine gewisse Öffentlichkeit nicht gescheut. So strebten der Pfarrer und der Vater des geprellten Verlobten eine rasche Lösung an, um dem jungen Hans einen peinlichen Gesichtsverlust zu ersparen. Der Pfarrer verfügte allemal über ein gut funktionierendes Nachrichtennetz. Dadurch konnte er unliebsamen Beziehungen frühzeitig entgegenwirken, ohne öffentliches Aufsehen zu erregen. Als etwa Pfarrer Eugen Wirz 1711 zwei Burschen verdächtigte, in einem Haus ungehörige Beziehungen zu pflegen, suchte er zunächst das Gespräch mit ihnen und riet den jungen Männern dringend ab, das besagte Haus weiterhin zu besuchen. Die Angelegenheit wäre wohl nie bekannt geworden, wenn sich die Burschen an das pfarrherrliche Verbot gehalten hätten.26 Gewiss wusste der Pfarrer über manche voreheliche Verfehlungen Bescheid. Wenn die Fehlbaren bald in den Ehestand traten, konnten sie wohl auf die Verschwiegenheit des Pfarrherrn zählen – erst recht, wenn sie sich dem Pfarrer als Beichtvater anvertrauten. Kirchliche Bussen gaben dem Pfarrer das Mittel zur Hand, das widrige Verhalten seiner Pfarrkinder gleichwohl abzustrafen. So geschah es im Fall Dominik Kusters und Maria Barbara Kusters, die 1729 bereits vor der Eheschliessung miteinander geschlafen hatten.27 Da er [der Pfarrer] sie zuesamen geben wollen, haben sie ihme ein Buos zue thuon anloben müössen, so sie gethan, und darauf 3 Feirtag offendtlich in der Horbis gehn müössen betten, also dass die Leüth genugsam ausgemacht und gelacht, da sie solche verrichtet.

25 Vgl. ETP 3.185–186. 26 Vgl. ETP 5.292–297, 5.299–300 und 5.357–366. 27 Vgl. ETP 9.246–249.

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Den lachenden Beobachtern war also der Grund der Bussübung offensichtlich klar. Fehlverhalten und Strafe waren zwar allen durchsichtig, doch sie blieben in gewisser Weise unausgesprochen. Eine Verfehlung konnte also der ganzen Talschaft bekannt sein, ohne dass die öffentliche Gewalt zwingend eingriff. Diese Erfahrung machte auch Lenz Infanger, der um 1609 mit der Tochter Kaspar Dilliers unehelich verkehrt hatte. Dillier berichtete später:28 es sye, leyder, menigklichen bewüst, wie das gedachter Lorentz Infanger sin eheliche Tochter an Ehren geschwächt, warumb er mit ihme uff Begeren ettlicher ehrlicher Mänern, in einer Thättung [Einigung] abkhommen, vermeinende, er wurde villichter mitler Zytt sin Tochter zuo Ehren nämmen.

Die uneheliche Beziehung Infangers zur Tochter Kaspar Dilliers hatte sich offenbar nicht verheimlichen lassen: Alle wussten Bescheid. Ehrsame Leute – vermutlich Gerichtsleute – drängten daraufhin die Beteiligten, eine gütliche Einigung zu finden. Diese folgten klugerweise dem Ratschlag und begrenzten so den entstandenen Ehrenschaden. Indem die Beteiligten einer öffentlichen Gerichtsverhandlung zuvorkamen, ersparten sie sich eine öffentliche Blossstellung. Da eine spätere Heirat in Aussicht gestellt wurde, sah sich die Obrigkeit auch nicht veranlasst, den Fall weiter zu verfolgen. In vielen Fällen war die Obrigkeit nicht daran interessiert, voreheliche Liebesbeziehungen rechtlich zu ahnden. Sooft es ging, suchten die geistlichen und weltlichen Dorfoberen Normverletzungen vertraulich entgegenzuwirken. Gerade jugendliche bzw. voreheliche Beziehungen konnten ohne viel Aufhebens in den rechtmässigen Ehestand überführt werden. Auch für die besagten Beziehungen galt zwar die Norm, dass Sexualität innerhalb der Ehe gelebt werden sollte. Eheanbahnungen spielten sich jedoch in einem Graubereich ab, der sich kaum unterdrücken liess. Deshalb setzten die Dorfoberen zuerst auf vertrauliches Zu- oder Abraten, um ungeordnete Verhältnisse zu regeln, und unterstützten die Anstrengungen der Eltern und Angehörigen. Der (mehr oder weniger) sanfte Druck reichte gewiss in manchen Fällen aus, um voreheliche Beziehungen in den Ehestand zu lenken. Uneheliche Geburten blieben im Hochtal nicht zuletzt dank dieses umsichtigen Verhaltens bis Anfang des 19. Jahrhunderts selten.29 Ein solches Vorgehen war nur solange möglich, als die Vertraulichkeit (mindestens dem Schein nach) gewahrt blieb und die Normverletzung nicht allzu erheb28 Vgl. ETP 1.133–134. 29 Vgl. Egger (1911: 71).

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lich war. Wenn aber (1) das Schweigen öffentlich gebrochen oder (2) eine schwere Verfehlung ruchbar wurde, kam die Obrigkeit nicht mehr umhin, der Norm auch gerichtlich Nachachtung zu verschaffen. Was brachte die Schweigenden zum Reden? Ein unrechtmässiges Verhältnis konnte einerseits durch eine Rechtsklage öffentlich werden. Klagegründe gab es allerlei: gebrochene Eheversprechen, umstrittene Vaterschaften, verweigerte Unterhaltspflichten, fällige Schadenersatzzahlungen usw. Wer ferner von Dritten (zu Recht oder Unrecht) der Unzucht verdächtigt wurde, konnte sich mit einer Ehrverletzungsklage der üblen Nachrede erwehren. Gerichtsverhandlungen brachten jedoch zur Sprache, worüber man gewöhnlich schwieg. Gerichtliche Nachforschungen stellten manche vertraulichen Einzelheiten ins grelle Licht der Öffentlichkeit. Besonders peinliche Befragungen standen etwa bevor, wenn eine umstrittene Vaterschaft geklärt werden sollte. Gestanden die angeklagten Männer nur einen unterbrochenen Beischlaf ein, musste der Geschlechtsakt in seinen Einzelheiten rekonstruiert werden. Unter Umständen musste selbst die eingenommene Stellung beim Geschlechtsverkehr ermittelt werden, da stehender Beischlaf als empfängnishemmend galt.30 Bestritt ein Bursche hingegen die Vaterschaft, indem er auf andere Liebschaften des Mädchens hinwies, erweiterten sich die Untersuchungen auf weitere Verdächtige und Zeugen. Wurden andererseits unrechtmässige Beziehungen zum Dorfgespräch, war es um die Vertraulichkeit einer Beziehung ebenfalls geschehen. Entsprechende Gerichtsuntersuchungen wurden mit der Begründung eingeleitet, ein Verhältnis habe „zue mennickhlicher grosser Ergernuss“, „zue grosser Ergernus ehrlicher Leüthen“ oder „zuo grossem Scandell“ geführt. Wenn Parteien ferner erklärten, es sei ihnen „wehe, das man uber sie ausgeben thue“ oder sich umgekehrt darauf beriefen, was „auch andere Leüth gesagt“ hatten, dann schimmerte auch hier das Dorfgerücht deutlich durch.31 Wohin die dörfliche Meinung ging, konnte das Gericht bisweilen sehr handfest ermessen. Als z.B. die ledigen Töchter Lienhart Zniderists 1710 auswärtige Burschen in ihrem Haus bewirteten und dabei erbettelte Speisen auftischten, schlugen aufgebrachte Burschen nachts die Scheiben ein, warfen menschlichen Kot ins Haus und stellten einen Strohmann aufs Dach – das Stroh sollte vermutlich auf die verlorenen Blumen ( Jungfräulichkeit) der Töchter hinweisen. Dass Heiligenbilder und Kruzifixe vom geworfenen Kot ebenfalls getroffen wurden, heizte die Gerüchteküche noch weiter an. Der öffentliche Druck führte zwangsläufig zum Eingreifen des 30 Vgl. dazu Corbin (2010: 80). 31 Vgl. ETP 4.46–48, 4.227–228, 4.228–229, 5.292–297, 5.299–300, 5.357–366 und 7.625–630.

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Gerichts: Es zog alle Beteiligten zur Rechenschaft und büsste sie nach Massgabe ihrer Schuld. Das Gericht führte nur selten Untersuchungen gegen Eheleute durch, die sich wegen vorehelichen Verkehrs verantworten mussten. Die Bestrafung fiel jedes Mal bemerkenswert milde aus. Antworteten diese Prozesse auf den Druck der öffentlichen Meinung? Oder ging es dem Gericht darum, ein öffentliches Zeichen zu setzen? Letztlich richtete sich das Gerichtsurteil in beiden Fällen an die Öffentlichkeit. Rechtsklagen oder das Dorfgespräch konnten also das Gericht dazu bringen, ein ungehöriges Verhältnis rechtlich zu verfolgen. Das Gericht nahm in solchen Fällen seine Arbeit mehr oder weniger freiwillig auf. Das Gericht konnte jedoch eine Untersuchung auch von selbst anstossen. Dabei handelte es sich um Fälle, denen das Gericht eine allgemeine Tragweite oder einen besonderen Schweregrad zumass. So bestimmte das Talbuch bezüglich der Kupplerei, „das keiner, sovil die ee betryft, eines anderen son oder dochter in heimlichkeit verkupplen und verheyrathen sölle ohne wüssen und verwilligung der fründschaft [Verwandtschaft] und des gnedigen herren eines abbtes.“32 Eines solchen Vergehens machte sich nun Kaspar Kuster schuldig, als er 1626 einem Junggesellen seine Vermittlerdienste anbot:33 Es sige bim Reinharts [Reinerts, Flur im Unterberg] der Thomen zuo ihm kommen und i[h] n angeredt, solle die fraw anreden, wan si und ihr fründschafft möchte verwilligen, begere er ihren zuo ehren, solle si an sinem namen forderen. Dessen hab er sich beschwärt [angenommen], darüber die Margret [Dillier] angeredt, wan si und die fründschafft inwillige, begere der Thomen ihr zuo ehren [ehelichen]; hinzwüschen haben si ein anderen gnommen i[h]m ohn wüssen. [...] Thomen zügt, es hab i[h]m kein mensch nit antragen, si sige ihm selbs zuo sinn komen; am Reinharz hab er Thomen den Caspar angredt. Was das Barbli anlangt, habe [zu] Caspar gesprochen, ich wil üich ein par hosen geben, wan ihr mir umb eine helffen; habe Caspar ihm das Barbli Döngi angetragen.

Die Geschichte ist reizvoll: Kuster sollte im Auftrag eines Junggesellen um die Hand einer Frau bitten, die ihren Buhler offenbar kaum kannte. Als der Kupplungsversuch fehlschlug, liess sich Kuster nicht beirren und trug dem heiratswilligen Burschen bereits die nächste Frau an. Eine erfolgreiche Vermittlung liess sich der Junggeselle immerhin ein Paar Hosen kosten! Kuster lud sich allerdings den Unmut des Gerichts auf, weil er sich mit der jeweiligen Verwandtschaft der Frauen kaum abgesprochen hatte. Die Verwandtschaft besass bei der Brautwerbung jedoch ein unbestrittenes Aufsichtsrecht. Heimliche Kupplerei hebelte gerade jene 32 Vgl. Schnell (1858: 78–79). 33 Vgl. ETP 2a.57–58.

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Aufsichtsmechanismen aus, welche Eheanbahnungen und Brautwerbungen gesellschaftlich regelten. Das Gericht erwartete von „derglichen prackticken“ deshalb nur „gespänigkeit oder unmuos“ und lehnte sogenannte Winkelehen, die im Unwissen der Verwandten angebahnt wurden, scharf ab. Übereifrige Eltern mussten sich ebenfalls Kupplerei vorwerfen lassen. So hatte sich die Witwe Barbara Zniderist 1680 strafbar gemacht, „indeme sie ihre Söhn verkuplet, undt zuo diser früözeitigen Ehe, daran sie von selbsten, ihrer eigenen Bekantnus nach noch nit gedenckht heten, durch ihre Anmahnungen beredt“ hatte. Die Mutter hatte ihre Söhne also regelrecht in den Ehestand gedrängt: Hans Ignaz Müller war bei der Heirat erst 20 Jahre, sein Bruder Plazi Michael gar nur 18 Jahre alt. Das Gericht lehnte solche vorzeitigen Ehen ab und erwartete nichts Gutes von „dergleichen Verkuplungen, daraus schlechte Frücht zugewartten und nichts als gemeine Ergernus entspringen“.34 Vorzeitige Ehen brachten also erfahrungsgemäss nur geringen Haussegen. Zudem galten frühe Ehen bei armen Leuten als unschicklich, da sich ein wahrscheinlicher Kinderreichtum mit ungenügenden wirtschaftlichen Ressourcen schlecht vertrug. Das Beispiel verdeutlicht jedenfalls, dass es durchaus ein gesellschaftliches Empfinden dafür gab, wann die Zeit für eine Ehe gekommen schien. Dass der rechte Zeitpunkt im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen konnte, wurde bereits festgestellt. Barbara Zniderist hatte sich über dieses Empfinden hinweggesetzt und musste deshalb eine entsprechende Bestrafung in Kauf nehmen. Entschieden schritt das Gericht ein, wenn ein Verdacht auf Abtreibung bestand.35 Die gerichtlichen Nachforschungen brachten dabei erneut Beziehungsnetze zum Vorschein, die gewöhnlich unsichtbar blieben. Üblicherweise konnten sich Frauen, die an Menstruationsbeschwerden litten, über die weiblichen Netzwerke des Dorfes Hilfe verschaffen: In diesen Netzwerken wurden ebenso Heilrezepte als auch die dafür notwendigen Heilmittel weitergegeben. Einer besonderen Beliebtheit erfreuten sich sogenannte Purgiersteine, die gehemmtem Menstruationsfluss und Übelkeit abhelfen sollten. Die Steine wurden in Flüssigkeit (z.B. Weisswein) eingelegt, damit ihre Wirkstoffe gelöst und als Getränk eingenommen werden konnten. Frauen versprachen sich davon eine reinigende Wirkung, „damit sie ihr menstruum wider bekhomen“ mochten. So wurden die Purgiersteine von Frau zu Frau nach Bedarf weitergereicht. Auch Ratschläge über geeignete Heilrezepte wurden ausgetauscht, so etwa über den Gebrauch von Sennenblättern, die – zu Kräuterschnaps verarbeitet oder in Schotte eingelegt – Übelkeit lindern sollten. Hilfe versprach man sich auch von Wein und Kräutern, die am Martinstag gesegnet worden 34 Vgl. ETP 4.76. 35 Zu den folgenden Ausführungen vgl. ETP 4.216–217, 4.220–223, 5.198–218, 5.250– 257, 5.274–282, 7.265–630 und 16.506–515.

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waren. Ferner war die bluttreibende Wirkung des sogenannten Hasel- oder Christwurz (Asarum europeum) unbestritten, den man jeweils vor Alpaufzug von den Alpweiden entfernte zum Schutz des Viehs. Eine raschere Genesung versprachen schliesslich auch die Aderlasse, die vom Dorfscherer vorgenommen wurden. Blieb der Menstruationsfluss aus, konnte dies auch auf eine Schwangerschaft hindeuten. Ledige Frauen mussten sich in solchen Fällen rasch Klarheit verschaffen, um gegebenenfalls ihre unehelichen Verhältnisse ordnen zu können. So erging es auch Anna Katharina Waser, die im Herbst 1709 allmählich argwöhnte, dass Hans Geni Feierabend sie geschwängert hatte. Waser gab darauf einer Bekannten ihr Wasser in einer kleinen Flasche mit und beauftragte sie, dem Nachrichter in Stansstad das besagte Fläschchen vorzulegen. Als dies nicht gelang, bat Waser ihre Bekannte, einen Arzt in Luzern aufzusuchen. Da die Bekannte aber erneut versagte, ging Waser schliesslich selbst in der Nacht des Niklaustags (6. Dezember) nach Luzern. Sie berichtete später, der Arzt „habe ihr nichts geben, sonder nur gesagt, sie solle ihme das Wasser schickhen. Er wolle ihro hernacher schon geben, was sie nöthig habe“ – der vieldeutigen Wendung des Arztes gab Waser später vor Gericht einen eindeutigen Sinn und erklärte, sie habe nur ihrer Leibesschwäche abhelfen wollen. Waser befolgte jedenfalls die ärztliche Anweisung und gab am Dreikönigstag (6. Januar) der alten Botin ihr Wasser auf den Weg nach Luzern mit. Die vertraulichen Ratgeber ausserhalb des Tals waren übrigens auch den Männern wohlbekannt: So suchte Sepp Amrhein deren Hilfe, als er 1787 eine junge Frau unehelich geschwängert hatte. Er bewarb „sich an verschidenen orten als Begenriedt, Buochs etc bey leüt- und veichdochteren [...] um unerlaubte mittell, die frucht abzutreiben“, und bat die Angefragten sogar, ihn nach Engelberg zu begleiten. Amrheins Verhalten war allerdings zu auffällig, um unentdeckt zu bleiben. Er hatte offenbar nicht mit dem Nachrichtennetz seiner Oberen gerechnet, die von der Nidwaldner Obrigkeit bald über Amrheins Treiben benachrichtigt wurden. Ein Meisterstück der Täuschung wäre Anna Barbara Schleiss beinahe gelungen, die 1720 von Niklaus Flori Amrhein unehelich geschwängert wurde. Bald wurde die Schwangerschaft ruchbar, so dass sich auch das Dorfgeschwätz mit ihr befasste. Schleiss ging darauf Abt Joachim Albini persönlich um Hilfe an, indem sie ihn um ein Mittel bat, „das[s] es widerumb seine menstrua bekomme“. Der Abt schöpfte zwar anfänglich Verdacht und fragte das Mädchen, „ob es nit bey denn Knaben gewesen“, doch Schleiss stritt alles ab. Warum aber hatte Schleiss ausgerechnet den Abt um Hilfe gebeten? Als Schleiss’ Geheimnis später aufflog, gestand sie vor Gericht ein, sie sei „darumb zum Gn. Herrn gangen, weylen die Leüth so vihl von ihme geredt, damit es ihne verblenden könne und [er] auch glaube, es seye nit schwanger“. Indem sich also die junge Frau dem Abt persönlich stellte, versuchte sie den öffentlichen Verdächtigungen den Boden zu entziehen.

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Ein Abort konnte allerdings nicht nur durch bluttreibende Mittel bewirkt werden. So befragte das Gericht 1710 eine Hausgenossin der unehelich geschwängerten Anna Katharina Waser, wie sich die Cathrina sonsten seith dem Heumonath im Essen, Trinckhen, im Zuschnüeren verhalten habe, ob sie nit etwan starckh getrunckhen, getantzet, weit herunder gesprungen, auf dem Boden herumb getrolet, starckh gelupft getragen oder anders gethan habe wie wo und wan.

Die Befragte verstand den Sinn der Frage schnell, die in aller Kürze jene Mittel aufzählte, die einen Abort befördern konnten. Das Gericht ging – wohl nicht zu Unrecht – davon aus, dass den Mitbewohnern ein solches Treiben nicht verborgen bleiben konnte. Gleichwohl führte die Befragung ins Leere, weil die Hausgenossin den Fragen des Gerichts beständig auswich. Das Gericht war tatsächlich nicht zu beneiden, wenn es eine mögliche Abtreibung bzw. deren Versuch feststellen sollte. Die Einnahme bluttreibender Mittel besagte alleine nichts, war sie doch bei Menstruationsbeschwerden allgemein üblich. Frauen konnten sich darauf berufen, ihre Schwangerschaft erst später entdeckt zu haben. Wann jedoch Frauen ihre Schwangerschaft bemerkt hatten, war nachträglich kaum mehr zu klären. Ferner blieben die vertraulichen Gänge zu Ärzten und Nachrichtern oft unnachweisbar, zumal sich diese ausserhalb des Tals aufhielten. Auskünfte waren auch von beteiligten Helfern und Eingeweihten kaum zu erwarten, denn ihre Solidarität mit den Beschuldigten war (nicht zuletzt aus eigenem Interesse) oft beträchtlich. Man kann sich die Frage stellen, wie verbreitet Abtreibungsversuche im frühneuzeitlichen Engelberg denn eigentlich waren. Man wird kaum annehmen dürfen, dass alle Fälle ans Licht der Öffentlichkeit gelangten. Eine Frau konnte sich beim Abtreibungsversuch ja derselben Netzwerke bedienen, die sie auch bei sonstigen körperlichen Beschwerden beanspruchte, ohne Verdacht zu wecken. Ferner wurden Abtreibungsversuche oft erst ruchbar, wenn eine Schwangerschaft ausgetragen und das frühere Verhalten der jungen Mutter dadurch in ein neues Licht gestellt wurde.

b) Ehebrecherische Liebesbeziehungen Ehebrecherische Verbindungen wurden in denselben geprägten Räumen und Zeiten geknüpft wie voreheliche Beziehungen.36 Dazu gehörten die grösseren Festlichkeiten an Kirchweihfesten, Hochzeiten und Tanzabenden. Wenn die Schwiegerfamilie 36 Vgl. dazu ETP 1.204–205, 1.208, 1.329, 1.329–330, 1.403–404, 2b.46–48, 2b.85– 86, 2b.286–287, 3.162, 3.205–206, 4.137–142, 4.216–217, 4.220–223, 4.229–233, 4.235–236, 7.368–404 und 11.264–268.

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Anna Maria Kusters 1673 ihrer ehebrecherischen Schwägerin vorwarf, sie sei „allen kilbenen, hochziten, dentzen nachgangen“, so versteht man den unausgesprochenen Verdacht leicht. Weiter wurden Bekanntschaften anlässlich von Hausbesuchen geschlossen, etwa an sogenannten Spielabenden. Hausstuben waren ausgeprägte Orte der Geselligkeit, wo man sich zur Abendgesellschaft traf und Beziehungen pflegte. Nächtliche Besuche hingegen konnten kaum mehr als Freundschaftsbesuche durchgehen, vor allem wenn die Paare „in dem Keller, vor dem Haus und in der Lauben allein beysammen“ waren. Auch die abgelegenen Treffpunkte, die vor fremden Blicken schützen sollten, wurden bereits vorgestellt. Ehebrecherische Paare verabredeten sich etwa in einsamen Wirtschaftsbauten. Wie sich solche Treffen abspielen mochten, mag folgender Bericht einer Zeugin von 1629 erhellen: sige also gangen [...], das[s] nachts ein mansperson, da ein weyl nacht gsin, zum haus kommenn und zimlich lys anklopfett, und es [die Zeugin] heig nitt geschlaffenn, sige auffgestanden, auf die vorlauben gangen, gluogt und glost, wer es sein möchte, so heig es gesächenn ein man, dem Hans Matter nitt ungleich, und meine, er sigs gsin, doch möge es wol betrogen sein durch die nacht [...].

Der geschilderte Besuch galt Anna Häcki, die mit dem verheirateten Hans Matter „in ein unfal geraten“ war. Als Matter später zur Rede gestellt wurde, bestritt er allerdings den weiteren Bericht der Zeugin, wonach „das Anni gegen der Wellhütten in das gedemli gangen und er sige die stägen ab auch nachengangen“. Nebst den Wirtschaftsbauten boten auch die wenig begangenen (Alp)wege vielfältige Begegnungsmöglichkeiten. Die zahlreichen kirchlichen Anlässe boten – auch das nichts Neues – viele Gelegenheiten, einander unauffällig zu begegnen. So musste Jakob Vogel 1630 mit Erstaunen vermerken, dass seine frisch angetraute Ehefrau einen wesentlich längeren Kirchweg besass als er selbst. Vogel hatte seine Ehefrau nämlich zur Kirche geschickt und darauf festgestellt, er sei „erst nach 2 stunden ungfar auch in die kirchen gangen, da sye sy erst nach ime kon“. Es ist nachvollziehbar, warum Vogel unter diesen Umständen Verdacht schöpfte. Hans Jörg Amstutz und Anna Katharina Töngi machten sich 1682 einen ungewöhnlichen Ort für ihre Begegnungen zunutze. So gab Amstutz zu, er habe mit Töngi „in dem Beinhaus oftermahlen angetaget, und abgeredt, wo sie zusammenkommen wollen. Ja, was noch mehr, habe er sie an solchen geweichten Ohrten getruckht und umbfangen“. Später musste das ehebrecherische Paar deshalb zwei Messen lesen lassen zugunsten der „abgestorbnen christgläübigen Seelen in dem Beinhaus, alwo zuo ihrem Gott missfälligen Vorhaben so oftfältige Anschläg gemacht worden“. Noch einfacher liessen sich ehebrecherische Beziehungen talauswärts verbergen. Wirtshäuser, Susten und Herbergen aller Art konnten für heimliche Begegnungen

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genutzt werden. Wer ein Verhältnis mit einer auswärtigen Person führte, hatte es noch leichter. So hatte sich Niklaus Häcki 1623 „vil mal bey Nacht und Nebel ihn andre Winckel“ finden lassen und war auch „edtlich mal bey Nacht ghan Wolfenschiessen zu seiner alten Bulschafft geloffen“ – dass die Buhlschaft so alt nicht war, darf man hier wohl vermuten. Auch auswärtige Kriegswachen blieben als Gelegenheit nicht ungenutzt, um einander näherzukommen. So schliefen Karl Waser und Anna Margaretha Förnet 1712 miteinander, als die Engelberger Truppen „uf den Brünig gangen, das andere mahl, wie sie uf Joch gen wachen gangen“ – Wasers Wachtposten hätte für die einfallenden Berner Truppen wohl kaum eine grosse Gefahr bedeutet. Es gab übrigens einen eigenen sprachlichen Ausdruck dafür, wenn jemand Begegnungen mit einer Person des anderen Geschlechts absichtlich und wiederholt herbeizuführen suchte, nämlich »zu Weg und Steg gehen«. Ergänzungen wie »zu Haus und Hof« oder »tags und nachts« konnten hinzutreten, doch blieb das Gemeinte einerlei: Man suchte gezielt die Nähe eines bzw. einer Anderen und »ging zu Lieb«. Begegnungen mochten dem Zufall weniger zu verdanken haben, als es oft schien. So liebäugelte Lenz Müller 1640 seit längerem mit einer Ehefrau, als er ihr mehr oder weniger zufällig auf der Ochsenmatt begegnete. Die Gunst des Augenblicks nutzend, machte er ihr den Antrag, „dass sey zuo ihme kommen solle nachts an gewüsse ohrt“. Die Rechnung wäre aufgegangen, wenn die Frau nicht einen männlichen Verwandten zum Treffen geschickt hätte, der Müller mit roher Gewalt von seinem Vorhaben abbrachte. Ledige Partner, die eine nähere Verbindung anstrebten, konnten sich mit Geschenken und Treuegaben verständigen und ihrem Umfeld dadurch auch Zeichen geben. Wenn z.B. Hans Langenstein 1672 seiner Verlobten Anna Maria Waser vor der Hochzeit ein silberne Agnus Dei–Medaille und mehrere Dukaten schenkte, so waren solche Geschenke zweifellos als Treuegaben an die versprochene Frau zu verstehen. Man erinnere sich, dass dieselbe Verlobte zur selben Zeit einen anderen Jüngling beschenkt hatte, worauf ihr Umfeld rasch die richtigen Schlüsse daraus zog.37 Auch ehebrecherische Paare beschenkten einander, wobei Kleider und Geld zu den gebräuchlichen Gaben gehörten. Was aber bezweckten solche Gaben, die einer heimlichen Verbindung sichtbare Zeichen gaben? Wenn z.B. der bereits genannte Ehemann Hans Matter seiner jungen Geliebten Anna Häcki um 1628 „vil geltt und andere schankungen alsoo hinderfür, Schürletz ec.“ übergab, musste er sich wohl bewusst sein, dass solche Geschenke die Heimlichkeit der Beziehung gefährdeten. Ob Matter der jungen Frau seine Zuneigung beweisen wollte, sei dahingestellt. Hand-

37 Vgl. zu den Ehepfändern ausführlich Lischka (2006: 210–245).

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fester war ihm wohl an der Verschwiegenheit des Mädchens und ihres Umfelds gelegen, das er sich mit diesen Gaben erkaufte. In anderen Fällen sollte der Gabe ausdrücklich eine Gegenleistung folgen. So bestätigte jene Ehefrau, die 1640 von Lenz Müller belästigt worden war, Müller „habe etwas von liggen gesagt und eine halbe silberkronen [dabei] zeigt“. Noch unverblümter ging Plazi Waser vor, als er um 1682 der jungen Maria Agatha Langenstein „uf dem Stanser Märcht ein Par Strümpf kauft, und zuo ihme gesagt, er wolle ihme solche mit dem Beding geben, das[s] es hernacher seines Willens werde“. Langenstein nahm darauf die Strümpfe wortlos an und gab sich einige Zeit später Waser hin.38 Warum eigentlich begingen die Betroffenen Ehebruch? Einige Antworten lassen sich auf diese Frage versuchen. Sicherlich war in den meisten Fällen eine Mischung aus Verliebtheit und geschlechtlicher Lust im Spiel. So stand Hans Jörg Amstutz 1682 freimütig zu den Gefühlen, die er für seine Geliebte Anna Katharina Töngi empfand, und erklärte, er habe „ihns mehrer geliebt als seine eigene Ehefrauw“. Auch Töngi machte aus ihren Gefühlen für Amstutz kein Geheimnis und erklärte, dass sie mit Amstutz „fleischliche Wollust und Empfindlichkeit“ gefühlt habe. Sie hätten „einandern die Hitz vertriben und also ihres Wollust gepflegt“, fügte sie begründend hinzu. Dass hingegen nicht jeder Beischlaf die geschlechtliche Lust gleichermassen befriedigte, wusste 1713 die etwa 45-jährige Anna Margaretha Förnet anzugeben. So berichtete sie von Liebesakten, „darvon sie khein Lust gehabt und desswegen nit schwanger seye“.39 Sehr freizügig schätzte Förnet ferner die sexuellen Leistungen ihrer Liebhaber ein: Während sie dem einen zubilligte, „der khönne den Reyen [Reigen] treiben“, gestand sie dem anderen immerhin zu, „er habe gethan, was er gekhönt habe, aber er seye nit so gueth wie ihr Mann“, für einen dritten hatte sie allerdings nichts übrig, denn „er seye [...] nit vill nutz und niehe recht gfahren“. Man erinnere sich: Förnet war jene Frau, die zu anderer Gelegenheit erklärt hatte, beim öffentlichen Reigen beständig das jüngste Gericht vor Augen zu haben! Allerdings zeigte Förnet für ihre Liebhaber durchaus Verständnis, da sie wusste, „wie die Bueben müessen Schmertzen leiden, wan sie gern bey einem Weibsbild währen und nit zukhomen khönnten“. Diesbezüglich gab 1720 Niklaus Flori Amrhein auf die Frage, warum er unehelichen Beischlaf geübt hatte, die bündige Antwort: „Was ihn dahin gebracht? Die Natur. Was mehr? Die Gelegenheit.“40

38 Zu den genannten Fällen vgl. ETP 1.208, 2b.1–4, 2b.286–287, 3.185–186, 4.216–217 und 4.220–223. 39 Zum Verhältnis weiblicher Lustempfindung und Empfängnis, vgl. Corbin (2010: 96– 102). 40 Vgl. ETP 4.137–142, 7.368–404 und 7.625–630.

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Das Gericht war sich von der Macht des Geschlechtstriebs durchaus bewusst, wenn es über einen Ehebruch zu befinden hatte. So stellte das Gericht Ehebrecherinnen bisweilen die Frage, ob ihre Gatten ihre ehelichen Pflichten noch erfüllten. Auch Margaretha Amrhein musste dazu Stellung beziehen, als sie 1642 „befragt worden wegen ihres mans, ob ehr auch eines mans werdt sein old nit“. Amrhein antwortete hierauf, „dass ja, er sige auch recht wie andere männer, allein dass ehr sige wie die hueren buoben, das sige ehr nitt“ – wen Amrhein als Hurenbuben bezeichnete, wird noch zu klären sein. Anna Maria Kuster ihrerseits rechtfertigte ihre ehebrecherischen Beziehungen 1673 ausdrücklich damit, dass ihr Mann Valentin Vogel „kein man mehr gwesen, gantz unlustig“.41 Einem Ehebruch konnte im doppelten Sinn eine gescheiterte Beziehung vorangegangen sein. So hatten Ignaz Hermann und Agatha Waser einander offenbar gemocht, ehe Waser sich 1681 mit einem anderen Mann verehelichte. Hermann verdaute den Verlust Wasers nicht, wie er selbst später berichtete: Er erinnere sich, das er einstmahls in der Obermatt zuo ihro ins Haus gangen, und ihren Eheman angefangen zuo verschimpfen, sagende, worumb sie solchen Zwerg geheüratet, der nit ein faulen Holtzöpfel werth. Warumb sie ihme nit gewarthet. Er hete sie villichter geheüratet.

Hermann stiess bei Waser auf offene Ohren, fiel sie ihm doch flugs in die Arme. Andere Beziehungen hingegen scheiterten erst nach der Vermählung. So berichtete Margaretha Amrhein 1642 vom Ungemach, das ihr durch ihre Ehe widerfahren war: Also ist sie befragt worden, was ursachen sy seie erstlich von irem man geloffen, hieruf hatt sie geantwortett, sy sige [bei ihrer Heirat] jung und nerrisch gewesen, auch seiendt vilmahlen knaben und thöchteren wie auch weiber und männer zuo ihr komen, die gesagtt haben, wohrumb seie den man genommen hab, hette wohl andere menner gefunden. Also habe sie durch solche und derglichen reden das hertz und guethen willen verlohren.

„Herz und guter Wille“ waren also nach Amrhein die Voraussetzungen dafür, dass einem Ehepaar häuslicher Segen beschieden wurde. Wo jedoch diese Voraussetzungen in einer Ehe fehlten, war auch der Weg zum Ehebruch gebahnt.42 Der Begriff der Hurenbuben ist bereits gefallen. Wer war damit gemeint? Während gegenseitige Liebesgefühle manche Verhältnisse begründeten, stand bei anderen Verhältnissen die blosse Befriedigung des Geschlechtstriebes im Vordergrund. 41 Vgl. ETP 2b.384 und 3.205. 42 Vgl. ETP 2b.384–389, 2b.391–392, 3.394 und 4.235–236.

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Abenteuerlustige Männer machten Frauen, die einen leichteren Lebenswandel pflegten, bald aus und umgekehrt. Wenn etwa eine Frau gleichzeitig mehrere Verhältnisse unterhielt, so wussten in der Regel die Liebhaber durchaus voneinander Bescheid. Ein liederlicher Ruf sprach sich bald herum und lockte Abenteuerlustige heran. So erklärte der ehebrechende Hans Matter um 1642 der ebenfalls ehebrechenden Margaretha Amrhein,43 wan sie nit bei dem weibel [Hans Amstutz] gelegen were, sie müeste mehr bei ihm sein, uf das habe sie gelaugnet, es seie nit wahr, dass sie bei dem weibel gelegen sie. Daruf habe ehr geanthwortet, sige wahr, der weibel habe es imme selbsten geseit. Daruf hatt sie geanthwortet, sigent wohl närsch, dass sie es einandern sagen.

Vertrauliche Beziehungsnetze gab es also auch unter leichtlebigen Talleuten, und zwar zweifellos der unkeuschen Art. Dabei schützten eheliche Bande nicht unbedingt vor Leichtfertigkeit. Es bleibt auch festzuhalten, dass »Liederlichkeit« ebenso wie ihre Umkehrung, nämlich »Ehrsamkeit«, das Ergebnis einer gesellschaftlichen Einschätzung war. Diese aber hing wesentlich davon ab, mit wem man selbst verkehrte bzw. wessen Nähe man mied. Unter den Hurenbuben verständigte man sich auch, wie sich ungewollte Schwangerschaften verhüten liessen. Unterbrochener Beischlaf wurde regelmässig geübt. So bestritt der verheiratete Plazi Waser 1686, seine Geliebte Salome Zniderist geschwängert zu haben, mit dem ungeschickten Hinweis, „er habe es mit anderen auch so gemacht, seyen aber nit schwanger worden“. Zudem gab Waser an, „er wüsse auch, das[s] zuo Ury andere bei Meitlenen gewesen, welche aber nit schwanger worden“. Sepp Zniderist seinerseits war einige Jahrzehnte später von seinem Bekannten Karl Waser regelrecht angelehrt worden: Der Carli habe ihne zur Unzucht anfänglich verleithet, dan als er mit ihme die Schaf ghüetet, habe der Carli ihme sein Glid herfür zogen, und schier glembt, auch ihme die Hosen wollen abziechen, als er sich aber gewehrt, seye der Carli uf ihne glegen, und gemacht als wan er sein Sach mit einem Weib verrichtete. Der Carli habe ihne angelehret, wie man die Unzucht treiben müesse, dan er habs uf dem Bordt [Flur im Oberberg] durch das Schlüsselloch gesehen.

Abenteuerlustig waren allerdings nicht nur die Hurenbuben, sondern auch die leichten Mädchen. So musste die Engelberger Talschaft 1713 feststellen, dass sich ein Haus in der Wetti zu einem kleinen Freudenhaus entwickelt hatte. Man erinnere sich, dass bereits 1710 das Haus Lienhart Zniderists in Verruf geraten war. Das Verhalten der ledigen Hausbewohnerinnen hatte sich im folgenden Jahr kaum ge43 Vgl. ETP 2b.3864–389, 2b.391–392 und 2b.394.

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bessert, hiess es doch, „dise meitli seyen liechtfertige Leüth, zanggen und hadern beständig, fluchen und schwehren Tag und Nacht“ und zudem „das Armenleüthen Mues nit selber essen, sondern den Bueben austheilen“. Geradezu verzweifelt suchten Anna Katharina und Barbara Eugenia Feierabend, zwei ledige Schwestern des Hauses, einen Ehemann. Ihre zahlreichen Kupplungsversuche blieben jedoch erfolglos. Burschen hatten darauf dem Haus einen Strohmann aufgesetzt, „weihlen sie so närrisch thuen wegen den Mannen, dan es halte eines dem anderen vor, wan du nit ein solches Disteli währest, so häten sie lengsten Männer bekhomen“. Barbara Eugenia hatte einer Bekannten sogar Geld versprochen, „wan sie mache, das[s] sie einen überkhomen thue zu heürathen“. Als Barbara Eugenia einen möglichen Werber einer anderen Frau abtreten musste, fuhr sie diese an, „sie wolle es ihro in Ewigkheit nit verziehen, das[s] sie ihro disen Kerli abziechen thue“. Ihren üblen Ruf lastete Barbara Eugenia nicht zuletzt ihrer Schwester an, der sie vorwarf, „sie seye eine Ehevertrennerin“. Die Mädchen erhielten öfter Besuche von Burschen, die offenbar von ihrer Kupplungswilligkeit erfahren hatten. „Sie währen lustig gnueg“, wenn man ihnen Anlass gebe, hiess es unzweideutig. Aufsehen erregte der Besuch eines Burschen, der angeblich „auf den Meitlenen umengriten seye, das[s] die Heyligen im undern Haus ab den Wenden gefallen seyen“. Der Fall der Heiligen war hier nicht bildlich, sondern wörtlich zu verstehen: Das Treiben im oberen Hausstock hatte Glasfenster der unteren Wohnung, auf denen zwei Heilige gemalt waren, in ihren Rahmen fallen lassen – dass der Himmel nicht gut auf dieses Haus zu sprechen war, hatte sich ja bereits im Vorjahr abgezeichnet, als ebendort Kruzifixe und Heiligenbilder mit Menschenkot beschmutzt wurden. Wahrhaft in Verruf kam die Wetti jedoch 1713, als die liederlichen Verhältnisse im Haus Franz Jakob Schleiss’ bekannt wurden. Fremde Männer hatten in Dutzendstärke das Haus besucht und sich wiederholt mit Schleiss’ Ehefrau Anna Margaretha Förnet, der Tochter Anna Barbara Schleiss und der Haustochter Maria Dorothea Waser eingelassen. Förnet machte später keinen Hehl aus ihren Verführungskünsten. Zögernden Burschen erklärte sie freimütig, der Beischlaf „seye khein Sünd, die Geistlichen häten es ihro gesagt“. Selbst wenn „Volch in der Stuben gewesen“, zog sie sich bei Gelegenheit mit einem Mann in die Nachbarkammer zurück. Sie forderte zu allem Überfluss Männer dazu auf, auch andere Frauen des Hauses zu besuchen – darunter ihre Tochter!44 Ehebrecherische Verhältnisse wurden – ebenso wie voreheliche Beziehungen – früher oder später ruchbar. Dem Umfeld konnten die Beziehungen kaum längere Zeit

44 Vgl. ETP 5.292–297, 5.299–300, 5.357–366, 7.366–404, 7.521–542, 7.544–545 und 7.547–555.

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verborgen bleiben. Ein leise ausgesprochener Verdacht konnte genügen, um dem Dorfgerücht Gesprächsstoff zu geben. Wie lebhaft die Gerüchteküche gelegentlich brodeln konnte, zeigt sich besonders in jenen Fällen, wo Geistliche der Unzucht verdächtigt wurden. So streute 1615 Balzer Dillier etwa den Verdacht, „Ir Gn. [ Jakob Benedikt Sigerist] habe mit einem Weib nechtlicher Wis bei beschlossnen Felladen trunckhen“. Unverblümter hiess es 1626 gar, der Abt habe mit einer Talfrau ein Kind gezeugt, worauf er diese weggeschickt habe. Das Dorfgerücht wollte gar wissen, dass der „her prior ein brieff hinder dem herrn in sinenn hosenn funden, den ime das Margreth hinder sich gschriben, was er ihrenn der Margreth sol nachen schickhenn“. Einige Jahre später berichtete man vom Geständnis einer Ehefrau, die den Subprior Augustin Lang als ihren Geliebten bezeichnet hatte. Die Gerüchte flauten kaum ab, als die besagte Frau in Wolfenschiessen erklärte, „es seient nur 3 im gantzen thal, die nit bi ihr gelegen seien“.45 Manche Dorfgerüchte endeten als Ehrverletzungsklagen vor Gericht. Gelegentlich waren „der Reden und Argwon so vile“, dass sich das Gericht gezwungenermassen mit ihnen beschäftigen musste. Ein Verhältnis konnte in der Tat derart bekannt sein, dass „würkhlich ieder mänigkhlich, wie sogar die kinder auff der gassen, hiervon eine ergerung nemmen“ mussten. Zeugte ein Ehemann mit einer ledigen Frau ein uneheliches Kind, konnte das Verhältnis ebenfalls nicht lange verborgen bleiben – anders als bei Ehebrecherinnen, die selbst verheiratet waren und so die wirkliche Vaterschaft ihrer Kinder verbergen konnten.46 Andere Male hingegen wussten selbst nahe Angehörige nicht, was sie von Gerüchten halten sollten. Ziemlich hilflos stand z.B. Barbara Waser da, als ihr Mann Niklaus Zniderist 1670 unerwartet seine Stelle als Meisterknecht verlor und in den Turm gesetzt wurde. Gerüchte liessen Waser vermuten, ihr Mann habe sich eines Ehebruchs schuldig gemacht. Sie konnte sich deshalb das Missgeschick ihres Mannes „ia anderst nit als unerbarkeit wegen“ erklären. Ihre Vermutung trug Waser eine Ehrverletzungsklage seitens der vermeintlichen Ehebrecherin ein, worauf sich die Gerüchte als haltlos herausstellten. Nicht anders erging es Balzer Häcki, der 1640 seine Ehefrau verdächtigte, einen Ehebruch begangen zu haben. Häcki selbst wusste vom Verhältnis seiner Frau zum angeblichen Ehebrecher nur, „dass er in der kirchen ein glechter mit ihr gehabt habe“. Der verunsicherte Ehemann erfuhr darauf von Gerüchten, dass der besagte Mann angeblich seiner Frau nachlief. Er leitete eigene

45 Vgl. ETP 1.210–211, 2a.1920, 2a.59b-60, 2b.264–267, 2b.268, 2b.384–389, 2b.391– 392 und 2b.394. 46 Vgl. ETP 1.315–318, 2b.4–5, 2b.9–10, 2b.240, 2b.275, 4.216–217, 4.220–223, 7.625– 630 und 12.398–399.

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Nachforschungen ein, die ihm schliesslich eine Rechtsklage einbrachten. Auch in diesem Fall erhärtete sich der Verdacht jedoch nicht.47 Wenn ein tatsächlich begangener Ehebruch gerichtlich verfolgt wurde, hing die Bestrafung stark von den jeweiligen Umständen ab. Wer ein einmaliges Vergehen glaubhaft machen konnte, durfte auf die Milde des Gerichts zählen. Wenn etwa der geständige Ehebrecher Balzer Dillier 1606 seinen Kläger anfuhr, „er wölle gegen ihm nit also verbitteret, sin Klag nit also hoch füeren, in Ansechung dessen, das[s] wir alle Sünder“ seien, so zählte Dillier offenbar auf das Verständnis des Gerichts. Wer sich also reuig und demütig gab, durfte auf ein milderes Urteil hoffen. Die Gerichtsleute nahmen auch auf das gesellschaftliche Ansehen Rücksicht. Das war in Dilliers Fall nicht anders, war doch der Fehlbare ehemals Ammann des Gerichts gewesen. Diese Schonung gefiel allerdings nicht allen, rief doch eine Talfrau deshalb aus:48 Es sye aber alles recht, was er [Dillier] thue, wann er dem Gnedigen Herren nur Gelt gebe. Wann aber es oder andere also gehandlet, hette mans woll getödt oder verbrent. Es und Andere bitten aber Gott, das[s] es offenbar werd und zu Tag khomme.

Wer hingegen öfter und mit wechselnden Partnern gefehlt hatte, musste sich auf eine strengere Bestrafung gefasst machen. Ferner waren auch beharrliches Leugnen und fehlende Einsicht abträglich – besonders jenen, denen bereits ein liederlicher Ruf vorausging. Wer schliesslich frühere Ermahnungen seiner Oberen übergangen hatte, konnte sich nicht mehr mit Unwissenheit entschuldigen. So konnten die Strafen von einer öffentlichen Bussübung bis hin zur öffentlichen Züchtigung reichen. Das Gericht legte Ort, Zeitpunkt und Art der öffentlichen Busse meist genau fest, woran Dritte den Schweregrad der Schandstrafe ablesen konnten. Das sonntägliche Hochamt war häufiger Schauplatz solcher Bussen: Wer innerhalb der geweihten Mauern eine öffentliche Beichte ablegen musste, kam noch verhältnismässig glimpflich davon.49 Schlimmer erging es hingegen jenen, die mit umgehängtem Schandzettel vor der Kirche stehen oder gar zur Trülle bzw. zum Halseisen treten mussten. Wer eine baldige Bestrafung gewärtigen musste, konnte dieser mit der Flucht aus dem Tal zuvorkommen. Das tat auch Plazi Waser, als er um 1686 nach einem Ehebruch das Tal fluchtartig verliess. Er selbst gab an, „er seye desto ehnder gangen, weilen er besorgt, er müesse ohne das us dem Thal, dan er P. Athanasius [a Castanea] gar 47 Vgl. ETP 1.204–205, 2b.279–280, 3.162 und 11.264–268. 48 Vgl. ETP 1.90–99. 49 Vgl. zu den Bussgraden der öffentlichen Beichte Niderberger (1978: 434).

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streng“, womit Waser seinen Pfarrherrn meinte. Umgekehrt durfte Anna Katharina Waser 1710 auf die Hilfe von Prior Frowin Christen zählen, nachdem ihre uneheliche Schwangerschaft bekannt worden war. „Der P. Prior habe sie hinweg geordnet, damit es ihro hernacher etwan desto milter abgehe“, erklärte Waser später dankbar. Die Flucht führte oft ins Welschland. So liessen Margaretha Amrhein und Balzer Amstutz 1642 ihren Gatten bzw. ihre Gattin im Hochtal zurück und flohen gemeinsam nach Bellenz. Beide machten sich kein grosses Gewissen, jedenfalls kehrten sie auf der Reise durchs Urnerland in ein Wirtshaus ein, wo sie tagelang „geässen und gethrunken, thantzet und lustig gesin“. Ein Haftbefehl aus Engelberg beendete jedoch ihr fröhliches Treiben. Auch Hans Kaspar Schleiss nahm seine Geliebte, die Frau Beat Jakob Hermanns, um 1687 auf seine Flucht ins Welschland mit. Schleiss hatte sich als Soldat dingen lassen, was seine Geliebte jedoch nicht davon abhielt, mit ihm mitzuziehen. So erklärte Schleiss später: Jedoch habe er ihns nit dahin gelockhet, sonder mehrmahlen gebetten, das[s] es bey seinem Man bei Haus bliben solle. Dan sonsten sie nit mehr ins Vaterland kommen dörften. Es habe ihn mehr als hundertmahlen darumb angetriben. Er habe ihns auch nit mehr als 4 Monath lang bei ihme behalten, da seye er in Cataloniam verreiset, und ihns uf dem Meylander Gebieth verlassen.

Die Engelberger Obrigkeit zeigte sich später ausserordentlich gut darüber unterrichtet, wie sich das Paar auf der Reise nach Italien verhalten hatte. Soldtruppen waren für flüchtige Talleute kein geeignetes Versteck, da die Obrigkeit gerade dort über ein durchaus zuverlässiges Nachrichtennetz verfügte. So musste auch der päpstliche Gardist Hans Töngi 1663 einsehen, dass der Soldatenrock ihn von seiner Verantwortung nicht entbinden würde: Töngi wurde vorgeworfen, auf einem Heimaturlaub in Engelberg eine Frau unehelich geschwängert zu haben. Das Gericht rief Töngi bald aus dem päpstlichen Dienst zurück, um die Vorwürfe genauer abzuklären. Trügerische Versprechen machte auch Hans Gerster 1677 seiner Geliebten Maria Agatha Langenstein, als er ihr die gemeinsame Flucht schmackhaft machen wollte und er „das besagtes Mensch persuadieren wollen, [dass] es sich absentieren und lanndtsflüchtig machen solle, [er] wolle hernach sich auch an dasjenige Ohrtt, wo es sich ufhalte, begeben, undt mit ihmme hausen“. Die Frau war gut beraten, als sie den Plan ihres Geliebten verwarf. In der (mehr oder weniger) selbstgewählten Verbannung kam es gelegentlich zu bemerkenswerten Treffen. So traf 1714 der kurz zuvor geflohene Sepp Zniderist den ebenfalls flüchtigen Geni Feierabend im Urnerland an. Zniderist berichtete später über ihre Unterhaltung:

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Diser habe ihne gefragt, was er da mache und wie es zu Engelberg gehe, worauf er geanthworthet, er habe etwas zu Engelberg angstelt, das er nit mehr heimdörfe, so wohl als er. Auf welches der Eügeni ihne mit sich ins Weltschland nehmen wollen [...]. Diser Eügeni habe geredt, obschon er nit mehr gen Engelberg dörfe, so wolle er doch noch einmahl gen Engelberg gehen und ihnen Rauchs gnueg machen [...]. Er [...] habe ihme geanthworthet, was er darvon habe, und wan sie ihne hernacher überkhomen. Auf dises habe der Eügeni geanthworthet, es mache nichts, sie werden ihne nit überkhomen. Der Eügeni habe ihme auch vorgeben, er seye in Holand usgwisen.

Verbitterung war aus den Worten Feierabends allenthalben herauszuhören. Die Flüchtigen schlugen sich durch, so gut es ging. Ein unstetes Leben führte die Heimatlosen in die verschiedensten Gegenden. So hielt sich Zniderist während seiner dreijährigen Flucht nicht nur an den verschiedensten Orten der Innerschweiz, sondern auch in Bern, Solothurn, Zürich, Rheinfelden und Rapperswil auf. Eine geplante Reise nach Rom endete allerdings bereits in Lauwis (Lugano) bzw. Eriels (Airolo). Feierabend hatte es sogar bis nach Holland verschlagen. Zniderist kam auf seiner Flucht mit einer Frau zusammen, die durch einen vornehmen Junker aus Luzern unehelich geschwängert worden war. Die gemeinsame Not verband, so dass Zniderist „das Mentsch sein Frauw und es ihne Mann gheissen“. Auch Feierabend lebte auf seiner Flucht in eheähnlichen Verhältnissen, zumindest hatte ihn Zniderist „mit einem Mentschli aus dem Glarner oder Appenzellerland, welches er für sein Frauw ausgeben“, in Uri angetroffen. Die Freiheit des fahrenden Lebens war allerdings teuer erkauft.50

c) Erzwungene Liebesbeziehungen Bisher war von Beziehungen die Rede, die – zumindest dem Anschein nach – auf dem Einverständnis beider Partner beruhten. Das war allerdings nicht immer so. Frauen wurden gelegentlich von ungezügelten Männern mit Worten oder gar mit körperlicher Gewalt bedrängt.51 Nicht alle Frauen hatten dann gleichermassen Gelegenheit, sich dieser Anschläge zu erwehren. Wie sollte sich etwa Anna Dillier verteidigen, als Balzer Dillier ihr um 1606 nachstellte? Der ehemalige Ammann hatte die junge Anna als Magd zu sich genommen und dabei versprochen, „das[s] er sich gegen ihren nit allein alls ein Vetter oder Fründt, 50 Vgl. ETP 1.315–317, 2b.384–389, 2b.391–392, 2b.394, 2b.707–708, 4.42–44, 4.216– 217, 4.220–223, 4.229–233, 5.198–218, 5.250–257, 5.274–282, 7.521–542, 7.544– 545 und 7.547–555. 51 Vgl. etwa ETP 2b.44–45, 2b.277–279, 2b.609–610, 2b.656–657, 3.120–122 und 4.42– 44.

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sonder als ein Vatter thragen und halten“ wolle. Dillier hielt sich jedoch nicht an sein Versprechen und schwängerte die Frau, die ihm eigentlich zur Obhut anvertraut worden war. Man kann unschwer erraten, wie machtlos die junge Magd gegenüber dem Drängen des gestandenen Gerichtsherrn sein mochte.52 Ein ähnliches Schicksal widerfuhr 1628 der Ammannstochter Anna Häcki. Ihre Familie war in finanzielle Schwierigkeiten geraten, worauf der begüterte Hans Matter seine Hilfe anbot. Matters Angebot war allerdings nicht selbstlos, denn er war von der jungen Tochter des Ammanns offenbar sehr angetan. Die Familie des Mädchens drückte nicht nur beide Augen zu, wenn sich Matter alleine mit ihr traf, sondern beförderte das ungehörige Verhältnis sogar. Später rechtfertigten sich Annas Angehörige damit, „sy habent nitt könden mitt dem Hans Mattern hunden, wyl sye auch gmanglett heigent und er in [d.h. dem Mädchen] fürgsetzt und zebest than habe“. Es blieb auch in diesem Fall sehr fraglich, wie freiwillig sich das Mädchen auf die Beziehung eingelassen hatte. Die Geschichte kostete den Vater jedenfalls Amt und Würde.53 Keine Chance zur Gegenwehr hatte die 16-jährige Anna Maria Josepha Waser, als sie 1787 vom 56-jährigen Sepp Amrhein vergewaltigt wurde. Amrhein hatte Waser an einem einsamen Ort aufgelauert und sie dann missbraucht. Die Untat wäre wohl nie bekannt geworden, wenn Waser nicht schwanger geworden wäre. Amrhein ersann darauf alle möglichen Pläne, um sein Verbrechen zu vertuschen, und scheute sich auch nicht, allerorts nach Abtreibungsmitteln zu suchen.54 Paare konnten im frühneuzeitlichen Engelberg sexuelle Beziehungen pflegen, auch wenn sich im Nachbarsraum viele Leute aufhielten.55 Dies liess sich schon mehrfach feststellen. Das damalige Schamempfinden wurde selbst dann nicht verletzt, wenn Dritte während des sexuellen Verkehrs unmittelbar anwesend waren. So berichtete Anna Zniderist 1687, dass ihre 26-jährige Tochter Anna Katharina Feierabend gelegentlich in ihrem Ehebett schlief. Und weiter: Ueber das bekente sie, das[s] das Cathrinli in der Wegscheidt [Hof im Oberberg] etwan 14 Nächt in ihrem Ehebett gelegen, in welcher Zeit sie ein old 2 mahl die eheliche Werckh verüebt, welches das Cathrinli wohl hete gewahren können. Sie habe aber ihrem Man [Baschi Feierabend] solches jederzeit abgewehrt, aber nichts ausgerichtet.

52 Zur sexuellen Ausbeutung von Mägden durch ihre Dienstherren vgl. Weber (1985: 24– 25) mit den Hinweisen auf entsprechende Selbstzeugnisse. 53 Vgl. ETP 2b.1–4, 2b.102–103 und 2b.105–107. 54 Vgl. ETP 16.506–515. 55 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Lischka (2006: 292).

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Das Gericht befragte Zniderist nicht von ungefähr über ihre häuslichen Verhältnisse. Ihr verheirateter Sohn Hans Jakob hatte nämlich mit seinen beiden ledigen Schwestern Anna Katharina und Barbara Eugenia sexuelle Beziehungen unterhalten. Kindliche Unschuld konnte dabei kaum mitspielen, waren die Geschwister doch 35, 26 bzw. 21 Jahre alt. Die Mutter hatte sich nach eigenen Angaben darüber entsetzt, als sie vom Treiben ihrer Kinder erfahren hatte, und hatte „das Cathrinli alsbald dahingehalten, das[s] es nacher Stans zuo den Capucinern gangen undt gebeichtet“. Der heimliche Beichtgang lässt darauf schliessen, dass die Tat auch der Mutter durchaus peinlich war. Die Mutter musste alsbald eine öffentliche Beichte ablegen, „damit alle unsorgsame Eltern und ungehorsame böse Kinder sich [darin] spieglen“ mochten. Das Gericht war offenbar der Auffassung, dass die fehlende Scham der Eltern die Tat der Kinder begünstigt hatte. Jahrzehnte später beschäftigte sich Abt Emanuel Crivelli mit der Art und Weise, wie sich die Talleute in ihren Häusern betteten. So verordnete der Abt 1729, dass der weibel [...] in gewissen oder wohl schier in allen hauseren ehrbahrlicher die betten untereinandern zuo unterscheiden, mit umhängen oder einschlägen etc. wo nöthig, v.g. buoben von meidlen, eltern von den kinderen etc. [...] abzusöndern [...].

Die Verhältnisse hatten sich also in den vergangenen Jahrzehnten kaum geändert. Offenbar nahmen die wenigsten Talleute Anstoss daran, wenn Burschen und Mädchen in denselben Betten schliefen. Dass auch Eltern mit ihren Kindern das Lager teilten, störte ebenso wenig. Der Abt war mit diesen Verhältnissen offensichtlich unzufrieden und regte deshalb an, dass zwischen den Betten Vorhänge bzw. Bretterwände angebracht werden sollten. Ob die Verordnung erfolgreich durchgesetzt wurde, lässt sich leider nicht mehr ermitteln. Dass sich das Schamempfinden der Talleute durch eine Verordnung verändern liess, kann allerdings füglich bezweifelt werden. Dass jedoch Inzest das Schamempfinden aller verletzte, bewies 1772 der Fall Hans Geni Zniderists. So wurde damals bekannt, dass er sein elendte, redt- und verstandlose, sonst schon 21jährige schwester bei denen händen in sein gewahrsamme gezogen und alle mahl die thür hinder sich verriglet, dass deswegen aus verdacht etwas böses, der vater selbst durch das pfenster ihne angetroffen, dass er mit der schwester das abscheüliche werckh der bludschandt attentierth oder auch würckhlich begangen.

Bemerkenswert ist hier, dass sich der Fehlbare mit seiner geisteskranken Schwester absonderte. Gewiss, wer eine verbotene Beziehung pflegte, suchte diese meist zu verbergen. Aber selbst von Ehebrechern war nicht bekannt, dass sie „die Tür hinter sich verriegelten“. Wer sich wie Zniderist den Blicken seines Umfelds entziehen wollte,

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lenkte gerade dadurch Verdacht auf sich. Heimlichkeit verriet eine falsche Scham, und diese wiederum eine Untat. Dem gängigen Schamgefühl entsprach vielmehr, dass man dem Umfeld die Möglichkeit beliess, eine Geschlechtsbeziehung einzusehen. Für ein Liebesverhältnis war weder Öffentlichkeit noch Abgesondertheit angebracht: Nur die Vertraulichkeit, die zwischen beiden lag, war dafür der rechte Platz.56 So lässt sich zusammenfassen: Gesellschaftliche Netzwerke spielten auch in vertraulichen Lebensbereichen eine entscheidende Rolle. Nicht nur die Partnersuche lief hauptsächlich über Beziehungsnetze ab. Auch der weitere Fortgang eines Verhältnisses spielte sich vor den Augen des Umfelds ab. Dieses übte zugleich eine starke Kontrolle auf die Geschlechtsbeziehungen aus. So hatte eine Brautwerbung kaum Erfolgsaussichten, wenn sie gegen den Willen der Verwandtschaft unternommen wurde. Allerdings beaufsichtigten nicht nur Eltern und Verwandte entstehende Bindungen, sondern auch Befreundete und Gleichaltrige. Wenn sich Burschen und Mädchen nächtliche Besuche abstatteten, waren Ihresgleiche meist nicht fern. Dass hier eine wechselseitige Aufsicht geübt wurde, kann man unzweifelhaft annehmen. Die dörfliche Gesellschaft verteidigte diese Aufsichtsmechanismen sehr entschieden, vor allem im Kampf gegen Winkelehen und heimliche Kupplerei.57 Die besagten Netzwerke waren vertraulicher Art. Das Mitwissen des Umfelds blieb in der Öffentlichkeit unausgesprochen. Bei fast allen Gerichtsprozessen, die sich mit Sittenvergehen befassten, wurde nachträglich deutlich, wieviele Menschen von der verbotenen Beziehung bereits wussten. Dabei waren die Dorfoberen keineswegs von diesem vertraulichen Mitwissen ausgenommen. So war das Verhältnis von rechtlicher Norm und Wirklichkeit bei Sittenfragen tatsächlich vielschichtig. Geschlechtsbeziehungen waren zwar durch Recht und Moral auf die Ehe beschränkt, doch die Talleute verhielten sich insbesondere bei vorehelichen Beziehungen ziemlich duldsam. Bisweilen mochte sogar scheinen, dass Normverstösse bei Eheanbahnungen eher die Regel denn die Ausnahme waren. Auch die Obrigkeit zeigte sich nachsichtig, solange niemand (durch Wort oder Tat) die Norm öffentlich in Frage stellte. Sollte man daraus schliessen, dass die Geschlechtsbeziehungen von einer doppelten Moral bestimmt wurden? Galt in der Öffentlichkeit eine andere Moral als jene, die tatsächlich gelebt wurde? Eine solche Sichtweise würde den Kern der Sache nicht treffen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Norm unterschiedliche Lesarten zuliess. So empfand die dörfliche Gesellschaft voreheliche Beziehungen nicht unbedingt als Normbruch, sofern sie rechtzeitig in den Ehestand mündeten. Ferner erlaubten auch Normverletzungen mehrere Lesarten: War ein sittliches Vergehen bloss auf menschliche Sündhaftigkeit zurückzuführen oder auf böswillige Absicht? Von dieser Einschät56 Vgl. ETP 4.234–235, 12.46–52, 14.518–522 und 14.529–531. 57 Vgl. dazu Lischka (2006: 133–159).

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zung hingen für die Fehlbaren sehr unterschiedliche Folgen ab. Ein ehrsamer Ruf war hier allemal hilfreich. Ob aber jemand als ehrsam oder liederlich eingeschätzt wurde, hing nicht unwesentlich von seinem Beziehungsnetz ab. Wer mit leichtfertigen Menschen Umgang pflegte, schadete dabei seinem gesellschaftlichen Ansehen beträchtlich: Das Dorfgeschwätz konnte in der Tat ein äusserst arger Gegner sein. Gewiss soll hier nicht unterschlagen werden, dass die Obrigkeit sich immer wieder für ihre Lesart der Norm stark machte. Bemerkenswert ist allerdings, wie sie dies tat. Die Dorfoberen setzten zunächst auf gutes Zureden und Mahnen, dann auch auf vertrauliches Warnen. Eine rechtliche Verfolgung wurde oft nur als äusserstes Mittel gewählt. „Er wende zuerst lindernde Umschläge und Salben der Ermahnung an, dann die Arzneien der Heiligen Schrift und schliesslich wie ein Brenneisen Ausschliessung und Rutenschläge“ und sei sich dabei stets bewusst, „dass er die Sorge für gebrechliche Menschen übernommen hat, nicht die Gewaltherrschaft über gesunde“ – so trug die Benediktsregel dem Abt auf, sich gegenüber Fehlbaren zu verhalten. Nichts könnte das Verhalten der Engelberger Obrigkeit gegenüber Sittenvergehen besser beschreiben als diese Zeilen. Die Beziehungen zum anderen Geschlecht waren also mit etlichen Herausforderungen verbunden. Wer erfolgreich sein wollte, musste sich geschickt in jenen Netzwerken bewegen können, die eine Geschlechtsbeziehung zulassen bzw. verwehren konnten. Die ungeschriebenen Regeln der Vertraulichkeit mussten beherrscht werden. Beziehungen waren bald aufzubauen und bald zu meiden. Vorausschauend handelte, wer auf seinen Ruf achtgab und klugem Rat folgte. Wer schliesslich in Schwierigkeiten geriet, musste dafür sorgen, dass sein Verhalten eine möglichst günstige Lesart erfuhr. Doch selbst dann blieb manches dem Schicksal überlassen. Allein das Einfädeln einer geglückten Ehe war schwierig genug. Dabei blieb der Zukunft anheimgestellt, ob die Partner Herz und guten Willen füreinander bewahren würden. Nicht zuletzt zog auch der Geschlechtstrieb manchen Plänen einen Strich durch die Rechnung. So brachten die Wechselfälle des Lebens auch in Liebesangelegenheiten manche unerwarteten Gewinner bzw. Verlierer hervor.

3.2 Familie 3.2.1 Vor- und Fürsorge Manche Talleute waren auf die Unterstützung Dritter angewiesen. Das galt allgemein für Alleinstehende und besonders für Schwächere aller Art: Waisen, Witwen, Alte, Kranke und Behinderte. Diese Menschen konnten oft nicht selbst für ihren

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Lebensunterhalt (Nahrung, Wohnung, Bekleidung, usw.) sorgen und bedurften unterschiedlicher Pflegeleistungen (Erziehung, Abwartsdienste in Krankheit und Alter, usw.). Die Verwandtschaft stand zuerst in der Pflicht, wenn es um deren Versorgung ging. Öffentliche Unterstützungsleistungen waren dagegen weniger bedeutsam. Die Unterstützungspflicht der Verwandtschaft war zwar allgemein anerkannt, doch im Einzelfall konnten die Verwandten durchaus wenig Bereitschaft zeigen, Hilfe zu leisten. Wer also auf die Fürsorge seiner Verwandten zählen wollte, musste verbindlichere Verpflichtungen anstreben. Es galt, rechtzeitig und angemessen für Unterhalt und Pflege vorzusorgen. Schwächere Menschen taten also gut daran, sich frühzeitig ein tragfähiges Beziehungsnetz zu ihrer Unterstützung zu schaffen. Das konnte durch frei gestaltete vertragliche Abmachungen geschehen, wo Hilfe mit einer entsprechenden Gegenleistung abgegolten wurde. Mittel und Wege, sich einer Unterstützungsleistung zu versichern, brauchten jedoch nicht jedes Mal neu erfunden zu werden. So gab es mehrere rechtliche Einrichtungen, die – je nach Unterstützungsfall – passende Lösungen versprachen. Schliesslich konnten Bedürftige ihre Obrigkeit um Hilfe bitten: So konnten einerseits Unterstützungsleistungen von Verwandten rechtlich eingefordert und andererseits auch öffentliche Hilfsangebote beantragt werden. Im folgenden Abschnitt sollen nun die geläufigsten Formen der Vor- und Fürsorge – entsprechend der gegebenen Gliederung – dargestellt werden.

a) Vertraglich geregelte Unterstützungsleistungen In Unterstützungsfällen mussten sich mindestens zwei, oft aber drei Parteien miteinander verständigen: Leistungsempfänger, Leistungserbringer und Leistungspflichtige(r). Die häufigsten Leistungsempfänger wurden bereits genannt: Waisen, Witwen, Alte, Kranke und Behinderte. Recht und Sitte trugen deren Verwandtschaft gewisse Unterstützungspflichten auf. Es war den Verwandten allerdings freigestellt, ob sie die Hilfeleistung selbst erbringen oder Drittpersonen (gegen entsprechende Entgeltung) überlassen wollten. Hilfsbedürftige konnten Drittpersonen auch selbst unmittelbar verpflichten, wenn sie nicht allein auf die Hilfe ihrer Verwandten zählen konnten oder wollten. Unterstützungsvereinbarungen wurden oft vertraglich festgehalten: Hilfs- und Entgeltungsleistungen wurden dabei genau aufgeführt. Die getroffenen Abmachungen liess man gerne durch die herrschaftliche Kanzlei schriftlich beglaubigen und eintragen, um spätere Unklarheiten und Streitigkeiten zu vermeiden. Mochten Recht und Sitte auch verwandtschaftliche Solidarität verheissen: Der bindenden Kraft eines Vertrags vertraute man offensichtlich mehr.

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Alleinstehende konnten sich in einen fremden Haushalt aufnehmen lassen, indem sie für Obdach und Speise ein festgelegtes Haus- bzw. Tischgeld entrichteten. Wer allerdings unter solchen Umständen für längere Zeit erkrankte, musste für die Krankenpflege zusätzlich aufkommen. So nahm Joachim Geri Zniderist 1770 die Witwe Anna Maria Häcki unter dem Vorbehalt bei sich auf, er sei ihres Unterhalts entledigt, falls sie „mit krankheit behaftet werden [sollte], welche über 8 tag dauren und anhalten wurden, oder lenger bettligrig werden solte“. Kranke und alte Menschen mussten also zusätzlich um einen Abwart besorgt sein, der sie nach Bedarf pflegte und unterstützte. Mit Schenkungen und Vergütungen aller Art liessen sich solche Dienste sicherstellen. Dem Abwart konnte etwa ein Lohn bezahlt, beliebige Zinseinkünfte überlassen oder ein Erbteil versprochen werden. Ferner wurden auch Hausrat und Kleider geschenkt, um Pflegedienste zu entgelten. Eltern konnten dadurch jenen Kindern eine besondere Anerkennung zukommen lassen, die sich vermehrt um sie kümmerten. So beschenkte 1782 Maria Regina Amrhein zwei ihrer Kinder mit der Begründung, sie seien „ihro in allen begebenheiten und bedürfnussen mit immer möglicher hilf und liebe, vorzüglich vor denen anderen kinderen, an die hand gegangen“ und „allzeit bey ihro verbliben und nach kreften beygestanden“. Wer andererseits einen Abwart ins eigene Haus holte, konnte diesem den Hauszins bzw. das Tischgeld erlassen. Andere wiederum verschenkten bzw. vererbten ihren Besitz und verpflichteten dadurch die Begünstigten, lebenslänglich für sie zu sorgen. So übergab Maria Anna Infanger 1767 ihr ganzes Vermögen Jost Anton Infanger, der sich dadurch verpflichtete, Infanger lebenlänglich zu erhalten, sie mag gesund oder krankh sein, ohne dass ihre geschwisterte oder jemand anders wegen ihro sollen beschwährt werden. Und wan sie mit krankcheit von Gott sollte heimgesucht werden, soll er schuldig sein, den doctor auszuhalten, ihro die nöthige abwart, speis und tranckh anzuschaffen und best möglichist zu verpflegen, auch nach ihrem todt sie ehrlich zur erden bestatten zu lassen. Und wan sie lieber etwan 3 wuchen in ihrem haus bleiben wollte, soll er ihro dorthen aufwarten oder ein person anschaffen, die ihro abwarten solle.

Die Witwe sorgte also nicht nur für den Krankheitsfall, sondern auch für die letzte Stunde und für ein ordentliches Begräbnis vor.58 Wer umgekehrt aus Verwandtschaftsgründen zur Pflege eines alten bzw. kranken Menschen verpflichtet war, konnte seine Unterstützungspflicht einem Dritten gegen entsprechende Vergütung überlassen. Nicht selten wurden solche Abmachungen un58 Vgl. als Beispielfälle ETP 4.454, 8.165–166, 11.465–466, 12.191, 12.224, 13.373–375, 15.122, 17.196–197, 17.282–283, 17.372, 17.400, 17.481–482, 17.604 und 17.631.

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ter Geschwistern getroffen, wenn es um die Pflege der Eltern oder eines behinderten Geschwisters ging. Erklärte sich ein Geschwister bereit, die pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen und die Unterhaltspflicht alleine zu übernehmen, verzichteten die übrigen Geschwister zu dessen Gunsten auf Teile ihres Erbes. Kinder konnten ihren bedürftigen Eltern bzw. Geschwistern auch ein Leibding (d.h. ein Besitz auf Lebenszeit) verschaffen: Die Unterstützten konnten dann die Zinseinkünfte des Leibdings für ihren Lebensunterhalt aufwenden. Eine andere Möglichkeit, ihre verwitwete Mutter zu versorgen, fanden 1770 vier Kinder Sepp Geni Wasers und Margaretha Achermanns: Jedes Geschwister sollte jeweils für ein Jahr die alte Mutter bei sich aufnehmen und für deren Unterhalt sorgen. Dabei liess man das Los darüber entscheiden, in welcher Reihenfolge die Geschwister ihre Schuldigkeit erfüllen sollten. Die Vereinbarung schloss ferner mit der bestimmten Aufforderung, „die kindtskinder soll[t]en sorgfältig abgehalten werden, dass sie der grossmutter nit in ihrem bett umen trohlen“.59 Nicht nur Alte und Kranke, sondern auch Waisen bedurften besonderer Unterstützung. Bei Waisen lag die rechtliche Unterstützungspflicht in jedem Fall beim Vater bzw. dessen Verwandtschaft. Starb also der Vater unmündiger Kinder, musste die Verwandtschaft des Vaters für deren Unterhalt und Erziehung aufkommen – und nicht etwa die verwitwete Mutter. Rechtlich war den Verwandten im mindesten Fall vorgeschrieben:60 Denen armen vatterlosen kinderen oder Weisen zu steüren, zu helfen & dise zu erhalten seynd schuldig die nechste freünd oder Erben: & dises sollen die freünd thuen, bis die Kinder das 8.  Jahr ihres alters überstiegen seynd, hernach aber wan die kinder gesund & sich selbsten helfen können, sollen dise jedoch bis in das zwölfte Jahr ihres alters eingeschlossen alle nächt beherberget werden von denen freünden: Innert diser zeit aber mögen die freünd solche dem heiligen Allmosen nachschickhen: doch ihres lebens & Christlichen Wandells gutte obsorg tragen.

Meist wurden die Waisen jedoch bei ihrer Mutter belassen, da sich die Verwandten mit der Erziehung der Waisen nicht selbst beschweren wollten. Den Müttern war damit ebenfalls gedient, da sie ihre Kinder nicht gern von sich liessen. So wurde der Witwe häufig das Bauerngut ihres verstorbenen Mannes zur Nutzniessung übergeben, bis die halbwaisen Kinder ihr Erbe antreten konnten. Wo eine zeitliche Begrenzung der Nutzniessung angebracht schien, erhielt die Witwe das Bauerngut 59 Vgl. als Beispielfälle ETP 12.413, 13.174–175, 13.336–337, 13.355, 15.100, 17.645, 18.144–145 (mit Verweis auf 15.221–222), 18.206 und 20.54. 60 Vgl. Art. 28 im zweiten Teil des Talbuchs von 1790 in der Fassung Magnus Wasers’, sowie ETP 11.33.

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lehenweise zugesprochen. Gelegentlich musste sich die Witwe verpflichten, den Verwandten in gewissen Zeitabständen eine Rechnung über den ihr anvertrauten Besitz abzulegen. Reichte der Familienbesitz nicht aus, um die Waisen zu versorgen, konnten die Verwandten zusätzliche Unterhaltszahlungen leisten. Ging schliesslich die Mutter keine neue Ehe ein, wurde ihr oft ein Witwensitz auf dem besagten Gut zugesagt. So erhielt Elisabeth Amstutz 1786 von ihren minderjährigen Kindern bzw. deren Verwandten väterlicherseits die Zusicherung, dass sie der mutter nit allein zu ihrem wittwensitz in ihrem haus im Stollermattlin auf dem Espan statt und platz in kuche und keller für den aufbehalt ihrer sachen, die bessere und währmehre lauben zur nächtlicher ruhe, die stuben zu ihrer arbeit geben und auch sie durchaus und nach all ihrer notdurft beholzen wollen.

Waren die Kinder erwachsen, konnten sie sich ihrerseits um ihre Mutter kümmern, wenn sie „in das alter und abnemmung der kreften“ kam. Die ungeheure Leistung jener Mütter, die sich alleine um Hof und Kinder kümmern mussten, war oftmals bewundernswert. Stellvertretend für viele sei hier an Maria Josepha Andacher erinnert, die ihren Mann Hans Geni Infanger 1752 frühzeitig verlor.61 Andacher hatte mit ihrem Ehemann nicht nur in gutem friden gelebt, sonderen nach dessen absterben die hinderlassene 6 vatterlose kinder ohne besondere mittell mit recht ausserordentlichem und von mäniglich belobtem fleiss und sorgfalt wohl und christlich, wie es einer frommen mutter zugestanden, auferzogen und selbst ein auferbaulichen und lobsammen wandell gefüehrt.

Das Bauerngut des verstorbenen Familienvaters konnte auch in andere Hände gelangen. So konnte gegebenenfalls ein Verwandter den Hof übernehmen, womit er allerdings die Verpflichtung einging, für die Waisenkinder zu sorgen. Fand ferner die Witwe einen neuen Ehemann, konnte die Pacht des Bauernguts auch an diesen übergehen. Unter Umständen konnten sogar Fremde den Hof pachten. So erhielten die Brüder Geni und Hans Töngi 1757 das bedeutende Bauerngut Bann zum Lehen, das seit dem Tod Anton Wasers verwaist war. Die Brüder wussten allerdings das Glück nicht zu schätzen, das sie in den Besitz des Guts gebracht hatte: Sie trieben

61 Vgl. als Beispielfälle ETP 8.54–55, 8.329–330, 10.115–116, 10b.13, 12.397, 13.70, 13.408–409, 13.431–432, 15.30, 15.301–302, 15.444–447, 17.267–268, 17.367, 17.639–640, 20.31–32, 20.35, 20.41, 20.42–44 und 20.59–60.

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auf dem Hof eine solche Misswirtschaft und behandelten die Waisenkinder Wasers derart schlecht, dass ihr Lehen bald aufgekündigt wurde.62 Waisenkinder konnten den väterlichen Bauernsitz auch ganz verlassen. Sie fanden entweder Aufnahme bei Verwandten oder wurden in die Obhut Dritter gegeben. Verheiratete sich ihre Mutter neu, konnten sie mit ihr auf den Hof ihres neuen Ehemannes umziehen. In allen Fällen blieb jedoch die Unterhaltspflicht der Verwandtschaft bestehen, die entsprechende Unterhaltszahlungen nach sich zog.63

b) Hof- und Hausübergaben Wer ein Bauerngut oder eine Behausung veräusserte, bedingte sich vom neuen Besitzer oft ein Wohnrecht und gewisse Unterhaltsleistungen aus. Diese vorbehaltenen Rechte konnten zeitlich befristet sein, oft aber galten sie auf Lebenszeit. Das fortschreitende Alter oder eine chronische Erkrankung machten jedem Gutsbesitzer einmal zu schaffen, erforderte doch die Bewirtschaftung eines Bauernguts einige Kräfte. So war es naheliegend, dass Väter ihr Bauerngut in solchen Fällen den Söhnen übergaben. Solche vorgezogenen Erbschaften kamen oft vor. Dabei bedingten sich die Eltern nicht nur ein Wohnrecht für sich selbst aus, sondern auch für minderjährige, behinderte oder ledige Kinder, die ebenfalls noch auf dem Hof wohnten. Die neuen Besitzer mussten sich allenfalls auch verpflichten, für die Pflege ihrer Eltern bzw. Geschwister aufzukommen. Es war ferner nicht unüblich, dass die Hofübergabe mit einer Rentenzahlung an die Vorbesitzer verbunden wurde. Wenn schliesslich ein Sohn das väterliche Gut übernahm, musste er sich nicht nur für die Pflege der Eltern verbürgen, sondern seinen Geschwistern auch eine entsprechende Aussteuer leisten. Gülten waren diesbezüglich ein ausgesprochen geeignetes Mittel, um Geschwister auszusteuern. Da sich der Familienbesitz oft aus Grundbesitz, Gültkapital und züglichem Gut zusammensetzte, bestand bei Erbteilungen ein ziemlicher Handlungsspielraum. Jener Erbe, der das Familiengut übernahm, zog allerdings nicht unbedingt das beste Los. Betreuung und Unterhalt hilfsbedürftiger Angehöriger konnten eine erhebliche Belastung bedeuten, zudem brachten Aussteuern an die Geschwister erhebliche Schuldenlasten mit sich. Man erinnere sich an die Klagen Abt Leodegar Salzmanns, der die grundpfandliche Belastung vieler Güter im späten 18. Jahrhundert für stark übersetzt hielt. Unter diesen Umständen fuhren die ausgesteuerten Geschwister gelegentlich besser als ihre Brüder, die das elterliche Gut übernahmen. Dies musste sich Karl Sepp Amrhein 1738 auch gesagt haben: Damals hatte Am62 Vgl. als Beispielfälle ETP 8.253–257, 8.229–231, 8.294–296, 8.316, 10b.11–12, 13.51, 13.76, 15.471–473, 17.504–506 und 18.19–21. 63 Vgl. als Beispielfälle ETP 12.43, 12.406, 15.450–451, 18.332 und 20.11–12.

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rhein im Sinn, das Gut seines Vaters zu übernehmen. Vater und Sohn liessen darauf in der herrschaftlichen Kanzlei einen ausführlichen Vertrag aufsetzen. Als die Vereinbarung bereits in die Talprotokolle eingetragen war, überlegte es sich der junge Amrhein jedoch anders. Er verzichtete schliesslich auf die Hofübernahme, „weil dem Carli Jos. solche beschwährnuss nach reifer überlegung zuo gross schiene“. Wie Amrhein zögerten wohl viele, die elterliche Nachfolge anzutreten.64 Bauerngüter konnten nicht nur einem Sohn, sondern auch einem Schwiegersohn übergeben werden. Ferner übergaben Ehemänner ihren Ehefrauen gelegentlich ein Haus bzw. einen Hausteil, um ihnen einen Witwensitz zu sichern oder geleistete Dienste zu vergelten. Schliesslich verfügten die Frauen selbst über einen teils beachtlichen Eigenbesitz. Der Frauenbesitz wurde dabei auf vergleichbare Weise übertragen wie der Männerbesitz.65 Ein Beispiel mag das bisher Gesagte veranschaulichen. Sepp Amstutz verkaufte 1711 seinem Patenkind Hans Sepp Amstutz sein Haus im Oberberg für knapp 5‘000 Pfund.66 Der Verkauf erfasste alles, „was Nueth und Nagel hat“, ja selbst den Wandschmuck und „allen Bilderen und heyligen Tafelen“. Der Verkäufer bedingte sich jedoch verschiedene Rechte aus, so z.B. dass er im Haus khönne wohnen, in der Stuben schlafen, und der Käufer schuldig seyn solle, ihme zu wüschen, wäschen und zu nähen, auch so wohl zum Ofen als Feurherd mit nöthigem Holtz zu versehen. Es thuet sich auch der Verkäufer zu ihme dem Käufer an Tisch verdingen [...] ein Jahr lang umb 50 Gl., folgenter gstalten, namblichen es verspricht der Käufer ihme Verkäufer gnueg Brod und feissen Käsen zu geben, im übrigen Speisen aber solle er sich gedulden mit denen Speisen, wie sie selbsten essen. Hierbey aber ist ausgedingt, das[s] wan er Verkäufer solte

64 Vgl. als Beispielfälle ETP 11.254–260, 11.260–264, 11.565–566, 12.83–84, 12.119– 120, 12.117, 12.272–273, 12.301–302, 12.300, 12.313, 12.316, 13.17–18, 13.66, 13.120–121, 13.174–175, 13.342–343, 13.373–375, 13.425–426, 15.45–46, 15.59– 60, 15.61–62, 15.67–68, 15.68–69, 15.182–183, 15.175–176, 15.187–188, 15.234– 236, 15.237–238, 15.399–401 (mit Nachtrag bei 15.431), 15.348–351, 15.456–458, 16.298–299, 17.82–84, 17.84, 17.267–268, 17.238–240, 17.274–275, 17.317–320, 17.487–488, 17.488–490, 17.532–533, 17.556–559 (mit Nachtrag bei 15.562), 17.572– 573, 17.582–583, 17.584–585, 17.602, 17.651–652, 17.628–630, 18.4–5, 18.50–61, 18.44–45, 18.197–200, 18.374a-375a, 18.383, 20.28–29 und 20.30. 65 Vgl. als Beispielfälle für Übergaben an Schwiegersöhne ETP 12.229–230, 12.375–376, 17.33–35 und 17.261; für Übergaben an die Ehefrau ETP 15.285–286 und 15.436– 438; für Übergaben von Frauen ETP 8.213–215, 13.254–255, 13.264–265, 15.193– 194, 17.1–2, 17.60, 17.230, 17.284, 17.441–442, 17.436–437, 17.515–517, 17.595– 597, 18.8, 18.193–196, 18.254–256, 18.259–261, 18.293–294 und 18.355–357; für weitere Übergaben ETP 5.350–353, 8.213–215, 8.268, 13.254–255 und 13.264–265. 66 Vgl. ETP 5.350–353.

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von Gott mit einer langwihrigen oder wenigist 10 oder 14 dägigen Krankheit heimbgesucht werden, so solle er auf solchen Fahl hin schuldig seyn, die Abwarth und alle andere Kösten, die von Medicinen und anderen dergleichen Kösten so wohl an Speis als Trankh sich begeben und auflaufen, selbsten auszuhalten und zu bezahlen [...].

Die Vereinbarung mag verdeutlichen, welchen Zweck Hof- bzw. Hausübergaben erfüllen konnten. Der Verkäufer gab zwar seine Besitzrechte auf, konnte sich aber dadurch Hilfe und Unterstützung verschaffen. Der Käufer seinerseits nahm zwar eine erhebliche Bürde auf sich, doch mochte ihn der erworbene Besitz dafür entschädigen.

c) Vogtei Die »Vogtei« war eine rechtliche Einrichtung, worunter nach heutigem Verständnis sowohl Beistand- als auch Vormundschaften fielen. Bevogtungen wurden in der Regel obrigkeitlich angeordnet und beaufsichtigt. Erste Aufgabe eines Vogtes war es, seine(n) Schutzbefohlene(n) rechtlich zu vertreten. Das galt insbesondere in gerichtlichen als auch in geschäftlichen Angelegenheiten. Nicht zuletzt war einem Vogt auch aufgetragen, dem bzw. der Bevogteten geregelte Lebensverhältnisse zu sichern. Zwischen Beistand- und Vormundschaft wurde nicht scharf unterschieden, ja das Bevogtungsverhältnis selbst war rechtlich nicht eindeutig bestimmt. Diese Unbestimmtheit hatte allerdings ihren guten Grund: Im Einzelfall liessen sich dadurch massgeschneiderte Lösungen finden. Wer als Vogt amtete, musste alljährlich Rechenschaft ablegen über den Besitz seines bzw. seiner Bevogteten. So besagte der betreffende Artikel des Talbuchs:67 Item es ist aufgesezt von einem herren & thalleüthen, wer Vogt-Kinder bevogtet, der soll alle Jahr Rechnung geben dem herren & denen, so darzuo beruefen werden, jährlich um Andreae [30. November, d.h. am Jahresende].

Wurde die Rechnung des Vogtes angenommen, war dieser von späteren Forderungen entlastet. Die jährlichen Vogtrechnungen erlaubten es der Obrigkeit, die Arbeit der Vögte regelmässig zu überprüfen. Zudem beschränkte Abt Ignaz Burnott 1688 die Befugnisse eines Vogts dahingehend, dass „kein vogt seinem vogtkind sein guot, haus, alp, gült oder andere mittel verpfenden, versetzen, vertauschen oder verkaufen [solle] ohne vorwüssen und guotheissen eines regierenden hrn. prälaten“.68 Wichti67 Talbuch Art. 129 in der Fassung Magnus Wasers’ von 1790, vgl. auch Schnell (1858: 60–61). 68 Vgl. Schnell (1858: 123).

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gere Geschäfte durften also nur mit äbtischer Erlaubnis getätigt werden. Vögte durften schliesslich einen bescheidenen Vogtlohn beziehen, wenn sie ihrem Amt redlich nachgekommen waren. Wer aber wurde bevogtet? Manche baten Abt und Gericht selbst um eine Bevogtung. Ausdrücklich forderte Hans Kuster 1648 das Gericht auf, es möge ihm einen Vogt bestellen, „syteweil ihme seine sachen in allem ein krebsgang [Rückschritt] haben“. Auch Balzer Dillier liess sich 1675 „wegen übelen Fusses [und] sines hohen Alters“ vom Gericht freiwillig einen Vogt zuweisen. Als Barbara Töngi im selben Jahr ihren Ehemann verlor, erschien sie bereits zwei Wochen später vor Gericht und erbat sich ihren Bruder Ambrosi als Vogt. Diese Beispiele verdeutlichen: Wer in eine bedrängende Lebenslage geriet und sich nicht mehr alleine zu helfen wusste, erhoffte sich von einer Bevogtung Hilfe und Unterstützung.69 Eine Bevogtung war bei Waisenkindern geradezu selbstverständlich. Hier kam den zuständigen Vögten die verantwortungsvolle Aufgabe zu, sich für das Gut und die Interessen Wehrloser einzusetzen. Die Bevogtung von Witwen war hingegen weniger zwingend. So hatte sich Barbara Friedrich nach dem Tod ihres Mannes stets geweigert, sich einen Vogt bestellen zu lassen. Die Vögte ihrer Kinder bestätigten, dass „die fraw offtermalen antriben worden sey, solle ein vogt nemen oder begeren, selbiges aber geweigeret anzeigend, sey sey meister über ihr guot“. Friedrich war auch von Pfarrer Benedikt Pfyffer um 1630 mehrmals dazu ermahnt worden. So wurde berichtet, er habe die fraw selbsten gemanet und durch den aman manen lassen, sey solle ein vögt begeren, damit seye zuo ihrem guot kome, allso dass die fraw durch geistliche und weltliche oberkeit seye gemanet worden, iedoch habe sey allzeit geantwortet, sey seye meister über ihren guot, bedorffe keines vogts.

Friedrichs Weigerung schadete vor allem ihr selbst, wie sich in der Folge herausstellte. Die Witwe musste später wegen unachtsamen Geschäften einen Besitzverlust hinnehmen, der sich wahrscheinlich hätte vermeiden lassen.70 Frauen und insbesondere Witwen konnten sich zwar verbeiständen lassen, aber ein eigentlicher Zwang bestand in dieser Hinsicht nicht. Viele andere Rechtsgeschäfte, die in den Talprotokollen überliefert sind, bestätigen diese Feststellung. Gelegentlich drängte die Verwandtschaft auf die Bevogtung eines Familienangehörigen. So beklagte sich 1666 Niklaus Töngi vor Gericht, dass seine verwitwete 69 Vgl. ETP 2a.41, 2b.490, 4.9 und 4.18. 70 Vgl. ETP 2b.210–216.

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Schwiegermutter Anna Dillier ihren Besitz leichtfertig veräusserte. Da Dillier ihre Erben dabei ungleich berücksichtigte, sorgten sich die benachteiligten Erben um ihren Erbteil. Das Gericht gab der Witwe deshalb Gerichtsherr und Säckelmeister Jakob Langenstein zum Vogt. Die Bevogtung brachte jedoch nicht den gewünschten Erfolg, denn bereits 1669 wurden die Erben Dilliers erneut vor Gericht vorstellig. Mit Mühe und Not konnte das Gericht die Witwe dazu bewegen, ihren Sohn Baschi Kuster als Vogt anzunehmen. Dillier machte allerdings zur Voraussetzung, dass sie in ihrem Haus bleiben dürfe. Missmutig hielt das Gericht in seiner Entscheidung fest, Dilliers Wunsch sei „gedrungner wis bewilliget worden, wilen die muotter alles wolle haben nach ihrem willen“.71 Auch Krämer Joachim Andres Infanger musste sich 1756 dem Druck seiner Verwandtschaft beugen: Infanger hatte in solchem häuslichen Unfrieden gelebt, dass eine Bevogtung unumgänglich schien. So wurde „dem vogt anbefohlen, dass er auf des Jochims lebenswandel gute obacht haben solle“.72 Schlimmer erging es 1733 Geri Waser, dessen Geisteskrankheit allmählich befürchten liess, „seine bosheit möchte nach und nach also zunemmen, dass dardurch ehrliche leüth so wohl an haab undt guth als leib und leben gefahret würden“. Abt Emanuel Crivelli liess deshalb Wasers nähere Verwandtschaft in die Kanzlei berufen und wohnte dem versammelten Familienrat selbst bei. Der Abt erinnerte die Verwandten Wasers an ihre Verantwortung und liess durchblicken, dass ihr Versagen unweigerlich das Eingreifen der Obrigkeit zur Folge hätte. Die Verwandten schlugen darauf eine weitgehende Bevogtung Wasers vor, die vom Abt auch bewilligt wurde. Waser starb übrigens zwei Jahre später unter traurigen Umständen, wurde er doch in den letzten Wochen seines Lebens an Ketten angebunden.73 Catenis ligatus – in Ketten gebunden – konnte bei Bevogtungen auch im übertragenen Sinn zutreffen. Wer sich durch mangelnden Geschäftssinn selbst ins Elend wirtschaftete, konnte zwangsweise bevogtet werden. Nicht nur Misswirtschaft, sondern auch Trunksucht, Liederlichkeit und Gewalttätigkeit konnten weitere Gründe für eine Bevogtung sein.74 So wurde Adam Waser 1674 unter einen Vogt gestellt, nachdem er knapp 20‘000 Pfund Schulden angehäuft hatte. Wegen Trunksucht wurden in den 1740er Jahren nicht weniger als fünf Talleute bevogtet. Auch Hans Geni Hurschler wurde 1766 unter die Obhut eines Vogts gesetzt, nachdem er nachts auf offener Strasse einen Gerichtsherrn tätlich angegriffen und fast bewusstlos geschlagen hatte. 71 Vgl. ETP 3.49–50 und 3.141. 72 Vgl. ETP 13.60–61. 73 Vgl. ETP 10.130–131 und den Eintrag vom 22.04.1735 im Sterberegister. 74 Vgl. ETP 2b.627, 3.74 (mit Verweis auf 3.70–71), 4.69, 11.349–351, 11.444, 11.602– 605, 11.631–632, 11.635, 14.52, 14.103–104, 14.228–229 und 14.276–277.

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Zwangsbevogtungen liessen den Bevogteten unterschiedliche Spielräume frei. So hatte zwar Wirt Hans Kuster um 1660 „sein haushalt- und guots-verwaltung nidergelegt“, wirtschaftete aber ziemlich selbständig weiter. Eine böse Überraschung erlebte ferner Kaspar Töngi, als er um 1650 mit Hans Kuster ein grösseres Geschäft abschloss. Kuster war den Handel ohne Zustimmung seines Vogts eingegangen, was nach Talrecht die Ungültigkeit des Geschäfts nach sich zog. „So ist auch ufgesetzt, dz welcher vogtbar ist, khein merkht sol thun one seines vogts wisen und willen; und so der, so bevogtet, dz uberseche, so sol der merckht, er sey guet oder bös, nüt gelten und khraftlos sin“, lautete die entsprechende Bestimmung.75 Kuster hatte gegenüber seinem Geschäftspartner sogar bestritten, bevogtet zu sein. Vor Gericht erklärte er später, er habe die vorgesehenen Vögte „niemahlen angenommen, zuo deme habe er andere mercht auch troffen, sye ihme keiner ungültig gehalten worden, es haben auch ihme die vögt nit verkaufft noch kaufft in einem oder anderem“. Die Bevogtung Kusters war also weitgehend folgenlos, ja sogar unbekannt geblieben. Das Gericht erkannte seinen Fehler und liess später Zwangsbevogtungen während des sonntäglichen Hochamts in der Kirche öffentlich verkünden.76 Vögte vertraten also die Interessen jener, die nicht für sich selbst sorgen konnten bzw. durften. Oft wurden angesehene Talleute als Vögte bestimmt, die ihren Schutzbefohlenen entsprechende Unterstützung gewähren konnten. Wer zu den Schwächeren gehörte, wurde bei Erbschaften häufiger benachteiligt: Witwen und Waisen waren hier die vornehmlichen Opfer. In solchen Fällen konnten Vögte die Rechte ihrer Schutzbefohlenen wirksam gegenüber anderen stärkeren Familienangehörigen durchsetzen. Auch in Handelsgeschäften drohte Unbeholfenen die Gefahr, übers Ohr gehauen zu werden. Einem wachsamen Vogt konnten solche Übervorteilungsversuche nicht entgehen. So scheuten manche Vögte nicht, zugunsten ihrer Schutzbefohlenen sogar gegen den Abt oder den Ammann vorzugehen. So verlangte Kaspar Kuster 1626 Rechenschaft über jene Geschäfte, die der verstorbene Abt Jakob Benedikt Sigerist mit seiner Vogttochter Barbara Dillier getätigt hatte. Auch Ammann Hans Häcki wurde im selben Jahr durch einen unverzagten Vogt belangt, weil er gegenüber dessen Mündel die Rückzahlung einer Schuld versäumt hatte. Vögte waren bekanntlich zur regelmässigen Rechnungsablegung verpflichtet. Damit waren aber verschiedene weitere Aufgaben verbunden: Vögte verwalteten Kapitalanlagen, erstellten Besitzinventare, beaufsichtigten Erbteilungen und beratschlagten allerlei Geschäfte. Waisenvögte waren auch darum besorgt, ihren Mündeln eine angemessene Ausbildung (z.B. als Handwerker) zukommen zu lassen. Für 75 Vgl. Schnell (1858: 62). 76 Vgl. ETP 2b.528–529, 2b.532–533 und 3.74.

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die Schwachen der Gesellschaft war also die Vogtei eine ebenso gängige wie unentbehrliche Einrichtung.77 Manche Vögte mussten sich jedoch von ihren Bevogteten vorwerfen lassen, sie hätten ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Das Gericht musste sich oft mit solchen Rechtsklagen befassen. So lasteten die Bevogteten ihren Vögten an, sie hätten Eigentumsrechte nicht durchgesetzt, Besitzteile unter dem Marktwert verkauft, Erwerbungen zu überrissenen Kaufpreisen getätigt oder unvorteilhafte Kapitalanlagen gutgeheissen. Wer sich als Vogt mangelnde Sorgfalt zuschulden kommen liess, konnte seinem Ansehen erheblich schaden. So musste Balzer Töngi, dessen Schutzbefohlener 1674 in einen Auffall (d.h. Konkurs) geraten war, nicht nur eine hohe Geldstrafe entrichten, sondern auch den Verlust seines Gerichtssitzes befürchten. Töngi konnte sich nur knapp halten, „obglich man vermeint, dass er wol verdienet, dass man ihnne der rahtsstell hette berauben sollen“. Wenige Jahre zuvor hatte sich auch Kaspar Waser wegen mangelnder Sorgfaltspflicht verantworten müssen. Als sich dieser vor Gericht rechtfertigen wollte, wurde ihm trocken entgegengehalten, „dass dises des gantzen volks meinung, dass er nit gar wol ghuset“. Der üble Vogt hatte offenbar in der ganzen Talschaft seine Vertrauenswürdigkeit eingebüsst.78 Schlimmer wog der Verdacht, Vögte hätten ihre Befugnisse zur eigenen Bereicherung missbraucht. So wurden manche Vögte beschuldigt, sie hätten Vermögenswerte ihrer Schutzbefohlenen an sich gezogen, Zinseinkünfte zurückbehalten, den Bevogteten Waren zu billig abgekauft, anderes hingegen zu teuer verkauft, ungerechtfertigte Geldforderungen (v.a. Tischgeld) gestellt, usw.79 Da das Fehlverhalten eines Vogtes erhebliche Folgen zeitigen konnte, gingen Abt und Gericht jedem geäusserten Verdacht auf den Grund. Manche Anschuldigungen stellten sich jedoch als blosse Gerüchte oder Verleumdungen heraus.80 Ein schweres Los war etwa Gerichtsherr Hans Jakob Feierabend zugefallen, als er die Vogtei Katharina Töngis übernehmen musste. Feierabend bat 1668 das Gericht um Hilfe, wil sie [Katharina Töngi] gerett zuo ihren kindern 1. hettet ihr ein vogt ghabt, wies hett sollen sin, wers eüch beser gangen, 2. hab dise frauw bi nacht und nebel [ihre Kinder] für sine hus-

77 Vgl. als Beispielfälle ETP 2a.61–61b, 2a.43b-44, 2a.83b, 2b.74–75, 2b.100–101, 3.18, 3.31, 13.138–139, 13.221–222, 13.320–321, 13.373, 14.9–10, 14.11, 16.327–330 und 19.151. 78 Vgl. als Beispielfälle ETP 2a.11–12, 2b.623–625, 3.99–101, 3.189, 3.224–225, 4.53, 4.122, 4.194–196, 4.354–356, 4.403–405 und 16.364–367. 79 Vgl. als Beispielfälle ETP 2b.657–658, 2b.664, 4.17, 4.53, 4.392–394, 8.362–363, 11.386–387, 16.58–61 und 19.185–186. 80 Vgl. als Beispielfälle ETP 2b.139–140, 3.85–86, 3.88 und 3.176.

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fenster gesant zuo losen undt da sie nit wolten gehen, gesagt, so müesse[n] sie gehen, 3. sien auch andere mit ihren kinden [...] dahin gangen, 4. sie beklage sich als geschehe ihr in den rechnungen unrecht, und zuo kurtz, 5. so lass sie auch andere nit mit friden, in dem sie über den bumeister Niclaus Kuster sel., da er sin bein brochen, bi der sust gerett, „welcher warheit spart, wie ers gegen mihr gspart hatt und d’unwarheit gegen mihr bruucht hatt, dem god es also“.

Töngi hatte ihren Vogt also nicht nur bei allen Gelegenheiten verleumdet, sondern durch ihre Kinder verfolgen und aushorchen lassen. Feierabend war um sein Vogtamt wirklich nicht zu beneiden.

d) Frauengut und Morgengabe Eine vielgenutzte rechtliche Einrichtung war unzweifelhaft das sogenannte Frauengut. Frauen konnten durch Erbschaft, Brautschatz und Erwerb zu eigenem Besitz gelangen. Wie umfangreich dieser Besitz ausfallen konnte, zeigt das Beispiel Maria Katharina Langensteins. Langenstein, die Tochter des reichen und einflussreichen Statthalters Hans Langenstein, hatte drei glänzende Ehen geschlossen und dreizehn Kindern das Licht der Welt geschenkt. Mehrere Verwandte Langensteins gehörten dem Gerichtsherrenstand an. „Die Frau war ganz der Frömmigkeit ergeben, im Lebenswandel von der althergebrachten Schlichtheit durchdrungen, freigebig gegenüber Armen und folgsam gegenüber Geistlichen“, lobte 1748 Pfarrer Wolfgang Iten die ehrsame Talfrau nach ihrem Tod. An ihrer Begräbnisfeier waren mehr Talleute als je zuvor anwesend. Besonders bemerkenswert war auch der Besitz, den Langenstein ihren Erben hinterliess: Allein schon ihre liegenden Güter beliefen sich auf über 35‘600 Pfund. Die Frau gehörte damit zu den reichsten Talleuten ihrer Zeit.81 Ehen führten keine Gütergemeinschaft nach sich: Die Gütertrennung war die Regel, nicht die Ausnahme. Der Ehemann hatte zwar ein unbestrittenes Nutzungsrecht über das Vermögen seiner Ehefrau. Dieses Recht war allerdings durch die festgefügte Formel eingeschränkt, „das einer ehefrouwenn gut hinder jrem man weder schwinen [schwinden] noch wachssen soll“. Der Mann musste also für die Unversehrtheit des Besitzes seiner Frau sorgen. Ein äbtisches Mandat von 1686 hielt dementsprechend fest:82 Gleichwie das Weiber-guett nit wachset also soll es auch nit schweinen, darum soll sich kein Mann erfrechen die Mittel seiner Frauwen / es seyen gülten, Alp oder zügliche Mittel / anzu-

81 Vgl. ETP 12.360–361 sowie den Eintrag im Sterberegister vom 07.03.1748. 82 Vgl. Hegglin (1929: 243–247) sowie Art. 27 im 2. Teil des Talbuchs von 1790 in der Fassung Magnus Wasers.

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greifen, zu vertauschen, zu vermärchten, vill weniger solche zu verkaufen ohne zuvor erhaltne bewilligung Ihro hochwürden gnaden, eines herren Prälaten, damit das Weibergutt also künftig besser beschirmbt & erhalten werde.

Äbte zogen gelegentlich Ehemänner zur Rechenschaft, wenn der Verdacht bestand, dass sie das Gut ihrer Frau gemindert hatten. Dies kam jedoch selten vor.83 Man darf allerdings annehmen, dass die Verwandtschaft der Frau genau darauf achtgab, dass deren Frauengut unversehrt blieb. Einerseits bestand der weibliche Eigenbesitz häufig aus Vermögenswerten, die von den Verwandten der Frau stammten. Kam andererseits eine Frau in den Witwenstand, konnte sie sich mit Hilfe des Frauenguts selbst versorgen und fiel ihrer Verwandtschaft nicht zur Last. Die Verwandten waren entsprechend daran interessiert, dass das Frauengut ungeschmälert blieb. Das Frauengut wurde allerdings nicht nur als Wittum genutzt. Es diente mancher Ehefrau als finanzielles Notpolster, das bei Altersgebrechen, Krankheiten, Bedrängnissen aller Art und unvorhergesehenen Ausgaben genutzt werden konnte. In manchen Fällen half das Frauengut auch dem Ehepaar bzw. der Familie über Notlagen hinweg.84 Das Frauengut sicherte also Ehefrauen bzw. –paare in Notfällen ab. Dieser Versorgungszweck führte im 18. Jahrhundert dazu, dass das Frauengut eine weitere Bedeutung erhielt. Damals nämlich entstand das Gewohnheitsrecht, dass heiratswillige Frauen ein gewisses Mindestvermögen vorweisen mussten, eben in Gestalt eines Frauenguts. Die Höhe dieses Mindestvermögens pendelte sich etwa bei 100 Kronen bzw. 200 Gulden ein. Heiratete ein Talmann eine Frau, die nicht über ein solches Vermögen verfügte, verlor er das Talrecht und wurde ins Beisassenrecht zurückgestuft. Der Verlust des Talrechts hatte hauptsächlich zur Folge, dass das Ehepaar bzw. dessen Familie im Notfall nicht mehr auf die Unterstützung von Gemeinde bzw. Kloster zählen konnte.85 Der Nachweis eines ausreichenden Frauengutes wurde vornehmlich dann eingefordert, wenn ein Talmann eine Auswärtige ehelichte und diese ins Tal nachzog. Umgekehrt stellt die Kanzlei jenen Talfrauen eine Vermögensbescheinigung aus, die einen Auswärtigen heiraten wollten, denn das besagte Gewohnheitsrecht galt auch in anderen eidgenössischen Orten.86

83 Vgl. etwa ETP 4.283–284 und 4.396–398, ferner den bemerkenswerten Fall in ETP 16.410–412. 84 Vgl. etwa ETP 4.307, 6.208–209, 13.20, 13.439, 15.91, 15.285–286 und 18.49. 85 Vgl. das äbtische Mandat von 1688 bei Schnell (1858: 124). 86 Vgl. etwa ETP 4.495–496, 9.204–209, 9.417–418, 10.151, 11.30, 13.110–111 und 14.468–474. Die überlieferten Vermögensbescheinigungen sind ihrer Häufigkeit wegen hier nicht aufgeführt.

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Junge heiratswillige Paare konnten das geforderte Gut oft noch nicht selbst aufbringen und waren entsprechend auf die Unterstützung ihrer Verwandtschaft angewiesen. Die Verwandtschaft erhielt dadurch eine weitere Möglichkeit, eine Eheschliessung oder mindestens deren Zeitpunkt mitzubestimmen. Ein heiratswilliges Paar konnte jedoch wegen blosser Armut im 17. und 18. Jahrhundert nicht an der Heirat gehindert werden. Weder das kirchliche noch das bürgerliche Recht boten dazu eine Handhabe. Das änderte sich im 19.  Jahrhundert, als eine Eheschliessung nur noch mit der Bewilligung des Gemeinderates erfolgen durfte. Wer kein Vermögen oder keine Berufsausbildung besass, dem wurde damals die Heirat verweigert.87 Die strengen Bestimmungen wurden erst in den 1870er Jahren wieder gelockert. Etwas rätselhaft ist es um die Einrichtung der Morgengabe bestellt, soweit sie im 17. und 18. Jahrhundert bestand. Ein Ehemann konnte bei der Eheschliessung seiner Gattin ein gewisses Vermögen vermachen, eben die Morgengabe. Selten jedoch wurde diese Schenkung ausdrücklich begründet. Ansatzweise zeigt sich zumindest, dass die Morgengabe als Beisteuer des Ehemannes zum Frauengut seiner Gattin gedacht war. Auch die Morgengabe war also – wie das Frauengut – als finanzielle Vorsorge gedacht. Gelegentlich weigerte sich die Verwandtschaft eines verstorbenen Ehemannes, der zurückgebliebenen Witwe die versprochene Morgengabe auszuzahlen. Als Begründung wurde meist angeführt, die Ehefrau habe sich schlecht um ihren Gatten gekümmert. So musste sich Anna Maria Kuster 1673 von ihrer Schwiegerfamilie vorwerfen lassen, sie habe sich um ihren verstorbenen Mann Valentin „nicht verdienet, als welchem es selten geholffen, in ehlichen sachen undt thrüw nicht thrülich mit ihmme umgangen, der zit, als er siner meisten bedürffen, gantz und gar von ihmme scheiden lassen“. Auch Anna Maria Vogel musste sich 1702 ähnliche Vorwürfe anhören. So erklärte ihr Schwager vor Gericht: Er möchte auch wüssen, [was] ein Frauw für Schuldigkeit gegen ihrem Mann trage, damit seie ein Morgengab verdiene, seie aber aus vorgebrachten underschidlichen Klegten kein sonderbahren Lohn verdient zuo haben vermeine [...]. Maria Cathri Kuster zeüget, das[s] die Anna Maria Vogell ihrer Schwigerin alte Mähren und alte Schnuor benambset [...]. Es sie auch die alte Frauw ihre Schwigerin sambt dem Niclaus auf dem Büöl kommen bei der Nacht, habe weinendt gebetten, sei solle den Niclaus als ihren Mann in das Haus lassen, aber nichts ausgerichtet.

87 Vgl. Egger (1911: 71).

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Die Ehefrau war angeblich nicht nur grob mit ihrer Schwiegermutter verfahren, sondern hatte ihren Mann auch aus dem Haus ausgesperrt. Beide Fälle verdeutlichen jedenfalls, dass die Verwandtschaft die Morgengabe als besonderen Lohn verstand, den sich eine Ehefrau durch gute Dienste verdienen musste.88

e) (Gemeinsames) Testament und Erbteilung Schriftliche, amtlich beglaubigte Testamente erfreuten sich im 18. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit. Unter Eheleuten war es geradezu üblich, die letztwilligen Verordnungen gemeinsam aufzusetzen. Der Inhalt dieser gemeinsamen Testamente war in vielen Fällen derselbe: Für den Fall ihres Ablebens sicherten sich die Eheleute gegenseitig gewisse Nutzungsrechte über ihren Besitz zu. Die besagten Nutzungsrechte waren auf die Lebenszeit des überlebenden Partners beschränkt. Oft erloschen die Rechte auch, falls der überlebende Partner eine neue Ehe einging. Die Eheleute versicherten einander meist um Wohnrechte, Kapitalien und Renten. Gemeinsame Testamente regelten häufig auch die Erziehung und Versorgung der Kinder. So bestimmte mancher Ehemann, wenn „er vor seiner lieben Ehfrau das Zeitliche segnen und Kinder hinderlassen solte, dass sye bey denn Kindern verbleiben und mit Ihnen hausen solle“. Die Bestimmung sollte also verhindern, dass Mutter und Kinder durch die Erben väterlicherseits getrennt würden. Brachte ferner eine Frau Kinder aus einer früheren Ehe in die Haushaltung, konnte sich ihr neuer Stiefvater zu ihrem Unterhalt verpflichten.89 Die meisten Testamente bestimmten auch den Teilungsschlüssel, der bei der Erbteilung angewendet werden sollte. So wurde der liegende Besitz auf die künftigen Erben säuberlich aufgeteilt, wobei auch der Wert der einzelnen Güter veranschlagt wurde. Die Verordnung diente nicht nur dazu, spätere Streitigkeiten unter den Erben zu vermeiden. Wenn nämlich ein Vater starb, wie Abt Leodegar Salzmann 1779 erklärte,90 ohne dass von selbem ein testament oder verordnung vorhanden wäre, wie es mit seinen güeteren nach solch seinem todtfahl anzusechen und in was für einem anschlag und gemässigetem oder billichem vortheill selbe denen söhnen solten überlassen werden, in welcher ereignus gantz nothwendig und natürlich under allen kinderen, denen töchtern sonderbahr, eine übertribene steigerung sothanner güeter für die söhn erfolget seye. Solcher unohrdnung und den nothwendigen zerfahl väterlicher und mänigklicher descendenten oder erben nach sich

88 Vgl. etwa ETP 1.363, 3.3–4, 3.205–206, 4.476–478 und 7.624. 89 Vgl. ETP 6.1173–175, 6.302a-304, 8.305–306, 12.116 und 12.263. 90 Vgl. ETP 17.202–213.

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ziechendten güeter versteigerung vorzukommen und somit denen söhnen nach allhiesiger thallsgewohnheit und überalliger üebung ein bescheindentlicher vorzug zu lassen [...],

war also ein wesentlicher Zweck von Testamenten. Die testamentarische Schatzung der Güter sollte die Überschuldung jener verhindern, die deren Bewirtschaftung übernahmen. Die äbtische Erklärung verdeutlicht auch, dass männliche und weibliche Erben zwar nicht gleich, aber doch etwa gleichwertig behandelt wurden. Während liegende Güter eher den Söhnen (und gelegentlich den Schwiegersöhnen) zugesprochen wurden, teilten die Töchter meist Kapitalwerte (v.a. Gülten) unter sich auf. So war es nicht unüblich, wenn Gerichtsherr Sepp Geni Häcki 1755 testamentarisch verfügte, es „sollen die besten [Kapital]mittel denen töchteren voraus angewisen werden, auch in übrigem erb so wohl des vatters als der mutter sel. sollen die töchteren in allweg den söhnen gleich gehalten werden“. Ungewöhnlich war höchstens, wie Häcki sein Bauerngut im Bergli unter seine Söhne aufteilte: „Nach des vatters todt sollen die söhn das loos ziechen“, wer unter ihnen den Hof übernehmen und seine Brüder aussteuern solle.91 Ferner wurden jene Erben, die kein eigenes Gut übernehmen konnten, oft mit gewissen Nutzniessungsrechten entschädigt. So wurde ihnen regelmässig ein Wohnrecht auf dem Familiensitz zugesprochen, das erst mit ihrer Heirat erlosch. Testamente konnten auch dazu dienen, den Kreis der Erbberechtigten einzuschränken bzw. zu erweitern. So kürzte Flori Bernhard Kuster 1761 die Erbteile seiner Töchter, weil sie „gegen ihme sich etwas ungehorsam und unehreerpüethig aufgeführt“. Andere hingegen übersprangen Erbberechtigte um eine Generation: So vermachte Hans Markus Infanger 1755 seinen Geschwistern sein Vermögen, nahm aber zwei davon aus, „welche zwei er ausdruckhlich hiermit ausschliesset, jedes diser beiden kindter aber so vill, als auf ein kopf sonsten trift, sollen zu gewarten haben“. Umgekehrt wurden häufig Erben eingesetzt, die nach Gewohnheitsrecht kein Erbrecht besassen. Solche Erbeinsetzungen kamen vor allem bei Kinderlosen vor und waren oft als Dank für geleistete Dienste zu verstehen. Andere Erben wiederum wurden bedingungsweise eingesetzt, etwa wenn die eigenen Nachkommen kinderlos bleiben sollten – die demographische Lotterie verriet auch in den letztwilligen Verordnungen ihre Wirkmacht.92 Talleute liessen ihre Testamente schon in der ersten Hälfte des 17.  Jahrhunderts amtlich beglaubigen und eintragen. Aus der gelegentlichen Übung wurde bald der 91 Vgl. ETP 13.49–50, ferner auch ETP 12.407. 92 Vgl. etwa ETP 13.215–216, 13.214–215, 13.79, 13.90–92, 13.151–152, 13.197–199, 13.213–214 und 15.44.

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Regelfall. Warum erfreuten sich die amtliche Beglaubigung und Eintragung einer zunehmenden Beliebtheit? Mündliche Willensbekundungen waren schlicht zu unsicher und konnten nachträglich leicht angefochten werden. Wer eine Erbforderung nur von einer mündlichen Zusage ableitete, hatte vor Gericht durchaus schlechte Karten. Ähnliche Streitigkeiten lösten auch Schenkungen aus, die kurz vor dem Ableben des Gönners getätigt wurden. Konnte der Empfänger keine anderweitigen Beweismittel geltend machen als das blosse Wort des Toten, war es um die Schenkung schlecht bestellt. Überhaupt wurden letztwillige Verordnungen, die kurz vor dem Tod aufgesetzt wurden, stets beargwöhnt. Das galt auch dann, wenn der bzw. die Sterbende eine geistliche Einrichtung begünstigt hatte. Seit 1449 sah das Talrecht nämlich vor, dass Sterbende auf ihrem Totenbett nicht mehr als fünf Pfund zu geistlichen Zwecken vermachen durften. Die Bestimmung stammte noch aus jener Zeit, als die Talleute ihr Erbrecht gegenüber dem Kloster durchgesetzt hatten.93 Diese Regelung war dem Talvolk im 17. und 18. Jahrhundert allerdings noch bewusst und schimmerte bei Erbstreitigkeiten gelegentlich durch.94 Nach einem Todesfall stand die Teilung der Verlassenschaft an. Hatte der bzw. die Verstorbene ein geeignetes Testament hinterlassen, mussten die Hinterbliebenen gewöhnlich nicht mehr um den Teilungsschlüssel feilschen. Was ein Testament allerdings nicht bestimmte, war der genaue Zeitpunkt der Teilung. Eine Erbteilung konnte unmittelbar nach dem Ableben des Beerbten stattfinden, aber auch eine Weile danach. Manche Erbengemeinschaften dauerten lange, sogar sehr lange. Im 18. Jahrhundert verstrichen nicht selten einige Jahre, bis eine Verlassenschaft geteilt wurde. Manchmal blieb das ererbte Gut über zwei Jahrzehnte ungeteilt.95 Es war nicht ungewöhnlich, als nach dem Tod Hans Baschi Töngis 1720 die Witwe und die Kinder das Familiengut in der Zelgen weiter bewirtschafteten. So war das „guth unvertheilt geblieben und solches von der mutter sambt übrigen kinderen gearbeitet und genutzet worden“. Erst nach einem Jahrzehnt kam es zur Erbteilung: Der drittälteste Sohn Franz Anton übernahm daraufhin das Gut, sicherte 93 Vgl. Schnell (1858: 21–23). 94 Vgl. etwa ETP 1.127–128, 2b.9–10, 2b.253–255, 4.305–307, 11.318–320, 11.326–339 und 11.423–425, ferner ETP 3.133–134, 5.384, 8.141–145 und 15.313–314. 95 Beispiele für verzögerte Erbteilungen in ETP 5.27–31 (ungefähr 10 Jahre), 6.318a-319 (26 Jahre), 6.349–350 (21 Jahre), 6.371–374 (24 Jahre), 8.65–66 (17 Jahre), 8.84–85 (6 Jahre), 8.119–126 (16 Jahre), 8.430–432 (10 Jahre), 8.397–400 (8 Jahre), 11.136– 138 (12  Jahre), 12.407 (5  Jahre), 12.373–375 sowie 12.377–378 (9  Jahre), 13.124 (8 Jahre), 13.176–177 (8 Jahre), 15.179 (8 Jahre), 15.444–447 (6 Jahre), 14.439–440 (9 Jahre), 17.79–80 (13 Jahre), 17.311–314 (6 Jahre), 17.403–407 (6 Jahre), 17.488– 490 (14 Jahre), 17.547–548 (15 Jahre), 17.535–536 (7 Jahre) und 18.379–383 (4 Jahre).

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aber zugleich seiner Mutter und den ledigen Geschwistern ein Wohnrecht zu. Ähnliches spielte sich nach dem Tod Geni Athanas Wasers 1724 ab. Die Witwe Wasers blieb auf dem Gut und wurde zunächst durch ihren drittältesten Sohn Sepp Anton unterstützt. Als sich dieser 1729 verehelichte, zog er auf ein anderes Gut um. Darauf sprang der viertälteste Sohn Geni Dominik in die Bresche und stand seiner Mutter bei. Er konnte dabei auch auf die Hilfe seiner jüngeren Geschwister zählen. Nach dem Tod der Mutter 1734 dauerte es noch zwei Jahre, bis die Erben Geni Athanas Wasers endlich zur Erbteilung schritten. Ein Dutzend Jahre waren seit dessen Tod vergangen.96 Bei gewissen Erbteilungen war also Eile mit Weile angesagt. Das war etwa dann der Fall, wenn ein Todesfall die Verwandtschaft unerwartet traf. So starb der 46-jährige Karl Geni Waser 1769 ziemlich unvermittelt: Er hinterliess seinen Geschwistern nicht nur ein Bauerngut im Widerwäll, sondern auch drei unmündige Kinder aus erster und zwei unmündige Kinder aus zweiter Ehe. Wasers zweite Ehefrau zog mit ihren eigenen Kindern fort und erhielt von den Geschwistern ihres Mannes entsprechende Unterhaltsleistungen. Doch was sollte mit dem Gut und den Kindern erster Ehe geschehen? Die Geschwister beratschlagten sich mit Abt Maurus Zingg über das weitere Vorgehen und kamen „nach reifer und langer solcher verwirrter sachen erdaurung“ zum Schluss, dass die Zeit für eine dauerhafte Lösung noch nicht reif war. Ein Bruder kümmerte sich darauf um das Bauerngut, während eine Schwester die Waisenkinder zu sich nahm. Erst ein Jahr später wurde über das endgültige Verbleiben der Kinder und über den Verkauf des Widerwäll befunden.97 Verzögerte Erbteilungen kamen vor, wenn sich die Erbberechtigten ein weiteres Zusammenleben vorstellen konnten bzw. mussten. Waren noch mehrere Nachkommen ledig, lag die gemeinsame Bewirtschaftung des Familienguts nahe. So hatten zwar die Nachkommen Hans Melcher Cattanis ihr Erbe 1776, etwa ein Jahr nach dessen Ableben, aufgeteilt. Doch kaum war die Erbteilung vollzogen, hatten sie in der allgemeinen väterlichen erbtheillung under dem 18. mertz 1776 ihre erbsportion zusammen gestossen, welche sich durch den göttlichen seegen und kluge vorsichtige gerechte wirtschaft ansechlich vermehrt, nun aber obbelobte brüder von der heürath ermelt ihrer liebwerten schwester und sonstigen belieben veranlasset sich entschlossen, selber ihren beträffendten antheill aus- und anzuweisen [...].

Die eigentliche Erbteilung erfolgte erst 1782, also sechs Jahre nach dem Tod des Vaters. Die Erbgemeinschaft hatte sich sehr zum Nutzen der Erben entwickelt. Verzögerte Erbteilungen gaben den Hinterbliebenen die Möglichkeit, ihre Ver96 Vgl. ETP 8.430–432 und 11.136–138. 97 Vgl. ETP 15.31–32 und 15.115–117.

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hältnisse nach einem Todesfall ohne Hast zu ordnen und ihre Zukunft überlegt vorzubereiten. Die Teilung konnte vorgenommen werden, wenn dafür der rechte Augenblick gekommen war. So liessen sich die Folgen eines plötzlichen Todesfalls mildern.98 Manche Erbteilungen zogen sich auch in die Länge, weil sich die Erben schlicht nicht über die Teilung der Verlassenschaft einigen konnten. Hier nun rächte sich, dass ein Familienvater die Erstellung eines Testaments unterlassen hatte. So hatte Geni Kuster angeblich „vor seinem absterben selbsten verlangt, dass der hoff solle in einem so hochen preis als möglich angeschlagen und verkauft werden und einem jeden seiner kinderen sein gebührenden antheil zukommen solle“, doch war dieser letzte Wille nicht schriftlich bezeugt. Nach Kusters Ableben zeigten seine Söhne jedoch Lust, das Familiengut selbst zu übernehmen. Daran nahmen allerdings ihre Schwestern Anstoss, da der Verkauf an einen Fremden einen höheren Erlös versprach. Die Geschwister fanden sich 1753 vor Gericht wieder. Dabei gaben die Söhne ihrer Hoffnung Ausdruck, „dass wie allerohrten fest bräuchlich, seye das vorrecht pretendiren mögen, damit seye der hoof nit in frömde hand lassen müessen“. Die Hilfe des Gerichts blieb den Söhnen allerdings versagt. Dieselbe Uneinigkeit herrschte auch unter den Nachkommen des 1693 verstorbenen Adam Waser. Zwar übernahm der Sohn Geni Anton das Familiengut im Espen, doch der Hof blieb über ein Vierteljahrhundert ungeteilt. Als die Schwestern Geni Antons 1719 ihr Erbe einforderten, erzürnte ihr Bruder heftig: Auf welches Anfragen ihr Bruder sich sehr beschwehrt, das[s] sye etwas zu erben begehren solten, indemme er sonsten wegen vihlen Schulden nit auf dem Gueth hausen, zinsen, Weib und Kinder ehrlich ernehren könne. Sye sollen es verkaufen, seye wohl zufriden, freue ihn, wann man vihl daraus erlösen werde, er verlange des Guets nichts.

Erst als Abt Joachim Albini dem aufgebrachten Bruder zum Kauf riet, lenkte dieser ein. Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass sich Familienbesitz wegen des lebhaften Bodenmarkts nicht einfach halten liess. Der Marktpreis eines Guts überstieg oftmals die Möglichkeiten jener Erben, die das Familiengut weiter bewirtschaften wollten. Wer den elterlichen Hof trotzdem behielt, musste unter Umständen eine erhebliche Schuldenlast ertragen. Hier also zeigten sich die Schatten des freien Bodenmarkts. Im Hochtal war vom „Zwang, das elterliche Gut um jeden Preis dem Familienstamm zu bewahren“, jedenfalls wenig zu spüren.99

98 Vgl. ETP 17.60–70 und 17.403–407. 99 Vgl. ETP 4.520–522, 6.318a-319 und 11.93–94. Zum Zitat vgl. Bourdieu (1972: 1107).

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f ) Gerichtlich eingeforderte Unterhaltsleistungen Die Talleute kümmerten sich gewöhnlich selbst um ihre eigene Vor- und Fürsorge. Sie trugen auch die Verantwortung für jene Unterstützungsbedürftigen, die ihnen anvertraut waren. Amtliche Hilfe wurde allenfalls bei Beglaubigungen und Eintragungen beansprucht. Doch die Selbsthilfe stiess auch an ihre Grenzen: Das Eingreifen der Obrigkeit blieb unerlässlich, wo Verantwortlichkeiten umstritten und Pflichten unerfüllt blieben. Wer seine Forderungen nicht selbst durchsetzen konnte, war letztlich auf die Unterstützung der Obrigkeit angewiesen. Aber auch die Allgemeinheit selbst war daran interessiert, dass Unterstützungspflichten erfüllt wurden: Andernfalls konnte es geschehen, dass die Gemeinde für gewisse Unterstützungsleistungen aufkommen musste. Gründe für mögliche Rechtsklagen gab es genug: Kosten für Unterhalt, Pflege, Verköstigung, Beherbergung und Bekleidung pflegebedürftiger Menschen wurden eingefordert, unerwartete Mehrkosten in Rechnung gestellt, Schuldforderungen erhoben, Erziehungs-, Fürsorge- und Aufsichtspflichten angemahnt, Verwahrlosungsfälle gemeldet, Nutzniessungsansprüche aller Art bekräftigt, Erhöhungen von Unterhaltsbeiträgen erbeten, Missbrauch von Frauen- bzw. Leibgut angezeigt, ungetreue Amtsführung von Vögten beklagt, Haftpflichtforderungen gestellt, usw.100 Die unzähligen Klagen lassen ermessen, dass gegenseitige Unterstützung auch unter Verwandten nicht selbstverständlich war. Geradezu kleinlich wurden bisweilen Hilfsleistungen verrechnet. So zählte Maria Anna Zniderist 1766 säuberlich auf, was sie ihrem Sohn in den vorangegangenen Jahren geschenkt bzw. geleistet hatte: Fünf Pfund Anken, Spinnarbeiten für drei Gulden, 29 Ellen Stoff für Hemde und Brusttücher, zwei Schafe für acht Gulden, ferner mehrere kleine Bargeldbeträge. Zniderist stellte ihrem Sohn sogar die kurzweilige Pflege seiner kranken Ehefrau und der beiden Enkel in Rechnung. Dass aber nicht Engherzigkeit die Frau antrieb, wurde aus ihrer folgenden Begründung ersichtlich:101 [Sie] vermeinte auch, der sohn hätte ursach, sie nachen zu nehmen und in seiner behausung zu gedulden, weilen sie allt, arm und lahm auf einer seithen, und also etwas wenigs hilf vonnöthen habe, für solche hilf aber thu sie ihm und den seinigen allzeit etwas verguten, so vill ihrer armuth möglich.

Was also hatte die alte Frau zu ihrer peinlich genauen Aufzählung bewegt? Sie wollte ihrem Sohn letztlich glaubhaft machen, dass sich die Unterstützung seiner 100 Die besagten Gerichtsfälle sind derart zahlreich, dass sich genauere Belege hier erübrigen. 101 Vgl. ETP 13.346–347.

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gebrechlichen Mutter für ihn wirtschaftlich auszahlte. Dass Zniderist ihren Gedankengang vor Gericht dargelegte, war dabei nicht unerheblich: Liess sich ihr Sohn von ihrer Rede nicht erweichen, so durfte sie immer noch auf die mahnenden Worte der Gerichtsherren hoffen. Die alte Frau mochte gebrechlich sein: Ungeschickt war sie sicher nicht.

g) Spend und Almosen Auch die Gemeinde erfüllte gewisse Unterstützungsleistungen. Unter den gemeinnützigen Einrichtungen stand die Spend an erster Stelle. Die Spend war eine öffentliche Fürsorgekasse, die von Kloster und Gemeinde gemeinsam gespeist wurde. Schenkungen aller Art stellten wohl die bedeutendste Einnahmequelle der Spend dar. Der sogenannte Spendvogt war für die Verwaltung der Kasse verantwortlich und musste Abt und Gericht regelmässig eine Spendrechnung vorweisen. Häufig wurde der Säckelmeister mit diesem Amt betraut. Dem Gericht blieb jedoch vorbehalten, über die Bewilligung eines Beitrags zu entscheiden. Wer allerdings dauerhaft Spendbeiträge beanspruchte, musste gelegentlich die Bewilligung an der Gemeindeversammlung einholen. So verweigerte das Gericht Anton Waser 1770 einen Spendbeitrag mit der Begründung, „es wolle und könne von deme, zu welchem das gantz thahl immer und für und für steüren müesse, nichts eigenmöchtig gäben, wurde es sich – wie des öfteren schon geschechen – schmählereien zuziechen“.102 Wer erhielt Unterstützung von der Spend? Vornehmlich waren es Waisen und Witwen, Verunfallte, Erkrankte, Schwangere, Kindbetterinnen, Behinderte aller Art sowie Brand- und Wassergeschädigte. Auch der Hebammenlohn wurde bekanntlich mit den Mitteln der Spend bestritten. Entsprechende Hilfsgesuche wurden an den Gerichtssitzungen regelmässig behandelt. Die Bittsteller waren meist Talangehörige, aber auch Auswärtige fanden sich unter ihnen. Gerade bei Brandunglücken war es üblich, dass die Geschädigten umliegende Gemeinden um Beisteuern erbaten. So unterstützte das Gericht einige Brandgeschädigte aus Stansstad 1773 mit der Begründung:103 Dass iedemme mann disere unsere nachbahren zu allen zeiten bei tag und nacht benötiget seie und fahls mann ihnen mit keinerley gegendienst gefähligkeiten begegne, gar leicht [...] schedliche und vertriessliche widerwertigkeiten verursachen können, müesse man in diserem vorfahl über des thallseckhels vermögen denselben in ihrem ansuechen begegnen.

102 Vgl. ETP 14.450. 103 Vgl. ETP 16.9–10, ferner 18.133–139.

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Die gegenseitige Unterstützung lag also im Interesse aller. Ferner erhielten auch vorbeiziehende Gäste einen Zehrpfennig aus der Spend. Vertreter von Gottes- und Krankenhäusern wurden ebenfalls mit einer kleinen Gabe bedacht sowie die Wärter von Bergpässen – besonders letztere Spenden waren angesichts des starken Saumhandels, den das Hochtal betrieb, leicht nachvollziehbar.104 Manche Gönner der Spend verknüpften ihren Zuschuss mit geistlichen Leistungen. So spendete der kinderlose Hans Markus Infanger 1764 der Spend 300 Pfund mit der bedingnus, dass die spendt dem jenigen, so den abendrosenkrantz vorbettet, jährlich geben solle 1 gl. 25 s., und wan ein Infanger sich befindet, der den rosenkrantz vorbetten will, soll jederzeit ein Infanger darzu genommen werden. Wan aber kein Infanger wäre oder solches thun wollte, mag der jeweilige spendvogt ein anderen nach belieben bestellen, damit der abendrosenkrantz fleissig gebetten werde.

Auch die Geschwister Karl Geni und Maria Plazida Amstutz mussten 1786 einen Tod in der Kinderlosigkeit befürchten. Beide machten sich darum Sorgen, dass nach ihrem Tod niemand für sie beten würde. So entschieden auch sie sich für eine Schenkung zugunsten der Spend: Damit sie [...] bey unverhoffter ereignus eines frühzeitigen und kinderlosen todts auch für ihr seelenheyl und das ewige etwas von ihren mit saurer arbeit errungenen mittlen anwenden, so vermachen sie hiermit und vergaben an allhiesige spendt 800 lb, damit von selben der jährliche zins mgl 15 denen armen und derselben gebet ihren abgeleibten seelen oder welche es dan bedürftig, zu gut und zum trost komme.

Die Spend sorgte also nicht nur für das Wohlergehen der Lebenden, sondern auch für das Seelenheil der Verstorbenen. Dass sich Lebende und Verstorbene dabei gegenseitig unterstützen konnten, war kein geringes Verdienst der Spend.105 Die Spend war zweifellos für die Mittellosen bestimmt. Doch kam gelegentlich vor, dass auch unberechtigte Bittsteller den Spendvogt angingen. So beklagte sich Statthalter Jakob Langenstein 1688 vor Gericht, „das[s] etwelche die Speng nehmmen, die guete Mittel und ehrlich zuo hausen haben“. Das Gericht hielt darauf fest, man solle „denjenigen, so ein Güetli haben, item die starckh und nit arbeithen wollen“, keine Beiträge zukommen lassen. Dem Spendvogt wurde auch bei späterer Gelegen-

104 Vgl. Hess (1956: 118). 105 Vgl. ETP 13.276–277 und 17.645.

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heit eingeschärft, „niemand ichtwas zuo geben als Alten, Krankhen und Schwachen oder anderen dergleichen“.106 Wer von der Spend keinen Beitrag erhielt, konnte immer noch Almosen erbetteln. Oftmals waren die ausgestreckten Hände jedoch zahlreicher als die verfügbaren Mittel. Abt Joachim Albini musste 1714 mit nicht geringem Verdruss feststellen,107 wie namblichen dermahlen vill arme frömbde Leüth und gantze Haushaltungen ins Thal khomen, und mit grossem Ueberlast der Thalleüthen nit nur ein oder 2 Däg, sunder gantze Wochen lang so wohl bey den Häuseren als auf den Alppen das Allmuesen einsamblen, wordurch die Thalleüth entkräftet werden, die inheibsche arme Leüth nit nur im Windter sunder auch schon vast dermahlen zu erhalten [...]. Es ist Ihro Hochwürden Gnaden auch klagt worden, wie das[s] auch under den hiesigen armen Leüthen ainige seyen, welche mit deme, was man ihnen dem Vermögen nach gibet, nit nur nit zufriden sind, sonderen mit Murren Schmählen und Bochen das Allmuesen erzwingen wollen.

Anstoss nahm der Abt insbesondere daran, dass sich auch junge und arbeitsfähige Menschen der Bettlerei hingaben. Das aufdringliche Verhalten mancher Bettler war ferner kaum geeignet, barmherzige Gefühle zu wecken. Der Abt hatte sich schon wiederholt darüber entrüstet, wie sorglos manche Bettler mit ihren Mitteln umgingen. Man erinnere sich an die Familie Lienhart Zniderists, die 1710 ihren Hausgästen erbettelte Armenspeisen aufgetischt hatte. Manche Almosenbezüger spielten auch immer wieder um Geld, wobei sich dieser Missbrauch trotz unzähliger Verbote nicht abstellen liess.108 Ungern sah man es auch, wenn Bettler ihre Mittel für den Genuss alkoholischer Getränke oder Tabakwaren aufwendeten.109 Auch in ihrer Erscheinung gaben sich viele Bettler keine Blösse. So hatte Abt Joachim Albini bereits 1711 angeordnet, dass alle, die Spend oder das Gottshaus-Muess und Allmuesen nehmen, die sollen sich aller Spitzen, seiden oder floret seidenen Bendel oder Bindellen, und Galaunen so wohl an Kragen, Brüsten als Kleidern, item der Sammetkappen, so dan auch der Ramen Schuehen bemüessigen und enthalten.

Noch 1770 musste Abt Leodegar Salzmann über die Kleidung mancher Spend- und Almosenbezüger klagen, die sich „gar nicht vor den besser bemittlethen oder auch 106 Vgl. ETP 4.274–275 und 4.495–496. 107 Vgl. ETP 7.442–445. 108 Vgl. etwa ETP 11.585, 11.630, 13.102 und 20.99–100. 109 Vgl. etwa ETP 4.434–435 und 14.414–417.

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besten pauren möchten erkenth werden, oft die selbe an aufbutz noch überträffe“. Schliesslich wurde 1787 angeordnet, dass alle Bettler ein schwarzes oder weisses viereckiges Tuchstück an ihr Oberkleid heften sollten. Den Bettlerinnen war ohnehin seit geraumer Zeit verboten, ihren Kopfbedeckungen Rosen aufzusetzen. Den Armen blies – wie schon bei den Ehebeschränkungen – allmählich ein eisigerer Wind entgegen. Die Vorzeichen des 19. Jahrhunderts waren unverkennbar.110 Abt und Gericht bekämpften das Almosenwesen nicht grundsätzlich. Barmherzigkeit gehörte zu den heiligsten Pflichten jedes Christen: So sprach ja das Talbuch von »heiligen Almosen«, wenn es um die Unterstützung von Waisenkindern ging.111 Gegenüber armen Leuten war allen „ein christenliches mitleiden, grosse gedult undt barmhertzikeit“ geraten, wie es „nit alein das gesatz der natur sonder auch das im h. evangelio aus dem süössen mundt Christi Jesu ausgeschribene gesatz“ nahelegten. Abt Leodegar Salzmann seinerseits versprach 1769 bei seiner Antrittsrede vor der Talgemeinde, „an mir sollen die beträngte und ungerecht undertruckhte, besonders wittwen und weysen, einen kreftigen beschützer, die unglückhliche, presthafte arme einen liebreichen vater“ erfahren.112 Wer allerdings unberechtigt dem Bettel nachging, entzog mittelbar den wirklich Bedürftigen die ihnen zustehenden Mittel. Die Brandmarkung der Bettler, wie sie sich im späten 18. Jahrhundert feststellen lässt, war zweifellos zur Abschreckung dieser falschen Bettler gedacht. Doch die abschreckende Wirkung traf auch jene, die zum Betteln allen Grund hatten. So war die 32-jährige Anna Barbara Hurschler 1771 auf Hilfe angewiesen, da sie ebenso von Armut wie von Krankheit geplagt wurde. Als sie eine kostspielige Kur nach Baden berappen musste, liess sie das Gericht durch ihren Bruder um Unterstützung bitten. Das Gericht bewilligte das Gesuch, mahnte aber die kranke Hurschler zugleich, sie solle „sich nit wie bis dahin schämmen oder zu hoffärtig sein und nit bättlen wollen“. Hurschler schämte sich also, sich öffentlich als Bettlerin auszuweisen, obwohl ihr die Berechtigung dazu nicht fehlte.113 Wer vor den Augen aller dem Bettel nachging, kam um den Fingerzeig der Öffentlichkeit kaum umhin. Dies verdeutlicht letztlich die Grenzen, die einer öffentlichen Unterstützungsleistung gesteckt waren. Wer sich anders versorgen konnte, traf wohl eine rasche Wahl. Also lässt sich zusammenfassen: Familie und Verwandtschaft waren zweifellos Solidaritätsgemeinschaften, deren Angehörige sich gegenseitig unterstützten. Recht

110 Vgl. etwa ETP 5.369–370, 14.414–417, 14.497–498 und 16.526–528. 111 Zur Bewertung des Bettel- und Almosenwesens in der katholischen Christenheit vgl. Hersche (2006: 770–780). 112 Vgl. ETP 2b.590–594 und 15.50–54. 113 Vgl. ETP 14.488.

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und Sitte geboten es, bedrängten Verwandten zu helfen. Doch die bindende Kraft dieser Verpflichtungen sollte nicht zu hoch eingeschätzt werden. Erstens fällt auf, wie oft Unterstützungsleistungen bzw. –pflichten vertraglich abgesichert wurden. Dies war auch und gerade unter Verwandten der Fall. So wurde die herrschaftliche Kanzlei von den Talleuten immer stärker in Anspruch genommen, insbesondere bei der amtlichen Beglaubigung und Eintragung von Verträgen. Schriftliche Absicherungen waren nötig, weil der verwandtschaftliche bzw. gesellschaftliche Druck alleine nicht ausreichte, um Unterstützungsleistungen von Verwandten durchzusetzen. Wer zweitens für eine Notlage vorsorgen wollte, tat gut daran, nicht nur auf blosse Verwandtschaftsbeziehungen zu bauen. Verwandte verlangten für ihre Unterstützungsleistungen meist eine Gegenleistung: Umsonst wurde unterstützungsbedürftigen Angehörigen selten geholfen. Wer sich also für eine unsichere Zukunft absichern wollte, musste an seinem bestehenden Verwandtschaftsnetz arbeiten. Die Solidarität der Verwandten musste aktiv herbeigeführt, ja sogar bezahlt werden. Unter Umständen mussten Unterstützungsleistungen sogar gerichtlich eingefordert werden, wie diesbezügliche Rechtsklagen belegen. Die wirkliche Wertigkeit von Verwandtschaftsbeziehungen konnte also sehr unterschiedlich ausfallen: Solidarität war unter Verwandten keineswegs vorauszusetzen. Drittens ermöglichten es amtlich beglaubigte Vertragsschlüsse, solidarische Beziehungen ausserhalb des Familienkreises zu knüpfen. Wenn das Verwandtschaftsnetz zu wenig tragfähig erschien, konnten Fremde durch entsprechende Gegenleistungen zu Hilfe und Unterstützung verpflichtet werden. Talleute konnten sich ein gesellschaftliches Auffangnetz schaffen, das sich nicht auf ihre Verwandtschaft beschränkte. Viertens konnten Unterstützungsbedürftige nur beschränkt auf öffentliche Hilfe zählen. Die Vor- und Fürsorge baute vornehmlich auf der Solidaritätsgemeinschaft, die sich der bzw. die Einzelne im eigenen Umfeld zu schaffen verstand. Die öffentliche Vor- und Fürsorge war hingegen schwach ausgebaut, erst recht aus heutiger Sicht. Doch die damaligen Solidaritätsgemeinschaften waren häufig nicht weniger leistungsfähig als es die heutigen Vor- und Fürsorgeeinrichtungen sein mögen.

3.2.2 Übler Lebenswandel Hans Amstutz fand in der Nacht auf den 25. Januar 1663 wohl nur schwerlich den Schlaf. Auf diesen Tag nämlich hatten Abt und Gericht seinetwegen einen Geltentag angesetzt: Damit waren alle Gläubiger Amstutz’ aufgerufen, ihre Schuldforderungen öffentlich anzumelden. Am folgenden Abend stand schliesslich klar, dass Amstutz mit 1‘200 Gulden verschuldet war – nach damaligen Verhältnissen eine

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grosse Geldsumme. Amstutz konnte dem Auffall (d.h. dem Konkurs) nicht mehr entkommen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des 46-jährigen Amstutz’ hatten sich bereits früher abgezeichnet, denn er war schon einige Zeit zuvor zu einer Rechnungsablage verpflichtet worden. Abt und Gericht erkannten die missliche Lage Amstutz’ jedoch erst anfangs 1663. Amstutz konnte sich seine Verschuldung selbst nicht erklären und bemerkte noch am 10.  Januar vor Gericht, „dass er glichsam unwüssend in solchen tiefen und schweren schulden last kommen“. Die Dorfoberen hielten Amstutz dagegen vor, „wie liechtsinnig er gehauset“ und durch seine Misswirtschaft andere Talleute „inn grossen schaden und nott gesteckt“ hatte. Dass Amstutz als Statthalter und Gerichtsherr ein denkbar schlechtes Vorbild abgab, machte die Sache nicht besser. Es half auch nichts, dass sich Amstutz’ ältester Sohn bereit erklärte, mindestens für einige Güter einzustehen. Stumm verliess Amstutz die Gerichtssitzung und erkrankte gleichentags, so dass er „aus kummer ins bett“ kam und später nicht mehr vor Gericht erschien. Am nächsten Tag kam die Verwandtschaft Amstutz’ in die Ratsstube und suchte Abt und Gericht milde zu stimmen. Dass Ammann Andres Kuster selbst die Bittsteller vertrat, verwunderte gewiss niemanden: Kuster hatte Amstutz’ Mutter 1619 geheiratet und den verwaisten Amstutz als seinen Stiefsohn aufgezogen. So bat Kuster Abt und Gericht, dass man seinen Stiefsohn mit gnaden annsechen und nach bermhertzigkeit procedieren welle, ihmme sein hindersich oder übel husen nit zum bösen ausdeuten, dann so vill ihnen [d.h. der Verwandtschaft] bewüsst, habe er das seinige nit mit sünd oder lasteren sonder aus fahrlessiger güettigkeit verhuset, habe auch vill leüten willig gedienet und auch damit seine sachen verabsumet.

Abt und Gericht enthoben darauf Amstutz seiner Ratsstelle, stellten seine Kinder und seinen Besitz unter Vogtei und wiesen den Verschuldeten vorübergehend nach Nidwalden aus. Die endgültige Ausweisung Amstutz’ wurde nach dem anberaumten Geltentag ausgesprochen. Einige Zeit später kehrte Amstutz wieder ins Hochtal zurück, jedenfalls starb er 1665 in seiner Heimat – völlig verlassen und arm, wie in seinem Sterbeeintrag vermerkt wurde. Von seinem gesellschaftlichen Sturz erholte sich Amstutz offenbar nie.114 Wer einen Geltentag erdulden musste, verlor also mehr als nur seinen Besitz. Der öffentlichen Demütigung folgte die Einbusse jeder geschäftlichen Vertrauenswürdigkeit. Führte die Zahlungsunfähigkeit zum Auffall, war sogar der Verbleib im 114 Zum Fall Hans Amstutz’ vgl. ETP 2b.680–683, 2b.687 und 3.3 sowie den Eintrag im Sterberegister vom 16.04.1665.

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Hochtal mehr als ungewiss. Wer zuvor Haus und Hof besessen hatte, konnte sich unversehens mit dem Hausrat, der nach der Gant übrigblieb, auf der Landstrasse befinden und in eine sehr unsichere Zukunft blicken. Wie aber konnte es so weit kommen? Es musste keine leere Ausrede sein, wenn Hans Amstutz erklärte, er sei gleichsam unwissend in grosse Schulden geraten. Als z.B. Adam Waser 1674 in einen Auffall geriet, fiel es selbst Abt Ignaz Betschart schwer, sich eine Übersicht über dessen Geschäftslage zu verschaffen. Besonders die Gültenrechnung bot in diesem wie in anderen Fällen erhebliche Schwierigkeiten. Das erstaunt wenig, wenn man um die Dichte und Vielschichtigkeit des damaligen Grundpfandwesens weiss. Wasers eigene Gültenaufstellung enthielt etliche Fehler, „wil Adam so übel gehuset, andere [Gülten] angesetzt, gülten auf gülten teils gmacht, theils nit abgeschaffet“. Der Abt errechnete schliesslich „nach flissigem überschlag undt müöhsammer abtheillung“ eine Schuld von knapp 20‘000 Pfund. Er entwarf ferner einen ausführlichen Plan, wie Wasers Besitz aufzulösen und welche Gläubiger wie zu entschädigen seien. Die Gerichtsherren stimmten dem äbtischen Vorschlag rasch zu und waren spürbar erleichtert, nicht selbst nachrechnen zu müssen. Ein Gerichtsausschuss wurde mit der Umsetzung des Planes beauftragt, doch fiel es diesem nicht leicht, die Gläubiger von der Richtigkeit des Vorgehens zu überzeugen. Bezeichnend war der Ausruf eines ungeduldigen Gläubigers, das Gericht helfe lediglich „dem Adam das Lumpenwerch verdecken“.115 Angesichts dieser Mühen kann es also nicht überraschen, dass ein einzelner Talmann die Übersicht über seine Geschäfte verlieren und sich unversehens verschulden konnte. Andere Talleute hingegen wussten um ihre Verschuldung, waren jedoch nicht in der Lage, ihren Kopf selbst aus der Schlinge zu ziehen. So bat Anton Häcki 1717 Abt Joachim Albini um Hilfe, weil er seine Schuldenlast nicht mehr selbst abbauen konnte. Allein die Übersicht über Häckis Geschäftsgang beanspruchte acht Schriftseiten, wie aus den Talprotokollen ersichtlich wird.116 Verschuldete versuchten gelegentlich, sich durch den Verkauf ihres Bauernguts ihrer Schuldenlast zu entledigen, sofern der Erlös zur Schuldentilgung überhaupt ausreichte. Damit aber beraubten sie sich auch der Mittel, um für den Unterhalt ihrer Familie sorgen zu können. Solche Verkäufe wurden dementsprechend nur widerwillig gewährt: So musste Konrad Athanas Waser 1726 unzählige Anläufe nehmen, bis ihm der Verkauf seines Guts in der Wegscheid unter strengen Auflagen bewilligt wurde.117 Erst vier Jahre zuvor hatte Abt Joachim Albini den Auffall Hans Bernhard Hurschlers unbedingt verhindern 115 Vgl. ETP 3.224–225, 4.3, 4.4 und 4.8. 116 Vgl. ETP 6.271–278. 117 Vgl. ETP 8.276–284 und 8.371–379.

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und „alle ersinnliche Mittel ausfinden wollen, wie ihme [d.h. Hurschler], dass er nit von Haus und Heimmet verstossen werde, geholfen werden könnte“. Doch Hurschler war – nicht zuletzt wegen seines Kinderreichtums – zu sehr in die Schulden geraten. Der Wegzug Hurschlers aus dem Hochtal liess sich nicht mehr vermeiden: Er verliess das Hochtal am 9. Dezember „bey dem grösten schnee und kalten wetter“ mit seiner Ehefrau und ihren sieben Kindern – die jüngste Tochter war gerade einmal einjährig.118 Übermässige Verschuldungen kamen selten von alleine. Zunächst ist festzuhalten: Es waren Gutsbesitzer und nicht Besitzlose, die in einen Auffall geraten konnten. Verschulden konnte sich nämlich nur, wer über entsprechende Pfandwerte verfügte. Warum aber nahmen manche Talleute derart Schulden auf, dass sie zahlungsunfähig wurden? Sicherlich belastete eine zeitweilige Teuerung der Grundnahrungsmittel (v.a. des Getreides) die Geldbeutel der Talleute. Auch der Ausfuhrhandel mochte mit seinen Preis- und Nachfrageschwankungen manche Talleute vorübergehend in Bedrängnis bringen. Teuerungsspitzen und Marktebben reichen jedoch als Erklärung für Verschuldungen nicht aus, zumal sich begüterte Vieh- und Milchbauern in einer eher bevorzugten Lage befanden. Die Zeitgenossen stellten einen solchen Zusammenhang jedenfalls in keinem überlieferten Verschuldungsfall her. Übermässige Verschuldung wurde vielmehr auf »übles Hausen«, d.h. auf Misswirtschaft und Sorglosigkeit zurückgeführt. Eine »krebsgängige Hauswirtschaft« konnte einerseits auf geschäftliches Ungeschick deuten. So erklärte das Gericht 1744 die wirtschaftliche Notlage Karl Anton Hurschlers nicht zuletzt dadurch, dass er „ungeschickt märchte und handle“. Beträchtliche Geldsummen, die Hurschler nachweislich eingenommen hatte, waren innert kurzer Zeit spurlos versickert. Auch von Anton Cattani musste man 1786 feststellen, dass er sich „mit verthun und verbrauchung seiner schönen und nammhaften mittlen“ selbst heruntergewirtschaftet hatte.119 Andererseits wurde von üblem Hausen gesprochen, wenn sich der Verschuldete durch ungewöhnliche Trägheit auszeichnete. So wurde manchen Verschuldeten vorgeworfen, sie unterhielten Haus und Gaden nicht, sammelten keine Streu, führten keinen Mist auf die Matten aus, vernachlässigten die Heuernte, nutzten ihre Holzrechte übel, usw. Denselben wurde auch vorgehalten, sie übersetzten ihre Güter mit Gülten, griffen nach dem Frauengut ihrer Gattinnen, zahlten ihren Kindern ihre Erbteile nicht aus, brächten ihre Geschwister um ihr Erbe, usw. Wenn es also 1667 von Jörg Kuster hiess, er habe in seinen Geschäften „gröblich gefelt, ellend gehuset, nichts gearbeitet, zur sach geschwiegen, die von tag zuo 118 Vgl. ETP 6.374–376a und 8.27–28. 119 Vgl. ETP 11.243–248, 11.444 und 16.454–463.

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tag wer böser worden“, so bezeichnete diese Aufzählung nach damaliger Auffassung genau jene Ursachen, die zu übermässiger Verschuldung führen konnten: geschäftliches Ungeschick, sorglose Bewirtschaftung, Trägheit und mangelnde Übersicht.120 Die Verwandtschaft der Verschuldeten wurde unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen. Verwandtschaftliche Bande glichen diesbezüglich einer Seilschaft beim Bergsteigen: Unter günstigen Umständen konnte der Sturz des einen von den anderen Angeseilten aufgefangen werden. Schlimmstenfalls jedoch konnte der Sturz des einen alle übrigen in die Tiefe mitreissen. Manche Verwandte erklärten sich bereit, ihren verschuldeten Angehörigen zu helfen. So konnten die Angehörigen die angehäuften Schulden ganz oder teilweise auf sich nehmen. Ferner besassen Verwandte oft Gülten, die auf dem Bauerngut des Verschuldeten lasteten: Sie konnten auf ihre Zinsforderungen vorübergehend verzichten oder sich in der Rangfolge der Gülten zurückstufen lassen. Wenn die Ehefrau bzw. deren Familie über genügend Mittel verfügten, konnten sie die verschuldeten Güter selbst übernehmen. War ein Auffall unvermeidbar, so konnte die Verwandtschaft immerhin ein gutes Wort für den Verschuldeten vor Gericht einlegen. Je höher das Ansehen der Verwandtschaft, desto milder gestaltete das Gericht das jeweilige Auffallverfahren.121 Andere Angehörige versuchten hingegen das Sicherungsseil rechtzeitig durchzuschneiden. So weigerte sich Melcher Matter 1608 standhaft, für die Schulden seines Sohnes einzustehen, „wil ein Vatter für den Sohn zuo zallen nitt schuldig“. Matter berief sich darauf, rechtlich nicht für seinen Sohn haften zu müssen. Auch Elisabeth Schillinger weigerte sich 1622, offene Rechnungen ihres Ehemannes zu begleichen. Der Gläubiger hatte seine Forderung an Schillinger damit begründet, dass „die Frauw mit dem Man Hus habe“. Schillinger stritt jedoch jegliche Haftung ab und begründete ihre Haltung damit, dass ihr Ehemann sie nicht mehr versorgte und von ihr „lang weder Hunger noch Frost gewendt“ hatte. Auch Anna Dillier musste sich 1669 einer Haftungsklage erwehren, die ihr die Schuldenwirtschaft ihres Sohnes Jörg Kuster eingetragen hatte. Die Gläubiger sahen die Haftungspflicht der Mutter gegeben, weil nämlich Mutter und Sohn „teil undt gmein gehabt, sollen muotter undt sohn billich mit einandern zalen“. Die Gläubiger rechtfertigten ihre Ansprache damit, man habe bei den Geschäften „nit dem Görg sonder der muotter verthruet“, und erinnerten auch daran, „dass sie selbs versprochen in einem undt dem anderen ohrt zuo bezalen“.122 120 Vgl. neben den bereits genannten Fällen auch ETP 3.70–71, 3.74, 3.139–140, 3.152, 4.349 (damit verbunden 3.240–241), 11.488–489, 11.586–587, 16.154 und 16.454– 463. 121 Vgl. u.a. ETP 2b.680–681, 3.70–71, 3.74, 6.271–278, 6.374–376a und 13.266–267. 122 Vgl. u.a. ETP 1.119–121, 1.352, 3.79–81 und 3.139–140.

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Verwandte mussten andererseits nicht nur Schuld-, sondern auch Unterhaltsforderungen gewärtigen. So war Hans Geni Töngi 1744 nach seinem Auffall ins Wallis gezogen und hatte seine Ehefrau mit ihren drei Kindern im Hochtal zurückgelassen. Die Ehefrau klagte darauf Töngis Geschwister auf Unterhaltszahlungen ein, doch diese weigerten sich mit der Begründung, „es könte ein anderer auch also hausen, wie ihr bruder Eugeni und dan darvon gehen und die kinder der freundtschaft hinderlassen“. Die Geschwister legten der Frau nahe, mit den Kindern zu ihrem Ehemann ins Wallis zu ziehen.123 Andere Verwandte wiederum mussten um ihr eigenes Gut fürchten. So klagte Niklaus Töngi 1666 gegen seine Schwiegermutter Anna Dillier, weil diese angeblich ihr Vermögen vergeudete. Töngi sah nicht nur sein Erbteil schmelzen, sondern fürchtete sich vor allfälligen Haftungsklagen. Kaum besser erging es 1744 Karl Anton Kuster, der seinem Bruder Hans Geni Kuster eigene Güter als Lehen übergeben hatte: Dieser trieb auf den Gütern eine solche Misswirtschaft, dass jener um seinen Besitz fürchten musste. Ähnliches erlebten die Brüder Cattani, als sie von ihrem Bruder Anton 1786 verschiedene Güter zurückforderten. Solche Rechtsklagen waren für die Betroffenen ausserordentlich peinlich, wurden doch dabei Familienangelegenheiten in aller Öffentlichkeit breitgetreten. Den geschädigten Verwandten war klar, dass „ein angriff an ehr und guten nahmen unter brüderen und nechsten freünden undienlich und anstössig“ war und auch ihnen selbst schadete, doch blieb ihnen keine andere Lösung übrig.124 Manche Verwandte schliesslich konnten oder wollten sich nicht rechtzeitig losbinden. Man kann sich dabei den Fall Hans Bernhard Hurschlers vergegenwärtigen, dessen Ehefrau und Kinder 1722 das Hochtal im winterlichen Schneesturm verlassen mussten. Schlimmer noch war es 1698 der Familie Hans Melcher Müllers ergangen, der „sich sambt seiner Frauw undt Kindern mit Sackh undt Packh ohne Vorwüssen [...] aus dem Thall flüchtig gemacht“. Es stellte sich heraus, dass Müllers Frau Maria Barbara Dillier zuvor in aller Eile Hausrat verkauft hatte, um etwas Geld und Getreide aufzutreiben. Dillier hatte es wirklich nicht leicht, stand sie doch knapp vier Monate vor der Geburt ihres fünften Kindes. Erst viele Jahre später scheinen Dillier und zwei ihrer Töchter ins Hochtal zurückgekehrt zu sein.125 Wenig besser erging es 1744 der Familie des ausgewiesenen Hans Geni Töngi: Sie blieb ohne jegliche Unterstützung der väterlichen Verwandtschaft im Hochtal zurück. Eben wurde festgestellt, dass Verschuldungen oft auf Misswirtschaft und Sorglosigkeit zurückgingen. Wie aber erklärte sich dieses üble Hausen? Warum liessen man123 Vgl. ETP 11.420–422. 124 Vgl. ETP 3.49–50, 11.488–489, 11.586–587 und 16.454–463. 125 Vgl. ETP 4.414–415, 4.417–418, 4.422–423 und 7.446–448 sowie StB Müller 42.

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che Talleute ihre Güter derart verfallen? Diese Fragen beschäftigten auch die damalige Engelberger Gesellschaft. Übles Hausen war jedenfalls nach zeitgenössischer Auffassung an verschiedenen Anzeichen zu erkennen, vornehmlich den folgenden vier: (a) Müssiggang, (b) Spielsucht, (c) Trunksucht und (d) Unfrömmigkeit.

a) Müssiggang Der Begriff des Müssiggangs bezeichnete die Neigung zum unerzwungenen Nichtstun. Es wurde bereits erwähnt, dass manche Verschuldete ihre Güter schlicht verfallen liessen. Diese Sorglosigkeit minderte den Ertrag der Tal- und Alpgüter in erheblichem Masse – es sei hier daran erinnert, wie gross der Aufwand für die Bewirtschaftung dieser Güter war. Den Müssiggängern wurde angelastet, sie verbrächten ihre Zeit mit blossem »Herumlaufen« und »Herumschwärmen in und ausser dem Tal«.126 Häufig hielten sie sich auch in Wirtshäusern und Hausstuben auf, deren Ruf meist zweifelhaft war. Der Müssiggang schien eine Sache der persönlichen Einstellung zu sein: Deshalb legte die Obrigkeit besonderen Wert darauf, dass sich Kinder und Jugendliche erst gar nicht an das Nichtstun gewöhnten. Wer die Erziehung von Waisenkindern übernahm, wurde daran erinnert, „dass dise kinder in dem christ-cathol. glauben wohl underwisen und von allem bösen sonderlich von dem müessiggang abgehalten werden“ müssten.127 Der Vermeidung des Müssiggangs kam damit derselbe Stellenwert zu wie der Glaubenserziehung! Der Müssiggang war nach Auffassung der Obrigkeit einer der Hauptgründe für die Armut im Hochtal. So wurde 1688 beklagt, dass „wegen gewohntem muössigang und daher fliessenden nothwendigen armuoth das gemeine wesen von tag zu tag merckhlich beschädiget wurdt“.128 Abt und Gericht kämpften auch bei unzähligen Gelegenheiten dagegen an, dass junge, arbeitsfähige Menschen sich der Bettlerei hingaben.129 Als das Kloster 1761 das Geschäft der Seidenkämmelei aufzog, reihte sich diese Massnahme in die lange Reihe von Versuchen, „das laster des müessiggangs auszureüthen“.130 Da vornehmlich Frauen und Kinder mit dem Kämmeln beschäftigt werden sollten, drängt sich die Feststellung auf, dass sich der Müssiggang – zumindest in den Augen der Obrigkeit – nicht alleine auf die Männer beschränkte.

126 Zu diesen Begriffen vgl. ETP 2b.645 und 16.454–463. 127 Vgl. ETP 11.33 und 11.130–132. 128 Vgl. Schnell (1858: 124). 129 Vgl. ETP 2b.657, 4.274–275, 4.324–325, 4.353, 4.495–496, 5.272–273, 7.406–407, 7.442–445, 7.448–449, 14.414–417 und 16.526–528. 130 Vgl. ETP 13.163–165.

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Nähme man die Überlieferung beim Wort, so käme man unweigerlich zum Schluss, dass ein guter Teil der Bevölkerung arbeitsscheu gewesen wäre. Eine solche Folgerung lässt jedoch stutzen. Es schiene ratsam, das bezeichnete Verhalten säuberlich von jenen Begriffen und Vorstellungen auseinanderzuhalten, mit denen es die Dorfoberen zu beschreiben suchten. Auf den Begriff des »Müssiggangs« wird jedenfalls zurückzukommen sein (vgl. Abschn. 4.4).

b) Spielsucht Die Talleute schätzten alle möglichen Arten von Spielen und Wetten.131 Besonders beliebt waren Kartenspiele wie Flüsslen, Troggen, Kaisern, Munten, Bocken, Oberländern und weitere Spielvarianten.132 Der eigentliche Jass jedoch kam erst im 19. Jahrhundert auf.133 Gesellige Runden kamen auch beim Würfelspiel zusammen. Im Freien frönte man dem Plattenschiessen, einem beliebten Wurfspiel, und dem Kegelspiel. Selbst das Kloster besass oberhalb der Ochsenmatt ein kleines »Lusthaus«, wo ein Kegelplatz eingerichtet war und den Konventualen Erholung bot.134 Von den Kraftspielen unter männlichen Jugendlichen wird an späterer Stelle noch die Rede sein. Aber auch Wetten aller Art erfreuten sich grosser Beliebtheit. So schlossen Alfons Benedikt Kuster und Ignaz Benedikt Hess mit Hans Jörg Zniderist um 1711 eine Wette ab, dass er in den folgenden drei Jahren nicht heiraten werde. Als sich der ledig gebliebene Zniderist weigerte, den Wetteinsatz auszuzahlen, belangten ihn die geprellten Wettsieger vor Gericht. Diese wollten umso weniger auf ihren Gewinn verzichten, als Zniderist dank einer ähnlichen Wette selbst um ein Schaf reicher geworden war. Auch Sepp Geni Kuster und Geni Domini Waser nahmen 1731 ihre Wette ernst: Beide hatten einen verwickelten Erbfall ersonnen und darauf eine Wette abgeschlossen, wie der Erbgang rechtlich zu regeln sei. Sie waren „destwegen so hoftig an ein ander gewachsen, dass sie gegen ein ander ein rind gesezt, wer recht habe“. Da sich die Wettpartner jedoch nicht auf die Lösung einigen konnten, ersuchten sie das Gericht um Rat. Die Gerichtsleute waren von der Wette allerdings wenig angetan.135 131 An dieser Stelle sei auf die verdienstvolle Arbeit Georg Dufners (1975) ausdrücklich hingewiesen. 132 Vgl. ETP 1.440, 2b.450, 2b.495 und 10b.21–24, ferner Hess (1943b: 17–19). 133 Vgl. Kopp (1986). 134 Vgl. ETP 2b.292 und 13.228–230, ferner den Bericht Horace-Bénédict de Saussures in Dufner (1977: 30). Der heutige Flurname Lusthushubel erinnert an das ehemalige Lusthaus des Klosters. 135 Vgl. ETP 7.653 und 11.11–13. Zu einer weiteren Wette vgl. 2b.260–262.

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Wer sein Glück bzw. seine Geschicklichkeit erproben wollte, war zu allerhand Spielbzw. Wetteinsätzen bereit. Manche wetteten unwirkliche Einsätze: So spielten Kaspar Waser, Hans Kuster und Niklaus Vogel in den 1660er Jahren leidenschaftlich gerne miteinander. Auf dem Spieltisch wurden unzählige hundert Gulden gewonnen bzw. verloren, doch wie Waser später erklärte „alles mit schimpf, hab gar nichts gulten noch zalen müössen, so sie 3 allein gespielt“ – diese Auffassung teilten allerdings nicht alle Spieler, wie sich später herausstellte. Besonders beliebt war ferner das Spielen um Nidlen, also um abgeschöpften Milchrahm. Das Nidlenspielen war in der Fasnachtszeit derart beliebt, dass in derselben Zeit kaum mehr Anken hergestellt werden konnte. Im Wirtshaus wurde auch gern um Wein gespielt. Bei grösseren Einsätzen wechselten selbst Viehhäupter den Besitzer, wie bei den Wettschilderungen deutlich wurde. Der gebräuchlichste Spiel- bzw. Wetteinsatz blieb aber wohl Bargeld. Zwar begrenzte man Geldeinsätze schon im 17. Jahrhundert auf höchstens einen Schilling, doch blieb dieser Höchstwert wohl ein frommer Wunsch. Aufschlussreich war etwa der Fall Hans Zniderists, den sein Vater 1747 einige Schulden in Nidwalden eintreiben liess. Auf dem Rückweg war Zniderist nach eigener Aussage „mit dem gelt zu Wolfenschiessen in das spihl gerathen“ und hatte dabei ganze 40 Gulden Bargeld verspielt. Allein die Rückzahlung der Spielschuld kostete den Sohn zwei Dienstjahre. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie verlustreich regelmässiges Spielen um Geld sein mochte.136 Die Obrigkeit gab sich denn alle erdenkliche Mühe, Auswüchse bei Spiel- und Wetteinsätzen zu verhindern.137 Hohe Einsätze wurden ebenso verboten wie besonders risikoreiche Spielvarianten. Im Wirtshaus durfte nur bis zum Läuten der Betglocke, manchmal bis neun Uhr abends gespielt werden. Spend- bzw. Almosenbezügern wurde jegliches Spielen untersagt. Ferner war Spielen zu verschiedenen Zeiten verboten, so etwa „im advent, fasten, in der fronfast-, creutz- & ablasswochen, item in der zeit, da man ein grosses gebätt haltet, item alle 4 hochzeitliche festtäg: alle unser lieben Frauen täg, alle sambstäg & gebante feyrabend nach der vesper“.138 Wer offenkundig spielsüchtig war, wurde mit einem Spielverbot belegt. Erwachsene wurden zur Rechenschaft gezogen, wenn sie „die kinder von der arbeit 136 Vgl. ETP 2b.495, 3.72–73, 4.417–418, 11.572–573, 14.333–337, 14.392–393 und 19.10–13. 137 Vgl. u.a. ETP 1.291, 1.309, 1.440, 2b.292, 2b.450, 2b.495, 2b.520, 2b.659, 2b.660– 661, 3.53, 3.58, 3.115, 4.174–175, 4.264–265, 7.474–475, 7.543–544, 7.603, 7.656– 657, 8.383–389, 8.393–396, 8.417, 10.56–58, 10b.21–24, 11.48–49, 11.130–132, 11.372–373, 11.479–480, 11.546–551, 11.569–573, 11.583, 11.583–584, 11.585, 11.630, 13.102, 13.282–283, 13.365–369, 14.10–11, 14.230, 14.276–277, 14.333– 337, 14.392–393, 14.401–105, 15.155–156, 16.341–343, 16.392–394, 16.444–445, 16.617–619, 17.128–129 und 19.10–13. 138 Vgl. Magnus Wasers’ Talbuch von 1790, Art. 15–16.

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ab zuo dem spilen gewente[n]“ und Jugendliche in ihrem Haus spielen liessen.139 Wenn man bedenkt, wie häufig alle genannten Spielbeschränkungen erneuert wurden, darf man ihren Erfolg wohl nicht zu hoch veranschlagen. Die Massnahmen stiessen im Talvolk auf wenig Verständnis: Als etwa Pfarrer Augustin Lang 1619 erklärte, er werde nachts durch die Gassen streifen und allfällige Spielrunden abstellen, erklärte Balzer Töngi kurzerhand, „wen[n] der Pfarherr komme, welle er i[h]n abstreichen“. Feinsinniger verhielten sich hingegen spielfreudige Talleute 1769, als eine neuerliche Verordnung bestimmte, es dürfe höchstens einmal um einen Weinschoppen gespielt werden:140 Um nun solches zu illudieren, seien etwelche nach genossenem schoppen von ihren spihldischen aufgestanden, aufgehörth, aber bald widerum frisch zum spihlen gesessen, und dann widerum um ernanthen schoppen gespihlt, mit vorgeben, dass einmahl sie vorbey, und das seie ietz ein frisches „einmahl“.

Die Anekdote mag schalkhaft sein: Sie verdeutlicht aber auch, wie listig die Talleute mit obrigkeitlichen Vorschriften umzugehen wussten. Die Risikobereitschaft mancher Talleute war erstaunlich und stand oftmals in keinem Verhältnis zu ihrem wirtschaftlichen Vermögen. Dieser Widerspruch findet sich jedoch auch in anderen bäuerlichen Gesellschaften der Vormoderne wieder, wie George M. Foster 1965 in seinem klassischen Aufsatz über die »Bauerngesellschaft und die Vorstellung der begrenzten Güter« hervorhob. Foster erklärte den beobachteten Spieltrieb vornehmlich damit, dass Bauern in Glücksspielen oft die einzige Möglichkeit erkannten, um aus ihrer wirtschaftlichen Not herauszukommen.141 Dieser Erklärungsversuch taugt allerdings wenig, um die Verhältnisse im Hochtal zu klären. So gehörten viele Spieler durchaus nicht den unteren Vermögensschichten an. Als z.B. 1752 über 40 Talleute wegen unerlaubten Spielens gebüsst wurden, befanden sich manche angesehenen Talleute unter ihnen, so etwa drei Gerichtsleute und der Säckelmeister.142 Dass ferner Glücksspiele die einzige Möglichkeit für einen wirtschaftlichen Aufstieg dargestellt hätten, braucht hier nicht mehr eigens widerlegt zu werden. Die Erklärung fiel vermutlich einfacher aus: Spiele bildeten einen wesentlichen Bestandteil der damaligen Geselligkeit. Geschicklichkeitsspiele erlaubten es, sich spielerisch miteinander zu messen. Ferner konnten Spieltaktiken eingeübt werden, die im alltäglichen Leben durchaus von Nutzen sein konnten: Beim Kaiser139 Vgl. ETP 3.240–241 und 4.174–175. 140 Vgl. ETP 11.392–393. 141 Vgl. Foster (1965: 308–309). 142 Vgl. ETP 11.48–49.

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spiel etwa ging es nicht nur um das geschickte Ablegen von Karten, sondern um alle möglichen Formen der geheimen Verständigung, der Täuschung, der List usw. Am Spieltisch verschwanden auch vorübergehend die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Spielpartnern: Dabei konnte selbst der arme Talmann versucht sein, verschwenderischen Reichtum vorzutäuschen. Der Bluff ging jedoch nicht immer auf und brachte manchen in wirtschaftliche Bedrängnis.143

c) Trunksucht Geistige Getränke waren Nahrungs-, Heil- und Genussmittel zugleich. Im Hochtal wurde seit alters Wein getrunken bzw. als Geschäftsware gehandelt.144 Auch gebrannte Wasser erfreuten sich einiger Beliebtheit, jedenfalls ist ihr Genuss ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts „bey jung und alten schier in allen ohrten undt unzeiten“ vielfach belegt.145 Ein tieferes Verständnis des Alkoholgenusses würde die Kenntnis jener Bedeutungen voraussetzen, die den geistigen Getränken in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht zukamen – eine Aufgabe, die den Rahmen dieser Untersuchung weit sprengen würde. Für unsere begrenzte Fragestellung sind allerdings nur die Folgen erheblich, die ein übermässiger Alkoholgenuss für die Abhängigen und deren Umfeld zeitigen konnte. Wer viel und regelmässig trank, brauchte dafür einige Geldmittel. So hatte der begüterte Anton Cattani in den 1780er Jahren einen beträchtlichen Teil seines Vermögens für seinen Alkoholverbrauch aufgewendet. Im selben Jahrzehnt hatte sich Anton Feierabend nicht gescheut, das Haushaltsgeld seiner Familie für seine Trinkgelage auszugeben. Seine Frau Plazida Amstutz musste betrübt feststellen, dass ihr Mann „sie nit nur nit erhalte, sonder, was sie mit spinnen [und] lismen verdiene, einzieche und versauffe“. Wenig besser war es den Eheleuten Hans Baschi Wirz und Anna Dillier ergangen, als sie 1663 wegen ihrer Aufwendungen damit begannen, im Wirtshaus ihren Hausrat zu versetzen. Sie bezahlten den Wirt unter anderem mit einem silbernen Becher, drei silbernen Löffeln, zwanzig silbernen Wamsknöpfen, einem Halsbetti (Halsband) aus Korallen, mehreren Zinnplatten, ferner auch mit Decken, Bettlaken und sogar dem Mantel der verstorbenen Mutter. Wenn sich die Trunksucht mit der Spielsucht verband, waren die Vermögenswerte der Betroffenen bald aufgebraucht. Wenn es etwa von Hans Geni Kuster 1746 kurz und bün143 Das demonstrative Vortäuschen grossen Reichtums konnte auch apotropäischen Sinn haben, wie Renner (1937: 116–117) eindrücklich erinnert hat. 144 Vgl. Heer (1963). 145 Vgl. ETP 2b.664–665 als Erstbeleg, ferner ETP 3.233–234. Dann auch Dufner (1975: 13–15, 22–24) und neuerlich Blatter (2006b). Zur Geschichte des Branntweins in der Frühen Neuzeit vgl. die massgebende Untersuchung von Spode (1991: 126–168).

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dig hiess, „er spihle und sauffe“, so war mit beiden Tätigkeitsworten eine Ursache schlimmen Elends zusammengefasst. Wer übermässig Alkohol trank, war kaum mehr zu geregelter Arbeit fähig. Wenn das Trinken zum »Saufen« wurde, verloren die Betroffenen ihre Selbstbeherrschung. So war von Joachim Andres Infanger in den 1750er Jahren allgemein bekannt, dass er „sich so oft und vill voll gesoffen, dass er sich selbsten nicht mehr erkent und regieren könen“. Wer sich bis zur Bewusstlosigkeit einen Rausch antrank, bürdete seinen Verwandten zusätzlich die eigene Betreuung auf. So war von manchem Trinker bekannt, „welches creütz und überbürde die gantz freündschaft mit ihme gehabt“. Andere wie Niklaus Kuster brachten sich sogar in Lebensgefahr: Kuster hatte 1683 während eines Saumzugs derart mit Wein „sich also angefült, das[s] er bey eiteler Nacht in dem Berg gesunckhen und in solche Gefahr sich gestürtzt, das[s] er ohne Zweifel [...] in einem bösen Stand erfrohren und gestorben were“, wenn ihn sein Knecht nicht gerettet hätte. Die Obrigkeit sprach bereits im frühen 17. Jahrhundert (und wohl schon zuvor) Weinverbote aus: So durften übermässige Trinker nach dem Willen der Dorfoberen täglich nur ein bestimmtes Mass zu sich nehmen oder mussten ganz auf geistige Getränke verzichten. Im 18. Jahrhundert kam zusätzlich die Übung auf, „die nämen der vielsaufferen an die wirthshausthür“ anzuschlagen.146 Wenn ein Trinker ein Weinverbot verletzte – und das kam häufig vor –, musste er unter Umständen schlimmere Schandstrafen gewärtigen. So erging es Joachim Andres Infanger, der sich 1755 nach einem sonntäglichen Hochamt unter die grosse Kirchenpforte stellen musste, wobei man vorgängig die Nebenpforten sorgsam verschloss. Infanger musste darauf „mit einem gütterlin und einem glas in der hand nach dem gottsdienst stehen bleiben, bis alles volkh aus der kirchen“ getreten war. In selbstverschuldete Unbill kamen auch Margaretha Klein und Niklaus Kuster, die sich 1674 bzw. 1685 während eines Gottesdienstes „zuo höchstem Scandel der Nechstanwesenden“ wegen ihres Rauschs übergeben mussten. Auf diese Weise verspielten die Trinker nicht nur ihre eigene Ehrsamkeit, sondern auch jene ihrer Angehörigen.147 Übermässige Trinker waren auch vor Wut- und Gewaltausbrüchen nicht gefeit. So wurde von Anton Feierabend 1790 berichtet, dass er fast täglich „erst in der nacht reüschig, dobend und wütendt heimkomme, schwere und fluche, dass es 146 Zu den frühen überlieferten Weinverboten vgl. ETP 1.175–177 und 1.184–185. Zum Anschlag der Trinkerlisten vgl. u.a. ETP 11.227–231. 147 Zu Hans Baschi Wirz und Anna Dillier vgl. ETP 2b.698–699, zu Margaretha Klein ETP 3.229–230, zu Niklaus Kuster ETP 4.154–155 und 4.189–190, zu Hans Geni Kuster ETP 11.488–489, zu Joachim Andres Infanger ETP 11.59, 11.96–101, 11.668– 670, 13.41–44, 14.30, 14.37, 14.39–40 und 14.90–91, zu Anton Cattani ETP 14.304– 306, 14.324–325, 15.453 und 16.454–463, zu Anton Feierabend schliesslich ETP 16.624.628.

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etwas entzezliches: sie die frauen seye ihr lebens nit sicher, müesse in beständiger, erschrächlichen forcht leben“. Die Nachbarn Feierabends lebten ebenfalls in grosser Angst und fürchteten das Schlimmste, denn unter solchen Lebensumständen „könne es ohne umglückh nit ablaufen“. Ein trauriger Fall von Alkoholsucht war sicherlich jener Karl Anton Hurschlers, der das Gericht zwischen 1739 und 1751 immer wieder beschäftigte.148 Hurschler litt derart an Trunksucht, dass er sein Bauerngut in der Schluchen verwahrloste. Seine Familie erfuhr von ihm keinerlei Unterstützung, denn es war bekannt, „dass er nicht allein weib und kind oftmahlen in grosser noth sondern sogar sein armes s.v. vich ohne rath und that lasse“. Man brachte Schlimmeres noch in Erfahrung, denn „wan er trunkhen heimkommen, habe er oftmahlen weib und kind übel tractiert“. Hurschlers Misswirtschaft trieb ihn soweit, dass er nachts heimlich die Sennten des Klosters molk, um überhaupt etwas Nahrung nach Hause zu bringen. Seine Frau Maria Plazida Töngi suchte ihn nach eigener Aussage davon abzuhalten, denn „seye wolle nit haben, dass er znacht mehr aus dem haus gehe, es gehe nit recht zu, sey wolle ehnder die oberkeit zu hilff nemmen“. Auf den Ratschlag seiner Frau hörte Hurschler allerdings nicht. Als er seines Vergehens überführt wurde, unterstützte ihn seine Frau dennoch vor Gericht. Töngi suchte die Gerichtsleute von der Reue ihres Ehemannes zu überzeugen, denn er habe sie gleich nach der Tat „ohm verzeichung betten und sich mit einer ruethen selbsten geisslet und das crucifix genommen und die kinder auf gewecket und sambtlich mit einanderen ein psalter [Rosenkranz] betten“. Dass der Bericht Töngis frei erfunden bzw. erzwungen war, zeigte sich am Todestag Hurschlers am 10. Januar 1751. Hurschler hatte sich am Vortag derart betrunken, dass man ihn regungslos in einem Stall beim Trögli auffand. Als sein Tod nahte, „starb er ohne jedes Zeichen der Reue oder des Schmerzes über seine Sünden“. Und „als seine Ehefrau vom Tod ihres Mannes erfuhr, wendete sie keinerlei Mühe für ihn auf und wollte ihn nicht im Haus [zur Totenwache] behalten“. Hurschler liess seine Frau mit sieben jungen Kindern zurück, deren jüngstes gerade dreijährig war.149 Über Hurschlers Bestattung berichtete Pfarrer Bernhard Lang weiter: Er wurde ohne jeden kirchlichen Ritus bestattet, weder von Weltlichen noch Angehörigen [zu Grabe getragen], die Glocken des Kirchturms wurden nicht geläutet, das Kreuz Christi wurde nicht über seinem Grab angebracht, weil dieses an einem abgeschiedenen [d.h. ungeweihten] Ort liegt, seine Totenmesse wurde ohne jeden Gesang gefeiert.

148 Vgl. ETP 11.243–248, 11.444, 11.616–618 und 11.665–668, ferner den Eintrag vom 10.01.1751 im Sterberegister. Zum Tod Hans Anton Töngis 1753, vgl. den Eintrag vom 18.03.1753 im Sterberegister sowie ETP 14.72. 149 Vgl. StB Hurschler 31.

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Vergleicht man Hurschlers Bestattung mit dem ehrwürdigen Begräbnis Hans Ignaz Plazi Kusters (vgl. Abschn. 3.1.1), kann man den gewaltigen Unterschied ermessen, der zwischen zwei Lebensläufen im Hochtal liegen konnte. Hurschler erhielt sogar ein schlechteres Begräbnis als Hans Anton Töngi, der sich zwei Jahre später durch den Strick selbst das Leben nahm: Der Selbstmörder wurde seines ehrsamen und frommen Lebenswandels wegen – selbst als er am Strick hing, trug er ein Betti (d.h. einen Rosenkranz) in der Hosentasche – auf geweihtem Boden bestattet, nicht aber Hurschler. Qualis vita, fina ita – wie das Leben, so das Ende – bemerkte der Pfarrer zu Hurschlers Ende. Mit Hurschlers Tod endete wohl auch ein langer Leidensweg für seine Familie.

d) Unfrömmigkeit Dass übles Hausen mit der inneren Einstellung der Betroffenen zusammenhing, wurde bereits erwähnt. Eine sorglose Einstellung hatte auch ihre äusseren Anzeichen. So waren Fluchen und Lästern besonders unter jenen verbreitet, die sich auch sonst einen üblen Lebenswandel zuschulden kommen liessen. Was als Fluch- und Lästerworte galten, wird aus einer gerichtlichen Verordnung von 1658 ersichtlich. Diese verbot alles Schwören,150 sonderlich aber der grossen schwüören bim h. namen Gottes, bi den hh. sacramenten, bi undt auf die seell undt andere derglichen schwüör, item die grobe, ungebürliche wort „seüw, hundts“ etc, „huor, hex, kindtsverderberin“ und derglichen.

Gotteslästerliche Worte konnten in der Aufregung bald einmal über die Lippen kommen. Wer jedoch auf der Stelle fünfmal das Herrengebet und einmal den Engelsgruss betete, konnte seinen unüberlegten Fehler wiedergutmachen – dies erklärte zumindest die besagte Verordnung. Manche Talleute neigten jedoch zu häufigem und schlimmem Fluchen. Dabei waren es nicht selten Ehefrauen und Kinder, die solche Hassworte über sich ergehen lassen mussten. So war Hans Kuster um 1660 gegen seine Ehefrau „mit groben schwüren, schelt-, schmäch- und fluchworten verfahren“, und es war allseits bekannt, „dass er mit wib und kindt so unbescheiden, grob, tyrannisch, unvetterlich verfaren, gschmächt, gescholten, gschworen und gfluochet“. Auch Plazi Zniderist griff seine Ehefrau 1662 wiederholt mit harten Worten an. Die Gegenwart der Kinder störte ihn dabei keineswegs, im Gegenteil: Er rechtfertigte angeblich sein Schwören sogar

150 Vgl. ETP 2b.450 und 2b.591–592. Weitere Fluch- und Lästerworte sind bei Dufner (1975: 12–13) – allerdings nicht erschöpfend – zusammengestellt.

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damit, „d’kind müessen’s auch lehrnen“.151 Auch von Karl Anton Hurschler, der hier nicht mehr vorzustellen ist, wurde 1739 berichtet, er „fluech und schwere, dass man bald nicht anhören dörffen“. Anton Feierabend hatte seine Gattin Plazida Amstutz um 1790 ebenfalls unzählige Male „dem teüffel zugewünscht“, etwa wenn die verängstigte Ehefrau ihrem Mann die Strümpfe nicht schnell genug auszog, nachdem er von seinen nächtlichen Trinkrunden heimkehrte. Amstutz mochte ihrem Mann noch so zurufen „thue doch nit ä so!“, ihre Bitten blieben ungehört. Das grobe Fluchen Joachim Andres Infangers war in den 1750er Jahren dem ganzen Talvolk bekannt, zumal viele Talleute in Infangers Krämerladen ein- und ausgingen. Infanger wünschte seine Ehefrau und Kinder derart schlimm zum Teufel, dass selbst den vorbeigehenden Talhauptmann Flori Bernhard Kuster einmal „eine rechte forcht“ überfiel und sich viele nicht gewundert hätten, „so Gott selben auf der stell gestraft hete“. Von mehreren Seiten wurde Infanger ermahnt, dass sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern „vor Gott nicht recht“ sei und dass sie bis anhin „wüest miteinanderen gelebt“ hätten. Doch die Ermahnungen blieben fruchtlos. Kein Wunder, dass Hans Zniderist einmal der Kragen platzte, als er Infanger drohend anfuhr: „Schamst du dich nit, über weib und kinden also zu fluchen und turnieren! Wan nicht schweigest, so komme und füehre dich bey den ohren ausen!“ Anzeichen eines üblen Lebenswandels mochte auch ein nachlässiger Kirchgang sein. Die Talleute verhielten sich zwar beileibe nicht diszipliniert, wenn es um den Besuch kirchlicher Anlässe ging (vgl. Abschn.  4.3). Die beiden Teile der Messe, nämlich Wortgottesdienst und Eucharistiefeier, erfreuten sich im frühneuzeitlichen Engelberg sehr unterschiedlicher Beliebtheit. So war der undisziplinierte Predigtbesuch ein stetiges Sorgenkind der Geistlichkeit: Noch 1790 bemerkte Pfarrer Magnus Waser, es sei „kaum in der Catholischen Christenheit ein Kirchen anzuträffen, in welcher anfangs der Predigen mehr stühl lähr als in der unsrigen gelassen werden“. Anfangs der Eucharistiefeier hingegen füllten sich die Kirchenbänke „wegen grossen anwachs des volches“ derart an, dass sie häufig nicht mehr ausreichten. Viele Talleute zogen sogar die Frühmesse dem Hauptgottesdienst vor, um der sonntäglichen Predigt zu entkommen.152 In manchen Gerichtsfällen wurde der Predigtbesuch recht eigentlich als Bussstrafe auferlegt. Allgemein liessen Pünktlichkeit und Andacht einiger Talleute während der gebräuchlichen Gottesdienstzeiten (Messe, Kinder- bzw. Christenlehre, Stundengebete, Rosenkranz- und Bruderschaftsandachten

151 Zu Hans Kuster vgl. ETP 2b.628–629 und 2b.633–635, zu Plazi Zniderist ETP 2b.674. 152 Vgl. die Anmerkungen Magnus Wasers zu Art. 92 bzw. 137 des Talbuchs in seiner Fassung von 1790.

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usw.) zu wünschen übrig: Die besagte Minderheit schwatzte, spielte, trank, rauchte, streunte herum oder trieb noch Unfrommeres inner- und ausserhalb der Kirche.153 Wer also des mangelhaften Gottesdienstbesuchs beschuldigt wurde, musste eine erhebliche Nachlässigkeit an den Tag legen. Wer der Messe regelmässig und gänzlich fernblieb, erweckte selbst bei den Talleuten Anstoss. Aufschlussreich ist eine Ehrverletzungsklage, die Maria Rosa Töngi 1761 gegen Maria Barbara Amstutz erhob. Töngi warf Amstutz vor, dass diese „sie getadlet habe, dass sie nit zur mess gehe, dass sie ein richti seie, heben ihro auch übernamen nachgrüeft und in ein wüests gschrei bracht und ihr noch vill anders zuleid gthun“. Amstutz hatte also das Gerücht verbreitet, dass Töngi regelmässig von der Messe fernblieb. Das Schimpfwort »Richti«, das eigentlich die Nachgeburt beim Vieh und übertragen ein unreinliches und sittenloses Weib bezeichnete, verdeutlichte die Richtung der Beschimpfung zusätzlich. Durchaus vergleichbar waren die Vorwürfe, die man 1747 gegen Sepp Hurschler anbrachte. So hielt man diesem vor, dass er „sein liederliches leben continuo fortführe mit saufen, kinder übel tractieren, oft an sonn- old feyrtragen nit zu kirchen gehe“. Die Aneinanderreihung macht klar, wie zeichenhaft die häufige Abwesenheit vom Gottesdienst werden konnte. Auch Karl Anton Hurschler musste sich 1739 ankreiden lassen, dass er „an hl. sonn- und feyrtagen aus ursach seines liederlichen lebens die hl. mess verabsaümet und so gar sein frau hiervon abgehalten mit sagen, dass sie niemand zu beichten habe als ihmme“. Hurschler war also dem Gottesdienst nicht nur ferngeblieben, sondern hatte auch seine Ehefrau an dessen Besuch gehindert. Dass man ihm bei seinem Tod die kirchlichen Gnadenmittel versagte, erstaunt auf diesem Hintergrund weniger. Auch Anton Cattani war in den 1780er Jahren alles andere als ein fleissiger Kirchgänger. Cattani war aufgrund seiner geistigen Verfassung häufig bettlägerig. Seine Angehörigen mussten dabei betrübt feststellen, dass er „weder aus dem bett aufstehen noch weniger zu der kirchanhörung, auch nur einer h. meess, vill weniger zu erfüllung andren pflichten des christenthums gehn wollte“. Man hatte „etwelche mahl alle kreften und den eüssersten ernst anwenden müessen, um ihne aus dem bett aufstehn und seine andacht zu machen [...], dieweilen er in seinem näst halb erfaulet und sich nit wolte helffen noch ratsammen lassen“. Selbst als Pfarrherr Magnus Waser auf Besuch kam, wollte Cattani vom Seelsorger nichts wissen.

153 Vgl. u.a. ETP 2b.593, 3.240–241, 4.189, 4.189–190, 7.407–408, 7.441, 8.383–389, 9.49–54, 10.83–87, 11.46–47, 11.130–132, 11.144–145, 11.222, 11.243–248, 11.279–282, 11.360–361, 11.364–365, 11.557–558, 11.575–576, 13.365–369, 14.10–11, 14.166–167, 14.230, 14.392–393, 16.341–343, ferner auch Hess (1943b: 19).

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Der Unfriede mit Gott war – damit lässt sich das Gesagte zusammenfassen – ein weiteres und vielleicht das stärkste Anzeichen üblen Lebenswandels. Was übles Hausen nach damaliger Auffassung bedeutete, wird nun allmählich begreifbarer. Die Begriffsbestimmung nahm ihren Anfang beim offensichtlichsten Fall, nämlich bei Misswirtschaft und Auffall. Diese wiederum hatten in den Augen der Talleute klar erkennbare Anzeichen wie Untätigkeit, Spiel- und Trunksucht. Dabei wurde sehr bewusst von Anzeichen und nicht von Gründen der Misswirtschaft gesprochen: Ursächlich für das üble Hausen schien vielmehr eine verderbliche innere Einstellung zu sein. Deren sicherstes Anzeichen mochte wohl Unfrömmigkeit sein, die sich im Fluchen und im Fernbleiben der Gottesdienste äusserte. Zur besseren Verständlichkeit schien es ratsam, zunächst bei offensichtlichen und schweren Fällen üblen Hausens anzusetzen. Derart missliche Verhältnisse waren jedoch die Ausnahme. Übles Hausen kannte auch geringere Schweregrade: Eine Hauptrolle spielte dabei die Zerstrittenheit in Ehe-, Familien- und Hausgemeinschaften, die sich als häuslicher Unfriede ausdrückte. Auch in diesen Fällen schien die innere Einstellung der Betroffenen ursächlich für ihre missliche Lage. Häuslichen Unfrieden witterte man erstens, wenn Hauseltern ihren Aufsichtspflichten nicht nachkamen. Wenn sich schon Kinder ungebührlich verhielten, wurde schnell auf ungeordnete Verhältnisse im Elternhaus geschlossen, „weilen ein jeder hausvatter schuldig für die seinigen zu sorgen und also befüegt, dasjenige vorzukehren, was er nöthig und nutzlich erachtet“.154 Eine missliche Erziehung konnte sich in Diebstählen, bösen Streichen, Flüchen, Müssiggang oder dem Fernbleiben der Gottesdienste äussern. Dass der 11-jährige Hans Geni Hurschler 1750 vielerorts fremdes Vieh gemolken und Speisen entwendet hatte, erstaunte wohl niemand. Sein Vater Karl Anton hatte es ihm bereits vorgemacht, wie der Bub vor Gericht unaufgefordert erklärte. Jenem befahl darauf das Gericht, seinen Sohn nach dem sonntäglichen Hochamt öffentlich auf der Tanzlaube mit Rutenschlägen zu züchtigen, „ihhmme als vater wegen schlechter obsorg, dem bueb aber wegen seinem verdienen“ – die Strafe galt hier dem Vater wohl mehr als dem Sohn. Auch Lienhart Zniderist musste 1694 einen harten Verweis des Gerichts einstecken, nachdem bekannt wurde, „das[s] seine Kinder der Muoter so bösen Bescheid geben, sie mit Schmachworten anfahren, welches er ihnen nachseche und nit strafe“. Schliesslich bereitete auch die Glaubenserziehung der Hand- und Geissknaben auf den Alpen der Obrig-

154 Vgl. u.a. ETP 2b.469, 3.240–241, 3.353, 4.296, 4.465, 7.297–298, 9.352–353, 11.658– 659, 14.239–240 und 14.385–388.

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keit immer wieder Kopfzerbrechen, da diese „mehr ein veichisch als christlich leben zu führen“ schienen.155 Auch hier wurden sorglose Eltern in die Pflicht genommen. Wenig vorbildhaft erschienen auch jene Eltern, die in ihrem Haus das »Spielen, Fressen und Saufen« zuliessen. Der besagte Vorwurf wurde übrigens nicht nur von der Obrigkeit erhoben. Gerade dem Gericht selbst wurde von Talleuten verschiedentlich vorgehalten, es kämen „die rhätt anderst nit zuosammen als umb fressens und sauffens willen“.156 Der anklägerische Unterton drückte die Befürchtung aus, dass die verschwenderischen Gelage der einen irgendwie das Auskommen der anderen verkürzten. Umgekehrt fürchtete die Obrigkeit, dass sich ärmere Leute durch verschwenderische Gastmähler selbst in Not bringen könnten. Man warf Hauseltern die Verletzung ihrer Aufsichtspflichten auch vornehmlich vor, wenn die unrechtmässigen Liebesbeziehungen ihrer geschlechtsreifen Zöglinge öffentlich wurden.157 Stellten sich Zerstrittenheit und Zerwürfnis in einem Haushalt bzw. unter Nachbarn ein, war es um den häuslichen Frieden geschehen. Die Streitigkeiten wurden nicht selten vor Gericht ausgetragen, wie aufgrund zahlreicher Beispiele deutlich wurde. Nachbarn konnten etwa bei Wegrechten derart aneinandergeraten, dass Streit und Anlass in keinem Verhältnis mehr zueinander standen. Auch bei Familienstreitigkeiten war der sachliche Streitgrund oft kaum mehr erkennbar oder diente bloss noch als Vorwand. Was sollte z.B. bedeuten, dass Hans und Balzer Töngi sich 1621 vor Gericht darum stritten, wer sich auf welche Weise verpflichtet hatte, den gehbehinderten Grossvater bei Wind und Schnee in ein anderes Haus zu überführen? Selbst die Frage, ob dem Grossvater eine warme Decke für den Transport versprochen worden sei, wurde vor Gericht besprochen. Verständlich, dass auch den Gerichtsherren gelegentlich der Geduldsfaden riss. Hart fuhren die Dorfoberen etwa den streitsüchtigen Geni Waser 1772 an, dass „er der obrigkeit mit beständiger erwerckhung unnützer und nit gnugsamm begründter streittigkeit allzu überlestig“ fiel.158 Wie aber äusserte sich unnützer und unbegründeter Zwist zwischen Menschen, die unter demselben Dach wohnten? Eheleute mochten etwa in Streit geraten, wenn sie einander des Ehebruchs (zu Recht oder Unrecht) verdächtigten. Der eheliche Frieden konnte wegen entsprechender Gerüchte schnell schief stehen. So argwöhnte Joachim Zniderist um 1779 155 Der zitierte Ausdruck findet sich im Verkündbuch unter dem 23.02.1733. 156 Vgl. ETP 1.224–225, 2b.237–238, 2b.302–305 und 2b.556. Zur Vorstellung der begrenzten Güter vgl. Foster (1965). 157 Vgl. u.a. ETP 3.232, 3.233, 4.15, 4.46–48, 4.169–170, 4.293 und 10.135–137. 158 Vgl. ETP 1.343 und 14.541–545.

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„durch boshafte und findseelige ohrenbläser oder anstiftung selbst nichtswertiger leüthen“, dass seine Ehefrau fremdging. Zniderist gestand später, dass er deshalb „alles vertrauwen verlohren, seye in argwohn, unfriden, zorn, eyffersucht geradten“. War ein Ehebruch tatsächlich erwiesen, musste zudem die öffentliche Schande ertragen werden. So musste sich die ehebrecherische Margaretha Amrhein 1642 von ihrer Schwiegerfamilie vorwerfen lassen, „wan sie hette inne [d.h. ihren Ehemann] und die seinigen könden in mehrere schandt und laster bringen, sie hette es nit gespartt“. Umgekehrt stellte Katharina Amrhein 1623 dem Gericht die rhetorische Frage, „was sy für ein Lust solt haben“, mit ihrem ehebrecherischen Ehemann hauszuhalten. Gegenseitige Verleumdungen machten dabei den Ehestreit nur noch schlimmer. Ferner konnten Eheleute einander auch vorwerfen, verschwenderisch mit den Haushaltsmitteln umzugehen und dadurch den gemeinsamen Hausstand zu schwächen. So klagte die ebengenannte Katharina Amrhein heftig über ihren Ehemann, weil er das Seinige vertat. Ungezügelter warf Joachim Andres Infanger 1753 seiner Ehefrau vor, „dass er nit mehr zu hausen wüsse, sie verhause, verhundtsfude und verhexe ihme alles, es seye verflucht und vermalledeit“. In solchen Streitfällen mochte es auch vorkommen, dass Ehefrauen ihre Männer rundweg aus dem Haus aussperrten. Wenig Lust mochte allerdings Niklaus Kuster haben, nach getaner Arbeit ins sein Haus zurückzukehren. Ein Zeuge erinnerte sich 1702 nämlich daran, dass Niclaus Kuster seel. der Anna Maria Eheman, so er von der Arbeit müeht und matt nacher Haus kommen, sey er mit Spitzel und Spetzl von der Anna Maria abgespist worden. Anna Maria habe ihr Kinder wider Billigkeit mit Schwören, Fluochen, unbescheidlichen Schlägen, Reissen, und von Winkhell zuo Winkhell Zuowerfen, übell tractiert, also das[s] sein Vatter seel. sye der Ursachen halben, damit auch seine Kinder nit dergleichen von ihro so hören und lehren, nit mehr zuo Haus halten wollen.

Anna Maria Vogel verwünschte ihren Ehemann derart, dass sie vor Dritten gar laut aufseufzte: „O stürb auch mein Man!“ Ehefrauen warfen ihren Gatten eher Zornigkeit vor, während Ehemänner ihre Gattinnen eher der Geschwätzigkeit bezichtigten. So erklärte Joachim Zniderist 1779 seine Verstimmung gegenüber seiner Ehefrau damit, „dass ihme das weib widerredt oder allzeit das maul angehenckt“. Von Zniderist selbst hatten die Gerichtsherren allerdings keine bessere Meinung und meinten, dass er „nebst seinem wilden wesen nur und kaum ein halber christ und ein tummer polderer wäre“. Im schlimmsten Fall blieb der Obrigkeit nichts anderes übrig, als ganze Haushaltungen vor sich zu laden. So musste 1690 Melcher Vogel „sambt seiner Frauwen und Kindern wegen eingelangten villfeltigen Klegten übelfüehrender Haushaltung, Streit und villfeltigen Uneinigkeiten zwüschen ihm und den Seinigen“ vor Gericht erscheinen. War der eheliche

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Friede endgültig zerbrochen, konnte die Obrigkeit nur noch die Auflösung des Haushalts anordnen.159 Auch das Zusammenleben mit Schwieger- bzw. Stiefmüttern fiel gelegentlich schwer.160 Dass Anna Maria Vogel um 1702 „ihre schwigerin alte Mähren und alte Schnuor benambset“, war noch ein minderer Vorfall. Plazi Zniderist war vier Jahrzehnte zuvor mit seiner Schwiegermutter derart in Streit geraten, dass er „der schwiger ein stoss geben, ihr treüwt, wann sie nit auffhöre, uneinigkeit zwischen i[h]m und seinn weib zuo machen, welle er sie mit dem dägen zum hus austryben“. Dass sich Schwiegermütter mit ihren Schwiegersöhnen bzw. – töchtern nicht gut vertragen konnten, war allgemein bekannt. Als etwa Joachim Geni Müller 1721 das Haus seines Vaters übernahm, räumte er seiner Mutter ein Wohnrecht ein, sah sich aber zugleich für den Fall vor, „wan er oder seine Frauw mit ihren [d.h. seiner Mutter] sich nit vertragen könten“. Eine entsprechende Klausel machten 1785 auch die Brüder Sepp Geni und Hans Geni Waser geltend, als sie den Auszug ihrer Stiefmutter aus dem Haus verlangten. Es war – so erklärten sie – allgemein bekannt, „dass sie [selbst], ihre frauwen und beyderseitige kinder sich nit mit ihro [d.h. der Stiefmutter] betragen und im friden und ruhe leben können“. In anderen Fällen nahmen ungeliebte Schwiegermütter sogar den Garaus, so etwa Anna Maria Waser, die 1738 das Haus ihres verstorbenen Ehemannes Hans Kaspar Kuster fluchtartig verliess. Auch hier war allen klar, dass Waser „wegen verschiedenen hauskriegen zwüschen ihro und denen 2 jüngeren weibern [d.h. ihren Schwiegertöchtern] aldorten von dem Port gewichen und zu dem dritten sohn Dominico Kuster im Rohr geflohen“ war. Auch zwischen Eltern und ihren Kindern konnten erhebliche Spannungen entstehen. Ein schwieriges Los hatten sicherlich alleinerziehende Witwen wie Barbara Zniderist, die 1674 mit ihrem 23-jährigen Sohn Hans Melcher Müller nicht mehr zurechtkam. So musste sie schliesslich das Gericht um Hilfe bitten, weil ihr Sohn immerzuo halsstarrig verblibe, die kinder von der arbeit ab zuo dem spilen gewente, schlecht sorg zuo dem husraht hielt, die h. mess an sonn- und firtagen nicht gantz hörte, mit instrumente, die er als tietrich gerüstet, ihr kesten undt schlösser auffbrochen, gantze nächt ohn wüssen und willen der muotter wider austruklichen befelch der oberkeit ussenblib, der muotter vil undt offters mit ungebürenten worten zuogesetzt.

159 Vgl. ETP 1.403–404, 2b.384–386, 2b.599–601, 2b.628–629, 2b.633–635, 2b.674, 3.192, 3.205–206, 4.292–293, 4.476–478, 4.487–489, 11.43–44, 11.96–101, 13.60– 61, 14.90–91, 14.103–104, 15.456–458 und 16.204–209. 160 Vgl. ETP 2b.674, 4.476–478, 6.344–344a, 11.212–215 und 16.404–405.

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Auch die verwitwete Anna Schmuck hatte es nicht leicht, als sie in den 1680er Jahren mit ihrer Tochter Anna Maria Sutter und deren Ehemann zusammenlebte. Mutter und Tochter verstritten sich heillos. Es ging sogar so weit, dass „ihre Tochter Anna Maria sie [d.h. die Mutter] mit unanständig- und lästerlichen Wortten angefallen, und sie geheissen in aller 100‘000 Teüflen Namen us dem haus gehen, sie seye die fäulste Hex“. Schlimmer kam es noch, als die Tochter einmal auf eine Schwester einschlug. Als die Mutter ihre Tochter davon abhalten wollte, „habe sie ihro die Pfannen mit beiden Händen in das Gesicht geschlagen, das[s] ihro das Blueth über das Gesicht herab geloffen“. Wer sich allerdings alleine um seine alte Mutter kümmern musste, hatte keine einfache Aufgabe. So gab Anna Maria Töngi 1701 an, sie habe schlichtweg die Geduld mit ihrer Mutter verloren. Töngi erklärte weiter, dass nach demme seie mehrmahls gantz müöd vom Märcht heimkommen und mächtig gehungeret, der Muotter gesagt, sei solle das feür anmachen, es wolle Warms machen. Habe die Muotter, gleichwohlen die Tochter sei vollkommen erhalten müösse, ihro schnöde Wort gegeben und ausgespätzlet. Da seie sei von dem Zorn übereilet worden, das[s] sie ihro ein Stoss gegeben.

Auch unter Geschwistern mochte dicke Luft herrschen, wie der eben gestreifte Fall verdeutlicht.161 Meistens kam Streit auf, wenn der Ehepartner eines Geschwisters ins gemeinsame Haus einzog. Als etwa der wohlbekannte Scherer Alphons Sepp Flori Feierabend 1722 seine Ehefrau ins Haus nahm, war es um den häuslichen Frieden bald geschehen. Seine Schwester ertrug die Anwesenheit ihrer Schwägerin nicht, weigerte sich aber standhaft, selbst das Haus zu verlassen. Solche Erfahrungen wirkten sich auch auf die Art und Weise aus, wie Wohnrechte (etwa bei Testamenten oder Erbteilungen) vertraglich zugesichert wurden. So führte man die Kündbarkeit von Wohnrechten ein, wenn der Hausbesitzer „die einte oder andere lieber aus dem haus sehete, seye wegen der unverträglichkeit oder anderen ursachen halber“. Lebten mehrere Haushalte unter demselben Dach, konnten auch hier alle möglichen Reibereien entstehen.162 Man erinnere sich an jenes unselige Haus in der Wetti, das in den 1710er Jahren für viel Aufsehen sorgte. Die Hausbewohner selbst waren unter sich zerstritten. Nur kurzweilig war etwa Sepp Zniderist ins Haus gezogen, aber weihl er in dem Seinigen vast nit mehr habe Weithe gehabt, und ihme alles seye verruckht worden, dan wan er etwas gehabt habe, seye es ihme eintweders aus dem Haus genohmen worden, oder habe es doch nit mehr funden, wohin er es gethan habe,

161 Vgl. ferner ETP 7.670–671 und 8.119–126. 162 Vgl. ETP 4.246–249, 5.357–366 und 14.56–57.

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zog er schnell wieder aus. Auch die hellhörigen Hausräume verbesserten die Sache nicht. So berichtete Barbara Eugenia Feierabend, die selbst im oberen Stockwerk wohnte, sie habe einmal vom Spinnrad aufstehen wollen, „da seye ihro ein Stüeli umbgfallen, das habe gmacht, das[s] die im underen Haus schon klopfet haben“ – das war übrigens Feierabends Erklärung dafür, weshalb die Heiligenbilder im unteren Stockwerk von den Wänden gefallen waren. Wenig Freude an ihren Hausgenossen hatte 1688 auch Eva Widmer: Diese hatten ihr nicht nur eine Türöffnung verbaut, so dass weder Licht ein- noch Rauch ausgehen konnte, sondern auch ihre Zimmerwände durch allerlei Bohrwerk geschwächt. Ganz handfest ging es 1756 im Haus Geni Wasers und Lienhart Kusters zu und her, deren Haushalte sich unter demselben Dach befanden. So berichtete Kuster, dass er einmal unversehens Wasers Frau Barbara Hermann „in seiner kuchi angetroffen und habe ihme alles durchnistet und durchsuechet“ – die Begegnung endete mit einem ziemlichen Handgemenge. Hermann hatte sich auch einmal stur geweigert, bei starkem Regen die Fensterläden zu schliessen, so dass Kuster einen Wassereinbruch in der unteren Wohnung gewärtigen musste. Kuster verlor die Fassung und brach darauf die Haustüre der oberen Wohnung mit einem Beil auf. Hermann ihrerseits kam buchstäblich mit einem blauen Auge davon. Streitigkeiten konnten zu „unfriden, missverständnus, zohrn und entlicht raserey“ führen. Körperliche Gewalt drückte nicht nur den äussersten Grad der Zerstrittenheit aus, sondern auch die Hilflosigkeit jener, die ihr zum Opfer fielen. Stellvertretend sei hier das traurige Schicksal Anna Kusters erwähnt, die am 25. November 1643 verstarb. Kuster war den Wut- und Gewaltausbrüchen ihres Ehemannes Niklaus Hurschler immer wieder ausgesetzt gewesen. Das Ehepaar hauste in der Bütschlen, von wo sich Kuster regelmässig in Sicherheit bringen musste. Aus „forcht des mans“ kehrte sie jedoch wieder nach Hause zurück. Ein anderes Mal, „da mann sye wider heym gemanet und man vermeint, sie sige heim, hat sye [sich] in dem Bächgaden verborgen, sige alda tag und nacht verbliben“. Ihre Nachbarn in der Bäch berichteten, dass man „sye gantz bleich funden, [man] habe ihren ein breu [Gebräu] bracht und sye heim vermanet, daruff sye gesagt, mann sölle sye alda ligen lassenn.“ Die verstörte Frau hatte allen Grund zur Furcht, wie sich darauf beim Herannahen ihres Ehemannes herausstellte: Als niclaus dem haus nachete, sige i[h]m sein frauw entgegen gangen, die habe er einswegs in grossem zorn angefallen, ir hubenn abgerissenn, sye an haubt und leyb geschlagen, dass sye ettlich malen zuo boden gefallen, selbige bey den zöpffen wider uff zogenn und durch allen wäg bis hinder den gaden bey den züpffen umenn geschwungen [...], bey den haar wider auffzogen und hernach zum drittenmal die selbige wider nider gschlagen, dass i[h]m mul und nasen blüettet.

Familie

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Mit Faustschlägen und Fusstritten trieb Hurschler seine verletzte Frau nach Hause zurück. „Ich schlag dich nach zuo todt“, sollte Hurschler ferner seiner Frau gedroht haben. Wie Kuster tatsächlich starb, ist nicht überliefert. Als sich aber das Gericht im Januar 1644 des Falls annahm, war es bereits zu spät: Kuster war tot. Häusliche Gewalt war gewiss nicht alltäglich, schon gar nicht Grausamkeiten der beschriebenen Art.163 Das Schicksal der meist weiblichen oder minderjährigen Gewaltopfer verdeutlicht gleichwohl, was jene Menschen schlimmstenfalls durchmachen mussten, die nicht auf ein gesellschaftliches Netzwerk zählen konnten. Man möge sich einmal umgekehrt vorstellen, jemand hätte gegen Maria Katharina Langenstein – Engelbergs einflussreichste Talfrau im 18. Jahrhundert – auch nur die Hand erhoben: Die Tat hätte gewiss das ganze Talvolk empört. Wo aber waren die Angehörigen, Hausgenossen, Freunde und Nachbarn Anna Kusters, als sie von ihrem Mann verprügelt wurde? Warum wurden die geistlichen und weltlichen Oberen nicht rechtzeitig benachrichtigt? Warum zögerte Kuster, um Hilfe zu bitten? Das Hochtal konnte für jene, die über kein wirksames Beziehungsnetz verfügten, ein sehr einsamer Ort sein. Also lässt sich zusammenfassen: So vieldeutig der Begriff üblen Hausens auch sein mochte, lag seiner alltäglichen Verwendung eine einheitliche Bestimmung zugrunde. Übles Hausen war nicht durch äussere Umstände bedingt, sondern ging auf eine mangelhafte innere Einstellung zurück. Dem äusseren Unfrieden und Unglück entsprach eine innere Sorglosigkeit, Unruhe und Unbeherrschtheit. Übles Hausen war in den Augen der Obrigkeit, aber auch der Talleute selbst eine Frage persönlicher Schuld. In den vorangegangenen Ausführungen standen jedoch nicht jene im Mittelpunkt, die übel hausten, sondern vielmehr ihr Umfeld. Die Rechnung für übles Hausen bezahlten vornehmlich Familie und Verwandtschaft. Übrigens waren vor solchem Unglück selbst begüterte und angesehene Familien nicht gefeit. Die schlimmsten Folgen hatten eindeutig die nächsten Angehörigen zu erdulden, besonders die Ehefrauen und Kinder. Übles Hausen konnte die Lebensläufe jener, die davon geschädigt wurden, auf einschneidende Weise verändern. Übles Hausen scheint weit mehr Familien des Hochtals an den Bettelstab gebracht zu haben als etwa Ernteausfälle, Viehseuchen, Teuerungen, Markteinbrüche und dergleichen. Gleichwohl sei hier unmissverständlich daran erinnert: Die Armutsfrage ging nicht allein im üblen Hausen auf.

163 Vgl. etwa ETP 2b.404–408, 2b.674, 4.146–148, 4.191, 4.289–291, 11.43–44, 11.243– 248, 11.462–464, 11.575–576, 14.56–57, 14.103–104, 14.104–105, 14.211–212, 14.216–217 und 16.204–209.

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Beim üblen Hausen wurde die Kehrseite verwandtschaftlicher Bindungen offenbar. Während günstige Verwandtschaftsbeziehungen gesucht und unterhalten werden mussten, waren ungünstige rechtzeitig abzubrechen. Wiederum bestätigt sich: Wer nicht allein auf sein Verwandtschaftsnetzwerk zählen wollte bzw. konnte, tat gut daran, ein grösseres Beziehungsnetz zu spannen. Die Obrigkeit nahm in diesem erweiterten Netzwerk eine wichtige Stellung ein: Sie war oft der wichtigste Bündnispartner jener, die durch übles Hausen unverschuldet geschädigt wurden. Die zahlreichen Hilfsgesuche bedrängter Talleute belegen dies ebenso wie die vielfältigen Verordnungen, welche die Obrigkeit zu ihrem Schutz erliess.

3.3 Gemeinwesen 3.3.1 Öffentliche Versammlungen Die Talleute wandten sich 1619 in einem Schreiben an die Schirmorte Engelbergs, also Luzern, Schwyz und Unterwalden. Auf bemerkenswerte Weise beschworen sie dabei ihre Zugehörigkeit zum eidgenössischen Verband:164 Item so finden wir auch in den Croneckhen wie auch in dem Regimentbüöchly, dass die 3 alten orth niemallen undrem zwang oder hus ostreich gsin sygend anders weder mit etlicher ihrer vorbehaltener freyheiten und auch harnach eidtgnosen worden. gutter hofnung, will unsren gnädigen schirmherren und vatteren uns under ihrem schirm habend, so hofen wie sy seyen auch [wir] ehrliche eidtgnosen, dieweill wir oder die unsren alten tallleüth auch zu capell sich ehrlich gehalten und sy sich auch so vill dahin verfüegt, dass einem solchen willdem kleinen thall nit mehr zu vermutten gesin sigen, deren namen man nit alle wüssen mag, doch noch heüth in dem tall vorhanden sind darein sy etliche kennt, die hernach mit dem namen vermuetet sindt als namlich Marquart Amos, Caspar Amstutz, Heinrich Firabet, Hans Diller, Uly Willer, Heiny Waser, Mathis Niderberger, Jöry Barmettler, Niclaus Würsch, Melchior Matter, Hans Staller und anderen mehr, deren namen man nit weiss die von unseren getrüwen lieben alten tallleüth sind geschickt worden [...].

Die Talleute hielten also zunächst fest, dass auch die Eidgenossen einst unter der Herrschaft des (habsburgischen) Königshauses gestanden waren. Schon damals hätten aber die Waldstätten die Königsmacht nur unter »Vorbehalt ihrer Freiheiten« anerkannt: Demnach hätten Königsgewalt und Freiheitsrechte einander nicht ausgeschlossen. Was veranlasste die Talleute zu dieser sonderbaren Feststellung? Der 164 Vgl. Alphons Sepp Flori Feierabends Sammelband „Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten“ von 1731, S. 9–10.

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Grund dafür wird rasch klar, wenn man sich die damalige Verfassung des Hochtals vergegenwärtigt. Während die Waldstätten die Königsherrschaft im 17.  Jahrhundert schon lange abgestreift hatten, bestand sie im Engelberger Hochtal in vermittelter Weise weiterhin: Das Kloster übte seine weltlichen, von königlicher Hand verliehenen Herrschaftsrechte noch immer aus. Wenn also die Talleute über die vormaligen Waldstätten sprachen, beschrieben sie eigentlich ihre eigenen gegenwärtigen Verhältnisse. Sie lebten zwar unter der Klosterherrschaft, aber – so sagten sie – unter Wahrung all ihrer vorbehaltenen Freiheiten. In den Augen der Talleute änderte die Klosterherrschaft nichts an der Tatsache, dass sie vollwertige und freie Eidgenossen waren. Um allfälligen Zweifeln vorzubeugen, erinnerten die Talleute daran, dass sie sich auch auf dem Schlachtfeld als wahrhaftige Eidgenossen erwiesen hatten – in diesem Zusammenhang bezeichneten die Talleute nur die fünf Orte, d.h. die katholischen Orte der Innerschweiz, als Eidgenossen. Mit diesen hatten sie in der Schlacht bei Kappel 1531 gegen Zwinglis Truppen gekämpft. Die Talleute hatten also ehemals dazu beigetragen, die Feinde der Eidgenossen und der Kirche abzuwehren. Ihre Nachfahren beschworen gleichsam die Erinnerung an diese tapferen Kämpfer, indem sie deren Namen ehrerbietig aufzählten. Die Liste hätte auch mit dem Namen Kaspar Wasers ergänzt werden können, der sich bei der Schlacht durch heldischen Mut ausgezeichnet hatte: Drei seiner Söhne führten später eine Kompanie in Frankreich, unter ihnen stieg Hans Waser sogar zur Ritterwürde auf und wurde 1567 zum Landammann von Nidwalden gewählt. Deutlicher hätte sich die Zugehörigkeit Engelbergs zu den fünf Orten nicht ausdrücken lassen.165 Ein wesentliches Kennzeichen der Waldstätten (ohne Luzern) war nun zweifellos ihre Landsgemeindeverfassung. Die Landsgemeinden besassen politische Befugnisse, die für frühneuzeitliche Verhältnisse nahezu einzigartig waren. Auch wenn Anspruch und Wirklichkeit nicht selten auseinandergingen, so wurden doch in den Landsgemeindeorten über Jahrhunderte hindurch Vorstellungen von Volksherrschaft gelebt und politische Selbstverwaltung geübt. Gewiss hatten nicht alle gesellschaftlichen Schichten dieselben Chancen, Regierungsämter zu besetzen und öffentliche Geschäfte mitzugestalten. Jedoch bildeten hier breite Volksschichten wie nirgendwo sonst ein Bewusstsein für öffentliche Angelegenheiten aus. Die Volksversammlungen gaben dem Gemeinwesen einen sinnfälligen und leibhaftigen Ausdruck. Abstimmungen erinnerten – mindestens für einen Augenblick – an die

165 Vgl. Businger (1791: 214) sowie Haberer (1706: 25). Zum Gemeinschaftsgefühl der V Orte allgemein vgl. Dommann (1943).

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grundsätzliche Gleichberechtigung der Landsleute. Die Landsgemeindeorte besassen eine ausgeprägte Kultur der politischen Auseinandersetzung.166 Als die Engelberger Talleute 1619 von den eidgenössischen Freiheiten sprachen, waren landsgemeindliche Verfassungsvorstellungen ganz sicher mitgedacht. Gemeindeversammlungen waren der Talschaft durchaus nicht fremd. Indem bisher zahlreiche Gemeinden bzw. deren Beschlüsse erwähnt wurden, wurde die Durchführung solcher Versammlungen bereits vorausgesetzt. Doch wie vertrug sich das landsgemeindliche Ideal mit der Klosterherrschaft? Wie war es um das politische Bewusstsein der Talleute bestellt? Wie weit wurde im Hochtal eine Kultur der politischen Auseinandersetzung gelebt? Der folgende Abschnitt will diesen Fragen nachgehen. Gemeinden waren im Hochtal nichts Ungewöhnliches. Die anstehenden Geschäfte bestimmten jeweils die Zusammensetzung und die Häufigkeit dieser Zusammenkünfte. Die feierlichste Versammlung war zweifellos die Talgemeinde: Diese wurde bei Gerichtserneuerungen und Sachgeschäften ausserordentlicher Tragweite einberufen. Da Kloster und Tal gemeinsam über die Gerichtsbesetzung bestimmten, nahm auch der Konvent an der Talgemeinde teil. Gerichtsherren waren jeweils „bis uf die andere gmeindt“ gewählt, also bis zur nächsten Talgemeinde.167 Vakanzen ergaben sich aber meist erst durch Hinschied oder altersbedingte Rücktritte. Trat ferner ein neuer Abt sein Amt an, versicherten sich der neue Talherr und die Gemeinde an der Talgemeinde ihrer gegenseitigen Treue. Auch die Beisassen legten einen Treueid ab.168 Die Talgemeinde tagte entsprechend unregelmässig: In manchen Jahren wurden zwei oder gar drei Talgemeinden einberufen, andere Male verstrich zwischen zwei Talgemeinden über ein Jahrzehnt. So stellte man an der Talgemeinde von 1779 fest, dass „ville junge leüt anwesendt wahren, welche der vor zechen und fast einem halben jahr lestes mahl gehaltenen thallgemeindt nit zugegen“ gewesen waren und den Ablauf einer Talgemeinde noch gar nicht kennen konnten.169 Schliesslich vertraute die Talgemeinde aufwendigere Geschäfte gelegentlich einem

166 Vgl. neuerdings Brändle (2005) mit entsprechender Literaturübersicht. 167 Vgl. ETP 2a.58b. 168 Die Gegenseitigkeit ist hier nachdrücklich zu betonen: Zwar waren nur die Talleute zum Treueid verpflichtet, doch die überlieferten Antrittsreden der Äbte zeigen klar, dass das Treueversprechen nach äbtischer Auffassung gegenseitig zu verstehen war. Zum Treueid der Beisassen vgl. ETP 2b.438–439. 169 In folgenden Jahren kam es zu mehreren Talgemeinden innerhalb desselben Jahrs: 1668, 1711, 1757, 1769, 1771, 1781, 1782 und 1788. Das Zitat von 1779 in ETP 17.202– 213.

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Landrat an: Dabei wurden zum neunköpfigen Gericht zusätzlich achtzehn Talleute abgeordnet.170 Die Talleute behandelten Geschäfte, die sie alleine betrafen, in eigenen Gemeinden. Vertreter des Klosters waren hier nur ausnahmsweise zugegen.171 So entschuldigte sich Abt Leodegar Salzmann 1770 regelrecht, als er wegen ausserordentlicher Umstände an einer solchen Gemeinde teilnahm. Nachdrücklich wies er allfällige Befürchtungen zurück, „als wollte [er] selber sich in die geschäft einmischen, welche sonst iederweilen ein lobl. thall allein besorgt und auch das selbe in solidum [als Ganzes] beträffe“.172 Regelmässig wurden in diesen Gemeinden Geschäfte bezüglich der Talsäumerei und des Nachtwächterdienstes behandelt: Entsprechend wurden die besagten Gemeinden im 18. Jahrhundert schlicht Säumergemeinde bzw. Wächtergemeinde genannt. Die behandelten Sach- und Wahlgeschäfte waren jedoch umfangreicher, als diese Bezeichnungen vermuten liessen. Die Gemeinde konnte in diesen Versammlungen eine gemeinsame Haltung aushandeln, wenn sie nach aussen (vornehmlich in Rechtshändeln) Stellung beziehen musste. Die genannten Gemeinden konnten auch weitere Gemeindeämter besetzen, insbesondere jenes des Säckelmeisters. Der Säckelmeister war der eigentliche Vertreter der Gemeinde, war ihm doch die Obhut über das Talkästli aufgetragen, worin alle Rechts- und Freiheitsbriefe der Talleute aufbewahrt wurden.173 Die gemeindeeigenen Versammlungen regelten auch die Durchführung anstehender Gemeinarbeiten (man denke besonders an das Wuhrwesen oder den Strassenunterhalt).174 Da ferner Gemeinwerk oft ürteweise vorgenommen wurde, führten die grossen Gemeinden auch kleinere Ürtegemeinden nach sich.175 Es ist ausserordentlich bedauernswert, dass nur wenige Berichte über diese wie jene Gemeinden in den Talprotokollen erhalten blieben. Entsprechend dürftig sind diese Versammlungen überliefert. Mit alljährlicher Regelmässigkeit wurde die Genossengemeinde abgehalten. Ab den 1720er Jahren fand sie regelmässig am Thomastag, also am 21. Dezember statt. An diesem Anlass wurden alle alpwirtschaftlichen Wahl- und Sachgeschäfte eingehend und gründlich behandelt. Angesichts der Bedeutung, die der Alpwirtschaft für 170 Vgl. etwa ETP 2a.58b und 18.133–139. 171 Der fremde Reisende Christian Gottlieb Schmidt (1985: 87) bemerkte dazu im 18. Jahrhundert: „Zu der Landsgemeine, welche Volksversammlung iärlich den lezten Sonntag im April gehalten wird, schickt das Kloster auch seine Deputirten, um das allgemeine Beste beraten zu helfen.“ Die Entsendung einer klösterlichen Delegation kam erst im späteren 18.  Jahrhundert regelmässig vor. Schmidts Terminangabe ist für die Herrschaft Engelberg unzutreffend. 172 Vgl. ETP 15.94–99. 173 Vgl. ETP 8.130–140, 11.80 und 15.189–191. 174 Vgl. etwa ETP 14.408–411 sowie 16.226–230. 175 Vgl. etwa ETP 13.147–149.

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das gesamte Wirtschaftsleben des Hochtals zukam, fiel der Genossengemeinde eine entscheidende Rolle zu. Das Kloster war als bedeutendster Alpbesitzer ebenfalls vertreten: Der Abt führte zwar den Vorsitz der Genossengemeinde, besass aber kein grösseres Stimmrecht als die übrigen Genossen. Auffällig ist, dass die vier Gemeinalpen ihre Gemeindeversammlung gemeinsam durchführten, obwohl kaum jeder Genosse auf allen Gemeinalpen Alprechte besass. Die Alpgenossenschaften stellten zwar – nach heutiger Auffassung – privatrechtliche Einrichtungen dar, doch liessen sie sich im 17. und 18. Jahrhundert noch kaum vom öffentlichen Gemeinwesen auseinanderhalten.176 Erstens nahmen an den Genossengemeinden nicht nur Genossen teil, sondern auch Ungenossen. Neben den Genossen werden nämlich die übrigen Alpbesetzer in den Versammlungsberichten regelmässig erwähnt. Die Genossengemeinden sollten ausdrücklich dem Gemeinnutz aller Besetzer (und nicht nur der Genossen) dienen. Allem Anschein nach konnten auch sie ihre Anliegen vor die Genossengemeinde bringen. Insbesondere handelten die Genossen und Ungenossen das Zugrecht auf den Gemeinalpen gemeinsam aus. Diesbezügliche Bestimmungen kamen z.B. an der Genossengemeinde von 1731 nur zustande, „weilen die ungnossen auch gemehret“, d.h. abgestimmt hatten. Offenbar nahmen selbst die unterlegenen Genossen daran keinen Anstoss.177 Ferner wurde an den Genossengemeinden über Sachgeschäfte befunden, die nicht nur die Alpgenossenschaften selbst, sondern durchaus die ganze Gemeinde betrafen: So konnte an den Genossengemeinden über verschiedenste Dinge verhandelt werden, z.B. über die Finanzierung eines neuen Mühlesteins, die Sitzordnung in der Kirche oder die Verpachtung von Allmendweiden.178 Sofern die anstehenden Geschäfte die Einberufung einer Talgemeinde nicht dringlich erscheinen liessen, konnte die Genossengemeinde unter Umständen deren Befugnisse übernehmen. Neben der Genossengemeinde brachte der Alpbetrieb weitere Versammlungen mit sich. Während man etwa im frühen 17. Jahrhundert den Zeitpunkt der Alpauffahrt durch einen Ausschuss bestimmen liess, wurde im folgenden Jahrhundert eine eigene Älplerversammlung dazu einberufen. Die Bannwarte konnten auch während der Alpzeit Versammlungen einberufen, wenn es die Umstände erheischten: So hiess es 1740, „die pannwarthen sollen mögen nach nothdurft das mehr zuosamen ruefen, und sollen alle beruefene bey angehender nacht beysamen sein“. Schliesslich bedurfte der Verkauf der kleinsten Gemeinalp Eien in den 1760er Jahren unzähliger Sondergemeinden bis zu ihrer Auflösung.179 176 Zum heutigen Rechtscharakter von Alpgenossenschaften vgl. Liver (1972). 177 Vgl. ETP 10.61–66, 12.231–235 sowie 17.382. 178 Als Beispiele vgl. ETP 11.193–194, 12.63–70, 12.143–148 und 12.157–162. 179 Vgl. u.a. ETP 4.278–279, 12.180–184, 13.365–369 und 17.14–21. Zu den ausserordentlichen Eiengenossengemeinden: ETP 13.144–145, 13.200–202, 13.211–212, 13.217–221, 13.225, 13.255, 13.271–272 und 13.293–294.

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Es ist durchaus sinnvoll, die genannten Gemeinden gemeinsam in den Blick zu nehmen. Jede Versammlung besass zwar ihre eigene Zusammensetzung und eigene inhaltliche Schwerpunkte, doch die Überschneidungen unter den Gemeinden waren ausgesprochen zahlreich. Bald wurden Säumer- und Wächtergemeinden zu ausserordentlichen Talgemeinden umgestaltet, bald wurden Tal- und Genossengemeinde gleichzeitig abgehalten.180 Allen Versammlungen kam ein politischer Charakter zu: Bliebe nur die Talgemeinde berücksichtigt, wäre der Blick auf das öffentliche Leben im Hochtal unangemessen verengt. Die Gelegenheiten, sich am Gemeindeleben zu beteiligen, waren breiter gestreut. Gewiss, manche Versammlungen verfügten nur über beschränkte Befugnisse. Oft auch wurden Sachgeschäfte (meist alltägliche Verrichtungen) nur noch gewohnheitsmässig abgehandelt. Doch gerade solche Versammlungen boten einen niederschwelligen Einstieg ins öffentliche Leben: Hier liessen sich politische Fertigkeiten erlernen und schmieden. Bereits die Teilnahme an einer Ürtegemeinde setzte ein gewisses Auftreten und Redegewandtheit voraus, sofern man überzeugen wollte. Nicht von ungefähr begegnet man immer wieder begabten bäuerlichen Rednern in den Berichten der Gemeindeversammlungen bzw. Gerichtssitzungen. Wie aber liefen öffentliche Versammlungen ab? Gemeinden wurden in der Regel sonntags nach dem Hochamt abgehalten. Sie wurden am vorausgehenden Sonntag durch den Weibel in der Kirche verkündet und durch einen entsprechenden Anschlag bekanntgegeben. Gemeinden, die regelmässig stattfanden, wurden nur formhalber einberufen. Eine Gemeinde war auch fast von selbst fällig, wenn wichtige Wahlgeschäfte anstanden. Ausserordentliche Versammlungen hingegen setzten voraus, dass die Obrigkeit deren Einberufung beabsichtigte und anordnete. So konnte das Gericht Gemeindeversammlungen (ohne Beizug von Abt und Konvent) nach eigenem Ermessen ansetzen. Die Durchführung einer Talgemeinde setzte hingegen das äbtische Einverständnis voraus, da Abt und Konvent ebenfalls daran teilnahmen. Es muss ferner erwähnt werden, dass die Frauen von den Gemeinden ausgeschlossen waren. Es wäre allerdings ein gedanklicher Kurzschluss, wenn man das politische Abseitsstehen der Frauen unbedacht mit ihrer gesellschaftlichen Stellung gleichsetzte. Dass z.B. begüterte und bestens vernetzte Ratsherrenfrauen tatsächlich einflussreicher waren als mancher arme Talmann, braucht hier nicht mehr ausgeführt zu werden. Die Feststellung politischer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sollte jedenfalls nicht davor abhalten, die weiblichen Handlungsspielräume in der damaligen Gesellschaft auszuloten und der besagten Ungleichheit gegenüberzustellen. 180 Vgl. etwa ETP 13.166–169, 15.189–191, 17.246–252, 17.418–420, 18.21–27 und 18.108–111.

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Abt und Gericht konnten – zumindest aus rechtlicher Sicht – frei entscheiden, welche Sachgeschäfte sie der Gemeinde vorlegen wollten. Häufig gab das Gericht den Anstoss, die Entscheidung eines Sachgeschäfts der Gemeinde vorzulegen. So wurden Belange der Allmend regelmässig von der Gemeinde beraten, insbesondere was deren Besitz-, Nutzungs- und Dienstbarkeitsverhältnisse betraf. Ferner entschied das Gericht nur zögerlich über alpwirtschaftliche Fragen eingedenk der Tatsache, dass „ohne Vorwüssen der Gnossen nit wohl etwas zue machen sein werde“. Ungern befand das Gericht auch über Rechtshändel, in denen die Gemeinde bzw. die Genossenschaften beteiligt waren. Wenn Einzelkläger Forderungen an das Gemeinwesen stellten, wurden sie vom Gericht zunächst an die betreffende Gemeinde verwiesen. Streitigkeiten zwischen Gemeinde und Genossenschaften legte das Gericht ebenfalls der Talgemeinde vor, „allwo so wohl Gnoss als nit Gnossen zuosammen kommen, und ein jeder was ihme billich zuo sein gedunkht reden könne“. Das Gericht sprach sich nicht selten für die Einberufung einer Gemeinde aus, um dem Vorwurf der Talleute zu entgehen, es habe „wider ihr wüssen und verwilligung“ Anordnungen getroffen. Gemeinden konnten aber auch „auf verschiedener Thalleüthen bittliches Anhalten“ einberufen werden. Ferner konnten sich Parteien in Rechtsfällen auf den Standpunkt stellen, dass ihr Streitpunkt die ganze Gemeinde betreffe und dementsprechend nur von dieser geklärt werden könne. Weiter konnten die Dorfoberen von Rechtsparteien derart „mit villem bestendigem ihrem Klagen molestiert [beschwert] undt um Hilf angeruefen“ werden, dass sie zur Einberufung einer Gemeinde regelrecht gedrängt wurden. Stiessen schliesslich obrigkeitliche Anordnungen auf allgemeines »Klagen und Murren«, wurde eine Aussprache in der Gemeinde schier unumgänglich. Wurden also die Rufe nach einer Gemeinde zahlreicher, konnten sich Abt und Gericht nur schwerlich dieser Forderung entziehen.181 Abt und Gericht gingen nicht unvorbereitet in eine Gemeinde. Oft berieten sie die anstehenden Sachgeschäfte gemeinsam vor. So fragte 1665 Abt Ignaz Betschart die Gerichtsherren vor einer anstehenden Talgemeinde, „ob iemandt was zuo besseren, minderen oder mehren vermeinte; [ich] begere bericht in ze nemmen, damit ich solches in ryffe consideration [Überlegung] ziechen und in nächster gemeindt der sachen rath ze schaffen wüste“. Darauf klärten die Gerichtsherren den Abt auf, welche obrigkeitlichen Anordnungen ihrer Ansicht nach verbesserungswürdig wären.182 Abt und Gericht stimmten sich ab, wie die anstehenden Geschäfte der Ge181 Vgl. ETP 2b.63, 2b.617–618, 3.92–97, 4.347, 4.373, 4.523–527, 6.365a-367, 7.646– 647, 8.57–60, 11.520–522, 13.282–283, 14.231, 14.253, 14.422, 15.94–99, 15.227– 232, 16.32–35, 16.149, 16.158–159, 16.226–230, 16.498–499, 17.202–213, 18.21– 27, 18.133–139, 18.158 und 19.124. 182 Vgl. ETP 2b.605, 2b.664–665, 2b.697–698 und 3.25–26.

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meinde vorgetragen werden sollten. Der Vortrag umstrittener Vorlagen überliessen die Gerichtsherren gerne dem Abt, um nicht als deren Urheber angesehen und sich entsprechenden Unmut seitens der Gemeinde aufzubürden. Die Gerichtsherren baten den Abt auch gelegentlich, an gemeindeeigenen Versammlungen teilzunehmen. Das war besonders dann der Fall, wenn sie auf seine Unterstützung zählten.183 Die übrigen Talleute bereiteten sich ebenfalls auf die Gemeinden vor, vornehmlich jene, die ein Amt anstrebten oder ein Anliegen vorbringen wollten. Schriftliche Anträge wurden vorbereitet, Kandidaten übten ihre Ansprache ein, mit der sie „durch eigne nit unzierliche oder undienliche red“ für sich werben wollten. Manche brachten ihre Rede „buechstäblich recitiert“ vor, was jedoch der Wirkung der Rede abträglich schien. Ansprachen bereiteten auch die beamteten Talleute vor, falls sie über ihre Amtsführung Rechenschaft ablegen mussten.184 Gemeindeeigene Versammlungen wurden gewöhnlich auf der Tanzlaube abgehalten. Das Wirtshaus diente höchstens dem Landrat als Versammlungsort.185 Sobald hingegen Abt und Konvent an einer Gemeinde teilnahmen, fand die Versammlung im sogenannten Gastsaal des Klosters (auch Abteisaal genannt) statt. Das galt insbesondere für alle Tal- und Genossengemeinden. Nur ausnahmsweise wurde dem Gastsaal eine andere Räumlichkeit vorgezogen. Die Kirche allerdings diente niemals als politischer Versammlungsort.186 Der Gastsaal war über Jahrhunderte hindurch das politische Epizentrum des Hochtals. Es ist kein Zufall, wenn der Konvent gerade dort die lange Portraitreihe der früheren Engelberger Äbte anbrachte: Wann immer sich die Talleute dort versammelten, sollten sie an die jahrhundertealte Herrlichkeit des Klosters erinnert werden.187 Wie die Gemeinden äusserlich gestaltet wurden, ist leider nur für die Talgemeinde überliefert. Die anderen Gemeinden wurden wohl in schlichterer, aber vergleichbarer Weise inszeniert. Alle männlichen Talleute, die das 14. bzw. 16. Lebensjahr erreicht hatten, mussten an der Talgemeinde teilnehmen und hatten mit ihrem Seitengewehr, dem Zeichen ihrer Wehrhaftigkeit, zu erscheinen. Die Eröff183 Vgl. ETP 8.57–60, 15.94–99, 15.189–191, 15.413a-416, 16.498–499, 17.202–213 und 17.246–252. 184 Vgl. u.a. ETP 10.133–135, 15.94–99 und 18.108–111. 185 Vgl. ETP 16.498–499, 18.108–111, 18.133–139 und 18.158. Nach dem Klosterbrand tagte auch die Genossengemeinde vorübergehend im Wirtshaus, vgl. ETP 8.400–404, 10.61–66, 12.1–5 und 12.63–70. 186 Ausnahme bleibt die Benutzung der Interimskirche nach dem Klosterbrand von 1729, vgl. ETP 10.2 und 12.35–42. Dass Engelberg diesbezüglich eine Ausnahme bildete, wird aus Hersche (2006: 703) deutlich. 187 Zur Portraitreihe vgl. auch den Bericht Johann Rudolf Maurers von 1780 in Dufner (1978: 35).

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nung der Gemeinde fand meistens zur Mittagszeit statt: Gelegentlich wurde die Versammlung mit Trompetenzeichen und Schusssalven feierlich angekündigt. Die Talleute mussten sich übrigens einige Zeit freinehmen: Standen viele Wahl- und Sachgeschäfte an, mochte eine Gemeinde gut vier Stunden dauern. Ausgesprochen festlich ging es zu, wenn ein neuer Abt seine erste Talgemeinde abhielt: Abt Maurus Rinderli z.B. wurde am 19. März 1725 von den Gerichtsherren und einer Schützenabteilung in Grafenort mit aller Förmlichkeit empfangen. Darauf brach der Festzug ins Hochtal auf, wo ihn die gesamte Talmiliz (ungefähr in Kompaniestärke) auf dem Büel in Reih und Glied erwartete. Gewöhnlich lief der Einzug in die Talgemeinde folgendermassen ab: Bannerherr und Schwertträger gingen dem Konvent voran, in ihren Händen das Talbanner bzw. das kaiserliche Richtschwert tragend – letzteres erinnerte die Talleute daran, aus wessen Hand das Kloster seine weltlichen Herrschaftsrechte erhalten hatte. Die Konventualen folgten im Chormantel bzw. mit übergeworfener Flocke (Chorhemd). Nach dem Konvent zog der Abt ein, unmittelbar gefolgt von den Gerichtsherren. Die Konventualen nahmen auf erhöhten Stühlen Platz, aufgereiht nach Alter und Rang. Über dem Abtssitz war zudem ein Baldachin ausgebreitet. Bevor schliesslich die Gemeinde ihren Anfang nahm, erbat man in einem kurzen Gebet „hilff, beystand und gnadt der allerheiligsten Dryfalttigkeitt“.188 Das Zeremoniell fand erst allmählich zur beschriebenen Form. Gewiss wurden die meisten Talgemeinden nüchterner abgehalten als bei Amtsantritt eines Abtes, von den übrigen Gemeinden ganz zu schweigen. Gleichwohl bleibt von Bedeutung, wie sich das kleine Gemeinwesen selbst darstellte und feierte. Die Inszenierung bediente sich der liturgischen Sprache, aber auch zeitgenössischer höfischer Muster. Der äbtische Talherr stand zwar im Mittelpunkt des symbolischen Geschehens, doch kam Konvent, Gericht und Gemeinde ein tätiger Anteil zu: Nicht die Abtsherrschaft, sondern die freie Herrschaft Engelberg wurde gefeiert. Dass die Talleute in diesem Gemeinwesen den Wehrstand stellten, wussten sie eindrücklich zu erinnern. Sie waren nicht nur die Untertanen, sondern auch die Beschützer des Klosters: Dieselbe Miliz, die Abt Maurus Rinderli den militärischen Ehrenempfang bereitete, hatte einige Jahre zuvor einen Einfall bernischer Truppen ins Hochtal abgewehrt.189

188 Zur Volljährigkeit im Hinblick auf die Talgemeinde, vgl. ETP 4.217–218 und 13.166– 169. Zum Zeremoniell vgl. ETP 3.92–97, 4.460–461, 7.547–553, 8.130–140, 12.35– 42, 13.187–189 und 17.202–213. Zum Richtschwert, vgl. auch ETP 7.547–553, zu den Talbannern Engelbergs Durrer (1900). Zum einleitenden Gebet vgl. ETP 2b.63– 65, 2b.493–495 und 10.61–66. 189 Gemeint ist der Berner Einfall ins Hochtal von 1712 anlässlich des zweiten Villmergerkrieges. Massgeblich bleibt dazu die Arbeit Eggers (1913).

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Die Versammlungen wurden durch eine einleitende Ansprache des Vorsitzenden eröffnet. Entsprechende Reden sind leider nur von den Äbten überliefert, doch ist anzunehmen, dass die Dorfoberen die gemeindeeigenen Versammlungen auf ähnliche Weise einleiteten. Die Äbte nahmen in ihren Ansprachen immer wieder dieselben Gedanken auf. So riefen sie die Versammelten auf, Eintracht zu wahren, den Eigennutz hintanzustellen, den Gemeinnutz zu suchen und Gehorsam gegenüber den Beschlüssen von Obrigkeit und Gemeinde zu leisten. Zugleich sicherten die Äbte – insbesondere bei Amtsantritt – den Anwesenden ihren väterlichen Schutz und ihre Treue zu. Beliebt waren Verweise auf die Heilige Schrift bzw. auf die Schriften der Kirchenväter: Die Brüder Abraham und Lot wurden oft als Beispiel dafür herangezogen, wie sich Interessenkonflikte brüderlich lösen liessen. Umgekehrt wurde die Gottesklage aus dem Prophetenbuch Jeremias’ herbeigezogen, um die verderblichen Folgen von Neid und Missgunst aufzuzeigen. Der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit wurde immer wieder mit den paulinischen Worten eingefordert, wonach es keine Obrigkeit gebe, die nicht von Gott eingesetzt sei. Was geschehen konnte, wenn Obrigkeit und Recht verachtet würden, erläuterten die Äbte schliesslich mit den Worten des heiligen Augustinus, wonach solche Gemeinwesen die „grausambsten grossen mörder-gruben“ seien.190 Die äbtischen Ansprachen fanden nicht immer den erhofften Anklang. So verwünschte Abt Leodegar Salzmann an der Genossengemeinde von 1779 gewohntermassen den „abscheulichen wurm des neids, missgunst und eigennutzens“. Als er jedoch von dauernden Streiten und Zänkereien unter den Älplern sprach, stiessen seine Worte manchen Anwesenden sauer auf. Seine Rede hatte jedenfalls „bey mehren schlechten eintruck gehabt“. Die Verstimmung war noch im Folgejahr spürbar, so dass der Abt ganz auf eine Ansprache verzichtete.191 Der Eröffnungsrede folgte üblicherweise die Abdankung der Beamteten. Sie stellten damit ihre Ämter wieder zur Verfügung. Die Abdankungsrede gab ihnen die Gelegenheit, ihre Demut zu beweisen. Die abtretenden Amtsträger entschuldigten sich formelhaft für ihr Ungenügen und erinnerten daran, dass ihr Amt mit „vill sorg und kummer“ verbunden war. Es sei „besser, allen undergäben zu seyn als nur einem befehlen zu haben“, hiess es z.B. 1782 bei der Abdankung des Gerichts. Ferner konnten bei dieser Gelegenheit alters- und krankheitsbedingte Rücktritte erklärt werden. Der Gemeindevorsitzende verdankte darauf den Abtretenden ihre Tätigkeit und hob ihre Verdienste hervor. Die Abdankungsfeier konnte auch „wegen Kürze der Zeit“ ausfal190 Die entsprechenden Stellen der Heiligen Schrift in Gen. 13.1–13, Jer. 12.7–13 und Röm. 13.1–7, ferner Augustinus’ De civitate IV,4. Vgl. ETP 10.2, 12.35–42, 12.355– 359, 17.14–21, 17.50–57, 17.89–97, 17.215–225 und 17.586–591. 191 Vgl. ETP 17.215–225.

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len, vor allem wenn die Besprechung aufwendigerer Sachgeschäfte anstand – oder sie wurde schlichtweg vergessen.192 In den Talgemeinden schaltete man an dieser Stelle das Ablesen ausgewählter Satzungen ein. Die Talartikel konnten im 18.  Jahrhundert angesichts ihrer Zahl kaum mehr vollständig gelesen werden. Manche Talleute argwöhnten deshalb, „man lese darumben nit alle articul ab und ihnen vor, weilen etliche ihnen, denen thalleüthen, zum vor-, dem gottshaus aber zum nachtheil lauthen“. Das Kloster wies die Vorwürfe zurück und liess zweifelnde Talleute frei, die vollständigen Satzungsbücher in der Kanzlei einzusehen. Anschliessend legten die Talleute ihren Treueid mit erhobenen Schwurfingern ab und gelobten dem Abt, „sein nutz, lob und e[h]r ze fürdern, schand [und] schaden wo müglichen abwenden, sein gericht ze schirmen, sein recht ze sprechen und zue behalten, auch dem herren gehorsam ze sein“. Abt und Konvent erhoben sich bei diesem Schwur von ihren Stühlen. Die Talleute leisteten den Eid in aller Regel bereitwillig – mit einer Ausnahme, auf die an anderer Stelle einzugehen ist. Dies erstaunt nicht, schworen doch auch die benachbarten Eidgenossen ihrer Obrigkeit an den Landsgemeinden die Treue. Manche mochten die Vereidigung auch bloss für „äusserliche und läre ceremonien“ halten, wie die Äbte selbst wussten. Wenn nicht ein neuer Abt oder Talvogt sein Amt antrat, blieb der Treuschwur regelmässig aus.193 In allen Gemeinden schritt man nun zum ersten Kerngeschäft, nämlich zur Besetzung der Gemeindeämter. Da Kloster und Tal das Gericht gemeinsam bestellten, war für die Gerichtswahlen ein besonderes Verfahren nötig. Die Talleute verliessen zunächst den Saal, damit der Konvent über die Besetzung der ersten fünf Gerichtsplätze beraten und entscheiden konnte. Der Konvent bestätigte dabei in aller Regel die bisherigen Gerichtsherren „der ohrnung nach, wie selbe in dem gericht überbliben“. Wiederholt kamen die Entscheide des Konvents nur durch das Stimmenmehr zustande, was darauf schliessen lässt, dass die Klosterherren die bisherigen Gerichtsleute durchaus unterschiedlich einschätzten. Die Äbte erinnerten nach erfolgter Wahl die Talleute zwar oft daran, dass der Konvent auch andere Talleute anstelle bisheriger Gerichtsleute hätte bestellen dürfen. Doch die äbtische Bemerkung verdeutlichte letztlich nur, wie sehr sich diese Wahlsitte verfestigt hatte. Sobald die Talleute vom Wahlentscheid des Konvents Bescheid erhielten, machten sie sich selbst 192 Vgl. u.a. ETP 4.323–324, 4.523–527, 6.183–185, 6.310a-311a, 6.347–348a, 8.331– 333, 8.400–404, 10.2, 12.35–42, 12.305–309, 15.50–54, 15.146–153, 15.243–252, 17.446–449 und 17.586–591. 193 Zum Treueid vgl. Schnell (1858: 36), für die Urner Verhältnisse etwa Kälin (1991: 23–25). Ferner auch ETP 2b.700, 4.460–461, 6.183–185, 6.311a-312a, 6.347–348a, 8.130–140, 12.35–42 und 17.202–213.

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ans Wahlgeschäft. Die Talleute bestimmten zwölf Kandidaten durch das Stimmenmehr und liessen dem Konvent eine entsprechende Namensliste zukommen. Dieser besetzte die vier übrigen Gerichtsstellen aus dem besagten Kandidatenkreis, wobei die bisherigen Gerichtsherren ebenfalls zuerst berücksichtigt wurden. Worauf liefen also die Wahlgewohnheiten hinaus? Der Konvent konnte die Wahl unliebsamer Talleute zwar verhindern, erhob jedoch keinen Talmann zur Gerichtswürde, den die Gemeinde nicht vorgeschlagen hatte.194 Leider ist kaum überliefert, wie die Talleute ihre Kandidatenliste aushandelten. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt die Gerichtswahl von 1725 dar. Einflussreiche Talleute versuchten damals, den Klosterschaffner Christian Cattani ins Gericht zu wählen. Der eingewanderte Urner hatte vom Abt bereits 1707 das Talrecht erhalten.195 Ammann, Statthalter und Kanzler hatten sich drei Tage zuvor beim Säckelmeister getroffen, um die Wählbarkeit Cattanis anhand der Rechtsbriefe im Talkästli festzustellen. Doch die besagten Dorfoberen hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Als sie nämlich Cattani auf die Kandidatenliste setzen wollten, stiessen sie auf den erbitterten Widerstand anderer Talleute:196 Allein [hat Gerichtsherr] Hans Melch Amstutz überlauth geschruen, dass das währe wider ihre thallsfryheit, mithin den amman und statthalter zu schanden gemacht vor der gemeind, und des Christes nahmen mit hilff des [Gerichtsherrn] Johann Eugeni Häckis darausgethan, neüe zedell gemacht und nach seiner willkuhr nahmen eingestehlt, auch sogar die sachen mit keinem mehr der ganzen gemeind gemacht, sondern nur mit 20–30 persohnen, die er Stuzzer an seiner meinung bringen mögen, darzu sich auch der [spätere Säckelmeister] Alphons Feyerabedt hatt gebrauchen lassen.

Die Zeilen verraten die Enttäuschung des protokollierenden Kanzlers Rudolf von Brunnetz, der sich für die Wahl Cattanis stark gemacht hatte. Der Bericht verdeutlicht ungeachtet seiner Einseitigkeit, dass starke Spannungen innerhalb der Gemeinde bestanden: Die Entscheidungen der Gemeinde kamen keineswegs einmütig zustande. Weiter fällt auf, dass die Meinungsparteien von gerichtsnahen Talleuten angeführt wurden. Wortgewaltig wandten sich Gerichtsherren gegen das Ansinnen von Ammann, Statthalter und Kanzler. Diese Wortführerschaft belegt, dass auch innerhalb der Gemeinde den Gerichtsherren eine massgebende Rolle zukam.

194 Zum Wahlverfahren vgl. etwa ETP 6.347–348a und 8.130–140, zur Bestätigung bisheriger Gerichtsherren durch den Konvent ETP 6.347–648a, 8.130–140, 8.331–333, 10.2, 12.35–42 und 15.50–54. 195 Vgl. Heer (1975: 265). 196 Vgl. ETP 8.130–140.

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Sobald das neue Gericht bestellt war, leisteten der Ammann und seine Mitrichter den vorgesehenen Eid. Die Gewählten übten sich erneut in Demut, strichen ihr Ungenügen hervor und nahmen ihr Amt erst „nach einiger anständigen weigerung“ dankend an. Gelegentlich pflegten auch Äbte ähnliche Demutsgesten. So erklärte Emanuel Crivelli, er habe die Abtswürde als unwürdiger und schwacher Mensch angetreten, überdies mit dem „schreckhwürdigen zuesatz, dass ich einstens an dem strengen gerichtstag für eüch und alle mir undergebene genaue und strenge rechenschaft geben müesse“. Man wollte sich geradezu widerwillig ins Amt gedrängt wissen und bedauerte – dem sagenumwobenen Cincinnatus nicht unähnlich –, die eigenen Geschäfte vernachlässigen zu müssen. Solche Demutsbezeugungen sollten jeden Verdacht auf Herrschsucht entkräften.197 Die übrigen Gemeindeämter wurden nach dem gewöhnlichen Stimmenmehr besetzt. Die zahlreichen Amtsträger leisteten Erhebliches für das Gemeinwesen: An ihnen lag es, die obrigkeitlichen Vorschriften im alltäglichen Leben durchzusetzen. Die Arbeit war oft beschwerlich und gering entlöhnt. Beamtete mussten häufig den Undank ihrer Talgenossen ertragen und harsche Vorwürfe einstecken. Manche Talleute fühlten sich nämlich – zu Recht oder Unrecht – von den Amtsträgern ungleich behandelt. Doch die Übernahme solcher Ämter gehörte zur Ehrenlaufbahn und Bewährungsprobe jener, die einmal einen Gerichtssitz einnehmen wollten. Gelegentlich wurden Gegenkandidaten aufgestellt, um angefochtene Beamtete aus dem Amt zu drängen. Die Herausforderer wurden der Gemeinde von Dritten »angeraten«, wie man sich bei solchen Kampfwahlen vorsichtig ausdrückte. Jedenfalls konnten manche Wahlen durchaus eng werden, etwa wenn die Kandidaten „in dem meer gleich und stichmässig erfunden“ wurden. Als etwa der wohlgeborene Jakob Geni Langenstein 1731 erneut als Bannwart der Alp Eien antrat, sah er sich nach dem ersten Wahlgang unversehens gleichauf mit dem damaligen Ammann Sepp Hans Kuster!198 Abt und Gericht zweifelten bisweilen an der Urteilsfähigkeit der Gemeinde. So stellte man 1770 anlässlich einer Gerichtssitzung abschätzig fest, dass an den Säumergemeinden „gemeinetlich ein untauglicher oder gar etwan ein halber lumpp erwelt zu werden pfläge“. Dieses Unbehagen war übrigens dem Misstrauen nicht unähnlich, das die benachbarten Obrigkeiten gegenüber ihren eigenen Landsgemeinden hegten.199

197 Einschlägige Stellen bei ETP 8.130–140, 8.331–333, 10.2, 12.35–42 und 12.355–359. 198 Vgl. etwa ETP 2b.590–594, 8.52–54, 8.400–404, 10.61–66 und 15.94–99. 199 Vgl. ETP 14.408–411 und Brändle (2005: 18).

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Die Gemeinden schritten nach den Wahlen zur Behandlung der anstehenden Sachgeschäfte. Die folgenden Verhandlungen stellten in mancher Hinsicht den eigentlichen Kern der Gemeinden dar. Bereits deren Einberufung erfolgte mit dem Zusatz, man wolle „mit einanderen sächen und reden“ und erörtern, was „gemeinem nutz guott, ehrlich und erspriesslich sein möchte“. Insbesondere die jährlichen Genossengemeinden wurden bestellt, „damit ieder bey seinem gwüssen rathe und angebe, was der gemeind guot, noth und recht“ sei. Auch die Äbte mahnten, dass „ein jeder sein wahr, aufrichtig und patriotische meinung“ in der Versammlung geben solle.200 Die Aufrufe stellten keine leeren Worthülsen dar. Tatsächlich konnte in den Gemeinden ausserordentlich lebhaft und gründlich verhandelt werden. Die Oberen stellten der Gemeinde zunächst die klärungsbedürftigen Sachgeschäfte vor: Anstehende Fragen des öffentlichen Lebens wurden entweder unmittelbar oder aber mit ausgearbeiteten Lösungsvorschlägen zur Erörterung vorgelegt. Im zweiten Fall erbat man von den versammelten Talleuten die Entscheidung darüber, welche Lösung sie „für die hablichere und geneigtere ansachen“. Darauf folgte die sogenannte Umfrage „bey den richteren, dem weibel, den eltesten thalleüthen und gnossen, auch letstlich überhaubt bey den gemeinen thalleüten“. Der Redeordnung nach sprachen die Gerichtsherren als erste zur Gemeinde. Es konnte vorkommen, dass sie „ihren guoten magen undt überflüss der witz mit halbstündigen perorationen [Schlussreden] und tieffgründigen süffzgeren genuogsam erwisen“.201 Die Gerichtsherren scheuten sich nicht, einander öffentlich zu widersprechen. An der Genossengemeinde von 1723 z.B. liefen die Verhandlungen folgendermassen ab:202 Amman Matter votando vermeint [...], Statthalter und pannermeister Kuster mach ein unterscheid votando und vermeint [...], Thallhaubtman Häcki fallet bey dem statthalter in der votation mit dem zuthun [...], Schwerdttrager Hans Melcher am Stutz ist der meinung [...], Gerichtsman Hurschler fallet bey dem schwerttrager in allem [...], Andreas Dillier fallet bey votando denen ersten dreyen sambt diser gutten erleüterung [...].

Auch die Äbte mischten sich in die Auseinandersetzungen ein, indem sie eigene Vorschläge einbrachten und besprechen liessen. Einiges Geschick bewies etwa Abt Gregor Fleischlin, als er 1682 der Genossengemeinde einen weitreichenden Änderungsvorschlag nicht selbst vortrug, sondern gewisse Talleute damit beauftragte.

200 Vgl. etwa ETP 2a.58b, 2b.38–41, 2b.493–495, 8.127–129, 12.69–70, 12.225–229 und 12.236–239. 201 Zur Umfrage beispielhaft ETP 12.63–70, zu den zitierten Stellen ETP 3.92–97 und 15.94–99. 202 Vgl. ETP 8.52–54.

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Der Abt brauchte darauf seine Meinung vor der Versammlung nur noch „offenhertzig zuo entdeckhen“.203 Die Umfrage weitete sich anschliessend auf die übrigen Talleute aus. Nur selten wurden obrigkeitliche Vorschläge „ohne mindest widerredt und durch einhelliges mehr“ verabschiedet. Oft hingegen wurde „villes pro et contra disputiert“ und „villes mit grund und ungrundt darwider eingewent“. Unterschiedliche Meinungen wurden also geäussert und in der Gemeinde abgewogen. So fielen manche Beschlüsse erst nach reifer Überlegung. Die obrigkeitlichen Vorschläge kamen bei den Talleuten unterschiedlich gut an. Verdrossen mussten auch die Äbte wiederholt feststellen, dass ihre Anträge bisweilen „kein Verfang haben“ mochten.204 Die Kultur der Auseinandersetzung war zweifellos in den Genossengemeinden am ausgeprägtesten. Jedenfalls waren Verhandlungen in den Genossengemeinden von ausgesprochen sachlicher und gründlicher Art. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich die Alpverwaltung im 18.  Jahrhundert zusehends verschriftlichte. So konnten in den Genossengemeinden die Beschlüsse des Vorjahrs herangezogen und nach Bedarf angepasst werden. Aus einmaligen Verordnungen wuchs allmählich ein vielschichtiges Regelwerk heran, das die Alpwirtschaft teilweise noch heute bestimmt. Dank der schriftlichen Überlieferung konnten vergangene Lösungsfindungen vergegenwärtigt und den neuen Umständen angepasst werden. Schriftlichkeit wurde bald zum unverzichtbaren Verwaltungsmittel, wie auch der zunehmende Erfolg der Talprotokolle ab Ende des 17. Jahrhunderts verdeutlicht. Die Entwicklung eines schriftlichen Gewohnheitsrechts veränderte das Gemeindeleben nachhaltig. Welchen Weg die öffentliche Verwaltung im 18. Jahrhundert zurücklegte, lässt sich am Beispiel der Gerichtssitzung vom 5. Mai 1786 vorzüglich belegen – die Erwähnung dieser Gerichtssitzung ist hier angebracht, da es sich beinahe um eine Gemeindeversammlung handelte. In besagter Verhandlung stritten sich Gemeindevertreter mit einigen Bachanstössern über die jeweiligen Wuhrpflichten. Rückblickend war nicht der Streitpunkt an sich von Belang, sondern die Art und Weise, wie die Parteien ihre Ansichten vertraten. Ausgeklügelte Reden wurden vorgetragen, frühere Gerichtsurteile herbeigezogen, vergleichbare Begebenheiten der jüngeren und älteren Vergangenheit ausgeführt, Gewohnheitsrecht angeführt und doch wieder verworfen, „indemme ein lange übung dennoch ein falsches bewisthum eines gründlichen rechts seyn könnte“. Die Parteien vertraten sich selbst „durch lang andaurendte red, repplic, tripplic und quadrupplic“. Diese Kultur der Auseinander203 Vgl. ETP 4.142–144. 204 Vgl. 2b.618–619, 4.94–95, 4.142–144, 5.354, 8.400–404, 12.1–5, 12.63–70, 12.400, 13.211–212, 13.267–268, 13.304–305, 15.77–85, 15.413a-416, 17.202–213, 17.246– 252, 17.382, 18.21–27, 18.81–94, 18.108–111 und 18.182–184.

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setzung war – das sei hier nachdrücklich festgehalten – nicht das Vorzeichen einer neuen Zeit, sondern vielmehr das Ergebnis einer jahrhundertealten und beständigen Entwicklung.205 Schwieriger lagen die Dinge in den anderen Gemeinden. Hier öffneten sich nicht nur Gräben zwischen Obrigkeit und Gemeinde, sondern auch innerhalb der Gemeinde selbst. Oft liessen sich die anfallenden Geschäfte nur beschränkt nach vorgegebenen Mustern bewältigen, was die Entscheidungsfindung zusätzlich erschwerte. Entsprechend lebhaft fielen die Auseinandersetzungen aus. Die Protokollführer nahmen immer wieder dieselben Begriffe auf, wenn sie von den vielerlei geäusserten Klagen und Einwendungen berichteten: Streit, Verwirrung, Geschrei und Tumult. Dass die barocke Sprache die Dinge gerne überzeichnete, ist bekannt. Ferner ist auch in Rechnung zu stellen, dass die protokollierenden Oberen die Gemeinden oft durchwegs geringschätzten. Mit unverhohlenem Dünkel berichtete etwa Kanzler Ildephons Straumeyer 1737 von einer Säumergemeinde: „Wo alle gleich waren, haben auch alle gesiegt. Kurz: es kam zu Geschrei und keinerlei Ordnung, das Geschäft blieb unerledigt“. In Klammern sei hier angefügt, dass Straumeyer weit weniger überlegen war, wenn er sich nicht einem unbeschriebenen Papierblatt, sondern den Talleuten selbst gegenübersah – doch dazu später. Auch Abt Leodegar Salzmann traute der Gemeinde wenig, als er deren Einberufung 1773 verweigerte, „weilen in solcher oft alles bund über egg gehe und die handt ungeschickhter schmähler und nit der verstandt kluger undergebner regiere“. Auch wenn man die einseitige Färbung solcher Berichte berücksichtigt, drängt sich doch die Feststellung auf, dass man sich in den Gemeinden ausserordentlich lebhaft auseinandersetzte.206 Die Oberen spürten im Verlauf der Verhandlung bald, in welche Richtung der Gemeindebeschluss ausfallen würde. Sie konnten die Versammelten nochmals aufrufen, den Gemeinnutz vor den Eigennutz zu stellen und „all das jenige zu ermehren helfen, was [sie] dem lezteren am aller nuzlichisten erachten wurden“. Mahnend konnten sie anfügen, es solle bei der bevorstehenden Abstimmung „die hand mit vernunft gestreckht und gemehret werden“. Wenn die Niederlage unabwendbar schien, konnten die Oberen versuchen, eine Abstimmung zu umgehen und die Entscheidung zugunsten weiterer Beratungen aufzuschieben. Das gelang ihnen auch in manchen Fällen, „auch wenn einige darauf murrten“. Wenn aber aufgebrachte Talleute ein Stimmenmehr »begehrten« oder gar »anverlangten«, war eine Abstimmung kaum mehr abzuwenden. Es ist naheliegend, dass ein solch »ermauletes« Stimmenmehr selten im Sinn der Oberen ausfiel. Manchmal konnte es einem einzigen Talmann gelingen, die Gemeinde gegen Abt und Gericht auf seine Seite zu brin-

205 Vgl. ETP 16.424–441. 206 Zu den zitierten Stellen vgl. 11.195–197 und 16.32–35.

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gen. So stieg etwa an der Genossengemeinde von 1751 ein einziger Bauer aufs hohe Ross – rusticus in stivelis – und bekämpfte erfolgreich einen obrigkeitlichen Antrag. Der Obrigkeit blieb oft nichts anderes übrig, als in einer späteren Gemeinde einen neuen Anlauf zu nehmen. Als etwa die Gemeinde am 14. Juli 1781 einen obrigkeitlichen Antrag unerwartet ablehnte, beriefen Abt und Gericht auf den folgenden Sonntag eine erneute Gemeinde ein. Der Abt verweigerte seine Teilnahme an der zweiten Gemeinde ganz, um „seine persohn einem abermahlig zu beförchtendten tummult nimmer mehr auszusezen“. Die Gerichtsherren leisteten in der Zwischenzeit jedoch Überzeugungsarbeit, so dass der Antrag am 22.  Juli doch noch angenommen wurde. Ein Jahr zuvor hatte auch Abt Leodegar Salzmann eine kluge Eingebung gehabt. Als einem obrigkeitlichen Antrag wiederum die Ablehnung drohte, traute sich der Abt nicht mehr, „ein mehr ergehn zu lassen“. Deshalb ordnete er an, dass die Talleute ihre Stimmen einzeln im Verlauf der folgenden Tage abgeben sollten. Das Ergebnis fiel mit 180:57 eindeutig im Sinn des Abtes aus. Diesem war es offenbar gelungen, die entstandene Dynamik zu brechen.207 Warum setzte die Obrigkeit umstrittene Vorlagen nicht einfach von selbst in Kraft? Es war Abt und Gericht nur begrenzt möglich, Anordnungen gegen den Mehrheitswillen durchzusetzen. Die Talleute gingen gelegentlich sehr frei mit Vorschriften um und hielten sich nicht zurück, aus allfälligen Verstössen „ein gespass und gespött daraus zuo machen oder mit lachen zuo ubersehen“. Als an der Genossengemeinde von 1736 über das Zugrecht gestritten wurde, bekannten die Talleute freimütig, „dass schon viele verenderungen alp- und lehen-viechs ziechung halber oberkeitlich geschechen, und [...] keine hätte mögen gehalten werden“. Fehlbare wurden von ihren Talgenossen oft nicht angezeigt, weil mancher fürchtete, er würde dadurch „eines gleichen oder noch schwehreren verbrechens“ überführt werden. Obrigkeitliche Vorschriften wurden nicht selten übersehen. Kaum war z.B. der Tabakgenuss an der Talgemeinde von 1659 eingeschränkt worden, erklärte Baschi Hess (noch in der Versammlung!) hinter vorgehaltener Hand, „er frage dem verbott nichts nach“.208 Eine Vorschrift liess sich jedoch leichter durchsetzen, wenn sie auch von der Gemeinde abgesegnet wurde. Das war den Oberen sehr wohl bewusst, war es doch „alle mahl besser, wan alles im friden und mit liebe ohne zwang geschechen kann“.209 Aber selbst Gemeindebeschlüsse waren manchmal schwer durchzuset207 Vgl. ETP 8.127–129, 12.63–70, 12.231–235, 17.246–252, 17.357–363 und 17.418– 420. 208 Vgl. u.a. ETP 2b.612–613, 12.63–70, 12.231–235 und 17.89–97. 209 Vgl. ETP 16.226–230.

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zen. So konnten Steuereintreibungen etliche Schwierigkeiten bereiten, auch wenn die Gemeinde eine entsprechende Besteuerung gebilligt hatte. Oft mussten sich die Oberen mit „abermahliger unzufridenheit, sträflichem murren und bei eint und anderem gentzlicher verweigerung“ einiger Talleute auseinandersetzen. Besteuerungsfragen liessen die Verwerfungen innerhalb der Gemeinde überdeutlich werden. Abt Leodegar Salzmann traf 1773 ins Schwarze, als er in der Wächtergemeinde feststellte:210 Wo der arme die abgab der steür auf den vermögendten und dessen güeter und capitall allein verlegen wolle, der begüterte herentgegen vermeinth, dass in demme der arme [... das] gemeinwesen nit weniger als er und wohl weit mehr brauche, selber auch wenigestes antheill an abtragung gemeiner steüren und auflagen nemmen sollte.

Man erinnere sich diesbezüglich, dass der Schulbau von 1770 am „geitz und neidt“ der Reichen bzw. Armen gescheitert war. Die Obrigkeit musste sich bemühen, den besagten Graben zu überbrücken, denn andernfalls scheiterte jede Vorlage am Widerstand der einen oder anderen Seite. Die Abstimmungen in den Gemeinden begründeten ein eigenes Begriffsfeld. Schon die Einberufung einer Gemeinde konnte mit einem eigenen Begriff umschrieben werden, nämlich »das Mehr zusammenrufen«. Wer eine Abstimmung wünschte, konnte »das Mehr begehren bzw. beantragen«. Schritt man tatsächlich zur Abstimmung, so hiess dies üblicherweise »das Mehr ergehen lassen«. Einem Antrag wurde zugestimmt, indem er durch das gemeine Hand- bzw. Stimmenmehr ermehrt, gutgeheissen, erlaubt oder erkannt wurde. Hingegen wurde ein Antrag abgelehnt, indem er durch ebendieses gemeine Hand- und Stimmenmehr gemindert, abgemehrt, hinweggemehrt oder verworfen wurde. Schlicht, aber eindrücklich folgte einer Abstimmung bisweilen die Erklärung: „Es ward das meehr“. Unabhängig davon, welche Befugnisse den Gemeinden tatsächlich zukamen, prägten solche Begriffe das politische Denken aller Beteiligten. Einfache Talleute konnten in den Gemeinden ihren Oberen öffentlich, von Angesicht zu Angesicht und ungestraft widersprechen, sofern sie sich an die damaligen Anstandsregeln hielten. Insbesondere der genossenschaftliche Gedanke erinnerte an die grundsätzliche Gleichberechtigung aller: Die Stimme des einfachen Talmanns wog in der Genossengemeinde ebenso viel wie jene des Abtes. Aufschlussreich ist diesbezüglich der Fall Anton Feierabends, der 1786 vorrevolutionärem Gedankengut begegnet war. Talauswärts erklärte er darauf, „er frage dem gnädigen herren nüd nach und er förchte ihn nüd, er sey ein freyer thallmann, [und weiter:] ich bin gnoss wie der 210 Vgl. ETP 15.413a-416, ferner ETP 16.32–35, 17.418–420 und 18.21–27.

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gnädig herr und er ist gnos wie ich und nichts mehr“. Hier ist weniger der vorrevolutionäre Gedanke von Belang als die Art und Weise, wie ihn Feierabend einkleidete. Es bedurfte nur einer feinen Bedeutungsverschiebung, um aus dem spätmittelalterlichen Genossenschaftsgedanken eine vorrevolutionäre Forderung werden zu lassen.211 „So hofen, wie sy seyen auch [wir] ehrliche eidtgnosen“ – diese Hoffnung der Talleute war nicht unbegründet. Wiewohl das Hochtal unter klösterlicher Oberherrschaft stand, hatte dies die Entwicklung einer landsgemeindlichen Ordnung nicht verhindert. Die Talleute hatten zahlreiche Möglichkeiten, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, und sie nutzten diese auch. In den Gemeinden wurden wichtige Belange des öffentlichen Lebens erörtert, Meinungen ausgetauscht und Auseinandersetzungen gelebt. Nachhaltig wirkte sich auch die zunehmende Schriftlichkeit auf das Gemeindeleben aus. Wo ferner Entscheidungen durch das Stimmenmehr gefällt wurden, blieb der Gedanke einer grundsätzlichen Gleichberechtigung aufrecht. Rechtlich konnten sich Abt und Gericht in mancher Hinsicht über die Gemeinde hinwegsetzen: Tatsächlich aber waren sie auf deren Unterstützung angewiesen, wenn sie Massnahmen erfolgreich und dauerhaft umsetzen wollten. Die Obrigkeit musste die Talleute für ihre Anliegen entsprechend gewinnen können. So prägend der Gedanke der Gleichberechtigung auch sein mochte, so unterschiedlich blieb gleichwohl der Einfluss der einzelnen Talleute. Auch in den Gemeinden kam die Wort- und Meinungsführerschaft gerichtsnahen Talleuten zu. Diese konnten auf ihr Beziehungsnetz sowohl bei Wahl- als auch bei Sachgeschäften bauen. Sie waren es, die alle entscheidenden Gemeindeämter besetzten. Die Kluft zwischen gerichtsnahen bzw. –fernen Talleuten wurde zusätzlich durch grosse Vermögensunterschiede vertieft. Das rege Gemeindeleben blieb fremden Beobachtern weitgehend verschlossen. Die Verhandlungen der Gemeinde waren nicht für die Aussenwelt bestimmt. Als die Gemeinde nach dem Klosterbrand von 1729 in einer Hütte tagte, wurden an den Türen und Fenstern Hellebardenträger aufgestellt, „damit kein Fremder an den Fenstern irgendetwas hören möge“. Auch die Reisenden der Aufklärungszeit bekamen niemals eine Gemeinde zu Gesicht – was sie freilich nicht daran hinderte, sich über die politischen Verhältnisse im Hochtal auszubreiten. So glaubte Helen Maria Williams noch in den 1790er Jahren feststellen zu müssen, dass der Abt von Engelberg eine beinahe absolute Herrschaft über die Talbewohner ausübte.212 Dass sich die Wirklichkeit nicht 211 Vgl. ETP 16.446–448. Dies schliesst weitere Einflüsse nicht aus, etwa jene „italienischer, französischer, holländischer oder englischer Ideen“, vgl. dazu Brändle (2005: 17). 212 Vgl. Williams (1798: 69).

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so verhielt, ist hinlänglich bekannt. Doch welche Stellung nahm der Abt im öffentlichen Leben tatsächlich ein?

3.3.2 Äbtische Herrschaftsstile Die Klosteranlage drängte sich im frühneuzeitlichen Hochtal dem blossen Auge auf: Mächtig ragte das Kloster zwischen den Bauernhäusern empor und versetzte manchen fremden Reisenden ins Staunen. Leicht mochte man da auf ein sehr ungleiches Verhältnis zwischen Kloster und Tal schliessen. Doch wie war dieses tatsächlich bestellt? Im 17.  und 18.  Jahrhundert blickten Kloster und Gemeinde auf eine gemeinsame Geschichte zurück, deren Wurzeln bis ins Hochmittelalter zurückreichten. Das gegenseitige Verhältnis war über die Jahrhunderte hindurch gewachsen und prägte Denk- und Verhaltensweisen im Hochtal nachhaltig. Das galt auch und insbesondere für das politische Verhältnis zwischen Kloster und Gemeinde. Eine Rückblende bleibt also unerlässlich, wenn man das politische Leben des frühneuzeitlichen Engelbergs angemessen verstehen will. Hier lässt sich an frühere Ausführungen anknüpfen (vgl. Abschn. 2.1.1). Bis Anfang des 15. Jahrhunderts bleibt weitgehend ungewiss, wie das 1120 gegründete Benediktinerstift seine Herrschaftsrechte im Hochtal wirklich ausübte. Zeitgenössische Rechtsschriften haben diesbezüglich nur geringen Erkenntniswert, da sich die wahrscheinliche Kluft zwischen Rechtsanspruch und Wirklichkeit kaum mehr ermessen lässt. Die besagten Schriften vermitteln lediglich die Herrschaftsvorstellungen der Klosterherren, mehr nicht. Diese Feststellung gilt auch und insbesondere für die sogenannte Bibly, Engelbergs ältestem Weistum, das um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert aufgezeichnet wurde. Ein zuverlässigeres Bild lässt sich von den damaligen Wirtschaftsverhältnissen gewinnen. Hier wird bald klar, dass die Stiftsgründung das bäuerliche Wirtschaften im Hochtal nur sehr allmählich veränderte – was weiter nicht erstaunt, lag doch das Schwergewicht der Klosterwirtschaft ausserhalb des Hochtals. Manche Bauern waren noch im 14. Jahrhundert weitgehend selbständig, so z.B. die Schwander Bergleute. Da die klösterliche Eigenwirtschaft im Hochtal durchaus beschränkt blieb, wurden wohl die meisten Talgüter an Bauern verlehnt. Erblehen festigten deren Verfügungsgewalt über besagte Güter. Das Kloster behielt sich allerdings ein Erbrecht vor und beerbte die Güter jener Bauern, die ohne Leiberben verstarben. Die wirtschaftliche Stärke der Talbewohner war bereits im 14. Jahrhundert stark abgestuft. Eigen- und Pachtbesitz waren durchaus unterschiedlich verteilt: Gross- und Kleinbauern standen sich im Tal und auf den Alpen gegenüber. Man darf ferner vermuten, dass die Grossbauern stärker in die Herrschaftsausübung eingebunden waren.

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Wer sonst sass wohl auf den Richterstühlen, als sich an Pfingsten 1401 „viel erber lüten, die Urteil sprachend“, zum Gericht zusammenfanden?213 Anfangs des 15. Jahrhunderts versuchte das Kloster, seinen Grundbesitz im Hochtal straffer zu verwalten. Auswärtige Besitzverluste mochten es ebenso dazu drängen wie der wirtschaftliche Wettbewerb, der infolge des zunehmenden Aussenhandels die Nutzflächen allmählich knapper werden liess. Das Kloster verschriftlichte seine Zugriffsforderungen in der bereits erwähnten Bibly, doch bleibt unklar, inwiefern es diese Rechte auch durchzusetzen suchte. Die klösterlichen Ansprüche waren neuartig, auch wenn sie sich im Gewand althergebrachter Rechte kleideten. Die Gotteshausleute liessen sich das klösterliche Ansinnen nicht gefallen. Sie schlossen sich 1413 den Nidwaldnern an, indem sie sich in deren Landrecht aufnehmen liessen. Da die Nidwaldner selbst seit dem 14. Jahrhundert den geistlichen Grundbesitz (u.a. des Klosters Engelberg) zurückzudrängen suchten, war die Botschaft der Gotteshausleute unmissverständlich. Der Widerstand machte sich bezahlt: Das Kloster verkaufte den Gotteshausleuten am 9. Januar 1422 das althergebrachte Erbrecht, womit es Verstorbene ohne Leiberben beerbt hatte. Der Loskauf ermöglichte es den Talleuten erst wirklich, ihre Güter grundpfandlich zu belasten: Genau dieses Grundpfandwesen sollte der Talwirtschaft bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein den Stempel aufdrücken. In der besagten Auseinandersetzung traten die Gotteshausleute erstmals überhaupt als Gemeinde auf: Der gemeinsame Widerstand gegen das Kloster liess ein bisher unbekanntes Gemeinschaftsgefühl entstehen. Der Auskauf aus dem klösterlichen Erbrecht kam also – symbolisch gesprochen – der Gründung der Gemeinde Engelberg gleich. Dass die Herausbildung der Gemeinde jedoch nicht reibungslos vonstatten ging, wusste später Renward Cysat zu berichten:214 Vmb disß zyt vnd darnach erhub sich ein treffenliche vnruow vnd span der tallütten wider das gottshuß; wollten sich gar fry machen; deß zugend Lucern, Schwytz vnd Vnderwalden dahin, machtend sy gehorsam, namend das gotshuß jn jren schirm, bekamend hiemitt die cast- vnd talvogty.

Die Talleute erinnerten sich 200 Jahre später auf ihre Weise an die vergangenen Ereignisse, insbesondere an die Entstehung der Schirmvogtei. So erklärten die Talleute, 213 Vgl. Gfr. 26, 1871, 23. Zur mittelalterlichen Geschichte Engelbergs vgl. Sablonier (1990: 47–55, 113, 137–153). Die hier wiedergegebene Darstellung steht der älteren, stark rechtsgeschichtlichen Forschung diametral entgegen, vgl. Cattani (1935), Bruckner (1946), Schmeitzky (1951), Meyer (1954) u.a. 214 Vgl. Cysat I, 980.

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„das[s] ein herr zu Engelberg vill gspän mit denen gutten einfaltigen thalleüthen gehan immer dar, bis so weit und fern ein gottshus und die thalleüth under die alten 4 orth oder waltstetten schirm kommen sind.“ Die Talleute sahen die Schirmorte also als Schiedsparteien an und waren später überzeugt, „das[s] die selbigen nit alein des gottshaus sonder unser gemeinen thalleüth schirmherren“ geworden seien.215 Der Streit zwischen Kloster und Gemeinde flammte 1488 wiederum auf, weshalb die Schirmorte erneut ins Hochtal einmarschieren mussten. Der jüngere Diebold Schilling berichtete darüber:216 Nu ist ein geschlecht im tal, die heissend die Schwaderouwer [Schwadrauer], vast stoltz hochfertig puren, die umb niemand nüt dazemal, noch umb kein gebott woltend geben, und wurdend die andern tallüt all durch die Schwaderouwer, sunderlich von Jenni Schwaderouwer uffgewist, nüt ab des aptz gepotten ze tun. Das nu den drüy orten fürkam, daruff sy ir bottschafft hinin schicktend, inen ze sagen gehorsam ze sin, sy weltend sy anders gehorsam machen. Darab sy kurtz nüt woltend tun, sunder selber heren sin. Und also zugend die drie ort uff ein nacht mit drüyhundert mannen in das tal, fiengend die puren und satztend sy all von iren eren und meintend, Jenni Schwaderouwer mit dem schwert ze richten. Aber diewil sy sunst all an eren gestrafft wurdent, ließ man inn von bitt wegen ouch mit inen heschen. Und wz Peter Ruß dazemal miner heren von Lucern hoptman, und wurdent dieselben puren erst recht gloubig.

Wer waren denn diese Talleute, welche die äbtische Herrschaft bestritten und „selber Herren sein“ wollten? Sie nahmen offensichtlich Ehrenämter (vermutlich Gerichtsstellen) ein und waren einflussreich genug, um die übrigen Talleute um sich zu scharen. Jenni Schwadrauer z.B. gehörte einem angesehenen Geschlecht an, das schon früher die Interessen der Talleute gegenüber den Schirmorten vertreten hatte.217 Als übrigens die Schwadrauer wegen des missglückten Aufstands nach Uri wegziehen mussten, fassten sie bald wieder Fuss und stellten in ihrer neuen Heimat schon anfangs des 16. Jahrhunderts einen Ratsherrn: Dies konnte nur einem begüterten und wohlvernetzten Geschlecht gelingen.218 Es waren also einflussreiche und vermögende Talleute, die den Aufstand gegen die Klosterherrschaft geprobt hatten. Ihr Aufstand wäre wohl erfolgreich gewesen, wenn sich die Schirmorte nicht eingeschaltet und die Talleute zum Gehorsam gezwungen hätten. Allerdings mussten

215 Vgl. Alphons Sepp Flori Feierabends Sammelband „Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten“ von 1731, S. 10 bzw. 49. 216 Vgl. Schilling (1932: 101). 217 Vgl. Schnell (1858: 16). 218 Vgl. Schilling (1932: 101, Anm. 5).

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sich in der Folge nicht nur die Talleute eine schärfere Aufsicht der Schirmorte gefallen lassen: Auch das Kloster büsste erheblichen Handlungsspielraum ein. Im 16. Jahrhundert legten sich die Spannungen zwischen Kloster und Gemeinde weitgehend. Vergleichbare Auseinandersetzungen sind jedenfalls nicht überliefert, im Gegenteil. Damals gelang es Kloster und Gemeinde, grössere Bauvorhaben gemeinsam durchzuführen. Ein bautechnisches Gemeinschaftsprojekt grossen Ausmasses stellte die Korrektur der Aa dar, die 1513 in Angriff genommen wurde und nunmehr den westlichen Talboden vor Überschwemmungen schützte. Auch die Stansstader Sust liessen Kloster und Gemeinde 1538 gemeinsam neu errichten. Für jene Zeit ist auch bedeutsam, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen im Hochtal allmählich verrechtlichten. Eine entscheidende Wegmarke stellte zweifellos das Abbatiat Barnabas Bürkis (1505–1546) dar. Abt Barnabas Bürki war – gemessen an Bildung, Einfluss und Wirken – wohl der bedeutendste Abt der Klostergeschichte überhaupt.219 Der grosse Mann führte das Hochtal unbeirrt durch die Wirren der Reformation, drängte den Einfluss der Schirmorte zurück, sicherte in vielerlei Hinsicht die Zukunft des Klosters und fand nicht zuletzt den rechten Umgangston mit den Talleuten. Mit Bürkis Abbatiat begann auch die »Epoche der eigentlichen Gesetzgebung«: Allmählich wurde das Alltagsleben im Hochtal durch zahlreiche Verordnungen rechtlich zu regeln versucht. Eine erste Rechtssammlung entstand knapp vier Jahrzehnte nach Bürkis Tod: So fasste das alte Talbuch von 1582 „des gotzhus und gmeiner thallütten satzungen und ordnungen, so jerlichen beschechen und durch ein herrn apt das convent des gotzhus, och der räten und gantzer gemein uffgesatzt und gemacht wirt“.220 Die Verordnungen stellten also ein Gemeinschaftswerk von Abt, Konvent, Gericht und Talleuten dar, das an den jährlichen Gemeinden allmählich weiterentwickelt wurde. Übrigens ist hier auf die Bezeichnung der »gemeinen Talleute« hinzuweisen, welche den älteren Begriff der »Gotteshausleute« allmählich verdrängte. Es wurde schon früher darauf hingewiesen, dass sich damit ein neues Selbstbewusstsein der Gemeinde ankündigte. Auch unter Abt Barnabas Bürki waren verbriefte und ausgeübte Rechte des Klosters durchaus zweierlei. Ein Schulbeispiel bildet dafür Heinrich Stulz’ Rede von 1518. Der Grosskellner machte damals auf die grundlegenden Unterschiede aufmerksam, die zwischen den verbrieften Rechten des Klosters und ihrer tatsächlichen Handhabung bestanden. Die meisten grund- und leibherrlichen Abgaben hatten ihre wirtschaftliche Bedeutung weitgehend verloren: Sie hatten meist nur noch symbolischen Charakter, indem die Talleute mit deren Entrichtung die Herrschaftsund Besitzrechte des Klosters grundsätzlich anerkannten (Rekognitionswert). Das 219 Zu Abt Barnabas Bürki vgl. Vogel (1875) und Weiss (1956). 220 Vgl. Vogel (1875: 34–35).

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Kloster seinerseits hatte den Talleuten nach eigenen Angaben „mancherley gute und ansechenliche fryheiten“ zugestanden in der Hoffnung, dass die Talleute das Entgegenkommen erwidern würden. Das Kloster sprach die Talleute als »freie Gotteshausleute« an und schenkte ihnen die entsprechende Anerkennung. Abt Barnabas Bürki handhabte die klösterlichen Herrschaftsrechte gegenüber den Talleuten also durchaus grosszügig. Die kluge Haltung Bürkis zeigte reiche Frucht: Kloster und Gemeinde fanden jedenfalls zu einem ausgeglichenen Zusammenleben zurück, das die Streitigkeiten des 15. Jahrhunderts allmählich überwand. Kloster und Gemeinde lebten verhältnismässig friedlich miteinander, bis anfangs des 17. Jahrhunderts die Abtswürde auf Jakob Benedikt Sigerist (1603–1619) fiel. Nach Sigerists Abbatiat waren Kloster und Gemeinde zerstritten wie kaum je zuvor. Als sich Sigerists Nachfolger Benedikt Keller auch noch anschickte, den Herrschaftsstil seines Vorgängers zu übernehmen, brach der angestaute Unmut der Talleute erst wirklich aus. Diese weigerten sich 1619 sogar, dem neuen Abt den Treueid zu leisten – ein einzigartiger Vorfall im 17. und 18. Jahrhundert. Was aber hatte die schwere Zwietracht verursacht? Kaum hatte Sigerist 1603 den Abtssitz inne, tat er sein Herrschaftsverständnis durch unmissverständliche Zeichen kund. So liess er den zerfallenen Galgen am Taleingang rasch wieder aufrichten.221 Sigerist beliess es nicht nur bei der Erneuerung des Hochgerichts, sondern liess 1611 mächtige Türme unterhalb des Klosters bauen, die er durch hohe Schutzmauern miteinander verband. In den Kellergewölben jener Türme liess er zudem unterirdische Kerker einrichten. Selbst die Nidwaldner Regierung verwunderte sich 1612 über diesen Bau und stellte fest, dass „das alles unnotwendig ist, wil es an keinem Pass und in keiner Gefahr darumben stath und auch kein Nutzung daruß folget“.222 Man kann sich leicht vorstellen, dass der Anblick der neuen Türme auch bei den Talleuten ungute Gefühle weckte. Tatsächlich stiessen Abt und Gemeinde 1604/05 erstmals heftig zusammen.223 Der Streit wurde erstens durch Sigerists Weigerung ausgelöst, das Gericht zusammen mit den Talleuten einvernehmlich zu besetzen. Die Richterstellen hatten bisher „jederzyt die herren prelaten und gemeine thallüt mit einandern [sic!] besetzt, in der gstalt, daß je einen umb den anderen genommen worden“. Sigerist wusste sehr wohl von dieser althergebrachten Sitte, setzte sich jedoch über sie hinweg und wollte die Gerichtsbesetzung nunmehr alleine vornehmen. Sigerists Anspruch auf die Gerichtsbesetzung liess die Talleute befürchten, dass „wo etwan die rät sich nit glich nach eines herren prelaten willen und gefallen verhielten, er sy alsdann entset221 Vgl. Heer (1975: 208). 222 Vgl. Durrer (1971: 111–112, 1105–1106). 223 Vgl. den eidgenössischen Schiedsspruch von 1605 bei Schnell (1858:68–73).

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zen wurde“. Insbesondere die Gerichtsfamilien waren beunruhigt, „hiemit möchten die alten geschlechter geschupft und die nüwen erkauften thallüt denselbigen fürgezogen und an ihrer statt gefürderet werden“. Die Äbte standen seit 1444 in der rechtlichen Pflicht, Gerichtsherren „under den tallüten und keinen frömden [zu] erkiesen“.224 Sigerist liess die Bedenken der Talleute unbeachtet und wählte bald nach Amtsantritt den Elsässer Hans Krämer ins Gericht, der sich ins Talrecht eingekauft hatte. Sigerist beförderte Krämer nicht nur zum Statthalter, sondern gab ihm auch das klösterliche Wirtshaus zur Pacht. Verbittert stellten die Talleute fest, dass „derselbig Würt den thalleuten gar zuwider ist und gar ein unbillichen gewünn genommen“. Dass der Abt seinen Schützling sogar als gelegentlichen Gerichtsvorsitzenden einsetzte, verschloss diesem wie jenem die Herzen der Talleute erst recht.225 Zweitens versuchte Sigerist die Entrichtung der grund- und leibherrlichen Abgaben (Fall und Ehrschatz) strenger zu handhaben. Sigerist teilte die grosszügige Haltung seines berühmten Vorgängers Barnabas Bürki nicht und kannte ebenso wenig das Taktgefühl seiner Nachfolger, welche die Abgaben nur umsichtig und eher gebührenartig einforderten.226 Sigerist verlangte die besagten Abgaben auf eine Weise, wie „solches von mentschen gedechtnus her nie in ubung gsin“. Der Abt stützte seine Forderungen zwar auf verbriefte Rechte ab, doch diese waren längst ausser Übung gekommen. Die entsprechenden Artikel des Talbuchs änderte er eigenmächtig ab.227 Die grund- und leibherrlichen Abgaben waren nicht so sehr von wirtschaftlicher, sondern weit mehr von symbolischer Bedeutung. Diese Zeichenhaftigkeit wurde erst recht dadurch betont, dass die Landleute der umliegenden Orte derartige Abgaben schon lange nicht mehr entrichteten. Die Talleute mussten sich 1605 deshalb den Spott der Nidwaldner gefallen lassen, wie Abt Plazidus Knüttel (1630–1658) später berichtete:228 Die Stanser stachelten die Unsrigen zu einem Aufstand an. Während des ganzen Frühlings sprachen die Urheber des Aufstands unter sich über nichts lieber als darüber, ihre Freiheit zu bewahren bzw. mehr zu erlangen. Dazu drängten sie auch die Versprechungen der Stanser, welche – von der Erwartung getrieben, unser Gebiet dem ihrigen anzuschliessen – die Urheber des Aufstands oft aufwiegelten und manchmal mit Sticheleien reizten: Sie nannten sie

224 Vgl. Schnell (1858: 16). 225 Zu Hans Krämers Gerichtszeit vgl. ETP 1.85 und 1.345. Krämer wirkte auch als Fürsprecher des Abtes (vgl. ETP 1.188) sowie als dessen Vertreter (vgl. ETP 1.231–232). Vgl. weiter Schnell (1858: 68–73). Ferner die Klageschrift der Talleute vom 29.07.1619. 226 Vgl. Crivellis »Jurisdictionalia« in Gfr. 33, 1878, 72–88. 227 Vgl. Hegglin (1929: 229–231). 228 Vgl. Annalen Plazidus Knüttels für die Jahre 1604/1605.

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Knechte, die entgegen eidgenössischer Sitte der Befehlsgewalt einer Alleinherrschaft untertan seien. Nicht nur Freiheit, sondern auch Geist könne man sich dort nur dürftig erwerben.

Nun lässt sich besser verstehen, weshalb die Talleute in jener Zeit solchen Wert darauf legten, als vollwertige Eidgenossen (d.h. Waldstätten) anerkannt zu werden. Sigerist seinerseits rang sich erst bei der Vermittlung der Schirmorte zum Eingeständnis durch, dass die Talleute »freie Gotteshausleute« und nicht »Leibeigene« seien. Dass die Talleute Verbindungen nach Nidwalden unterhielten, kann nicht erstaunen. Vergleichbare Streitigkeiten hatten ja bereits 1413 dazu geführt, dass sich die Talleute Nidwalden anschlossen. Wer aber waren die Urheber des Aufstands, von denen Plazidus Knüttel sprach? Es handelte sich um Ammann Melcher Matter sowie dessen gleichnamigen Sohn, Statthalter Balzer Amstutz und Säckelmeister Hans Kuster.229 Wie schon beim Aufstand von 1488 waren es also Angehörige der Gerichtsfamilien, die sich gegen die äbtische Herrschaft – oder genauer: gegen eine gewisse Art der äbtischen Herrschaft – auflehnten. Der Aufstand war zunächst nur von einigen Talleuten ausgegangen, doch schloss sich bald darauf die ganze Gemeinde an. Regelmässig versammelte sich die Gemeinde unter Leitung ihrer Anführer, deren Redegabe später selbst der klösterliche Geschichtsschreiber eingestand. Erst das Eingreifen der Schirmorte vermochte 1605 den entstandenen Streit vorübergehend zu beruhigen. Friede kehrte jedoch keineswegs wieder ins Hochtal ein. Wie die Talleute ihren äbtischen Talherrn in der Folgezeit erlebten, darüber unterrichtet eine Klageschrift, welche die Talleute im Juli 1619 – vier Monate nach Sigerists Tod – den Schirmorten vorlegten. Die Talleute beschwerten sich darin, dass „leibeigen leut köndten nit strenger gehalten als wier ein zeitlang sindt gehalten worden“. Was die Talleute ihrem äbtischen Talherrn vorwarfen, liess sich in drei Worte fassen: Willkür, Habgier und Herrschsucht. So zählte die Klageschrift erstens unzählige Vorfälle auf, welche die äbtische Willkür belegen sollten. Sigerist hatte sich als schlechter Rechtshüter erwiesen, indem er – so die Klageschrift – Talleuten das rechtliche Gehör verweigert, Kundschaften zurückbehalten, seine Günstlinge bevorzugt, Gerichtsurteile aufgehoben bzw. verunmöglicht, Strafen eigenmächtig verschärft, Erbschaften verhindert hatte usw. Die Talleute prangerten insbesondere die äbtische Weigerung an, „das[s] die Richter ein Urtel geben oder [es sei denn,] er selber darbey“. Wer dem Abt nicht günstig gestimmt war, zog in Rechtsgeschäften den Kürzeren, so dass der Unrechte Recht und der Rechte Unrecht erhielt. Ferner hatte Sigerist „ein bösen brauch und gewaldt an i[h]m gehan, wann er einem thall-

229 Der Ammann wurde zu Zeiten Melcher Matters noch Weibel genannt, das Amt unterschied sich jedoch kaum.

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man nüt ist wol gesin, so hat er allwegen Ursach funden denselben zue straffen“. So hatte Sigerist einen Bauern ohne erhebliche Ursache beinahe um sein Gut gebracht. Die Talleute lasteten dem Abt auch Habgier an, da Sigerist ein neuartiges Gewerbe- und Tafelmonopol eingefordert und ziemlich rücksichtslos durchgesetzt hatte. So hatte er den Talleuten einerseits das Recht abgesprochen, einen Wirtsbetrieb zu führen. Das Wirtshaus legte Sigerist in die Hände des eingewanderten Hans Krämers, der sich durch überrissene Preise bei vielen Talleuten verhasst machte. Manche Talleute erklärten deshalb, „sy wellend nit mehr in das Würtshuß, [sondern] eher in einem Purenhauß einkehren“. Wenn ein Fremder nicht ins Wirtshaus absteigen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf der Tanzlaube zu übernachten. Andererseits hatte Sigerist einen einheimischen Handelsmann gezwungen, seine Geschäfte mit dem Welschland einzustellen und seine sechs Saumpferde zu verkaufen. Der unglückliche Säumer erlitt angeblich einen Verlust von 3000 Gulden. Der Abt stieg darauf selbst in den gewinnträchtigen Saumhandel ein. Drittens litten die Talleute besonders unter Sigerists Herrschsucht. So hatte Sigerist mehrere Talleute ohne gerichtliches Verfahren in den Turm einsperren lassen. Die Talleute erinnerten an Sigerists eigene Worte, „wan er auf die Gassen kheme und einer i[h]m ein Missantwurt gebe“, so wolle er diesen ohne Gerichtsurteil in den Kerker werfen. Schweren Anstoss erregte auch der Umstand, dass der Abt jene Talleute einsperren liess, die einen Schiedsspruch der Schirmorte begehrt hatten. Wer sich dem Abt widersetzte, musste sich vor dessen Zornausbrüchen fürchten. Die Talleute hielten Sigerist auch für einen unzuverlässigen Alpgenossen, da er sich offenbar über die Alpsatzungen hinwegsetzte. Die Talleute mahnten diesbezüglich, dass „vormahlen khein Abbt niemer [mehr] gewalt brucht dann ein anderer gnoß“. Ferner hatte Sigerist Ungenossen in die Genossenschaft aufgenommen, ohne sich mit den übrigen Genossen vorgängig abzusprechen. Die Ordnung auf den Alpen verfiel allmählich, was die Talleute schlicht mit der Feststellung erklärten: „Wann das haupt krankh ist, so ist auch der ganz Leib krankh.“ Gegenseitige Verleumdungen schürten den Unfrieden weiter an. Dass die Talleute den Abt mittelbar beschuldigten, sein priesterliches Keuschheitsgelübde gebrochen zu haben, wurde bereits erwähnt (vgl. Abschn. 3.1.2). Doch auch Sigerist sagte den Talleuten allerhand nach. So sollten die Talleute angeblich gedroht haben, „wan hundert prelatt in das tall komen, so weltend wir hundert erschiessen“. Von äbtischer Seite wurde auch das Gerücht verbreitet, dass die Talleute „gen Zürich geschickt und da selbst rath gesucht“ hätten:230 Schwerer hätten Ansehen und Ehre 230 Vgl. Alphons Sepp Flori Feierabends Sammelband „Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten“ von 1731, S. 22–23.

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der Talleute kaum getroffen werden können, deren Vorfahren in der Schlacht von Kappel 1531 Eidgenossenschaft und Kirche verteidigt hatten. Die vielfältigen Klagen der Talleute mochten gewiss in mancher Hinsicht übertrieben sein. Die Vorwürfe von äbtischer Seite standen ihnen diesbezüglich kaum nach.231 Einem unparteiischen Beobachter wären wohl manche Dinge anders erschienen. Dass hier die Klagen der Talleute dennoch in Wirklichkeits- und nicht in Möglichkeitsform wiedergegeben wurden, hat gleichwohl seine Berechtigung: Unabhängig davon, ob Sigerist von redlichen Absichten getrieben war, empfanden die Talleute seine Herrschaftsausübung als ungerecht. Dieser Empfindung kam sehr wohl Wirklichkeitswert zu. Sigerist zog sich übrigens nicht nur den Unmut der Talleute zu, sondern auch seiner Ordensschwestern im Frauenkloster. Das Stift Engelberg war seit dem 12. Jahrhundert ein Doppelkloster, doch wurde dessen Auftrennung im frühen 17.  Jahrhundert überfällig. Sigerist trieb die Verlegung des Frauenklosters kräftig voran und hatte dafür auch berechtigte Gründe. Allerdings erwies sich der Abt gänzlich unfähig, das nötige Vertrauen zum Frauenkonvent herzustellen. So beklagte sich die Konventsmeisterin Apollonia Funk 1614 bitterlich bei den Schirmorten, der Abt wolle das Frauenkloster um seinen Besitz bringen. Entrüstet stellte die Meisterin fest, dass „man uns arm, elende, betrüpten schwestern soll also von den unsern vertriben [und] verschiken: O min gott, wie hand wir ein prelat, o wel ein stüfvater!“232 Selbst seinen Ordensschwestern gegenüber fand Sigerist den richtigen Ton nicht. Unter Jakob Benedikt Sigerist fielen Kloster und Gemeinde in jene tiefe Zwietracht zurück, die nach 1488 überwunden worden war. Die Geschichtsschreibung suchte bald, die damalige Auseinandersetzung als Verfassungsstreit zu deuten. Dies war nicht abwegig, wenn man etwa den Streit um die Gerichtsbesetzung berücksichtigt. Auch die Talleute selbst bewahrten den Streit als »Grossen Rechtshandel« in Er-

231 Einseitige Beurteilungen finden sich diesbezüglich in der klösterlichen Geschichtsschreibung, etwa in den Schriften Plazidus Knüttels’ (17. Jahrhundert) und Ildephons Straumeyers (18. Jahrhundert), die jegliche Mitschuld Sigerists abstreiten. Während die Befangenheit von beteiligten bzw. betroffenen Zeitgenossen immerhin nachvollziehbar bleibt, ist die Einseitigkeit neuerer Darstellungen schwer verständlich. Von erstaunlicher Einseitigkeit ist etwa die Darstellung bei Heer (1975: 203–219), der sich in seinen Ausführungen scharf an der Grenze intellektueller Lauterkeit bewegt. So handelt z.B. Heer die Nidwaldner Denkschrift von 1612 kurz damit ab, diese würde nur „von Verdächtigungen, Verleumdungen und Unwahrheiten strotzen“, ohne auch nur im geringsten nach berechtigten Einwänden zu fragen. 232 Vgl. Ettlin/De Kegel (2000: 35). Zur Geschichte des Frauenklosters auch De Kegel (2008).

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innerung.233 Blickt man jedoch genauer hin, verlieren die Rechtsfragen ihre Vorrangigkeit. Nur vordergründig stritten sich Abt und Talleute um rechtliche Fragen. Der Streitgrund lag tiefer: Sigerist war es nicht gelungen, das Vertrauen der Gemeinde zu gewinnen. Er achtete die Empfindlichkeiten der Talleute gering und brachte ihnen die Anerkennung nicht entgegen, die sie von ihrem äbtischen Talherrn erwarteten. Sigerist vermochte allerdings den Stolz der Talleute nicht zu brechen: Als sich die Talleute am 10. Juni 1619 an einer eidgenössischen Tagsatzung verteidigen mussten, forderten sie unerschrocken, ihr Beistand möge sich gleichberechtigt neben die übrigen Gesandten setzen!234 Eindringlich warnten die Talleute davor, dass sie eine Abtsherrschaft wie jene Sigerists nicht mehr dulden würden und bemerkten,235 dass wir under einem söllichen Joch nit khönden läben, wie wir [unter Abt Sigerist] gesin sindt, und wan [... ehrwürdige Schirmherren] dem jezigen herren also vil gewalt lasst, als der herr selig brucht hat und gesagt hat, er habe, also ist es nüt muglich in dem wilden thal hus zu haben, sonders wir müessen nach langem alle us dem thall ziehen.

Sigerist hatte also den eidgenössischen Stolz seiner Untertanen sträflich missachtet. Ferner hatte sich Sigerist reichlich ungeschickt über ungeschriebene Spielregeln hinweggesetzt. Er hatte sich auch nicht darum bemüht, Rückhalt innerhalb der Gemeinde zu finden. Insbesondere wurde ihm zum Verhängnis, dass er die Beziehungen zu den einflussreichen Gerichtsfamilien nicht gepflegt, sondern geradezu abgebrochen hatte. Sigerist Scheitern ging also letztlich auf mangelndes Einfühlungsvermögen und fehlendes Takt- bzw. Fingerspitzengefühl zurück. Die Talleute berichteten nach Sigerists Tod, dass „der herr sellig oft gesagt, wie das[s] die thalleütt nit verstanden, wie ers gut mit ihnen meine“ – deutlicher konnte der unglückliche Abt sein Scheitern nicht eingestehen.236 Ganz anders verlief hingegen das Abbatiat Ignaz Betscharts (1658–1681).237 Betschart gehörte einem berühmten Schwyzer Geschlecht an, sein Vater Gilg war bis zum 233 So benannte auch Alphons Sepp Flori Feierabend die damaligen Vorgänge in seinem Sammelband „Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten“ von 1731. 234 Vgl. EA 5,2,2, 2019. 235 Vgl. Klageschrift der Talleute vom 29.07.1619. 236 Vgl. Alphons Sepp Flori Feierabends Sammelband „Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten“ von 1731, S. 18–19. 237 Zur Biographie Betscharts vgl. Heer (1975: 229–239), die dort allerdings mit einer befremdlichen Schlusswürdigung versehen ist. Heer stellt Betscharts Abbatiat unter das nichtssagende Vorzeichen eines „matten Glanzes des barocken Absolutismus“, vgl. Heer (1975: 553).

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Landsstatthalter von Schwyz aufgestiegen, sein Bruder Hans Franz sollte dem Vater später nachfolgen. Betschart trat als 16-jähriger Jüngling 1640 in die Klosterschule ein, wo seine vielseitige Begabung und sein aufgeweckter Geist rasch entdeckt wurden. Seine Studien führten ihn auch an die Jesuitenschule von Luzern. Die Talleute lernten Betschart bald kennen, übernahm er doch 1653 deren Seelsorge als Pfarrer von Engelberg. Betschart erhielt dadurch auch Gelegenheit, sich mit dem Talvolk vertrauter zu machen. Betschart stand vor keiner einfachen Aufgabe, als er 1658 zum neuen Abt gewählt wurde. Wenige Jahre zuvor hatte der grosse Bauernkrieg von 1653 die Eidgenossenschaft und insbesondere Luzern, den Vorort der Waldstätten, tief erschüttert. Gewiss hatte man im Hochtal den nahen Bauernaufstand genau vermerkt. Da ferner Betscharts Vorgänger Plazidus Knüttel fast drei Jahrzehnte geamtet hatte, musste der junge Abt seine Tüchtigkeit erst recht unter Beweis stellen. Abtswechsel waren heikle Übergänge, wie schon Abt Benedikt Keller 1619 hatte erfahren müssen. Die Anfechtungen seitens der Talleute liessen auch nicht auf sich warten. Als sich das Gericht 1660 mit der üblen Haushaltung des Wirts Hans Kuster beschäftigte, richtete dieser scharfe Worte an den Abt.238 Kuster warf Betschart unverhohlen Parteilichkeit vor und forderte bei den Gerichtsverhandlungen den Ausstand des Abtes. Hämisch fügte Kuster hinzu, „zuo Engelberg undertrucke mann den bidermann, schelmen und dieben aber helffe mann auff “. Später erklärte Kuster gar, „man halte ihm kein recht, mann helffe i[h]m nit zum rechten, er sie um unschuld in d’straff kommen, müess zahlen, das[s] er nit schuldig“ gesprochen werde. Vielleicht sprach Kuster auch die damals geläufige Drohung aus, er würde den Visitatoren (vermutlich der benediktinischen Kongregation) das Unrecht anlässlich ihres nächsten Besuchs anzeigen. Kuster beschuldigte also den Abt der Parteilichkeit, der Willkür und der Günstlingswirtschaft. Ähnliche Klagen kamen 1665 auf, als die beiden Älpler Hans Blättler und Lienhart Zniderist einander gerichtlich belangten. Schwer beklagte sich Blättlers Fürsprecher über das ergangene Urteil:239 Es nemme i[h]n wunder, worum der gn. herr in diser sach zuo gricht gesessen? Wan der Hans nit auff dem treillboden [Trauboden, Alpflur in Engelberg] gesentnet und die alp nit von ihr gn. gehabt hetti, wan es also gangen wäri, wolte er ein[em] wol in das ... blasen! blas, blas, bist gnuog ...!

Die Auslassungspunkte stammen vom damaligen Protokollführer selbst, doch kann man sich das Ausgelassene gut vorstellen. Solche Vorwürfe waren fast identisch mit 238 Vgl. ETP 2b.629–630 und 2b.633–635. Zur Drohung, Unrecht den Visitatoren anzuzeigen, vgl. ETP 2b.556 und 2b.559–560. 239 Vgl. ETP 3.37–39.

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jenen Klagen, die einst gegen Jakob Benedikt Sigerist erhoben wurden. Die Gleichartigkeit weist darauf hin, wie hartnäckig sich gewisse Denkmuster – abseits der gerichtlichen Öffentlichkeit bzw. Schriftlichkeit – erhalten konnten. Hans Kuster wusste als Wirt nur zu gut Bescheid, worüber die Talleute an den Wirtshaustischen sprachen. Es erstaunt nicht, wenn es 1663 auch vom nächsten Wirt Adam Waser hiess, er sei „ungehorsam gesin, ihr gnaden glichfahls despectiert und verschreyt gemacht“.240 Der Vorwurf der Günstlingswirtschaft führte es mit sich, dass gewisse Talleute von Ihresgleichen als Zuträger des Abtes verunglimpft wurden. Da war von »Flattierern« (d.h. Schmeichlern) und »Ohrenträgern« die Rede, die den Geistlichen nachliefen und ihnen das Aufgeschnappte berichteten. Wer angezeigt wurde, konnte sich jedoch mit der Feststellung rechtfertigen: „Grad die, die man mein, sien ihr gnaden die besten und vorher redi, was man gern ghöri, die reden hinden her grad ein anders.“241 Es blieb auch nicht unbemerkt, als Statthalter Hans Amstutz und Säckelmeister Jakob Langenstein an der Nidwaldner Landsgemeinde vom 30. April 1662 ins Nidwaldner Landrecht aufgenommen wurden. Letzterer war erst am 6. Januar 1662 ins Engelberger Gericht gewählt worden. Betschart liess sich nicht auf die Herausforderung ein und erklärte den beiden Gerichtsherren gelassen: „Nun wolan, weil dem also, mag ich eüch eüwer glück so wol gonnen und wünschen von hertzen, dass ihr das glück hierinn nit alein suochen, sonder auch finden.“ Die Unterwaldner hänselten die Talleute übrigens immer noch wegen ihres äbtischen Oberherrn. So mussten sich zwei Unterwaldner, die im Hochtal Geschäfte trieben, 1671 für ihre Aussage verantworten, „die thallüht sei[e]n libeigni lüht, was man lang machen und rechten wolle, zletst sie doch ihr gnaden meister“.242 Ein Jahr später musste der Abt in anderer Sache seinen Mitbruder und Pfarrer Athanas a Castanea in Schutz nehmen. Gerichtsherr und Fähnrich Melcher Dillier hatte dem Pfarrer nämlich vorgeworfen, das Beichtgeheimnis verletzt und das Gebeichtete dem Abt berichtet zu haben, „dass andere hierdurch vor gricht gstrafft worden“. Ähnliche Vorwürfe wurden im 17.  und 18.  Jahrhundert wiederholt gegen Geistliche erhoben. Diesbezüglich erübrigt sich die Frage, ob den Klagen tatsächliche Begebenheiten zugrunde lagen – Gleiches gilt übrigens auch für die wiederholten Gerüchte, die den Geistlichen einen Bruch ihres Keuschheitsgelübdes nachsagten. Beide Beschuldigungen gehörten zum typischen Repertoire des Antiklerikalismus. Die entsprechenden Denkmuster gingen in den Waldstätten bis auf 240 Vgl. ETP 2b.698–699. Siehe diesbezüglich Brändle (2005: 29–30) hinsichtlich seiner Ausführungen zum »hidden transcript«. 241 Vgl. ETP 2a.32–32b, 3.178, 3.219 und 4.165–166. 242 Vgl. ETP 2b.675 und 3.178.

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das Spätmittelalter zurück, als sich die Landsleute allmählich von ihren geistlichen Grundherren ablösten.243 Antiklerikale Gefühle kamen noch im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder auf. Anna Töngi z.B. tat ihre Unzufriedenheit 1665 damit kund, „man sollte den prelaten und alle pfaffen mit einem bengel zum gottshus usschlagen, wie man die hund usschlagt“. Einige Jahre später beklagte sich auch Niklaus Töngi, „so lang der herr prelat lebe, mäg man nicht ghusen“. Seine Kinder hatten ebenfalls verlauten lassen, „die pfaffen seien die ergsten“. Diese Äusserungen gehörten noch zu den milderen dieser Art: So berichtete derselbe Töngi von Heini Hurschler, dieser „hab ihr gnaden so offt pffaffet undt grett, dass ihme gruset“. Wenn also die Talleute vertrauliche Gespräche miteinander führten, gehörte das »Pfaffen« wohl in vielen Fällen dazu: Dies allerdings lag weniger an einer übel beschaffenen Geistlichkeit als vielmehr an angewöhnte Denk- und Sprechweisen.244 In diesem schwierigen Umfeld musste Ignaz Betschart seines Amtes walten. Betschart schrak nicht davor zurück, seine eigenen Ordnungsvorstellungen durchzusetzen. Manche Talleute beklagten sich in jener Zeit über die strafferen Zügel des Abtes. Der eben genannte Heini Hurschler erklärte 1674, „man husi ietzund under dem prelaten gnüöger, wil man müösse strenger zinsen, man merchti so gnauw undt geb so wenig z’lo[h]n als man mög“. Ähnlich hatte Kaspar Töngi ein Jahrzehnt zuvor festgestellt, „der gnedig herr gehe mit denen thallüten umb, dass sie nüt ghusen mögen und verderben“. Auch die beiden erwähnten Unterwaldner hatten sich beklagt, „dass es [in Engelberg] nit zuo husen, dass auch alles baldt der oberkeit sie“. Als Balzer Schleiss 1674 wegen einer unrechtmässigen Holznutzung belangt wurde, rief er sogar aus: „Zacker hergot, was ist das gmacht, es ist nichts besser, als man schlag alle arme lüht zuo dot!“245 Wiederum glichen die Klagen aufs Haar jenen Vorwürfen, die man schon 1619 gegen die äbtische Herrschaft erhoben hatte: Es sei nicht möglich, im wilden Tal zu hausen, wenn der Abt weiterhin so regiere. Betschart gegenüber empfanden die Talleute allerdings nicht nur Ablehnung, sondern durchaus auch Bewunderung. Die zwiespältigen Gefühle kamen etwa zum Ausdruck, als der eben genannte Balzer Schleiss sich über den äbtischen Kämmerer Johann Melchior Betschart ausliess. Vom Kämmerer hatte Schleiss erklärt, er sei „listig und verschlagen wie sin herr bruoder“, womit Schleiss den Abt selbst meinte! Verschlagene Listigkeit war allerdings eine Eigenschaft von durchaus zwiespältiger Wertigkeit, zumal Trickreichtum und Schläue unter den Bauern als wertvolle, ja vielleicht als angesehenste 243 Vgl. dazu Blickle (1993). 244 Vgl. ETP 2b.703, 3.47, 3.219, 4.118–121, 14.150–152, 15.50–54, 15.189–191 und 16.446–448. 245 Vgl. ETP 3.14–15, 3.178, 3.219 und 3.233.

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Charaktereigenschaften überhaupt galten. Die Talleute waren weit davon entfernt, Betschart Herrschsucht und Zornigkeit vorzuwerfen, wie sie es noch gegenüber Jakob Benedikt Sigerist getan hatten. Das Geschick Betscharts lässt sich am Streit um den Heuzehnten von 1668 beispielhaft aufzeigen.246 Der Abt forderte damals von den Talleuten den Heuzehnten ein, allerdings nur vom überschüssigen Heu, das man anderwärts verkaufte. Dagegen erhob sich unter den Talleuten „offentlich und heimlich murren“. Der bereits erwähnte Melcher Dillier, der 1665 zum Ammann aufgestiegen war, leistete gegen die Entrichtung des Heuzehnten heftigen Widerstand. Wiederholt hatte Dillier dem Abt bei Gerichtsverhandlungen „selbst in das gesicht widersprochen“. Am 23. Februar kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Abt und seinem Ammann. Die beiden Männer gerieten im Gastsaal in aller Öffentlichkeit aneinander. Entgegen aller Sitte entblösste der Ammann sein Haupt nicht, als er dem hohen Geistlichen gegenübertrat. Dillier behielt nicht nur seinen Dreispitz auf dem Kopf, sondern fuhr den Abt wiederholt an „mit bedektem haubt, nit ringerem zorn als grobheit undt mermahl ihro in das angesicht trutzlich geantwortet“. Betschart hingegen blieb beherrscht und liess sich nicht herausfordern. Der Abt liess den Ammann sogar vor aller Augen gewähren. Der Ammann fühlte sich immer sicherer und ging Betschart immer gröber „mit grossem ifer“ an. Dillier trieb es allerdings so weit, dass „andere vor der thür beiderseits des saals stehende leütt hierüber geergeret und bestürtzt worden [...], dass ein herr praelat beschreit werde“ – damit hatte Betschart möglicherweise gerechnet. Jedenfalls blieb der Abt ruhig und begann, den aufrührerischen Ammann geschickt auszumanövrieren. Am 24. Februar lud er das ganze Gericht zu sich und erläuterte seine Haltung bezüglich des Heuzehnten. Betschart bat die Gerichtsherren, am folgenden Tag eine Gemeinde abzuhalten und die Meinung der Talleute in Erfahrung zu bringen. Der Abt liess Gericht und Gemeinde wohlweislich alleine verhandeln und trat nicht selbst in der Versammlung auf. Die Gemeinde kam darauf zum Schluss, dass die rechtlichen Grundlagen des Heuzehnten unklar seien. Sie sprach sich deshalb dafür aus, die Sache durch einige Nidwaldner Ratsherren klären zu lassen. Betschart war schlau genug, das auswärtige Schiedsgericht nicht abzulehnen. Er erklärte sich gegenüber einem Gemeindeausschuss bereit, den Talvogt samt einer Gesandtschaft „auff der verlurstigen parthey kosten alhero zu erforderen“. Der Ausschuss blieb „ob diser ohnerwartenen replica [...] bestürzt“: Indem Betschart den Talleuten entgegenkam, brachte er sie erst recht in eine Zwickmühle. Die Gemeinde war in der Tat kaum bereit, die allfälligen Kosten einer eidgenössischen Gesandtschaft zu übernehmen. Bereits am 246 Vgl. ETP 3.92–97.

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2. März 1668 kam die Gemeinde erneut zusammen und entschied nunmehr, „dem lobw[ürdigen] gotshaus obgedeüten zehnden mit guotem willen und mit liebe volgen zu lassen“. Die Sache war damit aber nicht abgeschlossen. Betschart war sich wohl bewusst, dass sich das scharfe Ausscheren seines Ammanns bald wiederholen könnte – dies umso mehr, als auch andere gerichtsnahe Talleute den Ammann unterstützt hatten. Deshalb versuchte Betschart erneut, sich mit den übrigen Gerichtsherren zu verständigen. Am 5. März kam es zur Aussprache mit dem ganzen Gericht. Erst jetzt brachte Betschart das widrige Verhalten des Ammanns zur Sprache und bat die übrigen Gerichtsherren, seine eigene Ehre wiederherzustellen. Es war ein geschickter Schachzug des Abtes, dass er seine Ehre nicht selbst wiederherzustellen versuchte, sondern dafür das Gericht anstrengte. Der Ammann hatte sich durch sein formwidriges Verhalten derart blossgestellt, dass die übrigen Gerichtsherren ihn unmöglich unterstützen konnten. Melcher Dillier musste darauf dem Abt eine kniefällige Abrede leisten. Betschart vermied unnötige Anfeindungen und beliess Dillier in seinem Amt, bis 1671 ein anderer Gerichtsherr zum Ammann gekürt wurde. Der Abt hatte die Bedeutung des Gerichts bzw. der Gerichtsfamilien genau erkannt. Betschart verstand rasch, dass er seine Herrschaftsrechte nur zusammen mit den Gerichtsherren, nicht aber gegen sie ausüben konnte. Es gelang ihm insbesondere, einflussreiche Talleute in die Herrschaftsausübung einzubinden und in die Pflicht zu nehmen. Eine überragende Gestalt unter den Talleuten war sicherlich der begüterte Jakob Langenstein, der während 30 Jahren (1662–1692) dem Gericht angehörte. Betschart beförderte Langenstein 1670 zum Statthalter, der dieses Amt bis zu seinem Tod behielt. Der Abt hatte gut daran getan, den jungen Langenstein nicht abzustrafen, als dieser 1662 das Nidwaldner Landrecht erworben hatte: Jakob Langenstein wurde nicht nur selbst zu einer wichtigen Stütze des Gerichts, sondern ebenso seine Nachfahren. Langensteins Nachkommen bildeten während Generationen die bedeutendste Gerichtsfamilie Engelbergs überhaupt. Auch die schwerreiche Maria Katharina Langenstein, von der schon mehrfach die Rede war, gehörte zu den Nachkommen Jakob Langensteins. Unter den Talleuten wurde Langenstein wegen seines ausgeprägten Geschäftssinnes als »Wolf« bezeichnet, und selbst Betschart musste seinen machtbewussten Gerichtsherrn gelegentlich zurückpfeifen.247 Indem Betschart sich mehr und mehr auf das Gericht abstützte, nahm er sich auch selbst aus der Schusslinie. Aufschlussreich ist etwa die Klage, die Melcher Amrhein 1671 vorbrachte:248

247 Vgl. ETP 3.237. 248 Vgl. ETP 3.168 (und 3.235).

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Wo er Melcher etwas habe unt klage, so glaube man ihm nit. Er heige kein verthruwen. Wan einer nur vil ausspreche, so müösse er vil zalen; man woll ihm nit helffen und begere, ihmme nit zuo helffen; man beger ihmme weder zuo helffen noch zuo rahten; undt gradt in der grichtstuben ihnnen, da man solte das recht sprechen, wüsse er woll, wies gange; er wolle nit mehr rechten, wüsse wol wies gang, wen er schon ein gerechte sach habe. [...] Wan er schon hundert mal recht het, komme er nit recht über.

Als Betschart sein Amt antrat, hätte eine solche Klage durchaus gegen ihn gerichtet sein können. Doch ein Dutzend Jahre später hatten sich die Verhältnisse gewandelt. Amrhein hielt seine Klagerede nicht gegen, sondern zum Abt hin! Der Talmann bat den Abt als seinen Oberherrn um dessen Schutz vor gerichtlicher Willkür. Betschart stellte sich darauf schützend vor sein Gericht, doch war nunmehr klar – auch und gerade in den Augen der Talleute –, dass das Gericht einen guten Teil der Herrschaftsverantwortung übernommen hatte. Betschart bezog die Gerichtsherren auch immer stärker ein, sobald obrigkeitliche Entscheidungen anstanden. Es wurde bereits erwähnt, dass er mit den Gerichtsherren regelmässig anstehende Geschäfte besprach und mit ihnen Gemeindeversammlungen vorbereitete. Die Gerichtsherren konnten den Puls der Gemeinde viel genauer einschätzen als der Abt selbst, was Betschart offensichtlich bewusst war. Spätestens seit Betschart traten die Äbte nicht mehr herrisch, sondern ratsuchend vor die Gerichtsherren. Dieser Gesinnungswandel schlug sich in den Sitzungsberichten auch sprachlich nieder: Die Einwegverständigung wich einem wirklichen Austausch. Äbtische Befehle wurden seltener, hingegen legten die Äbte dem Gericht immer öfter Fragen, Anträge und Vorschläge zur Beratung vor. Man erinnere sich an die vormalige Feststellung der Talleute, dass der ganze Leib leiden müsse, wenn das Haupt krank sei. So hatten die Talleute anfangs des 17. Jahrhunderts Abt Jakob Benedikt Sigerist dafür verantwortlich gemacht, dass die Alpsatzungen nicht mehr geachtet und deshalb in Verfall geraten würden. Unter solchen Umständen war kein »Haushaben« mehr im Hochtal. Anders lagen jedoch die Dinge während der Amtszeit Ignaz Betscharts. Damals entwickelten Abt und Gericht eine erstaunliche Umtriebigkeit: Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung erfuhren spürbare Verbesserungen. Die obrigkeitlichen Verordnungen mehrten sich, wie es seit dem Abbatiat Barnabas Bürkis nicht mehr geschehen war. Abt und Gericht bewiesen auch verschiedentlich, dass sie kein heisses Eisen unberührt liessen: So setzten sie gegen vielfältige Widerstände durch, dass Fremden nur noch eine beschränkte Alpnutzung gewährt wurde. Zahlreiche Beispiele liessen sich hier anfügen. Jedenfalls bewahrheitete sich mit Betscharts Abbatiat die Regel, dass ein starker Abt zugleich ein starkes Gericht bedeutete. Abt und Gerichtsfamilien gingen in der Folgezeit eine strategische Partnerschaft ein, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse jahrhundertelang prägen sollte.

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Betscharts Abbatiat brachte auch einen regelrechten Schub an Schriftlichkeit mit sich. So stieg die Zahl der Einträge in die Talprotokolle sprunghaft an, und zwar genau nach Betscharts Amtsantritt. Überhaupt wurde die herrschaftliche Kanzlei durch Betschart gegründet, indem er als erster Abt das Kanzleramt einführte.249 Zwar gab erst Kanzler Johann Rudolf Hess (1708–1718) den Talprotokollen jene Anlage, die sich bis ins 19. Jahrhundert hinein bewähren sollte. Dass aber die Talprotokolle im 18.  Jahrhundert zum erfolgreichen Herrschafts-, Verwaltungs- und Rechtsmittel werden konnten, war nicht zuletzt Betscharts Verdienst, der den Nutzen schriftlicher Aufzeichnung weit klarer als seine Vorgänger erfasste. Auch diese Untersuchung wäre nicht möglich gewesen, hätte Betschart seine Einsicht nicht tatkräftig umgesetzt. Ignaz Betschart starb am 11. Januar 1681. Treffend vermerkte der damalige St. Galler Abt Gallus Alt in sein Tagebuch, Betschart sei „wahrhaft der zweite Gründer seines Klosters in geistlichen und weltlichen Belangen gewesen“. Betschart erhielt in der Klosterkirche eine ehrenvolle Grabesstätte, denn man bestattete den Verstorbenen in unmittelbarer Nähe des heiligen Eugen – es war ebenfalls Betscharts Verdienst, dass aus diesem Katakombenheiligen 1660 ein weiterer Talpatron Engelbergs geworden war. Die Konventualen waren sich noch lange bewusst, welchen verdienten Vorsteher sie mit Betschart verloren hatten. Jedenfalls begingen sie Betscharts Jahrzeitfeier noch weit länger, als es ihnen die klösterliche Sitte vorschrieb.250 Die Spannungen zwischen Abt und Gemeinde überdeckten lange Zeit die Gegensätze innerhalb der Gemeinde selbst. Während sich das erstgenannte Verhältnis allmählich zum Guten wendete, traten jene immer deutlicher hervor. So verschärften sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ungleichheiten unter den Talleuten im Verlauf der Zeit. Reiche und arme Talleute stiessen in den Gemeinden regelmässig aneinander. Vorstellungen von Gleichberechtigung blieben zwar im landsgemeindlichen bzw. genossenschaftlichen Denken lebendig, doch widersprachen ihnen die tatsächlichen Verhältnisse offensichtlich. Ein Markstein bildete sicherlich der grosse Streit von 1707, der vordergründig Genossen und Ungenossen aneinandergeraten liess (vgl. Abschn. 2.1.3). Tatsächlich drückte sich in ihm wohl eher die Frage aus, inwieweit sich der genossenschaftliche Gedanke gegenüber dem Drängen einzelner Talleute würde halten lassen. Die Entwicklung sei in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge dargestellt: Obrigkeitliche Beschlüsse stiessen in den letzten Jahrzehnten des 18.  Jahrhunderts auf wachsende Widerstände in der Gemeinde. So trafen vornehmlich Besteuerungs249 Vgl. ETP 11.6–10. 250 Vgl. Durrer (1971: 126) und Heer (1975: 239, insbesondere Anm. 25).

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vorlagen auf den vereinten, wenn auch unterschiedlich begründeten Widerstand von reichen und armen Talleuten. Heftig währte etwa der Streit, den die begüterten Besitzer der ehemaligen Genossenalp Eien in den 1780er Jahren mit der Gemeinde führten. Das Gericht machte Abt Leodegar Salzmann am 17. Februar 1780 auf den Streit aufmerksam und bat den Talherrn, der nächsten Wächtergemeinde schlichtungshalber beizuwohnen. Schon zuvor hatte das Gericht den Abt gebeten, an gemeindeeigenen Versammlungen teilzunehmen, „damit bessere ordnung beybehalten werde“.251 Man beauftragte an besagter Gemeinde einen Landrat, einen Vergleich zwischen Gemeinde und Eienbesitzern auszuhandeln. Der Vergleich kam am 18. März nach zähen Verhandlungen zustande, zu dem die Streitparteien „gantz fridliebendt die hand gebotten“. Doch bald ergaben sich neue Streitpunkte, so dass die Angelegenheit an der Säumergemeinde vom 27. März erneut traktandiert wurde. Wiederum bat man den Abt um seine Anwesenheit. Dieser rief die versammelten Talleute zur Besonnenheit auf,252 aber alles, so vill und guten eintrucks es bei einem e[hrwürdigen] gericht und denen mehreren oder doch die sach mit unumfangenem gemüt fassendten machte, so ungesteüm und ungehalten wurden darüber die incendiarii litis [Brandstifter des Streits], dass sie mit villem geschrey und tumult auf ein rechtlichen ausspruch oder vereitlung aller guten vorschlägen antrungen.

Abt Leodegar Salzmann gelang es nur durch einen Trick, den ausgehandelten Vergleich durch die Gemeinde anerkennen zu lassen. Dennoch fällt die Mühe auf, die Abt und Gericht gegenüber unruhestiftenden Talleuten bekundeten. Ähnliche Auseinandersetzungen legten bisweilen die Entscheidungsfähigkeit der Gemeinde derart lahm, dass selbst einleuchtende Massnahmen – etwa bezüglich des Wuhrwesens – nicht mehr beschlossen werden konnten.253 Man war weit von jenen Zeiten entfernt, als die Talschaft noch bautechnische Grossprojekte wie die Korrektur der Aa gemeinsam angepackt hatte. Die wirtschaftlichen Ungleichheiten entgingen den ärmsten Talleuten keineswegs. So richtete sich ihr angestauter Unmut gelegentlich gegen die Obrigkeit, welche die armen Leute für die eigene Armut mitverantwortlich machten. Man vergegenwärtige sich Balzer Schleiss’ erbitterten Ausruf, dass man alle armen Leute im Tal erschlagen wolle. Solche Vorwürfe zielten einerseits auf die Gerichtsherren, sagte 251 Vgl. ETP 15.94–99. 252 Vgl. ETP 17.246–252 und 17.243–246. 253 Bestes Beispiel dafür sind die Wuhrpflichten am Dürrbach, die seit den 1760er Jahren bis in die 1780er Jahre heftige Auseinandersetzungen hervorriefen, vgl. etwa ETP 13.282–283, 15.54–56, 17.246–252, 17.357–363, 16.226–230, 16.589 und 17.426– 429.

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man doch Statthalter Jakob Langenstein – dem Wolf – nach, „die arme lüht haben bei ihmme das heiter wasser gr[e]inen.“ Doch auch die Äbte mussten sich entsprechende Beschuldigungen gefallen lassen. Als sich 1795 zwei Söhne Sepp Kusters wegen kleinerer Diebstähle verantworten mussten, schleuderte ihr Vater dem damaligen Abt Leodegar Salzmann entgegen:254 Man thue ihnen unrecht, und als der gnädige herr ihme zugesprochen, dass die söhn sich besseren sollen, er geantworthet, andere kenten sich auch besseren und sogahr gesagt: das sage ich euch dan grad, dass ihr ein schlechte ordnung habt und wan ihr kein andere machen wollet, so wellen wir euch ein andere machen, wir sind in der noth, wir müssen stehlen.

Kusters überaus scharfer Tonfall erklärt sich gewiss durch die Zeitumstände. Allerdings war nur die Form, nicht aber der Inhalt der Klage neuartig. Die armen Talleute erkannten die Ursache ihres Unglücks in einer »schlechten Ordnung«, die ihnen sogar die lebensnotwendigen Mittel vorenthielt. Verständlicherweise richtete sich der Vorwurf an die Hüter ebendieser Ordnung, also an Abt und Gericht. So selten sich die Stimme der Bedrängten wirklich vernehmen liess, so klar blieb deren Botschaft. Die politische Kultur des Hochtals hatte über Jahrhunderte symbolische Denk- und Sprechweisen angehäuft, die sehr wirksam eingesetzt werden konnten. Manche Talleute wussten diese symbolischen Waffen sehr gekonnt gegen Abt und Gericht einzusetzen.255 So mehrten sich 1771 Gerüchte über den verstorbenen Ammann Niklaus Amrhein, wonach dieser heimlich Rechtsbriefe aus dem Talkästli entwendet und dem Kloster überbracht haben sollte.256 Es wurde gemunkelt, die Schriftstücke hätten Rechte enthalten, die den Talleuten vorteilhaft und dem Kloster nachteilig gewesen seien. Das Gerücht kam einem Vorwurf gleich, der sich durchaus nicht nur gegen das Kloster richtete. Damals sass nämlich Amrheins Sohn seinerseits im Gericht: Es handelte sich dabei um Sepp Anton Amrhein, dem weitaus reichsten Talmann jener Zeit! Ein hoher Symbolgehalt kam auch dem Vorwurf zu, das Kloster verstosse gegen verbriefte Rechte der Talleute. Die Gemeinde hatte ihre Identität seit früher Zeit ausgebildet, indem sie sich von klösterlichen Vereinnahmungsversuchen abgesetzt hatte. Entsprechend leicht liessen sich Abwehrgefühle schüren, die letztlich das Ansehen der Obrigkeit untergruben. So musste sich Abt Leodegar Salzmann 1769 254 Vgl. ETP 4.4–7 und 19.195–196. 255 Vgl. dazu die Ausführungen Brändles (2005: 30) zu charismatischen Persönlichkeiten in den Landsgemeindeorten. 256 Vgl. ETP 15.189–191.

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rechtfertigen, weshalb man anlässlich von Talgemeinden nicht alle Talsatzungen verlas.257 Anscheinend hatten manche Talleute das Gerücht verbreitet, das Kloster würde verbriefte Rechte der Talleute absichtlich vertuschen. Die Verdächtigungen erreichten jedoch 1790 ihren unbestrittenen Höhepunkt, als die längst fällige Revision des Talbuchs anstand. Zahlreiche Satzungen hatten sich seit dem frühen 17.  Jahrhundert zu einem schier unübersehbaren Gebilde angehäuft. Das dringende Vorhaben wurde an einer eigenen Talgemeinde besprochen: Die Gemeinde beauftragte einen Ausschuss, gemeinsam mit dem Kloster einen entsprechenden Entwurf auszuarbeiten. Ammann, Statthalter und zwei weitere Gerichtsherren standen dem Ausschuss vor. Die schriftlichen Arbeiten wurden bald Pfarrer Magnus Waser anvertraut, der als gebürtiger Talmann und langjähriger Kanzler bestens dafür geeignet war. Als Waser den Entwurf fertiggestellt hatte, liess er diesen durch den genannten Ausschuss begutachten. Heftig beschwerten sich darauf einige Ausschussmitglieder, im revidierten Talbuch würde den Talleuten nur das Beschwerliche mitgeteilt, das Günstige jedoch vorenthalten. Klagen wurden insbesondere gegen die vier bestellten Gerichtsherren geäussert. Kurzerhand bestellte man einen erweiterten Ausschuss, um eine genaue Abschrift des alten Talbuchs erstellen zu lassen. Der Abt wurde vom neuen Ausschuss „überfallen mit zimlich ungestümen ansuechen“, worauf Magnus Waser eine Kopie des alten Talbuchs anfertigte. Selbst dieser Abschrift trauten aber die argwöhnischen Talleute nicht und verlangten einen genauen Vergleich. Also bestimmte man dem Bericht Magnus Wasers zufolge Tag und Stunde, damit jeder,258 weme es nuer gefiele und nur beliebig, sich in dem underen gastsaal einfinden könne: allwo in ihrer gegenwart, beysitzung und einsicht theils in das thalbuoch, theills die kopien, die nochmahlige konfrontation geschechen sollen und würkhlich geschehen ist, und zwar mit solcher genauheit und aufmerkhsamkeit, dass zwey nebet mir sitzendte und einer hinder mir stehendter der abschrifft kein aug verwendt, daselbe von anfang bis zum end zu vor- und abgelesen, wo[bei] indessen Ihro hochw. Gnaden in selbst eigner hochw. Person das thalbuoch gehalten und auch nebet und um sich ein- und aufseher gehabt, ob alles gleichlautendt wäre.

Man möge sich den Vorgang bildlich ausmalen: Da sassen Abt und Kanzler, zwei ehrwürdige Geistliche im fortgeschrittenen Alter (beide waren damals knapp 70-jährig), ihre eigene Abschrift zwangsweise überprüfend, gemustert und bespitzelt von allen Seiten! Die beiden Geistlichen mussten die Demütigung geduldig ertragen. Der Vorfall erhellt übrigens die tatsächliche Aussagekraft zeitgenössischer Reiseberichte, die sich zu den politischen Verhältnissen des Hochtals äusserten: So 257 Vgl. ETP 15.50–54. 258 Vgl. die einleitenden Ausführungen Magnus Wasers’ in seinem Talbuch von 1790.

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glaubte ja Helen Maria Williams noch einige Jahre später behaupten zu müssen, der Abt von Engelberg übe eine absolute und unumschränkte Herrschaft über das Tal aus. Angesichts dieser Widerstände bemühten sich Abt und Gericht in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wiederholt um geschlossenes Auftreten. So bat Leodegar Salzmann 1779 die Gerichtsherren, die Urteilsverhandlungen und das Abstimmungsverhalten ihrer Mitrichter nicht an die Öffentlichkeit zu tragen. Der Abt riet insbesondere davon ab, „dass keiner seinen mitrichteren etwan anderstwertig oder sogar bey denen streitendten parten vertadle und verächtlich zu machen sueche“. Umgekehrt hatten Abt und Gericht schon 1770 beschlossen, dass Parteien und Zeugen bei Rechtsverfahren öffentlich angehört werden sollten. Durchsichtigere Verfahren sollten späteren Argwohn schon im Keim ersticken und zur Bildung der Talleute beitragen, „weilen andurch etwan junge leüth was erlehren und der rechten ehnder verständig werden möchten“. Ferner rief der Abt die Gerichtsherren auf, sich vorbildlich an obrigkeitliche Anordnungen zu halten, da doch „die geringste übersechung ab seiten selber [d.h. der Gerichtsherren] schon ein stein des anstosses für die undergebnen und besonders die schmächsüchtige[n] seye“.259 Nur ihrer Deutlichkeit wegen wurde zunächst bei den Verhältnissen des späten 18. Jahrhunderts angesetzt. Die Äbte sahen sich aber auch in früheren Jahrzehnten vor ähnliche Herausforderungen gestellt. So war die Einbindung der Gerichtsherren eine dauernde Aufgabe, die grosse Wachsamkeit erforderte. Dies musste etwa Abt Maurus Rinderli unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1724 erfahren. Der Abt und einige Gerichtsherren waren sich damals über die Ausweisung eines Talmanns uneinig.260 Es handelte sich um Sepp Geni Waser, der sich trotz fehlenden Besitzes und wiederholter Ermahnungen verehelicht hatte. Waser hatte sich am 26. Februar 1726 in der Wallfahrtskirche von Sachseln mit Anna Maria Margaretha Zniderist trauen lassen. Die Eheleute mussten sich deshalb vor Gericht verantworten, worauf ihre Ausweisung angeordnet wurde. Die Entscheidung fiel offensichtlich nicht so aus, wie es Statthalter Sepp Hans Kuster und Gerichtsherr Hans Melcher Vogel gewünscht hatten. Die beiden Gerichtsherren versuchten darauf, eine äbtische Begnadigung zu erwirken. Sie suchten zunächst die Unterstützung des Kanzlers Rudolf von Brunnetz zu gewinnen, den sie in seinem Haus auf der Gand vertraulich aufsuchten. Der Kanzler geriet ins Staunen, als die Gerichtsherren fast wörtlich den Vortrag des fehlbaren Waser vor Gericht wiedergaben, jedoch in weit schönerer und verblümterer Sprache. Der Kanzler argwöhnte darauf, „sie währen eben diejenige, die dem ungehorsamen und 259 Vgl. ETP 14.418, 16.64–66 und 16.210–211. 260 Vgl. ETP 8.105–111.

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seiner frauen solche speciositäten hätten ins maul gegeben“. Die beiden Gerichtsherren zeigten im weiteren Gesprächsverlauf „ihren fuechsbalg klahr genug“, indem sie die Auffassung vertraten, dass die Ausweisung dem eidgenössischen Recht zuwiderlaufe und entsprechenden Unmut bei den Eidgenossen wecken würde. Die Gerichtsherren bezogen sich dabei auf Rückmeldungen, die sie in Nidwalden eingeholt hatten. Dies bestätigt erneut, dass die Gerichtsfamilien anhaltende Beziehungen zur Nidwaldner Obrigkeit unterhielten. Der Kanzler belehrte darauf die Gerichtsherren über das Wesen der Eidgenossenschaft und insbesondere darüber, dass eidgenössisches Recht „nur in wichtigen allianzen, bündtnussen, aufrichtung der regimenten gegen fürsten und herren und in der gleichhaltung der obrigkeiten gegen einanderen angesehen und zu beobachten seye“. Die Erläuterungen des Kanzlers endeten mit einer scharfen Spitze gegen die Nidwaldner. Abt Maurus Rinderli musste sich bereits an Neujahr 1725 mit dem Ausscheren einiger Gerichtsherren beschäftigen. Den Streitapfel brachte diesmal Franz Ignaz Kuster ein, der zuvor für ehrlos erklärt worden war. Kuster lud das ganze Gericht zu einer Aussprache ins Wirtshaus ein. Sinnig lautete die Einladung, „wan ihr meiner gutten freünden einer sind, so kommet ins wirtshaus“. Ammann, Statthalter und ein weiterer Gerichtsherr verweigerten die Teilnahme und waren so ehrlich gewesen, dass sie nicht nur gar nicht erscheinen wöllen, sondern es durch den ersteren, als welchem derley zusamenkünften suspect gewesen, ihro gnaden eröffnen lassen; die anderen aber haben sich ins wirtshaus zusamen gerothet.

Verdrossen musste der Abt gewärtigen, dass die übrigen Gerichtsherren „den busen auch von anderen halstärrigkeiten und gefährlichen anschlägen nicht allerdings rein hätten“. Der Abt hielt sich gleichwohl zurück und drückte den Gerichtsherren „mit modesten terminis“ (also mit bescheidenen Worten) sein Ungefallen aus.261 Am 25. März hielt Abt Maurus Rinderli seinen feierlichen Einzug ins Hochtal, von dem bereits die Rede war. Als an der folgenden Talgemeinde das Gericht neu besetzt wurde, wurde Hans Infanger neu ins Gericht gewählt. Infanger war ein angesehener Talmann, der seit Anfang des Jahrhunderts als Pfistermeister geamtet hatte und seit über einem Jahrzehnt wirtete. Vielleicht hegte der Abt die Hoffnung, dass Infangers Haltung loyaler wäre als jene seiner Mitrichter. Spätestens 1729 bewahrheitete sich aber das Gegenteil: Damals wurde die Äusserung Infangers bekannt, er „frage dem Praelat nichts nach, der Praelat habe ihm nicht einz’reden, auch habe der Gnedig Herr nit mehr [im Gericht] z’stimmen“ als er selbst. Diesmal musste der Abt

261 Vgl. ETP 8.116–118.

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beweisen, dass er einem solchen Angriff standfest begegnen konnte. Rinderli bewies seine Durchsetzungsfähigkeit, indem er Infanger als Gerichtsherr absetzte.262 Abwehrgefühle gegen die Klosterherrschaft waren bei den Talleuten tief verankert. Äbte mussten also umsichtig darauf achten, diese Gefühle nicht unnötig anzufachen: Es galt, den Symbolgehalt jeder Handlung abzuwägen. Das beste Gegenbeispiel dafür hatte Jakob Benedikt Sigerist geliefert, der mit seiner einfühllosen Haltung schwerste Zwietracht gesät hatte. Wie schon Ignaz Betschart, so zog auch Abt Emanuel Crivelli (1730–1749) die richtigen Lehren aus Sigerists Scheitern. Ein beredendes Zeugnis dafür gibt eine kleine Denkschrift, die Crivelli zuhanden seiner Amtsnachfolger verfasste.263 Er beschrieb darin die Rechte und Pflichten des Klosters gegenüber den Talleuten, vor allem aber erläuterte er die genaue Art und Weise ihrer Umsetzung. Allgemein riet Crivelli seinen Nachfolgern, die klösterlichen Hoheitsrechte „mit einer wachtbahren discretion“ auszuüben. An anderer Stelle hielt er unmissverständlich fest, dass der Besitz eines Rechtes nicht unbedingt dessen stetige Anwendung bedeutete. So lag das Appellationsgericht zwar in der Hand des Konvents, doch Crivelli bemerkte dazu: Es soll aber ein jeweiliger Prelat wegen trifftigen Ursachen verhüeten, so vil es sich immer thuon lasset, das[s] die Appellationes nit frequent werden; dahero allzeit dahin zu trachten, das[s] der streitt ohne Appellation ausgemacht werde. Wan aber der Handel sich nit wol anderst schlichten lasset, ist die Appellation nit abzuschlagen.

Rechtsstreitigkeiten sollten also – wann immer möglich – im Talgericht entschieden werden. Es war nach Crivellis Ansicht ungünstig, wenn sich der Konvent mit Rechtsstreitigkeiten zwischen Talleuten befassen musste. Das Kloster konnte dabei nur verlieren, indem es sich den Unmut der einen oder anderen Partei zuzog. Vorsichtige Zurückhaltung war angebrachter als forsches Auftreten. Den Äbten fiel in der Tat eine undankbare Rolle zu, wenn sie zwischen zerstrittenen Talleuten schlichten mussten. Bei solchen Schlichtungsversuchen war einzig gewiss, dass sich die Äbte manchen Anfeindungen aussetzten. So musste sich auch Emanuel Crivelli 1737 buchstäblich zwischen die Stühle setzen, als die Talleute wegen der Sitzordnung in der neuerbauten Kirche heftig aneinandergerieten. Der Abt hatte sich wohlweislich enthalten, die Sitzordnung selbst zu bestimmen. Andernfalls „hätten nicht nur wenige, sondern alle Talleute während vieler Jahre gegen den Abt Streitklagen geführt, man habe ihnen eine ungerechte Ordnung gemacht“. Erwartungsgemäss zerstritten sich die Talleute derart, dass an eine einvernehmliche

262 Vgl. ETP 9.452–454, zu Hans Infanger u.a. ETP 5.33–35, 7.468–471 und 8.113. 263 Vgl. Crivellis »Jurisdictionalia« in Gfr. 33, 1878, 72–88.

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Lösung bald nicht mehr zu denken war. Sie flehten darauf den Abt um seine Hilfe an, der sich erst dann der Frage annahm.264 Die politischen Verhältnisse verlangten von den Äbten eine ausgesprochene Herrschaftskunst ab, wobei das Gewicht zweifellos auf dem zweiten Begriffsteil lag. Diesbezüglich sind aufschlussreiche Bemerkungen Emanuel Crivellis überliefert. Als 1734 ein Zollstreit mit Nidwalden schwelte, erläuterte Emanuel Crivelli sein Vorgehen in der Sache. Eindrücklich beschrieb er dabei sein Herrschaftsverständnis:265 Nichtig ist Zorn ohne entsprechende Kräfte. Hier sind vielmehr behutsame Liebe und umsichtige Ehrung angebracht. Wenn wir unsere Rechte gehütet und beschützt halten wollen, müssen wir unseren Nachbarn mit Liebe und Menschlichkeit begegnen. Glaube mir, werte Nachwelt, leicht machst du dir mit umsichtiger Menschenfreundlichkeit und massvoller Sanftmütigkeit die Herzen aller geneigt. Ein solches Gemeinwesen ist Gott ebenso willkommen wie den Menschen. [...] Durch umsichtige Freundlichkeit, verbunden mit ruhiger Wachsamkeit wird heutzutage mehr erreicht als durch tausend Textstellen aus dem kanonischen oder bürgerlichen Recht.

Gegenüber den eigenen Talleuten verhielt sich Crivelli nicht wesentlich anders. Auch in seinem äusseren Auftreten bewies Crivelli grosse Demut: Vor versammelter Talgemeinde erklärte er, seine Schultern seien zu schwach für sein schweres Amt. Crivellis Demut und Sanftmut standen in strengem Gegensatz zu Jakob Benedikt Sigerists Herrschsucht und Zornigkeit. Diesem Unterschied lagen nicht nur unterschiedliche Charakteranlagen, sondern auch ein seit 1620 gewandeltes Herrschaftsverständnis zugrunde. Also lässt sich zusammenfassen: Die Gegenüberstellung Jakob Benedikt Sigerists und Ignaz Betscharts hat deutlich gemacht, wie unterschiedlich der äbtische Handlungsspielraum ausfallen konnte – und zwar innerhalb derselben rechtlichen und kulturellen Werteordnung. Gewiss, der äbtische Einfluss gründete auf den strukturellen Voraussetzungen des Hochtals: Die Äbte nahmen wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell eine Vorzugsstellung ein. Auch für die Äbte galt jedoch, dass sich Macht und Einfluss nicht »besitzen« liessen. Der tatsächliche Spielraum eines Abtes hing vielmehr davon ab, wie geschickt er sich im gesellschaftlichen Netzwerk des Hochtals bewegen konnte. Man darf dabei nicht vergessen, dass Herrschaft im Hochtal von Angesicht zu Angesicht ausgeübt und erfahren wurde. Wenn Ignaz Betschart vielleicht der mächtigste Abt seiner Zeit war, so lag dies weniger an seiner rechtlichen Stellung als 264 Vgl. ETP 12.105–109. 265 Vgl. ETP 10b.9 sowie das Zitat bei Hess (1914: 355).

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an seinem taktischen Geschick: Betschart ging eine strategische Partnerschaft mit den Gerichtsfamilien ein und schuf damit ein gesellschaftliches Netzwerk, das im Hochtal für lange Zeit Bestand haben sollte. War die Herrschaft Engelberg ein Landsgemeindeort oder ein Fürstenstaat? Ersteres war der Kleinstaat deshalb nicht, weil ihm dafür die symbolischen Zeichen fehlten. Die Gemeinde war für fremde Beobachter schlicht unsichtbar, und zwar im eigentlichen Sinn des Wortes. Doch auch ein Fürstenstaat war die Herrschaft Engelberg nicht. Gewiss, vielfältige Anzeichen hielten die äbtische Herrschaft äusserlich aufrecht. Der symbolische Aufwand vermochte allerdings nur die fremden Reisenden zu täuschen: Tatsächlich waren Gericht und Gemeinde sehr stark in die Herrschaftsausübung eingebunden, was den äbtischen Spielraum entsprechend begrenzte. Kann man dort rechtens von einem Fürstenstaat sprechen, wo der Fürst von einfachen Untertanen regelmässig überstimmt werden konnte? „Inmitten der urschweizerischen Demokratien existierte auf einem Fleck eine in sich hermetisch geschlossene homogene Grundherrschaft von beinahe archaischen Formen für die Neuzeit“, lautete früher das Urteil der Rechtsgeschichte über das frühneuzeitliche Engelberg.266 Archaisch wollte diesbezüglich heissen, dass sich die äbtische Herrschaft seit den Tagen der Bibly nicht mehr weiterentwickelt hätte. Wie wenig stichhaltig dieses Urteil war, ist hier nicht mehr eigens auszuführen. Letztlich zeigte sich die ältere Rechtsgeschichte unfähig, hinter gleichbleibenden Formen deren wandelbare Inhalte zu erkennen. „So hoffen wir, dass auch wir ehrliche Eidgenossen sind.“ Die Äbte mussten sich mit diesem Selbstverständnis der Talleute abfinden. Dies führte zur Herausbildung eines Gemeinwesens mit sehr spezifischem Charakter. Die Herrschaft Engelberg war weder Landsgemeindeort noch Fürstenstaat, sondern ein bemerkenswerte Mischung beider Verfassungen. Das kleine Staatswesen vollzog im 17.  und 18.  Jahrhundert einen durchaus zukunftsgerichteten Wandel: So liefen viele Entwicklungslinien – unbeschadet des äusserlichen Bruchs von 1798 – ins 19. Jahrhundert weiter. Die Gemeindeverwaltung des 19. Jahrhunderts wäre ohne die Errungenschaften der alten Herrschaft unvorstellbar gewesen.267 Auch die alten Netzwerke blieben erhalten: Es war kein Zufall, wenn die ersten bedeutenden Gasthofbesitzer des 19. Jahrhunderts meist Sprösslinge der einstigen Gerichtsfamilien waren.268 Diese Pioniere trugen wesentlich zur Entwicklung des Fremdenverkehrs bei, als dieser den bäuerlichen Ausfuhrhandel als Haupteinnahmequelle des Hochtals ablöste: Der Rückgang des Ausfuhrhandels und das Aufkommen des Fremdenverkehrs stellten diesbezüglich eine Entwicklung dar. Die besagten Familien kamen mit dem angesprochenen 266 Vgl. Bruckner (1946: 52). 267 Einschlägig dazu Hess (1945a: 70–71). 268 Vgl. Dufner (1983: 12–15).

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Gesellschaft

Wandel mehrheitlich besser zurecht als manche einfache Bauernfamilie. Auch die Äbte bewahrten übrigens einen grossen gesellschaftlichen Einfluss. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dass ausgerechnet Abt Anselm Villiger (1866–1901) die Gründung der ersten Spar- und Leihkasse Engelbergs 1879 veranlasste und gleichzeitig deren Leitung übernahm.269 Es lohnt sich also, die Herrschaftsverhältnisse des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nur rückwärts-, sondern auch zukunftsgerichtet zu betrachten. Die angebliche, teils auch in der neueren Forschung angesprochene Rückständigkeit geistlicher Herrschaften traf im Fall Engelbergs jedenfalls nicht zu.270 Es ist diesbezüglich denkbar, dass die verhältnismässig dynamische Entwicklung Engelbergs durch die fürstenstaatlich-landsgemeindliche Mischverfassung gefördert wurde. Diese Vermutung müsste allerdings in einer vergleichenden Untersuchung erst überprüft werden.

269 Vgl. Heer (1975: 451). 270 Zur Bewertung geistlicher Herrschaften vgl. Holtz (2004) und Hersche (2006: 242– 247).

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Kultur

4.1 Geselligkeit 4.1.1 Hausstuben Die Stube hat sich als eigenständiger, beheizter Wohnraum im innerschweizerischen Bauernhaus bereits im 12. Jahrhundert herausgebildet. Damals löste die Stube vermutlich die Wohnküche als Mittelpunkt des häuslichen Lebens ab, jedenfalls bildete die Herdstelle bald nur noch den symbolischen Kern des Haushalts.1 So bildete sich über die Jahrhunderte eine bestimmte Anordnung der Wohnräume aus, die auch dem frühneuzeitlichen Bauernhaus Engelbergs wie selbstverständlich zugrunde lag. Über den seitlichen Haupteingang gelangte man in den Hausgang, der das Wohngeschoss in zwei Teile gliederte und über eine Treppe ins Obergeschoss (Lauben) führte. Im vorderen Hausteil befand sich die Stube und daran angrenzend die Schlafkammer der Hauseltern. Beide Räume waren gegen die Sonnenseite hin gebaut, so dass das Tageslicht durch eine ganze Fensterreihe in diese Wohnräume hereinfiel. Da das Wohngeschoss auf einem gemauerten Untergeschoss ruhte, waren die Fenster entsprechend erhöht: Stube und Schlafzimmer waren dadurch vor dem unmittelbaren Blick vorbeigehender Leute geschützt. Diesbezüglich sei daran erinnert, dass der geschützte Hausbereich bereits unterhalb der Dachtraufe begann und nicht erst bei der Hauswand. Im hinteren Hausteil (auf der Schattenseite) befand sich die Küche und daran angrenzend eine Nebenkammer, die gelegentlich zur Nebenstube ausgebaut wurde.2

1 Die vormalige Bedeutung der Küche blieb in Ausdrucksweisen wie »Feuer und Licht« erhalten. Vgl. Huwyler (1993: 243–354), allgemein auch Kriss-Rettenbeck (1963: 14). Wohnküchen haben sich hingegen in den Alpgebäuden erhalten, vgl. Huwyler (1993: 472–481). 2 Vgl. Huwyler (1993: 354). Zum Schema des Engelberger Bauernhauses vgl. Beck (1973: 26).

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Kultur Wohngeschoss des Engelberger Bauernhauses (schematische Darstellung)

B Schlafzimmer A Stube C Gang D Hauseingang E Küche F Nebenkammer G Hintereingang H Abort 1 Herrgottswinkel 2 Tisch mit Eckbank 3 Stubenofen 4 Buffet 5 Küchenherd

Die Einrichtung der Stube war weitgehend gleichförmig. Der Stubenofen stand aus heiztechnischen Gründen in der inneren Stubenecke. Zur anderen Seite der Stubentür stand das Buffet, das für die jeweilige Stube einzeln angefertigt wurde. Der Stubentisch stand dem Ofen quer gegenüber und war an den Seitenwänden von einer Eckbank umgeben. In der Ecke selbst befand sich der Herrgottswinkel, wo etwa ein Kreuz und heilige Bilder aller Art aufgerichtet waren. Die Stube erfüllte mehrere Zwecke zugleich. Sie war erstens der hauptsächliche Aufenthaltsraum der Hausgemeinschaft, was besonders für die Heizperiode galt. Als

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Franz Niklaus König im frühen 19. Jahrhundert das Berner Oberland bereiste, hielt er diesbezüglich fest:3 Im Winter wird ausser dem Holzfällen, und der Besorgung des Viehes, wenig oder nichts geleistet. Man setzt sich zusammen in die Bauernstuben, wo die Weiber und Mädchen spinnen, die Männer auf dem Ofen sitzend, rauchen, und Geschichten erzählen: selbst Buben von vier bis fünf Jahren rauchen schon. Da wird nie ein Fenster aufgemacht, damit ja die lieblichen Dünste der Tabakspfeife, des Kirschwassers, Käses, Oehles, der Hühner, und anderer, auch menschlicher Ausdünstungen, nicht verloren gehen.

Die Verhältnisse waren im frühneuzeitlichen Engelberg kaum anders. Die Stube war zweitens ein Empfangsraum, insofern man die Gäste des Hauses meistens in der Stube bewirtete – von den vertraulicheren Treffen in den Lauben einmal abgesehen. Wer es sich leisten konnte, wendete für die Ausstattung der Stube beträchtliche Summen auf. So zahlte Plazi Cattani 1761 allein für die Holzausstattung seiner Stube (ohne Tisch und Stühle) über 70 Gulden. Dabei legte der Auftraggeber besonderen Wert darauf, dass im Fussboden ein Kreuz eingearbeitet werde, was die Anfertigung erheblich verteuerte. Als der Schreiner jedoch für ein Wandgestell Nussbaumholz verwenden wollte, begann sich Cattani doch noch vor Mehrkosten zu fürchten.4 Die Stube wurde drittens durch den Herrgottswinkel zum Kultraum des Hauses. Gebete und Andachten aller Art wurden hier verrichtet. Wenn etwa Maria Plazida Töngi 1749 berichtete, ihr Mann Karl Anton habe nach einem nächtlichen Diebstahl Gott „ohm verzeichung betten und sich mit einer ruethen selbsten geisslet und das crucifix genommen und die kinder auf gewecket und sambtlich mit einanderen ein psalter [Rosenkranz] betten“, so war hier gewiss die Stube als Ort des Gebets und der Andacht mitgedacht. Wenn weiter Hans Amstutz 1711 seinem Patenkind Hans Sepp Amstutz sein Haus samt „allen Bilderen und heyligen Tafelen“ verkaufte, wo sonst hätten sich diese Bilder befunden als in der Stube? Hatten nicht Nachtbuben ein Jahr zuvor Unrat in eine Stube der Wetti geworfen, wodurch sie „das Kruzifix und die heyligen Bilder in der Stuben entunehret“ hatten? Im Folgejahr trieben es die ledigen Töchter im Obergeschoss gar so wild, dass „2 Heylige herab gefallen seyen, also zwahr, das[s] das Glas in den Ra[h]men sich in den underen Pfenstern gesezt“ – auf den Fensterbildern der Stube konnten also ebenfalls Heilige dargestellt sein. Als sich schliesslich die ebengenannte Maria Plazida Töngi

3 Vgl. König (1814: 71). 4 Vgl. ETP 14.155–156.

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Kultur

1751 weigerte, ihren verstorbenen Ehemann für die Totenwache aufzubahren, blieb der Aufbahrungsort unter dem Herrgottswinkel unbesetzt.5 Die Stube war gleichermassen Ort des Aufenthalts, des Empfangs und des Kultes. Ganz grundsätzlich war die Stube also ein Raum der Begegnung und der Geselligkeit. Wenn nun in einer Stube eine Gesellschaft zusammenkam, bezeichnete man dies in der Mundart als »Stubätä«. Handelte es sich um ein abendliches Treffen, sprach man genauer von einer »Liächtstubätä«. Man ging bzw. war »z’Stubä«, »z’Stubätä«, »z’Dorf« oder »z’Liächt«.6 Stubeten waren gewöhnlich mit bestimmten Anlässen und Gelegenheiten sowie Unterhaltungsformen verbunden, die im folgenden Abschnitt dargestellt werden. Die bedeutendsten Stubeten fanden an den jährlich wiederkehrenden Festen statt. Im Winterhalbjahr gehörten die Feiern von Samichlaus (6. Dezember) und Neujahr dazu, vor allem aber die Fasnachtstage. Die Fasnacht begann mit dem Schmutzigen Donnerstag und erreichte ihren Höhepunkt an der Jungen Fasnacht bzw. Herrenfasnacht, also an den drei Tagen vor Aschenmittwoch. Nach Invocabit (Sonntag nach Aschenmittwoch) endeten schliesslich die Festlichkeiten mit der Alten Fasnacht. Das Sommerhalbjahr brachte ebenfalls mehrere Festgelegenheiten mit sich: Dazu gehörten sämtliche Chilbenen (Kirchweihen) der Heiligtümer in und ausserhalb des Tals, wobei viele Chilbenen am Folgetag mit einer Nachchilbi ausklangen. Auch die Bruderschaften besassen ihren eigenen Festtag, wobei die Schützenchilbi (Sebastian) und die Älplerchilbi (Antonius) sicherlich an erster Stelle zu nennen sind.7 Vermutlich liessen die drei marianischen Bruderschaften an ihrem Jahrestag dem geistlichen Festteil ebenfalls einen weltlichen folgen: Gemeint sind hier – in der Reihenfolge ihrer Bedeutung – der erste Oktobersonntag (Rosenkranzbruderschaft), der dritte Julisonntag (Skapulierbruderschaft) und der dritte Septembersonntag (Schmerzensmutterbruderschaft). Neben den wiederkehrenden Festanlässen standen die ausserordentlichen Festgelegenheiten. Dazu gehörten die oft aufwendig gestalteten Hochzeitsfeste, aber auch die Kindsvertrinketen und die Kindbettmähler, an denen eine glückliche Geburt bzw. die Übernahme einer Patenschaft gefeiert wurden. 5 Vgl. ETP 5.350–353, 5.357–366 und 11.616–618. Zum Brauch, Tote beim Herrgottswinkel aufzubahren, vgl. Huwyler (1993: 329). 6 Vgl. SI 10, 1173–1189. Der Ausdruck »z’Liächt« konnte in der Engelberger Mundart eine Sonderbedeutung besitzen, wie ebenda (SI 10, 1178) ersichtlich wird. Vgl. ferner Kuster (1848). 7 Zur Älplerchilbi, die in ETP nicht ausdrücklich erwähnt wird, vgl. Hodel (1976: 7–11). Antonius- und Älplerbruderschaft sind erst im 18. Jahrhundert miteinander verschmolzen.

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Doch Stubeten setzten nicht unbedingt einen festlichen Anlass voraus. Der Alltag brachte genügend Gelegenheiten zum geselligen Beisammensein mit sich. Hier ist insbesondere auf die bäuerliche Mussezeit sowie die zahlreichen kirchlichen Festtage zu verweisen: Die arbeitsärmste Zeit im Bauernjahr deckte sich dabei weitgehend mit der feierlichsten Zeit des Kirchenjahres (Weihnachten bis Pfingsten). Die Winter- und Frühjahrstage waren also für gesellige Zusammenkünfte geradezu geschaffen. Man kam also nicht nur „zu einer offentlichen freud oder hochzeit“ zusammen, sondern sass auch sonst „bey ein anderen in freüden und früntlichkeitt“ in derselben Stube. Die Obrigkeit stand dieser Geselligkeit wohlwollend gegenüber und bekräftigte wiederholt, es „solle dem hausvatter mit seinen hausgenossen, guten freünden und nachbahren ein nächtliche kurtzweill in behördigem friden, zeit und stille“ durchaus gestattet sein. Die Talleute hätten sich allfälligen Beschränkungsversuchen ohnehin widersetzt. Als etwa Hans Paul Kuster 1688 wegen einer ausgelassenen Stubeten vom Gericht belangt wurde, entgegnete Kuster den Gerichtsherren bestimmt: „Es werde ob Gott will nit verboten sein, das[s] guete Fründt einandern heimbsuechen dörfen.“8 Die Verabredung zu einer Stubeten ging ungezwungen vonstatten. So begegnete Hans Infanger 1641 am Pfingstmontag zufällig zwei Bekannten und antwortete auf ihre Frage, „ob ehr welle ein mass wein mit inen trinken [...], er seie wohl zuofriden und welle den wein reichen, also habe ehr den wein bracht und seiendt also bei einanderen gesin“. Auch Gerichtsherr Melcher Vogel packte 1675 die Gelegenheit, kurzerhand Freunde und Bekannte in seine Stube einzuladen: „Als an dem Kilbi Abent in der Nacht in dem Wirtshaus zuo dantzen verbotten worden, hab Melcher Vogell etwelchen das sinig Hus eröffnet [und] dantzen lassen.“ Auch Hans Melcher Amstutz wusste um 1711 geschickt Stubeten einzufädeln. So suchte Amstutz zusammen mit verschiedenen Bekannten mehrmals Hans Infanger in dessen Haus auf, wo anschliessend in geselliger Runde „dem Lagel der Hertzstos geben worden“, d.h. reichlich Wein floss. Ein anderes Mal brachte Amstutz ein Weinfass in das Haus des Pfisters Hans Infanger, dessen „Haus voll Volch und auch Meitli da gewesen“: Die Anwesenden sprachen dem Wein bereitwillig zu.9 Einladungen waren also nicht einmal vonnöten. Wer von einer Stubeten erfuhr, konnte auch ohne Einladung die betreffende Gesellschaft besuchen. So berichtete Balzer Dillier 1673 von einer Hochzeit in Altzellen, die er mit einigen Bekannten hatte besuchen wollen:10

8 Vgl. ETP 2a.43–43b, 4.244–245, 16.341–343 und 16.392–394. 9 Vgl. ETP 2b.352–353, 4.15, 5.332–336 und 5.355–356. 10 Vgl. ETP 3.212–217.

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Weil sie gwüsst, dass in Philippi Christen haus auff Altzellen sin sohn Pelagi die hochzit halte, haben sie dis für ein ehrliches hochzit gehalten, sie zuo undt mit dem Bernard undt Bartholome Glöggler in das Grafenort zuo den älpleren gangen, die rahtsam worden, mit einanderen zuo der hochzit zuo gehen, einen tantz zuo thuon, haben glich bschlossen ohngewartet in das hus zuo gehen.

Auch Anna Katharina Waser zögerte im Sommer 1709 nicht, mit einem befreundeten Alpknecht um zwei oder drei Uhr morgens Verwandte auf dem Bord unangekündigt zu besuchen. Waser verneinte die Frage, ob diese zu jener Stunde bereits schliefen, „dan sie seyen etwan dickh [häufig] auf “. In jenem Sommer gesellte sich Waser auch einmal zu einer Stubete in der Ziegelhütte, wo einige Bekannte dem arbeitenden Ziegelbrenner Gesellschaft leisteten. Damals machte Waser in ihrer eigenen Hausstube auch nähere Bekanntschaft mit Hans Geni Feierabend: Nach Wasers Bericht war der Junggeselle eines Abends nach „Fyrabent am Abent zu ihr khomen, seye er bey ihr, ihrer Schwöster und der Hausdochter in der Stuben gewesen und alda mit einander geschwetzt bis gegen Miternacht“.11 Ähnlich erging es um 1720 Anna Barbara Schleiss, die ihre Freundinnen, die Töchter Karl Amrheins, gerne in deren Haus besuchte. Die Besuche waren der jungen Frau doppelt angenehm, denn sie hatte am Bruder ihrer Freundinnen, Niklaus Flori Amrhein, Gefallen gefunden. So begründete Schleiss ihre Besuche später damit, sie „habe die Zeith zu vertreiben und theils in seinem Haus [d.h. des Niklaus Flori Amrheins] die Gelegenheit gesucht, seye oftermahlen tag und nachts zu der hinderen Hausthür hinein gangen, habe das Schloss oder Rigel aufmachen können“.12 Die meisten Stubeten fanden zur Abend- bzw. Nachtzeit statt: Die Nachtzeit war durch das abendliche Betläuten um 19 Uhr und das morgendliche Betläuten um 5 Uhr symbolisch eingegrenzt (vgl. Abschn. 4.4). Wer übrigens bis tief in die Nacht hinein wach blieb, stand am nächsten Morgen kaum in aller Frühe auf. Als Weibel Alphons Sepp Flori Feierabend 1728 während einer nächtlichen Stubete eine Schlägerei miterlebte, schlief er zunächst ruhig aus, ehe er am nächsten Tag den Vorfall im Kloster anzeigte.13 Auch die Mönche – dies nebenbei – kannten den Ausschlaf, der vor allem jenen zugute kam, die um Mitternacht an der Mette (Matutin) teilnahmen.14 Gesellschaften kamen also bevorzugt abends und nachts in den Hausstuben zusammen. Allerdings scheinen nicht alle Stuben der Talschaft die gleiche Anzie11 12 13 14

Vgl. ETP 5.198–218. Vgl. ETP 7.625–630. Vgl. ETP 9.382. Vgl. etwa Straumeyers „Läut- und Zeremonienbuch“ von 1730, S. 74.

Geselligkeit

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hungskraft besessen zu haben: So entwickelten sich gewisse Stuben zu begehrten Treffpunkten. Von Theodora Zniderist z.B. hiess es 1706, dass sie in ihrem Haus „schon lange Zeit [...] Brantenwein undt Lebkuochen feill habe [und] auch nächtlicher Weill junge Burst einlasse“. Wer waren die Gastgeber, zu denen Zniderist zählte? In ihrem Fall handelte es sich wahrscheinlich um eine Witwe, die in ihrer Hausstube jungen Menschen Treffmöglichkeiten bot. Die ebenfalls verwitwete Anna Wilderich war 1672 noch weiter gegangen, als sie Spielleute in ihr Haus bestellt hatte, damit ihre ledige Tochter mit deren Schwarm tanzen konnte – was allerdings den Verlobten der Tochter wenig freute. Ehefrauen waren nicht minder rührige Gastgeberinnen: So stellte sich die angesprochene Stubete Melcher Vogels von 1675 bald als jene seiner Frau Barbara Kuster heraus. Sie hatte mehreren Gesellen die Haustür geöffnet, Wein vom Keller holen und in der Stube zum Tanz aufspielen lassen. Ihr Mann selbst weilte damals ausserhalb des Tals. Die wenigen Beispiele mögen andeuten, dass die Stubengeselligkeit wesentlich von Frauen mitgetragen und gestaltet wurde. Bereits an dieser Stelle wird klar, dass die Abendgesellschaften für beide Geschlechter bedeutsam waren.15 Doch worin bestand die sprichwörtliche »Kurzweil« der Stubeten?16 Es sei gleich vorweggenommen: Arbeit besass in der Engelberger Stubengeselligkeit – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Bedeutung. Es ist zwar nicht auszuschliessen, dass Stubeten auch der gemeinsamen Arbeit (etwa der Spinnarbeit) dienten, doch sind für solche Stubeten keine Belege erhalten.17 Wie aber vertrieb man sich dann gemeinsam die Zeit?

a) Essen und Trinken Das Auftischen von (Brannt)wein und Speisen gehörte fast selbstverständlich zu einer Stubete. Als Melcher Dillier 1626 im Anschluss an ein Hochzeitsfest einige Freunde in sein Haus einlud, wäre er gewiss ein schlechter Gastgeber gewesen, wenn er seinen Gästen nicht unmittelbar nach deren Ankunft „den weyn zogen und die spis auff den tisch gethan“ hätte. Auch Kaspar Langenstein berichtete 1642 geradezu selbstverständlich davon, „dass ehr an der kilwe mit sampt 2 gespanen in des stathalters hus [Niklaus Dilliers] gezert und habent 4 mass wein gehabt und krapfen und würscht und brodt“. Dass zu einer Stubeten ein reichhaltiges Mahl gehörte, wussten auch Hans Paul Kuster und Adam Waser: Sie sorgten 1688 für ein Kindbettmahl vor, indem sie vorgängig zweieinhalb Pfund Fleisch und Speck für zwei Batzen be15 Vgl. ETP 3.185–186, 4.15 und 4.513. 16 Zum Ausdruck etwa ETP 3.212–217 und 16.392–394. 17 Zur Bedeutung der Spinnstubeten in der Vormoderne vgl. etwa Medick (1980).

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sorgten. Die Gäste steuerten ihrerseits den Wein bei. Das Fest dauerte bis weit in die Nacht hinein, was Waser zur späteren Rechtfertigung veranlasste, er habe seine Gäste ja „nit können ausjagen, welche Wein mit ihnen gebracht, und habe der Jo. Bernhard auch noch mit ihme geltzenet“, d.h. das Fleisch mundgerecht verschnitten. Zum Messer griff 1716 auch Franz Ignaz Kuster, als er – vermutlich wie manch andere Talleute – für eine bevorstehende Chilbi eigens ein Schaf schlachtete.18 Stand eine Festlichkeit bevor, mussten die Gastgeber auf eine Weingabe ihrer Gäste zählen oder einen entsprechenden Weinvorrat bereithalten. So hortete Plazi Hess 1711 einen kleinen Weinvorrat von 17 Mass in seinem Keller, um ein bevorstehendes Kindbettmahl zu feiern. Bescheiden gab sich auch Jakob Schleiss, als er sich 1713 für die kommende Fasnacht lediglich „ein Fässle auf sein Fasnacht“ besorgte. Hier fällt übrigens der Ausdruck »seine Fasnacht« auf: Fasnacht konnte nicht nur die Festzeit selbst bezeichnen, sondern auch die Festlichkeiten in den jeweiligen Haushaltungen. Hans Lienhart Müller hingegen brauchte wesentlich grössere Weinmengen, als er im selben Jahr eine Hochzeit vorbereitete. Es bedeutete für Müller eine harte Geduldsprobe, als sein Weinlieferant in Lieferverzug geriet, so dass der Wein „auf die Hochzeith hätte ausbliben mögen“. Gewiss hätten die leeren Weinbecher die Festlaune der Hochzeitsgesellschaft stark getrübt, wenn Müller nicht rechtzeitig einen anderen Anbieter gefunden hätte.19 Grössere Festlichkeiten waren entsprechend kostspielig. So erinnerten sich 1737 manche Gerichtsherren, „dass bey ihren jungen jahren die [Kindbett]mähler wohl unmässig, auch eines über ein kuhe gar oft gekostet habe, viele nachbahren und freünd zusamen kommen, gespilt in 2 oder 3 täg“, worauf viele „haushaltungen, wie vor etlichen jahren geschechen, in grosse armuth gerathen“ seien. Tatsächlich hatte sich die Obrigkeit bereits 1714 ernste Gedanken um Auswüchse bei Kindbettmählern gemacht, gerade im Fall der „Minderhabenten, also, das[s] sie an einem Dag so vill unnutzlich gebraucht, das sie ihre gantze Haushaltung mehrere Däg und Wochen darus häten erhalten khönnen“. Vier Jahre später legten Abt und Gericht einen Höchstbetrag fest, den die Paten bei Kindbettmählern aufwenden durften.20 Verdrossen stellte man fest, dass mancher arme Taglohner, oder Handtwerckhsman, was er das gantze Jahr verdiene, oftermahls mit einer Gvatterschaft aufzehren müesse, Ursach solcher nit weniger als andere besser Vermöglichere angesechen seyn wolle, und doch zuletst noch hören müesse, als hätte er zu wenig geben.

18 Vgl. ETP 2a.42–43, 2b.370–372, 4.244–245 und 7.559–562. 19 Vgl. ETP 5.355–356 und 7.429–435. 20 Vgl. ETP 7.439–440, 7.442–445, 7.609–610 und 11.177–178.

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Neben Wein und Fleisch erfreute sich Süssgebäck besonderer Beliebtheit, etwa Lebkuchen, Ofenkrapfen, Kräpflein, Kindbetterringe, Milch-, Eier- und Samichlausbrote usw.21 Gerne verzehrte man auch Nidlen (d.h. abgeschöpften Milchrahm), die besonders während der Fasnachtszeit als häufiger Spieleinsatz diente. Im späten 18. Jahrhundert verbreitete sich ferner die Sitte, zu Süssgebäck Kaffee zu trinken. Kaffeemühlen gehörten um 1790 bereits zur gewöhnlichen Ausstattung eines Bauernhaushalts.22 Eine Speise bzw. ein Getränk der besonderen Art stellte schliesslich das »Tabakkauen« bzw. das »Tabaktrinken« dar. Tabak wurde ebenso von Männern wie von Frauen gekaut bzw. geraucht. Als Anna Katharina Feierabend 1710 in anderweitiger Sache vor Gericht aussagen musste, berichtete sie mit grosser Selbstverständlichkeit, wie sie abends mit ihrer Zimmergenossin im Bett zu rauchen pflegte. Die Obrigkeit hatte zwar das Rauchen seit Mitte des 17.  Jahrhunderts (hauptsächlich wegen der Brandgefahr) wiederholt bekämpft, war aber dabei gründlich gescheitert. Die Talleute rauchten sogar in der Kirche, wie ein entsprechendes Verbot von 1739 vermuten lässt.23

b) Spielen Zur Kurzweil der Stubeten trugen auch Gesellschaftsspiele bei, die weiter oben bereits behandelt wurden (vgl. Abschn. 3.2.2). Kartenspiele mit verschiedenen Einsätzen (Geld, Wein, Nidlen usw.) erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Manche spielten bis in die Morgenstunden hinein, doch Müdigkeit und Weingenuss machten es nicht immer einfach, einen klaren Kopf zu bewahren. So spielte Alfons Kuster 1746 an einer Stubete solange, „dass er fast die karten nit mehr kent“. Weinfeuchte war wohl auch für den Streit Melcher Amrheins und Hans Kaufmanns an der Fasnacht von 1688 verantwortlich. Beide gerieten nach einer Spielrunde heftig aneinander: „Du alter Lump hast falsch gespihlt“, warf Kaufmann seinem Mitspieler vor. Als die Streithähne sogar mit einem Degen aufeinander losgingen, war die Spiellaune der Abendgesellschaft endgültig verdorben.24

c) Musik und Tanz Weiter gehörten Musizieren, Tanzen und Singen zu den festen Unterhaltungsformen der Stubeten. So waren die Spielleute Paul Kuster und Jost Dillier 1622 auf einer Stubete, als junge Burschen sie drängten, zum Tanz aufzuspielen. Als Kuster 21 Vgl. ETP 2a.51–53, 2b.370–372, 2b.664–665, 3.233–234, 4.457–458, 4.513, 11.479– 480, 14.206–207 und 15.155–156. 22 Vgl. ETP 18.294–296. 23 Vgl. u.a. ETP 2b.612–613, 4.321, 5.292–294 und 11.279–282. 24 Vgl. ETP 4.249–256 und 11.546–551.

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und Dillier sahen, dass die jungen Burschen bereits „keglen und sonst spilen, haben sie gedacht, es wärd auch nit schaden, wan si schon zuo Dantz machen“. So wurde mit Geigen, Pfeifen, Maultrommel (Trümpä) und Bauernleier (Lirärī) aus einer gewöhnlichen Hausstube bald eine Tanzlaube.25 Die Instrumentalmusik war funktional, insofern in aller Regel zum Tanz aufgespielt wurde. Jedenfalls waren die Talleute begeisterte Tänzer, besonders die jüngeren. Der Tanz erleichterte die Begegnung zum anderen Geschlecht, was ihn unter den Junggesellen und Jungfrauen wohl erst recht beliebt machte. Manche Instrumente waren den Talleuten lieb und vertraut, so etwa jene der Schwegelpfeife. Im 19. Jahrhundert kamen diese einteiligen Schnabelflöten ausser Gebrauch, ehe man sie um die Jahrhundertmitte an einer Schützenchilbi wieder einmal spielte: Die alten Leute, so hiess es, begannen vor Freude zu weinen, als sie die alten, längst verstummten Klänge wieder vernahmen.26 Das Musikinstrument schlechthin war aber zweifellos die Geige. Die Brüder Joachim (1702–1779) und Sepp Frowin Waser (1707–1770) mussten besonders begnadete Spielleute sein, erhielten sie doch die stehenden Beinamen der Geiger bzw. der Bassgeiger. Auch Sepp Niklaus Anton Waser (1752–1823) scheint ein begnadeter Spielmann gewesen zu sein: Als Waser an Invocabit 1774 einer Stubete beiwohnte, geduldeten sich die übrigen Anwesenden angeblich bis zur Mitternachtsstunde, ehe sie den Spielmann baten, nach verflossenem Feiertag mit der Geige zur alten Fasnacht aufzuspielen. Ein Spielmann konnte immerhin zwei Gulden verdienen, wenn er (z.B. an einer Hochzeit) zum Tanz aufspielte. Ein neues Jahr wurde gelegentlich mit einer sogenannten »Bäggätä« eingesungen. Eigentlich heisst »bäggä« in der Mundart »heftig stöhnen«, kann aber auch das Reden bzw. Singen mit Kopfstimme bezeichnen.27 Man kann deshalb vermuten, dass beim Neujahrsingen »gjöized« (d.h. Naturjodel gesungen) wurde. Jedenfalls baten z.B. die Nachtwächter 1745 das Gericht „um erlaubnus, dass sie 2 und noch einer, also selb dritt, dörffen gehen singen zum neüwen jahr“. Auch 1759 traten wiederum einige Bittsteller vor das Gericht und erklärten, „dass einige gern möchten widerum einmahl das neüw jahr singen“. Die Vermutung wäre nicht abwegig, dass die Sänger von Haus zu Haus zogen und ihre Lieder gegen einen Umtrunk in der warmen Stube vortrugen. Es ist bedauerlich, dass man den Sängern auf ihren Wegen

25 Vgl. ETP 1.355, 3.185–186, 5.294–297, 7.429–435, 11.165–166, 11.569–572 und 16.68–70. Zu den erwähnten Instrumenten vgl. die Zusammenstellung bei BachmannGeiser (1981). 26 Vgl. Hess (1915: 103), zum Instrument vgl. Bachmann-Geiser (1981: 80). 27 Vgl. Artikel »bäggä« in SI 4, 1077.

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durch das verschneite Hochtal nicht mehr folgen kann: Gewiss hätte man vieles über die damalige Lebensweise erfahren.28

d) Kräftemessen und Werben Heranwachsende Jünglinge besassen während der Abend- und Nachtstunden eigene Geselligkeitsformen. Die sogenannten Nachtbuben (auch Nachtschwärmer bzw. -vögel) trieben sich im Dorf, auf den Kirchwegen und vor allem vor den Hausstuben bandenartig herum. Kräftespiele waren unter den Nachtbuben durchaus verbreitet. Vergleichweise harmlos waren die Schneeballschlachten, die man sich in der Winterzeit lieferte. Die Gerichtsherren hatten allerdings wenig Freude daran, wenn sie selbst Opfer solcher Würfe wurden und „von der frechen Jugent beschimpfet, in keinem Respect gehalten, ja so gar mit Schnee old Steinen geworfen [beworfen] werden“. Pfarrer Magnus Langenstein riet den Kindern 1674 nachdrücklich, dass sie sich besser und wohlgezogner auffüehren, besonders auf offentlichen Ohrten und Strassen und bevoraus auf dem Kirchweg, dass sie sich nimmer erfrechen, die Vorbeypassierende auf waserley Weis anzutasten, selbe mit Schneeballen zu bewerfen; auch sich des Scheltens, Schmächens und Verspottens sollen enthalten; auch niemand, wer es immer seye, mit allerley Ueber- old Nachnämen künftig hin zu belegen sich ferners erfrechen sollen.

Einige Nachtbuben mussten sich 1769 wegen der Verwüstung eines Gartens in der Festi verantworten, worauf sie erklärten, es sei „dahero geschechen, weilen sie die andere und kleinere nachtbuoben in dem garthen in die schon hierzu eröffnete s.v. misch(t)gruben haben sprengen und eindunckhen wollen“.29 Balgereien aller Art kamen häufig vor. So war Hans Infanger 1641 an einer Stubete, als ihn Kaspar Kuster anstachelte und „usen geforderte zuo dem anderen mahl, wan ehr ein ordlicher kerlis sie, so solle ehr usen kommen“. Als sich 1709 Niklaus Amrhein und Konrad Athanas Waser in einer Mainacht begegneten, erklärte der erste dem anderen kurz und bündig, „er wolle es mit ihme hernacher auswagen, welcher under ihnen beeden der Stärckhere seye, worauf der Athanas Waser ihme geanthworthet habe, er habe die Wahl“. Die Sache ging für Waser nicht gut aus, war er doch nach dem Kampf für über eine Woche arbeitsunfähig. Ähnlich verlief 1722 auch die Begegnung Ignaz Anton Müllers und Jakob Geni Langensteins an einem Sommerabend: Langenstein sass auf einer Holzbeige vor dem Wirtshaus, als ihn Müller zu einem Kräfte28 Vgl. ETP 11.442, 11.477–478, 14.115 und 14.218–220. Zur Gesangskunst im Engelberger Tal, vgl. auch den Bericht Christoph Meiners in Dufner (1978: 49). 29 Vgl. ETP 4.132–135, 7.603 und 14.363–364. Ferner Hess (1945a: 21).

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messen herausforderte. „Sye haben endlichen mit einander in so lang umgezehrt, bis der Kläger [d.h. Müller] mit dem gebrochenen Beyn erlegt geblieben“, hiess es später vor Gericht, als der unglückliche Müller seine Schererkosten von Langenstein zurückforderte. Die Obrigkeit suchte solchen Hahnenkämpfen wiederholt entgegenzutreten, so etwa 1730 mit einer Strafandrohung, falls einer „den anderen under seinem tach sucht in zornigem muth oder aussert seinem haus lüde, dass er mit ihm kriegen wolt“.30 Drei Jahre später beklagte die Obrigkeit, dass die Nachtbuben ein ander nit nur mit allerhandt spitzreden und ergerlichen wortten sonder sogar mit degen, messer, stein und steckhen aufziechen, einander aufsuochen undt jagen, also zwar, dass nit nur die ehrlose nachtbuoben selbsten in leib und lebensgefahr gerathen sondern andere ehrliche leüth, so aus noth undt triftiger ursachen halber zu nachts aussert haus gehen müessen, angefochten undt befahret werden.

Wo Jünglinge aufeinandertrafen, wurden also oft „wie der bösen buoben brauch gleich händel angefangen“. So erinnerte sich Niklaus Dillier 1629 wohl nur ungern an ein Treffen mit Lienhart Kuster, denn als man „eines abends in der gass einanderen begegnett und [er selbst ...] einen guottenn abent gewünscht, habe [...] Lienhartt zo ime gschlagen und mit einanderen gerungen“. Schlimmer erging es Geni Matter 1735, als er nachts auf offener Strasse von Jakob Hurschler verprügelt wurde. Hurschler liess sich dabei von drei Gefährten helfen, die den angegriffenen Matter festhielten und wehrunfähig machten. Scherzhafteres hatte 1750 Michel Kuster vorgehabt, als er eine Gruppe junger Leute auf ihrem nächtlichen Heimweg überraschen wollte.31 Kuster selbst berichtete später, er habe nur einen spass machen wollen und seye zu disem anfang zu einem kleinen loch aussen geschloffen und auf allen fieren in den weg gekrochen, dan haben die meitlin anfangen schreyen, worauf die anderen auf ihnne zugeloffen, ihne angegriffen, worauf er sich billich auch gewehrt.

Sehr lustig ging die Sache jedenfalls nicht aus. Als 1762 Jakob Geni Hess eines Abends eine Jungfrau nach Hause begleitete, begegnete das Paar in der Dunkelheit einem Burschen, der mit verkehrter Rede (d.h. mit verstellter Stimme) den Begleiter der jungen Frau herausforderte. Hess selbst berichtete später, dass er „keine händel gesucht habe, und da sei er aufgefordert worden, hab er gesagt, dass er in anderer zeit es nit abschlagen wurde, dermahlen aber wolle er nit“. Der kampfeslustige Unbekannte hatte Hess danach „gefragt, ob sie eins wollen hoslen“. Ein zweifelhaftes 30 Vgl. ETP 2b.352–353, 5.78–84, 9.11–15, 8.383–387 und 8.387–388. 31 Vgl. ETP 2b.55–56, 10b.49–50, 11.462–464 und 11.639–641.

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Angebot wurde Sepp Geni Hurschler 1795 vorgetragen, als mehrere Nachtbuben sein Haus belagerten und erklärten, „sie wollen ihme die hoosen hinablassen und schwingen“. Der Abend endete für den herausgeforderten Hurschler durchaus ungemütlich, als er von den Nachtbuben zu Boden geworfen und auch noch „mit grisästen geflautet“ (d.h. mit Tannästen gestrichen) wurde. Solche ungleichen Kämpfe blieben allerdings nicht folgenlos. So war Jakob Hess 1787 ein ähnliches Schicksal wie dem ebengenannten Hurschler widerfahren. Hess holte jedoch bald andere Burschen zu Hilfe und trat mit deren Verstärkung gegen seine Peiniger an: Entsprechend heftig fiel der folgende Schlagabtausch aus.32 Wer bei solchen Kräftespielen unterlag bzw. Frieden bot, büsste einen Teil seiner Mannesehre ein. Selbst Gerüchte über eine angebliche Niederlage waren rufschädigend. So klagte Hans Geni Infanger 1741 gegen Michel Zniderist wegen dessen grundloser Behauptung, „er Joh. [habe] mit ihmme Michel geraufet und habe Michel ihne so weith under sich gebracht, dass Joh. i[h]n gebeten, dass er ihne nit kratze“. Infanger wollte die offenbar unwahre Behauptung keinesfalls auf sich sitzen lassen.33 Die heftigsten Kämpfe lieferten sich die Jünglinge jedoch mit fremden Burschen. Als etwa zwei Burschen aus Buochs 1710 im Haus Sepp und Lienhart Zniderists bewirtet wurden, umstellten Engelberger Nachtbuben die besagte Hausstatt. Die Nachtbuben äusserten ihren Unmut darüber, dass die Haustöchter an der vergangenen Chilbi vier Berner Burschen mit erbettelten Speisen bewirtet und mit ihnen getanzt hatten. Die Gastgeber erklärten später, „als die 2 Buechser haben wollen hinweg gehen, haben sie es ihnen gewehrt, und gheis[s]en da bleiben als Freünd, auch damit ihnen nichts geschehe“ – die Furcht war kaum unbegründet.34 Die Engelberger Nachtbuben stiessen wiederholt mit Burschen der Nachbargemeinde Wolfenschiessen zusammen. So hatten 1673 einige Engelberger Burschen die Hochzeit Pelagi Christens in Altzellen unangemeldet besuchen wollen. Dass ihr Besuch unerwünscht war, wurde ihnen spätestens bei ihrer Ankunft klar, als sie von der Festgesellschaft mit Holzscheiten beworfen wurden. Pelagi Christen und seine Gäste verfolgten darauf die ungebetenen Eindringlinge. Dies bekam dem Bräutigam allerdings schlecht, berichtete doch die Nidwaldner Obrigkeit später, er sei von etwelchen bösen buoben undt nachtvöglen sehr übel tractiert undt nebent anderem ihme etliche zähn aus dem kifel heraus geschlagen oder gerissen worden, also zwar, dass er sich dises schadens so ohnreparierlich den tag seines lebens zuo entgelten haben wirdt.

32 Vgl. ETP 14.190–193, 16.478–482 und 19.205–208. 33 Vgl. ETP 11.374–375. 34 Vgl. ETP 5.292–297.

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Seinen Hochzeitstag vergass Christen also zeitlebens nicht mehr.35 Umgekehrt waren es Nidwaldner Burschen, die sich an der Chilbi von 1724 im Engelberger Wirtshaus zum »Engel« recht ungezügelt verhielten. So belästigte der Nidwaldner Ratsherrensohn Peter Odermatt zwei mitfeiernde Obwaldner, indem er ihnen „ihres mitgebrachtes Meidli weggenohmen, erstlich zum Tanz, hernacher zum Trincken geführt, und endlichen [ihr] den Hutt verborgen“. Als Odermatt dem unbeteiligten Joachim Kuster auch noch dessen Miel (Weinbecher) zu Boden warf, kam es endgültig zum Schlaghandel. Peter Odermatt und seine Gefährten erwiesen sich allerdings als wenig lernfähig, zettelten sie doch bereits am folgenden Bartholomäustag (24. August) einen Streit an: Als der Wirt ihnen das Tanzen wegen ihres vormaligen Verhaltens verbieten wollte, belästigten sie die Wirtshausmagd, warfen Salzfässchen, Nachthäfen, Teller und Miele aus den Fenstern der Gästezimmer und zündeten schliesslich gar Bettlaken an. Vier Jahre später mussten Peter Odermatt und seine Gefährten hingegen hart einstecken. So waren sie eines Abends bei Gerichtsweibel Alfons Sepp Flori Feierabend zu Gast, als Odermatt gegen 23 Uhr den ebenfalls anwesenden Gerichtsherrn Niklaus Amrhein vor dessen Frau beleidigte und des Betrugs bezichtigte. Bald kam es in der Stube zum Schlagabtausch zwischen Engelbergern und Nidwaldnern. Darauf rannte Hans Waser ins obere Wirtshaus zum »Engel« und erklärte den anwesenden Wirtshausbesuchern, „sie sollen kamen, man schlage da unten einander zue todt“. Sepp Schleiss seinerseits rannte ins untere Wirtshaus zur »Krone«, wo er „die Stubenthür geöffnet und gesagt, ob keine Engelberger Kerl hier seien, sie schlagen ein ander da unden, dass es ein Graus seie“. Ein Dritter schliesslich eilte auf die Gand und schlug dort mit Juchzerrufen Alarm. Der folgende Schlaghandel war entsprechend heftig und endete zu Ungunsten der beteiligten Nidwaldner.36 Die Nachtbuben richteten regelmässige Schäden an auf ihren nächtlichen Streifzügen durchs Hochtal. Dabei wurden anscheinend offene Rechnungen beglichen bzw. Denkzettel verpasst. So wurden allein in der Nacht vom 29. August 1649 mehrere Zauntüren bzw. –leitern verlegt, Vieh aus den Gäden bzw. auf fremde Weiden getrieben, Gassenvieh auf Emdweiden ausgelassen, Einfriedungen abgezerrt, Heustöcke zersaust, Milchgeschirr verwüstet, Gartenkräuter ausgezerrt und der Schützenplatz auf der Benzenrüti verwüstet. Regelmässig wurden Eingangstreppen mit Leitern und Holzscheiten verlegt, die sich gewöhnlich unmittelbar unter den Stubenfenstern befanden. So musste Hans Infanger 1641 feststellen, dass Nachtbuben derart „die hausthür mit schittern verleit [hatten], dass ehr Hans nit [mehr] hab könden ussen kommen“. Schlimmeres widerfuhr anderen Geschädigten, wenn Nachtbuben ihre Fensterläden aufbrachen, Scheibenfenster einschlugen und aller35 Vgl. ETP 3.212–217. 36 Vgl. ETP 9.164–201 und 9.379–416.

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lei Unrat in die Stube hineinwarfen, etwa Erde, Kot, Gülle, schmutziges Wasser, Schnee, Ameisenhaufen und dergleichen. Was aber verursachte solche Rachezüge? Nachtbuben hatten 1710 die Stube des berüchtigten Hauses in der Wetti angegriffen, weil die Hausleute zuvor fremde Burschen mit Almosenspeisen bewirtet hatten und erneut Auswärtige in ihrer Stube empfingen. Franz Ignaz Kuster seinerseits musste 1743 den Zorn der Nachtbuben erfahren, weil er ihnen nicht erlaubt hatte, um seine Magd zu freien und sich dabei an seinem Fleischvorrat gütlich zu tun. Als Kuster die Nachtbuben von seinem Haus vertreiben wollte, wurde er von ihnen harsch angefahren: „Du donnersketzer, hab d’nasen inen, sonst wollen wir!“ Dass Kuster die Buhler seiner Magd nicht besonders schätzte, lässt sich wohl nachvollziehen. So hatte Plazi Matter 1728 erhebliche Unkosten erfahren, als der junge Konrad Waser um seine Magd Anna Matter geworben hatte. Matter bezifferte damals den Verbrauch an Speisen und Öl (für die Beleuchtung) auf ganze 30 Gulden! Also stellten verweigerte, enttäuschte oder unerlaubte Buhlschaften möglicherweise die Hauptursache für die genannten Schädigungen dar.37 Auch die Nachtbubengeselligkeit spielte sich hauptsächlich um und in den Hausstuben ab. Dies galt insbesondere dann, wenn die Nachtbuben Buhlschaften suchten bzw. unterhielten. Die Nachtbuben folgten typischen Verhaltensformen: So suchten sie nachts das Haus jener Jungfrau auf, um die sie werben wollten. Mittels einer Leiter oder einer Holzbeige stiegen sie bis zu den Stubenfenstern hinauf, wo sie an die Falläden bzw. Fenster klopften oder gleich selbst öffneten. Um zunächst unkenntlich zu bleiben, sprachen sie darauf die anwesenden Hausleute mit verkehrter Rede an: Dabei bedienten sie sich vermutlich ihrer Kopfstimme, die ja auch bei der »Bäggätä« verwendet wurde. Zugleich wurde die Kapuze des Hirtenhemds über den Kopf gezogen, um das Gesicht unkenntlich zu machen.38 Wer Einlass begehrte, konnte z.B. um etwas Tabak bitten. So berichtete 1710 Barbara Eugenia Feierabend vom Besuch einiger Nachtbuben, dass in der Nacht jemand erstl. an der Düren und hernacher an den Stubenpfensteren geklopfet und gesagt habe: ‚Güeten Aben Baben Eügeni’, darauf Barbara Eugenia: ‚Meine liebe Leüth, wan ihr wollet hinein komen und in Fründlichkheit etwan ein Pfeifen Tabac trinckhen, so könnet ihr kommen, gehet aber zur Türen.’

37 Vgl. ETP 2a.72b, 2b.456, 2b.503–504, 2b.352–353, 4.165–166, 4.460, 5.292–297, 5.299–300, 8.383–388, 9.421–422, 11.414–416, 14.419, 19.110–113 und 19.205– 208. 38 Vgl. KMB, Sammlung Birmann, Bi 321. Birmann beschreibt den nächtlichen Besuch so: „Das Ducken und Stimme verstellen (die Rede verkehren) beym nächtlichen Besuch, das Herüberziehen des Hirtenhemli über den Kopf, damit man nicht erkannt werde.“ Zum Begriff »die Rede verkehren« vgl. SI 3, 439–440.

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Ähnlich waren 1724 einige Nachtbuben eines Abends gegen 21 Uhr vor das Haus Bernhardin Feierabends getreten, wo sie darauf „mit wohl verstelten Stimb die einte Dochter [...] umb mit dem Licht zue zinden hinausgelocket“. Tatsächlich öffnete die besagte Tochter die Haustüre und trat mit einem Licht in der Hand zu den Nachtbuben.39 Hatten die Nachtbuben einmal Einlass erhalten, konnte das Freien erst wirklich beginnen. Dann waren jene Stubeten angesagt, die beim Jungvolk wegen ihrer geselligen Vergnügungen sehr beliebt waren. Die Hauseltern konnten solche Stubeten (mehr oder weniger freiwillig) dulden, bisweilen förderten sie solche Zusammenkünfte auch. Die meisten Hauseltern waren sich wohl ohnehin bewusst, dass sich das Jungvolk seine Treffen nicht nehmen liesse. Orte für heimliche Treffen gab es mehr als genug, etwa die Lauben des Obergeschosses, die Stuben gastfreundlicher Talleute, die Gäden und Speicher, die Alphütten usw. (vgl. Abschn. 3.1.2). Es ist bezeichnend, dass die Engelberger Mundart für vertraulichere Treffen einen eigenen Ausdruck bewahrte, nämlich »z’Liächt gā«. Nächtliche Besuchgänge aller Art bezeichnete man schlicht als »z’Stubätä gā«, während Treffen heiratswilliger Paare eher mit »z’Liächt gā« umschrieben wurden: Die Liebespaare lösten sich damit nicht nur vom Stubenraum ab, sondern entzogen sich auch allmählich der unmittelbaren Aufsicht Dritter.40 Es zahlte sich für die Hauseltern aus, wenn sie sich ihre Aufsichtsmöglichkeiten nicht durch gänzlichen Widerstand verspielten. Recht unglaubwürdig scheint dagegen die Annahme, die Eltern hätten die Liebschaften ihrer Nachkommen weitgehend planen und steuern können. Die elterliche Gewalt über den Heiratsmarkt war letztlich begrenzt. Hart traf es jene, die auf dem Heiratsmarkt erfolglos blieben. Der Basler Kunstmaler Samuel Birmann erfuhr 1819, wie man „veraltete Mädchen und Buben“ im Hochtal auszulachen pflegte. So hiess es von ledigen Jungfrauen, die das 30. Lebensjahr überschritten hatten, sie seien auf dem »Griätzämoos«. Wörtlich bezeichnete der Begriff eine kahle und verdorrte Heide, die von Disteln und verkrüppelten Bäumen übersät ist. Wenn Jungfernschaft üblicherweise mit »Blumen« umschrieben wurde, so waren auf dem »Griätzämoos« die Blumen zu dürrem Kraut und Stroh verdorben. Hartgesottene Junggesellen ihrerseits wurden als »Hagestolze« bezeichnet.41 Unter Jugendlichen bildeten sich Netzwerke heraus, die das Zustandekommen von Liebschaften wesentlich erleichterten. So lud Melcher Dillier 1626 Maria Waser 39 Vgl. u.a. ETP 5.292–297, 9.164–201 und 11.546–551. 40 Vgl. SI 10, 1178 sowie KMB, Sammlung Birmann, Bi 321. Birmann bestimmt »z’Stubätä« knapp als nächtliche Besuche. 41 Zum Begriff des »Griätzämoos« vgl. SI 4, 470–472, zum Gebrauch des Begriffs in Engelberg vgl. KMB, Sammlung Birmann, Bi 321.

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spätabends zu sich ein, nachdem beide auf einem Hochzeitsfest gefeiert hatten. Als Jakob Dillier von dieser Einladung erfuhr, stürmte er auf seinen Namensvetter zu, der später berichtete, „sye ime Jacob Dilger in ein ohr gschossenn, geredt, wan die frauw in Oettringen [Örtigen] heim welle, sol ers ime sagen, welle der selben nach ein mass mit ihro trinkhen“. Jakob Dillier wollte die Gelegenheit nicht versäumen, nähere Bekanntschaft mit der jungen Waser zu schliessen. Der Buhler war sich seiner Sache derart sicher, dass er „mit Hans Töngi gewettett umb ein mas[s] wein, es sye morn ein reyff “ – wem hier ein Kranz als Auszeichnung zukommen sollte, kann man sich lebhaft vorstellen.42 Allerdings einten die Netzwerke ebenso Helfer als auch Konkurrenten. Darauf weisen nicht zuletzt die bereits erwähnten Balgereien hin. Kraftspiele waren allem Anschein nach oft auch Balzkämpfe.

d) Gespräche An den Stubentischen konnten weitläufige Unterhaltungen geführt werden. Der bäuerliche Alltag sorgte sicherlich für ergiebigen, ja unerschöpflichen Gesprächsstoff. Ferner wurden wohl manche Gemeindeentscheide am Stubentisch vorberaten. Hier nahm auch manches Dorfgeschwätz seinen Anfang. So ging vielen Gerüchten ein Ehrenhandel während einer Stubete voraus. Meinungsverschiedenheiten konnten unter Umständen zum Streit ausarten. Diese Wende wurde oft durch einen Faustschlag auf den Tisch sinnfällig gemacht. So waren mehrere Burschen 1626 zu einer Stubete versammelt, als Melcher Dillier vor allen Anwesenden „gegen den abet in einem zorn uff den tisch gschlagen“ und seinen Widersacher Kaspar Langenstein zu beleidigen begann. Nicht anders hielt es Peter Odermatt, als er sich 1728 anlässlich einer Stubete mit Gerichtsherr Niklaus Amrhein zerstritt und diesen beleidigte, nachdem er „mit den Knödlenen auf den Tisch geschlagen“.43 Dem Faustschlag auf den Tisch folgten also die Beleidigungen: Männer wurden etwa als Diebe, Betrüger oder Hurenbuben angegriffen, wobei oft auch die Familienehre des Angegriffenen beschmutzt wurde. So beschimpfte Barbara Schwander 1725 Franz Sepp Kuenz als »Henkerssohn«, worauf Kuenz heftig erwiderte: „Mein Vatter ist kein Henker gewesen.“ So erwehrte sich auch Sepp Kuster 1753 gegen die Angriffe Anton Cattanis mit dem Ausruf: „Ich bin aus einem ehrlichen geschlecht und aus keinem mördergeschlecht!“ Sepp Anton Waser seinerseits wurde 1780 mit der Behauptung angegriffen, er wäre „einer minder ehrlichen herkunft, angesechen sein lieber vatter seelig den verächtlichen dienst eines wasenmeisters solle versechen haben“. Man erinnere sich auch an das 1771 aufgekommene Gerücht, wonach der verstorbene 42 Vgl. ETP 2a.42b-43. 43 Vgl. ETP 2a.43–43b und 9.379–416.

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Vater des damaligen Gerichtsherrn Sepp Anton Amrhein Rechtsbriefe aus dem Talkästli entwendet haben sollte: In allen Fällen wurde die Familienehre der Angegriffenen in Frage gestellt.44 Frauen wurden fast durchgehend in ihrer sexuellen Ehrsamkeit beleidigt, wobei die Angriffe letztlich ebenso ihren Ehemännern bzw. ihren Freiern galten. Unmissverständlich hielt 1640 Niklaus Hurschler seinem Widersacher Jakob Waser vor, „sin frawe, die er jetzt genomen, sy sige ein huor und blib ein huor, bys er zuo kilen füere“. Eifersucht mochte mitspielen, als Melcher Dillier 1626 Gerüchte über die Beziehung Jakob Dilliers mit Maria Waser streute und hin und wieder ausgab, „er hab von i[h]nen gsechen mitt einander triben, dass i[h]nenn nitt wol anstande“. Im selben Jahr griff Dillier auch Kaspar Langenstein an, dem er ebenfalls eine Beziehung zu Maria Waser nachsagte. So erklärte er anlässlich einer Stubete: „Wan er ein solches weib und heütt in seinem haus hette und Caspar Langenstein so dick dahin kome als in Oeterigen [Örtigen, Maria Wasers Hausstatt], wellte er das we[h]r durch in stossen.“45 Wer andererseits eine uneheliche Vaterschaft nicht anerkennen wollte, war umso mehr darum bestrebt, die werdende Mutter als leichtfertiges Mädchen abzutun. Übrigens beleidigten sich auch Frauen gegenseitig bezüglich ihrer sexuellen Ehrsamkeit: So griff Katharina Amrhein 1621 Anna Waser heftig an mit der Aufforderung, sie solle „zum Har grifen und die Züpfen [der Jungfrauen] abhauwen“. Die darauffolgende Beleidigung als „fule Huor“ machte den Ehrenangriff überdeutlich. Jungfrauen trugen im Hochtal – im Gegensatz zu den verheirateten Frauen – ihr Haar zusammengebunden in Flechten. Es war das Vorrecht der Jungfrauen, an den Fest- und Prozessionstagen ihr Haar mit Kränzen zu schmücken.46 Das Abschneiden der Haare bedeutete hingegen das Ende der Jungfernschaft. Auch Barbara Eugenia Feierabend musste sich 1710 gegen Gerüchte wehren, die vornehmlich ihre Nachbarinnen über sie verbreiteten: Diese erzählten der ganzen Dorfschaft, Feierabend sei eines Abends „nackhet und bloss bey 2 Bueben gelegen“.47 Ehrenhändel liessen sich aber auch auf feinere Art und Weise austragen. So befestigten 1647 einige Nachtbuben »Scherzesel« auf den Dächern einiger Bauernhäuser und auf der Tanzlaube, wo die Feier einer Hochzeit bevorstand. Wofür die Scherzesel symbolisch standen, lässt sich nur mehr bedingt ermitteln: Immerhin legt die Verbindung zur bevorstehenden Hochzeit eine sexuelle Anspielung durchaus nahe. Jedenfalls fassten die betroffenen Hausbesitzer und Hochzeiter die Tat durchaus als 44 45 46 47

Vgl. ETP 9.223–231, 11.75–78 und 15.189–191. Vgl. ETP 2a.42b-43b und 2b.272. Vgl. KMB, Sammlung Birmann, Bi 321. Vgl. ETP 1.333–334 und 5.292–297. Zur allgemeinen Bedeutung der Ehre in vormodernen Gesellschaften vgl. Dinges (1995).

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Schmähung auf. Noch deutlicher war der Wink, als einige Nachtbuben 1711 einen Strohmann auf das berüchtigte Haus in der Wetti setzten. Die Nachtbuben selbst erklärten später, sie hätten den Strohmann auf das Dach gesetzt, weil die ledigen Töchter des Hauses geradezu verzweifelt nach einem möglichen Ehemann suchten und ihre Liebespfänder dabei vorzeitig verschenkten. Der Strohmann erinnerte an die verwelkten Blumen des Jungfernkranzes, den ausstehenden Gatten und an das bedrohlich nahe »Griätzämoos«.48 Wirkungsvoll konnten anonyme Schmähschriften an öffentlichen Orten angebracht werden. So schrieb Sepp Töngi 1690 eine Schmähschrift gegen Andres Sepp Häcki und befestigte diese an einer gut sichtbaren Stallwand. Nachforschungen des Gerichts ergaben später, dass Anna Maria Waser die eigentliche Urheberin des Zettels war und Töngi zum Schreiben angeleitet hatte – was auf der Schrift stand, ist leider nicht bekannt. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich auch 1710, als zwei Burschen eine Schmähschrift gegen Sepp Töngi mitsamt einer Hühnerleiter auf der Tanzlaube aufstellten. Die Burschen rächten sich angeblich für Gerüchte, die Töngi über sie verbreitet hatte.49 Durch Beleidigungen und Schmähungen wurden immer zugleich Ordnungsvorstellungen ausgedrückt. Wer das Verhalten von Mitmenschen anprangerte, tat dies aufgrund der Vorstellung, die er bzw. sie von der rechten Ordnung hatte. Beleidigungen, Schmähungen und Schädigungen (etwa der Nachtbuben) antworteten auf vermeintliche oder wirkliche Verletzungen dieser Ordnung. Ehrenhändel bedeuteten ein Doppeltes, wenn man ihre Wirkung auf das gesellschaftliche Gefüge bedenkt: Ehrenminderungen stellten einerseits die gesellschaftliche Stellung in Frage, die von dem bzw. der Angegriffenen eingenommen wurde. Diesen war die Infragestellung durchaus bewusst, wurden doch viele Ehrenhändel schliesslich vor Gericht ausgetragen. Nicht minder wichtig ist andererseits der Umstand, dass sich die Angreifer durch ihren Ehrenangriff selbst innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung verorteten. Das Gemeinte lässt sich sehr deutlich in jenen Fällen erkennen, bei denen die Obrigkeit Ziel der Ehrenangriffe war. So warf man den geistlichen Oberen gelegentlich vor, das Keuschheitsgelübde zu brechen, das Beichtgeheimnis zu verletzen, Rechtsbriefe zu entwenden usw. Die weltlichen Oberen ihrerseits mussten sich bisweilen vorwerfen lassen, sie würden bei ihren Sitzungen lediglich fressen und saufen, dem Unrechten Recht und dem Rechten Unrecht geben, die Armen unterdrücken usw. Wer die Obrigkeit auf diese Weise angriff, stellte nicht nur vermeintlichen oder wirklichen Machtmissbrauch fest, sondern drückte auch den eigenen Standpunkt 48 Vgl. ETP 2b.454, 2b.458 und 5.357–366. 49 Vgl. ETP 4.302–303 und 5.355–356.

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gegenüber der angegriffenen Obrigkeit aus. Wer sich bewusst auf die Seite der »einfachen Leute« stellte, strich ebenso das Fehlverhalten der »reichen Obrigkeit« heraus wie die eigene Wehrlosigkeit ihr gegenüber. Dieses Deutungsmuster fand sich 1754 in seiner reinsten Form wieder, als ärmere Talleute argwöhnten, der Talsäumer teile ihnen nur schlechtes Getreide aus, während die reichen Talleute das gute Getreide erhielten.50 Hier wurde Machtmissbrauch ebenso angezeigt wie das Gefühl, selbst unrechtmässig zurückgesetzt zu werden. So stellten Beleidigen, Schmähen und Schädigen gewissermassen die Waffen der »einfachen Leute« dar, die sich nicht anders wehren konnten. Die Anführungszeichen sind hier bewusst gesetzt, denn der Gebrauch dieser Waffen war in Wirklichkeit schichtenübergreifend. Als sich z.B. die Gerichtsfamilien 1605 bzw. 1619 von der äbtischen Herrschaft zurückgesetzt fühlten, verliehen sie ihrem Widerstand genau jenes Deutungsmuster: Ihre Auflehnung stellte der Kampf der wehrlosen »einfachen Leute« gegen die geistliche Obrigkeit dar, die angeblich ihre Macht und ihren Reichtum missbrauchte. Ehrenangriffe dienten also auch der eigenen Verortung im gesellschaftlichen Gefüge. Dies war nicht anders, wenn Mitmenschen in ihrer Familienehre oder ihrer sexuellen Ehrsamkeit angegriffen wurden. Die Zuschreibung eines Ordnungsbruchs war hier ebenso bedeutsam wie die Behauptung der rechten, aber verletzten Ordnung. Die Angegriffenen nahmen in den Augen der Angreifer einen gesellschaftlichen Ehrenstand ein, der ihnen in Wirklichkeit nicht zustand. So zielte eine Ehrenminderung darauf ab, den vermeintlichen Ehrenstand des Angegriffenen zu entlarven. Die Angreifer fühlten sich bzw. stellten sich als Geprellte hin, deren Ehre unrechtmässig zurückgesetzt, verletzt oder nicht anerkannt war. Anlässlich von Stubeten wurden auch religiöse Unterhaltungen geführt. Lebhaft wurde im Frühjahr 1669 in der Stube Ammann Andres Kusters debattiert, ob die Heiligen denn den Menschen tatsächlich helfen könnten. Diesbezüglich vertrat Niklaus Töngi einen entschiedenen Standpunkt: „Es können uns die heiligen nit helffen, gott, sie könnits nit!“ Die Anwesenden massen der Auseinandersetzung einiges Gewicht bei, jedenfalls wurde sie an der folgenden Gerichtssitzung vom 13. Juni weitergeführt. Töngi erläuterte dabei seine Ansicht dahingehend, die Heiligen „könnit ia nit helffen, wans Gott nit wolle, eine [Hand Gottes] müöss zerst das sinig thuon“. Abt und Gericht liessen sich nicht weiter auf Töngis Aussagen ein und hiessen ihn, „den heiligen ihr ehr wider [zu] geben“.51 Schwerer wog dagegen der Verdacht, den Susanna Zniderist äusserte, als sie Barbara Zniderist 1673 am Tag der Unschuldigen Kinder (28.  Dezember) besuchte. Ihre Gastgeberin berichtete später, Susanna habe ihr gesagt, 50 Vgl. ETP 14.14–16. 51 Vgl. ETP 3.126–127.

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es sig ein trug undt falschheit in austheilung des h. sacraments, wenn man [jemandem] nicht wol thrui, dem geb man kein gesegnete hosti, man bruch die wort, gse es, hör es, sig doch nit das h. sacrament, es sig ein trug undt falschheit; dem Gretti Hurschler geb man kein gsegneti hosti. Dass dis Susanna gerett, glich wie sie es ihr solches in das gsicht mehrmal gerett, vor dem niessung des h. sacraments bekreftet, da sie verwahrt [d.h. bei Krankheit mit der Kommunion versehen] worden, also züge sie es nachmahl, und dis hab sie klagt.

Was sonst bewegte Susanna Zniderist als der Verdacht, dass wehrlose Laien heimlich um ihr verdientes Heil gebracht würden und Geistliche scheinbar ihre Macht missbrauchten? Zniderist fühlte sich und ihresgleichen unrechtmässig zurückgesetzt. Die Feststellung eines Unrechts setzte das Bewusstsein Zniderists voraus, dass die zeitgenössischen Verhältnisse der rechten, gottgewollten Ordnung zuwiderliefen. Zniderists Kerngedanke war zweifellos der »Betrug«, den sie ihren Seelsorgern anlastete. In Zniderists Augen erfüllten die Geistlichen ihren religiösen Leistungs- und Versorgungsauftrag ungenügend, und zwar aus »Misstrauen« gegenüber einfachen Leuten.52 Die Äusserungen Niklaus Töngis und Susanna Zniderists verdeutlichen, dass man sich bei Stubengesprächen in der mitmenschlichen Auseinandersetzung über die eigene Sinnwelt verständigte. Diese bestand nicht von selbst, sondern musste andauernd hergestellt bzw. wiederhergestellt werden. Alltagsereignisse bzw. –verhältnisse wurden gedeutet und in einen grösseren Rahmen eingefügt. Das galt ebenso für wirtschaftliche, politische und religiöse Alltagsbelange. Die Stubengespräche handelten also oft auch von heiklen Themen. Deshalb ist leicht einzusehen, warum man der Vertraulichkeit von Stubengesprächen grossen Wert beimass. Allerdings kam es oft vor, dass Stubengespräche von ungebetenen Gästen abgehört wurden: So schlichen sich Neugierige häufig „bei Nacht und Nebel“ vor die Häuser, um von den Vorlauben bzw. Fenstern aus die Gespräche auszuhorchen, die im Hausinnern geführt wurden. Dieses sogenannte »Losen« war ebenso ungeliebt wie verbreitet. Das »Losen« galt als Hausfriedensbruch: Entsprechend war eine Strafe zu gewärtigen, falls „einer mit seinem Muottwillen einem bidermann um sein haus bey nacht und bey näbell lüfti [herumginge] und einem das seine wolte geschänden oder losen vor seinem fenster oder ein meyen [Maibaum] abhauwen“.53 Die Strafandrohung vermochte jedoch das »Losen« kaum einzudämmen. Ungemütlich wurde es für Hans Hügli, als er 1628 von Dilg Stoller beim »Losen« vor dessen Haus ertappt wurde. Bevor Stoller den ungebetenen Gast verprügelte, meinte er zu Hügli, dieser „solte bi näbel und bi nacht in das hus ihnen gan 52 Vgl. ETP 3.220. 53 Vgl. Artikel 68 im ersten Teil des Talbuchs Magnus Wasers von 1790.

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oder dussen bliben und nit losen oder flieen“. Ein Jahr später wurde Niklaus Dillier von Lienhart Kuster angeklagt, „weilen er zuo dem seinigen nechtlicher weys gestigen, das sich nitt gezime“. Dillier rechtfertigte sich darauf, er sei „aus keiner bösen meinung dahin gangen, sonder es habe doch ein liecht in henden gehabt und zum fenster aussen zündt, das wer da wider und fürgangen were, wol hette mögen sechen, das da nichts böses fürgangen sige“. Man erinnere sich auch an Katharina Töngi, die 1668 ihre Kinder nachts regelmässig vor das Haus ihres ungeliebten Vogts und Gerichtsherrn Hans Jakob Feierabend schickte, damit sie dort einen Horchposten bezögen. Feierabend seinerseits wurde im selben Jahr selbst dabei ertappt, wie er spätabends vor einem Haus die Ohren spitzte: Seine Tochter war nach dem Besuch der Wolfenschiesser Chilbi in die besagte Hausstätte eingekehrt und zeigte spätabends noch immer keinen Willen, nach Hause zurückzukehren. Argwöhnisch suchte deshalb ihr Vater auszumachen, was im Hausinneren vor sich ging. Mehrere Burschen erwischten ferner 1682 Melcher Amrhein zu nächtlicher Stunde, wie „er sich bey des Baltzer Schleissen Haus niderbuckt“. Amrhein selbst gestand später ein, „das[s] er sich an dem Gartenhag bey des Schleissen Haus verborgen“ hielt. Weiter hiess es 1723 von Nachtbuben, es „seyen auch nicht längstens einige darvon auch in der nachbahrschaft auf denen nechst dem fenstern stehenden scheüterbiegen gestiegen und dorten bey denen fensteren losend getubacklet“. Kurzum: Zur Stubengeselligkeit gehörten nicht nur die Stubete selbst und die freienden Nachtbuben, sondern auch die neugierigen Zuhörer vor den Fenstern.54

4.1.2 Wirtshäuser Wirtshäuser und Tanzlaube waren gewissermassen die Dorfstuben der Talschaft. In der freien Herrschaft besassen im 18. Jahrhundert drei Gasthäuser das Tafelrecht: Unterhalb der Kirche stand der »Engel«, auch oberes Wirtshaus genannt. Das Gasthaus war zwar Eigentum des Klosters, wurde aber von einem weltlichen Pächter geführt. Auswärtige stiegen meistens im »Engel« ab. Ebenfalls im Hochtal selbst befand sich die »Krone«, auch unteres Wirtshaus genannt. Diese Gaststätte lag vermutlich im Acherli (südwestlich der Pfistermatt) und trug in älterer Zeit den Namen »Rössli«.55 Als drittes Wirthaus kam das »Weisse Kreuz« hinzu, womit vermutlich die Gaststube in Grafenort bezeichnet wurde: Die Benennung würde Sinn machen, insofern sich die Heiligkreuzkapelle in unmittelbarer Nähe befand. Die Tanzlaube

54 Vgl. ETP 2b.7, 2b.55–56, 3.85–86, 3.113, 4.132–135 und 8.57–60. 55 Vgl. Hess (1956: 108).

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schliesslich befand sich mitten im Dorfkern, unterhalb bzw. zwischen Mühle und Sägerei.56 Alles, was bisher über die Stubengeselligkeit ausgeführt wurde, galt auch für die genannten Dorfstuben. Drei Unterschiede sind gleichwohl anzuführen. Erstens waren die Dorfstuben der unmittelbaren Aufsicht der Obrigkeit unterstellt: Wie die gewöhnlichen Bauernstuben den jeweiligen Hauseltern unterstanden, so waren die Wirtshäuser bzw. die Tanzlaube obrigkeitliches Hoheitsgebiet. Zweitens standen die Wirtshäuser – anders als die anlassbezogenen Stubeten – in dauerndem Betrieb: Der Wirtshausbesuch war in der meisten Zeit möglich. Drittens waren Gesellschaften, die sich im Wirthaus (auf Verabredung oder zufällig) zusammenfanden, offener zusammengesetzt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Auswärtige in den Gasthäusern ihre Herberge besassen. Es kam zwar vor, dass Talleute ebenfalls Fremde beherbergten, doch das schätzten die Wirte gar nicht: Heftig beklagte sich etwa Wirt Hans Gerster 1669 gegen Kaspar Töngi, „dan er vil mehr frembde herberge als der wirt selbst, man lauffe den frembden darum nach“.57 Die gesellschaftliche Durchmischung war in den Wirtshäusern zweifellos grösser als in den Stubeten. Entsprechend handelte es sich bei den Dorfstuben um öffentliche Orte.58 Schmausen, Trinken, Spielen, Tanzen und Reden machten auch die Kurzweil in den Dorfstuben aus. Öffentliche Freuden waren meistens mit einem Festteil im Wirtshaus oder der Tanzlaube verbunden, ehe sich die Festgesellschaft spätabends in die einzelnen Bauernstuben zum Weiterfeiern aufteilte. Ein Junggeselle durfte nach einem Hochzeitsfest seine Tanzpartnerin ins Wirtshaus führen – allerdings nur an „einem ehrlichen und offentlichen ohrt im wirthshaus“. Gemeint war hier die grosse Wirtshausstube in Absetzung von den Schlafkammern des Gasthauses. Argwohn hatten Anna Maria Waser und ein Nidwaldner Alpknecht 1709 ausgelöst, als man sie „an der Kilbi Abent umb Bethgloggen [d.h. um 19 Uhr] in einer Camer im Wirtshaus beysamen“ gesehen hatte, wobei es weiter hiess, „das Meitli seye uf dem Beth gelegen, und der Kerle bey ihr auf dem Beth gsessen“. Die Erlaubnis, eine Jungfrau auszuführen, gestattete dem Junggesellen ebenso wenig, seiner Begleiterin einen Rausch anzuhängen. Ein Junggeselle traf auch auf wenig Verständnis, wenn er sich vor seiner Begleiterin derart betrank, dass er schliesslich „gantz s.v. wie ein Schwein angefült“ war.59

56 Vgl. ETP 8.387–389. Anderer Ansicht ist Dufner (1982a: 25), der das »Weisse Kreuz« im Hochtal selbst verorten will. 57 Vgl. ETP 3.128–129. 58 Vgl. zum Wirtshauswesen etwa Forster (2007) und Kümin (2004). 59 Vgl. ETP 4.228–229, 5.198–218 und 8.383–388.

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Erfreuliche Anlässe waren sicher auch die Fasnachtstänze in der Tanzlaube, wenn manche Talleute mit Lappen »verbutzt« (d.h. verkleidet) zum Tanz erschienen. Die Festfreude trübte sich allerdings an der Fasnacht von 1692, als kleine Buben auf der Tanzlaube den Verbutzten ihre Lappen abzureissen begannen: Der Tanzabend endete mit einem allgemeinen Schlaghandel.60 Im Wirtshaus dauerten manche Stubeten bis weit in die Nacht hinein. So musste sich Wirt Adam Waser 1661 vorwerfen lassen, er habe Frauen, Bevogtete und Kinder teils bis 3 Uhr morgens bewirtet und diesen gestattet, sich „mit villen leichtfertigkeiten“ zu unterhalten. Fünf Jahre später liessen Jörg Kuster und Baschi Hess im Wirtshaus die Fasnacht ausklingen, indem sie dort „getrunken bis in den volgeten tag hinin“. Auch Sepp Geni Waser genoss 1703 den Aufenthalt im Wirtshaus sichtlich, als er nach einem Hochzeitsfest seine Tanzpartnerin ausführte, deren Haarkranz er sich erworben hatte: Beide hielten sich „bis in die tiefe Nacht“ in der Wirtshausstube auf. Eine mehrtägige Stubete feierte 1750 der Engelwirt Hans Geni Infanger zusammen mit mehreren Gästen, hiess es doch später, sie hätten „alle fast 2 tag und nacht gesoffen“. Die feuchtfröhliche Runde geriet erst ins öffentliche Gespräch, als sich die Anwesenden nach besagten zwei Tagen in die Haare gerieten.61 Leckere Speisen und (Brannt)wein gehörten ebenfalls zum Wirtshausbesuch. Gelegentlich wurden allerdings Klagen geäussert, die Wirte würden Wein, Käse oder Brot zu überrissenen Preisen bzw. in minderwertiger Qualität anbieten. Wirt Hans Dillier musste sich 1624 gar den Vorwurf gefallen lassen, er habe guten Wein aus dem Eschental heimlich mit billigerem gemischt. Wirt Hans Gerster seinerseits musste 1675 Klagen junger Burschen vernehmen, „dess Wirts Win sie thür undt sur“. Wenig Freude hatten 1674 auch die Gäste einer Nachhochzeit empfunden, als man ihnen im Wirtshaus Bratkäse auftischte: Der Käse mundete niemandem, was dem Ruf des betreffenden Käsers erheblich schadete. Heftig jedoch wehrte sich 1756 Wirtin Maria Barbara Infanger gegen den Vorwurf, sie koche ihre Suppe gelegentlich in einem Wäschekessel. Das Gerücht war nach Aussage der Wirtin von einer Frau verbreitet worden, die Infanger übel gesinnt war.62 Die Wirte hatten es gelegentlich nicht einfach, wenn sie ihren Gästen die Wirtsrechnung vorlegten. So stellte Wirt Hans Infanger 1750 fest, „dass er in dem thal sehr vill schulden habe und niemand ihne darfür bezahlen wolle“. Man erinnere sich auch an den Fall Hans Baschi Wirz’ und seiner Frau Anna Dillier, die 1663 ausstehende Wirtsrechnungen mit Hausrat bezahlten, worunter sich sogar Familienerbstücke befanden. Wirt Hans Kuster war 1660 wegen ausstehender Schulden nicht 60 Vgl. ETP 4.314–316. 61 Vgl. ETP 2b.659, 3.53, 4.49 und 12.334–335. 62 Vgl. ETP 2a.5b-6, 3.246–247, 4.15 und 14.46–48.

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gut auf Hans Michel Hermann zu sprechen. Der Wirt warf seinem Schuldner vor, er „welle auch mit plaag bsalen [bezahlen] wie der amman sein schwäher“ – mit dem angesprochenen Schwiegervater war hier Ammann Andres Kuster gemeint. Ein unbezahlter Weinbecher genügte 1727 bereits, dass Kronenwirt Hans Infanger und Hans Plazi Amstutz heftig aneinandergerieten. Als sich auch noch die Wirtsfrau Barbara Schwander und Amstutz’ Vater Hans Melcher in den Streit einmischten, war es bis zum Schlaghandel nicht mehr weit. Hans Melcher Amstutz berichtete später, dass beyde einander liegen [lügen] heissen, und in dem sein Sohn ausgangen, die Wirthin aber gefolgt mit Melden, es sie allemahl das [Gleiche], und habe es der Leckhers Buob schon mehr also gemacht. Auf welches er billichen gesagt, wan sein Sohn ein Leckhers Buob, sie, die Wirthin, ein Schelmin seie. Darauf der Wirth auch bestättet, dass der Sohn ein Leckhers Buob seie. Dem wieder geantwortet, so er sein Sohn einer seie, er, der Wirth, auch einer seie. Habe hiermit nur conditionate [bedingungsweise] geredt und nur im Fahl, dass sein Sohn etc. Daruf der Wirth anfangen zu sacermentieren etc.

Hans Melcher Amstutz hatte seine Schmähungen dadurch vorgebracht, dass er „gleich mit der Faust auf den Tisch schlagend geschrauwen“. Im selben Wirtshaus hatte sich 1725 bereits Franz Sepp Kuenz mit dem Wirtspaar gestritten. Als Kuenz von der Wirtin beschimpft wurde, „schlagte er freylich auf dem Tisch“, ehe er ihre Schmähungen wiederholte. Die Bedeutung der Geste ist hier nicht mehr auszuführen.63 Die Obrigkeit verbot gewissen Talleuten den Wirtshausbesuch, um Verschuldungsfällen zuvorzukommen. So untersagte das Gericht 1661 Kaspar Widmer den Wirtshausbesuch mit der Begründung, es geschehe „seiner haushaltung zuo guottem“. Besonders Trunksüchtigen, Spendbezügern und Bettlern wurde der Wirtshausbesuch regelmässig untersagt. Im späten 18. Jahrhundert waren Buben erst nach ihrem 16. Lebensjahr im Wirtshaus zugelassen, Mädchen nach ihrem 14. Lebensjahr. Schliesslich wurde die Altersgrenze 1785 einheitlich auf das 17.  Lebensjahr angesetzt.64 Ratlos blieb die Obrigkeit allerdings im Fall Sepp Hurschlers, der 1749 ins Wirtshaus eingekehrt war und dort völlig unerwartet seinen gesamten Besitz für 4000 Pfund an einen anderen Wirtshausbesucher verkauft hatte. Hurschler besass immerhin ein eigenes Gut in der Fellenrüti! Unmittelbar darauf fragte ein verblüffter Bekannter den Verkäufer, ob er seinen Entscheid nicht bereuen werde, worauf dieser antwortete, „dass [es] ihnne nit für ein rapens werdt geruwen sie“. Selbst der 63 Vgl. ETP 2b.628–629, 2b.683, 2b.697–699, 9.223–231, 9.336–341 und 12.371. 64 Vgl. ETP 2b.656–657, 16.341–343 und 16.392–394.

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Käufer Sepp Amstutz blieb zunächst sprachlos, ehe er mit der Faust auf den Tisch schlug und dem Handel zustimmte. Ein ähnlicher Vorfall hatte sich im Wirtshaus bereits 1736 ereignet, als Sepp Anton Häcki unversehens sein Gut in der Bränd für läppische 2000  Pfund an einen anderen Talmann verkauft hatte. In beiden Fällen erklärte das Gericht den getroffenen Handel für ungültig: Es hiess, Zeugen hätten den „ansonst gewohnlichen handklapf “ zwischen den Geschäftsparteien nicht beobachtet und auch nicht gehört, dass der Verkäufer laut „ia oder nein gesagt“ habe.65 Getanzt wurde ebenso in den Wirtshäusern als auch auf der Tanzlaube. Als sich Wirt Adam Waser 1661 für die nächtlichen »Leichtfertigkeiten« in seinem Wirtshaus verantworten musste, stand das Aufspielen zum Tanz an erster Stelle. Wirt Plazi Hermann holte 1697 zwar die Erlaubnis für einen Tanzabend bei Pfarrer Frowin Christen ein, sprach aber die Sache nur sehr beiläufig „im Fürübergehn“ an. Als Hermann wegen des besagten Tanzabends belangt wurde, erklärte er entschuldigend, er habe nur Auswärtige tanzen lassen, Einheimische dagegen vom Tanz abgeraten – Hermanns Glaubwürdigkeit litt allerdings unter der Tatsache, dass seine Ehefrau und seine Magd herzlich mitgetanzt hatten. In Erklärungsnot geriet 1719 auch Schulmeister Stephan Renggli, „weilen er seinen Disciplen [Schülern] als allen schon manbahren Leuthen“ einen unerlaubten Tanzabend im Wirtshaus organisiert hatte. Renggli entschuldigte sich durch Unwissen und fügte bei, er habe jederzeith gehörth, ein offentlicher Dantz seye nichts Böses, müesse bekennen, er selbsten die junge Gesellen angemahnt, sye sollen nur dantzen, es werde etwan kein Gefahr haben, wan alles in Ehren und Freündtlichkeith hergangen.

Hans Franz Kuster hatte am besagten Tanzabend nicht nur aufgespielt, sondern ebenfalls wacker mitgetanzt. Die Obrigkeit stiess sich allerdings weniger an Kusters Tanzlust als an der Tatsache, dass er am selben Morgen seine Schwiegermutter zu Grabe getragen hatte. Dass Kuster „an dem Begräbnustag seiner Schwiger offentlich gedantzt“, stiess bei den Gerichtsherren doch auf einigen Unmut. Das Gericht verglich Kuster sogar mit jenen Witwen, die sich wider jede Sitte noch innerhalb des Trauerjahres erneut verheirateten.66 Das Wirtshaus regte auch die Spielfreude der Talleute an. Gewiss waren Ausrufe wie jener Thomas Töngis oft zu hören, der 1666 andere Burschen an seinen Wirtshaustisch rief: „Sients etwas grechts, so sollen sie kommen mit ihmme zuo spilen.“67 Die Obrigkeit suchte diesen Spieldrang wiederholt einzudämmen, indem 65 Vgl. ETP 11.159–161 und 11.602–609. 66 Vgl. u.a. ETP 2b.659, 4.412 und 6.308–310. 67 Vgl. ETP 3.53.

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sie die Spielzeiten begrenzte, gewisse Spielarten untersagte und Höchsteinsätze festlegte. Allerdings wurden die Spielmandate derart oft erneuert, dass am Erfolg ihrer Durchsetzung füglich gezweifelt werden darf. Wirtshäuser waren öffentliche Orte, die zahlreiche Begegnungen ermöglichten. Allerdings endeten manche durchaus feindselig. Beleidigungen wirkten sich im Wirtshaus schwerer aus, da öffentliche Aufmerksamkeit hier rasch gegeben war. Manche Anfeindungen waren wohl auf Weinfeuchte zurückzuführen: So beleidigte der betrunkene Krämer Anton Cattani 1764 die fremde Krämerin Maria Johanna Huser völlig grundlos, „als ob si die leüth nur bescheissen und betriegen thue, auch handtgreiflich darauf geredt, als ob sie ein s.v. hur wäre und noch andere ärgerliche reden wider sie gebraucht habe“.68 Andere Ehrenhändel waren hingegen feiner motiviert. So stritt sich 1753 der ebengenannte Anton Cattani mit Talsäumer Sepp Kuster im Wirtshaus. Der Krämer schmähte den Talsäumer, indem er dessen Familie als »Mördergeschlecht« abtat. Der Talsäumer liess sich dies nicht gefallen und beleidigte den Krämer seinerseits als »Hurenbub« – bis hierhin nichts Ungewöhnliches. Gerichtsherr Flori Bernhard Kuster suchte darauf die beiden Streithähne voneinander zu trennen, was ihm umso angelegener war, als der Talsäumer sein eigener Bruder war. Der Talsäumer wies den Schlichtungsversuch allerdings hart zurück: „Ich lasse mich von dir nit ausenthuen, und wan du schon des Gerichts bist“. Da trat auch Metzger Hans Zniderist heran und trank beschwichtigend dem „säumer als sein guter freünd eines zu“. Die Freundschaftsgeste geriet dem Talsäumer allerdings in den falschen Hals, so dass er den Metzger anschnauzte: „Hans, du magst mich nit und ich dich nit, du hast mich nichts wegzunemmen gehat, ich weiss wohl, dass du auf den Christenbueben seiten bist!“ Worauf der Talsäumer hier anspielte, lässt sich leider nicht mehr ermitteln. Klar hingegen ist, dass die Beleidigung keineswegs aus blosser Weinfeuchte geschah. Nun fühlte sich der Metzger ebenfalls angegriffen und spie zurück: „Bis nur nit so köth und geistig [herausfordernd und hoffärtig], wan dir die thalleüth nit vor einem jahr geholfen hätten, so köntest villicht mit und nebent mir gebedtlen!“ Die Rede des Metzgers machte den Talsäumer fuchsteufelswild, war er doch bereits zuvor vom Krämer als „ein hochmüetiges mandli und ein geistiges mandli“ bezeichnet worden. Die wechselseitigen Beleidigungen mochten – oberflächlich betrachtet – als Streit unter Angetrunkenen erscheinen: In Wirklichkeit stritten sich die Männer um ihren Rang im gesellschaftlichen Gefüge.69 Ein bemerkenswerter Zwischenfall ereignete sich auch an der Fasnacht von 1760, als Hans Sepp Geni Waser und seine Ehefrau Barbara Hermann das Wirts68 Vgl. ETP 13.269–270. 69 Vgl. ETP 11.75–78.

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haus besuchten. Die Frau begann sich aus unbekannten Gründen mit Ammann Niklaus Amrhein und Gerichtsherr Sepp Geni Hess heftig zu streiten. Der Ammann berichtete später, „dass das weib sehr unverschambt und wüest gethan, auch vor ihnen auf den tisch gschlagen habe, dass die müell [Miele, d.h. Weinbecher] tantzet, auch hab es sein mann beim haar nehmen wollen“. Die Gerichtsherren forderten den zuständigen Wirt Joachim Klein auf, die Frau aus dem Wirtshaus zu schaffen. Hermann leistete allerdings heftige Gegenwehr, worauf der Wirt sie „ein s.v. hur geschullten, so er vermeine, dass [sie] vor der jugend unanständig gewesen“. Der Wirt und die Wirtshausbesucherin gerieten sich darauf buchstäblich in die Haare: Beide trugen von der Begegnung Kratz- bzw. Schlagverletzungen davon. Ammann und Wirt strichen in ihren späteren Aussagen deutlich heraus, wie ungebührlich sich Barbara Hermann als Frau ihnen selbst und ihrem Ehemann gegenüber verhalten hatte. Warum aber die Frau so erzürnt zum Gerichtsherrentisch getreten war, darüber schwiegen sich die beteiligten Männer aus. Grundlos war Hermanns Faustschlag auf den Tisch kaum gewesen.70 Auch Gerichtsherren waren an Rauf- und Schlaghändel gelegentlich beteiligt. So hatte Gerichtsherr Niklaus Amrhein 1728 den grossen Schlaghandel massgeblich ausgelöst, der Engelberger und Nidwaldner Burschen heftig aneinandergeraten liess. Am Schmutzigen Donnerstag des darauffolgenden Jahres verlor Amrhein im Wirtshaus erneut die Fassung, als einige Burschen seinen Sohn als »Hurenbub« bezeichneten. Als sich Wirt Hans Geni Matter weigerte, die Buben aus der Wirtshausstube zu schaffen, ereiferte sich der Gerichtsherr, schlug dem Wirt mit der Faust ins Gesicht, worauf dieser rückwärts gegen das Buffet fiel, schnitt ihm mit dem Halstuch die Luft ab und zeriss ihm das Hemd. Die spätere Gerichtsverhandlung gegen den Ratsherrn war Abt und Gericht einigermassen peinlich. Auch Gerichtsherr Jakob Geni Hurschler bereitete 1767 seinen Amtskollegen Unannehmlichkeiten: Der Gerichtsherr hatte bei einem Wirtshausbesuch Hans Hurschler tätlich angegriffen. Das Gericht ermahnte den Fehlbaren scharf „wegen solcher ausgeüebten ungebühr, die einem richter sehr unanständig seie“. Niklaus Amrhein und Jakob Geni Hurschler hatten die unmittelbare Wiederherstellung ihrer Ehre offenbar für dringlicher eingeschätzt, als richterliche Zurückhaltung zu üben. Die heftige Gegenwehr der Gerichtsherren legt nahe, dass sie die Beleidigungen als Angriff auf ihre gesellschaftliche Stellung deuteten. Indem Beleidigungen von verletzter oder falscher Ordnung sprachen, waren sie weit mehr als leere Worthülsen. Dies entging auch den Gerichtsherren nicht.71

70 Vgl. ETP 14.121–123. 71 Vgl. ETP 9.379–416, 9.423–425, 9.433–434 und 14.287–288.

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Die Stubengeselligkeit war Gegenstand zahlreicher Eindämmungs- und Disziplinierungsversuche. Die (geistliche) Obrigkeit unternahm unzählige Versuche, der Stubengeselligkeit gewisse Leitplanken zu setzen.72 Die obrigkeitlichen Anordnungen betrafen vornehmlich die Wirtshausordnung, sollten aber auch für die häusliche Geselligkeit gelten. Regelmässig wurden die Talleute zur Mässigung und Selbstbescheidung ermahnt, Verschwendung und Zügellosigkeit hingegen verurteilt. Es war gewiss unbestreitbar, dass Stubeten beträchtliche Ausgaben mit sich brachten: Reiche Mahlzeiten, Verzehr von Süssgebäck, Trinkgelage und vor allem Geldspiele kamen die Talleute teuer zu stehen. Die Obrigkeit betrachtete eine solche Verschwendung als unnötig. Stubeten bedeuteten auch einen sehr freien Umgang mit Zeit: Häufiges Feiern bis in die frühen Morgenstunden förderte Müssiggang eher als Arbeitsfleiss. Ferner erschienen arbeitsfreie Feiertage gewissermassen zweckentfremdet, wenn sich manche Talleute zur gemeinsamen Stubete trafen, anstatt die Gottesdienste zu besuchen. Stubeten galten also nicht nur als Verschwendung von Gütern, sondern auch als Verschwendung von (heiliger) Zeit. Die Obrigkeit befürchtete, die »Üppigkeiten«, »Lustbarkeiten« und »Leichtfertigkeiten« der Stubeten wären dem sittlichen Verhalten der Talleute abträglich: So schienen Tanzanlässe und nächtliche Buhlschaften den Geschlechtstrieb zu entfesseln, geistige Getränke die Trunksucht zu fördern und Nachtbubenstreiche zu Gewalt und Ungehorsam anzustiften. Die Obrigkeit erliess zahlreiche Mandate, um Kosten, Häufigkeit sowie Dauer der Stubeten zu senken und um dem vermeintlichen Sittenzerfall entgegenzuwirken. Abt und Gericht versuchten durch eigentliche »Kolonisierungsversuche der Nacht«, das nächtliche Geschehen in der Talschaft in den Griff zu bekommen.73 Die Nacht gewährte grössere Spielräume, ehe Strassenbeleuchtungen die Quartiere und Wege des Hochtals beleuchteten und unerkanntes Tun erschwerten. Die stehende Wendung „bei Nacht und Nebel“ hatte ihren guten Grund: Ordnungshüter aller Art sahen in der Nacht nicht mehr allzu weit. Bezeichnend rief 1683 Pfarrer Athanas a Castanea aus, was „us dem nächtlichen Umbschweifen für Missfrücht entspringen, seye leider die Prob am Tag“.74 Die Beschränkungsversuche zeigten in den Wirtshäusern, wo die Obrigkeit unmittelbaren Einfluss nehmen konnte, nur einen schwachen Erfolg. Die Erneuerungen der jeweiligen Verordnungen waren ebenso zahlreich wie die Verstösse dagegen. Geradezu wirkungslos blieben die obrigkeitlichen Disziplinierungsversuche dagegen in den Bauernstuben. Die Talleute liessen sich ihre häuslichen Freiräume nicht zurückstutzen. Als 1619 Kartenspiele nach 21 Uhr verboten wurden, erklärte 72 Vgl. etwa Hess (1943b: 17–47) und Dufner (1975). 73 Der Begriff ist hier von Schindler (1992: 216) übernommen. 74 Vgl. ETP 4.169–170.

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der damalige Pfarrer Augustin Lang, er werde nachts durch die Gassen streifen und allfällige Spielrunden abstellen. Unzweideutig war darauf die Entgegnung Balzer Töngis, „wen[n] der Pfarherr komme, welle er i[h]n abstreichen“. Nicht in dieser Tonschärfe, aber doch in dieser Geisteshaltung geringschätzten viele Talleute die obrigkeitlichen Disziplinierungsversuche. Alle möglichen Finten wurden ersonnen, um sich dem obrigkeitlichen Zugriff zu entziehen. Eine gute Einbildungskraft besassen z.B. Maria und Anna Maria Hasler, als sie 1663 einen Tanzabend in einem fremden Haus besuchen wollten: Sie zogen Männerkleider an, um auf ihrem Weg unerkannt zu bleiben!75 Man kann die Verwunderung der damaligen Obrigkeit nachvollziehen, wenn man sich den verschwenderischen Umgang der Talleute mit ihren Gütern und ihrer Zeit vor Augen hält. Das Verhalten der Talleute war offensichtlich nicht auf ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten abgestimmt. Doch wird bei einer solchen Einschätzung nicht ein Massstab angewandt, der vielen Talleuten damals unerheblich schien? Es sei hier nachdrücklich betont: Wirtschaftliche Überlegungen dieser Art waren den Talleuten durchaus bekannt. Die Obrigkeit rief sie ja durch ihre Verordnungen regelmässig in Erinnerung. Abt und Gericht wollten die Talleute dazu erziehen, sich auf das »Notwendige« zu bescheiden: Mässigung und Bescheidenheit sollten ein Verhalten herbeiführen, das der wirtschaftlichen Schwäche vieler Talleute (nach obrigkeitlichem Ermessen) angepasster war. Doch die Talleute übernahmen diese »Notwendigkeitslogik« keineswegs. Sie fanden – buchstäblich gesprochen – keinen Geschmack an nüchterner Selbstgenügsamkeit. Selbstverzicht konnte sich unter den einfachen Talleuten, soweit sich dies beurteilen lässt, nie als anerkannte Tugend durchsetzen.76 Aufschlussreich sind die wechselseitigen Disziplinierungsversuche unter den Talleuten selbst. So suchten manche Hausväter die unerwünschten Umtriebe ihrer eigenen Hausleute zu unterbinden. Franz Ignaz Kuster empörte sich 1743, „er habe gewalt in seinem haus, zu seiner magt z‘schauen und zum fleisch, dass ihm nichts gestollen werde; drum wolle er dergleichen händel um sein haus nit leiden“. Auch Plazi Matter hatte sich 1728 heftig über einen Nachtbuben beklagt, der seine Hausmagd freite: Matters Lampenöl und Speisevorräte schwanden rasch dahin. Katharina Amstutz beklagte sich 1771 ebenfalls heftig über ihre Hausmagd, die nachts Burschen in ihrem Laubenzimmer empfing: Das Treiben im Obergeschoss war so 75 Vgl. ETP 1.309 und 2b.704. 76 Hiermit sei klargestellt, dass Pierre Bourdieus Ausführungen zum »Notwendigkeitsgeschmack« bzw. zur »Notwendigkeitslogik« von Unterschichten zweifellos nicht auf die vormoderne Engelberger Gesellschaft zutreffen, vgl. Bourdieu (1979: 433–461).

Geselligkeit

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laut, dass die Hauseltern im Wohngeschoss keinen Schlaf mehr fanden. Nicht minder klagte 1721 Hans Geni Amrhein, dass sein Sohn und sein Hausknecht jedes Mal nach Branntwein rochen, wenn sie von einem Besuch bei Remigi Infanger zurückkehrten. Die Obrigkeit kam den Hauseltern regelmässig zu Hilfe und bestätigte, dass Stubeten nur erlaubt seien, „so lang Vatter und Muotter wachend gegenwärtig seind, übrige ohne der Eltern Gegenwart nachtlicher will alle Liechtstubeten gantzlich verbotten sein“ sollten. Auch Spiele sollten nur erlaubt sein, „bis und so lang der hauspatron selbsten noch auff ist und gegenwertig bleibt“.77 Man erinnere sich ferner an den Gerichtsherrn Hans Jakob Feierabend, der 1668 nachts vor einem fremden Haus nach seiner Tochter lauschte. Offenbar konnte bzw. wollte der Vater seiner Tochter auswärtige Hausbesuche nicht verbieten. Gleichwohl behielt Feierabend seine Tochter argwöhnisch im Auge bzw. im Ohr. Der Besuch fremder Stuben schaffte nicht nur Spannungen zwischen Eltern und Kindern, sondern auch zwischen Eheleuten. So bedauerte Barbara Zniderist 1659 sehr, dass sich ihr Mann Baschi Feierabend häufig auswärts aufhielt, genauer: bei seinem Freund Stoffel Christen in der Mettlen. „Ihr ehemann Baschli sy gar oft in die Mettlen hinderen gsin, wüsse nit, was ursachen; das[s] ihr lieber were gsin, er were bi tag und nacht daheim blybenn“, gab die vernachlässigte Ehefrau später Auskunft. Wiederholt hatte Zniderist ihren Mann in der Mettlen „abends oder nachts abholen wöllen“. Als man sie einmal mit der Begründung zurückwies, ihr Mann speise noch, erklärte Zniderist gekränkt, ihr Mann „hette woll können daheim blyben, sye imm auch noch etwas znacht ze essen funden han“. Als Zniderist ein anderes Mal vor dem fremden Haus stand, brachte sie die Hausherrin derart gegen sich auf, dass diese auf sie einschlug und „by der nacht ihro mit füsten den weg zünt“ – Zniderist war zu dieser Zeit schwanger. Umgekehrt war Plazida Amstutz in ihrem eigenen Haus nicht mehr sicher, als ihr Ehemann Anton Feierabend 1790 von einer Chilbi nach Hause zurückkehrte: Amstutz flüchtete zu Bekannten, nachdem sie von ihrem betrunkenen Mann bei dessen Heimkehr verprügelt worden war.78 Wer häufig auswärts weilte, musste sich auch auf Vorhaltungen der eigenen Verwandtschaft gefasst machen. So beklagte sich die Schwiegerfamilie Anna Maria Kusters 1673 schwer über ihre Schwägerin. Es hiess, „Anna Maria sie auch bei nechtlicher zit nicht allezit in dem hus gefunden worden, [sondern] allen kilbenen, hochziten, dentzen nachgangen“.79 Wer solchen Vorwürfen zuvorkommen wollte, musste wohl oder über seine Hausbesuche beschränken. Diesbezüglich war die wechselseitige Aufsicht unter Talleuten wohl weit wirksamer als die obrigkeitlichen Disziplinierungsversuche. 77 Vgl. ETP 4.460, 7.647–648, 8.383–388, 9.421–422, 11.414–416 und 14.494–497. 78 Vgl. ETP 2b.599–601 und 16.624–628. 79 Vgl. ETP 3.205–206.

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Die Bedeutung der Stubengeselligkeit lässt sich nun einigermassen zusammenfassen. Die Stubeten zeichneten sich durch verschiedene symbolische Ausdrucks- und Verhaltensweisen aus, etwa beim Freien, beim Kräftespielen, beim Schmähen, usw. Die Bauern- und Wirtshausstuben selbst waren durch die Stubengeselligkeit symbolisch aufgeladen, insbesondere zur Abend- bzw. Nachtstunde. Stubeten erfüllten aber auch ganz pragmatische Zwecke: Sie ermöglichten es den Talleuten, gesellschaftliche Netzwerke aufzubauen bzw. zu erhalten. Die abendlichen Treffen wirkten verbindend, und zwar oft über Schichten, Geschlechter und Altersgruppen hinweg. In kommunikativer Hinsicht wurden die Stubeten als Plattformen genutzt, um Wissen zu vermitteln und auszutauschen. Weiter waren die Unterhaltungsformen (Essen, Trinken, Spielen, Tanzen, Reden usw.) zweifellos mit Lust- und Freudegefühlen verbunden. Diese Empfindungen prägten sich ebenso ins Gedächtnis ein wie die vielfältigen Begegnungen. Eine besondere Stubete vergass man wohl zeitlebens nicht. Die Abendrunden waren ferner mit bestimmten Werthaltungen verknüpft: So verteidigten die Talleute ihr Geselligkeitsverständnis und ihre »Verschwendungskultur« gegenüber der Obrigkeit entschieden. Andererseits liessen die Talleute das Geschehen in den Stubeten durchaus nicht unbeaufsichtigt und mahnten Fehlverhalten öffentlich an. Beleidigungen aller Art hatten ebenfalls normativen Charakter, indem sie sich auf eine verletzte, aber als wiederherstellbar gedachte Ordnung bezogen. Stubeten geben nicht zuletzt Hinweise darauf, wie die Talleute ihren Alltag kognitiv erlebten. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Geisseln des Lebens (Armut, Hunger, Krankheit und Tod) den Talleuten nur zu gut bekannt waren, insbesondere den ärmeren. Belastend mussten die oft kargen Lebensverhältnisse allemal sein. Bemerkenswert ist allerdings, wie die Talleute damit fertig wurden. Spiel, Fest und Unterhaltung nahmen einen wesentlichen Platz im Alltagsleben ein. Damit aber standen die festlichen Stubeten durchaus im Gegensatz zur Knappheit der Güter und der beständigen Gegenwart des Todes. Die materiellen Lebensverhältnisse standen in einer erheblichen Spannung zur Stubengeselligkeit. Der Gegensatz erreichte spätestens dann eine diskursive Bedeutung, wenn die Obrigkeit die Festkultur einzudämmen versuchte: Die Talleute leisteten bewussten, überlegten und erfolgreichen Widerstand gegen die obrigkeitlichen Disziplinierungsversuche.80

4.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit In den bisherigen Ausführungen zeigte sich eher beiläufig, dass Talleute in verschiedenen Lebensbereichen lasen und schrieben. Schriftlichkeit wirkte sich auf den Alltag der Talleute vielfältig aus. Diese Feststellung wirft die Frage auf, ob und wie 80 Vgl. dagegen Mattmüller (1987: 448–451) und nochmals Bourdieu (1979: 433–461).

Schriftlichkeit und Mündlichkeit

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Druckerzeugnisse oder – allgemeiner gesprochen – die Schriftkultur das Leben im Bergdorf beeinflussten. Zunächst scheint es allerdings sinnvoll, die bisher behandelten Gesichtspunkte zur Schriftlichkeit überblicksweise zusammenzutragen und zu ergänzen. Anschliessend wird sich die Frage nach dem Einfluss der Schriftkultur genauer beantworten lassen. Schriftlichkeit spielte im Alltag des frühneuzeitlichen Hochtals eine zunehmend wichtigere Rolle. Diese Feststellung gilt besonders für den Bereich der öffentlichen Angelegenheiten. So baute die äbtische Herrschaft – v.a. seit dem Abbatiat Ignaz Betscharts (1658–1681) – ihre schriftliche Verwaltungstätigkeit laufend aus. Amts-, Gerichts- und Verwaltungsprotokolle wurden – über einen längeren Zeitraum gesehen – immer ausführlicher geführt. Auf diese Weise wurde das Wissen um frühere Amts-, Gerichts- und Verwaltungsgeschäfte (zumindest für die Taloberen) verfügund abrufbar. Ferner bewahrte die Gemeinde im Talkästli ihre Rechtsbriefe.81 Im 18. Jahrhundert erleichterten die Gültprotokolle den Gülthandel nicht nur, sondern förderten seinen weiteren Ausbau. Auf den Alpen ermöglichten Alpbücher und –zettel einen geordneten Betrieb. Auf der Allmend sorgten Verzeichnisse aller Art sowie Bescheinigungen (z. B. Teilholz- und Streuzettel) für gerechte Nutzungsverhältnisse. Die Gemeindeeinnahmen bzw. -ausgaben wurden seit dem 16.  Jahrhundert in einem eigenen Säckelmeisterbuch festgehalten. Viele Talleute machten sich Schriftlichkeit für ihre persönlichen Anliegen zunutze. So bedienten sie sich bei ihren Tagesgeschäften wie selbstverständlich schriftlicher Mittel. Flüchtig wurden Geschäfte erledigt, indem Rechnungen einfach „nur mit der Kreüdten an der Wand aufgeschlagen“ wurden. Manche trugen Handelsgeschäfte in ein eigenes »Rechnungsbüchlein« ein. Solche Büchlein, aber auch alle möglichen Zettel wurden bei Gerichtsverhandlungen regelmässig als Beweisstücke verwendet. Zudem war es selbst unter verwandten und befreundeten Talleuten üblich, wichtigere Vereinbarungen schriftlich festzuhalten sowie amtlich beglaubigen zu lassen. Briefe waren ein wichtiges Verständigungsmittel, von Liebesbriefen unter Verliebten bis hin zu Soldatenbriefen aus dem fernen Ausland. Selbst Schmähungen erfolgten gelegentlich auf schriftlichem Weg, indem Anschläge an der Tanzlaube oder an anderen öffentlichen Orten angebracht wurden. Schreibfreudige Talleute betätigten sich sogar als Berichterstatter bzw. Geschichtsschreiber, so z.B. die beiden Scherer Alphons Sepp Flori Feierabend (1694–1740) oder Maurus Geni Feierabend 1712–1765). Die Aufzählung liesse sich leicht weiterführen.

81 Zum Talkästli vgl. Blatter (2006a: 261–280).

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Wer selbst nicht schreiben konnte, half sich mit einem „gantz besonders behaltsammen gedächnus“ oder bat Verwandte, Bekannte, Wirte, Gerichtsherren, Geistliche oder die äbtische Kanzlei um Hilfe. So empfahl sich Sepp Matter 1770 der Gemeinde als Talsäumer mit dem Hinweis, er besitze ein ausgezeichnetes Gedächtnis und es „könne sein frauw beydes, lesen und schreiben“.82 Manche Talleute erlernten das Lesen und Schreiben in der Dorfschule. Seit dem 16. Jahrhundert amteten Schulmeister im Hochtal, und auch in den Talprotokollen des 17. und 18. Jahrhunderts wurden Schulmeister gelegentlich verzeichnet.83 Allerdings gab es für den Schulbetrieb keine eigenen Räumlichkeiten. Talleute stellten deshalb dem Gericht 1768 den Antrag, „für die kinder ein beständigi schuehl zu stiften“. Ignaz Infanger, ein vermögender Talmann, erklärte sich 1770 sogar zur Stiftung von 300 Gulden zugunsten des Schulbetriebs bereit. Der Abt bot darauf eine Stube im klostereigenen Wirtshaus an, wo der Unterricht bis zum Bauabschluss stattfinden sollte. Preise sollten gestiftet werden, um jährlich die schreib- und lesefreudigsten Kinder zu belohnen. Die Initianten des Schulbaus stellten sich eine Schule vor, in welcher aber nit nur einfeltiger dingen ein buochstaben zu schriben oder zu lesen, und zwar gantz mangel- und fählbahr, sondern wie [...] üeblich und loblich wäre, dass der iederweilen bestelte schuehlmeister selbe gutte sitten, frommkeit und eingezogenheit lehre und angewenne [angewöhne], besonders den anfang und erste grundreglen des christenthums den kinderen gebe.

Der Pfarrer sollte regelmässig und unangekündigt Schulbesuche abstatten und dem Schulmeister gegebenenfalls Anweisungen geben. Beschwichtigend erklärte der Abt vor der Talgemeinde, der Schulunterricht würde die kirchliche Kinderlehre nicht gefährden. Das Vorhaben scheiterte jedoch an Finanzierungsschwierigkeiten, so auch ein späteres Projekt im Jahr 1787. Die Engelberger Kinder wurden darauf bis 1874 im Wirtschaftsgebäude des Klosters unterrichtet.84 Es lässt sich kaum mehr ermitteln, welcher Anteil der Talbevölkerung lese- und schreibkundig war. Bemerkenswert ist diesbezüglich ein Ehegesetz, das vom Gericht 1771 erlassen wurde. Ehen wurden demnach nur bewilligt, wenn

82 Vgl. ETP 9.75–77, 14.468–474, 15.94–99 und 16.489–493 83 Vgl. Heer (1975: 373–374), Hess (1956: 113) sowie ETP 3.197 und 6.308–309a, dann auch ETP 7.559–562 und 9.37. 84 Zu den Projekten von 1770 und 1787 vgl. ETP 14.322, 14.401–407, 14.457–458, 14.481, 15.94–99, 16.498–499, 18.21–27 und 18.108–111.

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wenigestes eines von beiden von denen angehendten eheleüthen getruckhs lesen können, um andurch ehender im standt zu sein, in dem canisi [Katechismus des Petrus Canisius] oder anderen gutten christ- und kinderlehrbücheren die kinder zu underweisen.

Die Bestimmung weckte keinerlei Aufsehen, was darauf schliessen lässt, dass sie kaum eine grosse Neuerung oder Hürde darstellte. Talleute konnten offenbar zur religiösen Erziehung ihrer Kinder auf katechetische Schriften zurückgreifen, v.a. auf den berühmten »Canisi«. Eltern brachten ihren Kindern aber das Lesen und Schreiben auch selbst bei. Beispielhaft mag hier das Versprechen des Küfers Niklaus Waser sein, das er 1794 seinen Kindern gab: „Auch verbündet er sich immer als vatter, die kinder, wan sie es verlangen, im schreiben und lesen und in der profession selbst zu unterrichten und übrigens für ihre seelen zu sorgen.“85 Manche Talleute zeigten durchaus Interesse für Bücher, und man darf annehmen, dass sie das Gelesene auch ihren Zeitgenossen mitteilten. Hans Kuster z.B. besass 1660 eine eigene Bibel, die er – geschützt vor dem Zugriff der Obrigkeit – in einer Heuscheune versteckt hielt. Karl Sepp Geni Amrhein seinerseits war um 1750 in den Besitz einer Schrift gekommen, die vom Schatzgraben und von Alraunen handelte: Amrhein setzte sich mit dem erworbenen Buch genau auseinander. Ferner empfand Maria Scholastika Töngi 1795 fast schon Zuneigung für ihre »Hauskapelle«, einem ewigen Kalender mit erbaulichen Texten, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Töngi behielt das Erbstück ausdrücklich für sich, als sie ihre übrige Habe ihren Patenkindern verteilte.86 Tatsächlich drängt sich also die Frage auf, ob und wie Erzeugnisse der Schriftkultur die Vorstellungswelt der Talleute beeinflussten. Klärungsbedarf besteht besonders im Hinblick auf die verbreitete Auffassung, Einflüsse der Schriftkultur seien in vormodernen ländlichen Gesellschaften gering, ja überhaupt nicht vorhanden gewesen. In diesem Zusammenhang hielt sich lange die Ansicht, die einfache Landbevölkerung habe eine eigenständige mündliche Überlieferung besessen. Auf diesem gedanklichen Hintergrund wurden seit dem 18. Jahrhundert Versuche unternommen, solche mündlichen Überlieferungen schriftlich festzuhalten. Entsprechende Sagensammlungen wurden auf für das Engelberger Tal erstellt. Die angestellten Überlegungen geben den Aufbau des folgenden Abschnitts vor: Erstens wird nachgezeichnet, wie die Vorstellung einer eigenständigen Volkskultur im 18.  Jahrhundert entstanden ist. In einem zweiten Schritt werden die Sagensammlungen rund ums Engelberger Tal näher vorgestellt. Drittens soll aufgezeigt 85 Vgl. ETP 20.28–29. 86 Vgl. ETP 2b.632–635, 11.646–651, 14.1–6 und 20.39–40.

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werden, wie mündlicher Austausch im frühneuzeitlichen Hochtal stattfand, wobei gleichzeitig die Einflüsse der Schriftkultur sichtbar gemacht werden. Der Abschnitt schliesst mit einigen Überlegungen zur Frage, wie sich »volkstümliche« Kulturen wie jene des frühneuzeitlichen Engelbergs angemessen beschreiben lassen.87

4.2.1 Zur Erfindung der Volkskultur Im 18. Jahrhundert waren nicht wenige Gelehrte der Ansicht, dass die Menschheitsgeschichte als fortlaufende, stufenweise Entwicklung zu begreifen sei.88 Vergleichbare Evolutionsgeschichten bestanden auch für das Erd-, Pflanzen- oder Tierreich. Wie aber hatten die Menschen gelebt, ehe sie vom Zivilisationsprozess erfasst wurden? Seit den überseeischen Entdeckungen des 16. Jahrhunderts waren Vorstellungen vom natürlichen Menschen – vom sogenannten »Wilden« – durchaus geläufig.89 Im 18. Jahrhundert verbreitete sich in der Gelehrtenwelt die Auffassung, dass sich die »Wilden« auch im europäischen Binnenland entdecken liessen, nämlich in der ländlichen Bevölkerung. Hier war es nicht die räumliche Distanz, die den Abstand zu den »Wilden« begründete, sondern die geschichtliche Entfernung. Die gelehrte Meinung ging dahin, dass ländliche Gesellschaften nur oberflächlich vom Zivilisationsprozess – insbesondere von der Schriftkultur – erfasst worden seien.90 Je abgeschiedener ein Landstrich, desto eher schienen sich seine Bewohner im Zustand natürlicher Ursprünglichkeit zu befinden. Diese Auffassung sollte Jakob Grimm 1811 so auf den Punkt bringen:91 Auf hohen Bergen, in geschlossenen Tälern lebt noch am reinsten ein unveralteter Sinn, in den engen Dörfern, dahin wenige Wege führen, und keine Strassen, wo keine falsche Aufklärung eingegangen oder ihr Werk ausgerichtet hat, da ruht noch an vaterländischer Gewohnheit, Sage und Gläubigkeit ein Schatz im Verborgenen.

Zur örtlichen Abgeschiedenheit gesellte sich also eine zeitliche Erstarrung hinzu. Ländliche Gesellschaften schienen auf einer früheren Entwicklungsstufe stehengeblieben. Diese Ursprünglichkeit liess auch eine günstige Wertung zu. Städtisch 87 »Volkstümlich« meint hier nichts weiter als das, was in der breiten Bevölkerung bekannt war und von dieser (im weiten Sinn) verwendet wurde. Vgl. zur Definition des Populären Schenda (1970: 32–76). 88 Vgl. etwa Condorcet (1988) und seine Darstellung der Menschheitsgeschichte als stufenweise Entwicklung zum Besseren hin. 89 Vgl. etwa Bitterli (1976: 367–381). 90 Massgeblich hierzu der Aufsatz von De Certeau (1993). 91 Zitiert nach Steig (1902: 133).

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geprägte Bildungsschichten standen im 18. Jahrhundert den Wirkungen des Fortschritts zunehmend misstrauisch gegenüber, was ihre Sehnsucht nach dem unberührten Land – genauer nach dem, was sie sich darunter vorstellten – entsprechend steigerte.92 Wie man die angebliche Ursprünglichkeit des Landes auch immer wertete, schien doch ein klaffender Unterschied zwischen städtisch-gebildeter und ländlich-bäuerlicher Kultur zu bestehen. So hielt Johann Gottfried Herder 1784 unmissverständlich fest, es sei „ein Unterschied zwischen Kultur der Gelehrten und Kultur des Volkes“.93 Der Evolutionsgedanke wurde auch auf den Bereich der übernatürlichen Anschauungen übertragen.94 Hier stellte sich die Frage, wie die Menschen ihre Grundveranlagung überwunden und zu höheren Glaubensformen emporgestiegen waren. Viele Gelehrte waren seit dem 19. Jahrhundert der Ansicht, dass Menschen von Natur aus ein magisches Weltbild besässen. Und wo liess sich dieses magische Weltbild besser erfassen als bei den »Wilden«? Auch hier dachten Gelehrte dabei nicht nur an überseeische Völker, sondern ebenso an die ländlichen Gesellschaften des Binnenlandes. Das Landvolk schien manchen Gebildeten nur oberflächlich christianisiert und stets gefährdet, auf frühere Entwicklungsstufen zurückzufallen. Wo Religion und Wissenschaft nicht recht Fuss fassten, schien der Rückfall in die Magie gewiss. Diesbezüglich bemerkte der Religionswissenschaftler James George Frazer noch 1923: „In den ungebildeten und abergläubischen Schichten des modernen Europa erscheint sie [d.h. die Magie] nicht in wesentlich anderer Form als […] bei den Wilden der niedersten Kulturstufe, die in den verborgensten Gegenden der Welt leben.“95 Auch diese Ursprünglichkeit liess sich mit einem günstigen Vorzeichen versehen und weckte die Sehnsucht jener, die den Einflüssen von Christentum und Wissenschaft feindselig gegenüberstanden. Jakob Grimm veröffentlichte 1835 ein vielbeachtetes Werk zur »Deutschen Mythologie«. Darin vertrat Grimm die Auffassung, dass sich hinter christlichen Kulten oftmals uraltes, heidnisches Gedankengut verbergen würde. Christlicher Glaube schien ihm oft blosser Firnis, der sich über vorchristliche Glaubensvorstellungen gelegt hatte. So vermutete Grimm, dass die Landleute „auf Christus, Maria und die Heiligen anwendeten, was vorher von den Götzen erzählt und geglaubt wurde“. Der protestantische Gelehrte war ferner überzeugt, dass der Katholizismus

92 Der durchaus zwiespältige Begriff der »Zivilisation« bildete sich genau in jener Zeit aus. Zur Forschungsgeschichte vgl. Kuper (1999: 23–46). 93 Vgl. Herder XIV, 34. 94 Zum Folgenden vgl. Treiber (1996). 95 Vgl. Frazer (1928: 81).

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für solche „Nachwüchse des Heidentums“ besonders anfällig war – Nachwüchse wohlverstanden, die der Protestantismus seiner Ansicht nach überwunden hatte.96 Wie aber liess sich das vorchristliche Weltbild erforschen? Gelehrte suchten diesbezüglich nach Überlieferungssträngen, die nicht durch die zivilisierte Schriftkultur verfälscht worden waren. Das (Land)volk kam als Überlieferungsträger bald in Frage, war es doch aus gelehrter Sicht weitgehend schriftunkundig, ungebildet und unzivilisiert. Gelehrte erblickten in der mündlichen Volksüberlieferung bald den Schlüssel, um an ursprünglichere Weltauffassungen heranzukommen. Johann Gottfried Herder bezeichnete bereits 1777 die mündliche Volksüberlieferung als „Archiv des Volkes“.97 Jakob Grimm ergänzte 1811, dass die „Volksüberlieferung an Faden hängt, wodurch sie zuletzt unmittelbar mit dem Altertum verknüpft wird“. Schöpften die einfachen Leute bei ihren „Abendgesprächen und Spinnstubengeschichten“ nicht aus der „Menge von Sagen und Gebräuchen, die lange Zeiten hindurch vom Vater dem Sohn erzählt wurden“?98 Gelehrte erwarteten also von der mündlichen Volksüberlieferung Aufschlüsse über urtümliche, magisch geprägte Weltbilder.

4.2.2 Moderne Sagensammlungen Die gelehrte Erfindung der Volkskultur beeinflusste seit dem 18. Jahrhundert auch die Wahrnehmung der Alpenwelt. Die Abgeschiedenheit des Gebirges verlockte manche Gelehrte zur Vorstellung, dass alpine Gesellschaften auf früheren Entwicklungsstufen der Menschheitsgeschichte verharrten. Die Zivilisation schien gleichsam an den Gebirgsflanken gebrandet zu sein. Bereits der Zürcher Aufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) suchte auf seinen Alpenreisen nach einem urtümlichen Menschenschlag, der körperlich wie geistig die Merkmale der Urzeit trug. Spätestens seit Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) setzte sich das Bild einer ursprünglichen, unberührten Alpenwelt in Bildungsschichten durch.99 Folgerichtig entstand im späten 18. Jahrhundert auch die Vorstellung des »Hirtenlandes«. Das Alpenbild der Gelehrten förderte einen zunehmenden Fremdenverkehr vor Ort. Gebildete des In- und Auslands bereisten seit dem 18. Jahrhundert die Alpen, um die vermeintliche Ursprünglichkeit der Gebirgswelt zu erleben. Auch das Engelberger Tal war schon früh ein begehrtes Ziel auf Alpenreisen.100 Aufklärer machten 96 Vgl. Grimm (1992: 5). 97 Vgl. Herder IX, 532. 98 Zitiert nach Steig (1902: 133–136). 99 Vgl. die Überblicksdarstellung bei Grossklaus (1983). 100 Vgl. Heer (1975: 352).

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das neue Alpenbild bald politischen Zwecken dienstbar. Dabei wurden dem Gebirgsvolk urtümliche Denk- und Lebensweisen zugesprochen, die als Muster vaterländischer Eigenart und echten Schweizertums dienen sollten.101 Die gebildeten Vorstellungen alpiner Volkskultur blieben nicht blosse Buchwirklichkeit. Im 19.  Jahrhundert riefen Gebildete entsprechende Volkssitten und -bräuche erst eigentlich ins Leben. So stellte das erste Unspunnenfest von 1805 eine Veranstaltung von und für gebildete Kreise dar, die ihren Vorstellungen des Hirtenvolkes eine leibhaftige Wirklichkeit zu geben suchten.102 Die Erfindung alpiner Volksbräuche lässt sich auch am Trachtenwesen beispielhaft nachzeichnen.103 Trachten waren im Alpenraum bis um 1800 unbekannt. Das Landvolk folgte zuvor – wenn auch zeitlich versetzt – städtischen Kleidungsgewohnheiten. Spanische und französische Moden drangen bis in die abgelegensten Alpentäler ein. Ein urtümliches Volksgewand gab es nicht. Dies änderte sich erst im 19. Jahrhundert, als örtliche Volkstrachten regelrecht erfunden wurden – aus Bestandteilen, die oft nicht heimischer Herkunft waren. Das Trachtenwesen zeigt auch, wie sich fremde Wahrnehmungsmuster allmählich in der alpinen Bevölkerung festsetzten. Man kannte dort die Fremdwahrnehmung, verinnerlichte sie aber nicht zwingend. Ein unbedeutendes Beispiel mag das Gemeinte veranschaulichen: Der Wolfenschiesser Gasthof »Eintracht« wurde im 19. Jahrhundert von vielen Auswärtigen besucht. Die langjährige Wirtin kleidete sich stets in der heimischen Bäuerinnentracht, obwohl diese keineswegs der Alltagskleidung einer wirtenden Nichtbäuerin entsprach. Auch ihre Rauchpfeife legte die Wirtin niemals ab, obschon sich die einheimischen Frauen das Rauchen längst abgewöhnt hatten. Doch die kluge Wirtin bot ihren Gästen schlicht und einfach das, was diese sehen wollten. Die Volkskultur war – nicht nur im Wolfenschiesser Gasthof – eine seltsame Fopperei.104 Gelehrte begannen auch im Alpenraum nach mündlichen Volksüberlieferungen zu forschen. So hatte bereits Johann Jakob Scheuchzer im frühen 18. Jahrhundert entsprechende Erzählungen aufgezeichnet. Systematische Sammlungen erschienen jedoch erst im 19. Jahrhundert. Deren Verfasser waren der Grimmschen Tradition verpflichtet, so dass sie Volksüberlieferungen auf vergleichbare Weise erhoben und

101 Die politische Bedeutung des Alpenbildes in der Vormoderne ist dargestellt bei Marchal (2006: 38–118). 102 Vgl. Marchal (2006: 88–89). 103 Zum Folgenden vgl. Heierli (1922). 104 Die Anekdote ist bei Heierli (1922: 82) überliefert.

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deuteten.105 Was dies bedeutete, lässt sich an den Sagensammlungen rund um das Engelberger Tal gut aufzeigen. Der Luzerner Geistliche Alois Lütolf veröffentlichte 1862 die »Sagen, Bräuche und Legenden aus den fünf Orten«. Das Werk entwickelte sich zur grundlegenden Sagensammlung der Innerschweiz. Lütolf hatte darin auch Erzählstoffe aus dem Engelberger Tal aufgenommen. Erst 1889 erhielt das Engelberger Tal eine eigene Sagensammlung, die vom Zürcher Redaktor Albert Fleiner in einem Fremdenführer zusammengestellt wurde. Sagen aus dem Engelberger Tal erschienen erneut zwischen 1908 und 1914, als der Nidwaldner Rechtsanwalt Franz Niderberger eine Unterwaldner Sagensammlung herausgab. Lütolf, Fleiner und Niderberger gehörten – wie die anderen Sagensammler ihrer Zeit – der »Mythologischen Schule« an, die von Jakob Grimm massgeblich beeinflusst war.106 Die genannten Sagensammler sammelten Volksüberlieferungen mit dem Ziel, das urtümliche Weltbild der heimischen Volksstämme wiederzuentdecken. So wollte Lütolf „das System der alten deutschen Mythologie“ in der Innerschweiz nachweisen, während Fleiner in den Engelberger Sagen nach „den letzten verworrenen Überresten des alten Glaubens der germanischen Vorväter“ suchte.107 Die Sagensammler hielten die Gebirgslandschaft der Innerschweiz für eine besonders abgeschiedene Gegend. Das begünstigte ihrer Ansicht nach eine unverfälschte Überlieferung aus der Vorzeit. So gab Niderberger zu bedenken, dass sich Denkweisen „bei Völkern, die getrennt vom Schwarme der übrigen Welt leben, unverfälscht vom Grossvater zum Enkel herab“ vererben würden. Fleiner hatte gar den Versuch gewagt, die germanische Abstammung der Unterwaldner anhand ihres Körperbaus und ihrer Sinnesart zu belegen. Er hielt das Engelberger bzw. Sarner Tal für derart abgeschieden, dass er sogar rassische Unterschiede zwischen Ob- und Nidwaldnern feststellen wollte.108 Die Sagensammler traten mit klaren Ansprüchen auf. Ob sie diese auch tatsächlich einlösten, soll anhand der drei folgenden Fragen erörtert werden: Wie wurden mündliche Volksüberlieferungen gesammelt? Wurden die Sammlungen dem volkstümlichen Erzählen inhaltlich gerecht? Was wurde in den Sammlungen nicht überliefert?

a) Wie wurden mündliche Volksüberlieferungen gesammelt? Die Sagensammler wollten mündliche Volksüberlieferungen aufzeichnen. Doch stammten die gesammelten Erzählungen tatsächlich aus dem Volksmund? Viele 105 Vgl. dazu Vernaleken (1993: 5–10), ferner Schenda (1988). 106 Zur Mythologischen Schule, vgl. EM 8, 1086–1090. 107 Vgl. Lütolf (1976: III) und Fleiner (1889: 189). 108 Vgl. Niderberger (1978: 3) und Fleiner (1889: 133–140).

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Gründe sprechen dagegen. Zunächst trugen die Sagensammler hauptsächlich Sagen zusammen, die sie bereits in gedruckter Form (Zeitschriften, Kalender usw.) vorfanden. Ältere Sagensammlungen wurden ebenfalls als Quellen herbeigezogen. Die gesammelten Erzählungen stammten also keineswegs aus mündlicher Volksüberlieferung. Wo tatsächlich mündliche Überlieferung vorlag, waren die Gewährsleute alles andere als einfache Landleute, sondern Geistliche, Schullehrer, Ärzte, Gelehrte usw. Hingegen schenkten die Sagensammler einfachen Leuten und besonders Frauen kaum Gehör: So befand sich unter Niderbergers Gewährsleuten keine einzige Frau!109 Die Sagensammler suchten nach mündlichen Volksüberlieferungen, die nicht von gebildetem bzw. schriftlichem Gedankengut verfälscht waren. Es überrascht also auf den ersten Blick, dass Lütolf, Fleiner und Niderberger die Einflüsse schriftlicher Überlieferung auf das volkstümliche Erzählen kaum erwogen. Schriftgut liess sich ja nicht nur lesen, sondern auch vorlesen und nacherzählen. So war es durchaus möglich, dass Schriften aller Art und aller Zeiten volkstümliches Erzählen nicht nur beeinflusst, sondern gelegentlich sogar begründet hatten.110 Unverfälschte Mündlichkeit war hier schwerlich auszumachen. Dass die Sagensammler die Quellenfrage derart geringschätzten, war allerdings nicht auf Sorglosigkeit zurückzuführen. Gelehrte hatten ja seit der Aufklärungszeit bestimmt, welche gedanklichen Inhalte die Volkskultur beherrschten. Wo man also auf entsprechende Erzählstoffe stiess, schien sich die Herkunftsfrage zu erübrigen. Dann war es sogar gleichgültig, ob sich die einfachen Leute solche Erzählstoffe tatsächlich erzählten oder nicht.

b) Wurden die Sammlungen dem volkstümlichen Erzählen inhaltlich gerecht? Die Sagensammlungen spiegelten auch inhaltlich nicht wieder, was sich die einfachen Leute jener Zeit erzählten. So strotzten die Sammlungen von Erzählungen, die von übernatürlichen Wesen (Bergmännchen, Geistern, Hexen, Zauberern, Gespenstern usw.) und verwünschten Orten (Felsen, Höhlen, Steinen, Bäumen usw.) handelten. Wusste man nicht seit Jakob Grimm, dass sich hinter den übernatürlichen Wesen heidnische Götter und hinter verwünschten Orten alte heidnische Kultstätten befanden?111 Was die Sagensammler jedoch als Volksüberlieferung ausgaben, war bei näherem Hinsehen beileibe nicht volkstümlich. So waren Hexensagen in den

109 Vgl. die entsprechenden Darstellungen Lütolfs und Niderbergers bei Schenda (1988: 309–330, 483–504), ferner Niderberger (1978: 15–16). Ähnliche Feststellungen galten bereits für die Grimmschen Sammlungen, vgl. etwa Petzoldt (1999: 39–40). 110 Zur Bedeutung semiliteraler Kommunikationsprozesse, vgl. Schenda (1993: 217–238). 111 Vgl. Grimm (1992: 5).

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Sammlungen zwar zahlreich vertreten, aber in der breiten Bevölkerung wurden sie nachweislich kaum bzw. gar nicht erzählt!112 Christliche Erzählstoffe wurden aufgenommen, aber von ihrem vermeintlichen christlichen Firnis befreit und auf magische bzw. heidnische Überlieferungen zurückgeführt. Überhaupt war es damals gelehrte Sitte, christliche Frömmigkeitsformen als heidnisches Brauchtum zu entlarven. Auseinandersetzungen um den Betruf gaben dafür ein beredetes Zeugnis.113 Dass aber die einfachen Landleute ihr frommes Tun keineswegs auf heidnisches Brauchtum zurückführten, war den Gebildeten zwar meistens bekannt, kümmerte sie aber nicht weiter.114 Was konnten die einfachen Leute über ihre Bräuche schon wissen?

c) Was wurde in den Sammlungen nicht überliefert? Die Sagensammler fragten nicht danach, welchen »Sitz im Leben« volkstümliche Erzählungen einnahmen:115 Wer erzählte? Wer hörte zu? Zu welchen Anlässen? Unter welchen Umständen? Zu welchen Zwecken? Diese Fragen waren unerheblich, wenn man Volksüberlieferungen als Ausdruck eines urtümlichen und zeitlosen Weltbildes auffasste. Die Erzählumstände konnten als Zufälligkeiten der Überlieferung abgetan werden. Lütolf, Fleiner und Niderberger wollten in ihren Sammlungen mündliche Volksüberlieferungen festhalten. Sie liessen sich allerdings durch derart starke Vorannahmen leiten, dass ihnen das volkstümliche Erzählen völlig entglitt. Einseitig waren ihre Sammlungen nicht nur hinsichtlich dessen, was sie überlieferten, sondern auch hinsichtlich dessen, was sie nicht überlieferten. Was erzählten sich die einfachen Leute im Alltag? Woher stammten ihre Erzählstoffe? Was bezweckten erzählende Menschen? Darüber gaben die Sammlungen keine Auskunft. Die Sagenbücher sollten zwar von mündlichen Volksüberlieferungen handeln, aber das Volk war dabei zum Schweigen verurteilt.116 Warum aber waren die Sagensammler in eine solche Sackgasse geraten? Vordergründig waren dafür ungenügende Sammel- und Deutungsverfahren verantwortlich. Letztlich aber bemühten sich Lütolf, Fleiner und Niderberger nicht darum, eine 112 Vgl. Renner (1937: 10–11). 113 Entsprechende Deutungsansätze finden sich noch in der klassischen Darstellung des Betrufs bei Wirz (1943). 114 Vgl. dagegen Renner (1937: 201). 115 Zum Begriff des »Sitz im Leben«, vgl. Gunkel (1913: 33). 116 Vgl. auch Brunold-Bigler (2000) und ihre Ausführungen zu den Bündner Sagensammlungen, die diesbezüglich bessere Einblicke in das volkstümliche Erzählen erlauben.

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zeitlose, unberührte und magisch geprägte Volkskultur nachzuweisen: Vielmehr setzten sie diese voraus.

4.2.3 Vormoderne Erzählkontexte Welche Erzählungen kannten und erzählten die einfachen Leute im vormodernen Engelberg? Es steht zunächst fest, dass Erzähltes kaum schriftlich aufgezeichnet wurde. Das Hochtal besass zwar ausreichend Schreibkundige, doch sahen sich die Talleute kaum veranlasst, Erzähltes schriftlich festzuhalten. Man führte Rechnungsbücher, schrieb Briefe, schloss Verträge, stellte Gülten aus, aber zeichnete Erzählungen sehr selten auf. Offenbar betrachtete man Erzählungen als etwas Alltägliches, das nicht für die Nachwelt bestimmt war. Also lässt sich von volkstümlichen Erzählungen oft nur aus zweiter Hand erfahren, genauer von Klosterherren, Pfarrherren, Gerichtsschreibern, Reisenden usw. Wenn aber Dritte Erzählungen aufschrieben, liessen sie – willentlich oder nicht – persönliche Wertungen und Absichten in die Aufzeichnung einfliessen. Auch mochte die Verschriftlichung nicht immer im Sinn des Erzählers bzw. der Erzählerin geschehen. Die Überlieferungslage gestaltet sich also schwierig. Dennoch bleiben die erhaltenen Bruchstücke wertvoll. Die Erzählungen sind meistens so überliefert, dass ihr »Sitz im Leben« erschlossen werden kann: Erzähler und Zuhörer sind ebenso fassbar wie ihre Absichten und Erwartungen. Ferner zeichnen sich die äusseren Erzählumstände ab, aber auch die jeweilige Herkunft bzw. Verwendungsweise der Erzählstoffe. Mehr ist für eine angemessene Deutung nicht erforderlich. Die überlieferten Erzählungen lassen sich nach ihrem Erzählstoff gliedern, genauer nach Erzählungen von: (I) Landschaft, Ereignissen und Persönlichkeiten, (II) Zauber, (III) Demut und (IV) Schuld. Allerdings soll diese Einteilung nicht mehr als ein Hilfsraster sein: Volkstümliche Erzählungen standen in derart wechselhaften Zusammenhängen, dass eine zwingende Gliederung kaum möglich ist. Schliesslich werden das 19. Jahrhundert und frühe 20. Jahrhundert bewusst in den untersuchten Zeitraum einbezogen: Dies soll nicht zuletzt Vergleiche mit den zeitgleich entstehenden Sagensammlungen ermöglichen.

I. Erzählungen von Landschaft, Ereignissen und Persönlichkeiten In vielen Erzählungen standen örtliche und zeitliche Umgebung im Mittelpunkt, d.h. Landschaft und Geschichte. Man berichtete sich ferner von Menschen, welche ihre Spuren in dieser Umgebung hinterlassen hatten. Dabei liessen sich solche Überlieferungen nicht von jenen Menschen loslösen, die sie erzählten und ihnen

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ihren Stempel aufdrückten. Es gab nicht nur erzählte, sondern auch erzählende Persönlichkeiten.

a) Landschaftssagen Wie Sagen dieser Art entstanden und vermittelt wurden, lässt sich beispielhaft an den Gründungslegenden des Hochtals aufzeigen. Tatsächlich mehrten sich ab dem 17.  Jahrhundert die Erzählungen über die Gründungszeit des Engelberger Stifts. Als der Ittinger Kartäusermönch Heinrich Murer in den ersten Jahrzehnten des 17.  Jahrhunderts das Kloster Engelberg und seine Geschichte beschrieb, wusste er bereits von zahlreichen Wundergeschichten zu erzählen. Offenbar waren es die Engelberger Konventualen selbst, die solche Erzählungen gezielt verbreiteten. Die überlieferten Geschichten waren bisher unbekannt, auch wenn dahingestellt bleibt, ob die klösterlichen Erzähler aus älteren Quellen schöpfen konnten.117 Die Gründungslegenden entstanden zu einem Zeitpunkt, als sich die heilige Landschaft des Hochtals stark veränderte. Barocke Frömmigkeit trieb die Klosterund Talleute dazu an, die himmlische Welt auf Erden zu vergegenwärtigen und ihr eine greifbare Wirklichkeit zu geben. Dieses Streben drückte sich auch darin aus, dass bestimmte Orte des Hochtals mit wundersamen Erzählungen verbunden wurden. Und genau hier setzten die Gründungslegenden ein. Warum hiess eigentlich der Hausberg des Tals »Engelberg«? Es wurde erzählt, es seien „in dieser Wildnuß mehrmahlen engelische und liebliche Gesang gehört worden“, als das Kloster errichtet wurde. Warum stand das Kloster auf einer Matte, die den Namen »Ochsenmatt« trug? Der Stiftsgründer Konrad von Sellenbüren hatte sich von einem Ochsen leiten lassen, um den genauen Standort des Klosters zu ermitteln. Warum waren Stift und Tal der heiligen Jungfrau Maria geweiht? Die Gottesmutter war dem Stiftsgründer im Traum erschienen und hatte ihn geheissen, einem Ochsengespann zu folgen: Dort, wo sich das Gespann niederliesse, sollte der Hochaltar der Klosterkirche – der Altar der Muttergottes – errichtet werden. Warum hiess die Quelle südlich des Klosters »Abtsbrunnen«? Der selige Abt Adelhelm sollte anlässlich einer Prozession seinen Abtsstab auf den Boden gestossen haben, worauf eine Quelle heilsamen Wassers hervorsprudelte. Oder war es nicht der selige Abt Berchtold, der dem Brunnen seinen Namen gegeben hatte? Als nämlich Berchtold im Sterben lag, rief er nach einem Becher frischen Wassers, den man ihm von der 117 Zu den Gründungslegenden vgl. Tomaschett (2007: 36–41), dann Murer (1751: 258– 261) sowie desselben »Klosterbeschreibung«, die im Stiftsarchiv Engelberg in der Abschrift Ignaz Odermatts von 1856 verfügbar ist. Dass mancher Sagenstoff durchaus älteren Ursprungs war, beweist etwa die Sage vom Engelsgesang: Die Erzählung ist bereits Albrecht von Bonstetten im späten 15. Jahrhundert bekannt, vgl. QSG XIII, 239.

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besagten Quelle herbeitrug: Doch als Berchtold trinken wollte, war „das Wasser in Wein durch die Kraft Gottes verändert worden“. Die Gründungslegenden entstanden nicht zeitgleich und waren gelegentlich widersprüchlich, wie die Erzählungen um den Abts- bzw. Adelhelmsbrunnen zeigen. In den Gründungslegenden wurden bestehende Orts- und Flurnamen geschickt eingewoben und zu eigentlichen Aufhängern der Erzählungen gestaltet. Das Hochtal wurde als Landschaft gezeichnet, die von Gott, Maria, Engeln und Heiligen gesegnet war: Der Schleier zwischen Himmel und Erde hatte sich angehoben, als die Talgeschichte begonnen hatte. Die Landschaft wurde – durchaus in barockem Geist – mit christlichen Bezügen aufgeladen. Die Gründungslegenden waren vielfach in die Heiligengeschichten des Stiftsgründers bzw. der ersten Äbte (Adelhelm, Frowin und Berchtold) eingewoben. Die Wundergeschichten dienten nicht zuletzt der Heiligenverehrung, die seit dem 17. Jahrhundert wieder stärker gepflegt wurde. Die alten Gnadenquellen waren übrigens nicht versiegt, wie die Umbettung des seligen Adelhelms 1611 zeigte: Die Gebeine des Abtes waren beim Kirchenumbau angeblich wiederentdeckt worden, worauf der damalige Abt Jakob Benedikt Sigerist seinem ersten Vorgänger einen prächtigen Altar erbauen liess. Heinrich Murer berichtete Jahre später, dass der Selige „noch heutigs tags von den frommen Menschen besucht wird, so wohl Ehren und Andacht halben als auch [um] seyn Fürbitt und Seegen zu erlangen“.118 Die Verehrung des seligen Adelhelms ging im 18. Jahrhundert allerdings stark zurück, wie die Verlegung seines Grabes ins hintere Laienschiff nach 1729 belegte. Dafür rückten die Katakombenheiligen Eugen, Floridus und Plazida in den Vordergrund. Die klösterlichen Erzähler berichteten gewiss auch den Talleuten von den Gründungs- und Heiligenlegenden. In der Jakobskapelle wurde 1705 eine Bilderreihe angebracht, auf der viele der Wundergeschichten bildlich dargestellt waren. Die Abbildungen konnten so die Erinnerungs- bzw. Einbildungskraft der Talleute anregen. Man muss beachten, unter welchen Zeitumständen die klösterlichen Erzähler die Wundergeschichten verbreiteten. Das Verhältnis zwischen Kloster und Gemeinde war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stark angespannt. Äbte wie Jakob Benedikt Sigerist (1603–1619) und Benedikt Keller (1619–1630) waren alles andere als unumstrittene und allseits geliebte Talväter. Auch das Verhältnis zwischen Kloster und Schirmorten stand nicht zum Besten. Welche Bedeutung hatte diesbezüglich der Erzähldrang der Klosterherren?

118 Vgl. Murer (1751: 260). Zur Umbettung des seligen Adelhelms 1611 vgl. Tomaschett (2007: 54).

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Die Gründungs- und Heiligengeschichten liessen die Stiftsgründung als gottgewollte Fügung erscheinen. Die Äbte der Gründungszeit wurden dabei als herausragende Talväter gezeichnet, deren Wirken bis in die Gegenwart fassbar blieb. Der Stiftsgründer hatte das Hochtal nicht nur rechtmässig besessen, sondern auch vollumfänglich an die Klostergemeinschaft übergeben. Wo zuvor eine angebliche Wildnis von Urwald, Sümpfen und Untieren lag, da hatten die klösterlichen Gründerväter ein machtvolles »Es werde Licht!« gesprochen. Die Talleute wurden in dieser Gründungsgeschichte ausgeblendet, sie erschienen als spätere Zuwanderer und hatten ihr Landstück aus gnädiger Klosterhand erhalten. Den weltlichen Lehensleuten blieb in der Gründungsgeschichte ein höchst undankbarer Platz: War der selige Stiftsgründer Konrad von Sellenbüren 1126 nicht „zu Zürich von seinem eignen Lehemann ermordet worden“, wie auf den Bildern der Jakobskapelle zu lesen war? Hatten sich nicht schon damals Lehensleute arglistig gegen ihren rechtmässigen Herrn aufgelehnt? Die Gründungs- und Heiligengeschichten waren also weniger unschuldig, als sie auf den ersten Blick scheinen mochten. Die klösterlichen Erzähler verbreiteten die Legenden durchaus nicht nur zur blossen Unterhaltung oder frommen Erbauung. Die Geschichten um Engelbergs Gründungszeit waren allerdings ein zweischneidiges Schwert: Wenn von gütigen, frommen und weisen Äbten der Vorzeit erzählt wurde, lag der Vergleich zur gegenwärtigen Herrschaft durchaus nahe. Es ist denkbar, dass die seligen Äbte für manche Talleute zum Gegenbild der eigenen ungeliebten Talherren wurden. Waren die ersten Äbte nicht noch gerecht, gütig und fromm gewesen? War damals im wilden Tal nicht wohl zu hausen gewesen? Der Bau der Talkapellen liess ebenfalls fromme Geschichten entstehen. Warum war die Horbiskapelle der Heiligen Familie geweiht? Auch der klösterliche Geschichtsschreiber Ildephons Straumeyer stellte sich im 18. Jahrhundert diese Frage. Talleute berichteten dem Konventualen diesbezüglich, dass die Heilige Familie vor dem Kapellenbau regelmässig im Horbistal erschienen sei, und zwar genau auf dem Weg, der später zur Kapelle führen sollte. Die besagte Erscheinung hatte dann, so Straumeyers Gewährsleute weiter, zum Kapellenbau geführt. Sinnigerweise hatte schon Abt Joachim Albini 1699 in der Horbiskapelle ein Bild aufhängen lassen, das die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten zeigte. Über die genaue Entstehung der Legende lässt sich nichts mehr ermitteln. Hatten die Bilddarstellungen in der Kapelle die Legendenbildung veranlasst? Es wäre auch denkbar, dass Geistliche die Sage in früherer Zeit zur frommen Erbauung verbreitet hatten, wobei sich die Erinnerung daran im Talvolk länger hielt als bei der Geistlichkeit selbst.119 Welche Bewandtnis hatte es mit dem Gnadenbild der Schwandkapelle auf sich, das seit 1680 dort stand? Engelbergs Geistlichkeit kannte anfangs des 20. Jahrhun119 Vgl. Hunkeler (1947: 27–38).

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derts keine Antwort mehr auf diese Frage. Erneut waren es Talleute, die darüber Auskunft geben konnten, und zwar genau genommen Anna Amrhein (1839–1921), von der noch verschiedentlich die Rede sein wird. Amrhein berichtete, dass zunächst ein Klosterknecht das Gnadenbild vom Kloster in die Schwandkapelle überführt hatte. Doch das Gnadenbild war darauf auf wunderbare Weise zu seinem alten Standort zurückgekehrt, ehe es 1680 an Maria Verkündigung (25. März) in feierlicher Prozession übertragen wurde: Seither hatte das Gnadenbild die neue Kultstätte nicht mehr verlassen. In diesem Fall genügte das blosse Vorhandensein des Gnadenbildes, um die Erinnerung an die Wundergeschichte aufrechtzuerhalten bzw. die Neugier jener anzustacheln, die nach der Herkunft des Gnadenbildes fragten.120 Auch das Beinhaus war mit einer wundersamen Erzählung verbunden. Erneut war es eine fromme Talbürgerin, die anfangs des 20. Jahrhunderts der Geistlichkeit davon berichtete. Dieses Mal blieb die Sage an der Totenglocke haften, die gewöhnlich den Hinschied eines Talbürgers bzw. einer Talbürgerin verkündete. So wurde überliefert, dass sich am schrillen bzw. milden Klang der Totenglocke deutlich erkennen liesse, ob der nächste Todesfall bald oder erst in einiger Zeit bevorstand. Die Totenglocke war als Todeskünderin eng mit Sterbefällen verbunden: Es kam also nicht von ungefähr, wenn man ihrem Läuten diesbezüglich eine vorsehende Kraft zuschrieb. Das Vorzeichen liess sich ähnlich lesen wie ein Wetterzeichen, das einen baldigen Wetterumschwung ankündigt.121 Auch kleinere Heiligtümer besassen ihre wundersame Geschichte. Als der einheimische Emil Berchtold 1950 die besagten Heiligtümer erstmals verzeichnete, konnte er manche Erzählungen über ihre jeweilige Entstehung bzw. ihr Wirken erfahren.122 Zahlreiche Heiligtümer sollten auf ein Gelübde ihrer Erbauer zurückgehen, die etwa einen Jagdfrevel begangen, ein behindertes Kind zur Welt gebracht, eine Blutvergiftung überstanden oder eine schwierige Erbteilung abgeschlossen hatten. Andere Heiligtümer erinnerten an unerwartete Todesfälle, die sich an derselben Stelle ereignet hatten. Das Kappel in der Eien hatte sogar Leben gerettet: Zwei Männer hatten einmal in der Nähe das Vieh besorgt, als dieses plötzlich unruhig wurde und ausriss. Kaum hatten die Männer die Verfolgung aufgenommen, fielen vom Berg unzählige Steinbrocken auf jene Stelle, wo die beiden eben noch gestanden waren. In den Heiligtümern spiegelten sich also die Alltagserlebnisse und –sorgen der bäuerlichen Bevölkerung. Vergleichbare Verhältnisse lassen sich für das 17. und 18. Jahrhundert zwar kaum belegen, sind aber durchaus wahrscheinlich.

120 Vgl. Hunkeler (1947: 24). 121 Vgl. Hunkeler (1947: 38) sowie allgemein Renner (1937: 87–89, 95). 122 Vgl. Berchtold (1950).

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Wundersame Geschichten betrafen nicht nur Heiligtümer, sondern auch andere Merkwürdigkeiten der natürlichen Umgebung. Vom Abts- bzw. Adelhelmsbrunnen wurde bereits gesprochen, dessen Wasser – wohl nicht zuletzt durch die Legende um Abt Berchtold – Heilkräfte zugemessen wurden. Denkwürdiges gab es auch vom Kaltenbrunnen zu berichten, einer Quelle unweit der Heiligkreuzkapelle in Grafenort. Als Johann Jakob Scheuchzer 1702 die besagte Quelle aufsuchte, wurde ihm erklärt:123 Dieser [Brunnen] bricht ungefehr den 3ten Tag May, an Creutz-Erfindung, aus der Erde hervor, und den 14ten Herbstmonat, an Creutz-Erhöhung, hat sein Lauff ein End, er fliesset hiemit von einem Creutz-Tag bis zum anderen. Doch beobachtet er diese heilige Tage nicht so genau, dass er nicht zu Zeiten vor Creutz-Erfindung komme und vor Creutz-Erhöhung sich wieder verberge, zu anderen Zeiten aber nach beyden Festen anfange und aufhöre zu fliessen.

Was die Erzählung angeregt hatte, liegt auf der Hand: Die Heiligkreuzkapelle lag in unmittelbarer Nähe, wohin die Pfarrei an den Kreuztagen Prozessionsgänge unternahm. Die Kreuztage kennzeichneten ferner Beginn bzw. Abschluss des bäuerlichen Sommers. Offenbar hielt sich auch der Kaltenbrunnen an diese Zeitordnung, wie sein Wasserfluss nahelegte. Dass die Quelle den rechten Zeitpunkt nicht immer genau traf, war letztlich unerheblich. Ein weiterer Zeitbrunnen befand sich auf der Alp Engstlen, die auf der bernischen Seite des Jochpasses lag. Der Engstlenbrunnen war weit über die Landesgrenzen bekannt: Seine Berühmtheit ging zweifellos auf das Interesse zurück, dass ihm viele Gelehrte entgegenbrachten. So hatte bereits der Zürcher Gelehrte Johannes Stumpf 1544 den sogenannten »Wunderbrunnen« besucht und vier Jahre später in seiner berühmten Chronik beschrieben.124 Der Engstlenbrunnen ging seither in zahlreichen gelehrten Naturbeschreibungen ein.125 Der Brunnen war berühmt genug, dass er 1669 auch in Grimmelshausens »Simplicissimus« (VI, 14) Erwähnung fand. Der Engstlenbrunnen führte angeblich nur zur Sommerzeit Wasser. Wirklich merkwürdig wurde er aber erst durch den weiteren Bericht, dass Wasser dabei nur zweimal täglich floss, nämlich morgens und abends, wenn das Alpvieh zur 123 Zitiert nach Dufner (1978: 11). 124 Vgl. Stumpf (1586: 218–219) sowie QSG XVI, 308. 125 Johann Jakob Scheuchzer wusste 1702 von folgenden Gelehrten, die sich mit dem Engstlenbrunnen beschäftigt hatten (in Scheuchzers Reihenfolge): Johannes Stumpf, Theodor Zwinger, Johann Heinrich Schweizer, Johann Rudolf Rebmann, Johann Leopold Cysat, Johann Baptist Plantin, Johann Jakob Wagner und Georg Werner. Vgl. Dufner (1978: 13).

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Tränkstelle zog. Die Ordnung des Wasserflusses ging sogar noch weiter, wie der Luzerner Gelehrte Johann Leopold Cysat 1661 berichtete:126 Man hat auch erfahren, daß dieser Brunnen Unsauberkeit unnd Wuhst nicht leydet, dann so man auß Muhtwillen oder Unfleiss etwan einen Unflatt darein wirfft, bleibt der Brunnen etlich Tage, so wol morgens als abends aus und gibt kein Wasser, so aber das Vych sein Notturfft darein fallen laßt, weycht der Brunnen deßwegen nicht ab, sonderen kompt ein als anderen Weg zu gewohnter Stund, dem Vych zu stewr und träncke.

Die Gelehrten beschäftigten sich nicht zuletzt mit dem Engstlenbrunnen, um naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Damalige Gelehrte waren erstens der Auffassung, dass die Dinge Eigenschaften besässen, die sie ähnlich bzw. unähnlich machten. Daraus wurde gefolgert, dass zwischen den Dingen berechenbare Anziehungs- bzw. Abstossungskräfte herrschten. Je nach Ähnlichkeitsgrad (Analogie) zwischen den Dingen folgte daraus Anziehung (Sympathie) oder Abstossung (Antipathie). Zweitens schätzten viele zeitgenössische Gelehrte, dass alle Dinge durch geistige Wesen beseelt seien (Animismus). Diese Auffassung hielt sich in Bildungskreisen bis ins späte 17. Jahrhundert.127 Der Engstlenbrunnen eröffnete die Möglichkeit, das Wirken der Ähnlichkeit wie auch der beseelenden Geister zu erforschen. Zog Reines tatsächlich Reines an (Sympathie) an bzw. stiess es umgekehrt Unreines ab (Antipathie)? Konnte reines Bergwasser tatsächlich durch schmutzige Gesinnung abgestossen werden bzw. bestraften die reinen Brunnengeister Mutwillen und Sorglosigkeit? Solche Fragen gehörten nicht nur zur naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung jener Zeit, sondern bereiteten auch den Boden für die moderne Wissenschaft vor.128 Die Engelberger Talleute kannten den Engstlenbrunnen bestens, führte doch der Saumweg ins Welschland durch das betreffende Alpgebiet. Vermutlich wusste man auch, was Gelehrte über den Engstlenbrunnen berichteten. Fremde Reisende erkundigten sich ja regelmässig nach besagter Quelle. So suchte auch Johann Jakob Scheuchzer 1702 den Engstlenbrunnen auf. Der Zürcher Gelehrte erkundigte sich im benachbarten Hasli bei Einheimischen, wie es denn um den Brunnen wirklich stünde. Dabei bestätigten die Befragten die Gelehrtenberichte keineswegs, sondern verwiesen sie vielmehr ins Reich der Fabeln. Der »Aberglaube« ging also nicht unbedingt von den Einheimischen aus, wie Scheuchzer selbst erkannte.129 126 Vgl. Cysat (1661: 247–248). In Ansätzen berichtet bereits Stumpf (1586: 218–219) davon. 127 Vgl. von Greyerz (2000: 219). 128 Vgl. von Greyerz (2000: 21–41). 129 Vgl. Dufner (1978: 13–14).

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Wundersame Geschichten verbanden sich nicht nur mit Quellen, sondern auch mit auffälligen Steinen bzw. Findlingen. Als Johann Jakob Scheuchzer 1702 über die Surenenegg ins Engelberger Tal reiste, kam er auf der Blackenalp mit Urner Landleuten ins Gespräch. Die Älpler führten dabei den Gelehrten zu einer Steinplatte, die eine klauenähnliche Einkerbung besass: Der Stein lag in unmittelbarer Nähe eines Wasserlaufs, der den Namen Stierenbach trug.130 Ausgehend vom steinernen Abdruck und dem sonderbaren Gewässernamen, erzählten die Älpler eine wundersame Geschichte über einen Stier, der hier einst gegen ein Ungeheuer gekämpft hatte. Nach gewonnenem Kampf hatte sich der Stier auf dem Stein zur Ruhe gelegt und vom kühlen Bergbach getrunken, berichteten die Älpler weiter. Daher rührten auch der Abdruck und der Gewässername. Die Geschichte eröffnete noch andere Fährten, wie der Zürcher Gelehrte Johann Rudolf Maurer vernahm, als er 1780 dieselbe Gegend bereiste. Bildete der Stierkopf auf dem Urner Wappen nicht denselben kampfesmutigen Stier ab? Je mehr Spuren gelesen wurden, desto reicher liess sich die Geschichte weiterspinnen.131 Scheuchzer führte die Stierensage auf den alten Grenzstreit zwischen Uri und Engelberg zurück. Eine andere Deutung legte Maurer vor: Offenbar stürzte Alpvieh häufig über die Felsbänder der Gegend ab. Diese häufigen Stürze waren es, die nach Maurer „so vielen abergläubischen Märchen Anlass gegeben“ hätten. Allerdings ist fraglich, ob die betroffenen Älpler die Viehunfälle tatsächlich übernatürlichen Kräften zuschrieben. So kannte man auf den Engelberger Alpen alle möglichen Gründe, weshalb Vieh verunfallen konnte: Steinschlag, Wetterumschwünge, fehlende Schutzzäune, mangelhafte Hut usw. Waren die Urner Landleute so viel unwissender als ihre Engelberger Nachbarn? Die sagenhaften Stiergeschichten liessen sich wesentlich einfacher erklären. Hier ein sonderbarer Flur- bzw. Gewässername, da ein merkwürdiger Steinabdruck, dort das Urner Wappentier: Das regte nicht nur Erzählungen an, sondern gab ihnen zugleich eine fassbare Erinnerungsstütze. In den Erzählungen galten auffällige Flurnamen und Geländepunkte oft als letzte Spuren geschichtlicher Begebenheiten. In Wirklichkeit war aber das Verhältnis wohl eher umgekehrt: Die vermeintlichen Spuren stellten vielmehr die Ursache dar, weshalb Erzählungen gebildet, vermittelt und erinnert wurden. Wie die Geistlichen wundersame Geschichten zu Flurnamen wie Engelberg, Ochsenmatt oder Abtsbrunnen erfanden, so taten es die einfachen Leute mit anderen Flurnamen. Diesbezüglich regte nicht nur der Stierenbach zum Erzählen an. Auch der Pfaffenhaufen weckte die Erzählfreude der Talleute.132 Ei130 Vgl. Dufner (1978: 17–18). Die häufige Gleichsetzung von Stierenbach und Stäuber ist falsch, wie aus Scheuchzers Erzählung klar wird. Vgl. auch Hess (1900: 9). 131 Vgl. Dufner (1978: 46). 132 Vgl. Niderberger (1978: 133–138).

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gentlich zeigte dieser Flurname bloss an, dass der besagte Ort früher in geistlichem Besitz stand. Manche Fluren waren noch im 18. Jahrhundert unmittelbar mit einer kirchlichen Stiftung verbunden, so z.B. die Muttergottesplanggen, die zur Ausstattung der Horbiskapelle gehörte.133 Wo jedoch dieser Zusammenhang in Vergessenheit geriet, rückten wundersame Erzählungen nach: Ging der Name nicht auf einen Geistlichen zurück, dem dies oder jenes an besagter Stelle geschehen war? Mit der Landschaft war auch das Wetter in engster Weise verbunden. Wer Vieh hütete bzw. trieb, musste die Wetterentwicklung genau im Auge behalten. Auch der Zeitpunkt der Heuernte erforderte Voraussicht, falls man das wertvolle Heu – etwa der Nässe wegen – nicht verderben wollte. Wer Holz flötzen wollte, liess sich besser nicht durch unerwartete Regenfälle überraschen. Ähnlich bedurften viele weitere Tätigkeiten einer umsichtigen Planung der Wetterentwicklung. An welchen Vorzeichen liess sich die bevorstehende Witterung erkennen? Die Talleute kannten sicherlich eine ganze Reihe von Wetterregeln. Die Überlieferung ist allerdings spärlich. So berichtete Maurus Geni Feierabend im späten 18. Jahrhundert von folgender Wetterregel: „Wann der Titlis bey hellem Wetter des morgens einen Nebelbart hat oder der Nebel im Thal hineinfahrt, ist selbig tags Regen, wann von Mitternacht [Norden] gegen Süden Wolken getrieben werden, schlecht.“134 Was manche für einen Bart hielten, verglichen andere mit der Rauchwolke einer Pfeife. Entsprechend erfuhr der Göttinger Gelehrte Christoph Meiners 1783, dass sicherer Regen bevorstand, sobald der Titlis »töibäklä«, d.h. rauchen würde. Johann Jakob Scheuchzer liess sich 1702 erklären, dass hängende Wolken um den Salistock (am westlichen Talausgang) baldigen Regen ankündeten. Auf den Alpen liessen sich bevorstehende Niederschläge angeblich daran erkennen, dass sich bei baldigem Regen das Rauschen der Bergbäche veränderte. Wenn der Nebel aus dem unteren Tal heraufstieg, stand bald das ganze Hochtal unter seiner Fuchtel: Wohl deshalb nannte man den Nebel »Talvogt« und bemerkte bei dessen Einzug kurz: „Der graue Vogt kommt.“135

b) Ereignissagen Vieles, was bisher über Landschaftssagen festgestellt wurde, galt auch für Ereignissagen. Denkwürdige Begebenheiten prägten sich ins Gedächtnis ein und regten zum späteren Erzählen an. Wer Ereignisse aus (mündlichen oder schriftlichen) Berichten kannte, konnte das Geschehene entsprechend nach- bzw. umerzählen. Was in

133 Vgl. ETP 17.647–649. 134 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155. 135 Vgl. Dufner (1978: 10–11, 55).

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räumlicher Hinsicht auffällige Geländestellen bzw. –namen waren, das stellten in zeitlicher Hinsicht denkwürdige Ereignisse dar. Im Juni 1599 ereignete sich im Hochtal ein aufseherregender Diebstahl: Ein Klosterschüler vergriff sich am Heiligen Kreuz und beraubte es von zahlreichen Edelsteinen. Ein schlimmerer Frevel war im Hochtal kaum zu begehen. Der Dieb wurde zwar gefasst, doch die entwendeten Kostbarkeiten blieben für immer verschwunden.136 Bald wurde über den Verbleib der verschwundenen Edelsteine gerätselt. Diesbezüglich erfuhr der Ittinger Kartäusermönch Heinrich Murer einige Jahrzehnte später von mehreren wundersamen Geschichten. So hatte angeblich ein grosser, leuchtender Karfunkel das Heilige Kreuz vor dem Raub geziert: Der Edelstein war angeblich so strahlend, dass man in seiner Nähe eine „Messe lesen konnte ohne Beistand eines angezündeten Lichts“.137 Der Dieb und seine Gehilfen hatten der Sage nach diesen Karfunkel gestohlen, ehe sie sich auf die Flucht begaben: Darauf entliefen die Thäter, welche, als man ihnen durch das Thal nacheilte, das Geraubte mit Edelgesteinen in ein ungeheüres Tobel warfen, dass es nicht mehr zu finden noch zu bekommen war, und niemand zu wissen bekam.

In welche Schlucht war der wertvolle Schatz gefallen? Die Sage wollte davon nichts wissen. Dies mochte Schatzgräber, von denen noch die Rede sein wird, umso neugieriger machen.138 Wenige Tage in der Talgeschichte waren denkwürdiger als der 18.  Februar 1615. Damals zogen die Engelberger Benediktinerinnen nach Sarnen um, womit auch das Frauenkloster aufgehoben wurde, das fast ein halbes Jahrtausend im Hochtal bestanden hatte. Der Frauenkonvent hatte die Talgeschichte mindestens ebenso stark geprägt wie der Männerkonvent.139 Das verlassene Klostergebäude blieb noch Jahrzehnte bestehen, bis es gänzlich baufällig wurde. Als der Basler Kupferstecher Matthäus Merian 1642 eine Ansicht der Engelberger Klosteranlage anfertigte, waren darauf die Ruinen der alten Andreaskirche noch deutlich zu erkennen.140 Warum waren die geistlichen Frauen umgezogen? Diese Frage gab zu manchen Vermutungen Anlass. Eine eigentliche Sage ist allerdings erst im 19.  Jahrhundert 136 Vgl. Durrer (1971: 155–156). 137 Zum Karfunkel, vgl. WdA, S. 249. 138 Heer (1975: 196) gibt – mit Verweis auf Abt Benedikt Kellers Annalen – den Rosshimmel als Ort an, wo die Edelsteine verschwunden seien. 139 Vgl. zur Geschichte des Frauenklosters De Kegel (2008), zum Umzug von 1615 ferner Ettlin/De Kegel (2000). Die stiefväterliche Behandlung, welche die Geschichte des ehemaligen Frauenklosters bei Heer (1975) erfährt, stellt schlicht ein Versagen dar. 140 Vgl. etwa Durrer (1971: 106).

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überliefert. Die betreffende Erzählung ist zudem derart künstlerisch gestaltet, dass literarische Gemeinplätze von einer möglichen Überlieferung kaum mehr zu unterscheiden sind.141 Bemerkenswert ist gleichwohl, worauf die Sage die Aufhebung des Frauenklosters zurückführte: Unmissverständlich wurde der Verlust der einstigen Klosterzucht dafür verantwortlich gemacht, dass die Ordensschwestern ihr Kloster verlassen mussten. Verletzungen des Keuschheitsgelübdes wurden allegorisch, aber unmissverständlich angedeutet. Es ist eindeutig belegt, dass Talleute ihre Geistlichkeit gelegentlich des Bruchs des Keuschheitsgelübdes bezichtigten. Sie äusserten solche Vorwürfe besonders in jener Zeit, als sie sich mit Abt Jakob Benedikt Sigerist (1603–1619) zerstritten. Derselbe Abt lastete umgekehrt Talleuten an, dass sie sich nicht an die Frauenklausur hielten. Es war dabei kaum Zufall, dass Sigerist ausgerechnet Angehörige jener Gerichtsfamilien bezichtigte, die ihm übel gesinnt waren.142 Die Verleumdungen fielen auf beiden Seiten heftig aus und blieben wohl noch eine ganze Weile in Erinnerung. Letztlich ist also unerheblich, ob die späte Sage des 19. Jahrhunderts tatsächlich auf frühere Überlieferungen zurückging oder lediglich Gemeinplätze aufnahm. Zur Zeit der Klosteraufhebung stritt man sich nachweislich über Verletzungen der Frauenklausur. Es ist durchaus möglich, dass diese Gerüchte spätere Erzählungen nährten. Der Klosterbrand vom 29. August 1729 war ebenfalls ein bedeutsames Ereignis der Talgeschichte. Der Brandverlauf wurde wohl viele Jahre lang von Augenzeugen erzählt bzw. von Unterrichteten nacherzählt.143 Besonders denkwürdig mochte die Erzählung sein, wie Talleute die Gebeine des heiligen Eugen vor dem zerstörerischen Feuer gerettet hatten. Mehrere Männer hatten zunächst versucht, in die Turmkapelle einzudringen, wo die heiligen Gebeine aufbewahrt wurden. Doch ein verschlossenes Eisengitter hatte sie daran gehindert. Als die Flammen noch stärker wüteten, nahmen zwei Talleute namens Eugen (!) allen Mut zusammen, um die Gebeine ihres Namensheiligen zu retten. Und tatsächlich gelang es ihnen, bis in die Turmkapelle vorzudringen: Als die Talleute zum Eugensaltar vorstiessen, fanden sie zunächst nur glühende Asche vor. Doch darunter kamen einige unversehrte Gebeine des Heiligen zum Vorschein. Die beiden Männer trugen voller Stolz die Gebeine aus der Kirche, und man darf annehmen, dass sie bis an ihr Lebensende von ihrer Heldentat erzählten. Eher peinlich war es hingegen den 141 Vgl. Lütolf (1976: 372). Zur Nidwaldner Familie von Matt, von der Lütolf vermutlich die Sage erfuhr, vgl. etwa HBLS 5.49–50. 142 Vgl. Ledergerber (1968: 3, 15). 143 Vgl. den ausführlichen Brandbericht Ildephons Straumeyers, übersetzt bei Tomaschett (2007: 491–492).

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Geistlichen, dass sie es nicht fertiggebracht hatten, das Allerheiligste rechtzeitig aus dem verschlossenen Tabernakel zu retten. Innerhalb einer Stunde stand das gesamte Klostergeviert in Flammen. Das Feuer hatte leichtes Spiel, hatte doch „die Sonne bereits zehn Tage lang alles mit ungewöhnlicher Hitze versengt“. Doch fing wirklich alles Feuer, was in der Nähe lag? Merkwürdig war ferner, dass auf dem unmittelbar an die Kirche anstossenden Friedhof einige Blumenkränze auf Gräbern von verstorbenen Jungfrauen unversehrt blieben, während ansonsten der Boden selbst zu brennen schien.

Das Feuer griff alles an, doch den Blumenkränzen der verstorbenen Jungfrauen konnte es nichts anhaben. Die Jungfrauen, deren Blumen (d.h. Jungfräulichkeit) zeitlebens nicht verblüht waren, hatten ihren Grabesschmuck trotz der wütenden Flammen bewahrt. Der Klosterbrand regte noch im 19. Jahrhundert Sagenerzählungen an. So berichtete Alois Lütolf von der Sage, dass der Klosterbrand von einer Hexe verursacht worden sei. Es sollte sich um Elisabeth Bosshart gehandelt haben, die 1737 tatsächlich auf einem Scheiterhaufen in Zug verbrannt worden war.144 Gewiss, der Klosterbrand war von Feuerwerkskörpern ausgegangen, die Klosterschüler gebastelt und angezündet hatten. Doch Bosshart war dafür verantwortlich, dass die Raketen in die falsche Richtung geflogen und den Klosterbrand verursacht hatten. Als man darauf den Brandherd bemerkte, habe man Sturm läuten wollen, um die Talleute zur Brandbekämpfung herbeizurufen. Doch Bosshart habe die Glocken verstummen lassen, was das Sturmläuten verunmöglichte. Einzig die grosse Glocke habe sich kraft ihres Segens läuten lassen, was allerdings vergeblich gewesen sei, da die Talleute das Zeichen nicht zu deuten wussten. Beruhte diese Sage auf zeitgenössischer Überlieferung? Wohl kaum. Erstens hatten nicht Klosterleute den Brand zuerst entdeckt, sondern Talleute. Diese waren unverzüglich zur Kirche aufgebrochen, wo sie sogleich Sturm läuteten. „Das ganze Tal bemerkte die Flammen“, ehe die verantwortlichen Klosterschüler das Feuer überhaupt wahrnahmen. Zur selben Zeit befanden sich die meisten Konventualen ausserhalb des Klosterbezirks. Als sie aber „das aussergewöhnliche Glockengeläut“ vernahmen, eilten alle unverzüglich zum Kloster zurück. Wer den Klosterbrand selbst erlebt hatte, kannte diesen Ereignisablauf ganz bestimmt. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie sich Talleute jener Zeit eine Sage erzählt hätten, die den eigenen Erlebnissen so offenkundig widersprach. Es liegt auf der Hand, dass die Hexengeschichte erst in späterer Zeit ersonnen wurde. 144 Vgl. Lütolf (1976: 206–207), zu Elisabeth Bosshart vgl. Bader (1945: 127).

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Das Hochtal wurde gelegentlich von zerstörerischen Überschwemmungen heimgesucht. Hochwasser brachte Verwüstungen mit sich, die das Leben mancher Talleute nachhaltig veränderten. Wer ein solches Schadensereignis miterlebte, vergass es zeitlebens nicht. Strömender Regen liess am 2.  Juli 1660 die Bäche stark anschwellen. Der Dürrbach war bereits über die Ufer getreten und hatte mehrere Brücken fortgerissen. Da beschlossen die Dorfoberen, eine Prozession zum entfesselten Wildbach zu unternehmen. Man nahm dazu die Gebeine des heiligen Eugen mit, die erst vier Tage zuvor – am Fest Peter und Paul (29. Juni) – ins Hochtal übertragen worden waren. Kaum hatte man die Prozession durchgeführt, liess der Regen nach: Der Wasserpegel sank, und die Bäche flossen in ihr Bett zurück. Das schlimmste Hochwasser seit Menschengedenken erlebte das Hochtal am 8.  Juli 1762. Weite Teile des Niederbergs standen vollständig unter Wasser, der Schwybogen beim Talausgang hielt den abfliessenden Wassermassen kaum mehr stand. Abt Maurus Zingg liess darauf das Allerheiligste auf dem Eugensaltar zur Anbetung freisetzen. Am folgenden Tag wurde das Heilige Kreuz zum Dürrbach getragen und ein Bann über die entfesselten Wassermassen gesprochen. Bald darauf ging das Hochwasser zurück.145 Am 9. August 1831 kam es erneut zu schweren Überschwemmungen. In der Löcherflue schoss das Wasser mit solchem Druck aus dem Gebirge, dass dort wagrechte Wassersäulen „wie Saghölzer“ herausspritzten. Erneut zogen Konvent und Talvolk mit dem Heiligen Kreuz und den Gebeinen des heiligen Eugen aus, um vor Ort einen Segen zu sprechen. Augenzeugen berichteten später, dass Wasser habe darauf nicht nur aufgehört zu fliessen, „sondern es sei in die Fluh zurückgegangen“. Dies berichtete zumindest Rosa Amstutz (1808–1866) ihrer Tochter Anna Amrhein. Eine Votivtafel erinnerte später in der Klosterkirche an das wundersame Ereignis. Als die Gewässer 1846 den Talboden überschwemmten, wurde erneut eine Prozession zum Dürrbach veranstaltet. Dieses Mal lief Anna Amrhein als siebenjähriges Mädchen selbst mit. Es machte der kleinen Anna gehörig Eindruck, als sich der damalige Abt Eugen von Büren (1822–1851) zum reissenden Bach begab: Zwei Talbürger hielten den Abt fest, als er nacheinander das Heilige Kreuz und die Gebeine des heiligen Eugen ins Wasser tauchte und den Segen sprach. Lustig fand das Mädchen hingegen, dass ein Laienbruder dem Heiligen Kreuz

145 Zu den Überschwemmungen von 1660 und 1762, vgl. ChE, Ignaz Hess‘ Manuskript »Der Leib des heiligen Märtyrers Eugenius und seine Verehrung in Engelberg« von 1894.

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einen Regenschirm umgebunden hatte, um das Heiligtum vor der Witterung zu schützen.146 Lange währte auch die Erinnerung an den Waldbrand vom 3. Juni 1830. Damals waren zwei Klosterknechte beauftragt worden, auf der Klosteralp Fang Unkraut abzubrennen. Der Föhnwind blies an diesem Tag heftig, was die Knechte allerdings nicht von ihrer Arbeit abhielt. Kaum aber war das Unkraut entzündet, brannte auch schon der umliegende Wald. Löschversuche blieben vergebliche Mühe. Zufällig fuhr damals Abt Eugen von Büren die Landstrasse hinauf, als er das Unglück erblickte. Der Abt fiel auf die Knie, rief den heiligen Eugen an und gelobte die Stiftung einer Votivtafel, falls dieser dem Feuer Einhalt gebiete. Der Abt versprach dem Heiligen auch, fortan stets einen Rosenkranz zu beten, wenn er auf der Bergstrasse ginge. Das Feuer erlosch bald darauf. Diese Ereignisse berichteten die Knechte noch viele Jahrzehnte später, als sie bereits im Altenheim lebten.147

c) Persönlichkeiten Prägende Menschen mochten Erzählungen auf ähnliche Weise anregen, wie es Landschaft und Ereignisse taten. Familiengeschichten, d.h. die Erlebnisse und Taten der eigenen Vorfahren, wurden gewiss häufig erzählt. Allerdings wurden Erinnerungen in manchen Familien besonders gepflegt. Zu diesen gehörte im 19. Jahrhundert sicherlich die Familie Magnus Amrheins (1761–1846). Die Hofstatt der Familie lag in der Mühlematt, wo auch Magnus‘ wohlbekannter Vater gelebt hatte: Gerichtsherr Sepp Anton Amrhein (1716–1802), der reichste Talmann seiner Zeit. Das beste Gedächtnis hatten in der Familie Amrhein allerdings nicht die männlichen, sondern die weiblichen Familienangehörigen. So war Magnus‘ Tochter Rosa Amrhein (1791–1865) bzw. »s’Mühlematt-Rosi« geradezu das lebende Gedächtnis des Hochtals. Rosa „sei eine lebende Chronik gewesen“, berichtete später ihre Nichte Anna (1839–1921), von der schon mehrfach die Rede war. Anna erfuhr auch von ihren übrigen Tanten vieles, was die Geschichte des Hochtals und der Familie betraf. Ihre Mutter Rosa Amstutz (1808–1866) berichtete ihr ebenfalls manche Erinnerung.148

146 Zu den Überschwemmungen von 1831 und 1846, vgl. in ChE den Brief Anna Amrheins vom 18.01.1895. 147 Vgl. den Brief Anna Amrheins vom 18.01.1895. 148 Vgl. den Brief Anna Amrheins vom 18.01.1895 und die handschriftlichen Bemerkungen Ignaz Hess’.

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Im Alter wurde Anna bzw. »s’Mühlematt-Nänni« selbst zum lebenden Geschichtsbuch des Hochtals:149 Wer etwas über die jüngere Geschichte Engelbergs erfahren wollte, befragte Anna. Auch gelehrte Klosterherren scheuten sich nicht, die kundige Talbürgerin um Auskünfte zu bitten. So wusste z.B. Anna von ihrer Tante, dass diese in der Klosterkirche noch Passionsspiele gesehen hatte. Die Spiele waren bei der Geistlichkeit allerdings in Vergessenheit geraten. Annas Aussagen bestätigten sich jedoch, als man im Kloster eine Geisselsäule und ein hölzernes Kreuz auffand, die bei diesen Aufführungen eingesetzt wurden.150 Auch dieser Fall zeigt, wie Talleute sich bisweilen an Begebenheiten erinnerten, welche die schriftkundigen Klosterherren zwischenzeitlich vergessen hatten. Das Beispiel der Familie Amrhein belegt, wie Erzählungen unter Familienangehörigen vermittelt und zugleich von bestimmten Erzählerinnen bzw. Erzählern geprägt wurden. Die Lebensgeschichte Franz Wasers (1722–1792) erhellt ihrerseits, wie eine prägende Persönlichkeit – über ihren Tod hinaus – in Erinnerung bleiben konnte.151 Der junge Franz hatte keine einfache Kindheit: Sein Vater war arm, litt an Schwermütigkeit und arbeitete kaum. Die Mutter verfügte zwar über einen kleinen Besitz, aber sie musste sich alleine um den Hof und die vier Kinder kümmern, deren jüngstes Franz war. Dieser kam als 13-jähriger Bursche in die Klosterschule, doch er zeigte vorerst keine besondere Begabung. Wie also gelang es Franz vier Jahre später, als Novize ins Kloster Einsiedeln einzutreten? Spätere Familienüberlieferungen beantworteten die Frage auf ihre Weise. Manche waren der Meinung, dass sich Franz gebessert hatte, sobald er Messdiener geworden war. Nach einer kühneren Erklärung hatte Franz’ Mutter einst eine Erscheinung gehabt, als sie ihren jüngsten Sohn noch im Leibe trug. Auf dem Weg zur Frühmesse sollte ihr eine wunderliche Gestalt erklärt haben, sie werde soviel Zeit im Fegefeuer verbringen, wie zwischen der Geburt ihres kleinen Franz und seiner Primiz (d.h. seiner ersten Messfeier) verstreichen werde. Die Sage ging auf den verbreiteten Glauben zurück, dass eine Primizfeier erlösende Kraft besässe.152 Franz‘ Mutter durfte diese Primizfeier allerdings nicht mehr erleben: Sie starb an Wassersucht, als ihr jüngster Sohn erst 14-jährig war. Körperliche Leiden plagten den jungen Franz derart, dass ihn der Einsiedler Konvent als Novizen abwies. Als Franz 1743 den Engelberger Konvent um Auf149 Eine photographische Abbildung von 1865 zeigt die 26-jährige Anna in der Ledigentracht, vgl. Heierli (1922: 81, Abb. 60). 150 Vgl. Hess (1943b: 14). 151 Zu den folgenden Ausführungen, vgl. Hess (1945a: 55–71). 152 Vgl. Ranke (1911), insbesondere dessen abschliessende Bemerkungen (72–74).

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nahme bat, fiel der günstige Entscheid nur knapp aus. Ein weiterer Schicksalsschlag folgte, als Franz‘ Vater im Frühjahr 1745 verstarb. Endlich durfte Franz im selben Jahr seine Priesterweihe und seine Primiz feiern. Ab diesem Zeitpunkt sollte Franz – besser bekannt als Pater Magnus Waser – die Geschichte des Hochtals für fast ein halbes Jahrhundert mitprägen. Im Verlauf seines Lebens bekleidete Magnus – mit Ausnahme der Abtswürde – jedes klösterliche Amt. Er leitete während 22 Jahren fast ohne Unterbruch die Pfarrei Engelberg – eine Amtszeit, die bis ins 20. Jahrhundert ungeschlagen blieb. Über eine Zeitspanne von 24 Jahren wirkte Magnus als Kanzler der Freien Herrschaft. Von den 21 Talprotokollbänden, die zwischen 1580 und 1798 geschrieben wurden, tragen sechs seine Handschrift. Es handelt sich zugleich um die genauesten und inhaltsreichsten Bände des gesamten Bestands. Ferner bereinigte Magnus nicht nur die umfangreichen Gültprotokolle, sondern besorgte auch die längst fällige Überarbeitung des Talbuchs. Für die Talleute war Magnus als Pfarrer und Kanzler während fast eines Vierteljahrhunderts die Anlaufstelle schlechthin, gleichgültig ob in religiösen, geschäftlichen, rechtlichen oder politischen Belangen. Es hatte gute Gründe, wenn man später auf Magnus die paulinischen Worte bezog: „Allen ist er alles geworden.“153 Im Hochtal fand kaum ein wichtiges Ereignis statt, ohne dass er anwesend gewesen wäre. Zudem hätte Abt Leodegar Salzmann (1769–1798) seine schwierige Amtszeit kaum so glimpflich gemeistert, wenn Magnus nicht regelmässig zwischen Kloster- und Talleuten vermittelt hätte. Als Magnus am 4.  Mai 1792 verschied, starb mit ihm der bedeutendste Talmann des 18. Jahrhunderts. Kann es da überraschen, dass sich das Talvolk – und besonders seine Familie – noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählend an ihn erinnerte?

II. Zauber Gelehrte gingen bis ins späte 17. Jahrhundert davon aus, dass die Schöpfung von zweierlei Kräften durchdrungen sei. Man erkannte Kräfte einerseits in den Anziehungs- bzw. Abstossungswirkungen, die zwischen den Dingen (aufgrund ihres jeweiligen Ähnlichkeitsverhältnisses) herrschten. Kräfte wurden andererseits jenen geistigen Wesen zugeschrieben, die alle Dinge beseelten. Wie sich beide Vorstellungen verbinden liessen, zeigte sich bereits an der gelehrten Erforschung des Engstlenbrunnens. Wer sich mit den Kräften in den Dingen beschäftigte, fragte bald auch nach den Möglichkeiten, dieselben zu beeinflussen. In der Gelehrtenwelt bildete sich dazu 153 Vgl. Hess (1945a: 59). Die Anspielung bezieht sich auf 1 Kor 9.22.

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seit der Renaissance des 15. Jahrhunderts ein eigentlicher Forschungsbereich heraus: die Magie.154 Es handelte sich dabei – vereinfacht ausgedrückt – um eine wissenschaftliche Disziplin, die eng mit der Entstehung moderner Naturwissenschaft verknüpft war. Nun lässt sich auch am Beispiel des frühneuzeitlichen Engelbergs beobachten, wie magisches Gelehrtenwissen allmählich bis zur breiten Bevölkerung vordrang. Allerdings kam die Vermittlung über verwinkelte Wege zustande. Ferner war den einfachen Leuten kaum an hochgelehrten Zusammenhängen gelegen, sondern vielmehr an den Anwendungsmöglichkeiten der Magie: Wie liessen sich die Kräfte in den Dingen beeinflussen? Was man von der Magie erfuhr, wurde den eigenen Lebensumständen und –bedürfnissen angepasst und mit der eigenen Lebenserfahrung angereichert. Magisches Wissen verschmolz dabei mit volkstümlichen Vorstellungen, die nicht selten kirchlichen Ursprungs waren: Kirchliches Wissen war seit alters ähnlichen Aneignungsvorgängen unterworfen wie die Magie. Auf diese Weise veränderten sich die vermittelten und angeeigneten Inhalte selbst.155 Dieses angepasste und zugleich angereicherte Wissen sei hier Zauber genannt. Die folgenden Ausführungen gehen zwei Erscheinungen des Zaubers nach, nämlich (a) dem Schatzgräberwesen und (b) dem Hexereiwesen.

a) Schatzgräberwesen Wie wurde magisches Wissen vermittelt, und wozu eigneten sich einfache Leute dieses Wissen an? Engelbergs Schatzgräberwesen gibt diesbezüglich aufschlussreiche Hinweise. So suchten viele Schatzsucher seit dem späten 17.  Jahrhundert ihr Glück im sogenannten Arniloch, einer Felshöhle oberhalb der gleichnamigen Alp. Die Höhle wurde europaweit bekannt, als der jesuitische Gelehrte Athanasius Kircher 1678 in seinem berühmten Werk über die »Unterirdische Welt« auf sie einging. Er gab darin einen Bericht wieder, den ihm Georg Loretus – ein unbekannter Gelehrter – zugespielt hatte. Loretus beschrieb in seinem Bericht, wie er am 6. Mai 1667 zum Arniloch aufgebrochen war. In der Nähe der Höhle wollte er Stimmen gehört haben, die nicht von Menschen stammen konnten. Allerdings gelang es Loretus wegen niederstürzender Lawinen nicht, die ersehnte Höhle zu erreichen.156

154 Gemeint ist der Neuplatonismus, wie er etwa von Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola vertreten wurde. Vgl. von Greyerz (1996: 331–332). 155 Zur gelehrten bzw. geistlichen Auseinandersetzung mit Aberglaube, Magie und Zauber, vgl. etwa Harmening (1979) und Harmening (1991). Zur Aneignung gelehrten Wissens in der ländlichen Bevölkerung, vgl. u.a. Harmening (1996). 156 Vgl. Kircher (1678: 114), ferner Hartmann (1928) und neuerdings Blättler (1997).

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Loretus‘ Besuch blieb zwar erfolglos, doch verdankte ihm das Arniloch seinen Ruf in der Gelehrtenwelt. Auch im 18. Jahrhundert zog die Höhle noch Gelehrte an. So erwarb 1738 der Wolfenschiesser Gelehrte Johann Baptist Dillier (1668– 1745) das Arniloch, um dort nach Erz zu graben. Der Käufer war unter anderem Doktor der Philosophie und der Theologie, ehemaliges Mitglied des Jesuitenordens und Gründer des Kollegiums Sarnen! Wie aber hatte Loretus vom Arniloch erfahren? Gab es eine mündliche Volksüberlieferung, die den gelehrten Berichten voranging? Die Frage lässt sich schwerlich beantworten. Gewiss besichtigten im späten 17. Jahrhundert auch manche Talbewohner die wundersame Höhle. Erstmals ist ein solcher Besuch 1680 überliefert. Damals suchte der 21-jährige Ignaz Hermann im Hochtal nach Erz, und zwar unter der Anleitung seines Vaters Hans Michel. Der Sohn hatte im Grassen (östlich des Titlis) bereits etwas Gold, Kupfer und Silber gefunden, worauf er auch mehrmals das Arniloch aufsuchte. Als Hermann in die Höhle schritt, stiess er dort auf menschliche Schädel und Gebeine. Frühere Besucher hatten wohl die Knochen als Beschwörungsmittel ins Arniloch getragen. Hermann gab ferner an, er habe in der Höhle die Stimmen von sogenannten Venedigern gehört, „welche alda wol mitel [d.h. Schätze] erfinden unnd thür, solches hernach verblenden dermassen, dass ein einfältiger zuo dem rechten gespor nit khommen noch solche mitel sechen möge“. Hermann glaubte also, die berüchtigten Schatzsucher hätten die Höhlenschätze derart beeinflussen können, dass diese für das ungeübte Auge unsichtbar blieben. Ignaz Hermann war allerdings kein einfacher Bauerssohn. Sein Vater Hans Michel stammte aus dem bayerischen Unterfranken und war 1648 nach Engelberg gezogen. Sechs Jahre später heiratete Hans Michel die Tochter Andres Kusters, der von 1659 bis 1664 als Ammann amtete. Das Paar zeugte sieben Kinder und erwarb sich 1672 eine eigene Hofstatt in der Hinteregg. Hans Michel betätigte sich nebenamtlich als Scherer und Apotheker. Auch das Kloster bezog von Hans Michel regelmässig Arzneimittel. Hans Michel stellte nicht nur Heilmittel her, sondern übte sich auch im alchemistischen Handwerk: So versprach er am 4. Januar 1676 dem Wolfenschiesser Statthalter Niklaus Zumbühl und dem späteren Gerichtsherrn Niklaus Häcki vertraglich, er werde „aus 8 Loht Goldt 19 zuo ziechen“ wissen. Hermanns Verfahren blieb jedoch – sehr zum Unwillen seiner Vertragspartner – erfolglos.157 Hans Michel hatte also ein breitgestreutes Interesse für medizinische, pharmazeutische und alchemistische Fragen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich sein Wissen auch aus Büchern besorgte. Dass sich übrigens Hans Michel mit Alchemie beschäf157 Vgl. Hess (1945b: 63–70) sowie ETP 4.24–25.

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tigte, war keineswegs so abwegig, wie es aus heutiger Sicht scheinen mag. Zur selben Zeit zeigte auch Isaac Newton, der Begründer der klassischen Mechanik, ein lebhaftes Interesse an alchemistischen Fragen.158 Man kann es nun als Zufall werten, dass ausgerechnet Hans Michels Sohn der erste Talbewohner war, der das Arniloch nachweislich aufsuchte. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass der junge Ignaz von seinem Vater zur Schatzsuche angeregt worden war. Dabei konnte Hans Michel seinem Sohn wohl manchen Trick verraten, wie sich verborgene Schätze sichtbar machen liessen. Ignaz konnte seine Gänge ins Arniloch allerdings nicht geheim halten: Die Nidwaldner Obrigkeit belangte ihn deswegen noch im selben Jahr. Spätestens ab diesem Zeitpunkt stand das Arniloch auch in der näheren Umgebung im öffentlichen Gespräch. Ein anderer Fall von Schatzgräberei ereignete sich fünf Jahre später. Sieben Talleute (worunter zwei Frauen) verpassten 1685 die Karfreitagspredigt, weil sie in der Turmweid nach einem Schatz suchten. Es ist denkbar, dass die Schatzgräber nach dem sagenhaften Schatz des Heiligen Kreuzes suchten. Dem Pfarrer Athanas a Castanea war der besagte Ort wohlbekannt, „alwo von etwelchen der falsche Wahn, ob sollte aldorthen ein Schatz verborgen sein, getragen würdt“. Was am kleinen Vorfall besonders auffällt, ist der Zeitpunkt der Grabung, nämlich der Karfreitag. Unter Schatzgräbern galt der Todestag des Herrn weithin als günstiger Zeitpunkt, um nach verborgenen Reichtümern zu suchen. Die Erde hatte doch gebebt und die Felsen hatten sich gespalten, als der Herr gestorben war: War dies also nicht der rechte Zeitpunkt, um nach einem vergrabenen Schatz zu suchen? Mit urtümlicher Überlieferung hatte auch die Schatzsuche von 1685 wenig zu tun.159 Karl Sepp Geni Amrhein musste sich 1750 wegen Schatzgräberei ebenfalls vor Gericht verantworten.160 Amrhein hatte in Nidwalden nach einer Alraune gesucht, von der er erwartete, „sie köne einem gelt schaffen“. Schliesslich fand er einen Mittelsmann, der ihm diesbezüglich seine Hilfe anbot. Amrhein hatte auch einige Schriften über Schatzgräberei erworben. Dabei gab er an, die besagten Schriften den Kapuzinern von Altdorf zur Begutachtung vorgelegt zu haben: Diese hätten allerdings „nichts böses darin gefunden“ und die Schriften zurückgegeben. Amrhein nahm an einigen Grabungen in Nidwalden teil, ehe er die Suche mit drei Gehilfen in Engelberg fortsetzte. Die Gefährten waren nachts unterwegs. Amrheins Vater Hans Jakob ging mit Haselruten voran und zeigte an, wenn „sich die ruthen gebogen“ hatten. Der Obwaldner Landsmann Hans Melcher Schäli hatte eine ganze Schatzgräberausrüstung dabei: Vier Kreuze, eine Wachskerze, ein Büchlein, ein Zettel und einige Gebetsfor158 Vgl. von Greyerz (2000: 35–39). 159 Vgl. ETP 4.189. 160 Vgl. ETP 11.646–651 sowie 14.1–6.

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meln, die er „bettet, aber nit lauth“ aufsagte. Die Schatzsuche begann zunächst beim Dürrbach östlich der Ochsenmatt und wurde auf dem Gut Bernhard Feierabends, des dritten Gehilfen, fortgesetzt. Es fällt auf, dass sich ein kleiner Kreis von Schatzgräbern in der Gegend gebildet hatte. Man vermittelte sich Wissen, tauschte Ausrüstungsgegenstände und grub miteinander nach Schätzen. Offenbar waren Zauberschriften aller Art verfügbar: Seit dem späten 17. Jahrhundert hatten Auflage und Verbreitung von Magie- bzw. Zauberbüchern erheblich zugenommen.161 Dies will keineswegs heissen, dass alle Schatzgräber in diesen Büchern und Zetteln lasen: Manche liessen sich wohl daraus vorlesen bzw. kannten deren Inhalt nur vom Hörensagen. Bemerkenswert ist ferner, dass Gebete, geweihte Gegenstände und heilige Zeiten (z.B. der Karfreitag) zu Hilfe genommen wurden. Warum dies? Gelehrte Magie besass einen wissenschaftlichen Hintergrund, der ungebildeten Schichten abgehen musste. Allerdings konnten einfache Leute magisches Denken leicht in die christliche Vorstellungswelt übersetzen, die ja ihre eigene Erfahrungswelt prägte. So verschmolzen magische und christliche Vorstellungen ineinander. Dies konnte umso leichter geschehen, als auch die gelehrte Magie dem christlichen Weltbild verpflichtet war.162 Wer Zauber für möglich hielt, war noch lange nicht leichtgläubig. So konnte man sich zunächst keinen Reim daraus machen, als Reiste (d.h. Flachstuch) 1772 im Haus Geni Hess‘ plötzlich verschwand. Die Hausfrau hatte die Reiste säuberlich unter einem Bett aufbewahrt. Da bot Jakob Geni Hurschler der ratlosen Frau seine Hilfe an: „Er wolle selbe [Reiste] widerum führen thuen und machen, dass sie zuruckh komme, wan sie, des Genelis frauw, ihme einmahl in Horbis gehe; es werde wohl eine frauw mit einem grossen bauch darmit kommen.“ Hurschler wollte also die Reiste wieder an ihren alten Ort zwingen und erwartete dafür, dass die Frau für ihn wallfahrten gehe. Die Beteiligten verstanden das Angebot Hurschlers mühelos. Offenbar war auch in Engelberg die Meinung verbreitet, dass sich ein Dieb durch einen Zauberspruch aufhalten liesse. Derartiges Zaubern nannte man Bestellen (b’schtellä). Anderweitig hiess es, ein Übeltäter liesse sich durch einen Bannspruch steif und regungslos machen: Dies sollte durch sogenanntes Gefrieren (g’frörä) geschehen.163 Damals war die Vorstellung, dass sich Dinge aus der Ferne beeinflussen liessen, durchaus nicht 161 Vgl. dazu Daxelmüller (1985) und Daxelmüller (1993). Für das frühneuzeitliche Luzern, vgl. Jäggi (1993). 162 Vgl. von Greyerz (2000: 21–41). 163 Vgl. SI 1, 1315 sowie 11.186–189. Ferner Kuster (1848: 7).

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abwegig. Auch Gelehrte gingen davon aus, dass sich ein Ding beeinflussen liesse, indem man auf ein anderes Ding einwirkte, das ihm ähnlich war.164 Kurze Zeit später fand man den Stoff tatsächlich an seinem alten Platz wieder, nur in viel geringerer Menge. Hatte nun Hurschler den Stoff tatsächlich zurückgezaubert? Das sahen manche Beteiligte anders:165 Müsste hiermit Jacob unerlaubt und abergleübescher mittel sich bedienet haben, sothanne reisten [d.h. Stoff ] an sein voriges ohrt zu bringen, oder, welches gar vill wahrscheinlicher [sic!], er selbsten solche weg- und fortgenommen, hiermit freilich wohl machen können und sollen, dass sie zuruckh gestelt wurde.

Man schloss zwar Zauber nicht aus, rechnete aber gleichwohl eins und eins zusammen. Auf jeden Fall ist bemerkenswert, dass zwischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit des Zaubers unterschieden wurde.

b) Hexereiwesen Im Hochtal bediente man sich also des Zaubers, um wertvolles Gestein zu entdecken, um Schätze aufzuheben oder Diebe dingfest zu machen. Zauberwissen liess sich aber auch unlauteren Zwecken dienstbar machen. Unrechter Zauber und arglistige Geisterbeschwörungen wurden von der Obrigkeit schon verfolgt, ehe sich der gelehrte Hexereibegriff in den 1430er Jahren herausbildete. Immer wieder hatte die Obrigkeit bestimmt, was verbotenes Tun darstellte, und nach entsprechenden Verstössen geforscht – mit der unbeabsichtigten Folge, dass Zauberwissen genau dadurch einfachen Leuten beständig vermittelt wurde: Daraus folgten ständige Wechselwirkungen zwischen gelehrten und volkstümlichen Zaubervorstellungen.166 Wäre das volkstümliche Zauberwissen nur mündlich überliefert worden, hätte es sich angesichts der geringen Leistungsfähigkeit mündlicher Überlieferung, von der später die Rede sein wird, bald verflüchtigt.167

164 Zur Sympathie bzw. zum Sympathiezauber, vgl. WdA, 402–403. 165 Vgl. ETP 14.510–511. 166 Vgl. Harmening (1996). 167 In der neueren Hexenforschung wird zwar das volkstümliche Zauberwissen gelegentlich mit vorchristlichen, mythologischen Wurzeln in Verbindung gebracht, ohne dass jedoch die Überlieferungsfrage geklärt würde, vgl. etwa Labouvie (1991: 57–67).

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In den 1430er Jahren vermengten Gelehrte das Zaubervergehen mit der Vorstellung des Teufelsbundes, den man bisher nur Ketzern vorgeworfen hatte.168 Aus dieser gedanklichen Verschmelzung ging der Hexereibegriff hervor, der unter Gelehrten bis ins 17. Jahrhundert Zustimmung erfuhr.169 Einfache Leute erfuhren von der neuen Vorstellung nicht nur über die Kanzel und die Beichtstühle, sondern vor allem über die Gerichtssäle.170 Nur allmählich wurde der gelehrte Hexereibegriff volkstümlich: In seinen Anfängen war er es keineswegs gewesen. Es lässt sich kaum mehr bestimmen, wann man in Engelberg vom neuen Hexereibegriff erfuhr. Talleute gebrauchten das Wort »Hexe« spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert. Es ist unwahrscheinlich, dass sie dem Wort zu diesem (verhältnismässig späten) Zeitpunkt eine Bedeutung zulegten, die vom neuen Hexereibegriff gänzlich unbeeinflusst war.171 Hexereivorwürfe wurden seit 1615 regelmässig vor Gericht geäussert. Erhellend ist allerdings, in welchen Zusammenhängen solche Klagen geführt wurden. So traten Balzer Dillier und Melcher Schleiss 1615 wegen eines Schuldenstreits vor Gericht. Schleiss berichtete dabei, wie Dillier seiner Frau ein Kleid angeboten hatte, um sie willig zu machen. Der erzürnte Ehemann führte aus, was ihm seine Frau berichtet hatte:172 Das[s] er Aman [d.h. Balzer Dillier] sin Frauw, da sie den Rockh wellen nemmen, zimlicher massen angeredt, wann sy Melches Frauw thun welle, was er welle, so welle er iren den Rockh schenckhen. Item [habe seine Frau berichtet,] er Aman habe die Leüt beschissen unnd betrogen. Haruff Aman sagt, so sy das redt, syge sie gwiss ein Hex.

In einer späteren Verhandlung wiederholte der Beschuldigte gegenüber Schleiss, „so sin Frauw rede, das[s] er sie zue Unehren angetastet, sige sie so gewiss ein Hex“. Das

168 Andreas Blauerts Arbeiten haben entscheidend zu dieser Erkenntnis geführt, vgl. u.a. Blauert (1990) und Blauert (1995). Hilfreich auch Ostrero u.a. (1999) und Tschacher (2000). 169 So verfasste Jean Bodin, der das neuzeitliche Staatsrecht mitbegründete, noch 1580 eine umfangreiche Arbeit über die Hexerei, die »Démonomanie des sorciers«. Vgl. ferner Harmening (1991), dessen Arbeit den bezeichnenden Untertitel trägt „Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute“. 170 Zu den Anfängen gerichtlicher Hexenverfolgungen vgl. Paravy (1979), Tremp (1991) und Andenmatten/Tremp (1992). 171 Der gelehrte Hexereibegriff verbreitete sich gerade im schweizerischen Gebiet verhältnismässig früh, vgl. Blauert (1990). 172 Vgl. ETP 1.197 und 1.201–202.

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Wort »Hexe« war hier eindeutig als schwere Beleidigung gedacht, aber beinhaltete es mehr? Margaretha Hurschler bezichtigte 1616 Anna Schwändi der Ehrverletzung. Schwändi hatte angeblich Hurschler als »Hexe« und »Kindsverderberin« gescholten, was die Beschuldigte jedoch leugnete. Am selben Tag klagte Jakob Hurschler ebenfalls gegen Anna Schwändi, weil sie seinen Schwiegersohn verunglimpft hatte. Sie hatte diesen verdächtigt, sich mit der bereits genannten Margaretha Hurschler eingelassen zu haben. Insgesamt sagte Schwändi ihrer Widersacherin sechs oder sieben Liebhaber nach. Wer übrigens Schwändis Meinung nicht teilte, wurde von ihr bald als »Ketzer« beschimpft. Das Gericht schenkte Schwändis Worten keinen Glauben, rügte sie wegen ihrer „Leichtfertigkeit und unbescheidenen Worten“ und verwies sie aus dem Tal. Die Gerichtsherren sahen in den Vorwürfen von Hexerei, Kindstötung und Ketzerei offenbar blosse Schmähworte.173 Hans Amrhein musste sich 1618 vor Gericht verantworten, weil er seine eigene Stiefmutter tätlich angegriffen und bedroht hatte. So hatte Amrhein174 iren getreuwet [gedroht], sie bei dem Hals erwüscht, in Sackh griffen, unnd gesagt: Het ich ein Messer, ich wolt dir die Gurgel abstechen; sie beneben auch ein Hexen, ein Hueren, und anders gescholten, iren auch getreuwet, sie müesse ime niendert [nirgendwo] sicher sein, er wolle sie uffreiben, wo er sie antreffe.

Vor Gericht gestand Amrhein rasch, zog seine Aussagen zurück und entschuldigte sich förmlich. Amrhein hatte seine Stiefmutter auf alle mögliche Weisen schmähen wollen: Offenbar war hier ein Familienstreit ausgeartet. Der Vorwurf der Hexerei blieb aber – wie in früheren Fällen – unbestimmt. Das Scheltwort »Hexe« war mit anderen Schimpfweisen eng verbunden. Insgesamt zielten die Schmähungen darauf ab, die angegriffenen Frauen als unzüchtig und niederträchtig hinzustellen. Wenn man einer Frau ein so boshaftes Wesen zuschrieb, dann mutete man ihr auch zu, Schadenszauber zu betreiben. Dies legte etwa der Vorwurf der Kindstötung nahe. Allerdings wurden den Frauen kaum handfeste Taten angelastet. Wenn also eine Frau als Hexe gescholten wurde, sollte dies wohl meistens heissen, sie sei zur Hexerei fähig. Ein ähnlicher Gerichtsfall ereignete sich noch am 17. März 1628, wobei wiederum Margaretha Hurschler von einer anderen Talfrau als Hexe beschimpft wurde.175 173 Vgl. ETP 1.215–216. 174 Vgl. ETP 1.271–272. 175 Vgl. ETP 2a.93–93b.

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Erneut legte das Gericht den Streit gütlich bei. In den folgenden Monaten änderten sich die Verhältnisse jedoch grundlegend. Was genau geschah, ist nur bruchstückhaft überliefert. Das Ergebnis war allerdings verheerend, wie ein Auszug des damaligen Sterberegisters belegt: 16. September: Elisabeth Farlimann als Hexe enthauptet und verbrannt. [Sie war] Witwe. […] 14. Oktober: Verena Amstutz, genannt Schäfer, und Anna Wyss, eine Zürcherin, als Hexen enthauptet und verbrannt. 4. November: Mit derselben Strafe sind (am selben Tag) bestraft worden Anna Schleiss, Barbara Bünti [aus Stansstad], Margaretha Hurschler und Barbara Waser. 4. D[ezember]: Mit derselben Strafe bestraft wurde Margaretha Hürlimann aus Nidwalden.

Wie kam es zum gewaltsamen Tod dieser Frauen? Ein Gerichtsfall, der sich am 20.  September 1628 ereignete, gibt aufschlussreiche Hinweise.176 Hans Matter klagte damals gegen Dorothea Bircher, weil sie seine Gattin als Hexe bezeichnet hatte – ein lebensgefährlicher Vorwurf, wenn man bedenkt, dass ein Scheiterhaufen vier Tage zuvor gebrannt hatte. Darauf erwiderte Dorothea Bircher zunächst, dass das Gericht „wol in wüssenn sige, wie man sye bezirkt [verzaubert] heige in weibel [Andres] Wasers hus“. Mit dieser Aussage stellte Bircher Wasers Ehefrau Salome Dillier unverblümt als Hexe hin. Weiter berichtete Bircher, sie sei unmittelbar nach ihrer Verhexung auf Anna Schleiss, eine Bekannte, gestossen. Da sollte ihr Schleiss erklärt haben, „dass in dem brieff, der von Stans kommen, sige in dem selben des Hans Matters fraw auch darin vernamst“. Vermutlich hatte also die Nidwaldner Obrigkeit eine Liste ins Hochtal übersandt, worin die Namen mutmasslicher Hexen verzeichnet waren. Auf diese Liste spielte Schleiss an, als sie sich mit Bircher unterhielt. Zwar bat Schleiss ihre Gesprächspartnerin, das Gehörte weiterzuverbreiten, aber zugleich wollte sie als Zuträgerin unerkannt bleiben. Bircher sollte erklären, sie habe die Vermutung von fremden Bettlern und Knechten erfahren. Weiter sollte Bircher verlauten lassen, „es wurde vil Leütt wunder nehmen, wan [d.h. ob] man die hexenzeichen bey Greti Kuster und Vreni am Reyn finden wurde“. Man kann sich gut vorstellen, wie verhängnisvoll sich solche Gerüchte auswirkten. Die angekreidete Margaretha Kuster wurde später tatsächlich verhaftet und – nebst anderen Verdächtigten – „mehrmahlen starckh und pynlich examiniert“, d.h. unter Folter befragt. Salome Dillier wurde zum Tod verurteilt, hingerichtet und verbrannt. Doch wandten sich Gerüchte auch gegen jene, die sie gestreut hatten: Dorothea Bircher endete ebenfalls auf dem Scheiterhaufen. Ebenso starben Margare-

176 Vgl. ETP 2b.14–15.

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tha Falk, Anna Flüeler und Elisabeth Wamischer. Aufgrund der bruchstückhaften Überlieferung ist durchaus möglich, dass weitere Todesurteile vollstreckt wurden.177 In jenen Jahren hatte Luzern die Schirmvogtei Engelbergs inne. Die Luzerner Regierung war umso mehr gefordert, als Abt Benedikt Keller seit 1626 seines Amtes enthoben war. Zwei Statthalter besorgten vorübergehend die äbtischen Amtsgeschäfte, nämlich Prior Plazidus Knüttel und Subprior Augustin Lang. Nun erfuhren 1628 Schultheiss und Rat von Luzern durch den damaligen Talvogt, den Luzerner Ratsherrn Ludwig Meyer, von den Geschehnissen in Engelberg. Die Luzerner Regierung wandte sich darauf schriftlich an die beiden Statthalter und an das Gericht. Die Schirmherren riefen die Engelberger Obrigkeit eindringlich zur Mässigung auf. Weiter warnten sie davor, dass Geständnisse, die unter Folter erzwungen wurden, unzuverlässig seien. Schliesslich rieten Luzerns Herren zur Freilassung der Angeklagten, wenn deren Missetaten nicht „mit gutem grundt und cundtschaften bygebracht und bewisen wärden“ könnten. Wie die Schirmherren andeuteten, hatten sich die Vorwürfe bisher nur in einem Fall – jenem einer gewissen Margaretha Stoller – erhärten lassen.178 Was hatte die Hexenverfolgungen im Hochtal ausgelöst? Vielleicht wirkten sich die nahenden Vorzeichen der Pest aus, die ab Frühsommer 1629 Engelbergs Bevölkerung dahinraffte. Doch warum blieben dann 1639 Hexenverfolgungen aus, als die Pest erneut ins Hochtal drang? Seuchen lösten nicht zwangsläufig Verfolgungen aus, was übertragen auch für Zeiten übler Witterung und knapper Versorgung galt. Weiter wäre denkbar, innere Unruhen hätten die Verfolgungen begünstigt. Doch Statthalter, Gericht und Schirmherren gingen in dieser Sache einmütig vor, was nach jahrzehntelangen Streitigkeiten nicht selbstverständlich war. Oder wurden die Hexereivorwürfe nicht schlicht und einfach erhoben, um Randständige zu verleumden und – wenn nicht zu töten – mindestens wegzudrängen? Dafür spräche, dass auswärtige bzw. alleinstehende Frauen besonders verfolgt wurden. Allerdings wurden gesellschaftliche Aussenseiter auch vor und nach jener Zeit des Hexereiverbrechens bezichtigt, ohne dass gerichtliche Verfolgungen stattgefunden hätten. Es empfiehlt sich diesbezüglich, die Hexenverfolgungen nicht vorschnell als Anzeichen irgendwelcher gesellschaftlicher Erschütterungen zu deuten. Wer im frühen 17. Jahrhun177 Vgl. neben dem Sterberegister von 1628 auch die Eheregister der Jahre 1611, 1613, 1616, 1620 und 1622. Weiter den Amtsbrief von Schultheiss und Rat der Stadt Luzern von 1628, verfügbar im Stiftsarchiv Engelberg (Cista Benedikt Keller) als Abschrift Plazidus Tanners. 178 Vgl. den oben genannten Brief der Luzerner Obrigkeit. Vermutlich gehen die ungenauen Ausführungen von Reznicek (1964: 17) auf ebendiesen Brief zurück.

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dert annahm, Geisterkräfte liessen sich tatsächlich ge- bzw. missbrauchen, war keineswegs einem rückständigen oder ungebildeten Weltbild verpflichtet. Hexerei war schlicht eine anerkannte Möglichkeit, erfahrenes Geschehen zu deuten.179 Entscheidend wirkte sich vielmehr aus, dass auch in der näheren Umgebung ähnliche Verfolgungen stattfanden. In Nidwalden wurden zwischen 1628–1631 weit über 100 Todesurteile wegen Hexerei gefällt, in Obwalden kam es allein 1629 zu 33 Todesurteilen.180 Auch die Verfolgungen in der Urschweiz standen in umfassenderen Zusammenhängen: In den Jahren 1626–1630 erreichten die Hexenverfolgungen im deutschsprachigen Raum ihren Höhepunkt.181 Es ist bemerkenswert, wie rasch sich solche übergreifenden Entwicklungen im Hochtal niederschlugen. Weiter wird verständlich, warum man in Engelberg hauptsächlich gebürtige Nidwaldnerinnen verfolgte. Beziehungen nach Nidwalden wirkten sich verhängnisvoll aus, als es ebendort zu Verfolgungen kam: Dies belegt nicht zuletzt der berüchtigte Brief aus Stans. Jedenfalls standen die Hexenverfolgungen von 1628/29 eindeutig in Bezügen, die weit über das Hochtal selbst hinausführten. Es scheint, dass später die Hexenverfolgungen in Engelberg aufhörten. Allerdings wurde noch 1667 eine Frau wegen Hexerei hingerichtet: Es handelte sich um die zweifach verwitwete Elisabeth Eichhorn. Die gebürtige Einsiedlerin lebte spätestens seit 1620 im Hochtal. Es ist wiederum bezeichnend, dass in der näheren Umgebung zeitgleich Hexenverfolgungen stattfanden.182 Hexereivorwürfe wurden auch nach 1629 regelmässig geäussert, wenn alltägliche Streitigkeiten ausgefochten wurden. Das Gericht beachtete die Vorwürfe allerdings kaum. Erhellend ist ein Streit, den zwei Männer – vermutlich Knechte – 1635 vor Gericht austrugen. Die Streithähne bemühten sich schon seit längerer Zeit, sich gegenseitig in Verruf zu bringen. Einer versuchte gar, Dritte zu bestechen, damit sie seinem Widersacher eine erfundene Schmähung in den Mund legten. Die Besto-

179 Eine glänzende Untersuchung hat diesbezüglich De Certeau (2005) geleistet. 180 Zu Obwalden vgl. Diethelm (1925). Über die Nidwaldner Hexenverfolgungen ist bisher keine Darstellung publiziert. Hansjakob Achermann hielt am 23.05.2003 als Nidwaldner Staatsarchivar einen öffentlichen Vortrag zum Thema „Hexen und Hexer in Nidwalden“. Der Vortragstext sowie die zusammengestellten Quellenbelege sind im Staatsarchiv Nidwalden einsehbar. Zu den Hexenverfolgungen in Schwyz, vgl. Dettling (1907). Zu Luzern vgl. Schacher (1947). Für die gesamte Schweiz ist Bader (1945) immer noch die einzige Gesamtdarstellung, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. 181 Vgl. etwa Behringer (2000: 53–57). 182 Vgl. den Eintrag im Sterberegister vom 13.07.1667, ferner den Eintrag im Eheregister von 1620. Zu den Verfolgungen in Obwalden, vgl. Diethelm (1925: 35–36).

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chenen sollten behaupten, sein Gegner habe ihn bezichtigt, eine Kuh verhext zu haben. Der Bestecher kaufte sich also einen Hexereivorwurf geradezu ein!183 Kaspar Schlosser musste sich 1640 verantworten, weil er die Gattin des äbtischen Kämmerers als Hure und Hexe beschimpft hatte. Dabei stellte sich heraus, dass die Geschmähte zuvor ein unzüchtiges Angebot Schlossers zurückgewiesen hatte. Schlosser hatte also die Frau geschmäht, weil sie sich ihm verweigert hatte. Das Gericht durchschaute den Sachverhalt rasch.184 Hexereivorwürfe verlauteten auch 1646, als sich drei Talleute heftig zerstritten. In der Folge gerieten auch deren Ehefrauen, Kinder und Gesindekräfte aneinander. Anfänglich war man in Streit geraten, weil Hausrat verschwunden, fremde Kühe gemolken und Marchgrenzen überschritten worden waren. Als auf der einen Seite das Schimpfwort »Katzenheiler« fiel, antwortete die andere Seite mit Schmähungen wie »Hexenmeister« und »Hexe«. Auch dieses Mal versuchte das Gericht, den Streit gütlich beizulegen.185 Katharina Kuster und ihre Tochter Anna Maria Sutter erschienen 1682 wegen eines Familienstreits vor Gericht. Die Tochter hatte kürzlich ihre Mutter heftig gescholten und „sie mit unanständig- und lästerlichen Wortten angefallen und sie geheissen in aller 100‘000 Teüflen Namen us dem Haus gehen, sie seye die faülste Hex“. Die Tochter wollte gar wissen, dass Pfarrer Athanas a Castanea ihrem Mann einst abgeraten hatte, sie zu heiraten. Der Pfarrer sollte gefragt haben, „ob er das Meitli heürathen wolle, wan schon die Alte, als die Muotter, ein Hex seye“. Der Pfarrer bezeichnete diese Aussage als Lüge. Wiederum ging das Gericht nicht auf den Hexereivorwurf ein.186 Hexereivorwürfe wurden 1713 auch gegen Anna Margaretha Förnet erhoben. Die gebürtige Feusisbergerin kam in schweren Verruf, als man von zahlreichen Unzuchtsfällen erfuhr, die sich in ihrem Haus in der Wetti ereignet hatten. Die 45-jährige Ehefrau selbst hatte sich mit mehreren Jünglingen eingelassen. Förnet wollte sich der Burschen erbarmt haben, die bekanntlich „Schmertzen leiden, wan sie gern bey einem Weibsbild währen und nit zukhomen khönnten“. Sie hielt ihr Verhalten nicht für Sünde, da sie „ohnediss noch ihrem Mann gnueg gethan und die ehliche Pflicht mit ihme verrichtet“ hatte. Förnet berichtete nebenbei von einer Ennetmooserin, die für trieblustige Burschen (insbesondere Soldaten) lindernde Tränke herstellte.

183 Vgl. ETP 2b.174–176, siehe auch ETP 2b.87–88. 184 Vgl. ETP 2b.277–279. 185 Vgl. ETP 2b.420–422. 186 Vgl. ETP 4.148–150, ferner auch ETP 5.76–77.

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Sepp Zniderist gehörte zu den Burschen, die Förnet verführt hatte. Seine Mutter Magdalena Riget, eine gebürtige Artherin, hatte ihren Sohn eindringlich vor Förnet gewarnt. So berichtete der Sohn, seine Mutter habe ihm erklärt, Förnet „habe nit Augen wie anderleüth und khönne uf dem Steckhli darvonreiten, nüd Schöners“. Der Sohn verhielt sich gegenüber den Aussagen seiner Mutter eher ungläubig, wie die zweifelnde Schlussbemerkung („nichts Schöneres“) nahelegt, die aufgrund ihrer mundartlichen Färbung gewiss von Zniderist selbst stammte. Riget stand später zu ihrer Aussage, Förnet „seye ein halbe Hex“. Gleichwohl räumte sie ein, von keinem Hexenwerk Förnets zu wissen. Das Gericht beachtete die Vorwürfe nicht weiter.187 Das Gericht befasste sich im 18. Jahrhundert kaum mehr mit Hexereivorwürfen, soweit es sich nicht um leere Schmähungen handelte. Allmählich verschwand der Hexereibegriff aus dem öffentlichen Leben. Was also hatte Hexerei rückblickend für die Talleute bedeutet? Die Frage lässt sich nur sinnvoll klären, wenn man die Lebensumstände einbezieht, in denen Hexereivorwürfe geäussert bzw. eingesetzt wurden. Drei Überlegungen seien hier angestellt. Erstens wurden Hexereivorwürfe oft geäussert, nachdem alltägliche Streitigkeiten zu offener Feindschaft ausgeartet waren. Wenn sich Familienangehörige, Nachbarn oder Bekannte schwer zerstritten, folgten unvermeidlich wechselseitige Beschimpfungen. Wer unter solchen Umständen einen Hexereivorwurf erhob, zielte auf die öffentliche Beleidigung der Gegenpartei. Es ging dabei kaum um die Anprangerung bösen Zaubers: Der Hexereibegriff blieb in solchen Fällen merklich inhaltslos. Wer zweitens eine Frau der Hexerei bezichtigte, wollte diese oft nicht bloss beleidigen, sondern vor allem in ihrer Geschlechtsehre angreifen. Wer sich z.B. derart unzüchtig verhielt wie Anna Margaretha Förnet, wurde fast zwangsläufig als Hexe verdächtigt. In solchen Fällen war Hexerei gleichbedeutend mit Unzucht und Hurerei. Zauber spielte wiederum nur eine untergeordnete Rolle: Allenfalls mochte die weibliche Verführungskraft der Beschuldigten unnatürlich erscheinen. Es fällt ferner auf, dass sich die entsprechenden Vorwürfe nicht nur gegen Frauen richteten, sondern oft auch von Frauen ausgingen. Frauen hatten ebenfalls klare Vorstellungen davon, worin weibliche Ehre bestand. Mit Hexereivorwürfen verteidigten sie ihren Begriff von Sittlichkeit. Drittens war von Schadenszauber selten die Rede. Gewiss, wer eine Frau der Hexerei verdächtigte, mutete ihr solches Tun durchaus zu. Allerdings waren Klagen über erfolgten Schadenszauber ziemlich unüblich. Gewöhnlich war das Gericht nicht bereit, Ermittlungen über allfälligen Schadenszauber aufzunehmen. Die Hexenverfolgungen von 1628/29 und 1667 bildeten diesbezüglich klare Ausnahmen. 187 Vgl. ETP 7.366–405, 7.521–534 sowie 7.545–546.

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In beiden Fällen hatte es jedoch eines äusseren Anstosses bedurft: Erst auswärtige Ereignisse hatten die Talschaft daran erinnert, dass böser Zauber tatsächlich geübt wurde und das Gemeinwesen bedrohte. Ferner ist bezeichnend, dass vor allem Randständige verfolgt wurden. Auswärtige und alleinstehende Frauen waren besonders ausgesetzt. Feindselige Gefühle richteten sich offenbar gegen jene, die gesellschaftlich eher lose eingebunden waren. Wer des eigentlichen Hexereiverbrechens bezichtigt wurde, war vermutlich schon früher aus dem gesellschaftlichen Netzwerk gefallen. Der Hexereiverdacht begründete hier die Ausschliessung nicht, sondern besiegelte sie nur. Schlimmstenfalls führte er die Betroffenen dem Richtschwert zu. Die Talleute verfügten über einen Hexereibegriff, der sich vom gelehrten Bild der Hexensekte deutlich unterschied. Was sich nicht in die eigene Lebenserfahrung einordnen liess, wurde kaum aufgegriffen. Wer von Hexerei sprach, dachte dabei nicht unbedingt an eine teuflische Sekte. Die Talleute hatten sicherlich von der Hexensekte erfahren, aber sie griffen entsprechende Vorstellungen nicht von selbst auf. Dies betrifft vor allem jenen Gedankenkreis, der von angeblicher Teufelsverehrung und Hexensabbat handelte. Der Hexereibegriff stand für die Talleute in anderen Zusammenhängen und diente oft alltäglicheren Zielen. So nutzte man ihn zu Zwecken, für die er gar nicht vorgesehen war. Dabei waren Hexereivorwürfe in der Regel mit gesellschaftlichen Ausgrenzungsversuchen verbunden. Der Hexereibegriff der Talleute war also schillernd und mehrdeutig. Sein Gehalt hing von den jeweiligen Umständen ab, in denen er verwendet wurde. Als sich die besagten Gebrauchsweisen nicht mehr umsetzen liessen, verschwand auch der Hexereibegriff erstaunlich rasch aus dem öffentlichen Bewusstsein.

III. Demut Leiderfahrungen waren im frühneuzeitlichen Hochtal alltäglich. Niemand war vor Verletzungen, Krankheiten und Schmerzen gefeit. Unfälle, Plagen und Tod zerstörten manche verheissungsvolle Zukunft. Diese bittere Erfahrung machten nicht nur die Leidtragenden selbst, sondern auch ihre Angehörigen. Die Not liess sich nicht immer durch menschliche Hilfe lindern. Wo die eigenen Möglichkeiten an Grenzen stiessen, suchte man Zuflucht zu den himmlischen Mächten. Wer von Leiden heimgesucht wurde, bat Gott, Maria und die Heiligen um Hilfe. Meistens gelobten die Bittsteller, sie würden die Ehre Gottes und seiner Heiligen (in irgendeiner Weise) mehren, wenn ihre Leiden erträglicher und ihre Not leichter würde. Und vielfach trat dieser Fall auch ein. Das vorangegangene Gelöbnis verpflichtete, das Erlebte mitzuteilen. Entsprechende Schilderungen handelten von der anfänglichen Bedrängnis, von der Hinwendung zu Gott und seinen Heiligen

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und schliesslich von der Erhörung. Das Erzählmuster war damit weitgehend vorgegeben: Bedrängnis, Gelöbnis und Erhörung.188 Entsprechende Geschichten kannte auch Anna Amrhein, Engelbergs grosse Erzählerin der vorletzten Jahrhundertwende. So berichtete sie 1895 einer Nichte folgende Begebenheit:189 Meine Tante sel. [Rosa Amrhein], die 1791 geboren war, erzählte mir, es habe auf der Bränd in der Schwand ein Familie gewohnt, die hatten zwei kleine Knaben von drei oder vier Jahren, da sei einmal ein Kalb geschlachtet worden, wobei die Knaben zugesehen. Wie nun einige Zeit nachher die Mutter der beiden Knaben aus dem Gottesdienste heimkam (wenn ich nicht irre, war es am St. Petrus und Paulus Tag, an welchem der hl. Martyrer Eug. hieher gebracht wurde) hatte der ältere Knabe den jüngeren erstochen und sagte zur Mutter, er habe auch schlachten wollen. Alsdann sei die Mutter niedergekniet und habe so innig wie möglich den hl. Eugenius um Hilfe angerufen, worauf der Knabe wieder ins Leben zurückkehrte. Als besagter Knabe dann ein alter Mann war, habe an St. Eugenstag der Prediger das Wunder in der Predigt angeführt, der alte Mann, welcher gegenwärtig war, habe geweint, sei sogleich aufgestanden und in die St. Eugenskapelle beten gegangen.

Anna Amrhein folgte dem bekannten Erzählmuster. Dabei lud sie die Schilderung durch bestimmte Verweise zusätzlich auf: Der heilige Eugen hatte nicht an einem beliebigen Tag Wunder gewirkt, sondern am Jahrestag seiner Übertragung. Viele Jahre später war der Geheilte am Eugenstag von der Erinnerung überwältigt worden und zum Eugensaltar gezogen, um seinem Wundertäter kniend und weinend zu danken. Die Erzählerin erwähnte die Eugenskapelle, die 1729 beim Klosterbrand zerstört wurde, kaum zufällig: Die Würde des Alters machte die Geschichte noch eindrucksvoller. Der Heilige hatte bereits Wunder gewirkt, als er 1660 an Peter und Paul (29. Juni) übertragen worden war: Vier wundersame Heilungen wurden für diesen Tag verzeichnet. Über 260 Wunder folgten allein in den drei folgenden Jahrzehnten.190 Man rief den Heiligen in allen Lebensfällen an. So wandten sich viele Kranke hilfesuchend an den grossen Helfer, wenn sie an Schmerzen, Verwundungen, Kno188 Zum Votivwesen noch immer grundlegend Kriss-Rettenbeck (1963) und Kriss-Rettenbeck (1972). 189 Vgl. den Brief Anna Amrheins vom 18.01.1895. 190 Vgl. das erhaltene Kurzverzeichnis der Wundertaten des heiligen Eugen, das von der Hand Pfarrers Athanas a Castanea stammt. Da derselbe 1692 starb, ist der Zeitpunkt der Verfassung ante quem gegeben.

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chenbrüchen, Schlag- und Herzanfällen, Hautkrankheiten, Geschwülsten, Lähmungen, Schwellungen usw. litten. Ein wundersames Erlebnis wurde beispielsweise einer Stanserin zuteil, die „ohne stelzen fürs haus [kam], da zuvor sie nicht möchte vom bett zum bancke kommen“. Andere wurden von fiebrigen Krankheiten geheilt, die sie in der Fremde befallen hatten: Bald handelte es sich um einen Soldaten auf Heimaturlaub, bald um einen Welschlandhändler, der „auf der Lauiser Reis“ erkrankt war. Ältere Menschen baten um Besserung ihrer Altersgebrechen: Sie beklagten sich vornehmlich über den Verlust von Gesichts- und Gehörsinn, aber auch über zunehmende Gehschwierigkeiten. Manche Kranke litten unter anhaltenden Schmerzen, die sich über Jahre dahinzogen. Mehrjährige Krankheiten zehrten an den Kräften, so z.B. siebenjähriges Halsweh, neunjährige Beinschmerzen oder zwölfjährige Leistenbruchbeschwerden. Ein Wolfenschiesser Pilger bat um die Genesung einer Wunde, die ihm seit 37 Jahren Schmerzen bereitete. Ein anderer Notleidender bat um die Erlösung von Rückenschmerzen, die er „seiner Lebtage gehabt“. Ebenso erging es einem konvertierten Berner, der „die tage seines lebens ein anliegen im haubt“ hatte, ehe der heilige Eugen ihn davon erlöste. Vielfältige Bittgebete waren mit der Kindbetterei verbunden. Man bat den heiligen Eugen um Hilfe, wenn Kinder beim Geburtsvorgang sich nicht in die rechte Stellung drehten oder mit Nabelbrüchen zur Welt kamen. Auch eine Lungerer Pilgerin hatte eine schwere Geburt hinter sich, denn das Kind konnte „nicht gebohren werden, man schätzte kein leben mehr, auf ein gelübt wird das haubt gebohren und das kind getauft, mit gewalt aus dem leib gerissen, lebt noch 14 tage, komt die mutter bald zu ihrer gesundheit“. Die Nottaufe hatte der Mutter die Gewissheit gegeben, dass ihr Kind höchstens dem irdischen Tod anheimfallen würde. Von einer Buochser Mutter hiess es, sie habe „erlangt ihrem Kindlein Elisabeth ein seeligen todt nach ihrem begehren“. Wundersam auch der Bericht eines Stanser Säuglings, der „gleichsam an beiden füssen la[h]m gebohren“, aber bald gesund wurde. Einem Luzerner Kind „sollten die augen geschnitten werden wegen den fleken“, doch genas es vor dem Eingriff. Ein Engelberger Knabe „wolt an einem katharren ersticken“, als er von einem Geistlichen verwahrt wurde und darauf überlebte. Ein Wunderbericht betraf auch einen siebenjährigen Knaben aus Obwalden, der weder „von verstand noch grösse, komt nach empfangenem seegen so weit, dass er alles verstehet, und auch andere speisen mehr als auch brey isset, die er zuvor nicht können essen“. Geburten gefährdeten auch die Mütter selbst. Diese wandten sich an den heiligen Eugen, wenn die Schmerzen nicht enden wollten. Von einer Beckenriederin hiess es, sie „wolt sich zu tode blüthen, legt ein geseegnete hauben auf, da hort sie im

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puncten auf zu blüthen“. Der Heilige hatte dieses Mal durch eine gesegnete Kindbetterinnenhaube gewirkt. Überhaupt waren es mehrheitlich Frauen, die sich an den heiligen Eugen wandten. So stammten 56 Prozent sämtlicher Hilferufe von Frauen. Berücksichtigt man nur die einheimischen Bittsteller, so stellten Frauen sogar einen Anteil von 61 Prozent. Man wandte sich auch angesichts des Todes zum heiligen Eugen. Manche waren bereits verwahrt worden, als die erhoffte Besserung eintrat. Eine Stanserin „wollte 3 tag nichts mehr essen [und] ward der todt erwartet“, als sie auf eine Fürbitte hin wieder gesund wurde. Ein anderer Bittsteller wurde vor dem Erstickungstod errettet, nachdem er einen Gegenstand verschluckt hatte. Aussichtslos war auch der Zustand Gerichtsherrn Thomas Töngis gewesen: Es hiess, er „sei gross geschwollen, dass auch die doctoren an ihm verzweifelt, mit den hl. sakramenten schon versehen, wird durch die hilf des hl. Eügeny wieder gesund wider alle hoffnung“. Auch Selma Zilter wurde im letzten Augenblick erhört, die „liegt als tod, darum man auch die begrebnis zurichtete, weil sie sich dem hl. Eügenio verlobt, wird widerum gesund“. Andere erhielten eine Gnadenfrist, um die Beichte ablegen und das Allerheiligste empfangen zu können. So hiess es von einem Verstorbenen, er sei „vom schlag getroffen nach einem gelübt vor ihn [d.h. für ihn] beschehen, kann wieder reden und beichtet, stirbt danach“. Ähnlich hiess es in einem anderen Fall, der Verstorbene sei „vom schlag getroffen, noch beichten und communicieren [können], verliehrt die sprach und stirbt“. Eine längere Frist wurde einer Frau geschenkt, die wieder gesund wurde, ehe sie „hernacher 8 tagen an anderen zustand“ verstarb. Andere baten schlicht und einfach um einen guten Tod. Den Schutz des Heiligen erbaten auch jene, die einen Unfall miterlebten. Wer in der Land- und Holzwirtschaft arbeitete, war tatsächlich manchen Gefahren ausgesetzt. Wundersame Hilfe hatte etwa Kaspar Töngi erfahren, als er im Forst arbeitete: „will holz hinunterthun, den ein tannen ergreift, durch den zug abziehet, wird aber auf anrufung des hl. M[ärtyrers] Eügeny erhalten“. Ein Hirt oder Heuer bedankte sich beim Heiligen, weil er ihn „von einem gewüssen todesfalle auf einer fluhe“ verschont hatte. Andere wurden von einem Pferd abgeworfen oder von einer verwirrten Kuh gequetscht. Oftmals wurde auch dem Heiligen gedankt, dass er das Leben von erkranktem bzw. bedrohtem Vieh geschützt hatte. Auch Anna Amrhein wusste 1895 noch von einer solchen Begebenheit, da Kühe in rasendem Lauf dem Schletterenbord zurannten, wo dieselben dann über die hohe Fluh in den Horbis gestürzt wären. Da[mals] sei nämlich über Obhag ein fürchterliches Hagelwetter gerast, in Folge dessen die Kühe fortgestürmt. Der Eigentümer derselben, Joachim Häki (dem

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noch lebenden Schwendi-Sepp der Urgrossvater), sei denselben nachgelaufen und gestürzt und habe das Knie gebrochen. In dieser Not nun habe er den hl. Eugen angerufen, worauf die Kühe in ihrem Lauf einhielten, welches als grosses Wunder betrachtet werden muss, indem sonst das Vieh, wenn es bei Ungewitter ins Laufen kommt nicht eher still steht, als bis ihn ein unübersteigliches Hindernis entgegen tritt.

Häusliche Unfälle waren nicht minder häufig. Wer von einer einstürzenden Mauer begraben oder von einem herabfallenden Holzbalken getroffen wurde, dem half nur noch ein Stossgebet. Übernatürliche Hilfe kam auch jenen gelegen, sie sich versehentlich mit siedender Lauge übergossen. Kinder waren ganz besonders gefährdet: Wie durch ein Wunder erholte sich ein Kind vom Sturz in einen Brunnen. Von einem anderen Kind hiess es, „man schüttet ihm einen heissen brey über das haubt, vom schreyen meinte man, er seye erbrochen, wird gesund erfunden auf ein gelübt“. Glimpflich kam auch ein weiteres Kind davon, das „lasst einen grossen kasten-dekell auf sein händlein fallen, bleibt unverletzt“. Der heilige Eugen vermittelte wiederholt bei Ehestreitigkeiten, wie Vermerke folgender Art nahelegten: „Zwey Eheleüt konten mit einander nit im frieden leben, auf anrufung des hl. Eügeny ist beständiger frieden erfolget“. Auch Selbstmörder konnten auf den Schutz des Heiligen zählen. So wurde „ein elender verzweifelter verstokter, so sich entleiben wolt“, im letzten Augenblick gerettet. Ein anderer Kranker war derart verzweifelt, dass er „sich zum fenster hinabstürzen“ wollte, ehe ihn der heilige Eugen rettete und von seinem Leiden erlöste. Vereinzelte wurden von teuflischen Anfechtungen erlöst. Ein verstockter Sünder wollte seine Verfehlungen verschweigen, ehe ihn der Heilige zur Reue bekehren konnte. Von einer anderen Sünderin hiess es, „weil sie ein gelübt minder gehalten, wird an ihrem kind heimgesucht, bis sie in sich gehete, ihren fehler erkannt und bessert“. Eine wichtige Rolle spielte das sogenannte »Eugeniwasser«. Am Festtag des heiligen Eugen wurde in der Kirche Wasser gesegnet, indem man ein Gebein des Heiligen darin eintauchte. Das gesegnete Eugeniwasser wurde darauf von den Gläubigen als Heilmittel verwendet. Hautkrankheiten und offene Wunden wurden besonders oft damit behandelt, aber auch weitere Leiden, die auf eine Unreinheit zurückgeführt wurden. Dem Eugeniwasser wurde eine reinigende, entschlackende Wirkung zugeschrieben. Es konnte auf die verletzte Körperstelle aufgetragen oder auch als Trank eingenommen werden. Die Kräfte des Eugeniwassers liessen sich leicht auf Abstossungswirkungen zurückführen, die zwischen ungleichen Dingen vermutet wurden. Demnach schien das lautere Wasser krankheitserregende Verschmutzungen regelrecht von sich zu stossen. Die Wirkungen des Eugeniwassers liessen sich im 17. Jahrhundert durch-

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aus mit gelehrten Vorstellungen verbinden, die von den Wirkungen der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit handelten. Entsprechende Vorstellungen lebten in der volkstümlichen Heilkunde bis ins 20. Jahrhundert fort.191 Wie wurden die Wundertaten des heiligen Eugen vermittelt und überliefert? Zunächst zeichneten Geistliche die Wundergeschichten auf. Zweifellos wurden sie zur christlichen Unterweisung eingesetzt. Die wundersamen Ereignisse belegten, dass sich das Vertrauen in Gott und seine Heiligen auszahlte: Wer sich den himmlischen Mächten anheimstellte, konnte nicht enttäuscht werden. Die Wundererzählungen sollten zur frommen Nachahmung bewegen. Manche Begebenheiten gerieten in Vergessenheit, ehe sie ein Geistlicher nach Jahrzehnten wieder von der Kanzel erzählte und erneut bekannt machte. So berichtete Anna Amrhein 1895, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Taten des heiligen Eugen beinahe vergessen gingen: Seit dem Tod des Abt Eugen [von Büren, gestorben 1851] ist die Verehrung eingeschlafen, also mehr als 40 Jahre, weil das Volk nichts mehr von der Wunderkraft des Heiligen wusste, bis nemlich H. Pater Bonifaz selbe wieder in Erinnerung brachte. Namentlich die älteren Leute hatten eine grosse Freude, alles wurde von früher wieder nacherzählt, und die Jüngeren sagten, warum man ihnen nichts von hl. Eugenius erzählt, sie wussten ja nichts davon [sic!]. Ich weiss, dass es in älteren Familien bis in die letzte Zeit noch Sitte war, jeden Abend ein Vaterunser z. Hl. Eugen zu beten.

Abt Eugen von Büren (1822–1851) hatte die Verehrung seines Namensheiligen tatsächlich sehr gefördert. Viele Wundergeschichten wurden in jener Zeit über den heiligen Eugen erzählt. Die Erinnerungen waren allerdings nach vier Jahrzehnten auf kümmerliche Reste zusammengeschrumpft. Die Älteren erzählten den Jüngeren offenbar kaum vom Talheiligen. Hätte ein Geistlicher die früheren Wundergeschichten nicht aufgegriffen, wären sie wohl bald ganz vergessen gegangen. Die mündliche Überlieferung stiess also bereits nach einigen Jahrzehnten an spürbare Grenzen. Waren denn die Talbürger besonders nachlässige Erzähler? Es ist unbestritten, dass Gruppen ein gewisses Erinnerungsvermögen besitzen. Allerdings bleibt dessen Reichweite zeitlich beschränkt, wenn es schriftliche Hilfsmittel nicht unterstützen. Nach heutigem Erkenntnisstand reicht mündliche Überlieferung nicht weiter als 150 Jahre bzw. drei Menschenalter zurück. „Das Volk besitzt kein Elefantengedächtnis“, hat die Erzählforschung klärend festgestellt.192 Dass die Talbürger nach vier Jahrzehnten bereits viele Wundergeschichten vergessen hatten, war auf einen natürlichen Erinnerungsschwund zurückzuführen. Wäre die 191 Grundlegend hierzu Renner (1937: 47–83). 192 Vgl. Brunold-Bigler (2000: 156, 173).

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mündliche Überlieferung nicht von anderen Quellen gespeist worden, wäre sie im 20. Jahrhundert bald erloschen. Wundergeschichten wurden aber auch durch Bildüberlieferungen vermittelt. Abt Eugen von Büren liess 1832 am Mauerpfeiler vor dem Eugensaltar eine grosse Tafel anbringen, um Votivtafeln zu Ehren des heiligen Eugen aufhängen zu können. Anna Amrhein bestätigte selbst, dass sie manche Geschichten aufgrund jener Abbildungen kannte, die auf dieser Tafel angebracht waren. Sie war allerdings unzufrieden, dass man im späten 19. Jahrhundert manche Votivzeichen nicht mehr ausstellte: Vor noch nicht langer Zeit wurden an den Festtagen zwei Pyramiden auf den St. Eugen-Altar gestellt, da waren auf rotem Samt viele silberne Votivzeichen, öfters schon ist gefragt worden, warum selbe nicht mehr aufgestellt werden.

Gewiss beeinflussten Bildüberlieferungen auch in früheren Zeiten das volkstümliche Erzählen. Bilder konnten längst vergangene Ereignisse bzw. Lebensgeschichten vergegenwärtigen. War die ursprüngliche Überlieferung einmal vergessen, so ermöglichten es die Bilder immerhin, Vermutungen über das abgebildete Geschehen anzustellen. Gotteshäuser, Wegheiligtümer und Hausstuben waren reich an Bilderschmuck aller Art. Die vorhandenen Abbildungen reizten die Einbildungskraft der Betrachter ganz bestimmt. Erzählungen über Bedrängnis, Gelöbnis und Erhörung handelten von alltäglichen Begebenheiten, die jede bzw. jeder aus eigener Erfahrung kannte. Deshalb muss das entsprechende Erzählgut im 17.  und 18.  Jahrhundert ausgesprochen reich gewesen sein. Was am Beispiel des heiligen Eugen deutlich wurde, galt übertragen für alle Heiligen, die im Hochtal verehrt wurden – und erst recht für die Fürbitterin schlechthin, d.h. die Gottesmutter. Was für eine wunderbare Erzählung erreichte z.B. das Hochtal, als es 1712 zum Waffengang zwischen katholischen und protestantischen Orten kam und Engelberger Truppen am Brünigpass Wache standen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich damals in der katholischen Eidgenossenschaft der Bericht, dass die Muttergottes mehreren Soldaten in der Schwyzer March und bei Rapperswil erschienen sei. Es hiess, die Allerseligste habe bei ihrer Erscheinung angezeigt, sie werde ihren schützenden Mantel über ihre Frommen ausbreiten. Die wunderbare Kunde war bereits wenige Tage später ein Dorfgespräch im Hochtal. Die Muttergottes liess jene, die ihr treu waren, nicht im Stich.193

193 Vgl. Egger (1913: 19).

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Die Sagensammler des 19. und 20. Jahrhunderts beachteten besagte Wundererzählungen kaum. Deren christlicher Hintergrund war so offensichtlich, dass man sie als echte Volksüberlieferungen zum vornherein ausschloss. Hätten sich allerdings die Sagensammler darum bemüht, jene Erzählungen zu sammeln, die sich die einfachen Leute tatsächlich erzählten, wären sie wohl zum umgekehrten Schluss gekommen: Wundererzählungen gehörten aller Wahrscheinlichkeit nach zu den volkstümlichsten Erzählungen überhaupt. Sie waren mit dem eigenen Lebensalltag und der eigenen Frömmigkeit innig verbunden. Die Erzählungen handelten von vielfach erfahrenem Leid und Unglück, aber auch von der Gewissheit, im irdischen Tränental nicht auf sich alleine gestellt zu sein. Kann es da überraschen, dass manche von einer eigenen Wundergeschichte träumten? So erging es dem jungen Sepp Kuster, als er 1774 ein Beinleiden vortäuschte, nach Niederrickenbach aufbrach und dort eine wundersame Heilung vorbzw. nachspielte. Die Geschichte seiner wundersamen Genesung erzählte er allen, die es hören wollten. Kuster musste dabei nicht lange nach einem passenden Erzählmuster suchen. Der Jüngling war zwar ein schlechter Lügner, aber ein hervorragender Erzähler.194

IV. Schuld Was geschah, wenn Menschen dem göttlichen Willen zuwiderhandelten? Vielen Schulderzählungen lag ein klares Erzählmuster zugrunde: Entsprechende Schilderungen berichteten zunächst von menschlichem Hochmut, der den himmlischen Willen geringschätzen liess und schliesslich eine schlimme Strafe Gottes nach sich zog. Der Handlungsverlauf von Hochmut, Frevel und Strafe entsprach einer Demutserzählung mit umgekehrten Vorzeichen. Schulderzählungen wurden von Geistlichen oft verwendet, um die Gläubigen vor unrechtem Tun abzuhalten. Einige Beispiele seien hier angeführt: Warum litt das Vieh auf den Alpen Schaden? Weil die Älpler aus Zorn das liebe Vieh verfluchten. Warum bedrohte eine Viehseuche das Hochtal? Weil die Talleute einen unchristlichen Lebenswandel geführt und dadurch Gottes Zorn hervorgerufen hatten. Warum wurden die benachbarten Wolfenschiesser von schweren Regenfällen heimgesucht? Weil sie zuvor beschlossen hatten, ihren jährlichen Bittgang zur Jakobskapelle abzustellen. Warum blieb eine Wallfahrt der Engelberger Pfarrei wirkungslos? Weil die Wallfahrer sich lieber im Gasthaus betranken, als andächtig in der Kirche zu beten. Warum suchte schlechtes Wetter das Hochtal heim? Weil die Talleute die Gottesdienste nachlässig besuchten, das tägliche Beten des Englischen Grusses un194 Vgl. ETP 16.107–116.

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terliessen und sich umgekehrt im Spielen, Saufen, Fressen, Fluchen, Schwören, Lügen und Stehlen übten.195 Solche geistlichen Erzählungen beeinflussten auch das volkstümliche Erzählen.196 Als sich z.B. Johann Jakob Scheuchzer 1702 die Sage vom Stierenbach erzählen liess, erfuhr er von den Urner Alpleuten, wie überhaupt ein Ungeheuer ins Surenental gekommen war. Ein Hirt sollte sich demnach regelrecht in ein Schaf verliebt haben, so dass er sich entschloss, das Vieh nach christlichem Brauch zu taufen. Gott aber liess diesen schweren Missbrauch der Taufe nicht ungestraft und verwandelte das Schaf in ein schreckliches Ungeheuer. Die Erzählung mochte allen Laien eine Warnung sein, welche heilige Gebete, Bräuche und Gegenstände missbrauchen wollten.197 Vergleichbare Erzählmuster liessen sich auf alltägliche Begebenheiten übertragen: Katharina Töngi konnte z.B. eine gewisse Genugtuung nicht verbergen, als ihr Widersacher Niklaus Kuster sich einmal das Bein brach. Töngi berichtete noch 1668 davon, als Kuster schon gestorben war: „Welcher warheit spart, wie ers gegen mihr gspart hatt und d’unwarheit gegen mihr bruucht hatt, dem god es also.“198 Töngi war also überzeugt, dass die himmlischen Mächte ihren Widersacher mit einem Beinbruch bestraft hatten, nachdem er Unwahres über sie verbreitet hatte. Etwas lockerer, aber dennoch lehrhaft war die Sage um die bezauberte Jungfrau im Galtiberg. Die älteste überlieferte Fassung stammt von Gemeindeschreiber Melcher Kuster (1764–1841), der die Sage 1814 in Gedichtform niederschrieb. Kuster wurde gewöhnlich »Römer-Theolog« genannt. Kuster übernahm den ersten Namensteil von seinem Vater, der vielleicht päpstlicher Gardist gewesen war. Im zweiten Namensteil schlugen sich vermutlich Melchers eigene Interessen nieder.199 In Kusters Gedicht wird die Sage durch einen Nachtbuben erzählt, der als lyrisches Ich spricht. Einleitend lässt Kuster den Nachtbuben berichten, wie seine Tante ihm von der bezauberten Jungfrau erzählte, als er noch ein junges Kind war. Ausführlich berichtet der Nachtbube, wie sehr er als Knabe Geistergeschichten mochte und sich nach einer Erzählung nachts zitternd unter die Bettdecke verkroch. Wunderbar ist auch die Beschreibung der erzählenden Greisin: Da wird von ihrem schweren

195 Vgl. Ildephons Straumeyers »Engelberger Gebräuche«, S. 47, ferner die Einträge im Verkündbuch von 1731–1733. 196 Zum allgemeinen Einfluss geistlicher Erzählungen auf das volkstümliche Erzählen in der Barockzeit, vgl. die Aufsatzsammlung von Moser-Rath (1994). 197 Vgl. Dufner (1978: 17). 198 Vgl. ETP 3.85–86. 199 Vgl. Dufner (1982b: 3) sowie StB Kuster 148 und 149, ferner Kuster (1848).

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Atem erzählt, von ihrer Rauchpfeife, von ihrem Stuhl in der Hausstube, von ihrem Vergnügen, den kleinen Knaben durch ihre Erzählung fesseln zu können, usw. Die Erzählerin fasst sich knapp: Ein reicher Bauer hatte einst eine bildhübsche 18-jährige Tochter. Sie verliebte sich in einen braven, aber armen Jüngling. Der Vater billigte die Beziehung nicht und wollte seiner Tochter einen reichen, aber lieblosen Burschen aufzwingen. Die Tochter verweigerte sich, worauf der Vater zornig wurde, seine Tochter mitsamt ihrer reichen Mitgift in eine Höhle im Galtiberg einsperrte und einen Drachen zur Bewachung davorsetzte. Das Mädchen blieb seither in der Höhle, wo die vergehende Zeit ihre bezaubernde Schönheit nur erhöhte. Der Nachtbube schreitet in seiner Erinnerung in die jüngere Vergangenheit. Er erzählt, wie die Sehnsucht nach der bezauberten Jungfrau in ihm grösser und grösser wurde, bis er eines Tages in den Galtiberg aufbrach. Zu seinem Schutz nahm er allerhand mit: eine gesegnete Medaille, ein Bruderschaftszeichen, einen Rosenkranz und ein unheilabwehrendes Gebetbuch. Als er in die Höhle schritt, bezeichnete er sich zudem mit dem Kreuzzeichen und sang dazu eine marianische Antiphon. Die Begegnung mit dem Drachen fiel kurz aus: Und rufe druf mit luter Stimm: / thüend uf ihr liebe Lüte! / Da ruft der Drack mit vollem Grimm: / Was muß das gschrei bedüte? / Und doch es seid e größri Macht, / i söll der’s Meitschi zeige.

Der Drache muss sich der grösseren Macht schnell fügen, wobei offen bleibt, ob hier himmlische Gewalten oder schlicht die Liebe gemeint ist. Was folgt, ist die idealisierte Beschreibung eines Liebeswerbens. Der Nachtbube dringt in ein Zimmer ein, dessen Ausstattung ziemlich genau einer Bauernstube entspricht, nur wirkt alles viel reicher und kostbarer. Wein, Süssigkeiten und Obst erwarten den Jüngling ebenso wie das Mädchen auf dem Liegesitz, leuchtend von blendender Schönheit. Das Mädchen erstrahlt beim Anblick des Burschen, drückt dessen Hände an ihre Brust, freut sich auf den Ehebund und bietet dem Werber ihre reiche Mitgift an. Als aber beide aus der Höhle schreiten wollen, kommt es zum erneuten Gespräch zwischen Drache und Nachtbube: [Der Drache sagt:] ,Weist, daß du einist z’Dorf bist g’si? / Das seid mer kürzli eine. / Drum must du’s Meitschi nu la si, / du bist no z’wenig reine.‘ / [Darauf der Nachtbub:] ,O wäri nie z’Dorf gange gsi, / i möchte mi bald zersetze. / So wär das lieb hübsch Meitschi mi / sammt alle sine Schätze.‘

Der Nachtbube bleibt darauf allein zurück und muss warten, bis sein Herz rein genug ist, um die schöne Jungfrau zu ehelichen.

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Wovon die Sage eigentlich berichtet, ist nicht schwer zu erraten. Einerseits handelt die Erzählung von den Hindernissen, die sich zwischen zwei Verliebten stellen können: Die Jungfrau konnte ihren Geliebten nicht heiraten, weil er ungleich ärmer war und ihr Vater ihn deshalb verstiess. Der Nachtbube seinerseits stolperte über seinen Ruf als liebeshungriger Jüngling, der ihm meilenweit voranging. Andererseits berichtet die Erzählung in verklärter Weise vom nächtlichen Liebeswerben. Der Nachtbube steht vor der Höhle, als ob er ein lediges Mädchen in deren Haus aufsuchte. Gott, Maria und die Heiligen stehen ihm bei, als ihm der Drache, ein schlimmer Sittenwächter, zunächst den Weg versperrt. Dann aber erhält der Jüngling Einlass, und seine schönsten Träume erfüllen sich. Doch halt! Das unschuldige Mädchen entgleitet ihm, weil er als hartgesottener Nachtbube bereits unreine Gedanken im Herzen trägt. Die Sage von der bezauberten Jungfrau stiess bald auf das Interesse der Sagensammler. Theodor Vernaleken machte sie 1858 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, Alois Lütolf nahm sie 1862 seinerseits in seine Sammlung auf.200 Allerdings blieb von jener Sage, die Melcher Kuster ein halbes Jahrhundert zuvor erzählte, nur ein dünnes Gerippe übrig. Die Sagensammler strichen sämtliche lebensweltlichen Bezüge aus der Erzählung, die sie für spätere Zusätze hielten. Die Höhle am Galtiberg, die bei Kuster nahezu bedeutungslos war, wurde ganz in den Mittelpunkt gerückt. Vernaleken reihte die Sage unter die Rubrik »Hexen und andere Frauen, von Schätzen und Venedigern«, Lütolf ordnete sie ein unter die »Nachklänge vom heidnischen Götterwesen«. Aus der Nachtbubengeschichte wurde sonderbarerweise ein Bericht über eine heidnische Verehrungsstätte. Sagenhaftes wurde in Engelberg auch von jenem Eisenkreuz berichtet, das um die vorletzte Jahrhundertwende neben der mittleren Dürrbachbrücke aufgerichtet wurde. Das Wydenkreuz sollte angeblich die Votivgabe zweier Jäger sein, die einen Jagdfrevel begangen hatten. Es hiess, sie seien einst an Allerheiligen (1. November) unerlaubterweise auf die Jagd gegangen. In den Felsbändern des Schlossbergs hätten sie Gemsen angetroffen und mehrmals auf sie geschossen. Doch die Schüsse hätten dem Wild nichts angetan, ja ein Gemsbock wäre auf sie zugerannt und hätte sie beinahe in den Abgrund gestürzt. Der Spuk endete allerdings, als die bedrängten Jäger die Errichtung eines Kreuzes gelobten, falls sie errettet würden.201 Die Sage vom Jagdfrevel war Demuts- und Schuldsage zugleich. Wer frevelhaft einen Jagdbann brach, musste mit einer schlimmen Strafe rechnen. Indem aber die Jäger in der Bedrängnis noch rechtzeitig Reue zeigten, wurden sie aufgrund ihres gegebenen Gelübdes errettet. Die Sage war übrigens nicht heimischen Ursprungs. 200 Vgl. Vernaleken (1993: 127) und Lütolf (1976: 315–316). 201 Vgl. Berchtold (1950: 4–5), ferner auch Hess u.a. (2001: 37).

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Die besagte Jagdgeschichte erzählte man sich zur selben Zeit auch im urnerischen Urserental!202 Es ist also wahrscheinlich, dass man in Engelberg (in irgendeiner Weise) vom gängigen Sagenstoff erfahren hatte und diesen nachträglich in die eigene Landschaft bzw. Geschichte versetzte. Wer immer in späterer Zeit am Wydenkreuz vorbeiging, wurde an die Geschichte des Jagdfrevels erinnert. Schuldsagen folgten einem Erzählmuster, das ursprünglich Geistliche geprägt hatten. Laien eigneten sich allerdings solche Erzählungsweisen bald an. Das führte nicht zuletzt dazu, dass man sich auch über frevelnde Geistliche Schuldsagen zu erzählen begann. So war im 18. Jahrhundert allgemein bekannt, dass das Kloster Engelberg einst einen guten Teil der Alp Engstlen besessen hatte. Tatsächlich hatte das Stift in den 1320er Jahren dort viele Alprechte erworben, ehe sie 1446 wieder veräussert wurden.203 Warum aber hatte das Kloster eine so wertvolle und weitläufige Alp wieder verkauft? Man erzählte sich, dass einst ein spielfreudiger Abt mit einem bernischen Säumer Karten gespielt hatte. Dabei sollte es der Abt tatsächlich fertiggebracht haben, die gesamte Alp beim Kartenspiel zu verlieren! Die Sage war derart geläufig, dass sie auch der Luzerner Staatsmann Franz Ludwig Pfyffer (1716–1802) vorbeireisenden Gästen gerne erzählte.204 Man kann sich vorstellen, dass auch die Talleute gerne von dieser Sage berichteten. Damals wurden Talleute ja oft wegen überrissener Spieleinsätze gerichtlich belangt. Kam da die besagte Erzählung nicht einer heimlichen Rache gleich? Im April 1688 brach ein eidgenössisches Regiment zu einem Feldzug nach Griechenland auf, um dort unter venezianischer Führung die vordrängenden Türken zurückzuschlagen. Die Hauptleute hatten zuvor grosse Mühe gehabt, die nötigen Soldaten anzuwerben: Venedig besass als Soldmacht keinen sicheren Ruf, zudem schreckte der bevorstehende Seeweg und der unbekannte Dienstort ab. Die Werbungen erschienen erst recht fragwürdig, als Luzern – immerhin der katholische Vorort – nicht auf das Bündnisgesuch Venedigs einging. Befürworter mochten wohl darauf hinweisen, dass der Feldzug dem Schutz bedrängter Christen diente, doch wurde dadurch der Andrang vor den Werbetischen nicht grösser: Wehrfähige Männer, die sich sonst dienstwillig zeigten, verwehrten ihre Teilnahme.205 202 Vgl. Renner (1937: 137–138). 203 Vgl. Heer (1975: 86–87, 136). 204 So etwa an Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799), vgl. Dufner (1977: 40). 205 Zur Haltung Luzerns, vgl. Ruckstuhl (1991: 94–99). Zu den Werbungen in Ob- und Nidwalden, vgl. Ruckstuhl (1991: 136–147). Zu den Urner Verhältnissen vgl. Christen (1997).

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Urner Truppenführer warben im März 1688 auch in Engelberg Soldaten an. Allerdings hegte man im Hochtal ebenfalls Bedenken gegen den Feldzug. Gewisse Talleute trauten den werbenden Truppenführern nicht und hielten sich mit ihrer Meinung nicht zurück. So glaubte Gerichtsherr Andres Dillier, dass „die Haubtleüth nit weither mit den Soldaten als an das Meer, und von dannen wider heimbziechen, die Soldaten [an Venedig] verkaufen und andern übergeben“ würden. Solche Vermutungen wurden übrigens nicht nur in Engelberg geäussert.206 Abt Ignaz Burnott waren die Gerüchte in mehrerer Hinsicht peinlich. Der gebürtige Urner sah es gewiss ungern, dass seine werbenden Landsleute derart verdächtigt wurden. Auch fürchtete er um den Ruf der Geistlichkeit, die andernorts „zuo disem Krieg uf den Cantzlen und sonsten alle Beyhülf beygetragen“ hatte. Burnott konnte sich immerhin damit trösten, dass in Engelberg selbst „von disem Krieg uf dem Cantzell nichts geredt worden“. Umgekehrt schien der Abt die Ängste der Talleute ebenfalls zu teilen. Jedenfalls entschied er sich, mit den Truppenführern die Werbebedingungen selbst auszuhandeln. Dies war insofern ungewöhnlich, als die Soldaten ihre Anstellungsbedingungen ansonsten selbständig mit dem Werber vereinbarten. Abt Ignaz Burnott schloss am 14. März 1688 mit den Urner Werbern einen Soldvertrag ab, der den angeworbenen Talleuten ausserordentlich entgegenkam.207 Es ist nicht überliefert, wie viele Talleute zum Krieg in Griechenland aufbrachen. Klar ist allerdings, dass mindestens 15 Talleute auf dem Feldzug das Leben verloren – viele von Krankheiten dahingerafft.208 Es war der schwerste Kriegsverlust, den Engelberg in der Neuzeit verkraften musste. Abt Ignaz Burnott erliess darauf ein mehrjähriges Werbeverbot und begründete dies gegenüber den Schirmorten,209 weilen in nächst vorbeygangenem Morer kriegszug [Morea = Peloponnes] so vill der unserigen underthanen gebliben, das[s] alehier deren absanz nit wenig verspürt wird und [nicht] ohne grösten disgust unser underthanen eine offentliche werbung könnte angestellt werden, oder solito [wie üblich] das[s] solche frey erlaubt werde, dannoch keiner zum kriegen lust

206 Vgl. ETP 4.242–243. Mit einer ähnlichen Aussage wiegelte Oberst Joseph Heller noch 1691 die eidgenössischen Truppen auf, vgl. Ruckstuhl (1991: 249). 207 Der Kapitulationsvertrag vom 14. März 1688 ist noch als Abschrift in CFD erhalten. 208 Gemeint sind: Hans Kaspar Dillier, Niklaus Hasler, Geni Hess, Geni Müller, Athanasi Kuster, Sepp Kuster, Hans Balzer Müller, Melcher Müller, Hans Geni Schleiss, Hans Bernhard Töngi, Hans Geni Töngi, Jodok Wilhelm Vogel, Hans Geni Waser, Apollinari Sepp Zniderist und Hans Jakob Zniderist. Die Nachweise finden sich im Verkündbuch (1688–1691) und im Sterberegister des Pfarrbuchs (1688). Siehe ferner das Taufregister des Pfarrbuchs von 1667 sowie StB Kuster 70–71. 209 Vgl. CFD, undatiertes Schreiben Ignaz Burnotts an die Schirmorte, das vermutlich auf die Jahre 1689/90 zurückgeht.

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haben würde. 2° weilen in unserer eigenen arbeit, ein solcher mangel deren männern gespüret wird, das[s] wihr gezwungen sind, neben unseren im sommer sonst occupireten, unsere vorbekannte werkh mehrteils mit frömbden arbeitern zu versechen.

Die Kriegsopfer hatten also die Arbeitskräfte des Hochtals derart gemindert, dass in der Klosterwirtschaft mehrheitlich fremde Arbeiter hinzugezogen werden mussten. Zudem waren die Talleute gegenüber Werbern derart aufgebracht, dass bei einer öffentlichen Werbung Unruhen zu befürchten waren. Abt Ignaz Burnott bewilligte wohl erst Ende 1691 erneute Werbungen in seinem Herrschaftsgebiet.210 Jedenfalls widmete er sich in den folgenden Jahren anderen Geschäften. Er liess 1689 die Heiligkreuzkapelle in Grafenort erbauen, 1690 folgte der Bau des gegenüberliegenden Herrenhauses. Als der 45-jährige Burnott am 10. April 1694 erstmals im fertiggestellten Bau übernachtete, verstarb er nachts an einem unerwarteten Schlaganfall.211 Als nun Franz Niderberger im frühen 20. Jahrhundert nach unterwaldnerischen Sagen suchte, erfuhr er auch von folgender Erzählung:212 Zur Zeit, als das Kloster Engelberg noch ‚Schwert und Galgen‘ hatte, lebte ein liederlicher Abt. Der hatte viele seiner Talleute in fremde Kriegsdienste verkauft. Dort waren die meisten elend umgekommen. Kurz darauf sah der Prälat die Geister der Gefallenen auf feuersprühenden Rossen sich ihm nahen. Von tiefster Angst ward er seither gefoltert. Er ward aber bald im Grafenort, im ‚Abtritt‘ [Wortspiel!] vom Teufel geholt. Als man die verschlossene Türe eingesprengt, fand man vom Abte keine Spur. Der ‚Abtritt‘ ist hierauf vermauert worden.

Niderberger war überzeugt, eine altgermanische Erzählung von Wotans Heer gefunden zu haben. Jedenfalls gab er sich Mühe, diesen vermeintlichen Kerngedanken in seiner Erzählfassung herauszuarbeiten und betitelte überdies die Sage mit »Geister auf feuersprühenden Rossen«. Der geschichtliche Ursprung der Sage lässt sich unschwer erkennen. Der Name des liederlichen Abtes ging zwar vergessen, aber das Herrenhaus von Grafenort blieb Erinnerungsstütze. Auch das Erzählmuster ist hinlänglich bekannt: Hochmut, Frevel und Strafe. Wie aber lässt sich deuten, dass die Geister der Soldaten nachts den Abt heimsuchten? Die Kirche lehrte seit alters, dass unerlöste Seelen im Fegefeuer Busse leisten mussten. Die kirchliche Lehre war auch ursächlich für die Vorstellung, 210 Ignaz Burnott bestätigte am 13.12.1691 dem französischen Botschafter, dass er die Werbungen in seinem Herrschaftsgebiet wieder erlauben würde. 211 Vgl. Heer (1975: 251). 212 Vgl. Niderberger (1978: 237). Leider unterliess Niderberger auch in diesem Fall eine Quellenangabe.

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dass die büssenden Seelen vor ihrer Erlösung auf der Erde wandelten.213 Dem bösen Abt erschienen also jene arme Seelen, die er – der Sage nach – selbst ins Fegefeuer geschickt hatte. Altgermanischer Glaube war hier mitnichten vorauszusetzen. Wer die Sage vom liederlichen Abt erzählte, ging letztlich davon aus, dass die gerechte Ordnung nicht ungestraft verletzt werden könne. Auch die gnädigen Herren waren der Gerechtigkeit Gottes unterworfen. Man erinnere sich diesbezüglich an die Worte, die der hungerleidende Sepp Kuster 1795 an seinen Talherrn Leodegar Salzmann richtete: „Das sage ich euch dan grad, dass ihr ein schlechte ordnung habt, und wan ihr kein andere machen wollet, so wellen wir euch ein andere machen.“214 Gott konnte nicht wollen, dass manche Talleute Unrecht litten.

4.2.4 Kulturelle Aneignungsweisen Die Sagensammler des 19. und 20. Jahrhunderts waren bestrebt, das Erzählgut der einfachen Leute aufzuschreiben. Sie wollten dadurch die ureigene Kultur des Volkes festhalten, ehe sie von der Zivilisation vollends zerstört würde. Die Sagensammler gingen von der Vorstellung aus, dass es eine unberührte, urtümliche und mündlich überlieferte Volkskultur gäbe. Auf dieser Grundlage entwickelten sie auch ihre Sammel- und Deutungsverfahren. Anderweitige Überlieferungen lassen bruchstückhaft erkennen, worin volkstümliches Erzählen im vormodernen Engelberg wirklich bestand. Die erhaltenen Spuren verdeutlichen zunächst, warum die Sagensammler mit ihrem Ansatz scheitern mussten. Die Talleute besassen (1) nie eine unberührte, eigenständige Vorstellungswelt: Einflüsse der Schrift- und Bildungskultur prägten diese allenthalben, sei es durch Lese-, Vorlese- oder Erzählvorgänge. Auch von ursprünglichen Glaubensvorstellungen konnte (2) nicht die Rede sein: Was die Sagensammler für urtümlichen Aberglauben hielten, war oft angeeignetes Wissen aus der früheren Schriftund Bildungskultur: Das einfache Volk kannte und wendete Zauber an, aber es hatte diesen mitnichten selbst erfunden. Ferner war das christliche Weltbild weit mehr als blosser Firnis. Landschaft, Geschichte und Alltag waren von christlichen Bezügen tief durchdrungen. Wenn Talleute über ihre Lebenserfahrungen sprachen, taten sie dies mittels christlicher Vorstellungen. Auch Zeichendeuter, Zaubernde, Alchemisten, Schatzgräber und Geisterbeschwörer verliessen nach ihrem Selbstverständnis das christliche Weltbild keineswegs. Ferner waren (3) mündliche Überlieferungen verhältnismässig kurzlebig, wenn sie keine schriftliche bzw. bildliche Stütze fanden. Sogar die grossen Wundertaten des Talheiligen gingen nach wenigen Jahrzehnten 213 Vgl. EM 4, 964–979. 214 Vgl. ETP 19.195–196.

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vergessen. Es ist ausgeschlossen, dass sich vorchristliche Wissensbestände durch mündliche Überlieferung bis in die Neuzeit erhielten. Was aber kennzeichnete dann die volkstümliche Kultur Engelbergs? Bildete etwa die Vorstellungswelt der Talleute lediglich eine Art Satz, der von der Schrift- und Bildungskultur herabgesunken war und sich im Hochtal abgelagert hatte? Besassen die Talleute ein Weltbild, das lediglich eine Schwundstufe höherer Kultur darstellte?215 Es mag an dieser Stelle hilfreich sein, ein neueres Kulturmodell herbeizuziehen, das der französische Kulturwissenschaftler Michel de Certeau entworfen hat.216 Dessen Überlegungen sind geeignet, die unlösbaren Widersprüche des Volkskulturbegriffs aufzulösen. Kulturelle Produktion gliedert sich – so de Certeau – in zwei verschiedene, aber ineinander verzahnte Vorgänge. Demnach werden kulturelle Erzeugnisse zunächst von Willensträgern erschaffen, die mächtig genug sind, um ihre Vorstellungen gesellschaftlich (oder zumindest dort, wo sie eine Deutungshoheit besitzen) durchzusetzen. Man kann etwa an Gemeinwesen, Einrichtungen aller Art, Verbände, Unternehmen usw. denken. Diese vermögen es, ihren Vorstellungen räumliche und zeitliche Beständigkeit zu geben. Ihre Erzeugungen bilden die primäre kulturelle Produktion. Dann aber gibt es die grosse Mehrheit der einfachen Leute, die nicht die Möglichkeit haben, eigenen Vorstellungen Beständigkeit zu geben. Einfache Leute müssen nämlich in Räumen leben, wo andere die Deutungshoheit besitzen. Sie müssen sich mit Vorstellungen zurechtfinden, die sie nicht selbst erschaffen haben. Einfache Leute können nicht aus der Vorstellungswelt flüchten, die ihnen die primäre Produktion auferlegt. Nun liegt die Fertigkeit der kleinen Leute nicht darin, eigentümliche Vorstellungen zu erschaffen, sondern in der Art und Weise, vorhandene, ja aufgezwungene Vorstellungen zu gebrauchen. Einfache Leute können zwar bestehende Vorstellungen nicht zurückweisen oder ändern, aber sie untergraben diese Vorstellungen, indem sie diese auf eine Art und Weise gebrauchen, für die sie ursprünglich nicht vorgesehen waren. Einfache Leute wählen aus, wildern, zweckentfremden, passen an, setzen zusammen, usw. Diese Gebrauchsweisen stellen die sekundäre kulturelle Produktion dar. Diese ist fast unsichtbar, und zwar aus zwei Gründen. Erstens bringt sie keine eigentümlichen Erzeugnisse hervor, sondern beruht auf den Gebrauchsweisen 215 Zur Theorie des »gesunkenen Kulturgutes«, die hier angedeutet ist, vgl. etwa RGA 11, 559–563. 216 Vgl. De Certeau (1980: XXXV-XLVIII, 57–63).

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bestehender Erzeugnisse. Zweitens weist sie keine zeitliche Beständigkeit auf: Die Gebrauchsweisen ändern ebenso rasch wie die gebrauchten Erzeugnisse. Das angedeutete Kulturmodell ermöglicht es, volkstümliches Erzählen bzw. volkstümliche Kultur überhaupt angemessener zu verstehen. Dies gilt auch für das vormoderne Engelberg. Die Talleute waren von vielerlei Vorstellungen beeinflusst, die ebenso vielfältiger Herkunft waren. Neues Wissen drang durch Handel und Verkehr immer wieder ins Hochtal ein. Geistliche und weltliche Obrigkeit vermittelten beständig neue Vorstellungen bzw. weckten vergessene Erinnerungen wieder auf. Lesekundige beschäftigten sich mit Schriftwerken und lasen daraus vor. Andere erzählten nach, was sie von Dritten vernommen hatten. Man kann sich Engelbergs volkstümliche Kultur als Schmelztiegel vorstellen, der beständig neue Mischungen hervorbrachte. Ein unbedeutendes, aber anschauliches Beispiel mag dafür ein Porträt sein, das der Luzerner Maler Joseph Reinhardt 1789 von einem Engelberger Ehepaar erstellte. Auf dem Gemälde sind Sepp Geni Waser (1753–1798) und Maria Anna Katharina Amstutz (1758–1824) abgebildet. Als Reinhardt die Eheleute malte, waren beide mit einer bunten Mischung älterer und jüngerer Moden bekleidet. Die einzelnen Kleidungsstücke waren städtischen Ursprungs, aber durchaus neuartig zusammengestellt. Der Göller der Frau war in den Städten bereits vor einem Jahrhundert ausser Mode gekommen, ihr Vorstecker hätte sich dort immerhin bis zur Jahrhunderthälfte sehen lassen dürfen. Manches Kleidungsstück ging auf die ältere spanische bzw. die neuere französische Mode zurück. Von einer urtümlichen Volkstracht war keine Spur vorhanden.217 Die Talleute erzählten nicht anders als sie sich kleideten. Schöpferisch wurde Altes mit Neuem, Fremdes mit Heimischem verbunden. Im Hochtal hinkte man der Stadt-, Schrift- und Bildungskultur zwar hinterher, aber man nahm neues Wissen bereitwillig auf. Nach einiger Zeit waren fremde Erzeugnisse derart angeeignet, dass man sie kaum mehr als solche erkannte. Was einmal neu gewesen war, galt bald als althergebracht. Auch ging vieles wieder vergessen. Die späteren Sagensammler waren von der Furcht getrieben, dass die urtümliche Volkskultur verschwinden könnte. Was sie allerdings für einen einmaligen und fortschreitenden Zersetzungsprozess hielten, stellte vielmehr einen natürlichen und sich stets wiederholenden Wandlungsvorgang dar. Auch damals liess sich volkstümliche Kultur nicht an eigentümlichen Inhalten festmachen. Indem ferner die Sagensammler versuchten, das volkstümliche Erzählgut von fremden bzw. späteren Einflüssen zu reinigen, entglitt ihnen genau das, was das volkstümliche Erzählen wesenhaft ausmachte: der schöpferische Gebrauch von Vorstellungen, die verschiedenartigs217 Vgl. Heierli (1922: 9–17, 21, 46–47) einschliesslich Abbildung, ferner Hess (1943b: 26–38). Zum abgebildeten Ehepaar, vgl. StB Waser 76.

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ter Herkunft waren. Es war eine sonderbare Wendung, dass die Sagenbücher später genau von jenen Aneignungsvorgängen erfasst wurden, die ihre Verfasser so geflissentlich ausgeblendet hatten. Das gesammelte Erzählgut wurde nach seiner Veröffentlichung erst wirklich volkstümlich. Heute noch sind viele Leute überzeugt, sie fänden in jenen Sammlungen die urtümliche Kultur ihrer Ahnen vor.218

4.3 Religiöses Leben In der kirchlichen Tradition bestand seit alters die Überzeugung, dass die Heilsbotschaft nicht nur durch Wort und Schrift, sondern auch durch die Sinne vermittelt werden sollte. Nicht nur der Verstand, sondern auch die Sinne boten dieser Auffassung zufolge einen geeigneten Zugang zur Gotteserkenntnis, insofern Glaubensinhalte sinnlich erfahrbar gemacht würden: Auf diese Weise sollten die Sinne den Verstand dort unterstützen, wo dieser an seine Erkenntnisgrenzen stiess.219 Sinnlichkeit bzw. Körperlichkeit nahmen in der barocken Frömmigkeit einen besonders hohen Stellenwert ein, der sich – allgemein gesprochen – in Bildern und Gebärden ausdrückte.220 Glaubensinhalte waren in katholischen Gegenden auf vielfältige Weise vergegenständlicht bzw. verbildlicht. Die Alltagswelt war voller geweihter Bauten und Zeichen, so z.B. Kirchen, Kapellen, Wegheiligtümer und Kreuze. Religiöse Bilder fanden sich in jeder Hausstube. Geweihte Gegenstände begleiteten die Menschen in ihrem Alltag, so etwa Rosenkränze, Weihwasser, Palmzweige, Kerzen oder Agnus Dei–Medaillen. Die Kirchen- und Kapellenglocken erfüllten die Landschaft mit ihrem Klang und gliederten nicht zuletzt den Tagesablauf. Religiöse Bedeutungsträger waren also in der alltäglichen Erfahrungswelt stark gegenwärtig und liessen diese zu einer Sakrallandschaft werden.221 218 Gelegentlich vertreten Wissenschaftler noch heute – ungeachtet jahrzehntelanger Forschungsergebnisse – diese Ansicht, so etwa Zurfluh (1994). Der diesbezüglichen Beurteilung Kälins (1996) ist auf jeden Fall zuzustimmen. 219 Die besagte Überzeugung lässt sich bis auf Paulus in 1 Kor 9.27 verfolgen, vgl. dazu Benedikt XVI. (2007: 150–152). In der Frage der sinnlichen Glaubensvermittlung nahm Bernhard von Clairvaux eine einflussreiche Position ein, vgl. Bernhard von Clairvaux II, 192: Es wäre – so Bernhard – hinreichend bekannt, dass die Bischöfe „den Weisen wie den Unklugen gleich verpflichtet sind, und sie sich deshalb bemühen, die Andacht des fleischlich [d.h. sinnlich] gesinnten Volkes mit materiellen Mitteln zu wecken, denn mit geistigen können sie es nicht“. 220 Zum Folgenden vgl. allgemein Brückner (1999) und Holzem (2001). 221 Zur Frage der katholischen Sakrallandschaft, vgl. Hersche (2006: 556–573, 580–592).

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Barocke Frömmigkeit drückte sich auch in einer Vielzahl körperlicher Handlungen aus. Schwerpunkt des Glaubenslebens bildete die Liturgie (im weiten Sinn), die als ausdrückliche, ja ausschliessliche Weise der Gottesbegegnung galt. Nun zeichnete sich gerade die Liturgie durch eine reiche Gebärdensprache aus und forderte von den Gläubigen eine tätige, körperliche Teilnahme. Im Vollzug liturgischer Haltungen, Zeichen und Ausdrucksweisen entwickelten Gläubige ein spezifisches, körperlich antrainiertes Vermögen, das sich keineswegs auf den Kirchenraum beschränkte. In dieser Hinsicht kann von einem katholischen Habitus gesprochen werden.222 Auf diesem Hintergrund befasst sich der folgende Abschnitt mit der Sakrallandschaft Engelbergs und dem katholischen Habitus der Talbevölkerung. Die Darstellung soll einen Einblick in das religiöse Leben des Hochtals ermöglichen. Zwei Einschränkungen seien jedoch vorweggenommen. Erstens ist festzuhalten, dass sich durch den gewählten Ansatz individuelle religiöse Vorstellungen der Talleute nicht erfassen lassen – eine geeignete Überlieferung steht dafür auch nicht zur Verfügung. Allerdings lässt sich das ungefähre Feld abstecken, in das sich individuelle Glaubensansichten fügten. So bildeten Sakrallandschaft und katholischer Habitus den hauptsächlichen Rahmen des religiös Deutbaren bzw. Gedeuteten. Zweitens stellen die folgenden Ausführungen eine Momentaufnahme barocker Frömmigkeit dar, wie sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt wurde. Es versteht sich, dass sich frühere und spätere Frömmigkeitsformen vom dargestellten Zustand unterschieden. Ein vollständiger Längsschnitt würde jedoch die Möglichkeiten dieser Darstellung überstiegen. Ein mittlerer Zeitabschnitt ist hier in der Annahme gewählt, dass eine solche Wahl am ehesten Rückschlüsse auf frühere bzw. spätere Verhältnisse erlaubt.

4.3.1 Wildenen und Alpen Zwei junge Klosterherren nutzten 1652 einen Sommertag, um den Hausberg des Hochtals, also den Engelberg (heute Hahnen) zu besteigen. Es handelte sich um Ignaz Betschart, den späteren Abt, sowie um Athanas a Castanea, den späteren Pfarrer. Die beiden Berggänger mussten bei ihrem Aufstieg ein Firnbrett überqueren, das in abschüssigem Gelände lag. Als Betschart die Stelle bereits passiert hatte, verlor sein 222 Der Begriff »Habitus« als antrainiertes, körperliches Vermögen ist von Mauss (1966) geprägt worden. Spätere Erweiterungen des Habitusbegriffs sind hier nicht mitzudenken. Zur Bedeutung des Performativen für die Geschichtsforschung, vgl. Fischer-Lichte (2003) und Fischer-Lichte (2004).

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Begleiter den Boden unter den Füssen und rutschte bäuchlings dem Abgrund zu. Dreimal sprach a Castanea das Stossgebet »Jesus, Maria!« und gewärtigte bereits den Tod. Auch Betschart, der nicht helfen konnte, erkannte die unmittelbare Todesgefahr und setzte mit der Hand bereits zum Kreuzzeichen an, um seinem Freund die Schuld zu erlassen. Da gedachte der Gestürzte des heiligen Leonz, dessen Bildnis er an einem Halsband trug – das besagte Bild war in besonderer Weise mit dem Heiligen verbunden, hatte es doch dessen Reliquien berührt. Auf das Stossgebet »Heiliger Leonz!«, so berichtete a Castanea später, „lage ich gantz still ohne einige Bewegung, als hätte mich jemand in völligem Schuss daher Fahrenden mit Gewalt auffgehalten, da es doch alles nidsich gieng und gächer [steiler] als der obere Theil ware“.223 Mensch, Vieh und Einrichtungen aller Art waren in den Wildenen und Alpen zahlreichen Gefahren ausgesetzt. Das unwegsame Gelände war selbst bei guten Bedingungen schwierig zu begehen. Die Alparbeit war mit vielen gefahrvollen Arbeitsgängen verbunden, man denke nur an die Hut des Viehs, das Mähen der Bergweiden, das Fällen von Bäumen, das Aufrichten von Schutzzäunen, der Bau von Wasserleitungen, die Fuhr von Heu, Holz und Käse, usw. Stein-, Geröll-, Wasserund Schneeniedergänge gefährdeten ebenso wie Unwetter das Leben von Mensch und Vieh. Eine gefürchtete Plage stellten auch die Viehseuchen dar, die insbesondere das Schmalvieh dahinrafften. Es gab also gute Gründe, den Schutz und Segen Gottes über die Wildenen und Alpen zu erbitten. So wurden jeden Frühling die Gemein- und die Klosteralpen bei Alpauffahrt von einem Geistlichen gesegnet. Dabei spendete der Geistliche den Alpsegen mit einer Reliquie des Talheiligen Eugen.224 Als 1762 ein Hochwasser die Gemeinalp Eien schwer schädigte, befahlen sich die Alpgenossen in den Schutz des Heiligen, indem sie den heiligen Eugen als Alpgenossen aufnahmen. Die übrigen Gemeinalpen folgten diesem Beispiel und erhöhten ihre jeweilige Alpstuhlung um eine Klaue. Der entsprechende Alpzins kam dem Heiligen als Spende zugute.225 Die Engelberger Gemeinalpen besassen zwar keine eigenen Kapellen wie z.B. die urnerische Blackenalp im angrenzenden Surenental, und auch die heute bestehenden Alpkreuze scheinen jüngeren Datums zu sein.226 Religiöse Zeichen fehlten aller223 Vgl. den entsprechenden Bericht bei Achermann (1979: 278–279). 224 Vgl. Ildephons Straumeyers »Engelberger Gebräuche«, S. 23. 225 Vgl. ETP 13.217–221. 226 Zur Blackenalpkapelle vgl. den Bericht Johann Rudolf Maurers in Dufner (1978: 47). Sogenannte Alpkreuze lassen sich in der zeitgenössischen schriftlichen Überlieferung – nach meiner Kenntnis – nicht belegen. Auch auf den Zeichnungen Samuel Birmanns, der Engelberger Alplandschaften um 1819 detailgetreu gezeichnet hat, fehlen entsprechende Hinweise auf Alpkreuze.

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dings kaum: Vermutlich bediente man sich auf den Alpen derselben Zeichen, wie sie auch in den Talgütern verwendet wurden, also Inschriften, eingehauene bzw. eingemeisselte Kreuze, gezeichnete oder angeheftete Bilder, usw. Schutzzeichen konnten auch auf dem Körper getragen werden, wie es der beinahe verunfallte Pfarrer Athanas a Castanea tat. Der Luzerner Stadtschreiber Renwart Cysat berichtete bereits 1565 davon, dass die Älpler der näheren Umgebung ihre Alpen täglich segneten. Er erklärte,227 das[s] die sennen oder allper jn disen wilden allpen sich mitt jrem vych nitt jn geringer gfaar befindent, wo sy nitt all abendt vmb bettglogken zytt das »Aue Maria« schryent oder rüeffent mitt lutter stimm, so vast sy mögent; dz jst ein gebett oder christlicher geistlicher spruch vff allte tütsche rymen vnd manier, mitt wöllchem sy sich sampt jrem vych jn den schirm vnd sägen Gottes bevelhent durch fürbitt syner würdigen muotter Mariae vnd aller lieben heiligen.

Die Älpler erbaten also mit ihrem sogenannten Betruf den Schutz Gottes über ihre Alp. Betrufe aus der Barockzeit sind für das Hochtal leider nicht überliefert. Erst 1943 fand ein Engelberger Betruf den Weg vollständig in die schriftliche Überlieferung, d.h. in Wort und Ton.228 Es wäre fahrlässig anzunehmen, dass die barocken Betrufe dieser Aufzeichnung genau entsprochen hätten. Doch einige Grundzüge lassen sich allemal erkennen. Der Betruf ist ein einstimmiger Gesang. Die absolute Tonhöhe ist kaum festgelegt, hingegen scheinen die Tonintervalle durch Brauch und Übung festgelegt. Der Gesang kommt ohne Takteinteilung aus und folgt allein dem Rhythmus des Worts. Die Satzeinheiten werden auf einem Rezitationston vorgetragen und enden mit einer Schlusskadenz. Bezeichnenderweise sind melodische Bewegungen mit der Anrufung Gottes, Marias und der übrigen Heiligen verknüpft, so besonders in der abschliessenden Anrufung des dreifaltigen Gottes. Der Vortrag des Betrufs weist augenfällige Ähnlichkeiten zum gregorianischen Gesang auf, die gewiss nicht zufällig sind. Offensichtlich liegt eine Aneignungsweise kirchlicher Ausdrucksmittel durch das Laienvolk vor.229 227 Vgl. Cysat I, 692. Der Hinweis auf die zitierte Stelle bei Wirz (1943: 3). 228 Vgl. Wirz (1943: 68–70). 229 Vgl. diesbezüglich Bachmann-Geiser (2006: 34–35). Die Frage, ob der Betruf in früherer Zeit gesungen oder gerufen wurde, ist ziemlich schief, so etwa bei Imfeld (2006: 142): Die Frage löst sich auf, wenn man um den Charakter des gregorianischen Chorals weiss, der im Dienst der Textdarstellung steht und eine „gehobene Deklamation des Textes“ ermöglicht, vgl. Hofer (1987: 21).

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Die Bestandteile des Gebets sind rasch zusammengetragen. Zunächst werden Gott, die Engel, die Gottesmutter und die Viehheiligen Martin und Wendel angerufen. Die Alp wird in ihren Schutz befohlen, was im Bild des schützenden Kreises bzw. Grabens verdeutlicht wird. Anlehnungen an kirchliche Gebetsformeln sind offenkundig. Ferner wird leicht abgewandelt der Anfangssatz des Johannesevangeliums („Das isch das Wort …“) zitiert: Damals wurde die besagte Stelle der Heiligen Schrift bei jeder Messfeier vor dem Entlassungssegen gesprochen, was ihre Andeutung im Betruf verständlich macht.230 Darauf folgt ein kirchliches Grundgebet, nämlich der Englische Gruss (Angelus): Der Gruss Marias ist durch die dreimalige Wiederholung und die gesangliche Hervorhebung besonders hervorgehoben. Das folgende Gebet entspricht einer (zweifellos veränderbaren) Heiligenlitanei, wobei Viehheilige und Talheilige (Eugen, Floridus und Plazida) besonders berücksichtigt werden. Schliesslich endet der Betruf mit einer Anrufung des dreifaltigen Gottes. Im Betruf sind also kirchliche Gebete, Gebetsformeln und Vorstellungen miteinander verschmolzen. Somit lässt sich eine laienmässige Aneignung kirchlicher Ausdrucksmittel auch auf der Textebene feststellen. Zusammenfassend stellt der Betruf eine Aneignungsweise kirchlicher Ausdrucksmittel durch Laien dar, und zwar sowohl in gesanglicher als auch in textlicher Hinsicht. Dieser Grundzug wird wohl auch die barocken Betrufe geprägt haben, so sehr sie sich von späteren Fassungen unterschieden. Die Alpgebiete waren beileibe keine Paradiese der Unschuld. Es ist hier nicht mehr auf die vielfältigen Streitigkeiten einzugehen, welche die Alpwirtschaft mit sich brachte. Es ist auch hinlänglich bekannt, dass manche Talleute die Abgeschiedenheit der Alpen für Zwecke zu nutzen wussten, die nicht als besonders fromm galten. Ferner machten sich die Engelberger Pfarrer regelmässig Sorgen um die seelsorgerische Erziehung der jungen Hirten, die gelegentlich „mehr ein veichisch als christlich leben zu führen“ schienen. Bisweilen wurde beklagt, dass „auf denen gemeinen alpen wider satz und ordnungen die jugend an feyr- und sontägen mit keglen, tötzlen, spilen und anderen üppigkeiten unter dem gottsdienst ihr muthwillen“ trieb. Die Geistlichen sahen es auch ungern, wenn Älpler das „liebe veich in der arbeith oft mit donnerndem und blitzendem schwöhren getriben, [demselben Vieh] feür, hägel, blitz und alles böse gewünscht“ und dadurch buchstäblich den Alpsegen gefährdet hatten.231 Die religiöse Prägung des Alplebens war also nicht einfach gegeben, sondern gründete auf einer willentlichen Anstrengung der Älpler. Die Alpen wurden nicht 230 Vgl. insbesondere Wirz (1943: 145–149, 211–214). 231 Vgl. die Einträge im Verkündbuch von März 1732 bzw. Februar 1733, ferner ETP 13.365–369.

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vom Brauchtum selbst geheiligt, sondern von den Menschen, welche dieses Brauchtum bewusst lebten und fortführten. Religiöse Bezüge waren auch bedeutsam für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Älpler. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert liessen die Alpgenossen eine Jahrzeit für die verstorbenen Älpler halten. Dieses Totengedenken führte später zur Herausbildung der Älpler- bzw. Antoniusbruderschaft. Auch die Älplerchilbi entwickelte sich aus diesem Totengedächtnis heraus.232

4.3.2 Fluren, Bäche und Wege Gefährdete Orte gab es auch auf dem Talboden. Talgüter, die an einer Bergflanke lagen, wurden gelegentlich von Niedergängen aller Art heimgesucht. Wegstrecken waren vielerorts in ausgesetztem Gelände angelegt, was entsprechende Unfälle mit sich brachte. Hochwasser konnte manchen fruchtbaren Landstrich innert kurzer Zeit verwüsten. Schutz und Segen Gottes schienen an jenen Gefahrstellen besonders vonnöten. Deshalb errichteten Talleute dort kleine Heiligtümer.233 Die sogenannten Kappeln (Chäppeli) wurden als kapellenartige Häuschen gebaut und konnten das Bild eines Schutzheiligen aufnehmen.234 So stand z.B. das Kappel in der Stalden in unmittelbarer Nähe zum Chüelauigraben, dessen Niedergänge gelegentlich das betreffende Landstück schädigten. Das Kappel von St. Anton im Berg lag an der steilsten Stelle der Landstrasse beim Rosshimmel. Der Brückenheilige Ulrich besass ebenfalls ein eigenes Kappel auf der Brücke über die Aa nahe der Benzenrüti.235 Die Talleute waren seit 1413 rechtlich verpflichtet, jährlich die Bachbette der Aa, des Dürrbach und des Mühlibach streckenweise zu reinigen. Die Säuberungsarbeiten fanden an den sogenannten Kreuztagen statt. Die Prozession zum Rübigraben (am Mühlibach) wurde stets am Georgstag (23. April) durchgeführt: Unter Glockengeläut schritt das Volk mit Kreuz und Fahne von der Kirche zum Bach, wo die Männer den Graben entsteinten und die Frauen den nahegelegenen Friedhof säuberten. Der Konvent empfing das Volk bei seiner Rückkehr, worauf man gemeinsam

232 Vgl. Hodel (1976: 7–11). 233 Zur Bedeutung von Wegheiligtümern vgl. Welker (1999). 234 Der Begriff »Kappel« ist bei DW XI,183 erläutert. Zur Gestalt der Kappeln vgl. Berchtold (1950:1). 235 Vgl. u.a. ETP 3.124, 13.298–299, 14.326–333 und 18.21–27.

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das Regina Caeli anstimmte.236 Das Gemeinwerk an der Aa und am Dürrbach wurde möglichst vor der Schneeschmelze bzw. vor dem Wintereinbruch verrichtet. Sobald die Säuberungsarbeiten erledigt waren, zog das Volk unter Anleitung des Pfarrers zur Kirche und betete den Rosenkranz bzw. die Muttergotteslitanei.237 Eine grosse Bedeutung kam den Kirchwegen zu. Bei jedem kirchlichen Anlass kamen die Talleute auf diesem Wegenetz zusammen. Der gemeinsame Gang in den Gottesdienst schuf eine willkommene Gelegenheit, einander zu treffen. Der Kirchgang verlief gelegentlich über verwinkelte Wege, wie etwa Jakob Vogel 1630 feststellen musste: Seine frisch angetraute Ehefrau machte sich zwar zwei Stunden früher als er selbst auf den Kirchgang, kam aber doch später als er in der Kirche an!238 Wegheiligtümer säumten die Kirchwege. Entsprechende Kappeln luden die Vorbeigehenden ein, kurze Andacht zu halten. Es war nämlich Brauch, beim Passieren eines Kappels niederzuknien und den Englischen Gruss zu beten. Bemerkenswert ist diesbezüglich eine Begebenheit, die sich 1768 zutrug: Vier Burschen ertappten damals einen Fremden beim Einbruch ins Widerwäll. Als sie den Einbrecher abführten, liefen sie am Kappel des heiligen Anton vorbei. Ein beteiligter Bursche berichtete später, „wie sey zu St. Antonis cäppelin kommen, haben sey wollen 5 [Ave Maria] bätten und der mann hab nit wollen, er hab noch weith heim“ – die Weigerung des Mannes machte ihn erst recht verdächtig.239 Die Wegheiligtümer bezeichneten ferner jene Orte, wo Leichenzüge auf dem Weg zur Kirche für ein kurzes Gebet innehielten. Die besagten Orte wurden in der Mundart als Laichäghirmi bezeichnet, d.h. als Totenrastplatz. Eine vielfach genutzte Laichäghirmi befand sich z.B. in der Brandstätt, wo ein (heute noch sichtbares) Muttergottesbild zur Andacht einlud.240 Insofern überhaupt Taufen, Heiraten und Beerdigungen in der Kirche gefeiert wurden, waren die Kirchwege in besonderer Weise mit diesen Lebensabschnitten verbunden: Neugeborene, Brautleute und Tote teilten denselben Kirchweg.241 Es ist für spätere Zeiten belegt, dass Wegheiligtümer gelegentlich als Dank für eine Gebetserhörung gebaut wurden. So erfüllten die Erhörten mit dem Bau eines Wegheiligtums ein entsprechendes Gelübde.242 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch in der Barockzeit Wegheiligtümer aufgrund eines gegebenen Gelübdes errich236 Vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in der Umschrift Plazidus Tanners, S. 46. 237 Vgl. Magnus Wasers Talbuch, 2. Teil, Art. 134 einschliesslich der Anmerkung. Ferner Hess (1951: 196–197). 238 Vgl. ETP 2b.85–86. 239 Vgl. ETP 14.326–333, ferner Hunkeler (1947: 37). 240 Vgl. Berchtold (1950: 2). 241 Vgl. die stichhaltigen Bemerkungen bei Löpfe (2007: 19–20). 242 Vgl. Berchtold (1950: 8).

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tet wurden. Ferner waren Wegheiligtümer aufgrund ihres Standorts gut sichtbar, weshalb nicht auszuschliessen ist, dass manche Stifter auch (Selbst)darstellungszwecke verfolgten. Eine besondere Heiligung erfuhren die Kirchwege durch die sogenannten Verwahrgänge. Geistliche konnten bei einem schweren Krankheitsfall ans Krankenbett gerufen werden, um – je nach Bedarf – Beichte, Kommunion bzw. letzte Ölung zu spenden. Diese geistliche Versorgung hiess »Verwahren«, wobei sich die Bezeichnung auch auf den Gang des Geistlichen übertrug.243 Die Krankenbesuche forderten von den Pfarrern manches ab, wenn sie „auf den rauhen und steilen Bergwegen die Kranken besuchend, bei Hitze und Kälte, bei tiefer Nacht und bei Schneegestöber, das selbst starke Männer erschreckte, zu Sterbenden gerufen“ wurden.244 Ein dreifacher Glockenschlag kündete der Talschaft einen bevorstehenden Verwahrgang an, sofern der Priester das Allerheiligste mitführte.245 Wer dem Geistlichen auf seinem Weg begegnete, konnte diesen um seinen Segen bitten. Pfarrer Ildephons Straumeyer beklagte sich allerdings 1734 bei den Angehörigen seiner Pfarrei, dass dies nicht immer auf würdige Weise geschah:246 So dann hab [ich] öfters nicht wohl angehört das pfeiffen, schreyen & [dergleichen], wann ich das Hochw. Sacrament zu den krancken getragen, damit [ich] solchen pfeiffern, schreyern & [dergleichen] den Segen gebe: hirmit, so ihr nicht weith entfernet, könnet ihr zu einem solchen erinnerungszeichen sprechen ‚Gelobt seye Jesus Christ!‘, auf welches dan, wan es gehört, der Segen ehender wird gegeben, auch der Ablass gewonnen werden.

Die Kirchwege erfuhren auch durch zahlreiche Prozessionen eine Heiligung. Die Durchführung einer Prozession wurde in der Regel mit dem Geläut der Theodulsbzw. Marienglocke angekündigt, der grössten Glocke des Kirchturmspiels. Führte die Prozession talauswärts, läutete man das Talvolk bereits um vier Uhr morgens zusammen. Geistliche sorgten bei der Zusammenkunft des Talvolks dafür, dass die übliche Prozessionsordnung beachtet wurde. Kinder, die das 14. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, schritten allen voran, um die Prozessionsordnung nicht zu verwirren. Von pfarrherrlicher Seite wurde gewünscht, es möge „kein Vatter oder Mutter so närrisch-liebend seyn, dass sie ihre kinder […] bey sich unter den Grossen haben

243 Vgl. Niderberger (1978: 413–419) sowie Descoeudres u.a. (1995: 20). 244 Vgl. das Nekrolog Magnus Wasers bei Hess (1945a: 58). 245 Vgl. Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 65. 246 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von Januar 1734.

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und mitführen wollen“.247 Den Kindern folgten die Fahnen- und Kreuzträger. Zwischen den Fahnenträgern reihten sich die Reliquien- und Bilderträger ein, denn in der Regel wurden Reliquien und Heiligenbilder (insbesondere die hölzernen Bruderschaftsbilder) mitgeführt. Zahl und Art der mitgeführten Heiligtümer richteten sich am kirchlichen Fest bzw. an der Prozessionsstrecke aus. Die Fahnen- und Kreuzträger trugen gewöhnlich schwarze Mäntel, wie sie auch die Gerichtsherren trugen. Hing die Prozession mit einem Bruderschaftsfest zusammen, trugen die Fahnenträger das entsprechende Bruderschaftsgewand. Die Heiligtümer wurden von den Jungfrauen begleitet, die ihr Haar mit Kränzen zusammenbanden und mit Haarbändern schmückten. Allerdings fiel es den modebewussten jüngeren Frauen nicht immer einfach, dabei auf ihre Käppchen zu verzichten, die mit Spitzen und Bändern geschmückt waren. Handelte es sich um ein Bruderschaftsfest, waren die Jungfrauen ebenfalls mit Bruderschaftskleidern gewandet. Zum ersten Prozessionsteil gehörten auch die Schützen als männliches Gegenstück zu den Jungfrauen. Bekanntlich wurden bedeutsame Ereignisse (wie z.B. Abtseinsetzungen) im Hochtal mit donnernden Ehrensalven gefeiert.248 Dann folgte der Konvent mit dessen Schülerschaft. Ihnen voran wurde das »Heilige Kreuz« getragen. Das Reliquienkreuz aus der Zeit um 1200 nahm im Kultleben des Hochtals einen bedeutsamen Platz ein. Es galt weit über das Hochtal hinaus als »uralt« bzw. »wundertätig« und genoss eine entsprechende Verehrung. So kam es in Notzeiten vor, dass die Nidwaldner Regierung den Abt darum bat, das Heilige Kreuz prozessionsweise nach Wolfenschiessen zu tragen. Dem Heiligen Kreuz folgten die Angehörigen des Klosters in liturgischer Kleidung. Die Klosterschüler führten je nach Fest auch brennende Kerzen mit. Dem Konvent folgte der Abt, der bei kürzeren Prozessionen ein silbernes Muttergottesbild in Händen trug. Auf selber Höhe schritt der Zelebrant, der – wiederum je nach Fest – die Monstranz trug, worin das Allerheiligste aufbewahrt wurde. Wann immer das Allerheiligste die Pfarrkirche verliess, läuteten die Glocken der Pfarrkirche ohne Unterbruch, während beim Allerheiligsten selbst ein Weihrauchfass geschwungen wurde. Die Ratsherren umstanden das Allerheiligste in ihren Gerichtsmänteln und mit brennenden Kerzen in der Hand. Gelegentlich trugen Ratsherren auch einen Baldachin, der über das Allerheiligste ausgebreitet wurde. Schliesslich folgten die übrigen Talleute, die an Prozessionen ihre Sonn- und Feiertagskleidung trugen. Gemessen am Klei-

247 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von Juni 1734. 248 Vgl. ETP 11.324 und 14.449–450, ferner Verkündbuch, Einträge von Mai, 1732, Oktober 1733, Mai 1735 und Fronleichnam. Dann auch Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 42–48. Zur Kopfbedeckung der Jungfrauen vgl. ferner Heierli (1922: 140–153).

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deraufwand liessen sich arme Talleute bekanntlich kaum von reichen Bauern unterscheiden. Der Gesang machte einen wesentlichen Bestandteil der Prozessionen aus. Regelmässig wurden die Allerheiligen- bzw. Muttergotteslitanei gesungen sowie die gebräuchlichsten marianischen Antiphone (Salve Regina, Regina Caeli, Ave Maris Stella usw.). An hohen Festen übte der Konvent die entsprechenden Gesänge auch mehrstimmig ein. Ferner wurde auf Prozessionen der Rosenkranz gebetet, so z.B. an den Bachprozessionen.249 Alljährlich wurden Prozessionen zur Heiligkreuzkapelle in Grafenort gehalten. Eine erste Prozession fand an Kreuzauffindung (3. Mai) statt, eine zweite an Kreuzerhöhung (14. September). Die sogenannten Kreuztage kennzeichneten jene Zeitspanne des Jahrs, in der die bäuerliche Arbeit ihren Höhepunkt erreichte. So wurde auch nach jedem Amt, das innerhalb dieser Zeitspanne gefeiert wurde, mit der Engelsglocke (d.h. mit der Angelusglocke) über das Wetter geläutet.250 Vermutlich veranlassten die Kreuztagsprozessionen 1704 Abt Joachim Albini, auf der Landstrasse nach Grafenort einen Kreuzweg zu errichten: Kunstvolle, steinerne Bildstöcke wurden an der Landstrasse angeordnet und erinnerten so an den Leidensweg des Herrn.251 In Grafenort selbst war bereits 1557 eine Kapelle errichtet worden, die in besonderer Beziehung zum Kreuzestod Christi stand. Als Abt Ignaz Burnott 1689 die heute noch bestehende Heiligkreuzkapelle errichten liess, wurde der Bezug weiter verdeutlicht. Die Kapelle wurde als Zentralbau (Achteck) gestaltet, womit die Jerusalemer Grabeskirche baulich nachgeahmt bzw. angedeutet wurde. Man verlegte zudem drei Reliquien in die Kapelle, die mit Christi Leiden zusammenhingen. Ferner wurde hier der heilige Dismas besonders verehrt, der an der Seite des Erlösers gekreuzigt worden war. Der Herr hatte dem reuigen Schächer versprochen, er werde noch am selben Tag mit ihm im Paradies sein. War dies nicht eine Verheissung für alle reuigen Sünder? Die Heiligkreuzkapelle und die Wegstrecke dahin vergegenwärtigten also auf vielfache Weise den Sühnetod Christi, der die Menschen von Tod und Verderben befreite. Es war naheliegend, Gottes Segen über Witterung und Vieh an jener Stätte zu erbitten, die so eng mit dem Heilsgeschehen verknüpft war. Geistliche konnten 249 Vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 42–48, sowie dessen »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 83, 87 und 98. Zu den Beinamen des Heiligen Kreuzes vgl. Verkündbuch, Einträge von September 1731 und Juli 1732, ferner Durrer (1971: 155–158, 1106–1111). 250 Vgl. Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 58. 251 Die besagten Bildstöcke liess man im 19. Jahrhundert – vermutlich bedingt durch den Bau der Kantonsstrasse – allmählich verfallen. Zum weiteren Schicksal der Bildstöcke vgl. etwa Dufner (1982a: 22). Heute stehen noch vier Bildstöcke auf der entsprechenden Strecke der Kantonsstrasse.

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deshalb erklären, die Kreuztagsprozessionen würden deshalb gehalten, „damit man sambtlich Gott für die abgewändete Übel und ertheilte Gnaden und Guotthaten dankete und zu Erhaltung ferneren Seegen Gottes wie auch Abwendung des bösen und schedlichen Ungewitters betete“. Am Samstag bzw. Sonntag nach Kreuzauffindung wurde die Kirchweihe der Heiligkreuzkapelle gefeiert, wobei je zwei Messen bzw. Vespern gefeiert und eine Predigt gehalten wurde.252 Gottes Segen über Witterung und Vieh wurde allerdings nicht nur an den Kreuztagsprozessionen erbeten. Die Talleute liessen den Abt öfter durch den Ammann bitten, eine Prozession „entweder für gutes Wetter oder zum Dank für die während dem Sommer empfangenen Gutthaten“ anzuordnen. Solche Prozessionen fanden im Sommerhalbjahr mehrmals statt und führten entweder in die Holz- bzw. Horbiskapelle oder auch nur bis zum Kreuz auf dem Chilchbüel. Ein eigentliches Erntedankfest wurde 1735 eingeführt und auf den Konradstag (26. November) angesetzt: So schloss man das Sommerhalbjahr mit einem feierlichen Hochamt und einem gesungenen Te Deum in der Kirche ab.253 Regelmässig führten Prozessionen ins benachbarte Wolfenschiessen. Als die Witterung im Sommer 1731 recht ungünstig ausfiel, wurde von den Talleuten „einständigest begehrt, dass eine allgemeine Andacht angesagt werde mit dem heilig und uralten Creütz nach Wolfenschiessen, um den gütigen Gott zu bitten, dass er sich unserer Armuth und Elends erbahrme“. Gelegentlich baten die Nidwaldner selbst – wie bereits erwähnt – um eine solche Prozession. Die Talleute nutzten den gemeinsamen Ausflug nach Wolfenschiessen auch zur weltlichen Unterhaltung. Manche verpassten sogar die Rückkehr ins Hochtal, etwa gewisse „Buben und Mägdlein, [die] mit Wein angefüllet, hinder nach“ schlichen. Pfarrer Ildephons Straumeyer beklagte sich 1734 sehr über jene Pfarrangehörige, die sich in den dortigen Gasthäusern derart „in das Wein- oder Brandtenweinglas vertieffen, dass sie […] ruckwegs entweders halb-räuschig das Creütz begleiten oder gar hinder dem Tisch – um ferners zu fressen, saufen und spihlen – dahinden bleiben“. Prozessionen waren also auch deshalb reizvoll, weil sie gesellige bzw. zwischengeschlechtliche Treffen ermöglichten.254 Die Landstrasse führte zu verschiedenen weiteren Wallfahrtsorten der Umgebung. In Altzellen konnte man die altehrwürdige Kapelle des Wetterheiligen Theodul (gelegentlich Joder genannt) besuchen, der auch zu den Talpatronen Engelbergs zählte. 252 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von Mai 1735. Zur Heiligkreuzkapelle vgl. Hodel (1989). 253 Vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 47–48, sowie Verkündbuch, Eintrag von November 1735. 254 Vgl. Verkündbuch, Einträge von September 1731, Juli 1732 und Juli 1734.

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Ein anderes Heiligtum stand seit 1698 auf der nahegelegenen Bettelrüti am Wellenberg, wo einst der selige Bruder Konrad Scheuber (1481–1559) gelebt hatte. Die Gebeine des vielverehrten Seligen befanden sich seit 1602 in der Pfarrkirche von Wolfenschiessen. Weiter gegen Norden lag die Wallfahrtskirche von Niederrickenbach, wo ein wundertätiges Gnadenbild manche Talleute anlockte. Nicht jede Heilung an einer Gnadenstätte wurde allerdings für ein Wunder gehalten. So weckte der junge Sepp Kuster 1774 einiges Misstrauen mit seiner Aussage, er sei in Niederrickenbach auf wunderbare Weise von einem Beinleiden genesen. Pfarrer Magnus Waser erkundigte sich bei mehreren Talleuten nach Kusters früherem Gesundheitszustand. Die Befragten erklärten übereinstimmend, sie hätten Kuster zuvor ohne Krücken gehen sehen. Ein anderer Talmann erklärte gar, „der lahm buob des schwartzen Thonis lauft an den kruchen, ich möchte [ih]m einmahl nit nachen“. Man traute dem angeblichen Wunder nicht und vermutete, der junge Bub habe lediglich Aufmerksamkeit gesucht.255 Beliebte Wallfahrtsorte waren ferner das Grab von Bruder Klaus in der Pfarrkirche von Sachseln. Auch das Gnadenbild der Einsiedler Wallfahrtskirche wurde häufig aufgesucht. Seltenere Wallfahrtsziele waren die Klöster Werthenstein und Muri, wo ein marianisches Gnadenbild bzw. der heilige Leonz verehrt wurden. Nur ausnahmsweise pilgerte man in die Heilige Stadt (Rom).256 Die Talleute stillten talauswärts auch weitere geistliche Bedürfnisse. Die Kapuziner von Stans und Altdorf wurden ebenso um geistliche Hilfe angegangen wie die Jesuiten in Luzern. Manche Anliegen liessen sich bei den auswärtigen Ordensgeistlichen schlicht leichter anbringen als bei der eigenen Geistlichkeit zu Hause. Ferner lockten die mehrtägigen Missionen der besagten Orden Gläubige aus der ganzen Innerschweiz an. So stellten die Missionen der Stanser Kapuziner beliebte Grossanlässe dar.257 Das Hochtal selbst besass ein eigenes, wenn auch bescheidenes Wallfahrtsheiligtum. Im Seitental des Horbis stand seit 1489 ein kleines Heiligtum, das 1635 aufgrund zunehmender Beliebtheit ausgebaut werden musste. Die Kapelle besass ein marianisches Gnadenbild, genauer gesagt ein Abbild der Muttergottes von Loreto. Dies war nicht ungewöhnlich, entstanden doch zu jener Zeit in der katholischen Eidgenossenschaft vielerorts Heiligtümer, die der Muttergottes von Loreto geweiht waren – der Loreto255 Vgl. ETP 16.107–116. Zu den Kapellen in Altzellen und auf der Bettelrüti vgl. Müller (1996). Zur Grabstätte des seligen Bruder Konrad Scheuber vgl. Durrer (1971: 1033– 1035). 256 Zur Wallfahrt nach Altzellen vgl. ETP 2b.555, nach Werthenstein vgl. ETP 2b.234– 236, 2b.451, 2b.459–460 und 3.14–15, nach Muri ETP 2b.645. Zur Wallfahrt nach Rom vgl. ETP 12.256. 257 Vgl. ETP 4.135–136, 4.234–235 sowie 11.646–651, ferner Schweizer (2004).

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kult war in der Vormoderne ähnlich beliebt wie es später der Lourdeskult sein sollte. Die Nachbarpfarrei Wolfenschiessen besass seit 1659 eine eigene Loretokapelle, 1713 erhielt auch Buochs ein eigenes Loretoheiligtum auf dem Ennerberg.258 Der marianische Charakter der Horbiskapelle war unverkennbar: Eine zeitgenössische Gründungslegende führte den Bau der Horbiskapelle darauf zurück, dass die Heilige Familie wiederholt im Seitental erschienen sei. Sinnigerweise stand im vorderen Horbis neben dem alten Weg, der zur Kapelle führte, ein kleines Kappel, das ein Bild der Muttergottes und des Jesuskindes barg. Als die Kapelle erweitert wurde, spendeten die »Gmeine Thallüth zuo Engelberg« der Kapelle eine prächtige Fensterscheibe, die Marias Himmelfahrt darstellte. Die Kirchweihe fand allerdings nicht an Maria Himmelfahrt, sondern an Maria Heimsuchung (12. August) statt.259 Die marianische Horbiskapelle besass einen besonderen Bezug zur Familie. So sollen unfruchtbare Frauen in späterer Zeit besondere Hoffnung in die Muttergottes im Horbis gesetzt haben. Kinder ihrerseits hielten eine regelmässige Schulwallfahrt zur Horbiskapelle ab: Alljährlich pilgerte der Kinderlehrer am Weissen Sonntag mit der Engelberger Kinderschaft zur Horbiskapelle. Die Kinder erhielten dadurch die Möglichkeit, den Prozessionsgang im geschützten Rahmen einzuüben. Nach dieser Wallfahrt kehrten die Kinder zurück in die Pfarrkirche, wo die reiferen am Rosenkranzaltar vom Abt die Erstkommunion empfingen. Schliesslich übergab der Abt den Erstkommunikanten einen Rosenkranz als Erinnerungsgeschenk. Die Erstkommunion entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum eigentlichen Übergangsritus zwischen Kindheit und Jugend: Wie stark diese Schwelle bereits in früheren Zeiten erlebt wurde, lässt sich allerdings kaum bestimmen.260

4.3.3 Ürten Das Hochtal war bekanntlich in vier Ürten gegliedert. Kloster und Dorfkern lagen in der Ürte Mühlibrunnen, um die sich die äusseren Ürten reihten: Im Osten 258 Vgl. Durrer (1971: 1034–1035) sowie Curti (1947: 13). 259 Vgl. Hunkeler (1947:27–38) und Hess (1915: 105). 260 Zur Kinderwallfahrt und Erstkommunion vgl. Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 57. Zur Bedeutung der Erstkommunion als Übergangsritus vgl. etwa Niderberger (1978: 411–413). Die besondere Verbundenheit der unfruchtbaren Frauen mit der Gottesmutter im Horbis konnte ich in der Überlieferung leider nicht festmachen. Die besondere Verehrung ist mir nur aus mündlichen Berichten bekannt: Da mündliche Traditionen in der Regel kaum weiter als ein Jahrhundert zurückreichen, spiegeln sich darin vermutlich Verhältnisse aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist angesichts der marianischen Prägung der Horbiskapelle aber nicht unwahrscheinlich, dass die besondere Verehrung ältere Wurzeln besitzt.

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der Oberberg, im Westen der Niederberg und im Nordwesten die Schwand, der auch Grafenort angeschlossen war – letztere Ürte wurde auch Unterberg genannt. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit wurden die Ürtegrenzen durch Kappeln, Bildstöcke, Kreuze und dergleichen gekennzeichnet. So grenzte das Kappel der heiligen Anna (unterhalb der oberen Dürrbachbrücke) den Dorfbezirk vom Oberberg ab. Eine ähnliche Aufgabe fiel dem Heiligtum in der Gmeinegg zu. Ein anderes Heiligtum in der Zelgen grenzte den Mühlibrunnen von der Schwand ab. Vermutlich waren auch Mühlibrunnen und Niederberg durch ein Heiligtum abgegrenzt, das sich bei der Einmündung der Landstrasse in den Dorfweg (westlich des Büel) befand.261 Nicht nur die Ürtegrenzen, sondern auch die Grundstücksgrenzen wurden häufig mit christlichen Zeichen versehen: Wo es möglich und nötig schien, wurden Marchverläufe mit eingemeisselten Kreuzen gekennzeichnet. Gewiss überwogen hierbei praktische Zwecke, doch der Symbolgehalt des Kreuzes kam wohl gelegen, um die Unantastbarkeit der Marchen zu unterstreichen. Die Aussenbezirke erhielten nach und nach eigene Ürtekapellen. Im Oberberg wurde bereits 1592 eine Marienkapelle im Holz errichtet, die 1716 in die nahegelegene Chalcheren verlegt wurde. Der Niederberg erhielt sein Heiligtum 1648 mit der Weihe der Jakobskapelle im Espen. Die Schwand schliesslich erhielt 1683 eine eigene Marienkapelle. Die Ürtekapellen wurden in der Regel an einer Stelle errichtet, wo zuvor ein kleineres Kappel gestanden war.262 Der Bau und der Unterhalt der Kapellen erforderte regelmässige Zuwendungen. Als etwa die Jakobskapelle 1646/48 errichtet wurde, beteiligten sich fast 50 Talleute an den Baukosten. Die „Gemeinne Dal-Lüdt zu Engelberg“ steuerten wiederum eine kunstvolle Fensterscheibe bei, die das Wirken des heiligen Jakobs darstellte. Der Bau der Schwandkapelle wurde 1683 sogar weitgehend vom Laienvolk berappt. Mit einer einmaligen Zuwendung war es allerdings nicht getan: Die Bauten und ihre Inneneinrichtung mussten unterhalten werden, ferner Kultgegenstände und Kerzen regelmässig beschafft bzw. ersetzt werden. Feuchtigkeit sowie häufige Temperaturwechsel über bzw. unter dem Gefrierpunkt liessen die Kapellen rasch altern. Es kam auch vor, dass Kinder ihre Namen mit Rötelstiften an die Kapellwände schrieben, kleine Zeichnungen anfertigten oder sich gar einen Spass daraus machten, die Wandverzierungen abzukratzen. Gelegentlich waren die Wände derart voll von solchen „schriften, kratzereyen, schlirp- und malereyen“, dass sie frisch gestrichen werden mussten.263

261 Vgl. Berchtold (1950: 2–3). 262 Zu den jeweiligen Kapellen vgl. Hunkeler (1947). 263 Vgl. Verkündbuch, Einträge von September 1733 und August 1734.

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Der regelmässige Unterhalt der Kapellen war also aufwendig. So unterstützte das Gericht die Heiligtümer auf eigene Weise, indem es Fehlbaren regelmässig Kapellspenden auferlegte. Die Kapellen wurden aber auch mit freiwilligen Zuwendungen unterstützt, wohl hauptsächlich von Ürtegenossen. Mess- und Jahrzeitspenden sicherten den Kapellen ebenfalls ein gewisses Einkommen. Ferner steuerte das Kloster Wesentliches zum Unterhalt der Kapellen bei. Die Talleute überliessen die Verwaltung der Kapellen ab 1727 sogar ganz dem Kloster.264 Dank der Kapellglocken konnte das Betläuten in den Ürten selbst vorgenommen werden. Man darf annehmen, dass die Betglocke zur selben Zeit geläutet wurde wie ihre grosse Schwester in der Pfarrkirche, nämlich um fünf Uhr (Morgenläuten), um elf Uhr (Mittagläuten) und um 19 Uhr (Abendläuten). Wer die Betglocke vernahm, war dazu aufgefordert, niederzuknien und den Englischen Gruss zu beten. Männer sollten auch den Hut ziehen. In der Osterzeit und an Sonntagen blieb man hingegen beim Gebet aufrecht. Pfarrer Ildephons Straumeyer beklagte wiederholt, manche Talleute würden beim Betläuten „in der Arbeith, ja in dem Geschwätz zancken und schreyen“ fortfahren und das Beten unterlassen. Allerdings räumte der Pfarrer auch ein, dass die Unterlassung „nicht aus verachtung, sondern [aus] unachtsamkeit oder böser gewohnheit“ erfolgte.265 Nebst dem Betläuten ermöglichten es ferner die Kapellglocken, dass bei Unwetter auch in den Aussenbezirken über das Wetter geläutet werden konnte. Mit den Ürtekapellen standen den Talleuten nahegelegene Andachtsräume zur Verfügung. Messen, Jahrzeiten, Totengedenken und Andachten aller Art konnten in der Nähe des eigenen Heims gefeiert werden. Alltägliche Bedürfnisse und Sorgen konnten in den Ürteheiligtümern vor Gott und seine Heiligen gebracht werden: So ist kaum zufällig, dass die vierzehn Nothelfer (in der Jakobskapelle) eine eigene Kultstätte erhielten. Eine besondere Bedeutung kam den Ürtekapellen an den Bitttagen zu, d.h. an den drei Tagen vor Christi Auffahrt. Das liturgische Leben der Pfarrei verlagerte sich an diesen Tagen in die Kapellen, die dadurch zu eigentlichen Stationskirchen erhoben wurden. Am Montag fand eine Prozession in die Espenkapelle statt, die von der Pfarrei Wolfenschiessen mitgefeiert wurde. Zu diesem Anlass wurde auch das Heilige Kreuz mitgeführt und (als Zeichen der Verehrung) geküsst. Am Dienstag folgte die Prozession in die Holzkapelle, am Mittwoch schliesslich jene zur Horbiskapelle. Auf allen Bittgängen wurde „zu Abwendung des Übels, zu Erhaltung der Fruchtbarkeit der Erden, für Gesundheit [des] Menschen und Viehs 264 Vgl. ETP 8.343. Zu den gerichtlich auferlegten Kapellspenden vgl. Hess (1904: 122– 123), Dufner (1982a: 18) sowie Hodel (1989: 4). 265 Vgl. Verkündbuch, Einträge von Juni 1731 und Juni 1734, ferner Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 48, 52 und 56.

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und zu Erlangung zeitlicher und ewiger Glückseeligkeit gebettet“. Prozessionen führten aber auch regelmässig zur Schwandkapelle, zumal dort ebenfalls ein marianisches Gnadenbild aufbewahrt wurde. Als etwa ein Erdbeben 1774 das Hochtal erschütterte, wurde darauf eine Prozession in die Schwandkapelle anberaumt, an der über 700 Menschen teilnahmen!266 Die Kapellen vermehrten auch die Festgelegenheiten, da jedes Heiligtum eine eigene Chilbi (Kirchweihfest) besass. Die Chilbenen fanden meistens an einem Sonntag statt. Die Heiligkreuzkapelle feierte ihre Chilbi nach Kreuzauffindung (3.  Mai), die Espenkapelle vor dem Jakobstag (25.  Juli), die Horbiskapelle nach Maria Heimsuchung (12. August), die Schwandkapelle nach Maria Himmelfahrt (15. August) und die Holzkapelle nach Maria Geburt (8. September). Eine Chilbi begann am Vorabend mit einer Vesper, am Sonntag selbst folgten zwei Messen (allenfalls mit Predigt und Rosenkranzgebet) und eine Vesper, an der Nachchilbi des Folgetags auch noch ein oder mehrere Seelenämter. Es ist hinlänglich bekannt, dass zu den geistlichen Anlässen auch ein weltlicher Festteil gehörte.267 Die Bauernhäuser selbst waren reich an christlichen Bezügen. An den Hausfassaden konnte man etwa das Monogramm Christi »IHS« finden, wobei gelegentlich der mittlere Buchstabe durch Anfügung eines senkrechten Strichs zum Kreuzzeichen erweitert wurde.268 Geweihte Gegenstände befanden sich allemal im Haus: Weihwasser, Kruzifixe, Heiligenbilder, Rosenkränze, Palmsonntagszweige, Lichtmesskerzen, Agathabrote bzw. -zettel, Johanneswein, Salz vom Dreifaltigkeitssonntag, Bruderschaftszeichen, Kalender und vieles mehr. Eine besondere Erwähnung verdienen auch die Agnus Dei-Medaillen: So gehörte es sich für einen Bräutigam, dass er zur Hochzeit seine Braut mit einer solchen Medaille beschenkte. Gelegentlich handelte es um wertvolle silberne Anfertigungen.269 Die Schlafzimmer waren oftmals in besonderer Weise mit den ersten bzw. letzten Lebensstunden eines Menschen verbunden. Geburt und Tod standen hier nahe beieinander. Im Zusammenhang mit der Kindbetterei wurde bereits festgestellt, dass Geburten ein öffentlicher Charakter zukam. Gleiches galt auch für das Sterben. Wenn ein Talmann bzw. eine Talfrau schwer erkrankte, rief der Pfarrer die Gemeinde beim nächstfolgenden Gottesdienst dazu auf, für den bzw. die Geprüfte zu 266 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von Mai 1735, zur Prozession von 1774 vgl. Abschn. 2.1.1. 267 Vgl. Hunkeler (1947: 4, 24–25). Die Schwander Chilbi fand bis 1730 am letzten Julisonntag statt. 268 Vgl. etwa KMB, Sammlung Birmann, Bi 303.100. 269 Vgl. etwa ETP 3.185–186, 11.390–397, 13.405–407 und 15.12–13. Zur Medaille selbst vgl. Brückner (1993). Das Standardwerk zu religiösen Realien ist noch immer Kriss-Rettenbeck (1963).

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beten. Niemand konnte ferner den Verwahrgang eines Geistlichen übersehen. Eine greifbare, öffentliche Wirklichkeit erhielt der Tod auch durch Totengeläut, Totenwache und Leichenzug.270 Die Ausstattung des Bauernhauses wies zahlreiche religiöse Bezüge auf. Das Bauernhaus diente auch als Schauplatz ritueller Handlungen, die mit den wesentlichen Lebenseinschnitten (Geburt, Heirat und Tod) verbunden waren. Unklar bleibt hingegen, welche Bedeutung alltäglichen Hausandachten zukam. Man darf wohl annehmen, dass in der Stube mindestens gelegentlich ein Rosenkranz oder ein Englischer Gruss (z.B. als Tischgebet) gebetet wurde.271

4.3.4 Freihof Der engere Klosterbezirk war seit alters durch einen besonderen Bann geschützt. Das Banngebiet wurde als Freihof bezeichnet. Der älteste Beschrieb des Freihofs findet sich in der Bibly aus der Zeit um 1400. Der Freihof zog sich von der Westgrenze der Ochsenmatt zum (ehemaligen) Frauenkloster, dann am Adelhelmsbrunnen vorbei in westlicher Richtung bis zum Mühlibach, von dort hinauf bis zum Rübigraben und wieder zurück über den Kirchhof zur Ochsenmatt. Damit gehörten Kirche, Beinhaus, Kirchhof und Kloster ebenso zum Freihofbezirk wie wichtige weltliche Einrichtungen (Gerichtsstube, Wirtschaftsgebäude, Wirtshaus, Tanzlaube, Mühle, Sage usw.).272 Der Freihof war geweihte Erde, was sich nicht zuletzt daran erkennen liess, dass Gräber bisweilen jenseits des Kirchhofs angelegt wurden.273 Das Geläut des Kirchturms strahlte vom Freihof ins ganze Hochtal aus.274 Vorrangigste Aufgabe der Glocken war die Ankündigung kirchlicher Pflichten und Feierlichkeiten. Mehrmals täglich läuteten die Glocken, um das Stundengebet der Mönche anzukündigen, angefangen mit der Mette um Mitternacht bis zur Komplet um 19 Uhr abends. Dreimal täglich forderte das Geläut der Engelsglocke die ganze Talschaft auf, den Englischen Gruss zu beten. Jeden Freitagabend läuteten die Glocken das Talvolk zum Gebet der Muttergotteslitanei zusammen. Das Glockengeläut 270 Entsprechende Gebetsaufforderungen sind in den Verkündbüchern zahlreich aufgeführt. Man erinnere sich ferner an den Fall Karl Anton Hurschlers, dem seine Frau 1751 eine Totenwache verweigerte. Vgl. ferner Renner (1937: 95, 102). 271 Vgl. allgemein zur katholischen Hausfrömmigkeit Forster (2005). 272 Vgl. Bruckner (1946: 14–15), Magnus Wasers Talbuch von 1790, 1. Teil, Art. 88 samt Anmerkung. 273 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von November 1731. 274 Vgl. zum Glockengeläut allgemein Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«. Zur allgemeinen Bedeutung von Glocken im ländlichen Raum (des 19. Jahrhunderts) Corbin (1994: 98–138).

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lud das Talvolk unter der Woche, aber vor allem an Sonn- und Feiertagen zu den jeweiligen Gottesdiensten ein: Predigt, Prozession, Amt, Rosenkranz, Kinder- und Christenlehre, Vesper usw. Glockengeläut begleitete auch die Wandlung während der Messe. Dem Einläuten der Gottesdienste entsprach das Ausläuten nach der Entlassung. Das Vollgeläut prägte vor allem die hohen Kirchenfeste. So wurde bereits der Feierabend (genauer gesagt die Vesper des Vortags) um 15 Uhr mit Vollgeläut angekündigt. An den hohen Feiertagen selbst erklang das Vollgeläut zur Prozession bzw. zu den Gottesdiensten mehrmals. Jeder Talmann bzw. jede Talfrau wurde bei der Begräbnisfeier mit dem Vollgeläut geehrt. Auch bei wichtigen Jahrzeiten, so etwa jene der Rosenkranzbruderschaft, erklang das Vollgeläut zum Totengedenken. Am Silvestertag (31. Dezember) läutete das Vollgeläut das alte Jahr aus bzw. das neue Jahr ein. Die Glocken kündeten also nicht nur bevorstehende Feierlichkeiten an, sondern gaben bestimmten Augenblicken eine höhere Weihe. Bereits erwähnt wurde die Vorschrift, dass die Glocken ununterbrochen geläutet werden mussten, wenn das Allerheiligste den Kirchenraum verliess. Das Vollgeläut seinerseits gab den hohen Kirchenfesten einen eigenen Klangcharakter. Auch in den Fastenzeiten liessen sich vereinzelte Feste durch abgestuftes Geläut hervorheben. So wurde die Grosse Glocke in der Fasten (vor Ostern) nur am ersten Fastensonntag, in der Mittfasten (Laetare), am Passionsund Palmsonntag geläutet. Im Advent erklang sie nur am ersten Fastensonntag und am dritten Adventssonntag (Gaudete). Ferner wurde von Kreuzauffindung bis -erhöhung donnerstags nach der Komplet die Angst geläutet: Das Angstläuten erinnerte an Christi Bedrängnis auf dem Ölberg. Die Grosse Glocke war der Gottesmutter Maria bzw. dem Wetterheiligen Theodul geweiht. Ihr Geläut begleitete alle wichtigen Feste. Umgekehrt waren Nebenfeste daran zu erkennen, dass sie „die Grosse Gloggen nit haben“.275 Eine wichtige Rolle spielte die Grosse Glocke auch beim Wetterläuten. Gewöhnlich wurde bei Unwetter mit der Engelsglocke geläutet. Wenn sich aber das Gewitter nicht legte, wurde die Engelsglocke von der Grossen Glocke abgelöst. Das Vollgeläut hingegen erschallte nur im äussersten Fall. Es entspricht der Bedeutung der Grossen Glocke, wenn sich in späterer Zeit sagenhafte Geschichten um sie rankten.276 Ferner erklang jeden Abend nach dem Abendläuten die Apostelglocke zu Ehren der heiligen Barbara. Da bei Nachteinbruch Lichter entzündet wurden, war die Geste gegenüber der Schutzpatronin vor Feuerbrand wohl begründet.

275 Vgl. Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 67. 276 Vgl. Niderberger (1978: 332).

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Kultur

Die Kirchenglocken beeindruckten nicht nur durch ihr Geläut, sondern auch durch ihr Schweigen. Am Hohen Donnerstag erschallten die Glocken zum Gloria des Amtes ein letztes Mal und verstummten darauf bis zur Auferstehungsfeier gänzlich: Die Glocken schwiegen in jenen drei Tagen, an denen man Christi Leiden und Tod gedachte. Die Stille war zweifellos einprägsam angesichts der gewöhnlichen Allgegenwärtigkeit des Glockengeläuts. Am Karfreitag bzw. Karsamstag wurde mit Rätschen und Rasseln zu Gottesdiensten gerufen. Geläufig bezeichnete man deshalb die Trauermetten beider Tage auch als Rumpelmetten.277 Die Osternachtsfeier ihrerseits wurde vor Mitternacht mit 24 Hammerschlägen gegen die Grosse Glocke angekündigt. Wenn es die Witterung zuliess, fanden im Freihof vom Ostersonntag bis zum dritten Oktobersonntag regelmässige Prozessionen statt. Im Winterhalbjahr wurden die Prozessionen hingegen in der Kirche durchgeführt. Zweimal monatlich fanden die Prozessionen der drei marianischen Bruderschaften statt, also der Rosenkranz-, der Skapulier- und der Schmerzensmutterbruderschaft. Besagte Prozessionen wurden jeweils am ersten und dritten Monatssonntag durchgeführt. Besondere Festanlässe stellten die Jahrestage der Bruderschaften dar, und zwar am dritten Julisonntag (Skapulierbruderschaft), am dritten Septembersonntag (Schmerzensmutterbruderschaft) und am ersten Oktobersonntag (Rosenkranzbruderschaft). Die jeweiligen Gesänge sowie die mitgeführten Bilder und Reliquien richteten sich nach der jeweiligen Bruderschaft aus. Die feierlichsten und aufwendigsten Prozessionen fanden zweifellos am Herrgottstag (Fronleichnam) und der darauffolgenden Oktav statt. Prozessionen wurden auch an den vier grossen Marienfesten gehalten: Während die Prozessionen an Maria Reinigung (2. Februar) und Maria Verkündigung (25. März) in der Kirche selbst durchgeführt wurden, fanden die Prozessionen an Maria Himmelfahrt (15. August) und Maria Geburt (8. September) im Freihof statt. Dort wurden Prozessionen ebenfalls am Markustag (25. April) und am Reliquienfest (erster Augustsonntag) gehalten. Auch die Bach-, Kreuztags- und Bittprozessionen sowie die Kinderprozession am Weissen Sonntag begannen bzw. endeten im Freihof. Die Prozessionen im Freihof stellten eigentliche Umgänge dar, d.h. sie verliefen „um das Closter aussen herumb“.278 Teils schritt der Konvent selbst mit, teils empfing er das Laienvolk an einer bestimmten Stelle – etwa beim Wirtshaus gegen Westen oder beim Melchgaden der Ochsenmatt gegen Osten –, ehe Konvent und Volk gemeinsam in die Kirche zogen. Der Bannkreis um Kirche und Kloster wurde durch die Umgänge immer wieder hergestellt bzw. körperlich erfahrbar gemacht. Einem 277 Vgl. Hess (1943b: 10), ferner Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 93. 278 Vgl. Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 57.

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vergleichbaren Zweck diente übrigens auch der Betruf: Hier war es die Stimme des Beters, die einen geweihten Bannkreis um das jeweilige Alpgebiet schuf. In unmittelbarer Nähe zur Kirche befanden sich die Beinhauskapelle und der Friedhof. Das Beinhaus wurde 1608 neu errichtet. Auch das Beinhaus erhielt ein Kirchweihfest, das auf Sonntag nach Peter und Paul (29. Juni) angesetzt wurde. Die besagte Chilbi wurde später allerdings kaum gefeiert, was angesichts der Zweckbestimmung des Heiligtums verständlich ist. Das Beinhaus war eng verbunden mit dem Gedenken an die (noch nicht erlösten) Verstorbenen. So stifteten Anna Maria Feierabend (1685–1746) und ihr Bruder Alphons Sepp Flori Feierabend (1694–1740) 1727 bzw. 1740 mehrere Messen, die zugunsten der Armenseelen jährlich im Beinhaus gelesen werden sollten. Letzterer sorgte sogar dafür, dass nach seinem Tod täglich ein Rosenkranz für seine Seele gebetet würde. Beide Geschwister waren zwar verheiratet, blieben aber zeitlebens kinderlos. Die Messstiftungen gingen wohl auch auf die Furcht der Stifter zurück, dass niemand nach ihrem Tod für sie beten würde. Ganz ähnliche Beweggründe liessen sich bereits bei Spendgönnern feststellen (vgl. Abschn. 3.2.1). Als Anna Maria Feierabend 1746 starb, bemerkte der damalige Pfarrer Wolfgang Iten im Sterberegister tadelnd, die Verstorbene habe sich der Frömmigkeit fast bis zum Aberglauben ergeben und sei immer geradezu ängstlich um ihr Seelenheil besorgt gewesen. Feierabends Furcht fiel auf und war offenbar nicht der Regelfall.279 Anna Maria Feierabend liess die gestiftete Jahrzeit auf den Magdalenatag (22. Juli) festlegen. Der Gedanke lag nahe, denn eine Darstellung Maria Magdalenas beherrschte den Hochaltar des Beinhauses. Wie der Schächer Dismas, so hatte auch Maria Magdalena schwer gesündigt, und doch hatte ihr der Herr vergeben. Das durfte all jene zuversichtlich stimmen, die – wie Maria Magdalena und Dismas – im irdischen Tränental Schuld auf sich geladen hatten. Neben Maria Magdalena waren im Beinhaus verschiedene Heilige abgebildet, die als Patrone des guten Todes galten, so etwa Anna, Barbara, Benedikt, Michael, Onophrius, Petrus, Ursula usw. Auch der heilige Lukas war dargestellt, den man unter anderem als Patron der Kranken ansprach.280 Im Beinhaus amtete die sogenannte Seelenmutter, die regelmässig Gebete für die Armenseelen sprach und die Gräber säuberte. Spendbezüger waren ebenfalls gehalten, an den Andachten zugunsten verstorbener Spendgönner teilzunehmen, doch ihre Zuverlässigkeit hielt sich gelegentlich in Grenzen. So musste Pfarrer Ildephons Straumeyer 1734 beklagen, dass manche Spendbezüger während jener Andachten 279 Vgl. Eintrag im Sterberegister vom 18.12.1746. Zu den besagten Messstiftungen auch Hunkeler (1947: 43–45). 280 Vgl. Hunkeler (1947: 42) sowie Müller u.a. (2008:11).

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lieber vor der Kirche sassen und zusammen schwatzten, als für ihre verstorbenen Wohltäter zu beten. Ähnliches hatte der Pfarrer zuvor von den Knaben und Mädchen festgestellt, die „aussert der kirch nur schwetzen, mit ein andern herum springen und gumpen, anstatt dass sie den gewohnlichen Rosen-Krantz“ beteten.281

4.3.5 Pfarr- und Klosterkirche a) Kirchenpforte und Vorhalle Stift und Pfarrei besassen niemals getrennte Gotteshäuser: Die Klosterkirche war immer Stifts- und Pfarrkirche zugleich. Die Pfarrei wurde stets von einem Engelberger Konventualen besorgt, der vom Abt dazu bestimmt wurde. Eine freie Pfarrerswahl besassen die Talleute nie, doch nahmen sie daran keinen Anstoss. Das erstaunt nicht weiter, da die Talleute eine geistliche Versorgung genossen, die weit überdurchschnittlich war und sie zudem kaum etwas kostete.282 Die Äbte von Engelberg besassen seit 1613 das päpstlich verbriefte Recht, die Pontifikalien (Ring, Stab und Mitra) zu tragen. Die Pfarrei Engelberg gehörte zwar bis 1803 dem Bistum Konstanz an, doch blieb der bischöfliche Einfluss auf das Hochtal im 17. und 18. Jahrhundert gering: In aller Regel bekamen die Talleute den Bischof bzw. die Weihbischöfe zeitlebens nicht zu sehen. Bischöfliche Visitationen kamen seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr vor. So lag die Verantwortung über die Pfarrei weitgehend bei den Äbten, die seit Ignaz Betschart auch ein quasi-bischöfliches Recht beanspruchten. Die Äbte von Engelberg gehörten zu den höchsten geistlichen Würdenträgern der Innerschweiz und genossen ein entsprechendes Ansehen weit über die Grenzen des Hochtals hinaus. In der Benediktinerkongregation spielte das Stift eine bedeutsame Rolle.283 Für diese Untersuchung bleibt bedeutsam, dass Stift und Pfarrei keine eigenständigen Wege gingen: Man feierte die Liturgie gemeinsam in derselben Kirche unter Leitung desselben geistlichen Oberhaupts. Vom Eingang zur Klosterkirche war bereits verschiedentlich die Rede. Der Eingang zur Klosterkirche war ein beliebter Treffpunkt. So musste Abt Emanuel Crivelli 1739 die Talleute ermahnen, „dass man under wehrendem gottesdienst mit dem so ohnverschambten tabacrauchen wenigist vor und nebend der kirchen auf offenem platz, wo ordinari gantze zusammen komften [sic!], auch verschonen solle“. Ferner

281 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von August 1732 und Dezember 1734. 282 Vgl. dazu auch die Rede von Heinrich Stulz von 1519 in Gfr. 30, 1875, 20. 283 Vgl. Heer (1975: 207–208, 237–238, 327–330).

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mussten Übeltäter auf dem Vorplatz der Kirche gelegentlich öffentliche Busse leisten, wenn das Talvolk nach dem sonntäglichen Amt die Kirche verliess. Die Bedeutung der Kirchenpforte wurde durch ein alljährlich wiederkehrendes Ereignis wohl am nachhaltigsten geprägt: Die Kirchenpforte war nämlich in der Osternachtsfeier Schauplatz eines eindrücklichen Geschehens.284 Konvent und Talvolk versammelten sich um Mitternacht, um gemeinsam die Mette zu beten. Nach einem feierlichen Te Deum wurde am Heiligen Grab (vor dem Chorgitter) ein Bild des Auferstandenen aufgehoben, wobei das verstummte Vollgeläut wieder erklang und der Osterhymnus „Christ ist erstanden“ gesungen wurde.285 Der Auszug aus der Kirche begann, nachdem man Kerzen für die bevorstehende Prozession ausgeteilt hatte. Der Abt selbst führte das Allerheiligste mit, wobei ihn der Talfähnrich mit dem Christusbild und ein Laienbruder mit der Osterkerze begleiteten. Sobald man die Kirche verlassen hatte, wurde die Kirchenpforte von innen geschlossen. Draussen wurden die Kerzen am Osterfeuer entzündet, ehe man zur nächtlichen Prozession um das Kloster schritt, wenn es denn die Witterung zuliess.286 Als man zur verschlossenen Kirchenpforte zurückkehrte, gaben Knechte ein teuflisches und furchterregendes Geheul von sich, und zwar ausser- wie innerhalb der Kirche. Zur selben Zeit schritt der Abt mit dem Allerheiligsten vor die Pforte, pochte mit dem Fuss gegen die Tür und rief laut: „Öffnet, ihr Fürsten, eure Tore, und es wird der König der Herrlichkeit eintreten.“ Der Ritus vergegenwärtigte Christi Ankunft vor den Toren der Hölle. Aus dem Kircheninneren verlautete die Gegenfrage: „Wer ist dieser König der Herrlichkeit?“ Dreimal wurde die Wechselrede wiederholt, ehe das Teufelsgeschrei verstummte, die Türen aufsprangen und der Auferstandene siegreich in Gestalt des Allerheiligsten in die Kirche einzog. Beim Einzug erklangen nicht nur Posaunen, sondern auch sämtliche Orgeln, die (wie die Glocken) zuvor verstummt waren. Das Geschehen sollte auf unmittelbare Weise versinnbildlichen, wie der Sieger über Tod und Finsternis die Pforten der Hölle zersprengt hatte. Darüber hinaus schuf es auch ein Verständnis für die Heiligkeit des Kirchenraumes.287 Die Vorhalle der Kirche war 1608 stark ausgebaut worden, weshalb auch das Beinhaus an den heutigen Standort verlegt werden musste. Bis 1729 befand sich zudem auf der Evangelienseite (linke Seite) ein Johannesaltar, weshalb die Vorhalle auch 284 Vgl. Hess (1943b: 11–13), ferner Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 94. 285 Teile des früheren Heiligen Grabes sind im heutigen Dachstuhl der Kirche eingebaut. 286 Zur Osternachtsprozession vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 42, zum Osterfeuer Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 93. 287 Zum Ritus vgl. etwa Freise (2002: 338–340).

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als Johanneskapelle bezeichnet wurde.288 Die Talleute verlegten ihre geselligen Runden auf dem Kirchenvorplatz während der kalten Jahreszeit wohl in die Johanneskapelle, „damit sy nit also erkeltet oder in frost in die kilchen müßten, sonder sich zuvor wärmen könnten“. Gelegentlich bauten Krämer in der Vorhalle bzw. auf dem Kirchhof Marktstände auf, um Gegenstände (Kerzen, Brote, usw.) zu verkaufen, deren Segnung am jeweiligen Festtag anstand. Die Geistlichen stellten diesen Markt allerdings rasch ab.289 Gelegentlich wurden in der Johanneskapelle geistliche Spiele aufgeführt, was hingegen nicht für die Passions- und Weihnachtsspiele galt, die wohl eher in der Kirche selbst aufgeführt wurden. So führte man an Mittfasten (Laetare) 1663 ein Schauspiel in der Johannskapelle auf, das im Herzen aller „ein rechtes, wahres, christliches und brüderliches Mitleiden mit den armen, nohtleidenden Seelen im Feggfeür“ wecken sollte.290

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Seliger Konrad Seliger Adelhelm Plazida (Reliquien) und weibliche Hl. Floridus (Reliquien) und männliche Hl. Anton (Bruderschaft) Benedikt Maurus Schmerzensmutter (Bruderschaft) Heilige Familie Karmel (Bruderschaft) Joachim und Anna Johannes d. Täufer (und Evangelist Johannes) Rosenkranz (Bruderschaft) Hl. Jungfrauen Katharina, Agatha (und Agnes) Dominikus Peter und Paul Eugen (Reliquien)

18 19 20 21 22 23 24

Mauritius Sebastian (Bruderschaft) Verena Gott Zeitenherrscher Heilige Jungfrau Maria Engel und Erzengel Leonhard, Nikolaus und Theodul

A B C D + --.... •

Tabernakel Kanzel Taufstein Weihwasserstein Kreuz Chorgitter Treppenstufen Beichtstuhl

288 Am Altar wurden sowohl Johannes dem Täufer als auch der Evangelist Johannes verehrt, vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 18. Zum Bau der Vorhalle vgl. ferner Durrer (1971: 111). 289 Vgl. zum Vorgängerbau die Rede von Heinrich Stulz von 1519 in Gfr. 30, 1875, 21. Zu den Verkaufsständen vgl. Hess (1945a: 21). 290 Vgl. Hess (1943b: 14–17), vor allem zur schwierigen Überlieferungslage der geistlichen Spiele.

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Religiöses Leben Innenanlage der Engelberger Klosterkirche (schematische Darstellung) vor 1729

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

A/6/21–24

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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nach 1729

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10 11

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8f. C  

 

 

 

D 10f.  

 

   

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B/23

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



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C

 

 

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b) Laienschiff und Vorchor Durch die Johanneskapelle hindurch gelangte man in den eigentlichen Kirchenraum.291 Für die Reinlichkeit der Kirche war die Kirchenwischerin verantwortlich, die „alle monet einmahl nach begehren des H.P. Custos die kirchen und kirchenstegen wüschen, item stüel und bänkh absteüpen und alle s.v. unfläterey weggthun“ sollte und zu diesem Zweck vom Grosskellner Besen und Lumpen erhielt. Auf beiden Seiten der Kirche standen den weltlichen Besuchern der Kirche je 30 Sitzreihen zur Verfügung.292 Die Geschlechter des Tals setzten sich in einer bestimmten Reihenfolge in die Kirchenbänke, wobei die grössten und ältesten Geschlechter den Vorrang hatten. Die Sitzbänke der Männer lagen auf der Epistelseite, jene der Frauen auf der Evangelienseite. Es ist allerdings fraglich, ob man sich streng an diese Aufteilung hielt. So hiess es 1687 von Anna Maria Vogel, dass der Klosterschneider „sich villmahlen under den Predigen undt h[eiligem] Rosenkrantz bey disem Meitli aufgehalten“ habe, was die Prediger offenbar nicht unterbanden.293 Die Geistlichen hatten hingegen mehr Mühe damit, wenn kleine Kinder den Gottesdienst mit „Geschrey gleich den kleinen Katzen“ störten, ohne dass ihre Eltern sie beruhigten bzw. aus der Kirche trugen – aus demselben Grund schätzten die Seelsorger auch mitgebrachte Hunde nicht besonders. Ferner sollten die Kinder die Kinderlehre erst besuchen, wenn sie „von selbst gehen“ konnten. Die Vorschrift richtete sich vor allem an jene Mütter, die ihre Kinder bereits zur Kinderlehre brachten, wenn diese noch in den Windeln bzw. in der Wiege lagen. Pfarrer Magnus Langenstein musste die jungen Mütter 1729 auch auffordern, ihre Kinder nicht in der Kirche zu stillen. Pfarrer Ildephons Straumeyer argwöhnte fünf Jahre später, die Säuglinge würden nur wegen der „Hoffart der Weiberen gemeinlich auf den Armen in die Kirchen getragen werden“.294 Kinder- und Christenlehre gehörten zu den bedeutsamen Einrichtungen, die das Konzil von Trient eingeführt hatte. Im Hochtal fand die Katechese jeden Sonntag (ausser dem ersten Monatssonntag) statt: Sie richtete sich besonders an Burschen und Mädchen, die das 16. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten.295 Während der Fasten unterrichtete der Katechet gar dreimal die Woche (mittwochs, freitags und samstags) – an diesen Tagen wurden jeweils auch die Fastenpredigten gehalten. 291 Zur Tab. 4.2 und den weiteren Ausführungen vgl. v. a. Durrer (1971: 117–131). 292 Vgl. ETP 11.451, ferner Hess (1945a: 20–22) und Tomaschett (2007: 231). 293 Vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 30, ferner ETP 2b.279–280, 4.137–142 und 4.227–229. Zur Geschlechtertrennung ferner Hersche (2006: 707–709). 294 Vgl. Verkündbuch, Einträge von April 1732, September 1732, April 1733 und April 1734. Ferner Hess (1945a: 22). 295 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von März 1625.

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Da Jugendliche den Sommer hindurch oft auf den Alpen arbeiteten, konnten sie die Christenlehre nicht regelmässig besuchen. Die Pfarrherren wachten umso mehr darauf, dass die Jugendlichen in der Winterzeit den Katechismus besuchten. Eltern wurden ganz besonders an ihre Verantwortung erinnert, so etwa 1735 von Pfarrer Ildephons Straumeyer:296 Auch haben diese Lehr höchst vonnöthen die junge Eheleüth, welcheren nicht wenige gleich den Kinderen, ohnwissend seynd, und bey Abgang dieser nöthigen Glaubensunderweisung ihre Kinder ohnfehlbar auch zu dem wahren Christlichen leben, so doch ihres hochzeithaltens vornehmbstes Ziel und End gewesen und seyn soll, nicht werden erziechen können, sondern es heissen wird: Stockfisch bliben, und erziechen Stockfisch.

Dass die Talleute auch in geistlichen Dingen keine »Stockfische« blieben, dafür sorgte auch der »Kleine Katechismus« des Jesuitenpaters Petrus Canisius. Der »Canisi« war im Hochtal das christliche Lehrbuch schlechthin, wie sich schon bei der Behandlung der Ehegesetzgebung von 1771 herausstellte. Der besagte Katechismus war auch als Anhang in den Kirchengesangsbüchern abgedruckt.297 Christenlehre, Beichte und Predigt gaben den Seelsorgern Gelegenheit, ihre Pfarrangehörigen in Glaubensdingen zu unterweisen. Die Belehrung wurde zwar von den Talleuten nicht immer geschätzt, was besonders für die Predigt galt. Gleichwohl ging der jahrelange Besuch des Katechismus kaum spurlos an ihnen vorbei. Empfängliche Talleute entwickelten sich gewiss zu „leidlich guten Theologen“.298 Die Eltern wurden umgekehrt angehalten, ihre Kinder alleine zur Kinderbeichte kommen zu lassen, und zwar „ohne närrisches einblasen und beystehen der eltern beym beicht-stul, dass, wie geschechen, mehr die eltern als die kinder beichten“. Kinder beichteten an Palmsonntag, und zwar ab dem siebten Lebensjahr. Es wurde vornehmlich geprüft, ob die Kleinen das Vaterunser und die übrigen Grundgebete aufsagen konnten. Nach kurzer Beichte wurden die Kinder für ihren Fleiss mit Süssgebäck belohnt.299 Die jungen Burschen mussten ermahnt werden, sich während des Gottesdienstes nicht zu necken und in Kraftspielen (Drücken, Drängen usw.) zu messen. Raufe296 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von März 1735. 297 Vgl. ETP 14.468–474. In der Stiftsbibliothek sind noch zwei Exemplare des „Catholisch Gesangbüchlein bey dem Catechismo“ von 1600 bzw. 1613 erhalten. 298 Der zitierte Ausdruck findet sich bei Renner (1937: 193), der damit die Bergleute des Urserentals charakterisierte, deren religiöse Erziehung sich im frühen 20. Jahrhundert kaum wesentlich von jener der Barockzeit unterschied. 299 Vgl. Hess (1943b: 8).

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reien kamen trotzdem gelegentlich vor, etwa wenn Engelberger und Nidwaldner Burschen aneinandergerieten.300 Die jungen Männer spielten ihren Pfarrherren gelegentlich Streiche, wie Pfarrer Ildephons Straumeyer 1732 unzufrieden bemerkte:301 Es gehen zum exempel 20 [Talleute] zum Opfer, der erste legt einen Rappen, auf der ander, so folgt, legt ebenfalls ein Rappen und nimmet einen ausen, und so der dritte, vierte, und alle, dass letstlich nichts bleibt als ein Rappen, welchen der erste geopferet, und vielleicht auch wieder durch sechslen aussen genommen, so er einen angetroffen hätte.

Manche Erwachsene hingegen wurden getadelt, weil sie an den Prozessionen nicht teilnahmen, um sich zwischenzeitlich „mit besserem und kommlicherem Orth in den Stüelen [zu] versechen“. Platznot brach insbesondere an Weihnachten und Ostern aus, wenn sich die Talleute vor die Beichtstühle bzw. vor die Kommunionbänke drängten. Einige warteten den letztmöglichen Zeitpunkt ab, um ihre Beichtpflicht (vor Ostern) zu erfüllen. Das „Getümmel oder Trucken“ vor den Beichtstühlen war Bussgefühlen nicht gerade förderlich und beanspruchte die Beichtväter derart, dass der klösterliche Tagesablauf dadurch empfindlich gestört wurde.302 Auch Talfrauen machten den Pfarrherren gelegentlich Schwierigkeiten. So wies Pfarrer Ildephons Straumeyer 1732 gewisse Frauen streng an, dass sie an sonn- und feyrtägen so wohl unter der heiligen Messen als Predig nicht, wie es sonst vor zeiten denen noch nicht gtaufften gebotten war, nur zu hinderst in der kirch bey der thür bleiben, auf einandern hocken wie die frösch-malter, um dass sie alles zu ererst, ehe sie in die stül gehen, ausspähen und wunderfitzig die aus- und eingehende angaffen, der kleidung, tritt und schritt beobachten, sondern, weil das Orth allen schon gewideret, sich in die stül begeben.

Der pfarrherrliche Tadel erinnert daran, welchen Kleideraufwand viele, auch ärmere Talleute an den Sonn- und Feiertagen betrieben.303 Der Kirchenbesuch wurde eben auch zur gesellschaftlichen (Selbst)darstellung genutzt: »Kleidung, Tritt und Schritt« wurden in der Kirche besonders genau beobachtet. Hochzeiten waren diesbezüglich besonders teuer. Am besagten Ehrentag hatten die Eheleute die Ehre (und wohl auch die Pflicht), in die vorderste Kirchenbank zu sitzen. Der Hochzeits300 Vgl. Hess (1943b: 22), sowie ETP 8.61–62 und 9.49–54. 301 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von Dezember 1732. 302 Vgl. Verkündbuch, Einträge von Dezember 1731, April 1732, Januar 1734 und Juli 1734. 303 Vgl. Verkündbuch, Einträge von Januar 1732 und Juli 1733.

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tag kam vor allem dem Bräutigam teuer zu stehen, da er für (Silber)schmuck und Hochzeitskleid seiner Braut aufkommen musste. Ferner wurden die Hochzeitsgäste üblicherweise mit Schnupftüchern (Fatzenetli) beschenkt, was – neben der reichen Bewirtung der Gäste – weiteren Aufwand bedeutete. Die Hochzeitskosten konnten bald einmal 80 Gulden betragen, was manche Junggesellen schlichtweg von einer Heirat abhielt. Andere liessen sich nur auf eine Heirat ein, wenn sich die Schwiegereltern an den Hochzeitskosten beteiligten.304 Vielen Talleuten behagte das Schaulaufen in der Kirche ganz und gar nicht. Wohl deshalb besuchten nicht wenige selbst an Sonn- und Feiertagen die Frühmessen. Überhaupt waren die Frühmessen auch werktags sehr beliebt, so dass auch an werkhtägen ville fromme thalleüt mit anhörung derselben [Frühmessen] und hindansetzung ihrer ruhe, geschäften, auch ohnerachtet der langen nächten, oft strengen Jahreszeiten, der entfernung von der Kirchen etc., dem Tag und ihrer Arbeit den anfang machen.

Manche Männer erschienen dabei in ihrem Arbeitsgewand, dem sogenannten Hirtenhemd. Pfarrer Magnus Waser erinnerte 1775 allerdings daran, dass die Arbeitstracht keine würdige Kleidung sei, um vor das Allerheiligste zu treten.305 Die angestellten Beobachtungen verdeutlichen, wie sehr das Alltagsleben auch in den Kirchenraum vorstiess. Zugleich muss aber betont werden, dass andächtiges Verhalten gleichwohl den Regelfall darstellte. Tatsächlich ist die Zahl der pfarrherrlichen Klagen gering angesichts der schier unzählbaren Gottesdienste, die im selben Zeitraum in der Kirche gehalten wurden. Ferner hatten nicht nur die Geistlichen, sondern auch die Talleute bestimmte Vorstellungen davon, was sich in einer Kirche zu tun schickte. Unsittliches Verhalten führte auch unter den Talleuten „zuo höchstem Scandel der Nechstanwesenden“ und „zue grosser Ergernus ehrlicher Leüthen“.306 Sittsamkeit in der Kirche war beileibe kein ausschliessliches Anliegen der Geistlichkeit.

304 Vgl. ETP 1.346, 2b.66–70, 3.3–4, 3.6–7, 4.330–332, 6.302a-304, 7.429–435, 8.371– 379, 11.87–89, 11.165–166, 11.390–397, 11.433, 12.105–109, 13.282, 13.405–407, 14.109–111, 14.365–368, 14.372–375, 14.451–457, 15.12–13, 15.504–506, 16.288– 291, 16.300–302, 16.396–398, 16.442–444, 16.473–477, 17.598–599, 18.151–152, 19.209 und 19.217. 305 Vgl. Hess (1943b: 35–36) sowie Magnus Wasers Talbuch von 1790, 1. Teil, Art. 92 samt Anmerkung. 306 Vgl. etwa ETP 4.189–190 und 4.227–228. Sehr genau beobachtet bei Freitag (2002: 15), anders dagegen bei Hersche (2006: 702–710)

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Nach dem Klosterbrand vom 29.  August 1729 dauerte es 16 Jahre, bis die neugebaute Klosterkirche am 5. September 1745 geweiht werden konnte. Nach dem Brand mussten die Gottesdienste in einer nahegelegenen Holzhütte, die am Albinibau angelehnt wurde, gehalten werden. Das geistliche Leben wurde stark zurückgestutzt, da fast die Hälfte des Konvents das Hochtal vorübergehend verlassen musste. Engelbergs liturgisches Gedächtnis nahm durch den Brand ebenfalls Schaden, da die Verkündbücher der Jahre 1696 bis 1721 verbrannt waren.307 Alte kirchliche Bräuche drohten in Vergessenheit zu geraten, da sie auf Jahre hinaus nicht mehr geübt werden konnten. Dessen waren sich die Engelberger Geistlichen wohl bewusst. Abt Maurus Rinderli beauftragte seinen Mitbruder Ildephons Straumeyer, den damaligen Stiftsarchivar, schon wenige Wochen nach dem Brand, Engelbergs kirchliche und klösterliche Gebräuche für die Nachwelt schriftlich festzuhalten. Bereits im Oktober 1729 war der Band zu den »Engelberger Gebräuchen« geschrieben, im Januar 1730 folgte die Ergänzung im »Läut- und Zeremonienbuch«. Weiter verfasste Straumeyer eine ausführliche »Beschreibung des Vorgängerklosters«, die auch die Anlage der alten Kirche genau festhielt. Ein Jahr später wurde Straumeyer zum Pfarrer von Engelberg berufen, was ihm die Möglichkeit gab, das gesammelte Wissen im Pfarreileben umzusetzen. Die 1730er Jahre stellten eine Schlüsselzeit für das geistliche Leben des Hochtals dar. Kirchliche Bräuche wurden gesammelt und bewusst lebendig gehalten, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Ähnliches galt auch für den Neubau der Kirche. Gewiss, die barocke Kirche wich in ihrer Grundanlage von der gotischen Kirche von 1325 erheblich ab: Dabei kamen nicht zuletzt gewandelte liturgische Vorstellungen und Bedürfnisse zum Ausdruck. Trotzdem richtete sich der Neubau an den Kult- und Ritustraditionen des Hochtals aus, die in jahrhundertelanger Entwicklung gewachsen waren. Die Barockkirche wurde als Hallenkirche gebaut. Die ausgeprägte Tiefenwirkung entstand sowohl durch die Wandpfeilerhalle selbst als auch durch deren schiere Länge. Die Kirche wurde 230 Schuh lang, 56 Schuh breit und 66 Schuh hoch gebaut.308 Die Längsgliederung von Vorhalle, Laienschiff, Vorchor und Chorschiff sowie der Verzicht auf ein Querschiff führten den Blick der Eintretenden zum Hochaltar. Der barocke Hallenbau versinnbildlichte, dass der Kirchenbesucher beim Eintreten ins Heiligtum den irdischen Bereich schrittweise verliess. Der Hochaltar wurde räumlich entrückt, um ihn gleichsam als aufgerissenen Vorhang zwischen Himmel und Erde erscheinen zu lassen. Chorgitter und Kommunion307 Vgl. Hess (1943b: 3), Hess (1945a: 22) und Tomaschett (2007: 130–131). 308 Vgl. Tomaschett (2007: 285).

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bank (zwischen Vorchor und Chorschiff ) betonten die Heiligkeit des Hochaltarraums.309 Kult und Ritus spielten sich allerdings zu einem beträchtlichen Teil vor dem Chorgitter ab. Dafür sorgten nicht zuletzt die sechs Seitenaltäre in den Seitenschiffen der Kirche sowie die zwei Nebenaltäre vor dem Chorschiff. So flankierten acht kapellenartige Räume die Kirchenbänke zu beiden Seiten, durch mächtige Wandpfeiler voneinander getrennt und von Querbögen überspannt. Unmittelbar beim Eingang lagen die Grabmähler des seligen Stiftsgründers Konrad von Sellenbüren (Evangelienseite) und des seligen Abtes Adelhelm (Epistelseite). Nach letzterem war auch der Adelhelmsbrunnen im Freihof benannt, dessen Wasser heilsame Eigenschaften zugeschrieben wurden.310 In der nächstvorderen Reihe lagen die Allerheiligenaltäre: Der Altar auf der Männerseite war den männlichen Heiligen gewidmet, der Altar auf der Frauenseite den weiblichen Heiligen. Auf den Altarblättern wurden die vierzehn Nothelfer dargestellt, die auch in der Espenkapelle besonders verehrt wurden. Eine besondere Würde erhielten die Altäre durch die Reliquien des heiligen Floridus bzw. der heiligen Plazida, die auch im Engelberger Betruf angerufen wurden. Die Feste der beiden Katakombenheiligen wurden am letzten Julisonntag (Plazida) bzw. am letzten Augustsonntag (Floridus) gefeiert. Jeden Sonntag wurden Salz und Wasser am Plazidaaltar gesegnet: Letzteres wurde jeweils zum Asperges bzw. Vidi Aquam (d.h. zur Besprengung vor dem Amt) gebraucht. Ebendort wurde das Salz am Dreifaltigkeitssonntag gesegnet sowie am Blasiustag (3. Februar) der Blasiussegen gespendet. An allen Muttergottes- und Apostelfesten fand die Gabendarbringung an den Altären der beiden Heiligen statt. Kanzler und Kammerdiener zogen dabei dem Abt die Schuhe aus bzw. an, während Ammann und Statthalter ihm vor dem heiligen Dienst die Hände wuschen. Auch Ämter wurden auf den Seitenaltären regelmässig gefeiert, so in den Oktaven der heiligen Eugen, Floridus und Plazida, an Silvester, am Jahrestag der Abtswahl sowie am Übertragungsfest des seligen Stiftsgründers und der drei ersten Äbte von Engelberg. Mahnend hielt Ildephons Straumeyer allerdings fest, dass „kein Tag vergehe, an welchem nicht eine Messe am Hochaltar gehalten werde“. Ferner wurden verstorbene Talleute bei ihrer Totenmesse im Mittelgang zwischen Floridus- und Plazidaaltar aufgebahrt, wobei „eine schwarze Decke, ein Crucifix und 2 Kertzenstöck“ auf bzw. neben sie gelegt wurden. Etwa an derselben Stelle wurde an Christi Auffahrt ein Bildnis des Auferstandenen aufgestellt 309 Zur barocken Kirchengestaltung vgl. Benedikt XVI. (2007: 111–112). Zur Engelberger Barockkirche vgl. Tomaschett (2007: 387–388), ferner Achermann u.a. (2009: 38– 39). 310 Vgl. De Kegel (1993: 17–18).

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und unter Lobgesang zur Decke emporgezogen, ehe die Osterkerze gelöscht und die eigentliche Osterzeit beendet wurde. Tod und Auferstehung liessen sich kaum anschaulicher verbinden. Der Totenmesse selbst folgte übrigens eine ganze Reihe von Gedenkfeiern (Dritter, Dreissigster und Jahrzeit), die beliebig vermehrt bzw. verlängert werden konnten.311 Die nächstvorderen Altäre waren dem heiligen Benedikt (Epistelseite) und dem heiligen Anton (Evangelienseite) geweiht. So standen der Schutzpatron des Klosters und der Schutzpatron der Bauern auf gleicher Höhe. Die Älplerbruderschaft war in besonderer Weise mit dem heiligen Anton verbunden, obgleich Älpler- und Antoniusbruderschaft bis ins 18. Jahrhundert getrennt waren. Die Älplerbruderschaft wurde 1651 gestiftet: Sämtliche Gerichtsherren traten der Bruderschaft bei, ebenso viele Talleute und Auswärtige. Der vorrangigste Zweck der Bruderschaft galt dem Totengedenken. Seit den 1650er Jahren wurde an der Älplerchilbi ein (Seelen)amt am Antoniusaltar gefeiert. Die Jahrzeit sollte den Engelberger Älplern „selbst zuo Wohlfahrt wie auch den abgestorbenen zuo Trost“ gereichen.312 An der Kanzel vorbei gelangte man zu den vordersten Seitenaltären. Es handelte sich ebenfalls um Bruderschaftsaltäre. Auf der Epistelseite wurde der Altar der Skapulierbruderschaft eingerichtet, den man (bedingt durch die Ursprünge der Bruderschaft) meist Karmeliteraltar nannte. Die Skapulierbruderschaft wurde im Hochtal 1683 gegründet. Auf der Evangelienseite befand sich der Altar der Schmerzensmutterbruderschaft, die bereits 1669 gegründet worden war. Die Feste beider Bruderschaften fanden am dritten Julisonntag bzw. am Freitag vor Palmsonntag statt. Altarinschriften erinnerten ferner daran, dass der wöchentliche Gedenktag der Schmerzensmutterbruderschaft montags (feria IIda), jener der Skapulierbruderschaft mittwochs war (feria IVta). Jede Bruderschaft hatte einen eigenen Präses, d.h. einen geistlichen Begleiter.313 Die Bruderschaften führten regelmässig Prozessionen, Jahrzeiten und Andachten durch, die immer auch gesellige Anlässe darstellten. Mehrfachmitgliedschaften waren durchaus möglich: So war Maria Katharina Benedikta Kuster in den 1770er Jahren mit acht Bruderschaften verbunden, wovon sich sechs talauswärts befanden 311 Vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 3–4, 14, 20 und 30–31, sowie Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 83 und 96. Ferner auch Gfr. 33, 1878, 87. 312 Vgl. Hodel (1976: 7–11). 313 Zu den Bruderschaften vgl. Henggeler (1956). Aufschlussreich ist die Bemerkung Ildephons Straumeyers, dass der Präses der Rosenkranzbruderschaft am Bruderschaftssonntag nicht mit dem Konvent speiste. Man könnte annehmen, dass die Mitglieder der Rosenkranzbruderschaft anderswo gemeinsam speisten, vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 75.

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(etwa in Alpnach, Luzern und Sachseln). Jedenfalls ist festzuhalten, dass Frauen in den Bruderschaften stark vertreten waren.314 Mehrere Stufen sowie die Kommunionbank setzten das Laienschiff vom Vorchor ab. Hier wurde am Weihnachtsfest die Krippe und am Krummen Mittwoch (Karmittwoch) das Heilige Grab aufgebaut.315 Die Fusswaschung am Hohen Donnerstag erfolgte wohl ebenfalls im Vorchor, wo der Abt in Erinnerung an das letzte Abendmahl zwölf Knaben die Füsse wusch. Auch die Anbetung des Kreuzes am Karfreitag erfolgte vermutlich im Vorchor: Das Heilige Kreuz wurde dabei zur Verehrung und Berührung ausgestellt.316 Ferner wurden in der neuen Kirche die Taufund Weihwassersteine in den Vorchor verlegt. Gerichtsfamilien liessen ihre Kinder feierlich taufen, erst recht wenn der Abt Pate stand, wie er es bei jedem erstgeborenen Engelberger zu tun pflegte. Unter Umständen wurden die Taufen mit Orgel-, Posaunen- und Geigenspiel sowie mit Chorgesang umrahmt.317 Der Vorchor wurde liturgisch ausserordentlich stark genutzt. Dies hing vornehmlich mit den zwei Nebenaltären zusammen, die den Vorchor beidseitig beherrschten. Auf der Epistelseite befand sich der Wandelaltar des Talheiligen Eugen, dessen Fest seit 1693 am 6. September gefeiert wurde. Der Eugenstag zählte zu den ranghöchsten Kirchenfesten des Hochtals und wurde mit einer entsprechenden Oktav gefeiert. Wie beliebt der Heilige im Talvolk sein mochte, belegt folgende Begebenheit: Die Gebeine des heiligen Eugen wären beim Klosterbrand 1729 beinahe verbrannt, wenn nicht zwei Talleute – beide trugen den Vornamen »Eugen« – die heiligen Gebeine unter Lebensgefahr aus der brennenden Turmkapelle geborgen hätten.318 Jeden Freitag betete man nach der Vesper die Muttergotteslitanei am Eugensaltar. Es wurde „mit der kleinen Glocke ein Zeichen gegeben, auf dass das Volk herkomme“. Feierliche Vespern waren regelmässig mit einer Prozession des Konvents zum Eugensaltar verbunden, wo man die Muttergotteslitanei betete. Ferner betete man während Jahrzehnten nach jeder Komplet einen Rosenkranz zu Füssen des Talheiligen. Das Amt selbst wurde mehrmals jährlich an diesem Altar gefeiert, so am Namens- bzw. Wahltag des Abtes, am Silvestertag und am Fest der Übertragung der seligen Konrad und Adelhelm. Ein Geistlicher war übrigens eigens dazu abgeordnet, Berichte über Wundertaten des heiligen Eugen entgegenzunehmen und zu verzeichnen. Vom Talheiligen waren auch Andachtsbilder im Umlauf. Der Heilige 314 Vgl. ETP 15.313–314 und 17.40–41. 315 Vgl. Durrer (1971: 128) sowie Hess (1943b: 9). 316 Vgl. Verkündbuch, Einträge von April 1735. 317 Vgl. Hess (1945c: 125–126). 318 Vgl. Tomaschett (2007: 492).

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spielte – wie schon erwähnt – eine wichtige Bedeutung bei der alljährlichen Alpsegnung und wurde auch im Betruf angerufen.319 Über der Nische des heiligen Eugen war ein Standbild des heiligen Sebastian angebracht. Dieser Märtyrer war der Patron der Schützenbruderschaft, die seit 1562 belegt und damit Engelbergs älteste Bruderschaft war. Die Schützenbruderschaft besass – wie die anderen Bruderschaften auch – ein Bild ihres Heiligen, in diesem Fall ein Bild des »Schützen-Baschi«. Das Standbild war von Pfeilen durchbohrt, die mit Namenstäfelchen versehen waren: Auf diesen waren die Namen der ehemaligen Schützenmeister verewigt. An der beliebten Schützenchilbi (im September) fand der »Schützen-Baschi« eine ganz eigene Verwendung: Der Schützenmeister und sein Statthalter liefen mit dem Standbild umher und baten um Spenden für die Engelberger Schützen.320 Auf der Evangelienseite befand sich der vielgenutzte Rosenkranz- bzw. Muttergottesaltar. Für die Herrichtung des Altars war ein eigener Kustos bestellt, der sich auch um die anderen Bruderschaftsaltäre kümmerte. Jeden Samstag fand zur Vesperzeit eine Prozession zum Rosenkranzaltar statt, wo das Salve Regina gebetet wurde. Dies geschah auch an mehreren Feiertagen sowie an allen Marienfesten einschliesslich des Vorfestes. Am selben Altar endeten gewöhnlich auch die Prozessionen mit einem Gebet zur Muttergottes. An den vier grossen Marienfesten (Maria Reinigung, Verkündigung, Himmelfahrt und Geburt) sowie am Jahrestag der Rosenkranzbruderschaft wurden hier Seelenämter zugunsten der verstorbenen Bruderschaftsmitglieder gehalten. Hier erhielten ferner die Kinder am Weissen Sonntag vom Abt die Erstkommunion sowie einen Rosenkranz. Ausgesprochen zahlreich waren die Rosenkranzandachten. An jedem Sonn- und Feiertag wurde eine Rosenkranzandacht gehalten, in der Fastenzeit auch dreimal unter der Woche (mittwochs, freitags und samstags). An jedem ersten Monatssonntag hielt der Präses der Rosenkranzbruderschaft eine einleitende Predigt. Beim Rosenkranzgebet unterstützte regelmässig eine Vorbeterin das Gedächtnis des Pfarrvolks. So erklärte Pfarrer Ildephons Straumeyer 1735 seinen Pfarreiangehörigen,321 dass ihr sogenannten hl. Rosenkrantz mit lauter stim bettet, und wan das ohne Vorbetterin nicht sollte geschechen können, so solle jene Ordnung gebraucht werden zwischen denen

319 Vgl. Ildephons Straumeyers »Gebräuche« in Plazidus Tanners Umschrift, S. 7, 9, 27– 28, 37, 41 und 65, sowie Ildephons Straumeyers »Läut- und Zeremonienbuch«, S. 54 und 81, ferner auch Tomaschett (2007: 698). 320 Vgl. dazu insbesondere KMB, Sammlung Birmann, Bi 321, Notizen zu »Sprache und Sitten«. Ferner auch Hess (1915: 86) mit einer Abbildung des »Schützen-Baschi«. 321 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von März 1735.

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Mann- und Weibsbilderen, als wie es bey dem Abendt-Rosenkrantz geschicht; sollte aber eine fromme alte Person wöllen vor betten, so wurd solche auch mehr von dem Spendtvogt betrachtet werden.

Ziemlich beiläufig erwähnte der Pfarrer den Abendrosenkranz, den die Familien bzw. Hausgemeinschaften nach dem Abendessen in der Stube zu beten pflegten. Wie genau man diese Gebetssitte allerdings einhielt, ist unbekannt.322 Erneut fällt übrigens auf, dass Frauen eine wichtige Stellung im Pfarreileben zukam. Allgemein war die Talschaft reich an frommen Menschen, wie die Nekrologe der Pfarrbücher belegen. Die Pfarrherren würdigten darin viele Talleute als piissimi bzw. piissimae. Diese Talleute waren mindestens so zahlreich wie jene, die ihrer Obrigkeit durch ihr Verhalten regelmässig Schwierigkeiten bereiteten. Die Frommen vermittelten ihren Mitmenschen durch ihre vorbildliche Lebensführung christliche Inhalte vielleicht besser, als es mancher Seelsorger tun konnte.323 Zu Engelbergs Frommen gehörten aber auch die zahlreichen Talleute, die in den geistlichen Stand eintraten. So übernahmen mit Magnus Langenstein (1691–1742) und Magnus Waser (1722–1792) Talleute sogar die Pfarreileitung. Auch viele Talfrauen traten als Ordensschwestern in den geistlichen Stand ein. Vergegenwärtigt man sich die bisherigen Erkenntnisse dieser Arbeit, so wird leicht ersichtlich, dass Frömmigkeit nicht selbstverständlich gelebt wurde. Frommes Denken und Handeln beruhte in der Regel auf einem Willensentscheid.324 Das liturgische Pfarreileben war also an Sonn- und Feiertagen recht dicht: Die Predigt begann nach dem Morgengebet der Mönche, ungefähr zwischen 7 und 8 Uhr morgens. Der Predigt schloss sich die Prozession an, worauf das Hochamt (je nach Fest) gegen 9 bzw. 10 Uhr folgte. Dem erneuten Stundengebet der Mönche reihte sich um 12:30 Uhr die Kinderlehre an, die Rosenkranzpredigt um 13 Uhr, dann die Rosenkranzandacht (je nach Fest) um 14 bzw. 15 Uhr und schliesslich unmittelbar darauf die Vesper. Die Gottesdienste füllten also fast den ganzen Tag. Das macht leicht verständlich, weshalb die Talleute die Gottesdienste gelegentlich wählerisch besuchten. Das Kirchenjahr brachte viele wiederkehrende Feiern mit sich, wobei sich manche ausserordentliche Anlässe (Taufen, Hochzeiten, Totengedenken) dazugesellten. Die Gottesdienste wurden dabei nicht gleichförmig gefeiert: Kirchenausstattung und Liturgie machten den jeweiligen Grad bzw. Charakter eines Festes sehr anschaulich. 322 Vgl. zum Abendrosenkranz Imfeld (2006: 270–271). 323 Vgl. allgemein dazu Châtellier (1987: 266–267). 324 Zu den Engelberger Geistlichen vgl. Hess (1943a) und Hess (1945a).

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Während die Kirche in Buss- und Fastenzeiten ungeschmückt blieb, entfaltete sich in Festzeiten ihre ganze Pracht. Der abgestufte Gebrauch von Kreuzen, Altarschmuck, Kerzen, Weihrauch, liturgischen Gewändern usw. gab dem jeweiligen Fest ein eigenes Gepräge. Krippe, Heiliges Grab und Auffahrt vergegenwärtigen sinnlich Christi Geburt, Tod und Auferstehung. Das Heilige Kreuz stand an den Feierlichkeiten von Karfreitag im Mittelpunkt. Der jeweilige Festcharakter liess sich aber auch durch den Gehörsinn erfassen: Die Stille der Buss- und Fastenzeiten hob sich deutlich von der Klangfülle der Festzeiten ab. Während in der Fasten der Alleluja-Ruf, die Glocken und die Orgeln schrittweise verstummten, ertönten sie in der Osternachtsfeier mit voller Stärke wieder. Der instrumentell begleitete Chorgesang war derart eindrücklich, dass auch die protestantische Helen Maria Williams davon erschüttert wurde, als sie in den 1790er Jahren einen Gottesdienst in der Klosterkirche besuchte.325 Der Grad eines Festes war auch daran zu erkennen, wer das Amt zelebrierte. Die Hochfeste feierte der Abt selbst, dessen quasi-bischöfliche Stellung durch Mitra, Ring und Stab zum Ausdruck kam. Der Prior zelebrierte an den übrigen grossen Festen, der Subprior an den einfachen Festen und der jeweilige Wöchner in der verbleibenden Zeit. Die Einteilung in Abts-, Priors- und Subpriorsfesten machte die Feststruktur des Kirchenjahres durchsichtig und klar. Petrus Canisius hielt in seinem Katechismus fest, dass die Liturgie „den innerlichen gottesdienst fürdern und mehren“ solle, und ergänzte, „die ceremonien seind also zeichen, zeugknuß und übung desselbigen innerlichen dienst Gottes“.326 Tatsächlich verkörperten die Liturgie bzw. ihre äussere Gestaltung christliches Bedeutungswissen: So bedeutete liturgische Erziehung immer auch religiöse Erziehung. Es verwundert deshalb nicht, dass die Seelsorger einen grossen Wert auf die liturgische Erziehung der Kinder legten (Kinderlehre, Schulwallfahrt, Kinderbeichte usw.).

c) Chor und Hochaltar Jenseits des Vorchores lag schliesslich der Chor, der vom Hochaltar überragt wurde. Der Altar selbst war von mehreren Standbildern umgeben, welche die altehrwürdigen Talpatrone darstellten. Das war – in minderem Mass – bereits bei den Nebenaltären der Fall. Den Hochaltar umstanden die Standbilder der heiligen Benedikt, Lienhart und Nikolaus, die seit der Stiftsgründung im Hochtal verehrt wurden. Die Verehrung des heiligen Theodul ging ebenfalls auf das 12. Jahrhundert zurück. Der Erzengel Michael und die übrigen Engel besassen seit 1390 einen Altar in der Kirche, wurden aber bereits früher im Hochtal verehrt.327 325 Vgl. Williams (1798: 68). 326 Vgl. Canisius I, 58. 327 Vgl. Tomaschett (2007: 43, 45, 49) und Hunkeler (1943: 16).

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Der Hochaltar der Barockkirche wurde dreifach gestuft. Im obersten Teil wurde eine übergrosse Uhr angebracht, in deren Mitte das Obblatt des Altars eingefügt wurde. Im Obblatt wurde Gottvater dargestellt, die Uhrzeiger gleichsam in den Händen haltend. Gott war damit als Herrscher über die Zeit ausgewiesen. Darunter schloss sich das Hauptblatt des Altars an, das auch den meisten Platz beanspruchte. Das Hauptblatt war Maria gewidmet, der Hauptpatronin von Stift und Tal. Auch die Klosterkirche selbst war Maria geweiht, weshalb die Kirchweihe seit alters am Sonntag nach Maria Himmelfahrt (dem bedeutendsten Marienfest) gefeiert wurde – sinnigerweise stellte das Hauptblatt diese Himmelfahrt dar. Das prächtige Bild verschwand nur während der Fastenzeit, wenn es nach kirchlichem Brauch mit dem sogenannten Hungertuch bedeckt wurde.328 Marias Ehrenplatz war nicht unverdient, war sie doch im Hochtal fast allgegenwärtig, von den äussersten Wildenen bis ins Herz der Kirche. Auch die geläufigsten Gebete waren stark marianisch geprägt. Maria stand im Mittelpunkt des geistlichen Lebens, und zwar gemeinsam mit ihrem leidenden Sohn und den Märtyrerheiligen. Der Erlöser, Maria und die Märtyrer hatten die Nöte der Menschen nach gängiger Meinung selbst erfahren und schienen deshalb den Menschen im irdischen Tränental besonders nahezustehen. Jene Treuen und Gehorsamen galten als mächtige Fürbitter der Menschen vor Gott. Gewiss, die barocke Amtskirche förderte die entsprechenden Kultformen – nicht zuletzt auch zur konfessionellen Abgrenzung. Doch die Kulte hätten kaum so durchschlagenden Erfolg gehabt, wenn das Kirchenvolk nicht besonders empfänglich für sie gewesen wäre. Unmittelbar auf dem Altartisch stand schliesslich der Tabernakel. Das Konzil von Trient übte sicher einen Einfluss aus, als Abt Jakob Benedikt Sigerist 1606 einen neuen, kunstvollen Tabernakel errichten liess. Der Tabernakel der Barockkirche wurde noch aufwendiger gestaltet und kostete über 2‘000 Gulden, was den Altarschrein zum Prunkstück der Kirche werden liess. Die kostbare Ausstattung verstärkte zusätzlich die Wirkung, die bereits durch die Raumgliederung der Kirche erzeugt wurde: Der Tabernakel wurde gezielt zum Blickfang der Kirche gestaltet. Selbst dem einfachsten Gemüt konnte der Mittelpunkt der Kirche, der zugleich Mittelpunkt des Glaubens sein sollte, nicht verborgen bleiben.329 Engelbergs Sakrallandschaft und der katholische Habitus der Talbevölkerung zeichnen sich vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen wenn auch unvollständig, so doch in groben Umrissen ab. Christliche Zeichen waren in der Alltagswelt allgegenwärtig, ebenso christliche Denk-, Ausdrucks- und Verhaltensweisen. Die christlichen Sinnträger erfüllten die 328 Vgl. Hess (1943b: 7). 329 Vgl. Durrer (1971: 118)

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Alltagswelt: die Alpen, Fluren, Wege, Quartiere, Hausstätten und selbstverständlich die Kultstätten. Auch die Zeit war von ihnen durchwoben, indem sie alltägliche wie ausserordentliche Lebensereignisse mitprägten. Sie waren mit Erfahrungen von Glück, Freude und Erfüllung ebenso verbunden wie mit Erfahrungen von Krankheit, Leiden und Tod. Christliche Bezüge prägten auch das bäuerliche Leben mit all seinen Hoffnungen und Sorgen. Entsprechende Gefühle und Erinnerungen knüpften sich an die Sinnträger und prägten ihre Bedeutung mit. Christliche Sinnträger gaben dem Glauben eine sinnliche, körperliche Wirklichkeit und waren in die alltägliche Wahrnehmung gleichsam eingewoben. Christliche Bezüge wurden aber auch körperlich verinnerlicht, indem entsprechende Ausdrucks- und Verhaltensweisen alltäglich eingeübt wurden. Die christlichen Sinnträger hielten das Heilige im Alltag gegenwärtig. Die Bedeutung christlicher Sinnträger war jedoch wandelbar. Unerfahrene Kinder legten ihnen gewiss nicht dieselbe Bedeutung bei wie lebenserfahrene Alte. Fromme Menschen durchdrangen ihre Bedeutung anders als unempfänglichere Zeitgenossen. Gottesdienste aller Art schufen Gelegenheiten zum geselligen Beisammensein. Man besuchte Gottesdienste auch, um sich zu treffen, auszutauschen und gemeinsam zu feiern. Gesellschaftliche Darstellung bzw. Selbstdarstellung prägte das geistliche Leben ebenfalls mit, sei es bei Gottesdienstbesuchen, Beitritten zu Bruderschaften, geistlichen Stiftungen, Spenden aller Art, usw. Frömmigkeit wurde vornehmlich in der (dörflichen) Gemeinschaft gelebt und erfahren. Die Gemeinschaftsandacht war ungleich stärker ausgeprägt als die Einzelbzw. Familienandacht. Weiter ist festzuhalten, dass die Frömmigkeit ausgesprochen handlungsbetont war. Das Kirchenvolk nahm am geistlichen Leben tätig teil, und zwar ausser- wie innerhalb der Kirche. Segnungen konnten von jedem Gläubigen verrichtet werden, vom einfachen Kreuzzeichen bis zum Betruf. Um- und Bittgänge erforderten eine kräftige Mithilfe des Talvolks. Rosenkranzandachten wurden weitgehend von Laien betreut. Die Dinge lagen auch beim Messopfer nicht anders. Die Laien konnten zwar nur bis zur Gabendarbringung amten, doch das Messopfer war bei den Talleuten ausserordentlich beliebt: Die 30 Sitzreihen bzw. 60 Kirchenbänke reichten oft nicht aus, um dem „grossen Anwachs des Volches“ vor dem Amt standzuhalten. Das spricht nicht gerade für ein Fehlen tätiger Teilnahme.330 Während die Oberen das Talvolk gelegentlich ermahnen mussten, die Zeremonien an der Talgemeinde nicht für „äusserliche und läre ceremonien“ zu halten, brauchten sie dies bei der Liturgie niemals zu tun. 330 Vgl. Magnus Wasers Talbuch von 1790, 1. Teil, Art. 137 samt Anmerkung. Zum Begriff der tätigen Teilnahme, vgl. die Konstitution »Sacrosanctum Concilium« des II. Vatikanums.

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Christliche Inhalte wurden aber auch diskursiv angeeignet. Die Seelsorger legten grossen Wert auf die Kinder- und Christenlehre, die Beichte und die Predigt. Die Belehrungen mochten unterschiedlich beliebt sein, prägend waren sie allemal. Die Katechese beschränkte sich aber nicht nur auf die Lehrstunden: Die Seelsorger hatten immer wieder Gelegenheit, christliche Inhalte zu erklären, etwa bei Prozessionen, Segnungen, Chilbenen, Andachten, Taufen, Heiraten, Jahrzeiten, Hausbesuchen usw. Aber auch die Laien selbst besprachen christliche Glaubensfragen. Die Stubeten gaben dazu Gelegenheit, aber auch die zahlreichen Bruderschaftstreffen. Fromme Talleute spielten bei der Volkskatechese eine Bedeutung, die man nicht unterschätzen sollte. Vorbildliche Lebensführung regte zur Nachahmung oder mindestens zur Auseinandersetzung mit christlichem Gedankengut an. Geistlichkeit und Laienvolk scheinen in religiösen Fragen nur selten heftig aneinandergeraten zu sein. Vielleicht täuscht eine lückenhafte Überlieferung diesen Schluss nur vor. Es wäre allerdings verblüffend, wenn die ansonsten hervorragende Überlieferungslage gerade in religiösen Dingen weitgehende Lücken aufwiese. Sicherlich trugen die besonderen Verhältnisse des Hochtals zum verhältnismässig friedlichen Glaubensleben bei. So genoss die Talbevölkerung eine hervorragende geistliche Versorgung: Es gab in jener Zeit kaum eine alpine Dorfschaft von weniger als 1‘500 Seelen, die über eine Zehnerschaft an (wohl überdurchschnittlich gebildeten) Priestern verfügte.331 Zusätzlich konnten die Talleute in der näheren Umgebung mehrere Wallfahrtskirchen und Klöster aufsuchen. Dieses grosszügige Angebot vermochte offenbar die unterschiedlichen Bedürfnisse der Talleute zu stillen. Unter der Voraussetzung, dass Kooperationssituationen nicht weniger aussagekräftig sind als Konfliktsituationen, bleibt das Glaubensleben des frühneuzeitlichen Engelbergs durchaus aufschlussreich.332

4.4 Zeitordnungen Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, wie die Talleute Zeit erlebten und gestalteten. Tatsächlich beschäftigte sich die Talschaft regelmässig mit Fragen, welche die zeitliche Ordnung betrafen. Vielfach waren Zeitfragen von allgemeiner Bedeutung: Wann war der Viehtrieb auf die Allmend gestattet? Wie lange dauerte der Arbeitstag eines Tagelöhners? Wie lange musste ein Talmann arbeiten, um nicht des Müssiggangs bezichtigt zu werden? Wann sollten Ausfuhrwaren auf die 331 Vgl. Hersche (2006: 194–202). 332 Zur gleichwertigen Aussagekraft von Konflikt- und Kooperationssituationen, vgl. Abschn. 1.3.

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Märkte gebracht werden? In welchem Alter waren ledige Burschen und Mädchen heiratsreif ? Welche Trauerzeit war nach einem Todesfall einzuhalten? Zu welcher Zeit sollte ein Verurteilter öffentliche Busse leisten? Wann schickte sich der Wirtshausbesuch? Die angeführten Beispiele verdeutlichen zweierlei. Erstens waren Zeitfragen in bestimmte Lebenszusammenhänge eingebettet. Es wäre deshalb unangebracht, sie vorschnell daraus zu lösen. Wohl die wenigsten Talleute verschwendeten einen Gedanken daran, was denn die Zeit an sich sei. Zweitens waren Zeitfragen mit gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verbunden. Wann war die rechte Zeit wofür? Bekanntlich fielen Antworten darauf vielfach unterschiedlich, ja widersprüchlich aus. Übereinstimmende Zeiteinschätzungen waren oft schwer auszuhandeln. Jedenfalls war die gesellschaftliche Zeit (d.h. die vorherrschende Zeitordnung) nicht einfach gegeben, sondern oft unstet und umstritten.333 Drei Fragen bilden den Leitfaden dieses Abschnittes: Wie bestimmten die Talleute Zeitpunkte bzw. wie massen sie Zeitspannen? Wie verwalteten die Talleute ihre Zeit bzw. wie planten sie ihre Tätigkeiten? Wie teilten die Talleute ihre Lebenszeit ein?

4.4.1 Tag Wer im vormodernen Engelberg einen Augenblick bzw. eine kurze Zeitspanne beschreiben wollte, konnte auf verbreitete Messgrössen zurückgreifen. So bemühte sich Anna Katharina Waser 1710 um genaue Zeitangaben. Die ledige Magd war ein Jahr zuvor schwanger geworden, doch der vermutliche Kindesvater Hans Geni Feierabend bestritt die Vaterschaft. Also sah sich Waser gezwungen, genauen Bericht von der Zeugung des Kindes abzugeben:334 Nachdeme er sie zur Stuben ausgefüehrt habe, und erstlichen ans Holtz gestelt, allwo es sich nit schickhen wollen, habe er sie an ein nider Tischli gestelt, auf welchem sie gleichsamb gesessen und sich hinder sich gelassen habe, da habe er sie nach beschehener Entblössung umbefangen umb die Weiche und sein Glid völlig hinein gethan, auch habe der Act etwan 5 Vater Unser und Ave Maria lang gewehret in grosser Hitz und Schweis[s] dess Kerlis, es habe sich der Kerle und ingleichen sie selbsten wehrentem Act auch einmahl still gehalten so lang, das [s] man etwan 2 Worth häte aussprechen können, das ist bloss, das[s] sie es empfunden habe,

333 Zum Begriff der gesellschaftlichen Zeit vgl. die grundlegenden Ausführungen bei Durkheim (1912: 1–28), ferner auch Lauer (1981). 334 Vgl. ETP 5.275–276.

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jedoch ohne das[s] er das Glid zuruckhgezogen habe, sie könne nit sagen und wüsse nit, ob er damahls Samen gelassen habe oder nit […].

Waser bemühte sich um genaue Zeitangaben. Wie lange hatte der Beischlaf gedauert? Man hätte in derselben Zeitspanne das Herrengebet und den Engelsgruss fünf Mal beten können. Wie lange hielt der schweissgebadete Liebhaber inne? Solange, dass man zwei Worte hätte aussprechen können. Gebete waren sehr gebräuchliche Zeitmesser, um kürzere Zeitspannen abzuschätzen.335 Wenn Gebete als Zeitmass gebraucht wurden, verloren sie unter Umständen jeden frommen Bezug. Das macht das angeführte Beispiel überaus deutlich: Waser verwendete die beiden Grundgebete im vorliegenden Zusammenhang als reine Zeitmesser. Die Aussagen der jungen Magd weisen nicht darauf hin, dass sie wirklich gebetet hätte, als ihr Geliebter mit ihr verkehrte. Kürzeste Augenblicke wurden in Wortlängen ausgedrückt, was sich leicht nachvollziehen lässt. Doch wie schnell wurde im Hochtal eigentlich gesprochen? Die damalige Sprechgeschwindigkeit lässt sich schwerlich erraten. Allerdings ist bekannt, dass die Engelberger Mundart im 20. Jahrhundert eine deutliche Beschleunigung ihrer Sprechgeschwindigkeit erfuhr. Die heimische Mundart wurde vor allem in Dorfnähe zunehmend rascher gesprochen, während man sich in den Aussenbezirken nur allmählich der neuen Sprechgeschwindigkeit anpasste. Die ältere Mundart zeichnete sich dadurch aus, dass sie besonders langsam betont wurde. Der langsame Sprachfluss war zudem mit einer ausgeprägten Sprachmelodie verbunden. Die Engelberger Mundart wurde in der älteren Sprechweise eher gesungen als gesprochen, was ihr auch bei Auswärtigen den Ruf eintrug, sie sei „die melodiöseste allemannische Mundart“.336 Selbstverständlich fand Sprachwandel zu allen Zeiten statt, so dass sich die ältere Mundart des 20. Jahrhunderts nur bedingt mit der Mundart früherer Jahrhunderte vergleichen lässt. Dennoch ist die Vermutung nicht abwegig, dass im vormodernen Engelberg wesentlich langsamer und melodiöser gesprochen wurde. Eine langsame Sprechweise besass auch einen festlichen und ehrwürdigen Charakter. Dies kam etwa im Stundengebet des Konvents zum Ausdruck. An gewöhnlichen Tagen wurde verhältnismässig schnell gesungen, während die Singgeschwindigkeit an Feier- und Gedenktagen gedrosselt wurde. An Festtagen schliesslich wurde das Stundengebet besonders langsam gesungen.337 Hetze ziemte sich hier nicht. 335 Vgl. Gockerell (1980: 142–144). 336 Vgl. u.a. Hunkeler (1943: 16), Hunkeler (1947: 20), OWB, 8 und Kuster (2006: 154). 337 Vgl. Ildephons Straumeyers »Engelberger Gebräuche«, S. 28.

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Gebete und Wörter dienten also als Messer kurzer Zeitspannen, wie es heute Minuten und Sekunden tun. Welchen Begriff aber hatte man von längeren Zeiteinheiten, etwa der Stunde? Hier lohnt es sich, zunächst auf die Begrenzung des Tages einzugehen. Die Betglocke ertönte an Anfang, Mitte und Ende des Tages. So erfolgten das Morgen-, Mittag- und Abendläuten jeweils um 5 Uhr, 11 Uhr und 19  Uhr. Die Läutzeiten blieben durch das Jahr hindurch unverändert und richteten sich hauptsächlich am Stundengebet des Konvents aus. Eine Anpassung an den Lichttag wurde – soweit bekannt – nicht vorgenommen.338 Das Betläuten läutete somit kaum den bäuerlichen Arbeitstag ein bzw. aus. Die Sommerzeit liess längere Arbeitstage zu, während die Winterszeit umgekehrt nur kürzere Arbeitszeiten erlaubte. Die Nachtwächterordnung war deutlich feiner ausgestaltet. Die Nachtwächter riefen abends zum Löschen von »Feuer und Licht!« und zur Nachtruhe auf. Morgens verkündeten sie mit dem Ruf des »Guttag!« den neuen Tag. Die Nachtwächter mussten sich seit 1746 an folgende Zeitordnung halten:339

Feuer und Licht! Guttag!

15.03. – 10.06. 10.07. – 29.09. 21 Uhr 3 Uhr

10.06. – 10.07. 22 Uhr 2 Uhr

29.09. – 15.03. 21 Uhr 4 Uhr

Die Nachtwächter wurden gehalten, die Uhrzeit „gleich und ohnfehlbar auf den schlag“ in den Dorfgassen auszurufen. Rufend traten sie zu jeder neuen Stunde eine Rundstrecke an, deren Verlauf genau vorgegeben war. Wer von den Nachtwächtern „vor seinem haus oder komligkeit wegen“ einen besonderen Ruf begehrte, konnte sich mit diesen darüber verständigen. Die Nachtwächter waren ferner verpflichtet, den Klosterpförtner um Mitternacht aufzuwecken, falls dieser noch schlief. Der Konvent feierte nämlich zur selben Zeit die Mette, d.h. das erste Stundengebet des Tages. Der abendliche Stundenschlag der Kirchenuhr war übrigens nicht nur für die Nachtwächter verbindlich, sondern auch für die Wirte. Abt und Gericht bestätigten seit 1623 wiederholt, dass im Wirtshaus nur bis 21 Uhr gespielt werden dürfe. Überhaupt waren die Wirte seit 1730 gehalten, niemanden mehr nach dieser Zeit zu bewirten – mit Ausnahme spät anreisender Fremder. Immerhin durften die Wirte ihre Gäste an den Fasnachts-, Hochzeits- und Tanztagen bis Mitternacht

338 Vgl. dagegen Corbin (1994: 116–118). 339 Vgl. ETP 13.147–149 und 15.303–308.

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bedienen. Schliesslich wurden die Talleute 1786 sogar angewiesen, das Wirtshaus von Allerheiligen bis Ostern schon ab 18 Uhr zu verlassen.340 Insgesamt liess sich die Uhrzeit also auch nachts durchaus in Erfahrung bringen. Der Stundenschlag des Kirchturms, das Betläuten und die Nachtwächterrufe gaben zuverlässige Anhaltspunkte. Talleute bestimmten nächtliche Ereignisse und Zeiträume durchaus anhand der Uhrzeit.341 Selbstredend spielte das Kirchengeläut auch tagsüber eine bedeutsame Rolle. Klösterliche Gebetszeiten wurden regelmässig durch Glockenläuten angezeigt. Die Kirchenglocken dienten auch dazu, die Talleute zu den Gottesdiensten zu berufen. Wenn z.B. eine Prozession nach Grafenort anstand, so wurde „morgends um 3 Ohren mit der grossen Gloggen ein zeichen gegeben, und darnach um 4 Ohren die wallfahrt angefangen“.342 Ähnliches galt für alle übrigen Gottesdienstzeiten, die regelmässig ein- bzw. ausgeläutet wurden. Tagsüber liess sich die Uhrzeit nicht nur am Stundenschlag, sondern auch an den Ziffernblättern der Kirchenuhr ablesen. Stundenzeiger gaben bereits im 17.  Jahrhundert die Uhrzeit in verschiedene Himmelsrichtungen an. Als der Klosterbrand von 1729 einen Neubau der Kirchenuhr erforderte, wurde der bestellte Uhrenmacher angewiesen, die Uhr des Kirchturms solle „3 gemeine stundenzeiger führen, auff der seyten aber gegen dem gottshaus [d.h. gegen Süden] auch den viertel“. Seit den 1570er Jahren war auch im Chor der Klosterkirche eine Uhr angebracht. Die Choruhr erhielt in der barocken Klosterkirche einen herausragenden Platz über dem Hochaltar. Zusätzliches Gewicht erhielt die besagte Uhr dadurch, dass Gottvater in ihrer Mitte abgebildet wurde. Die Absicht des Malers ging dahin, dass der Allmächtige „so mit dem Scepter die Stunden zaigen soll, der Mittelpuncten wirdt in dem Kreiss der rechten Hand wahrgenommen werden und ist die Hand also gerichtet, das[s] sie den Zeyger alle Stunden geschückht und recht halten wirdt“. Die Kirchenbesucher wurden so beständig daran erinnert, wer der wahre Herrscher über die Zeit war.343 Ferner besassen auch begüterte Haushalte bisweilen eine eigene Uhr, die nicht nur Schmuckzwecken diente. So hatte Krämer Joachim Andres Infanger 1760 dem späteren Gerichtsherrn Hans Melcher Cattani eine teure Stockuhr verkauft, die

340 Vgl. ETP 1.440, 8.383–387, 16.341–343 und 16.442–444. 341 Zahlreiche Beispiele etwa in ETP 5.198–218. 342 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von Juli 1734. 343 Einige Darstellungen des Kirchturms vor dem Brand von 1729 bei Tomaschett (2007: 688–701). Vgl. ferner ETP 8.433–434, Durrer (1971: 146) sowie Heer (1975: 178).

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aber nach Aussage des Käufers „niemahl recht gangen und ein allt ausgeloffen uhr“ war. Der Käufer bestand darauf, vom Krämer eine betriebsfähige Uhr zu erhalten.344 Die Uhrzeit beeinflusste auch den bäuerlichen Alltag. Dies war besonders der Fall, wenn gewisse Arbeiten gemeinsam angegangen wurden. So waren Alpgenossen bekanntlich verpflichtet, sich an gemeinnützigen Arbeiten auf der Alp zu beteiligen. Für die Genossenalpen auf Wallen und Wand wurde 1709 etwa beschlossen, „das[s] man vor 2 Rinder [Alprechte] auff dieser Alpp 1 gantzen Dag, und vor 1 Rind zwischen Käsen und Melchen arbeithen solle“. Es kam nicht von ungefähr, dass Käsen und Melken im letzteren Fall als Zeitangaben dienten: Es handelte sich um die gebräuchlichen Morgen- bzw. Abendarbeiten der Älpler. Talleute verwendeten dieselbe Zeitangabe auch drei Jahre später, als sich ein Kriegsaufgebot wegen eidgenössischer Wirren aufdrängte. Viele Wehrpflichtigen waren überzeugt, sie müssten nicht weiter marschieren, als dass sie zur Melkenszeit wieder daheim wären.345 Doch wie lange war ein ganzer Tag? In der Regel wurde die Entscheidung dem Gutdünken der Bannwarte überlassen. Doch als das Hochwasser von 1762 auf der Alp Eien verheerende Schäden anrichtete, schien sich angesichts der bevorstehenden Arbeiten eine genauere Festlegung aufzudrängen. Die Genossengemeinde bestimmte, dass ein Arbeitstag zugunsten der Alp von 8 Uhr bis 16 Uhr dauern sollte. Eine spätere Überschwemmung beschädigte 1781 die Ufer des Dürrbach, worauf die Talleute zur Gemeinarbeit herangezogen wurden. Dieses Mal wurde der Arbeitstag von 9 Uhr bis 15 Uhr angesetzt: Die Arbeitszeit entsprach wohl dem Zeitraum zwischen Käsen und Melken.346 Die Alpgenossen von Obhag beschlossen 1738, die alljährliche Streulese genauer zu handhaben. Wer Alpstreu beanspruchen wollte, sollte tüchtige Arbeitskräfte zum Besammlungsplatz schicken, die „um 9 uhren dorth erscheinen“ mussten. Die Festlegung stellte sich wohl als zu genau heraus, jedenfalls weichten die Alpgenossen 1741 die Bestimmung auf: Demnach sollten die Arbeiter „zwüschend 9 und 10 uhren“ vor Ort eintreffen.347 Verspätungen waren also hinnehmbar, wenn sie nicht mehr als eine Stunde betrugen. Dieselbe Frist galt auch bei Gerichtssitzungen. Die Gerichtsherren waren gehalten, sich an Rechtstagen um 9 Uhr in der Ratsstube einzufinden. Allerdings liess die Pünktlichkeit gewisser Richter manchmal zu wünschen übrig. Diesbezüg-

344 Vgl. ETP 14.144–145. 345 Vgl. ETP 5.47–50 und Egger (1913: 4). 346 Vgl. ETP 13.200–202 und 17.357–363. 347 Vgl. ETP 12.143–148 und 12.193–196.

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lich ermahnte das Gericht einzelne Ratsmitglieder schon 1623. Was aber stellte eine Verspätung dar? Das Gericht beschloss 1691,348 das[s], welcher aus den Gerichtsleüthen inskünftig bis die Glogen 10 Uhr geschlagen, sich bey S. Michel uf dem freyen Hof [Name der Ratsstube] nit einfinde, solcher 2 Mas[s] Wein einem E.G. verfallen sein solle, es seye dan, das[s] er eine genuegsam- und erhebliche Ursach seines Ausblibens fürwenden könne.

Eine Verspätung galt also noch als schicklich, wenn sie weniger als eine Stunde betrug. Wer sich mehr verspätete, brauchte einen guten Entschuldigungsgrund. Übrigens wurden auch Gerichtsparteien belangt, wenn sie zu spät vor Gericht erschienen.349 Die Obrigkeit legte bekanntlich fest, ab welchem Tag in den Wildheugebieten gemäht werden durfte. Abt und Gericht legten zwar Tag und Stunde fest, an dem der sogenannte Schiess beginnen durfte, doch erwies sich dies immer noch als zu ungenau. In den abgelegenen Bergweiden war nämlich die Kirchenuhr weder sicht- noch hörbar. So beschloss die Genossengemeinde 1785,350 damit alle [Wildheuer] gleich und miteinander anfangen zu mähen, um 8 uhr in dem Horbis [mit der Kapellglocke] solle geleütet werden, wo es alle oder doch die mehrere können hören und dan sich nit mehr entschuldigen können, dass sie nit gewusst, wie spat.

Deutlicher lässt sich kaum aufzeigen, wie genau es die Talleute bisweilen mit der Uhrzeit nahmen. Die Wildheuer sassen auf ihren Weiden wie Rennläufer hinter der Startgeraden. Bäuerliche Arbeiten liessen jedoch eine uhrzeitliche Festlegung nicht immer zu. Äussere Einflüsse beeinflussten bzw. begrenzten die mögliche Arbeitszeit allenthalben. So liess sich der Arbeitstag eines Tagelöhners nur schwer festlegen. Tagelöhner waren gehalten, „von morgens bis abendt“ zu arbeiten. Aber was hiess das genau? So hatten zwei Talleute 1749 die Brüder Sepp und Christian Matter als Tagelöhner angeheuert, um einige Forstarbeiten ausführen zu lassen. Die Tagelöhner erbrachten darauf eine Arbeitsleistung von 159 Tagen. Die Auftraggeber beklagten sich allerdings, dass die Brüder „von und zu der arbeit gegangen, wan es ihnen be348 Vgl. ETP 1.398 und 4.303. Zur Namensbezeichnung der Ratsstube, vgl. die Einleitung Georg Dufners zu ETP 9. Vgl. ferner Schnell (1858: 111–112). 349 Vgl. ETP 11.660–661. 350 Vgl. ETP 16.408–409.

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liebet“, was die Beschuldigten selbst abstritten. Die Tagelöhner hatten ferner ihren 60-jährigen Vater Franz an ihrer Stelle arbeiten lassen.351 Kläger und Beschuldigte unterliessen jede uhrzeitliche Angaben, als sie ihren jeweiligen Standpunkt vertraten. Das Gericht befragte darauf drei Zeugen, die – wohl ebenfalls als Tagelöhner – in der Nähe gearbeitet hatten. Allerdings nannten auch die Befragten keine Uhrzeit. Wie aber konnten sie dann beurteilen, ob die beiden Brüder genügend gearbeitet hatten? Der erste Zeuge bestätigte zwar, dass die Brüder den Arbeitsplatz frühzeitig verlassen hatten, doch hatten andere Tagelöhner offenbar zur selben Zeit die Arbeit niedergelegt. Der zweite Zeuge berichtete, dass er sich mit den beiden Brüdern über ihre Arbeitszeit unterhalten hatte: Offenbar hatten man gemeinsam über das Arbeitsende beratschlagt. Anton Dillier, der dritte Zeuge, erklärte schliesslich,352 dass sie oftmahl abend und morgen fast allzeit ein stund und mehr von der arbeit gegangen als er, so er selbst gesehen, indem er nit weit von ihnnen gearbeitet habe und sie [sei] solches oft früöer beschechen.

Dillier berichtete also mit erstaunlicher Genauigkeit, die Brüder hätten die Arbeit eine Stunde früher als er abgebrochen. Auch er aber nannte keine bestimmte Uhrzeit. Erwähnenswert schien ihm allerdings, dass die Brüder die Arbeit regelmässig früher beendeten. Nochmals also die Frage: Wie lange dauerte der Arbeitstag eines Tagelöhners? Offenbar sprachen sich die Tagelöhner, die sich denselben Arbeitsplatz teilten, untereinander ab. Gelegentlich beriet man sich über das gehörige Arbeitsende, oft auch genügte ein rascher Blick zu den anderen Tagelöhnern. Es fällt auf, dass weder Tagelöhner noch Auftraggeber eine uhrzeitliche Regelung anstrebten. Die rechte Arbeitsleistung hing offenbar nicht von der Uhrzeit, sondern wohl vielmehr vom Tageslicht, von der Witterung, von der Dauer des Arbeitsweges, von der Arbeitsbelastung, usw. ab. Eine uhrzeitliche Festlegung hätte diesen wechselnden Einflüssen nicht Rechnung getragen. Es ist erstaunlich, wie gut die gegenseitige Verständigung gelang. Der besprochene Rechtsstreit blieb diesbezüglich ein Ausnahmefall. Die gesellschaftliche Aufsicht reichte offenbar aus, dass die geschmeidige Arbeitsregelung nicht missbraucht wurde. Der Verzicht auf eine uhrzeitliche Regelung war jedenfalls mit einer beachtlichen Leistung verbunden, nicht etwa mit einem Ungenügen.

351 Vgl. StB Matter 12. 352 Vgl. ETP 11.634–635.

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4.4.2 Jahr Zwei überschneidende Zeitordnungen prägten den Jahreslauf im Hochtal, nämlich das bäuerliche und das kirchliche Jahr. Beide Jahreskreise gliederten das Jahr in Werk- und Ruhetage: Daraus ergab sich ein geordneter Wechsel von Arbeitsund Mussezeit. Allerdings gab es im Hochtal unterschiedliche Auffassungen darüber, wie die entsprechenden Werk- bzw. Ruhezeiten gehandhabt werden sollten. So warf die geistliche Obrigkeit dem Talvolk im 18. Jahrhundert wiederholt vor, es verschwende seine Zeit durch Müssiggang und bringe sich dadurch selbst in Armut. Der Plan der folgenden Ausführungen ist damit vorgezeichnet. Zunächst soll eine kurze Übersicht über (a) das Bauernjahr und (b) das Kirchenjahr im Hochtal gegeben werden. Anschliessend wird (c) die Einhaltung der kirchlichen Feiertage behandelt. Schliesslich soll (d) auf die umstrittene Vorstellung des Müssiggangs eingegangen werden.

a) Das Bauernjahr Die alpinen Witterungsverhältnisse erforderten eine entsprechende Abstimmung der land- bzw. forstwirtschaftlichen Tätigkeiten. Damit verteilte sich die bäuerliche Arbeitsbelastung ziemlich ungleich auf den Jahreskreis. Die Arbeitsmenge ging im Winter, also etwa vom Martinstag (11. November) bis Lichtmess (2. Februar), deutlich zurück. Feldarbeiten mussten aufgrund der winterlichen Witterung weitgehend eingestellt werden. Diesbezüglich besagte ein geläufiges Engelberger Scherzwort, dass der Winter im Hochtal 13 Monate dauere, während die übrige Zeit dem Sommer gewidmet sei.353 Die Schneedecke erlaubte immerhin Forst- und Fuhrarbeiten, um die sich meist Lohnarbeiter kümmerten. Gebrauchsgegenstände aller Art konnten im Winter instandgestellt bzw. angeschafft werden, was Handwerker auf die Stör trieb. Das eingestallte Vieh beanspruchte seinerseits dauernde Pflege: Wasser, Heu und Streu mussten herbeigeschafft, Tränkwege geöffnet, das Vieh gemolken, Käse hergestellt werden und dergleichen mehr. Gewiss sparte man auch weniger dringliche Arbeiten, die sich auf dem Heimwesen verrichten liessen, für die kalte Jahreszeit auf. Bauern mussten im Frühjahr rechtzeitig Alp- bzw. Pachtrechte besorgen, gutes Zinsvieh auftreiben und tüchtige Arbeitskräfte finden. Die winterlichen Heuvorräte reichten zudem kaum aus, um das Vieh bis zur Alpauffahrt durchzubringen: Also musste man sich auch einen Anteil an jenem Gras sichern, das auf den Frühlingsweiden des Hochtals wuchs. Sobald die Weiden nach der Schneeschmelze erstmals geätzt bzw. gemäht werden konnten, waren die sogenannten Austage (Uistäg) erreicht.354 353 Vgl. etwa Fäsi (1766: 350). 354 Zum Begriff vgl. SI 12, 815–822.

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Von den Austagen an mussten manche Vorbereitungen bis zum Alpauftrieb erledigt werden. Unterschiedliche Witterungsverhältnisse wirkten sich zudem auf den Graswuchs aus, so dass der Tag der Alpauffahrt jedes Jahr neu festgelegt werden musste. Der Sommer stellte die arbeitsreichste Zeit des Jahres dar. Die Kreuztage grenzten die sommerliche Arbeitsspitze sinnbildlich ein, nämlich von Kreuzauffindung (3. Mai) bis Kreuzerhöhung (14. September). Auf sämtlichen Höhenstufen fielen zahlreiche Arbeiten an, von denen bereits ausführlich die Rede war. Die Märkte der Innerschweiz und des Welschlands wurden häufiger und umfangreicher beliefert. Bald schon mussten Heuvorräte angelegt werden, um das Vieh im Winterhalbjahr durchfüttern zu können. Sofern es die Witterung zuliess, wurde die Alpabfahrt erst auf den Leodegarstag (2. Oktober) angesetzt. Fremdes Zinsvieh wurde zurückgeführt, eigenes Vieh dagegen auf den Herbstweiden belassen, bis sich die Schneedecke schloss. Das Bauernjahr endete mit dem Martinstag, dem allgemeinen Zinstag. Der natürliche Jahreslauf staffelte die bäuerlichen Tätigkeiten. Das Zeitverhalten hing aber auch vom jeweiligen Arbeitsbereich ab. Das Gemeinte lässt sich an den unterschiedlichen Zeitanforderungen veranschaulichen, die von Hirten bzw. Säumern abverlangt wurden. So konnte der Arbeitsaufwand der Hirten sehr ungleich ausfallen. Hirten waren wenig beschäftigt, wenn die Witterung günstig ausfiel, das Vieh gesund blieb, der Graswuchs ausreichte, der Weideplatz ungefährlich und nahe der Alphütte war. Umgekehrt war die Viehhut anstrengend, wenn Unwetter und Nässe drohten, ein später bzw. früher Wintereinbruch zur Schneeflucht zwang, krankes Vieh gepflegt werden musste, der Graswuchs kaum genügte, Steinschlag und abschüssiges Gelände die Weiden gefährlich machten, der Weg zur Alphütte weit war, usw. Die Hirtenarbeit war durch die jeweiligen Ereignisse weit stärker bestimmt als durch uhrzeitliche Festlegungen. Erforderte die Viehhut grosse Aufmerksamkeit, wurde von den Hirten eine entsprechende Leistung erwartet. War hingegen der Arbeitsaufwand gering, konnten die Hirten die ruhigere Zeit geniessen: Untätigkeit wurde ihnen deshalb nicht angelastet. Ferner waren Hirten oft nicht vollzeitig beschäftigt, so dass sie neben ihrer Kerntätigkeit anderen Arbeiten nachgehen konnten, etwa als Handknaben, Träger, Forstarbeiter, Wildheuer usw.355 Anders sah das Zeitverhalten eines Säumers aus. Wer erfolgreich Saumgeschäfte betreiben wollte, musste zur uhrzeitlichen Planung fähig sein. Säumer mussten die Waren einigermassen rechtzeitig an ihren Bestimmungsort führen, denn mögliche Käufer konnten bei verspäteten Lieferungen zu anderen Anbietern wechseln. Wer als unzuverlässiger Handelspartner galt, blieb geschäftlich erfolglos. Ferner 355 Vgl. etwa den Erlebnisbericht Franz Odermatts in Hess u.a. (2001: 94–103).

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schwankten die Marktpreise innerhalb so kurzer Zeit, dass Saumfuhren nicht nur rechtzeitig geplant, sondern auch rechtzeitig ausgeführt werden mussten. Die Fuhr selbst musste möglichst kurz dauern, um unnötige Reisespesen zu vermeiden. Tagesstrecken waren einzuhalten, da sie an bestimmte Versorgungsplätze gekoppelt waren. Verschiffungs- und Verzollungszeiten mussten einberechnet, die Witterungs- und Streckenverhältnisse vorausgesehen werden. Am Handelsplatz selbst mussten Marktordnungen bzw. – zeiten eingehalten werden. Erfolgte der Saumhandel in Rodfuhr, waren die vereinbarten Treffpunkte rechtzeitig zu erreichen. Gewiss waren längere Saumstrecken mit Unwägbarkeiten verbunden, die Verspätungen rechtfertigen konnten. Das Verständnis der Auftraggeber war allerdings begrenzt. Als z.B. Säumer Adam Schmid um 1631 mit acht Tagen Verspätung aus dem Welschland zurückkehrte, empörte sich sein Auftraggeber derart, dass er ihn mit einer Gerichtsklage zur Rechenschaft zog.356 Zeitliche Verhaltensmuster (am Beispiel der Hirten bzw. Säumer)

356 Vgl. ETP 2b.122–124.

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Säumer kamen also ohne genaueren, uhrzeitlich geprägten Zeitplan nicht aus. Anderweitige Tätigkeiten liessen sich während eines Saumzuges kaum verrichten, da die Säumer von ihrer Kerntätigkeit zu sehr beansprucht wurden. Ferner konnte sich ein Säumer auf der Reise kaum längere Zeit ausruhen, ohne sich dem Vorwurf der Untätigkeit auszusetzen. Das Zeitverhalten von Hirten und Säumern fiel also recht unterschiedlich aus. Dabei ist zu bedenken, dass Hirten bald als Säumerknechte und umgekehrt arbeiten konnten. Derselbe Mensch musste damit unterschiedliche Umgangsweisen mit Zeit beherrschen. Der Wechsel konnte allerdings nicht schwer fallen: Wer im Hochtal des 17. und 18. Jahrhunderts geboren wurde, wuchs ebenso selbstverständlich mit der uhrzeitlichen als mit der ereigniszeitlichen Zeitordnung auf. Allgemein bewegten sich alle Talleute in einem Zeitfeld, das sich auf drei Achsen veranschaulichen lässt: ereignis- bzw. uhrzeitliche Zeitplanung, Ausprägung des Untätigkeitsbegriffs und Abgrenzung der Kerntätigkeit.357 Wie die Einzelbeispiele des Hirten- bzw. Säumerdienstes verdeutlichen, waren unterschiedliche Lebensbereiche auch mit verschiedenen Zeitanforderungen verbunden.

b) Das Kirchenjahr Die kirchlichen Feier- und Gedenktage setzten dem Jahreslauf eine weitere Zeitordnung auf. Allerdings waren die Überschneidungen bzw. Anpassungen an das Bauernjahr zahlreich, wie gleich gezeigt werden soll. Das Kirchenjahr sei hier – der Einfachheit halber – in drei Einheiten gegliedert: Herrenjahr, Marienjahr und Heiligenjahr. Die Feiern des Herrenjahres vergegenwärtigten die Erlösungsgeschichte. Der Weihnachtskreis lag ganz in der ruhigen Winterszeit, von der adventlichen Fastenzeit bis zum abschliessenden Dreikönigstag. Der bewegliche Osterkreis lag schwergewichtig im Frühjahr: Die Vorfasten reihte sich dicht an den Weihnachtskreis, worauf der Aschenmittwoch, die Grosse Fasten, beide Passionssonntage, die Karwoche, die Dreitagefeier, das mehrtägige Osterfest und der Weisse Sonntag folgten. Knapp vierzig Tage später stand die Kreuzwoche um Auffahrt an. Die jährlichen Bittgänge, die in dieser Woche stattfanden, fielen ungefähr mit dem Sommeranfang zusammen. Vom Ostertag hing auch das Pfingstfest ab, dem eine Woche später das Dreifaltigkeitsfest und darauf die Ablasswoche mit dem Fronleichnamsfest folgten. Mit dem besagten Herrgottstag erhielt das Herrenjahr einen gewissen Abschluss. 357 Das dargestellte Zeitfeld ist angelehnt an Hall (1973: 153–154), Hall (1983: 44–58) und Levine (1997: 81–100).

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In zeitlicher Hinsicht fiel also das Herrenjahr vornehmlich auf die arbeitsärmere Jahreszeit. Vereinzelte Herrenfeste waren ebenfalls mit dem Bauernjahr verbunden, so etwa die unbeweglichen Kreuztage am 3. Mai bzw. 14. September. Zum Herrenjahr gehörten ferner auch die Fronfasten bzw. die Zahlten Tage (Zalti Täg), wie sie mundartlich genannt wurden.358 Es handelte sich um vierteljährliche Fastenzeiten, die jeweils von (Zahlt)mittwoch bis (Zahlt)samstag dauerten. Die Fronfasten fanden jeweils in der Folgewoche nach dem ersten Fastensonntag, Pfingsten, Kreuzerhöhung und dem dritten Adventssonntag statt. Die ordentlichen Gerichtssitzungen wurden in Engelberg jeweils an den Fronfasten gehalten. So konnte Magnus Waser 1790 erklären, „die ordinari gericht haben von undänkhlicher zeit keine andere bestimmte tag in der wochen und dem jahr als alle vier Fronfastendonsttag“.359 Deshalb wurden ordentliche Gerichtssitzungen in der Regel als »Fronfastengerichte« bezeichnet. Das Marienjahr besass mit Maria Himmelfahrt (15.  August) einen eindeutigen Höhepunkt. Auf diesen Tag war auch die Kirchweihe der Klosterkirche angesetzt, wurde doch die selige Jungfrau als Hauptpatronin von Stift und Tal verehrt. Wichtige Marienfeste waren ferner Lichtmess (2. Februar), Maria Verkündigung (25. März) und Maria Geburt (8.  September). Die Chilbenen dreier Talkapellen wurden an ein Marienfest gekoppelt. Weiter gehörten zum Marienjahr auch die Feste der marianischen Bruderschaften und zahlreiche Andachten zu Ehren der Gottesmutter. Marianische Frömmigkeit prägte auch bestimmte Heiligenfeste, so die Gedenktage des Ehemannes Joseph (19. März) und der Eltern Joachim (20. März) und Anna (26. Juli). Das Heiligenjahr prägte den Jahreslauf ebenfalls. Das bedeutsamste Heiligenfest war zweifellos Allerheiligen (1. November), das mit dem Totengedenken an Allerseelen (2. November) ausklang. Besondere Verehrung wurde auch den Engelberger Schutzheiligen zuteil: Seit alters gehörten dazu die Heiligen Benedikt (21.  März), Theodul (16.  August), Leonhard (6.  November), Erzengel Michael (29.  September) und Nikolaus (6.  Dezember). Der Nikolaustag war übrigens Geschenk- und Gabentag: Selbst der Abt beschenkte seine Mitbrüder an diesem Tag.360 Im 17. Jahrhundert kamen die Katakombenheiligen Plazida (letzter Juli-

358 Zum Begriff der Zahlten Tage vgl. Lütolf (1976: 560–561), ferner OWB, 40. Die Zahlten Tage sind nicht zu verwechseln mit der der Zeitangabe „z’altä Tagä“, welche die letzten Tage eines Jahres bezeichnet, vgl. UWB, 547. 359 Vgl. Magnus Wasers Talbuch von 1790, Teil 1, Artikel 10, Anmerkung. 360 Vgl. Ildephons Straumeyers »Engelberger Gebräuche«, S. 69.

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sonntag), Floridus (letzter Augustsonntag) und Eugen (6. September) hinzu.361 Mit der Verehrung des heiligen Eugen war das Fest Peter und Paul (29. Juni) eng verbunden, da der Talheilige 1660 am selben Tag in die Kapelle der Apostelfürsten übertragen worden war. Die Heiligen der Älpler- bzw. Schützenbruderschaft, also Antonius (17. Januar) bzw. Sebastian (20. Januar), wurden nicht nur an ihren Gedenktagen, sondern vor allem an den sommerlichen Chilbenen beider Bruderschaften geehrt. Die beiden Feste gehörten zu den Höhepunkten des dörflichen Gesellschaftslebens. Andere Heiligenfeste waren Stichtage des bäuerlichen Lebens, so z.B. der Johannstag (24. Juni) für das Mähverbot auf der Allmend, der Margarethatag (20. Juli) für die Jagderöffnung, der Leodegarstag (2. Oktober) für die Alpabfahrt, der Martinstag (11. November) für die Zinsleistungen, der Gallustag (16. Oktober) bzw. der Andreastag (30. November) für den freien Holzzug und der Thomastag (21. Dezember) für die Genossengemeinde. Ähnliches galt auch für die Markttage der näheren und ferneren Umgebung. Heiligenfeste waren oft von ihren kirchlichen Riten geprägt. Gedenktage wie der Georgstag (23. April) und der Markustag (25. April) waren mit alljährlichen Prozessionen verbunden. Die Kirchenbesucher erhielten am Blasiustag (3.  Februar) den Halssegen, am Agathatag (5. Februar) wurde Brot und am Johannstag (27. Dezember) Wein gesegnet. Am Eugenstag (6. September) wurde das wundersame Eugeniwasser ausgeteilt. Heiligenfeste zeichneten sich – wie Kirchenfeste überhaupt – meist durch einen bestimmten Verehrungsort, einen eigentümlichen Ritus und eine eigene liturgische Gestaltung aus. Dies verlieh jedem Fest eine kennzeichnende Grundstimmung, die sich sinnlich erleben liess. Diese Sinnlichkeit unterstützte die Verinnerlichung des Kirchen- bzw. Heiligenjahres massgeblich. Schliesslich konnten Heiligenfeste auch Namenstage sein. Die geläufigen Taufnamen des Hochtals waren – sowohl bei Männern wie Frauen – durchaus überschaubar. Es war beileibe kein Zufall, dass die betreffenden Namensheiligen in den Gotteshäusern des Hochtals vielfach dargestellt waren. Leider ist nicht überliefert, ob die Talleute ihren Namenstag in irgendeiner Weise feierten. Jedenfalls hatten manche Talleute durchaus einen näheren Bezug zu ihrem Namensheiligen: So hatten bekanntlich zwei Talleute namens Eugen ihren Namensheiligen 1729 vor dem Feuer gerettet.

361 Der Gedenktag des heiligen Eugen wurde bis 1693 am 20. Oktober gefeiert, darauf auf den 6. September und schliesslich 1905 auf den 22. Oktober verlegt, vgl. Ignaz Hess‘ Manuskript »Der Leib des heiligen Märtyrers Eugenius und seine Verehrung in Engelberg« von 1894.

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c) Einhaltung der kirchlichen Feiertage Nach kirchlicher Auffassung dienten Feiertage dazu, sich zu besinnen sowie Gott und seine Heiligen zu verehren. Anderweitige Tätigkeiten waren nur beschränkt zugelassen, so etwa weltliche Vergnügungen wie Spielen und Tanzen. Welche Tage und Zeiten aber waren gebannt?362 Under dem gottsdienst, es seye die heilige Ambt, Mess, Vesper, Predig[t], Bruderschaften, Kinderlehr, Rosenkranz oder Complet sollen nit allein obgemelte vier kartenspihl [d.h. Kaisern, Trenten, Troggen und Munten], sondern auch das keglen und blattenschiessen verbotten seyn. Also seynd obige spiel auch verbotten im Advent, Fasten, in der Fronfast-, Creutz- und Ablasswochen. Item in der zeit, da man ein grosses Gebätt haltet. Item alle vier hochzeitliche Festtäg, alle Unser Lieben Frauen täg, alle sambstäg und gebante feyrabend nach der Vesper [um 15 Uhr].

Gebannt waren also die sonntäglichen Gottesdienstzeiten, die Fastenzeiten (Advent, Grosse Fasten und Fronfasten), die Zeiten grosser Gebete (z.B. der 40-stündigen Gebete), die Wochen von Auffahrt und Fronleichnam (Kreuz- bzw. Ablasswoche), die vier Hochfeste (Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Maria Himmelfahrt), sämtliche Marienfeste und alle Vorabende von Sonn- und Feiertagen.363 Hinzu kamen die (hier) unerwähnten Heiligenfeste, die aufgrund ihrer Bedeutung als sogenannte Abtsfeste begangen wurden: Benediktstag (21. März), Peter und Paul (29. Juni), Eugenstag (6. September), Michaelstag (29. September) und Allerheiligen (1. November).364 Gewisse Bannzeiten galten auch für Rechtsgeschäfte. Gerichtliche Beschlagnahmungen konnten nicht beantragt werden von: Mittfasten (Laetare) bis zehn Tage nach Ostern, Weihnachten bis Dreikönigstag und schliesslich in der Fronleichnamswoche.365 Verletzungen der Bannzeiten wurden nur selten gerichtlich geahndet. Entsprechende Rechtsfälle lassen sich an einer Hand abzählen. Einige Wolfenschiesser mussten sich 1662 verantworten, weil sie am Benediktstag gearbeitet hatten. Sechs Jahre später mussten sich einige Talleute rechtfertigen, weil „sie an dem fest des h. 362 Vgl. Magnus Wasers Talbuch von 1790, Teil 1, Artikel 16. Entsprechende Bestimmungen gehen bereits auf das Jahr 1637 zurück. 363 Die Bedeutung von Maria Himmelfahrt als Hochfest betonte auch Petrus Canisius in seinem Katechismus: „Under allen festen aber, so man von der lieben muter Gottes im jar begeht, ist diese himmelfart das fürnemeste unnd eins von den vieren aller höchsten festen der kirchen.“ Vgl. Canisius I, 14. 364 Vgl. Ildephons Straumeyers »Engelberger Gebräuche«, S. 1–5. 365 Vgl. Magnus Wasers Talbuch von 1790, Teil 3, Artikel 43 (bzw. 140).

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Eugenii, so uff ein sambstag gefallen, die gantze nacht bis zuo der fruömess“ durchgezecht hatten. Die Beschuldigten waren geständig, fügten aber entschuldigend hinzu, sie seien „sontag am morgen samenhafft zuo der früehmess gangen“. Hans Michel Hermann musste sich 1672 dem Gericht stellen, weil er am Vorabend des Matthiastages (24. Februar) – der in jenem Jahr mit dem Schmutzigen Donnerstag zusammenfiel – im Wirtshaus Fleisch verzehrt hatte. Das Gericht stiess sich vor allem daran, dass Hermann auch die Wirtin zum Fleischverzehr gedrängt und ihre diesbezüglichen Vorbehalte mit einem spöttischen Lachen erwidert hatte. Ein gutes Jahrhundert später wurde ein Dutzend junger Talleute zur Rede gestellt, weil sie an der alten Fasnacht (nach dem ersten Fastensonntag) ausgiebig getanzt hatten. Die Beschuldigten hielten allerdings fest, dass der Tanz „erst nach mitternacht [und] hiermit nach schon verflossenem sontag geschechen“ war.366 Gewisse Arbeiten liessen sich weniger leicht aufschieben als Vergnügungen und Rechtsgeschäfte. So duldeten bäuerliche Tätigkeiten – etwa aufgrund der Witterung – oft keinen Aufschub. Wer deshalb an einem Feiertag arbeiten wollte, konnte den Pfarrherrn um eine entsprechende Erlaubnis bitten. So wurden auch an Feiertagen Fuhrarbeiten ausgeführt, Heuernten eingetragen, Haushalts- und Küchenarbeiten erledigt, usw. Doch welche Arbeiten waren wirklich dringlich? Die Pfarrherren argwöhnten gelegentlich, dass Talleute Erlaubnisse missbräuchlich einforderten. So warf Pfarrer Ildephons Straumeyer 1733 seinen Pfarrangehörigen in der Fastenzeit vor, dass sie Arbeiten oftmals verschoben und aufgespart „bis auf ein feyrtag und herentgegen an wercktägen solche arbeithen mit rechter stinkender faulheit unterlassen“ hätten. Ungehalten fügte der Pfarrer bei: „Wan wir so fräch und unverschämbt [sind] als die Zürcher, die heilige feyrtag übertretten, so ist gewiss ein kleiner oder kein unterschid mehr zwischen einem christcatholischen Menschen und einem Ketzer [d.h. einem Reformierten]“. Die Männer beschäftigten sich, so der Pfarrer, an Werktagen lieber mit Spielen und Müssiggang, was zur Folge hatte, dass dringende Arbeiten an Feiertagen erledigt werden mussten. Die Frauen ihrerseits holten oft Erlaubnisse für dringliche Hausarbeiten ein, beschäftigten sich aber dann mit anderen Dingen.367

d) Müssiggang Pfarrer Ildephons Straumeyer beklagte also, dass manche Talleute an Werktagen ihre Arbeit vernachlässigten. Es lohnt sich, diesen Gedanken hier weiter zu verfolgen. So kam Pater Berchtold Villiger ebenfalls auf den Müssiggang zu sprechen, als er am zwei366 Vgl. ETP 2b.668, 3.115–116, 3.188 und 16.68–70. 367 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von März 1733.

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ten Adventssonntag 1795 über die „einreissende Armuth und ihren Quellen oder Ursachen“ predigte.368 Villiger sorgte sich dabei nicht nur um die Verletzung des feiertäglichen Ruhegebots. Ausführlich legte er den Pfarrangehörigen dar, welche schlimmen Folgen sich aus dem Müssiggang ergeben mussten. Warum lebten viele Familien überhaupt in der Armut? Armut entstand, weil Väter der Spielsucht verfielen, Mütter sich einzig mit Schwatzen beschäftigten und Kinder müssig herumschwärmten. Die Verarmung nahm nach Villiger stetig zu, weil viele über ihren Verhältnissen lebten. Angeblich verspielten bzw. verzechten die Männer ihren Lohn, zudem vergeudeten jüngere Burschen beim Dorf- bzw. Lichtgehen oft die Ersparnisse eines Jahres an ein liederliches Mädchen. Die Frauen ihrerseits gaben für Kleidung und Schmuck Unsummen aus, selbst wenn sie bereits am Bettelstab hingen. Zudem meinte der Prediger, viele Frauen wären der Trunksucht derart verfallen, dass sie in einer Stunde ihren Wochenerwerb hinunterspülten. Weiter geisselte Villiger die Beliebtheit von Gast- und Festmählern, Tänzen, Chilbenen und Lustbarkeiten aller Art. Besonders prangerte er horrende Ausgaben für Kleidung, Wein, Esswaren, Spielsachen, Tabak und Kaffee an. Hierbei ist anzufügen, dass Villiger seine Predigt am Nikolaustag hielt, der seit alters ein volkstümlicher Fest- und Schmaustag war. Der Geistliche bemerkte weiter, dass selbst Spendbezüger ihre sinnlichen Lüste ungehemmt befriedigten. Überhaupt ärgerte sich der Prediger heftig über das Verhalten der Spend- und Almosenempfänger: Dass der bemittelte sich dieser dingen [d.h. der Genussmittel] mit mässigkeit sich bediene, gehet an. Aber dass der arme, der andern zur last und vom betteln lebt, all[e]n seinen sinnlichkeiten hierin befriedige, ist unerträglich und höchst tadelnswerth.

Die Spend- und Almosenempfänger waren den eigenen Kindern das schlimmste Vorbild, erklärte Villiger. Niemand sollte sich wundern, wenn die Strassen voller fauler und bettelnder Kinder sei. Fehlende Gottesfurcht setzte all diesen Übeln jedoch die Krone auf, wie der Geistliche weiter ausführte. Während die Ahnen noch fromm und einfältig gelebt hätten, führten ihre Nachkommen ein verdorbenes Leben: Die kinder [d.h. die Söhne und Töchter der Ahnen] aber ärgern jez dafür alle menschen, in der kirche siehet man sie wie als aus zwang, beim end der predigt, an den höchsten festtägen […]. Die kinder […] sind allzu wizig, aber rehdumm in glaubenssachen […]. Es herscht in der ehe zwist und streit, man hört bei ihnen nichts als fluchen, schwören, lästern, man bricht sich die treüw, die kinder werden nicht erzogen, sie gehen weder in die schuhl, noch in die kirche,

368 Vgl. Berchtold Villigers Predigtsammlung (Cod. 813), Predigt vom 06.12.1795.

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zue geistenlehren, sie schwärmen [herum]. Alles ist in dem haus sünde, hass, zorn, zank, lauigkeit, laster.

Villiger teilte darauf auch den Reichen aus, die seiner Meinung nach der Gewinnsucht verfallen und jeglicher Nächstenliebe bar wären. Schliesslich tadelte der Geistliche insgemein jene, die Schulden anhäuften und nicht zurückzahlten. Leider ist nicht überliefert, welchen Eindruck die Predigt bei den Kirchenbesuchern hinterliess. Die Begeisterung hielt sich vermutlich in Grenzen. Geistliche und weltliche Obrigkeit prangerten zwar Müssiggang und Verschwendung seit alters an. Doch Villiger ging entschieden weiter. Seine Haltung bliebe unverständlich, wenn man nicht um seine aufklärerischen Überzeugungen wüsste. Tatsächlich gehörte Villiger zu jenen katholischen Geistlichen der Innerschweiz, die dem aufklärerischen Gedankengut freundlich gesinnt waren.369 Seine Adventspredigt war denn auch tief von diesem durchdrungen. Villiger bemühte sich aufrichtig darum, die christliche Tugendlehre mit aufklärerischem Gedankengut zu verbinden. Aufklärer wollten dem einfachen Volk ihre Vorstellungen von Ordnung, Fleiss und Sparsamkeit aufzwingen. Oft konnten sie den hergebrachten Lebensweisen der einfachen Leute kaum Gutes abgewinnen: Unordnung, Faulheit und Verschwendung schienen allgegenwärtig. So brandmarkten Aufklärer viele volkstümliche Verhaltensweisen, weil sie der angestrebten Verfleissigung hinderlich schienen.370 Vielfach behandelten Aufklärer die einfachen Leute wie unmündige Kinder, die es endlich zu erziehen galt. So war auch Villigers Predigt von einem väterlichen, zugleich aber herablassenden Tonfall geprägt. Der aufklärerische Geistliche führte Verhaltensweisen, die ihm nicht genehm waren, unterschiedslos auf niedere Beweggründe zurück. Viele Leute schienen sich selbst ins Verderben zu bringen, weil sie – so Villigers Unterstellung – lieber ihren sinnlichen Bedürfnissen als ihrem Verstand folgten. Wer aber von Sinneslust und Unverstand geknechtet schien, war für Villiger zu keiner mündigen Denkleistung fähig. Der aufklärerische Geistliche verschwendete jedenfalls keinen Gedanken daran, dass die zechenden Väter, hoffärtigen Mütter und faulen Kinder vielleicht andere Lebens- und Zeitvorstellungen besassen. Villiger wollte als überzeugter Aufklärer die Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien.371 Doch wer die Menschen befreien wollte, musste sie zunächst für unmündig erklären: Und genau das tat Villiger in seiner Adventspredigt. 369 Vgl. diesbezüglich Kälin (1946), der vielfach auf Villiger zu reden kommt. 370 Vgl. etwa die Übersichtsdarstellung von Schenda (1986). 371 Die Anspielung auf Immanuel Kants Losungswort ist hier berechtigt, befasste sich doch Berchtold Villiger eingehend mit Schriften des Königsberger Philosophen.

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Villigers Predigt traf die Talleute 1795 allerdings nicht unvorbereitet. Der rührige Prediger war nicht der erste Konventuale, der aufklärerische Ansichten vertrat. Abt Leodegar Salzmann zeigte sich seit Jahrzehnten gegenüber aufklärerischem Gedankengut aufgeschlossen.372 So hatte er auch die Einführung der Seidenkämmelei 1761 massgeblich gefördert. Der spätere Abt bemühte sich um die Hausarbeit mit dem erklärten Ziel, die Talleute vom Müssiggang abzuhalten. Ausdrücklich wurde im Vertrag mit den Seidenlieferanten im selben Jahr vermerkt, die Hausarbeit werde eingeführt, um „die wohlfahrt der angehörigen thalleüthen möglichist zu befürderen und das laster des müessiggangs auszureüthen“.373 Die Seidenkämmelei sollte es dem Talvolk verunmöglichen, die Winterzeit untätig bzw. genusssüchtig in den Bauernstuben zu verbringen. Selbstredend war willkommen, dass der neue Erwerbszweig den Talleuten zusätzliche Einkünfte bot. Doch vorrangig war die Seidenkämmelei als disziplinierende (Zeit)beschäftigung gedacht. Die Talleute waren sich dessen wohl bewusst. Zwanzig Jahre später bemerkte der Engelberger Arzt Maurus Geni Feierabend zur Seidenkämmelei, sie „vertruckt müssiggang [und] civilisirt“. Hierbei fällt auf, wie selbstverständlich der Talmann sich des Zivilisationsbegriffs bediente, den Gelehrte erst neulich in Umlauf gebracht hatten. Bedeutsam war auch Feierabends Zusatz, die neue Arbeit mache „glücklich und unglücklich wie überhaupt die vermehrung der bedörfnisse“.374 Auch dieser Gedanke stammte nicht von Feierabend selbst: Tatsächlich war die Hausarbeit in (physiokratisch gesinnten) Bildungsschichten nicht unumstritten. Als z.B. der Zürcher Geistliche Johann Rudolf Maurer 1780 das Hochtal besuchte, zweifelte er stark am Segen der neuen Verdienstmöglichkeit:375 Das baare Geld, das auf diese Weise in die Hände unbereiteter Armut gerät, sollte es nicht, wie überall, die Wirkung haben, alte Einfalt und väterliche Sitten zu verleiden und Wolleben, Eitelkeit allmählig einzuführen?

Der Müssiggang sorgte also im Hochtal schon längere Zeit für Gesprächsstoff, als Berchtold Villiger 1795 dem Talvolk seine donnernde Predigt hielt. War die Mehrheit der Talleute tatsächlich planlos, faul und verschwenderisch? Dringend stellt sich hier die Frage, wie die Betroffenen selbst die Dinge sahen. Zunächst ist bemerkenswert, dass Maurus Geni Feierabend den Bedürfnisbegriff aufnahm, als er über die Seidenkämmelei und deren Folgen berichtete. Feierabend 372 Vgl. etwa Kälin (1946: 14–16). 373 Vgl. ETP 13.163–165. 374 Vgl. ZBZ Ms. Car. XV 155. 375 Vgl. Dufner (1978: 39).

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stellte fest, dass Lebensansprüche und –gewohnheiten wandelbar seien. Was in früheren Zeiten niemand vermisste, erschien bald als notwendiges Bedürfnis. Der Umfang der notwendigen Bedürfnisse schien Feierabend also nicht bei allen Menschen gleich.376 Zudem hingen Glück und Zufriedenheit, so Feierabend weiter, nicht unbedingt davon ab, wieviele Bedürfnisse man stillen könne. Feierabends Äusserungen leiten zur entscheidenden Frage über, welche Bedürfnisse die Talleute jener Zeit eigentlich besassen. Gewiss waren die damaligen Grundbedürfnisse nach Art und Umfang kaum mit jenen vergleichbar, die heute in westlichen Gesellschaften als notwendig gelten. Dass zum Leben „vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere“ gehört, galt aber auch für das frühneuzeitliche Talvolk.377 Mit gutem Grund kann vorausgesetzt werden, dass die Talleute ihre Arbeits- und Lebensweise nach ebendiesen Grundbedürfnissen ausrichteten: Sie arbeiteten solange und soviel, als für deren Befriedigung nötig war.378 Hier aber stellt sich die Frage, wieviel Zeit die Talleute für anderweitige Tätigkeiten aufwendeten, die nicht unmittelbar der Befriedigung jener Grundbedürfnisse dienten. Vielleicht liesse sich damit auch klären, welche weiteren Grundbedürfnisse die Talleute kannten. Die Talleute massen der Geselligkeit einen grossen Stellenwert zu: Sie tauschten sich häufig und gerne aus. Man begegnete einander bei alltäglichen Verrichtungen und kam so ins Gespräch. Man traf sich zufällig oder verabredete sich. Treffpunkte gab es genug: Gotteshäuser, Wirtshäuser, Heimwesen, Alphütten, Susten, Waschhäuser, Wälder und Weiden, Wege aller Art, usw. Gesprächsstoff war stets ausgiebig vorhanden. Man sprach nicht nur miteinander, sondern vergnügte sich auch gerne. Stubeten waren bei den Talleuten ausserordentlich beliebt. Man spielte miteinander, tanzte gerne, zündete gemeinsam die Pfeife an, genoss ein Mahl bzw. einen Umtrunk. Geburten und Hochzeiten liessen sich die Paten bzw. Eheleute etwas kosten: Knausrigkeit wollte man sich nicht vorwerfen lassen. Wer einen öffentlichen Anlass besuchte, pflegte auch sein äusseres Erscheinungsbild. Wie sorgsam sich eine Talfrau herrichtete, zeigt etwa Joseph Reinhards Porträt Maria Anna Katharina Amstutz‘ von 1789. Dabei gehörte die Talfrau nicht einmal einer Gerichtsfamilie an! An Werktagen traf man sich bei der Arbeit, an Feiertagen begegnete man einander beim gemeinsamen Kirchen- bzw. Wirtshausbesuch. In den Abend- und Nacht376 Unübertroffen bleibt diesbezüglich die Formulierung Marx‘ XXIII, 185: „Der Umfang sogenannt notwendiger Bedürfnisse wie die Art ihrer Befriedigung [ist] selbst ein historisches Produkt […].“ 377 Vgl. Marx/Engels XXIII, 28. 378 Vgl. dazu Tschajanow (1987: 25–41).

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stunden pflegte man das Beisammensein erst recht: Es war die Zeit der Freier, Spieler, Tänzer, Erzähler, Trink- und Essfreudigen beiderlei Geschlechts. Es kam nicht selten vor, dass die Gesellschaften erst nach Mitternacht auseinandergingen. Geselligkeit entsprach jedenfalls einem Bedürfnis, das Männer und Frauen, Junge und Alte, Arme und Reiche gleichermassen kannten. Das Sommerhalbjahr war anstrengend und arbeitsreich. Die Arbeitstage waren entsprechend lang und dicht gefüllt. Gesellige Anlässe wie Chilbenen, Bruderschaftsfeste und Wallfahrten brachten eine willkommene Erholung. Kirchliche Feiern boten allenthalben Begegnungs- und Erholungsmöglichkeiten. Wallfahrten waren besonders beliebt, ergab sich doch dadurch die Gelegenheit, ins örtliche Wirtshaus abzusteigen. Man liess die Arbeit aber auch werktags einmal liegen, wenn sich eine unterhaltsame Begegnung ergab. Wenn es sein musste, arbeitete man eben am nächsten Feiertag weiter und nahm dabei den pfarrherrlichen Unmut in Kauf. Mit dem Wintereinbruch ging die bäuerliche Arbeitsbelastung spürbar zurück, was sich auch auf das Tageswerk auswirkte. Der Arbeitstag wurde lockerer: Man verfügte über mehr Zeit, erholte sich und kam in den Bauern- und Wirtsstuben zusammen. Festgelegenheiten gab es mit dem Nikolaustag, der Weihnachtszeit, den Fasnachtstagen und dem Osterfest genug. Die winterliche Arbeitsruhe wurde kaum als Untätigkeit empfunden. Umgekehrt kam niemand auf den Gedanken, die sommerliche Arbeitsspitze als Überlastung zu werten. Die Arbeitszeit passte sich schlicht dem bäuerlichen Arbeitsaufkommen an. Warum hätte man mehr arbeiten sollen, wenn man sich auch so durchbringen konnte? So überrascht es nicht, dass die meisten Talleute der Seidenkämmelei zunächst argwöhnisch gegenüberstanden. Vielen war der Gedanke fremd, die winterliche Mussezeit zugunsten zusätzlicher Arbeit aufzugeben. Und wer schon zuvor arbeitsscheu war, konnte sich mit dem mühseligen Kämmeln erst recht nicht anfreunden. Also kämmelten vorab arbeitswillige Talleute, die durch schiere Armut dazu gezwungen wurden. Dabei handelte es sich keineswegs um Menschen, die zuvor auf der faulen Haut gesessen wären. Oftmals handelte es sich um Frauen, die ihre Familie bzw. sich selbst mit dem Kämmeln durchzubringen suchten. Die Arbeitsleistung dieser Frauen war aber schon beträchtlich, ehe die Seidenkämmelei eingeführt wurde. Im 18. Jahrhundert drifteten die Zeitvorstellungen der Talleute und ihrer Geistlichen zusehends auseinander, und zwar in dreierlei Hinsicht. Geistliche wie Leodegar Salzmann oder Berchtold Villiger setzten sich (1) für einen gleichförmigen, uhrzeitlich geprägten Arbeitstag ein, der auch im Winter gelten sollte. Ärmere sollten sich erst recht an festere Arbeitszeiten halten, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten konnten. Die Talleute hingegen waren sich geschmeidigere, am Bauernjahr ausgerichtete Arbeitszeiten gewohnt: Ihre Arbeitsauffassung war ereigniszeit-

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lich geprägt. Soweit sich beurteilen lässt, wurde die Winterruhe auch Spend- und Almosenbezügern nicht grundsätzlich abgesprochen. Die Unterscheidung von Arbeit und Musse fiel (2) bei Geistlichen und Talleuten unterschiedlich aus. Nach geistlicher Auffassung liessen sich gesellige Tätigkeiten (Schwatzen, Spielen, Herumschwärmen, Herumsitzen, usw.) mit Arbeit grundsätzlich nicht vereinbaren. Die Talleute ihrerseits sahen die Dinge vielfach grosszügiger. Es kam zwar vor, dass Talleute sich über die liederliche Arbeitsweise ihrer Lohnarbeiter beschwerten. Wenig Freude hatte z.B. das Gericht 1720 an einer Hebamme, „indemme sye nicht allein die Kindbetter[inne]n zu geschwind verlasse, sonder gar zu vihl mit den selbigen schwetze“.379 Arbeit schloss gleichwohl Geselligkeit – innerhalb gewisser Grenzen – nicht aus. Die Geistlichen drängten (3) die Talleute, Tätigkeiten gesonderter bzw. gestaffelter anzugehen. So sollten Werk- und Feiertage strenger eingehalten und Arbeitstätigkeiten entsprechend eingeplant werden. Wenn Gottesdienste anstanden, sollte von anderweitigen Tätigkeiten erst recht abgesehen werden. Die Talleute allerdings schieden Werk- und Feiertage weniger scharf voneinander. Man war sich zudem gewohnt, nicht nur die Arbeit, sondern auch kirchliche Anlässe mit anderen Tätigkeiten zu verbinden. Wenn z.B. Talleute an einer Chilbi oder einer Wallfahrt teilnahmen, hielten sie den geistlichen und weltlichen Festteil kaum streng auseinander. Selbst während der Gottesdienste wurde nicht nur gebetet, sondern auch geraucht, gespielt, geschwatzt, getrunken, gestillt, gefreit, gezankt usw. Die Geistlichen führten dieses abweichende Zeitverhalten zu Unrecht auf fehlende Frömmigkeit zurück. Geistlichkeit und Talvolk besassen unterschiedliche Zeitvorstellungen. Dies beeinflusste auch ihre Einschätzung von Zeitverschwendung bzw. Verschwendung überhaupt. So waren die Talleute bereit, viel Zeit für geselliges Beisammensein aufzuwenden. Zudem waren festliche Anlässe oft mit beträchtlichen Ausgaben verbunden: Damit kostete Geselligkeit auch einige Arbeitszeit, da die entsprechenden Beträge erst erwirtschaftet werden mussten. Die Talleute hiessen allerdings nicht jede Ausgabe gut. So sprach sich das Gericht 1737 für eine Einschränkung der Kindbettmähler aus, da ein solches Fest in früheren Jahren „über ein kuhe gar oft gekostet habe, viele nachbahren und freünd zusamen kommen, gespilt in 2 oder 3  täg“.380 Talleute hatten also durchaus einen Begriff davon, was Geselligkeit (an Zeit und Geld) schicklich kosten durfte. Geistliche hatten in der Regel einen viel strengeren Verschwendungsbegriff, und zwar nicht nur, wenn sie auf der Kanzel sprachen. Pfarrer Ildephons Straumeyer z.B. legte sich selbst einen harten Massstab an und bemerkte über seine Lebensführung schriftlich: „So liess ich mir nie den Müssiggang gefallen, von wo ohnehin so viele 379 Vgl. ETP 7.624–625. 380 Vgl. ETP 11.177–178.

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und viele Uebel zu entstehen pflegen“. Als er 1729 die Tagesordnung seines Klosters zugunsten späterer Mitbrüder beschrieb, verbot er sich den Bericht von Einzelheiten, „um nicht – Kleinigkeiten nachhängend – die Zeit, welche unschätzbar ist, müssig zu verlieren“. Seinem Leser versprach er eine zügige Behandlung des Stoffes, „um nicht, […] die Rede noch weiter verlängernd, dir Eckel zu verursachen oder mir die Zeit für Anderes zu rauben“.381 Straumeyer gab hier nicht nur literarische Gemeinplätze von sich. Es scheint, dass er wirklich von einem drängenden Gefühl für die vergehende Zeit erfüllt war. Eine solche Zeiterfahrung war den zeitgenössischen Talleuten – soweit es sich beurteilen lässt – allerdings fremd. Wie empfanden schliesslich die besitzlosen Talleute ihre eigene Armut? Auch darüber wusste Berchtold Villiger 1795 in seiner Adventspredigt Einschlägiges zu berichten: Man höret solche [armen] leüte täglich mit grossem jammer klagen, das[s] sie ihre lebenstage in aüsserster dürftigkeit und noth verzehren müssen, und dass der himmel sie fast gänzlich zu vergessen scheine. Allein ist es nicht wa[h]r, das[s] dergleichen leüte insgemein nichts thun wollen […]?

Den Betroffenen konnte tatsächlich kaum entgehen, dass sie arm waren. In derselben Zeit häuften ja heimische Grossbauern beträchtliche Vermögen an, vor allem dank des blühenden Welschlandhandels. Man erinnere sich an Sepp Anton Amrhein, dessen blosser Grundbesitz sich auf fast 70‘000 Pfund belief. Die eigene Armut liess sich bei so ungleichen Besitzverhältnissen nicht übersehen. Villiger erwartete eigentlich von ärmeren Talleuten, dass sie mit ihrer geringen Habe haushälterisch umgingen und die verfügbare Zeit zur Arbeit nutzten. Wie aber verhielten sich viele Arme tatsächlich? Sie besuchten weiterhin gesellige Anlässe, gaben dafür Geld aus, gönnten sich Mussezeiten und zehrten von den erhaltenen Spend- bzw. Almosenbeiträgen. Villiger führte dieses Verhalten schlicht auf Charakter- und Verstandesschwäche zurück und hielt die Betroffenen rundweg für unverständig, faul und triebgeleitet. Das beobachtete Verhalten liess aber auch eine andere Deutung zu. Ärmere Talleute klagten zwar über ihr Schicksal, waren aber mit wenigem zufrieden, zählten auf die Unterstützung der Bessergestellten und pflegten – wie die anderen Talleute auch – das gesellschaftliche Beisammensein. Wenn sich Ärmere auf diese Weise ihren nötigsten Lebensunterhalt sichern konnten, gab es für sie keinen zwingenden Grund, auf ihre geselligen Bedürfnisse zu verzichten und Mehrarbeit zu leisten.

381 Vgl. Ildephons Straumeyers »Engelberger Gebräuche«, S. III, 74, 85–86.

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Diese Lebens- und Arbeitseinstellung blieb allerdings nur möglich, solange die Gesellschaft sie zuliess. Genau diese gesellschaftliche Zustimmung war es aber, die Villiger in seiner Predigt geisselte. Viele Arme waren ja nach seiner Auffassung aus Charakter- bzw. Verstandesschwäche in Armut geraten. Entsprechend klagte der aufklärerische Geistliche, welche unerträgliche Last solche selbstverschuldeten Bettler dem Gemeinwesen verursachten. Solche Äusserungen veränderten allmählich die gesellschaftliche Wahrnehmung der Armut. In jener Zeit begann auch das Gericht, die Armut neu einzuschätzen. So sollten Arbeitsfähige ihre Spend- und Almosenrechte verwirken, wenn sie nicht hart genug arbeiteten. Wer von der öffentlichen Fürsorge lebte, musste seit 1787 an seiner Kleidung ein Flicktuch nähen, um sich öffentlich als Bettler auszuweisen. Gleichzeitig erschwerte die Obrigkeit den ärmeren Talleuten den rechtlichen Zugang zur Ehe, bis er im 19. Jahrhundert ganz verunmöglicht wurde. Eine Familiengründung wurde für arme Menschen zusehends schwieriger. Der gesellschaftliche (Zeit)druck auf die Armen wurde beständig erhöht. Der Armenstand verlor viel von seiner früheren Anerkennung, so dass auch die Betroffenen selbst ihn zunehmend als demütigend und entwürdigend empfinden mussten. Zudem wurden Schuldgefühle unvermeidlich. Wer nicht als fauler Armer gelten wollte, musste fortan streng arbeiten. So gewann die Seidenkämmelei in späteren Jahrzehnten tatsächlich an Bedeutung. Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich Kämmlerinnen und Kämmler freudig der neuen Arbeit zuwandten. Der neue Arbeitsfleiss ging wohl eher auf den gesellschaftlichen Druck und die eingeflössten Schuldgefühle zurück.

4.4.3 Lebenszeit Kindheit und Jugend waren von vielen religiösen Schwellen geprägt und dadurch von späteren Lebensabschnitten abgegrenzt. Kleinkinder traten mit dem Besuch der Kinderlehre ins gesellschaftliche Leben ein. Die Altersgrenze war hier ereigniszeitlich festgelegt: Kinder durften die Kinderlehre erst besuchen, wenn sie „von selbst gehen“ konnten.382 Wenn die Kinder später das siebte Lebensjahr erreichten, durften sie am Palmsonntag erstmals zur Beichte gehen.383 Kinder überschritten mit der Erstkommunion eine wichtige Lebensschwelle. Wann ein Kind zur Erstkommunion zugelassen wurde, hing von der Einschätzung des Kinderlehrers ab: Dieser entschied darüber, ob ein Kind für den erstmaligen

382 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von April 1732. 383 Vgl. Hess (1943b: 8).

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Empfang des Allerheiligsten reif genug war.384 Das Fest begann am Weissen Sonntag mit einer Wallfahrt zur Horbiskapelle. Dann kehrten die Erstkommunikanten in die Klosterkirche zurück, wo ihnen der Abt persönlich die Erstkommunion austeilte und einen Rosenkranz zur Erinnerung mitgab. Die Feier fand wohl unter den aufmerksamen Blicken der Eltern bzw. der Verwandtschaft statt. Die Kinder zählten aber auch nach der Erstkommunion noch nicht zu den Erwachsenen der Pfarrgemeinde: So mussten die Kinder das vollendete 14. Lebensjahr abwarten, ehe sie bei Prozessionen mit den Erwachsenen – und nicht an der Spitze des Zuges – mitschreiten durften.385 Der Besuch der Kinder- bzw. Christenlehre gehörte sich für Jugendliche mindestens bis zum 16. Lebensjahr.386 Zu den religiösen Altersmarken kamen die rechtlichen hinzu. So mussten Waisenkinder von ihren Pflegeeltern bis zum achten Lebensjahr vollständig unterhalten werden. Die Pflegeeltern durften die Kinder erst danach auf Almosengang schicken. Die Waisen behielten dabei ein Recht auf Beherbergung, und zwar bis zum zwölften Lebensjahr. Die Bestimmungen galten allerdings nur für den Fall, dass die Kinder gesund und selbständig genug waren.387 Wenn junge Burschen ihr 14.  Lebensjahr vollendeten, wurden sie zur Talgemeinde zugelassen. Gelegentlich wurde die Altersgrenze auch auf das 16. Lebensjahr angehoben. Wenn die Burschen die Talgemeinde besuchten, hatten sie auch den Treueeid gegenüber dem Abt zu leisten.388 Kinder bzw. Jugendliche besuchten auch die Wirtshäuser. Gelegentlich verärgerten diese Besuche allerdings das Gericht. Die Ratsherren mahnten z.B. 1661 Wirt Adam Waser ab und beschwerten sich über die Zechereien inn sonderheit deren, die nichts haben, als sie mit der hand gwinnen, wyb und kinden, ittem bevogtete kindt oder andern der zitt halben bis um 11, 12, 1, 2, 3 [Uhr] nach mitnacht mit villen leichtfertigkeiten uffspilen ec.

Eine Altersbegrenzung für den Wirtshausbesuch wurde allerdings erst in den 1780er Jahren eingeführt, wahrscheinlich auf Druck der aufklärerischen Geistlichkeit. So durften seit 1783 Mädchen erst ab dem vollendeten 14. Lebensjahr das Wirtshaus besuchen, Burschen mussten gar das 16. Lebensjahr abwarten. Zwei Jahre 384 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von April 1735. 385 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von Juni 1734. 386 Vgl. Verkündbuch, Eintrag von März 1625. 387 Vgl. Art. 28 im zweiten Teil des Talbuchs von 1790 in der Fassung Magnus Wasers’, sowie ETP 11.33. 388 Vgl. ETP 4.217–218 und 13.166–169.

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später wurde die Altersbegrenzung für beide Geschlechter auf das 17. Lebensjahr angehoben.389 Das Reifealter von Burschen und Mädchen lag also etwa bei 16 Jahren. Die Jugendlichen erreichten in diesem Alter eine gewisse religiöse bzw. rechtliche Mündigkeit. Viele liessen sich in jenen Lebensjahren als Gesindekraft im Hochtal oder talauswärts anstellen. Die Burschen und Mädchen waren ohnehin seit ihrer Kindheit in die bäuerlichen Arbeiten eingespannt. Gesellschaftlich kamen die Burschen in ihre unruhigen Nachtbubenjahre, wobei auch die Mädchen an der Abendgeselligkeit beteiligt waren. Die Zeit der Heirat folgte erst einige Jahre später. In Gerichtsfamilien heirateten die Jungfrauen durchschnittlich 24-jährig, die Jünglinge erst 27-jährig. Der Altersdurchschnitt war allerdings trügerisch: Mehrjährige Abweichungen vom Mittelwert waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Eine günstige Heiratsgelegenheit hing von vielen äusseren Umständen ab, und nicht zuletzt vom Heiratswillen der Betroffenen selbst. Zudem lag der Altersdurchschnitt in ärmeren Schichten vermutlich um einige Jahre höher. Erst wer längere Zeit nach seinem 30. Lebensjahr ledig blieb, wurde allmählich zu den Hagestolzen bzw. Bewohnerinnen des »Griätzämoos« gezählt. Es ist schwer fassbar, wie die Talleute ihre mittleren Lebensjahrzehnte erlebten bzw. gliederten. Einschneidende Lebensmarken sind in jenen Jahren nicht leicht auszumachen, zumal diesbezüglich nur Selbstzeugnisse genaueren Einblick erlauben würden.390 Wenn allmählich die Kräfte nachliessen, war es jedenfalls an der Zeit, Vorkehrungen für die Zukunft zu treffen. Wer sein Testament aufsetzen liess, befasste sich bereits mit seiner eigenen Vergänglichkeit. Die Testamente wurden meistens von den äbtischen Kanzlern gefertigt, die den Gedanken an den nahenden Tod oft deutlich heraushoben. Als z.B. der 57-jährige Hans Sepp Amrhein, ein bekannter Jäger, 1784 sein Testament aufsetzen liess, leitete Magnus Waser das Schriftstück so ein:391 So unsicher das gewild von dem tödlichen schutz [d.h. Schuss] des jegers, so wenig mag sich der jeger selbst, gleich all anderen sterblichen, von denen immer auf ihne gespanten pfeilen des todts gesicheret halten, und da er nit wüssen kann, wan er auf ihne ab- und lostruckht, so macht und sezte er alles in gute richtigkeit, was er für sich und die liebe seinige gethan zu haben wünschte.

389 Vgl. ETP 2b.659, 16.341–343 und 16.392–394. 390 Vgl. allgemein dazu von Greyerz (2010: 141–196). 391 Vgl. ETP 17.537–539.

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Wenn Eltern ihr Heimwesen an die Kinder übergaben, mussten sich die Begünstigten oft verpflichten, ihren Eltern später allfällige Abwartsdienste (d.h. Krankenfürsorge) zu leisten. Manche warteten mit der Hofübergabe ab, bis Altersgebrechen sie dazu drängten. So vermachte Hans Geni Häcki 1785 sein Gut auf der mittleren Flüematt erst als 72-Jähriger seinem Sohn. Kanzler Magnus Waser hielt diesbezüglich fest, „wan bey einem hausvater ein starches alter von mehr als 70 jahren und darmit verbundene gar merchliche schwachheiten sich einfinden, so seynd diseres mächtige erinnerungen und antrib“, alles Geschäftliche in Ordnung zu bringen.392 Andere mussten ihr Heimwesen schon vor der Zeit veräussern: So gab 1787 Sepp Maurus Hess bereits als 36-Jähriger notgedrungen sein Gut in der oberen Flüematt auf, weil ihm dessen Bewirtschaftung „in seinen verunglückhten umständen einer verlohrnen handt als auch seiner haushaltung zu beschwärlich“ fiel. Sein ältester Sohn war erst 6-jährig und konnte die Nachfolge noch nicht übernehmen. Die bald achtköpfige Familie Hess‘ zog auf den Talboden hinunter. Solche Unglücksfälle kamen vielfach vor und erinnerten gewiss alle Betroffenen bzw. Beobachter an die eigene Gebrechlichkeit.393 Die häufigsten Vorzeichen des Alters waren Geh- und Hörschwierigkeiten. Dies mussten auch ältere Gerichtsherren erfahren, die sehr oft bis in vorgerücktem Alter ihr Amt behielten, „weil ihr verstandt und erfahrnus maniglich probirt und bekandt“ war. Doch kam unweigerlich der Augenblick, wo Erfahrung die schwindenden Kräfte nicht mehr wettmachen konnte. So reichten Ammann Sepp Geni Häcki und Gerichtsherr Hans Sepp Anton Feierabend 1769 ihren Rücktritt ein. An der Talgemeinde verlautete, dass herr amman Joseph Eugenii Häckhi ab dem Bergli von wegen seinem hochen alter, weiten entlägenheit von denen leüthen, besonders wegen sehr starckh und immer abnemmendten gehör, und der richter Joseph Feyraben wegen sein fürdaurendten leibsschwach- und krankheiten, auch ebenmässig starchem alter, ernstlich gebätten und angehalten, dass sie ihrer empter und beschwerden möchten entlassen werden.

Der zurücktretende Feierabend war damals 70-jährig, Häcki gar 78-jährig. Die Altersgebrechen wurden 1692 auch für Ammann Bernhardin Häcki drückender, der sein 34.  Amtsjahr als Gerichtsherr vollendete. Er wurde in jenem Jahr zwar als Gerichtsvorsitzender wiedergewählt, doch stellte man ihm einen Stellvertreter zur Seite. Häcki war damals 82-jährig!394 Der Psalmspruch schien geradezu auf die 392 Vgl. ETP 17.584–585. 393 Vgl. ETP 18.4–5 sowie StB Hess 46. 394 Vgl. u.a. ETP 4.323–324, 6.347–348a, 10.2, 12.35–42, 12.305–309 und 15.50–54.

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Gerichtsherren gemünzt: „Siebzig Jahre währt die Zeit unsres Lebens, sind wir bei Kräften, werden es achtzig.“395 Wie lief die Sterbestunde der Talleute ab? Diesbezüglich geben die Sterberegister der Pfarrei reichlich Auskunft. Tatsächlich bemühten sich die Pfarrherren ungefähr seit Mitte des 17. Jahrhunderts, Leben und Tod verstorbener Pfarrangehörigen kurz zu schildern. Der Brauch setzte sich bis in die späten 1770er Jahre fort, ehe die steigende Bevölkerungszahl eine solche Mühe verunmöglichte. Es wäre vermessen, die oft ausgefeilten und durchaus persönlichen Einträge hier abhandeln zu wollen: Die zahlreichen Sterbeberichte liessen sich nur in einer ausführlichen Darstellung angemessen würdigen. Immerhin sei der Grundgedanke angesprochen, der sämtlichen Einträgen zugrunde lag: Der Tod brachte dem bzw. der Verstorbenen die Erlösung aus dem irdischen Tränental. Wer Gott in seinem diesseitigen Leben die Treue gehalten hatte, durfte im Jenseits die ewigen Freuden des Himmels erwarten. Man darf annehmen, dass auch viele Talleute diese Hoffnung mit ihren Pfarrherren teilten.396

4.4.4 Zusammenfassung Als sich aufklärerische Gelehrte im 18. Jahrhundert ländlichen Gesellschaften zuwandten, waren viele überzeugt, das Landvolk kenne keine andere Zeitordnung als jene, die ihm durch die natürlichen Zeitläufte (Lichttag, Jahreszeiten, usw.) und körperliche Vorgänge (Hungern, Schlafen, Altern, usw.) vorgegeben würden. So glaubten damalige Gelehrte, dass die Landleute noch keine künstliche Zeiteinteilung ausgebildet hätten. Entsprechend schien der zivilisierten, entwickelten Stadtzeit eine natürliche, unentwickelte Landzeit gegenüberzustehen: Zur urtümlichen Volkskultur gehörte nach gelehrter Auffassung auch ein urtümliches Zeitempfinden.397 Wie aber standen die Dinge im Engelberger Hochtal? Die Zeitgrössen der Talleute waren – vom kürzesten Augenblick bis zur vollen Lebensspanne – künstlich: Wer von den gesellschaftlichen Vereinbarungen, auf denen sie beruhten, nichts wusste, konnte sie kaum oder gar nicht verstehen. Wer z.B. die Länge des Tages bestimmen wollte, konnte sich nicht mit einem Blick zur Sonne be395 Vgl. Ps 90,10. 396 An dieser Stelle ist auf die Bedeutung von Gebetszetteln und Totenbildern hinzuweisen, die von Christen (2010: 13–26) aufgearbeitet worden ist. 397 Vgl. Corbin (1991: 10–11). Scharfe Unterscheidungen von Stadt- und Landzeit sind noch heute verbreitet, vgl. etwa Dinzelbacher (2002: 29–34) und Rösener (2004: 11– 22), in einem weiteren Zusammenhang auch Reinhard (2004: 469–478).

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gnügen. Dem Lichttag kamen in unterschiedlichen Lebensbereichen verschiedene Bedeutungen zu. Zudem war der Lichttag eine wichtige, aber keineswegs die einzige Zeitmarke, um die Tageslänge zu messen. Natürliche Zeitläufte und körperliche Vorgänge waren also niemals unvermittelt gegeben, sondern stets gesellschaftlich gedeutet. Eine Zeit, die keine Abfolge von gedeuteten Zeitspannen (Augenblicke, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre) war, blieb für die Talleute undenkbar.398 Damit ist auch klar, dass das Zeiterleben der Talleute auf einer kulturellen Leistung beruhte. Die Uhrzeit bestimmte das gesellschaftliche Leben wie selbstverständlich mit. Öffentliche Ereignisse waren sogar weitgehend von uhrzeitlichen Regelungen bestimmt, so etwa Genossenschaftsarbeiten, Gemeindetätigkeiten, Pfarreianlässe, usw. Ähnliches galt auch für bindende Zeitregelungen, z.B. für die Gerichts- oder die Wirtshausordnungen. Die Uhrzeit setzte sich allerdings in anderen Lebensbereichen (noch) nicht durch, wenn sie dort eher als Nachteil denn als Vorteil empfunden wurde. So blieb die bäuerliche Arbeit oft ereigniszeitlich bestimmt: Hier richtete sich das Tageswerk vornehmlich am jeweiligen Arbeitsaufkommen, nicht an der Uhrzeit. Entsprechend war die Arbeitsdichte – nach uhrzeitlichem Empfinden – starken Schwankungen unterworfen. Tägliche Arbeitsspitzen brachten z.B. das morgendliche Käsen und das abendliche Melken mit sich, während die Arbeitsleistung zwischenzeitlich zurückging. Überhaupt fiel der bäuerliche Arbeitstag aufgrund äusserer Einflüsse vielfach ungleich aus. Nicht zuletzt stand der sommerlichen Arbeitsspitze eine winterliche Mussezeit gegenüber. Entscheidend bleibt die Feststellung, das Ereignis- und Uhrzeit während Jahrhunderten nebeneinander bestehen blieben. Uhren wurden während langer Zeit gebraucht, ohne dass dadurch sämtliche Arbeits- und Lebensvorgänge auf die Uhrzeit ausgerichtet worden wären. Die Uhrzeit verdrängte also andere Zeitregelungen während langer Zeit nicht. Im vormodernen Engelberg wurden verschiedene Lebensbereiche zeitlich unterschiedlich gehandhabt. Wer damals im Hochtal aufwuchs, musste die Fähigkeit entwickeln, sowohl in Ereignis- wie in Uhrzeit zu denken.399 Die Zeitordnung der Talleute gründete, wie eben ausgeführt, auf einer kulturellen Leistung. Wie jede kulturelle Erscheinung, so war auch die Zeit von Wechselhandlungen, Gebrauchsweisen und körperlichen Erfahrungen geprägt. Zeitfragen standen in den verschiedensten Lebenszusammenhängen und wurden vielfach gesellschaftlich ausgehandelt. Ferner waren Zeitmasse sinnlich erfahrbar, vom Au398 Vgl. Durkheim (1912: 14). 399 Vgl. dazu auch Peters (1992).

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genblick des gesprochenen Gebets bis hin zur Lebenszeit, deren Uhrzeiger Gott als Zeitenherrscher in seinen Händen hielt. Wann die rechte Zeit wofür gekommen schien, hing vielfach von der gesellschaftlichen Einschätzung ab. Viele Zeitfragen waren entsprechend umstritten. So gingen gesellschaftliche Zeitvorstellungen in der Regel aus einem Machtkampf hervor. Nichts verdeutlicht dies besser als die aufklärerische Kampfansage gegen den vermeintlichen Müssiggang der einfachen Leute. Es war keine unaufhaltsame, gleichsam naturgesetzliche Entwicklung, welche die Uhrzeit damals zur vorherrschenden Zeitordnung werden liess. Der neue Umgang mit der Uhrzeit wurde vielmehr von seinen Befürwortern durchgesetzt, und zwar recht gewaltsam. Das Nachsehen hatten jene, die ihren eigenen Zeitvorstellungen kein Gehör verschaffen konnten. In der neuen Zeitordnung blieb ihnen nur die undankbare Rolle der Unverständigen, Faulen und Verschwender übrig. Abschliessend lässt sich festhalten, dass moderne westliche Gesellschaften ein Zeitbewusstsein besitzen, dass sich von vormodernen bzw. aussereuropäischen Zeitauffassungen spürbar unterscheidet. Die unterschiedlichen Zeitvorstellungen werden noch heute vielfach in eine geschichtliche Abfolge gestellt, in der sich ursprüngliche und zivilisierte, rückständige und fortschrittliche Zeitordnungen gegenüberstehen.400 Hier wirkt das aufklärerische Erbe besonders stark nach. Wer allerdings frühere bzw. fremde Zeitauffassungen als blosse Vor- oder Missformen der eigenen Zeitordnung wertet, kann schwerlich einen angemessenen Zugang zu ihnen finden. Ein tieferes Verständnis lässt sich allemal erzielen, wenn man nicht einen Fortschritt, sondern einen Wandel des Zeitbewusstseins voraussetzt. Dann lässt sich auch die Gewinn- und Verlustrechnung umsichtiger führen. Das Beispiel des vormodernen Engelbergs verdeutlicht jedenfalls, dass es für eine solche Herangehensweise gute Gründe gibt.

400 Vgl. etwa Wendorff (1980).

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Schluss

5.1 Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung gibt einen Überblick über die Geschichte der Herrschaft Engelberg von 1600 bis 1800 und zeichnet die Lebenswelten der damaligen Talleute nach. „Die Geschichte des Thals Engelberg ist grossen Theils eine Geschichte des Klosters Engelberg“, schrieb Theodor von Liebenau 1876. Diese Sichtweise trug bis heute dazu bei, dass die Geschichte dieser alpinen Talschaft kaum angemessen untersucht wurde. Dies ist umso bedauerlicher, als die frühneuzeitliche Herrschaft Engelberg für übergreifende historische Forschungsbereiche (Geschichte der alpinen Wirtschaft, der geistlichen Herrschaften, der Landsgemeindeorte, der alpinen Kultur und des barocken Katholizismus) von erheblichem Interesse ist. Zudem ermöglicht es die hervorragende Überlieferungslage, die Lebenswelten der damaligen Talbewohner vielseitig zu erforschen. Der ortsgeschichtliche sowie lebensweltliche Ansatz erlaubt nicht zuletzt, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Gesichtspunkte miteinander zu denken und zu verbinden. Der erste Teil dieser Darstellung (Kap. 2) befasst sich mit der wirtschaftlichen Verfassung des frühneuzeitlichen Engelbergs. Im Vordergrund steht die Erkenntnis, dass sich das Hochtal im 17. und 18. Jahrhundert wirtschaftlich dynamisch entwickelte. Die oberitalienische Nachfrage nach Hartkäse und Vieh schuf die Voraussetzung für einen einträglichen Aussenhandel, der eine hohe Wertschöpfung erlaubte. Diese Entwicklung wirkte sich auf die Bevölkerungszahl Engelbergs spürbar aus, indem sich diese im 18. Jahrhundert mehr als verdoppelte. Die gängige Annahme, die Pastoralisierung habe zu einer extensiven Wirtschaftsweise geführt, ist für das frühneuzeitliche Engelberg eindeutig zurückzuweisen. Die Vieh- und Milchwirtschaft war ausserordentlich arbeitsintensiv, insofern sich die landwirtschaftlichen Ressourcen des Hochtals oft nur mit grossem Aufwand bewirtschaften liessen. Und tatsächlich schöpften die Talleute diese Ressourcen intensiv aus. Grossviehhaltung und Hartkäserei führten zudem erhebliche Kapitalinvestitionen in die landwirtschaftliche Infrastruktur nach sich. Die Vermögensunterschiede zwischen den Talleuten wurden durch den einträglichen Aussenhandel eher vergrössert als gemindert, was gesellschaftliche Spannungen innerhalb der Talbevölkerung verursachte. Talleute legten ihre Kapitalgewinne aus dem Ausfuhrhandel gewöhnlich in Gülten an, d.h. grundpfandlich gesicherten, zinsbaren Kapitalanlagen. Das Gültwesen eröffnete neue Anlage- bzw. Darlehensmöglichkeiten, die überaus stark und vielfältig genutzt wurden. Gülten erweiterten

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auch die Spielräume bei Erbteilungen. Insgesamt bedingte das Gültwesen einen lebhaften Boden- und Kapitalmarkt. Lohnarbeit kam in verschiedenen Arbeitsbereichen vor, insbesondere im Handwerk und in der Säumerei. Talleute gingen entlöhnten Arbeiten gewöhnlich im Nebenerwerb nach. Dienstboten und Tagelöhner standen meist in kurzfristigen, oft leicht kündbaren Arbeitsverhältnissen, so dass sie kaum einen eigenen Berufsstand bildeten. Ferner war das Hochtal in regionale bzw. überregionale Wirtschaftsräume eingebunden, die auch das Beschäftigungsangebot der Talleute erweiterten. Säumer, Handwerker, Dienstboten und Soldaten nutzten diese Möglichkeit und wanderten – für längere oder kürzere Zeit – aus dem Hochtal aus. Es besteht kein zwingender Grund, dieses Wanderungsverhalten grundsätzlich auf Unterbeschäftigung und Armut zurückzuführen. Die Arbeitswanderung fügte sich in die Lebensläufe der Angehörigen der ländlichen Bevölkerung mühelos ein, wobei soziale Netzwerke die Auswanderung zusätzlich erleichterten. Schliesslich führte die ab 1761 eingeführte Hausarbeit keine grundlegende Veränderung der Arbeitswanderung nach sich. Der zweite Teil dieser Darstellung (Kap. 3) beschreibt die sozialen Netzwerke innerhalb der frühneuzeitlichen Talbevölkerung. Am Beispiel der Gerichtsherrenfamilien lässt sich erkennen, dass die dörfliche Oberschicht ihren Einfluss durch gezielte Eheverbindungen erhielt. Die weiblichen Angehörigen der Gerichtsherrenfamilien nahmen dadurch eine bedeutsame gesellschaftliche Stellung ein. Die Untersuchung unehelicher Liebesbeziehungen verdeutlicht den Graubereich, der zwischen privatem und öffentlichem Bereich lag. Die dörfliche Gesellschaft duldete unter Umständen vor- bzw. uneheliche Beziehungen, soweit sie kein öffentliches Aufsehen erregten und moralische Normen nicht öffentlich in Frage stellten. Das Beispiel der familiären Vor- und Fürsorge macht deutlich, dass moralische Unterstützungspflichten ziemlich unverbindlich waren. Zwischen Familienangehörigen wurden in vielfältigen Lebenslagen schriftliche Verträge abgeschlossen, welche die geschuldete Solidarität erst handfest machten. Ferner fällt auf, wie unterschiedlich Familienangehörige ihre wirtschaftliche Versorgung gemeinsam sicherstellten. Diese Feststellung trifft auch und besonders auf das Erbwesen zu. Angesichts fehlender öffentlicher Für- und Vorsorgeeinrichtungen waren die familiären Versorgungsweisen ausgesprochen wirksam. Kündigten jedoch Familienangehörige die stillschweigenden oder ausdrücklichen Regeln der Familiensolidarität, wirkte sich dies auf alle Beteiligten verhängnisvoll aus, wie Fälle üblen Lebenswandels belegten. Das frühneuzeitliche Engelberg wies in öffentlichen Angelegenheiten eine ausgeprägte demokratische Kultur auf. In zahlreichen Versammlungen beratschlagten Talleute über Fragen des öffentlichen Interesses. Das demokratische

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Selbstbewusstsein der Talleute zeigte sich auch in ihrem oft angespannten Verhältnis zur eigenen Obrigkeit, zu der nicht nur die äbtischen Talherren, sondern auch die (aus den eigenen Reihen gewählten) Ratsherren gehörten. Abt, Gericht und Talvolk gingen untereinander wechselnde Partnerschaften ein und verhinderten so, dass eine der drei Parteien eine Vormachtstellung entwickeln konnte. Diese besonderen Umstände erklären auch, warum schwere Unruhen im frühneuzeitlichen Engelberg nach den 1620er Jahren – im Unterschied zu vielen anderen zeitgenössischen Herrschaften – kaum mehr vorkamen. Der dritte Teil dieser Darstellung (Kap. 4) untersucht die Überlieferungsorte und -weisen kultureller Inhalte im frühneuzeitlichen Hochtal. Die dörfliche Geselligkeit spielte sich vorwiegend in den Stuben der Bauern- und Wirtshäuser ab. Die Stubengeselligkeit ermöglichte zahlreiche Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten, die sich die heiratsfähige Jugend besonders zunutze machte. Gesellschaftliche Beziehungen wurden allgemein bei den Stubentreffen geknüpft und unterhalten: Entsprechende Störungen drückten sich in zahlreichen Ehrenhändeln aus, die oft vor Gericht endeten. Die geselligen Anlässe stellten aber auch den dörflichen Nachrichtenfluss sicher. Es ist bemerkenswert, dass sich die Talleute ihre Geselligkeit – trotz einfacher Lebensverhältnisse – viel kosten liessen. Weiter liess sich zeigen, dass die Schriftkultur das Leben im Hochtal spürbar beeinflusste. Druckwerke wurden nicht nur gelesen, sondern auch nacherzählt. Geistliche und weltliche Obrigkeit waren an der Vermittlung kultureller Vorstellungen besonders beteiligt. Mündliche Überlieferungen waren kurzlebig: Sie knüpften häufig an bestimmte Orte, Ereignisse und Persönlichkeiten an. Christliche Denkmuster prägten nicht nur die Alltagserfahrung, sondern auch die Erzählstoffe der Talbevölkerung. Im Hochtal gab es keine eigenständige, urtümliche Volkskultur: Die volkstümliche Kultur war vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass sich die Talbevölkerung fremde Einflüsse laufend aneignete und in schöpferischer Weise neu zusammenstellte. Das religiöse Leben des Hochtals beschränkte sich nicht auf die liturgischen Feiern in der Pfarrkirche, sondern erfasste die ganze Alltagswelt. Das Hochtal verfügte über eine reich ausgebaute Sakrallandschaft, in der das Glaubensleben der Gemeinde sowie der einzelnen Talleute eingebettet war. Talleute übernahmen Formen der amtskirchlichen Frömmigkeit, indem sie sich liturgische Ausdrucksweisen aneigneten oder eigene Andachtsorte schufen. Das religiöse Leben spielte sich vornehmlich in der Gemeinschaft ab, was nicht zuletzt geselliges Beisammensein erlaubte. Die Talbevölkerung schätzte liturgische Riten besonders und forderte sie gegebenenfalls auch ein. Himmlische Fürbitter wurden unter dem Talvolk stark verehrt, was nicht nur mit der amtskirchlichen Förderung dieser Kulte, sondern auch mit den alltäglichen Bedürfnissen der Menschen zusammenhing.

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Die Geistlichkeit legte – die Vorschriften des tridentinischen Konzils umsetzend – grossen Wert auf die Glaubenserziehung der Laien, die vornehmlich in der Kinder- und Christenlehre stattfand. Die Talbevölkerung besass ein entwickeltes Zeitbewusstsein. Ereigniszeitliche und uhrzeitliche Ordnungen blieben nebeneinander bestehen, auch wenn die Uhrzeit in öffentlichen Angelegenheiten vorherrschte. Die Talbevölkerung besass durchaus einen entwickelten Untätigkeitsbegriff, legte diesen aber anders aus als die aufklärerische Geistlichkeit im späteren 18. Jahrhundert. Diese redete die Zeitvorstellungen der bäuerlichen Bevölkerung schlecht und führte Armut auf Verschwendung (von Zeit und Geld) zurück. Entsprechend hatte die Einführung der Seidenkämmelei (als Arbeit zur Winterszeit) vornehmlich disziplinierenden Zweck, ferner wurden ärmere Leute durch strengere Spend- und Almosenregelungen zusätzlich unter Druck gesetzt. Viele Talleute hielten jedoch an ihren eigenen, vom bäuerlichen Jahr geprägten Zeitvorstellungen fest.

5.2 Ausblick Diese Darstellung ermöglicht es, am Fallbeispiel Engelbergs neue Sichtweisen auf die alpine Geschichte zu entwickeln bzw. zu festigen. Gleichzeitig birgt die unternommene Erforschung alpiner Lebenswelten die Chance, hergebrachte Wahrnehmungsmuster des Alpenraums und seiner Bevölkerung zu hinterfragen. Tatsächlich haben Auswärtige über Jahrhunderte zahlreiche Alpenbilder entworfen, die nur sehr eingeschränkt jener Lebenswirklichkeit entsprachen, welche die Alpenbewohner selbst erlebten. Die besagten Wahrnehmungsweisen geben bloss den fremden Blick auf die Alpen und deren Bewohner wieder. Zudem sind sie oft derart ideologisch aufgeladen, dass sie nur Erkenntnisse über ihre Urheber – nicht aber über ihren Gegenstand – erlauben.1 Aufklärer nahmen im 18.  Jahrhundert die Alpen als abgeschiedene, unberührte Naturgegend wahr. Die angebliche Unberührtheit der Alpen wurde bald als »Ursprünglichkeit« bewundert, bald als »Rückständigkeit« verurteilt. Nach aufklärerischen Vorstellungen stand nämlich eine Gesellschaft, die nur Viehwirtschaft und keinen Ackerbau betrieb, noch auf einer frühgeschichtlichen Zivilisationsstufe. Der angeblich geringe Entwicklungsstand drückte sich – so die aufklärerische Überzeugung – in Beschäftigungslosigkeit, Müssiggang, Übervölkerung

1 Zur Wahrnehmungsgeschichte des Alpenraums seit der Renaissance, vgl. etwa Mathieu (2005).

Ausblick

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und Auswanderung aus, aber auch in politischer Rückständigkeit, rohen Sitten und fehlender Bildung.2 Die aufklärerischen Wahrnehmungsmuster waren nicht voraussetzungslos, insbesondere was die Beurteilung der Innerschweiz betrifft. Seit der Reformationszeit waren die inneren Orte wegen ihrer Solddienstpolitik andauernden polemischen Angriffen ausgesetzt. In dieser konfessionell gefärbten Polemik wurde den Waldstättern seit dem 16.  Jahrhundert genau jener geringe Entwicklungsstand vorgeworfen, der später in den aufklärerischen Schriften ausgeführt wurde.3 Aufklärer übernahmen – bewusst oder nicht – viele ältere polemische Wahrnehmungsmuster: Dabei wurden diese Deutungsweisen gleichsam ihrer polemischen Gewänder entkleidet und in die Gewänder sachlicher Feststellung gehüllt. Ergebnisse dieser Verwandlung finden sich noch in der heutigen Geschichtsschreibung gelegentlich wieder, ohne dass sie entsprechend ausgewiesen würden. So wird die Frage, warum die Innerschweiz katholisch blieb, gewöhnlich mit Verweis auf deren Solddienstabhängigkeit beantwortet. Genau dieselbe Antwort hatten allerdings die Gegner der Waldstätten bereits in den 1520er Jahren gegeben. Solche sonderbaren Übereinstimmungen sollten eigentlich zu besonderer Behutsamkeit und kritischer Überprüfung mahnen und nicht zur unbedachten Übernahme verleiten.4 Doch selbst die frühneuzeitliche Solddienstpolemik besass Wurzeln, die in ältere Zeit zurückreichten. Auch hier zielte der fremde Blick vornehmlich auf die Innerschweiz. Seit dem 14. Jahrhundert empfanden nämlich die umliegenden Stadtorte ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den innerschweizerischen Landorten. In Stadtorten wurden die Waldstätter verächtlich als Küher bezeichnet.5 Sie wurden 2 Für die aufklärerische Wahrnehmung des Alpenraums und insbesondere des Hirtenlandes, vgl. Bircher (1979). Bemerkenswert sind die Ausführungen Condorcets zur Hirtenstufe der frühen Menschheitsgeschichte, bei denen er vermutlich die alten Eidgenossen vor Augen hatte, vgl. Condorcet (1988: 97–103). Zur stereotypen aufklärerischen Wahrnehmung der einfachen Bevölkerung, vgl. Brückner (1988). 3 Vgl. für die Frühzeit Salats Chronik in QSG I/VIII/1, 216–217, ferner ASR 1.845 und 5.119. Zur bevölkerungskundlich geprägten Debatte, vgl. etwa Padavino (1874: 61–66), Plantin (1656: 219), Ruchat (1714: 793–794), Stanian (1714: 144) und Tschudi (1723: 191), zusammenfassend bei Dubler (1939). Konfessionelle und aufklärerische Vorstellungen vermengen sich bei Hirzel (1788: 104–109, 152–153) auf beispielhafte Weise. 4 Vgl. etwa Hottinger (1825: 394–395) und Dierauer (1907: 58–59), deren entsprechende Ausführungen vielfach übernommen worden sind. Kritische Bemerkungen zur historiographischen Behandlung dieser Frage bei Blickle (1994). 5 Eine umfassende Übersicht zu diesem Thema geben Sieber-Lehmann/Wilhelmi (1998). Die besagte Sichtweise auf die Waldstätten hebt wohl mit dem Überfall auf das Kloster Einsiedeln 1314 und der darauffolgenden Schlacht bei Morgarten 1315 an, vgl. Rudolf von Radeggs Bericht in QESE III.4, 256 sowie Johannes von Winterthurs Bericht in MGH SS rer. Germ. N.S. III, 79–81.

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vielfach als wilde Tiere angesehen, die gelegentlich aus ihrer Wildnis ausbrachen und blutrünstig herumschwärmten. Man sprach ihnen ein viehisches, kriegerisches Wesen zu. Der städtische Blick machte aus den Waldstätten eine naturhafte Gegenwelt, die gleichermassen Furcht und Bewunderung auslöste – nicht anders hatte Herodot seinerzeit über das wilde Volk der Skythen berichtet. Die fremden Wahrnehmungsmuster spiegeln kaum die tatsächlichen Lebensverhältnisse im damaligen Alpenraum. Zudem berücksichtigen sie nicht, wie die Gebirgsbewohner ihre Lebensumgebung erlebten – wiewohl zu beachten ist, dass diese die fremden Wahrnehmungsweisen sehr wohl zur Kenntnis nahmen. Die überlieferten Wahrnehmungsmuster taugen deshalb kaum als gedankliche Raster und Findmittel, um alpine Lebenswelten angemessen zu erforschen. Umso deutlicher erweist sich die Notwendigkeit, die Sichtweise der betroffenen Bevölkerung einzubeziehen, d.h. danach zu fragen, wie die Alpenbewohner ihre Lebenswirklichkeit gestalteten und erfuhren. Die Ergebnisse dieser Untersuchung legen es nahe, bei künftigen Forschungsarbeiten zum frühneuzeitlichen Alpenraum drei Gesichtspunkten vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken. Erstens scheint die Pastoralisierung in Alpengegenden nicht mit einer Extensivierung, sondern vielmehr mit einer Intensivierung der Wirtschaftsweise verbunden gewesen zu sein: Die Pastoralisierung konnte in den betroffenen Gebieten eine stärkere, nicht eine schwächere Wirtschafts- und Arbeitstätigkeit nach sich führen. Die Pastoralisierung löste eine wirtschaftliche Dynamik aus, die lange unterschätzt blieb und deshalb verstärkte Forschungsanstrengungen verdient. Zweitens kann die Erforschung sozialer Netzwerke auch in der alpinen Geschichtsschreibung dazu beitragen, die tatsächlichen Handlungsspielräume der Angehörigen einfacher Bevölkerungsschichten besser auszuloten. Die Untersuchung sozialer Netzwerke ermöglicht einen differenzierten Blick auf wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Ungleichheiten, indem es die gegenseitige Abhängigkeit aller beteiligten Gruppenmitglieder sowie die Handlungsmöglichkeiten der schwächeren unter ihnen aufzeigt. Diesbezüglich drängt sich die Vermutung auf, dass die alpine Bevölkerung die jeweils herrschende gesellschaftliche Ordnung nicht nur erlitt, sondern tätig mitgestaltete und mittrug. Gerade in Landsgemeindeorten waren die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ausserordentlich vielschichtig und Freiräume durchaus vorhanden. Es scheint angebracht, die entsprechenden Handlungsweisen und –spielräume der Angehörigen einfacher Bevölkerungsschichten in sozialgeschichtlichen Untersuchungen vermehrt zu berücksichtigen. Drittens schliesslich spricht einiges für die Annahme, dass der frühneuzeitliche Alpenraum keineswegs ein kulturell abgeschottetes, in einer urtümlichen Volkskultur behaftetes Gebiet darstellte. Fremde Einflüsse erreichten die Alpenbe-

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wohner auf verschiedenen Wegen: Ausfuhrhandel und Arbeitsmarkt hielten dauerhafte überregionale Kommunikationswege aufrecht, über die sich Bestandteile städtischer bzw. höfischer Kultur bis in die abgelegenen Alpentäler ausbreiteten. Zudem gelangten Inhalte der Schriftkultur durch Lesen und Nacherzählen von Druckerzeugnissen sowie durch Vermittlung der geistlichen und weltlichen Obrigkeit in die volkstümliche Gedankenwelt. Zwischen dem Alpenraum und dessen Umland bestanden zahlreiche kulturelle Verbindungen, die eine Abschottung unglaubwürdig erscheinen lassen. Diese Kommunikationswege bedürfen einer vertieften Erforschung. Der fremde Blick überging den wirtschaftlichen Fleiss, die vielschichtige Gesellschaftsordnung und die kulturelle Vernetzung der frühneuzeitlichen Alpengegenden geflissentlich. Die Alpenbewohner wussten über ihre Lebenswirklichkeit jedoch besser Bescheid. Es lohnt sich, ihnen besseres Gehör zu verschaffen.

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Anhang: Soldatenverzeichnis

Die folgende Liste enthält die Namen jener Talleute, die vom frühen 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert mit Sicherheit oder einiger Wahrscheinlichkeit Kriegsdienste geleistet haben. Die Namen stehen in alphabetischer Reihenfolge. Sofern sich die Abstammung eines Soldaten feststellen lässt, erfolgt die Identifizierung über die väterliche Familie, genauer durch Seitenzahlverweis auf das jeweilige Familienstammbuch (StB). Anschliessend sind Belegstellen angeführt, die Eckdaten zu den Soldaten bzw. ihren nächsten Familienangehörigen enthalten. Es sind nur jene Belegstellen angeführt, die zur Erschliessung der weiteren Überlieferung unverzichtbar sind: Sie beanspruchen keine Vollständigkeit. Nr Name 1. Amrhein, Augustin Flori 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Amrhein, Frowin Amrhein, Hans Amrhein, Joachim Sepp Amrhein, Karl Christian Amrhein, Lenz Wolfgang Amrhein, Maurus Amrhein, Melcher Amrhein, Melcher Amrhein, Michel Amrhein, Sepp Geni Amrhein, Sepp Geni Amrhein, Sepp Ildephons

14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.

Amrhein, Sepp Leodegar Maria Amrhein, Sepp Plazi Amstutz, Hans Melcher Benedikt Amstutz, Kaspar Baur, Jörg Christoph Brun, Geni Thadä Christen, Hans Jakob Dillier, Andres Dillier, Balzer Dillier, Balzer Dillier, Hans Baschi Geni Dillier, Hans Kaspar Dillier, Hans Melcher

27. Dillier, Karl Dominik 28. Dillier, Niklaus Anton 29. Dillier, Niklaus Daniel

StB Belegstellen 95 StR 15.04.1795; CFD Brief M.B. Schleiss, 06.07.1795; ETP 17.112–113, 17.457, 18.72–73 68 Urbar 3.719; ETP 10.73 – ETP 1.270–271 100 StR 13.09.1819 73 StR 23.12.1783; ETP 13.294, 17.301, 17.234–236 9 StR 23.02.1785; ETP 16.344–349, 17.113–114 93 StR 1743; CFD Kapitulation, 29.11.1742 3 StR 15.11.1667 – StR 1698 22 StR 10.10.1694 71 StR 1696 73 StR 20.10.1779; ETP 13.319 7 Urbar 3.716; ETP 8.400–404, 10b.69–70, 11.485–488, 12.225– 229, 17.22–23 96 StR 08.11.1809; ETP 18.72–73 105 StR 1816; ETP 17.537–539 48 StR 27.02.1695; ETP 6.271–278 5 StR 24.11.1678 – CFD Kapitulation, 26.11.1742 – VkB 25.03.1781; ETP 14.114, 16.282–286 – VkB 16.08.1739 – VkB 07.06.1626 – VkB 25.12.1605 16 StR 1705; ETP 4.26, 4.63, 5.309 22 ETP 3.45–46, 6.349–354a StR 1688 16 StR 20.05.1741; ETP 4.26, 4.63, 5.309, 5.243–247,9.468–469, 10.2 18 ETP 10b.16–17, 11.590, 12.196, 13.73–75, 13.136–137, 13.199– 200, 14.52–53, 15.119 23 StR 08.03.1741; ETP 5.150, 6.186–188, 6.355–356, 7.584, 3.212– 217, 10.109–110 14 VkB 07.10.1731

527

Anhang: Soldatenverzeichnis Nr Name 30. 31. 32. 33.

Dillier, Sepp Feierabend, Franz Sepp Feierabend, Hans Feierabend, Hans Geni

StB Belegstellen – 16 8 8

34. Feierabend, Hans Geni

31

35. 36. 37. 38. 39.

Feierabend, Hans Sepp Feierabend, Hans Sepp Feierabend, Maurus Emanuel Feierabend, Melcher Feierabend, Melcher Bläsi

6 – 16 6 27

40. 41. 42. 43.

Feierabend, Sepp Geni Haas, Michel Häcki, Bernhardin Häcki, Geni Niklaus

12 – 3 22

44. Häcki, Hans 45. Häcki, Hans Geni

– 22

46. Häcki, Hans Melcher 47. Häcki, Hans Niklaus Benedikt 48. Häcki, Hans Paul

7 12 13

49. Häcki, Hans Sepp 50. Häcki, Hans Sepp

22 33

51. Häcki, Jakob 52. Häcki, Sepp Geni 53. Haller, Kaspar 54. Hasler, Niklaus

6 13 – –

55. Hermann, Hans Melcher 56. Hermann, Hans Melcher 57. Hermann, Hans Melcher Frowin

– – –

58. Hermann, Jakob



59. 60. 61. 62. 63. 64.

Hermann, Jakob Sepp Hermann, Karl Sepp Hermann, Matthias Hermann, Melcher Geni Hermann, Plazi Hess, Geni

65. Hess, Joachim Geni 66. Hess, Kaspar Bernhard 67. Hildebrand, Hans Jörg 68. Hurschler, Hans Bernhard

– – – – 2 6 14 – 4

CBe Brief Hacbrett, 05.12.1717; CUr Brief Schmid, 12.12.1717 StR 17.09.1782, ETP 11.404–406 (?), 17.286–287 StR 1702 ETP 5.198–218, 5.250–257, 5.266–271, 5.274, 5.275–276, 5.279– 282, 7.538–539 CFD Kapitulation, 06.04.1734; ETP 10b.18–19, 12.217–218, 13.429, 15.492–493, 14.178, 14.222, 14.398–399, 14.481 ETP 5.310–310a, 7.423–424 StR 27.09.1782 ETP 17.286–287, 17.381 StR 1681; VkB 26.10.1681; ETP 5.310–310a StR 14.12.1703; ETP 2b.666, 4.184–185, 4.197, 4.206, 4.211, 4.264–265, 4.291–292, 4.307, 4.320–321, 4.328, 4.329, 6.344– 6.344a, 12.211–215, 12.305–309 ETP 11.404–406 VkB 07.06.1626 StR 1692 CFD Brief J.F.A. Achermann, 16.01.1746; ETP 13.464–467, 14.72, 18.262–263 VkB 07.06.1626 StR 1734; VkB Oktober 1734; CFD Kapitulation, Januar 1734; ETP 10b.14–16 StR 14.12.1680; VkB 02.03.1681; ETP 3.14–15, 3.180–181, 3.184 StR 30.03.1706, 1708; ETP 4.462–463, 5.243–247, 6.182 StR 09.09.1759; CEb III Brief H.P. Häcki, 31.01.1759; ETP 10b.69–70, 10b.71–72 VkB 16.07.1747; CFD Kapitulation, 21.01.1739; ETP 10b.65–66 StR 13.06.1810; ETP 14.408–411, 15.204–205, 17.493–495, 18.62–63, 18.323–326, 20.66–67 StR 19.10.1682; ETP 2b.264–267, 2b.268, 2b.286–287, 2b.384– 386, 2b.391–392, 2b.394 StB Häcki 13 VkB 31.08.1625 StR 1688; VkB 26.12.1688; StB Waser 59; ETP 3.74–75, 3.212– 217, 4.192, 4.249–256 CFD Brief J.J. Achermann, 19.01.1736; ETP 11.426–427 CFD Brief J.F.A. Achermann, 16.01.1746 CFD Kapitulation, Januar 1734; ETP 4.412, 5.243–247, 7.436– 437, 9.70–71, 9.81, 10b.14–16, 13.461–462, 17.228–230 VkB 07.09.1681; StB Kuster 17; ChE Briefe K. Kuster, 01.06.1660, 10.09.1660, 1675, Briefe J. Hermann, 01.06.1660, 10.09.1660; ETP 2b.302–305, 2b.312, 3.153, 3.162, 3.196, 4.114–115, 4.193 CFD Brief J.J. Achermann, 19.01.1736 StR 08.05.1783; ETP 16.486–488, 17.228–230 StB Kuster 17; ETP 2b.480–481 StR 1744 StR 1737; ETP 4.235–236, 5.16–17, 5.204–218, 5.380, 10.70–71 StR 1688; VkB 26.12.1688; ETP 4.192, 4.206, 4.386–387, 5.338– 341, 6.225 StR 12.03.1737; CFD Kapitulation, Januar 1734; ETP 10b.14–16, 12.220 ETP 17.228–230, 17.297 ETP 8.148–156 StR 1695

528

Anhang: Soldatenverzeichnis

Nr Name

StB Belegstellen

69. Hurschler, Hans Niklaus

75 StR 1745; VkB 21.09.1738, 05.07.1739, 11.09.1745; CLu Brief R.D. Mohr, 30.07.1740; CFD Kapitulationen, 06.04.1734, 21.01.1739, 08.08.1736, Versicherung, 21.01.1739; ETP 10b.18– 19, 10b.21–24, 11.453–455, 12.280–284, 12.302, 4.314–316, 5.171–173, 5.294–297, 5.332–336, 8.84–85, 11.364–365 81 StR 12.02.1776; ETP 10b.21–24, 13.396–397, 14.508–518 47 StR 24.08.1820, StB Hurschler 47; ETP 16.500–504, 18.168–169, 18.303–304, 20.127 – ETP 11.404–406 – StR 1668; ETP 2a.49b–50, 2b.490, 3.99–101 – CFD Kapitulationen, Januar 1734, 07.07.1747; ETP 10b.14–16, 11.374–375, 12.16–17, 12.61–63, 12.223, 12.295–298, 12.312, 12.397, 13.173, 13.178–183, 13.434, 15.56–57, 15.454 – VkB 13.05.1629 – VkB 13.10.1743; Urbar 3.410; ETP 6.321a–322a, 6.356–356a – VkB 08.02.1739, 24.02.1743, 16.05.1756; Urbar 3.420; ETP 8.23 – VkB 15.07.1629 – CFD Kapitulation, 06.04.1734; ETP 5.187–192, 8.168 – VkB 01.03.1626 80 StR 27.05.1739; VkB 24.05.1739; CFD Brief A. Kuster, 23.09.1732; ETP 4.63, 4.394–395, 6.146–167 70 VkB 14.08.1689; ETP 2b.1–5, 3.70–71, 3.73–74, 3.139–141, 3.152 73 StR 1743; VkB 13.10.1743; CFD Kapitulation, 25.11.1742 70 StB Kuster 70 71 StR 1693 107 ETP 16.213–221, 17.286–287 145 CFD Kapitulation, 06.04.1734, Mannschaftsliste, 30.09.1742, CCr Brief E. Crivelli, 11.04.1735; ETP 10b.18–19, 17.500–503 103 StR 21.05.1733; ETP 10.79–80; AH 72.124, 72.196, 82.89, 87.49, 90.47, 106.48, 121.82, 124.111, 125.14, 128.162, 129.57 27 CFD Brief M.B. Schleiss, 06.07.1795; ETP 13.57, 14.114, 14.364, 17.227–228, 20.126 17 StB Kuster 17; StR 28.02.1684 23 CFD Kapitulationen, 21.01.1739, 22.11.1742; ETP 10b.65–66, 13.57 27 StR 12.08.1771 23 CFD Mannschaftsliste, 30.11.1742, Kapitulation, Januar 1734; StR 1763 80 StR 1693 9 StR 29.03.1762; StR 13.08.1745; ETP 10b.16–17, 13.73–75 102 StR 1695 23 StR 28.04.1746; CFD Kapitulation, Januar 1734, Mannschaftsliste, 30.11.1742; ETP 10b.14–16 70 AH 82.89, 87.49, 88.117, 90.47, 96.11, 106.70, 121.82, 124.111, 125.14, 128.162, 129.57 27 StR 11.04.1783 7 StB Kuster 7; ETP 2b.700 103 ETP 10.2; AH 72.124, 72.195, 82.89, 87.49, 88.117, 90.47, 96.11, 106.70, 121.82, 124.111, 125.14, 128.162, 129.57 7 ETP 2b.700, 5.85–87 27 StR 10.03.1798; ETP 17.227–228, 17.342, 20.126 27 ETP 20.126

70. Hurschler, Jakob Sepp Geni 71. Hurschler, Melcher Sepp Berchtold 72. Hurschler, Sepp 73. Infanger, Hans 74. Infanger, Hans Geni 75. 76. 77. 78. 79. 80. 81.

Infanger, Hans Kaspar Infanger, Hans Melcher Infanger, Joachim Infanger, Kaspar Infanger, Remigi Keller, Jakob Kuster, Andres

82. Kuster, Andres Sepp 83. 84. 85. 86. 87.

Kuster, Anton Maurus Kuster, Athanas Kuster, Balzer Kuster, Benedikt Maria Kuster, Flori Bernhard

88. Kuster, Franz Benedikt 89. Kuster, Geni Anton Anselm 90. Kuster, Hans 91. Kuster, Hans Anton 92. Kuster, Hans Anton Ignaz 93. Kuster, Hans Baschi Flori 94. 95. 96. 97.

Kuster, Hans Franz Kuster, Hans Franz Berchtold Kuster, Hans Geni Kuster, Hans Ignaz Adelhelm

98. Kuster, Hans Jörg 99. Kuster, Hans Jörg 100. Kuster, Hans Kaspar 101. Kuster, Hans Melcher 102. Kuster, Hans Michel 103. Kuster, Hans Sepp Geni 104. Kuster, Hans Sepp Markus

529

Anhang: Soldatenverzeichnis Nr Name

StB Belegstellen

105. Kuster, Ignaz Geni Franz Xaver

160 ETP 17.338, 18.74, 18.130, 18.148, 18.187–189, 19.141–142, 20.130–131 27 ETP 17.118, 17.564, 20.126 113 ETP 9.426–429, 13.178–183, 13.303–304, 13.427–428, 14.174– 175; TfR 22.01.1765 73 StR 10.08.1745, StR 23.12.1724; StR 12.09.1752 103 CFD Brief J.F.A. Achermann, 16.01.1746 30 ETP 13.51, 15.295–297, 17.103–104, 17.228–230, 17.297, 17.647–650 26 ETP 14.345–348, 14.482–486, 15.121, 16.99–107, 16.471–473, 16.599–600, 17.79–80, 17.643–644, 18.156–157 25 StR 22.02.1783; ETP 12.229–230, 16.140–142 20 StR 1691; ETP 2b.448–449, 2b.251, 2b.459–460, 2b.603, 2b.642, 2b.705, 4.60–61, 4.104–105, 4.151–153, 4.244–245, 4.283–284, 4.396–398, 5.122–123, 5.294–297, 5.299–300 27 StR 06.07.1781, ETP 17.112–113 144 StB Kuster 148, StR 07.04.1841 104 CFD Brief J.F.A. Achermann, 16.01.1746; ETP 12.284, 13.353, 15.144, 15.321–322, 15.360–362, 17.439–440, 17.498, 18.251– 254, 18.357–359, 18.369–370, 20.164–165 71 StR 1707 (eingetragen 1708); ETP 4.307 32 StR 08.09.1812 29 StB Kuster 37, 59; ETP 13.340–341, 17.573–576, 17.597–598 11 StR 23.04.1750, 25.05.1809; CFD Kapitulation, 21.12.1750; ETP 13.186 71 StB Kuster 71; ETP 4.277–278 18 VkB 25.01.1693; StB Kuster 18 113 StR 14.03.1784, 26.06.1784; ETP 17.112–115, 17.117–118, 17.227–230, 17.280, 17.286–288 114 TfR 05.12.1779; StB Kuster 114; ETP 20.179 37 StB Kuster 59; StR 21.01.1845 146 StR 21.10.1813 29 StR 08.01.1782; VkB 14.04.1782; ETP 12.245, 13.71–72, 15.444– 447, 17.286–287, 17.290–291, 17.310 9 StR 03.10.1745; AH 87.49, 88.117, 90.47, 96.11, 101.37, 106.70, 121.82, 124.111, 125.14, 128.162, 129.57 27 ETP 20.126 87 StR 07.04.1795; ETP 17.118 – StR 15.11.1682; ETP 3.227–228 – ETP 6.207 – ETP 2a.92–92b, 2b.73 8 StR 1688; VkB 26.12.1688; ETP 2b.590–591, 7.475–480, 7.571–575 – VkB 18.04.1627 VkB 27.03.1689 43 ETP 10b.16–17, 11.663, 17.585–591 6 StR 1692; TfR 13.09.1689; ETP 4.353; AH 9.186A 1 StR 1678 (eingetragen 1679); ETP 2b.590–591 – VkB 27.03.1689 8 VkB 02.05.1734; ETP 8.259–262, 10.157–159 8 StR 1725; VkB 02.05.1734; ETP 8.259–262 8 VkB 02.05.1734; ETP 8.259–262, 10.157–159

106. Kuster, Jakob Sepp Benedikt 107. Kuster, Joachim Geni 108. Kuster, Joachim Sepp 109. Kuster, Karl Dominik Leonz 110. Kuster, Kaspar Geni 111. Kuster, Maurus Adam 112. Kuster, Maurus Sepp Hans 113. Kuster, Melcher 114. Kuster, Melcher Sepp 115. Kuster, Melcher Sepp 116. Kuster, Michel Adelhelm 117. 118. 119. 120.

Kuster, Niklaus Kuster, Niklaus Sepp Kuster, Niklaus Wolfgang Kuster, Plazi Sepp

121. Kuster, Sepp 122. Kuster, Sepp Andres 123. Kuster, Sepp Anton Dominik 124. 125. 126. 127.

Kuster, Sepp Anton Niklaus Kuster, Sepp Bernhard Leodegar Kuster, Sepp Flori Maurus Geni Kuster, Sepp Ignaz

128. Kuster, Sepp Joachim 129. 130. 131. 132. 133. 134.

Kuster, Sepp Leodegar Ignaz Kuster, Sepp Maurus Langenstein, Oswald Leuenberger, Sepp Müller, Benedikt Müller, Geni

135. 136. 137. 138. 139. 140. 141. 142. 143.

Müller, Hans Müller, Hans Balzer Müller, Hans Justus Simon Müller, Hans Melcher Geni Müller, Kaspar Müller, Melcher Müller, Niklaus Remigi Müller, Oswald Müller, Sepp

530 Nr Name 144. 145. 146. 147. 148. 149. 150. 151.

Müller, Sepp Müller, Ueli Reimann, Niklaus Scheub, Hans Schleiss, Balzer Schleiss, Franz Schleiss, Hans Geni Schleiss, Hans Kaspar

152. Schleiss, Hans Melcher

153. Schleiss, Lenz 154. Schleiss, Maurus Geni Bartli 155. Stoller, Jakob

Anhang: Soldatenverzeichnis StB Belegstellen 8 – – – 4 6 8 6 6

6 14 –

156. Süss, Gilg 157. Töngi, Anton 158. Töngi, Wolfgang Anton

– 81 65

159. 160. 161. 162. 163. 164. 165. 166.

– 21 81 34 42 70 7 83

Töngi, Balzer Töngi, Franz Anton Töngi, Hans Töngi, Hans Töngi, Hans Bernhard Töngi, Hans Franz Sepp Töngi, Hans Geni Töngi, Hans Geni

167. Töngi, Hans Geni

49

168. Töngi, Hans Geni Justus

84

169. Töngi, Hans Heini 170. Töngi, Hans Sepp Geni

7 84

171. Töngi, Ignaz Sepp 172. Töngi, Jakob 173. Töngi, Joachim

70 46 55

174. Töngi, Joachim Sepp Bernhard Maria

13

175. 176. 177. 178. 179.

– 38 21 – 4

Töngi, Melcher Töngi, Niklaus Töngi, Sepp Töngi, Sepp Anton Vogel, Hans Geni

StR 1703 StR 03.03.1629; VkB 01.04.1629, 13.05.1629 CFD Brief N. Reimann, 21.05.1706 ETP 1.234–235, 1.242–243 CFD Brief J.L. Lussi, 04.07.1664; StB Schleiss 6 ETP 3.238, 3.245 StR 1688; VkB 26.12.1688; ETP 4.166–167 CFD Brief J.L. Lussi, 04.07.1664; ETP 3.230–231, 3.244–245, 4.220–222, 4.229–233, 4.276–277 StR 18.03.1732; ETP 5.243–247, 9.423–425, 10.2; AH 63.131, 76.97, 82.57, 82.89, 83.21, 86.32–34, 86.53, 86.102, 86.183, 87.49, 90.47, 96.11, 103.82, 105.115, 119.35, 121.82, 121.83, 124.111, 125.14, 126.188, 126.190, 127.115, 128.162–163, 128.244, 129.57, 129.59, 129.70, 134.135, 134.173, 134.179 StR 1697; ETP 5.243–247 CFD Brief M.B. Schleiss, 06.07.1795; ETP 13.384–385, 17.286– 287, 18.216–217, 18.217–218 VkB 10.10.1627; ETP 1.115–117, 1.142–143, 1.250–251, 1.253– 256, 1.266–268, 2a.9b, 2a.41–41b CFD J.L. Lussi, 04.07.1664; ETP 2b.367–369, 2b.472, 2b.667 StR 16.02.1740; ETP 2b.298–300 StR 04.09.1780; VkB 05.11.1780, 19.11.1780; ETP 14.419, 17.228–230, 17.297 VkB 18.07.1627 StB Töngi 21; StR 17.11.1875 (Majorsgrad) VkB 09.08.1676; ETP 2b.707–708 TfR 09.04.1645; StR 15.05.1698; ETP 4.55 (?) TfR 19.07.1667; ETP 4.241–243, 4.318–320, 4.349–350 StR 15.11.1806 (eingetragen 1811) StR 1688, 15.07.1717; VkB 26.12.1688; ETP 4.34a–34d VkB 15.02.1739; Klosterrechnungsbuch (Einnahmen) 08.12.1737; Urbar 3.711, 3.955; Brief H.G. Töngi, 06.12.1723 (eingeklebt in ETP 8); StB Töngi 83; ETP 8.287–289, 8.362–363, 8.417–418 CFD Kapitulation, 08.08.1736; ETP 6.318a–319, 10b.54–55, 11.402, 11.522, 12.149–152, 13.437 StR 1778 (eingetragen 1782); CFD Kapitulation, Januar 1734; ETP 10b.14–16, 13.256, 17.24, 17.114, 18.331 StR 1698 CFD Kapitulationen, 06.04.1734, 03.04.1740; ETP 6.220–221, 8.287–289, 10.61–66, 11.39, 13.191–192, 15.153–155, 17.24, 17.254–256, 17.492–493 StR 1821 StB Töngi 46; StR 17.11.1726, April 1747 StR 17.11.1726; CFD J.F.A. Achermann, 16.01.1746, Kapitulation, 26.02.1745; ETP 13.346–347, 15.25, 17.271–272, 18.229–230 StR 01.11.1816; ETP 15.394, 15.408–409, 15.430–431, 15.432– 434, 17.579–581, 17.120–127, 17.254–256, 17.273, 17.300, 17.592–594 ETP 3.227–228 StR 1678; ETP 2b.597, 3.192, 4.34a–34d StR 09.02.1839 ETP 10b.67–68 StR 31.05.1694

531

Anhang: Soldatenverzeichnis Nr Name

StB Belegstellen

180. 181. 182. 183. 184.

Vogel, Hans Jakbo Vogel, Hans Plazi Vogel, Jodok Wilhelm Vogel, Sepp Vogel, Sepp Anton

4 5 – 5 –

185. 186. 187. 188. 189. 190. 191. 192. 193. 194.

von Flüe, Niklaus Waser, Andres Waser, Andres Waser, Andres Waser, Andres Geni Waser, Balzer Waser, Balzer Waser, Balzer Waser, Franz Anton Waser, Franz Remigi

– – 2 92 19 – – – 93 134

195. Waser, Hans 196. Waser, Hans 197. Waser, Hans Geni

– – 96

198. Waser, Hans Geni

63

199. Waser, Hans Heini 200. Waser, Hans Jakob

125 33

201. Waser, Hans Jakob 202. Waser, Hans Jakob Geni

61 101

203. Waser, Hans Jörg

6

204. 205. 206. 207. 208. 209. 210.

Waser, Hans Markus Waser, Hans Melcher Sepp Waser, Hans Niklaus Waser, Hans Plazi Waser, Hans Remigi Waser, Hans Sepp Waser, Hans Sepp Geni

151 96 129 3 63 111 –

211. 212. 213. 214.

Waser, Ignaz Anton Dominik Waser, Jakob Waser, Joachim Leodegar Waser, Karl Dominik

41 – 102 21

215. Waser, Kaspar – 216. Waser, Leodegar Joachim 101 217. Waser, Leodegar Maurus Sepp Konrad 106

StR 1695 StR 1695; ETP 2b.608 VkB 25.11.1691 TfR 08.03.1660 Klosterrechnungsbuch (Ausgaben) 31.10.1735; CFD Kapitulation, Januar 1734, Mannschaftsliste, 30.11.1742; ETP 10b.14–16 VkB 26.09.1632; ETP 2a.7 (?) ETP 1.190–191 StB Waser 2; StR 05.09.1675; ETP 2b.659, 2b.696, 3.224 StR 1668 StR 17.02.1709 StR 1693 StR 1694; VkB 19.12.1694 StR 1674 ETP 6.288–291 CFD Kapitulation, 26.11.1742; ETP 8.12, 12.153–156, 12.377, 13.221–222, 14.63, 14.349–354, 14.500–506, 15.212–213, 15.489–491 StR 1688; ETP 4.55 (?) StR 1690 StR 24.05.1744, 12.07.1758; VkB 24.09.1758; CFD Kapitulation, Januar 1734; Klosterrechnungsbuch (Ausgaben) 26.01.1738; ETP 10b.14–16, 11.445–446 StR 1688; VkB 01.08.1688; ETP 2b.645, 2b.664, 3.13, 3.174, 3.190, 3.193–194, 3.241–242, 4.56, 4.169–170 ETP 4.308–309 StB Waser 33; ETP 4.216–217, 4.220–223, 7.368–382, 12.398– 399 StR 1695 StR 15.03.1804; CFD Brief M.B. Schleiss, 06.07.1795; ETP 13.228–230, 14.237–238, 14.258, 15.224–226, 18.216–217 StR 1743; 15.11.1805; VkB 20.10.1743; CFD Mannschaftsliste, 30.11.1742; ETP 14.381–383 ETP 19.147–150, 19.205–208, 19.218–219 StR 29.12.1806; ETP 13.187–189, 15.50–54, 16.213–221 StR 03.02.1787; ETP 8.269–274, 12.245–254, 13.319, 13.267 VkB 07.12.1732; ETP 5.120–122, 5.250–257, 12.16 StR 1696 StB Waser 118 CFD Kapitulation, Januar 1734, Kompaniebuchauszug, 1734– 1735; Klosterrechnungsbuch (Ausgaben) 31.10.1735; ETP 10b.14–16 ETP 13.441, 15.59, 16.389–391, 17.116–117 CFD Abschied, 01.06.1734 StR 25.05.1794; ETP 18.349–351 StR 1717; ETP 5.198–218, 5.250–257, 5.275–276, 5.279–282, 7.368–382; AH 82.89, 87.49, 88.117, 90.47, 96.11, 106.70, 124.111, 125.14, 128.162, 129.57 StR 1635; VkB 21.10.1635; ETP 2b.177–178 StR 16.05.1811; CFD Brief M.B. Schleiss, 06.07.1795; ETP 18.373 StR 26.06.1820; ETP 17.214–215, 17.392–394, 17.394–395, 17.600–601, 17.620–621

532 Nr Name 218. Waser, Melcher Sepp 219. Waser, Niklaus Geni

Anhang: Soldatenverzeichnis StB Belegstellen

47 StR 1830 (eingetragen 1831) 38 StR 21.11.1802; StB Waser 38; Urbar 3.1000; CSz Briefe Regierung, 02.01.1790, 23.01.1790; ETP 12.398–399, 13.59, 13.293, 18.254–256 220. Waser, Plazi 32 ETP 4.216–217, 4.220–223, 7.368–382, 12.398–399; AH 97.186A 221. Waser, Sepp Anton 28 StB Waser 28; ETP 14.348–349, 14.419, 14.529–531, 17.228– 230, 17.272, 17.289–290, 17.297, 17.349, 17.390, 20.172–173 222. Waser, Sepp Benedikt Leodegar Ignaz 153 StR 1813; ETP 17.234–238 223. Waser, Sepp Geni Anton 21 StR 20.02.1790; Urbar 3.1050; StB Waser 25 224. Zberg, Jakob – VkB 08.02.1626; ETP 2a.46b–47, 3.57, 3.131 225. Zniderist, Apollinari Sepp 49 StR 1688; VkB 26.12.1688 226. Zniderist, Balzer – StR 1629; VkB 27.05.1629 227. Zniderist, Berchtold Sepp Maria 45 ETP 18.99, 18.341–342 228. Zniderist, Hans Dominik 27 StR 04.11.1687; VkB 30.03.1692; ETP 3.192–193, 3.225, 4.155 229. Zniderist, Hans Ignaz 27 VkB 30.03.1692 230. Zniderist, Hans Jakob 20 StR 1688; VkB 26.12.1688; ETP 2b.704, 3.142, 4.356–357 231. Zniderist, Hans Leonz 27 VkB 30.03.1692 232. Zniderist, Hans Maurus Konrad 15 ETP 13.102–103, 13.277, 14.494–497, 15.303–308, 15.413a–416, 16.478–482, 18.18–19, 18.334, 18.355–357 233. Zniderist, Hans Melcher 41 StR 1705, ETP 6.337–338, 10.2 234. Zniderist, Hans Melcher 12 StR 1694; ETP 3.155–156, 3.162, 4.111, 4.155, 4.166–167, 4.356–357 235. Zniderist, Hans Niklaus 34 ETP 9.468–469, 11.193–194, 11.374–375, 13.240–241, 13.294, 13.353–355, 14.182–183, 14.398–399, 14.497–498, 15.391–392, 17.112–115 236. Zniderist, Hans Paul 34 StR 03.07.1772 237. Zniderist, Joachim Sepp 33 StR 30.08.1778 238. Zniderist, Joachim Stephan 13 StR 1760; VkB 18.05.1760; CFD Mannschaftsliste, 30.11.1742; ETP 12.221–223, 13.178–183, 13.271–272, 14.124–125, 14.432– 435, 14.529–531 239. Zniderist, Karl Anton 44 StR 1759 (eingetragen 1761); ETP 10b.37–43, 16.204–209 240. Zniderist, Ludi – StB Zniderist 12 (Grossvater); ETP 15.181–182 241. Zniderist, Peter – ETP 1.190–191 242. Zniderist, Sepp 21 StR 1680; VkB 02.03.1681 243. Zniderist, Sepp Geni 30 Klosterrechnungsbuch (Ausgaben) 08.03.1737; ETP 4.509–510, 10b.16–17 244. Zniderist, Sepp Geni 32 StR 30.10.1771, 17.12.1772, 27.07.1776, 11.06.1816; Klosterrechnungsbuch (Ausgaben) 08.03.1737; ETP 8.89–90, 8.113, 10b.10– 11, 12.116, 13.73–75, 14.518–522, 15.67–68, 15.285–286 245. Zniderist, Sepp Geni Leodegar Xaver 45 CFD Brief M.B. Schleiss, 06.07.1795; ETP 14.551–556, 16.204– 209

7 Literaturverzeichnis

7.1 Quellen Stiftsarchiv Engelberg Gebundenes Schriftgut (Codices) Alphons Sepp Flori Feierabend: Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten. Codex 325, 1731. Engelberger Talprotokolle. Bände 1–20, 1580–1798. In der Transkription Georg Dufners (1967–1971). Familienstammbücher der Engelberger Geschlechter. Bände 1–34. Verfasser und Entstehungszeit un­gesichert. Heinrich Murer: Klosterbeschreibung. Vor 1638. In der Transkription Ignaz Odermatts (1862–1883). Ildephons Straumeyer: Engelberger Gebräuche. 1729. In der Transkription Plazidus Tanners (1856), Codex 203. Ildephons Straumeyer: Läut- und Zeremonienbuch. Codex 205, 1730. Magnus Waser: Talbuch. 1790. In der Transkription Gallus Büchels (um 1910). Pfarrbücher der Pfarrei Engelberg. Codices 341–345, 1605–1849. Plazidus Knüttel: Annalen. Codex 197, 1600–1611. Rationale. Codex 43/33, 1729–1745. Urbare der Herrschaft Engelberg. Codices 26–28, 1550–1792. Verkündbücher der Pfarrei Engelberg. Bände 1–17, 1605–1809 (1695–1721 zerstört).

Aktensammlungen (Cistae) Abteiakten: Benedikt Keller (1619–1630). Abteiakten: Emanuel Crivelli (1730–1749). Bern. Engelberg III. Luzern: Privatpersonen J–Z. Militaria: Fremde Dienste. Reliquien – Authentica: Heiliger Eugen. Schwyz: Amtlich. Uri: Privatpersonen A–Z.

Stiftsbibliothek Engelberg Berchtold Villiger: Predigten. Codex 813, 1793–1797. Catholisch Gesangbüchlein in fünff underschidliche Theil. Konstanz, 1600. Catholisch Gesangbüchlein bey dem Catechismo. Konstanz, 1613.

534

Literaturverzeichnis

Gemeindearchiv Engelberg Steuerbüchlein pro Anno 1769. Steuerrodel von 1799 (Mühlibrunnen und Niederberg).

Zentralbibliothek Zürich Nachlass Rudolf Schinz, Ms. Car. XV 155. Nachlass Rudolf Schinz, Ms. Car. XV 163. Nachlass Rudolf Schinz, Ms. Car. XV 164.

Kunstmuseum Basel Sammlung Samuel Birmann, Bi 303. Sammlung Samuel Birmann, Bi 321.

7.2 Werkausgaben Clairvaux, Bernhard von: Sämtliche Werke lateinisch/deutsch. Innsbruck, 1990–1999. Cysat, Renward: Collectanea chronica und denkwürdige Sachen pro chronica Lucernensi et Helvetiae. Luzern, 1969. Gotthelf, Jeremias: Volks-Gotthelf: die Hauptwerke in 18 Bänden. Zürich, 1922ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke. Hamburg, 1968ff. Herder, Johann Gottfried: Herders sämtliche Werke. Berlin, 1877–1913. Luther, Martin: D. Martin Luthers Werke. Weimar, 1883ff. Kanisius, Peter: Societatis Iesu selecti scriptores a patribus societatis eiusdem editi. Freiburg i.B., 1933–1955. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke. Berlin, 1957ff. Zwingli, Ulrich: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke. Berlin, 1905ff.

7.3 Hilfsmittel und Sammlungen Actensammlung zur Schweizerischen Reformationsgeschichte in den Jahren 1521–1532. Zürich, 1878–1884. Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede. Varia loca, 1839–1882. Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des historischen Vereins der fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug. Varia loca, 1844ff. Deutsches Wörterbuch. Begründet von Jakob und Wilhelm Grimm. Leipzig, 1854–1960. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin, 1977ff. Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz. Neuenburg, 1921–1934. Historisches Lexikon der Schweiz. Basel, 2002ff. Landbuch für den Kanton Unterwalden ob dem Wald. Sarnen, 1899–2000. Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum, Nova Series. Berlin, 1922ff.

Literatur

535

Nidwaldner Orts- und Flurnamen. Stans, 2003. Obwaldner Flurnamen (Beilage zum Jahresbericht der Kantonalen Lehranstalt Sarnen). Sarnen, 1938–1946. Obwaldner Mundart-Wörterbuch. Kriens, 2000. Quellen zur Schweizer Geschichte. Basel, 1877–1906. Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Aarau, 1933–1975. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Berlin, 1973–2008. Regesten und Register zu den Acta Helvetica, Gallica, Germanica, Hispanica, Sabaudica etc. necnon genealogica stemmatis Zur-Laubiani. Aarau, 1976ff. Schweizerisches Idiotikon der schweizerdeutschen Sprache. Frauenfeld, 1881ff. Urner Mundart-Wörterbuch. Altdorf, 1982. Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart, 2005.

7.4 Literatur Achermann, H. (1979): Die Katakombenheiligen und ihre Translationen in der schweizerischen Quart des Bistums Konstanz. Stans, 1979. Achermann, H. u.a. (2009): Kloster- und Pfarrkirche Engelberg. Stans, 2009. Andenmatt, B. / Tremp, K. U. (1992): De l’hérésie à la sorcellerie: l’inquisiteur Ulric de Torrenté OP (vers 1420–1445) et l’affermissement de l’inquisition en Suisse romande, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 86, 1992, 69–119. Andermann, K. (Hg.) (2004): Die geistlichen Staaten am Ende des alten Reiches. Versuch einer Bilanz. Epfendorf, 2004. Bachmann-Geiser, B. (1981): Die Volksinstrumente der Schweiz. Leipzig, 1981. Bachmann-Geiser, B. (2006): Der Betruf in den Schweizer Alpen, in: Alpine Kulturen 11, 2006, 27–36. Bader, G. (1945): Die Hexenprozesse in der Schweiz. Zürich, 1945. Bangerter, O. (2003): La pensée militaire de Zwingli. Bern, 2003. Baud, M. (1994): Families and Migration: Towards an Historical Analysis of Family Networks, in: Economic and Social History in the Netherlands 6, 1994, 83–107. Baumann, W. (1954): Der Güterverkehr über den St. Gotthardpass vor Eröffnung der Gotthardbahn unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im frühen 19. Jahrhundert. Zürich, 1954. Beck, H. (1973): Hausformen in Engelberg. Engelberg, 1973. Beck, R. (1993): Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne. München, 1993. Behringer, W. (2000): Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung. München, 2000. Benedikt XVI. [Ratzinger, Joseph] (2007): Der Geist der Liturgie. Eine Einführung. Freiburg, 2007 [2000]. Berchtold, E. (1950): Die Bildstöckli und Wegheiligtümer von Engelberg. Engelberg (Typoskript), 1950. Berger, L. / Luckmann, Th. (2007): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a.M., 2007 [1966]. Bergier, J.-F. (1968): Problèmes de l’histoire économique de la Suisse. Population, vie rurale, echanges et trafics. Bern, 1968. Bertaux, D. / Bertaux-Wiame, I. (1988): Le patrimoine et sa lignée: transmissions et mobilité sociale sur cinq générations, in: Récits de vie 4, 1988, 8–26.

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