Hans Joachim Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge. Band 3 Theologiegeschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts: »Väter und Söhne« 9783641247676

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Hans Joachim Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge. Band 3 Theologiegeschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts: »Väter und Söhne«
 9783641247676

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert: Väter und Söhne. Vorlesung, Göttingen 1948/1949
Einführung
Kapitel 1: Die Religion
Kapitel 2: Die Ethik
Kapitel 3: Das Dogma
Anhang: Schleiermacher als Ethiker
Einführung in die gegenwärtige Lage der systematischen Theologie. Vorlesung, Göttingen 1949/1950
Einleitung
Kapitel 1: Der »lebendige Christus« und die Frage des Verhältnisses von Glaube und Geschichte
Kapitel 2: Die Religionssoziologie und das Ende des Neuprotestantismus
Kapitel 3: Die Krise der Wissenschaft und das »Weltbild der Zukunft«
Kapitel 4: Ende und Neuanfang im Zuge der Leben-Jesu-Forschung
Kapitel 5: Die Christologie und die Frage der Humanität
Kapitel 6: Die Wiederherstellung des Gegenübers von Gott und Mensch im Wort
Anhang: Ausgewählte Texte Hans Joachim Iwands zu Themen der Vorlesungen
A. Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert Geistige Voraussetzungen
B. Geistige Grundlagen des 19. Jahrhunderts
C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts
Gerard C. den Hertog: Nachwort und Editionsbericht
Nachwort
Editionsbericht
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Register

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Hans Joachim Iwand Nachgelassene Werke. Neue Folge Band 3

Hans Joachim Iwand

Nachgelassene Werke Neue Folge Herausgegeben von der Hans-Iwand-Stiftung

Band 3

Gütersloher Verlagshaus

Hans Joachim Iwand

Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts »Väter und Söhne« Bearbeitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gerard C. den Hertog

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2001 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlaggestaltung: Scanlight, Marienfeld Satz: SatzWeise, Föhren ISBN 978-3-641-24767-6 www.gtvh.de

Vorwort

Im Sommersemester 1948 und im Wintersemester 1949/1950 las Hans Joachim Iwand zunåchst zur »Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert«. Diesen Vorlesungen folgte, wiederum zwei Semester lang, eine »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage des systematischen Theologie«. Auf dem Titelblatt der ersten Vorlesung hat Iwand nachtråglich noch den Untertitel »Våter und Sæhne« notiert; vielleicht zeigt gerade dieser handschriftliche Vermerk am klarsten, was er mit diesem Kolleg beabsichtigte, nåmlich es »wie eine Umkehr« zu lesen. Ende der fçnfziger Jahre plante Iwand eine neuerliche Lesung dieses Kollegs, und wahrscheinlich sind die hier im Anhang aufgenommene Texte in diesem Zusammenhang entstanden. Iwands frçher Tod hat die Ausfçhrung dieses Vorhabens verhindert. Aus den Ansåtzen ist aber klar, daû auch um 1959 die Frage der Umkehr fçr ihn noch immer, wenn auch mit neuen Akzenten, deshalb aber nicht weniger dringlich im Mittelpunkt stand. Damit soll keineswegs behauptet werden, Iwand habe im Kollegsaal »gepredigt« statt Ergebnisse ernsthafter wissenschaftlichen Forschung darzubieten; es ist damit nur angedeutet wie seine wissenschaftliche Arbeit fçr ihn einen Bezug zu seiner eigenen Zeit hatte, und auf welchem Weg wir uns heute seinen Texten nåhern sollten. Die hier abgedruckten Vorlesungsmanuskripte hatten, als sie mir im Herbst 1978 von Helmut Gollwitzer in Berlin anvertraut wurden, zusammen mit anderen Vorlesungsmanuskripten seit vielen Jahren in Gollwitzers Keller gelegen. Nach Iwands Tod hatten geistverwandte Theologen seinen literarischen Nachlaû im Hinblick auf eine eventuelle Veræffentlichung in der Reihe der Nachgelassenen Werke unter sich aufgeteilt. Dafçr wurden diese Vorlesungsmanuskripte aber ± aus unbekannten Grçnden ± nicht ausgewåhlt und so blieben sie lange Zeit vergessen. Die (Wieder-)Entdekkung dieser Texte war fçr mich deshalb so faszinierend, weil sie eine Kraft und einen Glanz haben, die auch heute noch Impulse zum Verståndnis der (Theologie-)Geschichte zu geben vermægen und das eigene TheologieTreiben beflçgeln. Die Editionsarbeit hat viel Zeit beansprucht. Das Buch erscheint deshalb spåter als ursprçnglich geplant. Vor allem die Verifizierung der Zitate gestaltete sich schwieriger als ich in meinem anfånglichen Optimismus vermutet hatte. Um so erfreulicher war es, daû die Theologische Universiteit

6

Vorwort

Kampen es mir ermæglichte, die erforderliche Zeit in dieses Projekt zu investieren. Mit wieviel Erleichterung ich das Buch jetzt auch in die Hånde der Leser lege, es war meistens eine besondere Freude, daran zu arbeiten. Erstens wegen der Texte selbst, daneben aber auch dank der ausgezeichneten und inspirierenden Zusammenarbeit im Kreis derer, die sich im Rahmen des alljåhrlich im Haus der helfenden Hånde in Beienrode stattfindenden Iwand-Symposiums mit seinem Erbe beschåftigen. Die Art und Weise, wie spontan Hilfsbereitschaft bekundet wurde, besagt etwas çber die Atmosphåre in diesem Kreis ± und doch wohl auch çber den Geist Hans Joachim Iwands, der uns verbindet. Es ist mir zunehmend klarer geworden, daû eine solche Arbeit fçr jemanden, fçr den die Deutsche Sprache nicht seine Muttersprache ist, ohne derartige Hilfe einfach nicht zu leisten ist. Das Buch ist darum in mancher Hinsicht eine Koproduktion, wenngleich die Endverantwortung ohne Einschrånkung beim Bearbeiter liegt. Viel Dank gebçhrt Herrn Prof. Dr. D. Schellong, der nicht nur beim Belegen der Zitate Hilfe geleistet hat, sondern noch dazu das ganze Manuskript durchgesehen hat, um Sprach- und Tippfehler zu korrigieren, sowie Herrn Prof. Dr. E. Bærsch, der zahlreiche Bibliotheken besucht hat, um eine vielzahl von Belegstellen zu ermitteln. Beim Nachweis der Zitate haben sich auch Pfr. E. Lempp, Pfr. D. J. Seim, Prof. Dr. E. Thaidigsmann und Pfr. Dr. A. Wiebel in dankenswerter Weise verdient gemacht. In diesem Zusammenhang danke ich auch den Mitarbeitern des Instituts fçr Spåtmittelalter und Reformation an der Universitåt Tçbingen sowie Prof. Dr. Chr. Frey, die einige Luther- bzw. Hegel-Zitate haben verifizieren kænnen. Herr P.-P. Sånger, der sowohl mit dem Schrifttum Iwands vertraut ist, als auch das Archiv eingerichtet hat und çber profunde Iwand-Kenntnisse verfçgt, hat in groûartiger Weise geholfen, das ganze Manuskript druckfertig zu machen. Er hat auch die Korrekturbogen gelesen. Zum Schluû danke ich meinem Bruder, Dr. C.G. den Hertog, der mir bei der »Verdeutschung« der von mir verfaûten Textteile ± den Anmerkungen, dem »Nachwort« sowie dem »Editorischen Nachwort« ± behilflich war. Leiden, den 21. Mårz 2001

Gerard C. den Hertog

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert: Våter und Sæhne. Vorlesung, Gættingen 1948/1949 . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einfçhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Das neunzehnte Jahrhundert ± die Risse im Gebåude . . . . . . . 1.1 Das Problem der Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert . 1.2 Umkehr statt Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Annåherungen an das neunzehnte Jahrhundert . . . . . . . . . . 2.1 Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert 2.2 Paul Hazard: La crise de la conscience europenne. 1680-1715 2.3 Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Geheimnis der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Primat der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 24 28 28 40 50 59 60 63 65

Kapitel 1: Die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . 67 1.1 Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1.2 Reden çber die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1.3 Glaubenslehre auf der Basis der Erfahrung . . . . . . . . . . 83 1.4 Schleiermacher als Ethiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Richard Rothe und das ethische Problem . . . . . . . . . . . . . 99 2.1 Richard Rothe und August Friedrich Christian Vilmar . . . . 99 2.2 Kirchenzucht und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2.3 Ethik der Erlæsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.4 Richard Rothe und die Ethik als theologische Grunddisziplin 110

8

Inhalt

Kapitel 2: Die Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Hans Lassen Martensen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Hans Lassen Martensen und Sùren Kierkegaard . . . . . . 1.2 Martensen als Ethiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Kultursynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Gesetz und Sçnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Der Mensch zwischen Gott und Teufel? . . . . . . . . . . . 2. Adolf von Harleû . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Adolf von Harleû und die bayrische Erweckungsbewegung 2.2 Kirche und Kirchentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ethik der Wiedergeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Fundament der Ethik: der Heilsbesitz . . . . . . . . . 3. Das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Noch einmal: Adolf von Harleû . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Martin Kåhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Moralstatistik: Alexander von Oettingen . . . . . . . . . . . . 4.1 Naturgesetz und Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Moralstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Freiheit und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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120 120 122 124 127 131 134 134 139 142 146 151 153 153 154 157 164 164 166 170 173

Kapitel 3: Das Dogma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . 1.1 Um die Einheit von Denken und Sein 1.2 Hegels Methode . . . . . . . . . . . 1.3 Hegel und die Theologie . . . . . . . 1.4 Sendung und Form . . . . . . . . . .

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176 176 182 187 191

Anhang: Schleiermacher als Ethiker . . . . . . . . . . . . . . . 201

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Inhalt

Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie. Vorlesung, Gættingen 1949/1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Die gegenwårtige Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Feld der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Begegnung mit der eigenen Vergangenheit . . . . . . . . . 1.3 Theologie der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was ist Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Von Gott reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 »Es predigt« ± Gotteswort und Menschenwort . . . . . . . 2.3 Dialektische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der andere Schçler Wilhelm Herrmanns: Rudolf Bultmann 2.5 Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? . . . . . . . . . . 3. Theologie ± das Thema der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Gegenstand der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Zusammenhang mit der jçngsten Vergangenheit . . . 3.3 Die aktuelle Aufgabe der systematischen Theologie . . . . 3.4 Grund und Bedeutung der Theologie . . . . . . . . . . . . 3.5 Theologie im Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Das Ziel der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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223 223 226 230 233 233 239 243 246 253 257 257 257 258 261 262 268

Kapitel 1: Der »lebendige Christus« und die Frage des Verhåltnisses von Glaube und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 272 1. Wilhelm Herrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Wilhelm Herrmann und Martin Kåhler . . . . 1.2 Das Woher des inneren Lebens des Menschen 1.3 Das innere Leben Jesu . . . . . . . . . . . . . 1.4 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Martin Kåhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Theologe und Christ . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Christentum und Systematik . . . . . . . . . 2.3 Kirche ± Politik und Kirchenpolitik . . . . . . 2.4 Hauptthemen der Theologie Kåhlers . . . . .

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272 272 273 278 282 283 283 286 290 293

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Inhalt

Kapitel 2: Die Religionssoziologie und das Ende des Neuprotestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 1. Ernst Troeltsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der letzte Vertreter des Neuprotestantismus . . . . . . 1.2 Troeltsch und die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 2. Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Protestantismus und der »Geist« des Kapitalismus . 2.2 Die Macht der Erotik als Erlæsung von der Rationalitåt 2.3 Religionssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Glaube und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . .

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299 299 306 323 323 326 329 333 335

Kapitel 3: Die Krise der Wissenschaft und das »Weltbild der Zukunft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 1. Karl Heim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft 1.2 Das Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Dogma und Weltbild . . . . . . . . . . . .

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350 350 354 369

Kapitel 4: Ende und Neuanfang im Zuge der Leben-Jesu-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 1. Albert Schweitzer und die Christologie . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Abschied vom »historischen Jesus« . . . . . . . . . . 1.2 Die Leben-Jesu-Forschung und die Christologie . . . . . 2. Rudolf Bultmann: Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Jesus: Urheber des urchristlichen Kerygmas . . . . . . . 2.2 Jesus: lebendig pråsent im Wort . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Geschichte und Eschatologie als hermeneutische Fragen 2.4 Die drei Kreise der Verkçndigung Jesu . . . . . . . . . .

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376 376 382 391 391 392 394 397

Kapitel 5: Die Christologie und die Frage der Humanitåt . . . 401 1. Emil Brunner . . . . . . . . . 1.1 Die neue Begegnung mit Luthers . . . . . . . . . . 1.2 Der Mittler . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . der reformatorischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . 401 Theologie . . . . . . 401 . . . . . . 410

11

Inhalt

2. Heinrich Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 2.1 Ecce homo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 2.2 Theologie und Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

Kapitel 6: Die Wiederherstellung des Gegençbers von Gott und Mensch im Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 1. Karl Barth als Dogmatiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Noch einmal: Die moderne Gefangenschaft im Bewuûtsein . 1.2 Die Felsplatte des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Lehre vom Heiligen Geist als der subjektiven Wirklichkeit der Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Proklamation der Offenbarung gegençber der Religion . . . 1.5 Aufbau und Bedeutung der »Kirchlichen Dogmatik« . . . . . 2. Erik Petersons Generalangriff auf die dialektische Theologie . . . 2.1 Die Offenbarung als das Jenseits aller Religion . . . . . . . . 2.2 Das Wort Gottes als Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der »Realcharakter der Offenbarung« als Absage an jede »Dialektische Theologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Karl Barths »Kirchliche Dogmatik« . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Dienstcharakter der dogmatischen Arbeit . . . . . . . . 3.2 Der Verkçndigungscharakter des Dogmas . . . . . . . . . . 3.3 Die apologetische Aufgabe der Dogmatik . . . . . . . . . . . 3.4 Der theologiegeschichtliche Horizont der Dogmatik . . . . . 3.5 Das innerste Thema von Barths Dogmatik: das »Christus allein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Der Weg nach vorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 427 429 431 434 435 436 436 439 440 444 444 445 446 448 450 451

Anhang: Ausgewåhlte Texte Hans Joachim Iwands zu Themen der Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 A. Theologie und Kirche im neunzehnten Jahrhundert. Geistige Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 1. 2. 3. 4. 5.

Die Nåhe zum 19. Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg . Die Nåhe zum 19. Jahrhundert nach dem ersten Weltkrieg . . Der Schnitt im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . Gestalten des 19. Jahrhunderts: Hegel, Marx und Kierkegaard Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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455 456 458 460 463

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Inhalt

B. Geistige Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts . . . . 465 1. Das 19. Jahrhundert und wir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 2. Nietzsche und das ausgehende 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 466

C. Geistige Voraussetzungen des neunzehnten Jahrhunderts . 473 1. Die Suche eines Zugangs zum 19. Jahrhundert . . . . 2. Das 19. Jahrhundert als Produkt der Freiheitskriege . 3. Das 19. Jahrhundert als protestantisches Jahrhundert 3.1 Der Anfang des Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 3.2 Die Mitte des Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Ausgang des Jahrhunderts . . . . . . . . . . 4. Das 19. Jahrhundert als sozialistisches Jahrhundert .

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473 476 479 479 480 481 483

Gerard C. den Hertog: Nachwort und Editionsbericht . . . . . 489 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 I. II. III. IV. V.

»Våter und Sæhne« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das 19. Jahrhundert ± die Vorlesung von 1948/1949 Das 20. Jahrhundert ± die Vorlesung von 1949/1950 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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490 494 497 513 532

Editionsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 I. Das Manuskript von 1948/1949: B II/12 . . . . . . . . . . . . . 537 II. Das Manuskript von 1949/1950: B II/13 . . . . . . . . . . . . . 540 III. Der Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542

Abkçrzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 1. Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 2. Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558

GESCHICHTE DER PROTESTANTISCHEN THEOLOGIE IM NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERT: VØTER UND SÚHNE Vorlesung, Gættingen 1948/1949

Einfçhrung

1. Das neunzehnte Jahrhundert ± die Risse im Gebåude 1.1 Das Problem der Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert Warum wir uns hier mit der Geschichte der Theologie des Protestantismus im neunzehnten Jahrhundert beschåftigen, ist zunåchst ganz schlicht gesagt: Es gilt, Versåumtes nachzuholen. Das neunzehnte Jahrhundert ist uns vielleicht zu nahe gewesen, um es so in uns aufzunehmen, wie es das verdient håtte. Und zwar denke ich an jene Generation, die eigentlich den Stab çber dies Jahrhundert brach, die Generation, die in der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert groû wurde und die dann ihre Jugend auf den Schlachtfeldern des ersten Krieges, der als Weltkrieg gefçhrt wurde, erlebte. Das neunzehnte Jahrhundert war im wesentlichen ein friedliches Jahrhundert ± darin genoû es die Frçchte der Aufklårung, der Toleranz und, nicht zum wenigsten, der Franzæsischen Revolution. Auch Bismarck, der deutsche Staatsmann, dem es gelang, die Ziele zu verwirklichen, die die Sehnsucht der Deutschen nach den Freiheitskriegen gewesen, und der nicht einfach unter dem Aspekt von »Blut und Eisen« betrachtet werden darf, wird in seinem Lebenswerk nur von hier aus ± von diesen Basen, die das achtzehnte Jahrhundert legte und das neunzehnte als Fundament benutzte ± zu verstehen sein. Der erste Weltkrieg brachte jene unerhærte geistige, ethische und gesellschaftliche Erschçtterung, die die Sicht auf das neunzehnte Jahrhundert, auf diese goldenen Tage der Bourgeoisie, fçr die aus dem Kriege heimkehrende, ins Tiefste getroffene Generation fast unmæglich machte. Alles, was da zum neunzehnten Jahrhundert gesagt und geschrieben wurde ± nicht nur die dialektische Theologie, sondern genauso das, was die Georgeschule machte, was der Sozialismus zu verwirklichen suchte, was die Kunst darstellte ± man denke nur an die Bedeutung, die der Expressionismus nach 1918 unter uns allen gewann ±, fållt unter das Wort: Våter und Sæhne. Nur in der kritischen Auseinandersetzung mit ihm schien çberhaupt eine Mæglichkeit der Diskussion zu bestehen. Das zwanzigste Jahrhundert in seinen besten Vertretern fçhlte sich den Auûenseitern, den Verfemten unter den geistigen Fçhrern der vorangegangenen Epoche verwandt: Auf

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Einfçhrung

einmal begriffen wir Dostojewski, auf einmal lasen wir Kierkegaard in Deutschland, wie sie ihn heute in England lesen und ± nach hundert Jahren ± verstehen! Auf einmal begriffen wir, was der Sozialismus als Gesellschaftskritik bedeutete; denn wir hatten diese Gesellschaft gesehen ± in jener Nacktheit, die ein moderner Krieg fçr das landlåufige Ethos und die bçrgerliche Sicherheit herbeifçhrt. Wir verstanden Nietzsche, wir verstanden, daû er von neuen Tafeln tråumte, 1 daû er hineingesehen hatte in jene Hæhle, »wo Ideale fabriziert werden« 2 . Bertrams Nietzschebuch 3 ± eines der besten Dokumente der Geschichtsauffassung der Georgeschule ± ist ein Dokument dieser Epoche, vielleicht neben Spengler geradezu das Dokument jener Jugend. »Die Geschichte jedes groûen menschlichen Bildes, das durch die Jahrhunderte gewandelt ist (¼), erzieht zu dieser perspektivischen Demut. Allem gehåuften Wissen, allen Methoden, aller Objektivitåt zum Trotz: wir wissen nur, was wir schauen, und wir schauen nur, was wir sind und weil wir es sind. In der einsamen Einmaligkeit jedes Bildes, in diesem Niewiederkommen jeder einzelnen Perspektive liegt beides: Resignation und Glçck. Ein groûer, das ist ­bedeutender Mensch¬, ist immer unvermeidlich unsere Schæpfung, wie wir die seine sind.« 4 Das ist Geschichte als Legende 5 verstanden; »Legende« von legere, intelligere (Lesen, Verstehen) her zu verstehen, Geschichte in jener philosophischen Einheit von res gestae (geschehene Sachen) und der historia rerum gestarum (Geschichte der geschehenen Sachen), die Hegel zum Thema der Philosophie erhoben hatte. 6 Geschichte realisiert sich in den »welthistorischen Individuen«, denn »die Weltgeschichte (¼) ist (¼) die Auslegung des Geistes in der Zeit,

1. 2.

3. 4. 5. 6.

F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Teil III, Von alten und neuen Tafeln 14, Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Bd. 7, 287 ff. (= Schlechta II, 443 ff.; KSA 4, 246 ff.). F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, 14, Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Bd. 8, 329 (Schlechta II, 791 f.; KSA 5, 281): »Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehn, wie man auf Erden Ideale fabriziert? Wer hat den Mut dazu? (¼) Wohlan! Hier ist der Blick offen in diese dunkle Werkståtte. (¼) Diese Werkståtte, wo man Ideale fabriziert ± mich dçnkt, sie stinkt vor lauter Lçgen.« E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 19181 / Bonn 19658 . Ebd. 13. Iwand schreibt statt »Demut des Sehens«: »perspektivischen Demut«, statt »gerechten Abwågung«: »Objektivitåt«, und statt »Verzicht«: »Resignation«. Titel des Einleitungskapitels von E. Bertram, Nietzsche (siehe Anm. 3). Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen çber die Philosophie der Geschichte, Såmtliche Werke. Jubilåumausgabe in 20 Bånden, hg. von H. Glockner, Bd. 11, Stuttgart 1928, 97 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 12, 83). Wenn nach dieser von Iwand benutzten Ausgabe zitiert wird, ist die Abkçrzung SW, mit dem Nummer des jeweiligen Bandes in arabischen Ziffern.

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wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt.« 7 Die Legende ist die Wiedergeburt der typischen Menschen, der Menschen, in denen der Geist einer bestimmten Epoche aufersteht ± und dieses Fortleben einer Individualitåt çber die Grenzschwelle des persænlichen Lebens ist Magie, ist ein religiæser Prozeû, der als solcher jeder mechanischen Einwirkung, jeder rationalen Definition entzogen ist. Geschichte lebt von diesen magischen Kråften, wie das bereits Jacob Burckhardt, der Freund und Zeitgenosse Nietzsches, gelehrt hat. 8 Das ist nicht mehr Ranke, der seine Individualitåt auslæschen wollte, um das Objektive zu erfassen: Die Geschichte als Mythos ± und Nietzsche, so verkçndet Bertram, ist eine »såkulare Mythologie«, die »Mythologie des letzten groûen Deutschen«. 9 Spengler fçhrt diese Betrachtung im Groûen durch, Spengler will, daû der moderne Mensch lernt, ja zu sagen zu seinem ± unvermeidlichen ± Schicksal. Als das Buch »Der Untergang des Abendlandes« eines bis dahin unbekannten Gymnasiallehrers und Privatgelehrten in Mçnchen im Dezember 1917 erscheint 10 , ist es das Thema der Diskussion, nicht nur in der unter dem Zusammenbruch nach einer adåquaten Deutung verlangenden deutschen Intelligenz, sondern auch in Moskau ± in den furchtbaren Jahren der Revolution ± finden Vortråge çber Spengler statt. Ohne Frage ein prophetisches Buch, das vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges fertiggestellt ist, aber jetzt die »von allen dunkel vorgefçhlte Philosophie der Zeit« (VII) dem Abendlande wie einen Spiegel vorhålt ± als Vorwort der Goethesche Spruch 11 , in dem Spinoza und seine amor Dei intellectualis (intellektuelle Liebe zu Gott) durchscheint. Der denkende 7. Ebd., 111 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 12, 96 f.). 8. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Ûber geschichtliches Studium, Herausgegeben von Jacob Oeri, Berlin / Stuttgart 1905, zitiert nach der Neuausgabe Mçnchen 1978, 152: »Schlieûlich beginnen wir zu ahnen, daû das Ganze der Persænlichkeit, die uns groû erscheint, çber Vælker und Jahrhunderte magisch auf uns nachwirkt, weit çber die Grenzen der bloûen Ûberlieferung hinaus.« 9. E. Bertram, a. a. O., 15. 10. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band. Gestalt und Wirklichkeit, Wien 1918 (am Schluû des Vorwortes notiert Spengler: »Mçnchen, im Dezember 1917«). Seitenangaben im Text. 11. Wenn im Unendlichen dasselbe Sich wiederholend ewig flieût, Das tausendfåltige Gewælbe Sich kråftig ineinander schlieût; Stræmt Lebenslust aus allen Dingen, Dem kleinsten wie dem græûten Stern, Und alles Drången, alles Ringen Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn. J. W. Goethe, Zahme Xenien VI, V. 1766-1773, Goethes Werke, Bd. I, 367.

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Mensch tritt neben diese, in ihren eigentlich irrationalen, schicksalhaften Ereignissen nicht mehr faûbare Wirklichkeit ± aber nicht, um sich in eine leere Østhetik zu verlieren, wie es im neunzehnten Jahrhundert geschah, sondern um »Geschichte vorauszubestimmen«. Denn auch fçr die Geschichte gelten die organischen Begriffe wie Leben und Tod, Jugend und Alter. »Liegen«, so fragt Spengler, »allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde?« (3) Fast mæchte man fragen, ob dahinter nicht ein biblischer Gedanke stehen kænnte. »Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Gçte ist wie eine Blume auf dem Felde« (Jes 40,6). Auch die Bibel weiû noch nicht von jener Scheidewand zwischen Natur und Geist, zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die zum Axiom im neunzehnten Jahrhundert wird. Die humanistische Idee, die das Wesen des Menschen in den Geist verlegt und ebenso die Wechselwirkung zwischen Leib und Geist wie auch die zwischen dem Milieu und der Persænlichkeit leugnet, ist damit getroffen. Denn Spengler lehrt ja, daû unsere Existenz sozusagen chronologisch vorherbestimmt ist und wir das Gesicht unserer Epoche tragen. Das Gesetz seiner Zeit begreifen heiût, die Realitåt der Existenz finden, heiût die Abstraktion heben, die Denken und Realitåt scheidet. »Und hier finde ich einen starken Einwand gegen alle Philosophen der jçngsten Vergangenheit. Was ihnen fehlt, ist der entscheidende Rang im wirklichen Leben. Keiner von ihnen hat in die hohe Politik, in die Entwicklung der modernen Technik, des Verkehrs, der Volkswirtschaft, in irgendeine Art von groûer Wirklichkeit auch nur mit einer Tat, einem måchtigen Gedanken entscheidend eingegriffen. Keiner zåhlt in der Mathematik, der Physik, der Staatwissenschaft im geringsten mit, wie es noch bei Kant der Fall war.« (59) Spengler bringt darin das eigentliche Leiden der geistigen Menschen seiner Epoche zum Ausdruck, der Mangel an geistiger Entscheidung. »Fçr die prachtvoll klaren, hochintellektuellen Formen eines Schnelldampfers, eines Stahlwerkes, einer Pråzisionsmaschine, die Subtilitåt und Eleganz gewisser chemischer und optischer Verfahren gebe ich den ganzen Stilplunder des heutigen Kunstgewerbes samt Malerei und Architektur hin. Ich ziehe einen ræmischen Aquådukt allen ræmischen Tempeln und Statuen vor.« (61) Und weiter: »Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Frage, ob eine echte Philosophie heute oder morgen çberhaupt mæglich ist. Im andern Fall wåre es besser, Pflanzer oder Ingenieur zu werden, irgend etwas Wahres und Wirkliches, statt verbrauchte Themen unter dem Vorwande eines ­neuerlichen Aufschwungs des philosophischen Denkens¬ wiederzukåuen (¼). Es ist wahrhaftig ein armseliger Lebensinhalt, die Ansichten çber den Begriff des Willens und den psychophysischen Parallelismus noch einmal und etwas anders zu formulieren,

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als es hundert Vorgånger getan haben.« (60 f.). In Spengler meldet sich etwas von der Verachtung gegen den Kathederphilosophen, den »Beamten« fçr Philosophie, dieses Schopenhauersche Verdikt çber die Philosophen seiner Zeit 12 , die von dem groûen Atem der Geschichte, der Aristoteles und Plato, aber auch Descartes und Leibniz, Pascal und Hegel und durch sie dann auch die Epoche bewegt, nichts mehr spçren. Das ist das zwanzigste Jahrhundert unter dem Eindruck und Gericht des ersten groûen Weltkrieges. Das neunzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der Våter, mutet diese Denkenden, diese mit dem Geist wieder nach Wirklichkeit verlangenden Menschen an wie die Stube der Eltern, in die der Sohn aus der wildbewegten Wahlstatt des Krieges heimkehrt und die ihm in ihrer Geborgenheit irgendwie irreal vorkommt. Er hat die Realitåt anders gesehen, er findet nicht mehr den Sinn, das Wozu der geistigen Existenz. Das, was dem neunzehnten Jahrhundert noch gesicherte Voraussetzung der Forschung schien ± daû die Welt einem geistigen Gesetz gehorcht, daû es absolute Werte gibt, daû es Tradition gibt, daû das Christentum Inbegriff der sittlichen Werte ist ±, das alles leuchtet ihm nicht mehr von selbst ein. Er hært ± wie Kierkegaard ±, daû die Sense der Nivellierung durch das Gras schneidet und daû wir alle »springen« mçssen, daû jeder drankommt, weil jedermann ein Glied der Masse ist, die »dran« kommt, er sieht neue schwere Fragen, die fçr das neunzehnte Jahrhundert scheinbar keine Fragen gewesen sind, weil es hier mit einem common sense rechnen konnte ± und er sieht niemand, der ihm hilft, diese Fragen zu beantworten. Er kommt sich mit diesen Fragen in der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts vor wie einer, der etwas Unpassendes sagt, etwas, das die anderen nur mit einem indignierten Schweigen beantworten ± er empfindet die ungeheue Einsamkeit, die er, der von solchen Fiebern Geschçttelte, mitten unter der gebildeten Gesellschaft seiner Zeit erlebt. Wer sieht nur recht? Wer leistet wirklich etwas? Der, der die Fundamente in Frage stellt, weil er die Risse gesehen hat, die das ganze Gebåude aufweist, in dem wir leben, oder der, welcher unbekçmmert um diese Fakten seine Arbeit weitermacht ± ohne zu fragen, zu welchem Ende? Die Risse im Gebåude ± das heiût konkret gesehen: das Problem der Gesellschaft. Fast wåre im neunzehnten Jahrhundert dies Problem aufgebrochen, aber man hat es immer wieder zu beheben gewuût. Rousseau in Frankreich, Carlyle in England, Marx und Engels, Lassalle und Baader in 12. Vgl. A. Schopenhauer, Ûber die Universitåtsphilosophie, in: A. Schopenhauer, Såmtliche Werke. Bd. IV. Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Darmstadt 1974, 171-242.

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Deutschland haben dies Problem versucht in den Vordergrund zu rçcken. »Die Gesellschaft soll die Sçnden bekennen, die sie begangen hat« 13 , schreibt der junge Marx an Ruge ± die Gesellschaft ist eine Form, die Sçnde zu konservieren. Sie »anståndig« zu machen, Finsternis in Licht zu verwandeln: Was niemand fçr sich allein tun wçrde, wird »gut«, wenn es als das angesehen werden kann, was »man« tut. Jeder in seinem Stande! Es ist ein altes biblisches Thema, es ist ein Thema der Predigt Jesu und der Propheten, das plætzlich ± in dieser såkularisierten Form ± unter den Erfahrungen der Industrialisierung und des modernen Kapitalismus aufbricht. Die groûen Schriftsteller im Ausgang und in der Wende des neunzehnten Jahrhunderts, Zola und Ibsen, Hauptmann und Sudermann, Tolstoi und Gorki, machen sich zum Sprecher dieser Frage. Das neunzehnte Jahrhundert ist auch hier sehr sicher, sehr fest in seinen Urteilen. Reichtum und Armut sind im Grunde genommen nur Akzidentien der Existenz. Sie haben nichts zu tun mit dem Wesen des Menschen. So will es die bçrgerliche Dogmatik. Wer diesen Grundsatz anzweifelt, ist im hæchsten Maûe verdåchtig. Man mçûte einmal die Predigten çber Lukas 16 aus diesem Jahrhundert vergleichen, man wird sehen, sie alle gehen hier um den heiûen Brei herum, also darum, daû es der Reichtum ist, der den reichen Mann in die Hælle bringt. Daû die Bibel, daû das Evangelium auch eine soziale Botschaft hat, das geht erst in der Krise der Jahrhundertwende auf, erst Kutter und Ragaz legen hierauf den Finger. Dem neunzehnten Jahrhundert gilt diese Betrachtungsart als »materialistisch«. Und materialistisch ist synonym fçr bæse, wåhrend der Idealismus die »Weltanschauung« der anståndigen Menschen ist. Aber das Problem der Gesellschaft wåchst. Es wåchst riesengroû, steht wie eine hångende Wand çber der Generation, die diesen phantastischen Aufschwung der Industrie und Technik erlebt. Es wåchst mit diesem »Fortschritt«. Wåchst mit, wie sein Schatten. Aber der fortschrittliche Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts sieht diesen Schatten nicht, will ihn nicht sehen. Man sieht tausend und abertausend Sçnden, man sieht den Verfall der Ehe, der Autoritåt, der Bindung von Eltern und Kindern, man klagt çber alles ± das nennt man Sçnde, man nennt Sçnde, was die als christlich verstandene gesellschaftliche Ordnung gefåhrdet, man hat dabei immer die »Gesellschaft« auf seiner Seite. Aber man versteht nicht, daû auch diese Werte relativ sind, daû auch unter Umstånden einmal die Ge13. Iwand spielt hier an auf Marx' Bemerkung: »Um sich ihre Sçnden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur fçr das zu erklåren, was sie sind« (in einem Brief an Arnold Ruge [September 1843], in: K. Marx, Die Frçhschriften, hg. von S. Landshut, Kræner Taschenausgabe 209, Stuttgart 1953, 171; vgl. NW 2, 136 und PM I, 88).

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sellschaft als ganze in Frage gestellt werden kænnte. Man versteht vor allem nicht, daû die Kirche nicht mit dieser Gesellschaft identisch ist ± wie man nur noch ein historisches Christentum kennt, so kennt man auch nur noch ein gesellschaftliches, um der Úffentlichkeit willen gepflegtes Kirchentum. Daû es unter Umstånden dahin kommen kænnte, daû »ihr gehaût sein mçût um meines Namens willen« (Mt 10,22), das ist weder Friedrich Naumann noch Johannes Mçller trotz mancher Einsichten aufgegangen. Nein, der Liberalismus meint, daû, wenn man nur die nætigen Reformen und Konzessionen mache, die Gesellschaft sich freuen wçrde, wieder mit dem Christentum Hand in Hand zu gehen. Der Dogmatismus mçsse fallen, der reine Humanismus an seine Stelle treten, veredelnd und wie ein Sauerteig mçsse die Kirche innerhalb der Gesellschaft stehen. Das Kierkegaardsche Ørgernis, dies sein Thema in der Auseinandersetzung mit Martensen, ist eliminiert ± das kennt weder Strauû und seine sich als so modern und fortschrittlich gebende »Glaubenslehre« 14 noch Harnack und sein »Wesen des Christentums« 15 , noch der sich mit der Frage der Gesellschaft von allen am eingehendsten beschåftigende moderne Theologe Ernst Troeltsch. Sie alle meinen, das Ørgernis sei ein unechtes, sei aufhebbar, liege lediglich im Intellektuellen. Beseitigt den Anstoû, den der moderne Mensch am Dogma nimmt, und ihr werdet sehen, wie viele neue und gute Mæglichkeiten sich auftun. Das ist der Optimismus der bçrgerlichen Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert, der sein Verhåltnis zum Christentum nur unter dem Aspekt des modernen Menschen sehen kann, das heiût des Menschen, als den er sich fçhlt. Das ist auch die Erbschaft, die der Liberalismus dem Sozialismus vermacht: willigt die Kirche ein in die soziale Reform, dann ist kein Grund einzusehen, warum es noch einen Gegensatz geben soll zwischen Kirche und Gesellschaft. Das meint nicht nur Richard Rothe, der geistige Vater Ernst Troeltschs und des Protestantenvereins, sondern das meint auch Tolstoi. Tolstois religiæs-soziale Schriften gehen eben doch darauf zurçck, daû das ganze Sein der Welt rational ist und daû aus der Vernçnftigkeit heraus ± aus dem: Liebe deinen Nåchsten wie dich selbst (Lev 19,18) ± die christliche Moral die wahre Ethik der kommenden Gesellschaft sein kænnte. Es ist das Christentum ohne Christus, das hier in Erscheinung tritt und sich als Læsung der gesellschaftlichen Problematik anbietet. 14. D. F. Strauû, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt, 2 Bde., Tçbingen / Stuttgart 1840-41. 15. A. Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 19001 .

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Aber diese Problematik geht ihre eigenen Wege. Der Schatten wåchst, das Gericht, das sich hier ± in Revolutionen und Konterrevolutionen ± zu vollziehen beginnt, låût sich nicht aufhalten. Die Kirche des neunzehnten Jahrhunderts ist eben doch mit der Gesellschaft in ein und demselben Kahn, sie teilt deren Glçck und Untergang. So ist es in Frankreich, aber auch in Deutschland und Ruûland. Sie hat vergessen, daû ihre Heimat ± ihre Basis ± im Himmel ist (Phil 3,20); nur ein paar wache oder auch erschrockene Augen sehen das Unheil kommen, ein paar Pietisten, in Wçrttemberg und in Preuûen, sehen das Unheil wachsen. Kåhler in Halle und der jçngere Blumhardt in Wçrttemberg, ein Wichern und der alte Bodelschwingh ahnen etwas davon, daû sich hier die græûte Krisis des Abendlandes vorbereitet. Und versuchen, dagegen zu schreiben und zu handeln. Die Revolution wird das groûe Thema der modernen Gesellschaft, die Revolution nach dem Stichwort: »Was fållt, das soll man auch noch stoûen.« 16 Das neunzehnte Jahrhundert hinterlåût einen spezifischen, in seiner besonderen Dynamik noch nicht voll erschlossenen Atheismus. »Das Problem des Atheismus ist fçr den Psychologen einstweilen noch terra incognita«, sagt Spengler (579). »Ohne Zweifel ist der Atheismus, richtig verstanden, der notwendige Ausdruck eines in sich vollendeten, in seinen religiæsen Mæglichkeiten erschæpften, dem Anorganischen verfallenden Seelentums. Er vertrågt sich sehr wohl mit dem lebhaften und sehnsçchtigen Bedçrfnis nach echter Religiositåt« (580). Das ist vollkommen richtig. Spengler, der groûe Realist, fçr den Pilatus in seinem Gegençber zu Christus der Repråsentant des Wirklichkeitsmenschen ist, hat das richtig gesehen. Der Atheist des neunzehnten Jahrhunderts ± der Atheismus Feuerbachs und auch etwa der von Karl Marx ± ist im Grunde genommen immer noch der humanistische, der nicht die Existenz als solche verabsolutierende Atheismus, er ist eine geistige Mæglichkeit, mit der man spielt, wie man mit einer Waffe spielt, die nicht geladen ist. Aber das zwanzigste Jahrhundert macht Ernst mit der Tatsache, »daû ­der groûe Pan tot ist¬« (580), der »Begriff ­Gott¬ erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben ± (¼) der Begriff ­Jenseits¬, ­wahre Welt¬ erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt, ± um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe fçr unsre Erden-Realitåt çbrig zu behalten« 17 ±, das ist der moderne Atheismus. Man 16. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Teil III, Von alten und neuen Tafeln 20, Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Bd. 7, 305 (= Schlechta II, 455; KSA 4, 261). 17. F. Nietzsche, Ecce homo. Warum ich ein Schicksal bin, 8, Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Bd. 11, 366 (= Schlechta 1159; KSA 6, 373 f.).

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muû einmal die letzten Kapitel aus dem Ecce homo 18 lesen, um zu wissen, was Atheismus als Position ist. Als Desillusionierung der christlichen Moral, als Wiederentdeckung des Lebens, der Welt, der Gesundheit, des Leibes, der Instinkte, des Kærpers. Der Atheismus des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Existentialismus, ist die Umkehr des Cartesianischen cogito ergo sum (Ich denke, darum bin ich), in ein sum ergo cogito (Ich bin, darum denke ich), ist die Verwirklichung dessen, was Goethe im Prometheus visionår geschaut hat ± eine neue, groûe, antigættliche Mæglichkeit. »Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, daû Gott Gott ist« 19 ± nicht die Verneinung der Existenz Gottes, sondern die Verneinung dessen, daû Gott Gott ist ±, das ist der moderne Atheismus. Spengler hat recht, daû er die Grenzen der Psychologie, vielleicht auch der Philosophie sprengt. Die Fragestellung der Reformation ist uns nåher als die des in Psychologismus und Skeptizismus ausklingenden neunzehnten Jahrhunderts. Dieser sich als Position verstehende Atheismus ist es, was die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts ± und wohl auch des achtzehnten Jahrhunderts ± nicht gesehen hat, die praktische revolutionåre Abschaffung des Mythos, der uns den Zugang zum Leben, zum Glçck, zu den Dingen verwehrt, des Mythos von Gott. Feuerbach hat nicht gewuût, was er tat, als er es unternahm, die Theologie in Anthropologie zu verwandeln ± in Wahrheit hat er damit nur das Geheimnis ausgeplaudert, das sich unbemerkt in Philosophie und Theologie vollzog. Der Mensch und Gott ± diese beiden kænnen nicht in einer Welt zusammen existieren. Einer von beiden muû weichen. In jener groûen Ouvertçre zum »Groûinquisitor« finden wir das Gespråch zwischen Iwan und Aljoscha. Iwan hat seinem Bruder einiges berichtet von den furchtbaren Qualen und Leiden der Kinder und Schwachen, Bilder, wie wir sie heute aus unmittelbarer Nåhe kennen, und fåhrt dann fort: »Gibt es in der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen kænnte, das das Recht håtte, zu verzeihen? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht. Lieber bleibe ich bei ungesçhnten Leiden. Lieber bleibe ich rachelos bei meinem ungeråchten Leid und in meinem unstillbaren Zorn, selbst wenn ich nicht im Recht wåre. Ist doch diese Harmonie gar zu teuer eingeschåtzt! Wenigstens erlaubt es mein Beutel nicht, so viel fçr den Eintritt zu zahlen, darum aber beeile ich mich, mein Eintrittsbillet zurçckzustellen. Und wenn ich nur ein anståndiger Mensch bin, 18. F. Nietzsche, Ecce homo. Warum ich ein Schicksal bin, 8, Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Bd. 11, 376-387 (= Schlechta 1152-1159; KSA 6, 365-374). 19. »Non potest homo naturaliter velle, Deum esse Deum«. M. Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), WA 1, 225.

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so ist es meine Pflicht, dies sobald als mæglich zu tun, das tue ich denn auch. Nicht Gott ist es, den ich ablehne, Aljoscha, ich gebe ihm nur die Eintrittskarte ergebenst zurçck.« 20 Das ist der moderne Atheismus, der nun daran geht, nachdem es mit Gott nicht gelungen ist, das Leben lebenswert zu machen, es ohne Gott zu tun. Nicht in Feindschaft gegen ihn, sondern so, daû er hierbei »ausgeschaltet« ist. Mægen die, die noch an ihn glauben, friedlich ihre kultischen Pflichten und Gebråuche erfçllen. Man soll ihnen nichts tun, aber man soll sie »ausschalten«, mag jeder nach seiner Faœon selig werden 21 ; sie mægen wie alle anderen Sonderinteressen ihr abgegrenztes Feld haben, nur dçrfen sie darçber nicht hinaus. Sie mçssen diese Grenze respektieren. Der Kult ihres toten Gottes soll das Leben nicht mehr stæren. Das ist der Atheismus des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Atheismus, der sich durchaus mit dem kultischen, ja, dem dogmatischen Bestand von Kirche vertrågt ± wenn diese damit zufrieden ist, daû wir ihr unser Eintrittsbillet zurçckgeben und sie forthin ein museales Dasein genieût. Die Realitåt gehært dem Menschen, ihm allein.

1.2 Umkehr statt Neuanfang Kein Wunder, daû wir, von dieser Frage herkommend, das neunzehnte Jahrhundert çbersehen. Aber dçrfen wir das? Weil wir es nicht dçrfen, weil dieses Ûbersehen sich bitter an uns geråcht hat, darum soll dieses Kolleg gelesen werden. Wie eine Umkehr, jawohl, so soll es gelesen werden. Es ist richtig, wir kommen aus einer anderen Tiefe als unsere Våter. Wir haben in Abgrçnde geschaut, die sie so nicht gekannt ± wir haben unsere Augen zu Bergen erhoben, die fçr sie wie im Nebel lagen. Wir stehen eine Stufe tiefer ± oder auch, als Glaubende, eine Stufe hæher als sie. Wir haben eine Kehre erreicht bei dem Weg, den wir um denselben Gipfel als ein Volk Gottes, als eine Gemeinschaft von Våtern und Sæhnen zurçckzulegen haben. Und gerade darum wird fçr uns der Tag kommen, an dem sich die Herzen der Kinder zu den Våtern und die der Våter zu den Kindern bekehren (Mal 3,24). Wir sind nicht berufen, die Gråber aufzureiûen und Gericht çber die Toten zu halten. Dies Gericht liegt in eines anderen Hand. Vielleicht haben wir das in jenen Jahren der Verzweiflung und der Ratlosigkeit vergessen. Wir sind nicht berufen, sie zu verdammen, weil sie unsere Fragen 20. F. M. Dostojewski, Die Brçder Karamasoff, çbertragen von E. K. Rahsin, Mçnchen 1923, 447 f. (Hervorhebung im Text). 21. Friedrich II. (der Groûe) von Preuûen.

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nicht læsen und nicht gelæst haben, wir werden diese Fragen selbst læsen mçssen und dabei werden uns die Zeugen der ganzen Kirche beistehen, aber wir sind doch berufen, den Faden da aufzunehmen, wo sie ± unsere Våter ± ihn notgedrungen haben abreiûen lassen mçssen. Es gibt keinen totalen Neuanfang in der Geschichte. Wir verwechseln den Umbruch der Zeiten mit dem Umbruch, der in Jesus Christus Ereignis geworden ist, wenn wir meinen, wir kænnten ganz neu anfangen. Das kænnen wir nicht. Unser Anfangen muû immer auch ein Weitergehen sein. Das ist es, was Ernst Troeltsch und Max Weber, der eine als Christ und der andere als Wissenschaftler, ihrer Generation ± vergeblich ± einzuprågen suchten. Nur in Christus heiût es: Das Alte ist vergangen, siehe Neues ist Wirklichkeit geworden (2Kor 5,17). Und diese Wendung liegt nirgends anders als bei diesem Namen. Sie liegt nicht zwischen den Geschichtsepochen: Hier ist der Umbruch immer nur relativ. Gerade wir als Theologen und Christen sollten das wissen. Wir sollten wissen, daû wir nun eben doch die Sæhne dieser Våter sind, Fleisch von ihrem Fleisch ± wir sollten freilich auch wissen, daû sie und wir, wir und sie, beide unter der Bitte um Vergebung und um Erleuchtung stehen. Wir sollten nicht uns scheuen, es besser zu sagen und zu wissen, als sie es gesagt und gewuût haben ± nur keine falsche Pietåt ±, aber wir sollten nicht meinen, daû wir darum es besser sagen und wissen kænnten, weil wir nun einmal einen Schritt weiter ins Dunkel und in die Ausweglosigkeit des Daseins getan haben. Die Armut, auch die geistige Armut ist als solche noch kein meritum (Verdienst). Es kommt darauf an, wie wir sie zu tragen wissen. Es kommt darauf an, ob wir sie als Aufforderung verstehen, nun uns auch raten und helfen zu lassen. Alle Wissenschaft ± auch die Theologie ± ist Schule. Alle Schule zielt darauf ab, dem Schçler nicht nur ein Wissen, sondern auch ein Kænnen zu vermitteln. Ihn die Kunst zu lehren, ohne die der Stoff nur eine Last ist. Ihn zum Meister zu erziehen, der nicht nur weiû, sondern auch weiû, was er mit seinem Wissen anfangen soll und kann, ihm also die Freude am Wissen zu vermitteln, weil es ihn in die Lage versetzt, frei, das heiût selbståndig zu sein. Wenn die Våter des neunzehnten Jahrhunderts wirklich gute Våter ihrer Kinder sind, dann werden sie uns diesen Dienst tun, uns frei zu machen ± frei und dankbar. Es muû nicht heiûen, daû die Sæhne wider die Våter sind ± es kænnte auch heiûen: Liebet eure Våter »in dem Herrn« (vgl. Eph 6,1; Kol 3,20). Das zwanzigste und das neunzehnte Jahrhundert sind gewiû der schwerste Bruch in der abendlåndischen Geschichte, seit der Reformation ± aber an uns, den Lebenden ist es, auch çber diesem Bruch die Versæhnung wirksam werden zu lassen. Vielleicht hångt sogar an dieser Frage der Fortbestand unserer Epoche als

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einer geschichtlich relevanten Epoche. Das gilt auch und gerade von der Theologie. Und so will ich nun versuchen, einen Eingang zu vermitteln in das ernste und tiefe Ringen der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, und zwar so, daû wir dabei unsere Fragen nicht vergessen, daû wir Lernende sind, die fçr sich lernen, die ihre Zeit und ihre Aufgaben nicht aus dem Auge verlieren, aber doch so, daû sie sich dessen bewuût werden, welche groûe Tradition sie fortzusetzen haben, welche Aufgaben schon angefaût sind und wo wir nun gerufen sind, einen Schritt voran zu tun. Man muû leider in solchen Fållen immer generalisierend reden, wenn man einen Ûberblick çber den ungeheueren Stoff gewinnen will. Die Schemata sind dabei meist das fragwçrdigste. Sie sind nur Gerçst, das abgerissen werden kann, wenn der Bau fertig ist. Aber ehe man beginnt, muû man ein solches Gerçst haben. Drei Momente scheinen mir die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts auszuzeichnen: erstens das Fragen nach der wahren Religion. So hat schon die Aufklårung gefragt, aber das neunzehnte Jahrhundert nimmt diese Frage auf und beantwortet sie von der Geschichte her. Das ist sein Spezificum. Das zweite ist die Vorordnung der Ethik vor die Dogmatik. Auch das hat schon das achtzehnte Jahrhundert getan. Aber das achtzehnte Jahrhundert hat die Dogmatik in der Ethik aufgehen lassen. Das tut das neunzehnte in seiner Theologie nicht mehr. Im Gegenteil, die Ethik ist eine gebrochene Ethik. Der Satz vom »radikalen Bæsen« aus der Kantischen Philosophie ist nicht vergessen. Es ist nicht die Leibnizsche Harmonienlehre, die das Rechtfertigungsdogma des neunzehnten Jahrhunderts beherrscht, sondern es ist die Rechtfertigung allein aus Gnaden, um die man dank des Pietismus, dank Zinzendorfs und Bengels, nun auch wieder weiû. Es setzt die groûe Bemçhung ein, das Problem von Ethik und Dogmatik zu læsen, freilich so, daû man die Vorordnung der ethischen Frage beibehålt. Und drittens die Frage von Glauben und Wissen. Oder, so kænnten wir im Blick auf Hegel, den groûen Anreger auf diesem Felde, auch sagen: die Frage des Dogmas. Aber eben so, daû das Dogma und die Idee zueinander ins Verhåltnis gesetzt werden. Nicht das Dogma und das Wort. Der Logos ist fçr alle diese Theologen die Idee. So fassen sie nun das Dogma als Ideengeschichte, als die Geschichte der Idee des Christentums, also seiner reinsten geistigen Erscheinung. Idee und Wirklichkeit ± das wird nun das Thema werden, Wesenskirche und Erscheinungskirche. Aber immerhin: Es ist der Logos, und es wird begriffen, daû der Logos in Relation steht zum Dogma. Mag es ihnen nicht gelungen sein, das Dogma in seinem eigent-

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lichen Bestande zu fassen, mag die Grenze zum Gnostizismus, die ein Mann wie Isaak August Dorner so klar und so voll Sorge fçr sein Zeitalter gesehen hat, oftmals çberschritten sein: sie haben das im achtzehnten Jahrhundert nicht mehr verstandene Dogma der Kirche aufgearbeitet und haben darin einen Schritt ± çber die Reformation hinaus getan. Bleibt ein vierter Strang, der sich durch das Ganze hindurchzieht, der Biblizismus, der nicht vergessen werden darf und der in seiner Art freilich auch der Zeit Tribut zollt. Was heiût Biblizismus? Es bezeichnet den Kampf um die Autopistie der Heiligen Schrift, also um die Frage, was nun die kritische Wissenschaft, die vergleichende, quellenkritisch vorgehende Wissenschaft des Alten und Neuen Testaments, die im neunzehnten Jahrhundert ihre græûten Triumphe feiert, fçr das Vertrauen des Christen zur Heiligen Schrift bedeutet. Schiebt sich nicht hier ein neuer Papalismus ± nåmlich die Gelehrten ± zwischen das Wort und den Glauben? Der Biblizismus im neunzehnten Jahrhundert ringt darum, hier einen vielleicht sehr engen, aber doch unantastbaren Zugang frei zu halten. Er sieht die furchtbare Gefahr, die in Positivismus und Liberalismus liegt ± daû an die Stelle des Vertrauens zum Wort Gottes das Vertrauen auf die Wissenschaft tritt, ein Vertrauen, das nicht ausreicht, um die Seligkeit und Gewiûheit darauf zu grçnden. Darum ist dieser Kreis von Theologen ± unter denen Menken, Beck und Kåhler insonderheit zu nennen sind, ± immer wieder von der Gewiûheitsfrage bewegt ± und Karl Heim ist der bis in unsere Generation hineinreichende, lebendige Vertreter dieser wichtigen theologischen Tradition. Vielleicht wird man hier auch Kohlbrçgge, auch den ålteren Blumhardt nennen mçssen. Sie fçhlen sich als die Vertreter des Laien in der Theologie, und einer unter ihnen hat diese Aufgabe geradezu als die der Dogmatik bezeichnet. 22 In diesem Sinne muû dann auch Karl Barth als der bezeichnet werden, der diesen immer schmaler und bedrångter werdenden Zugang zum Wort wieder freigekåmpft und in einer so seit langem nicht dagewesenen Weise zur Mitte in der Schlacht um die Kirche gemacht hat.

22. M. Kåhler, Jesus und das Alte Testament (1896), in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen. Alte und neue Ausfçhrungen zur Wissenschaft der christlichen Lehre, Erster Band. Zur Bibelfrage, Leipzig 1907, 117: »der Dogmatiker ist der Vertreter des Laien«.

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2. Annåherungen an das neunzehnte Jahrhundert 2.1 Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert 23 Es gibt hin und wieder Bçcher, die ein Dokument ihrer Zeit sind. Geschichte, darin hat Hegel recht, ist mehr als lediglich die Gegebenheit eines Tatbestandes. Was wçrde von dem, was sich ereignet, çbrigbleiben, ohne die Menschen, die diese Ereignisse aufnehmen, çberdenken, berichten, beurteilen und sich selbst so ± indem sie die Vergangenheit in sich aufnehmen ± bilden, das heiût, geschichtliche Wesen werden. Das Tier hat keine Geschichte, es bekommt sie nur in der Welt des Menschen. Darum gehært das Buch unmittelbar hinein in die Geschichte, das gute, das rechte Buch ist ein Stçck Geschichte. Und so geht es einem, wenn man Barths Vorlesungen çber die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts in die Hand nimmt. 24 Ich muû gestehen, als ich sie zum ersten Mal las ± es war noch mitten in den furchtbarsten Zeiten des Hungers und der Kålte, der Ungewiûheit, ob wir nicht morgen schon weiter çberspçlt sein wçrden von den hochgehenden Wogen des nicht endenwollenden Mordens und der ausschweifenden Grausigkeit ±, ging es mir so, wie es mir nur zweimal mit åhnlichen Bçchern gegangen ist: Ich fçhlte mich in eine andere Welt versetzt, eine Welt der Klarheit und der Græûe, eine Welt, ganz frei von dem niedrigen Haû, der uns alle umspçlte, frei von der bæsen Art unserer Generation, niedrig von dem zu denken, was die Våter geleistet und geschaffen haben, eine Welt, in der man nichts schmeckte von jener Perspektive des Kammerdieners, fçr den es keinen Helden gibt. Hier bekamen wirklich die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts ihre Maûe zurçck, die ihnen so lange genommen waren ± auch und gerade in der Theologie ± Schleiermacher und Baur, der unermçdlich Fleiûige, de Wette und Dorner, Rothe und Beck. Barth ist auch hier mehr als ein Historiker. »Jede Periode der Kirche will in der Tat als Periode der Kirche verstanden werden, d. h. als eine Zeit der Offenbarung, der Erkenntnis und des Bekenntnisses der einen christlichen Wahrheit, aber als eine besondere, als diese Zeit solcher Offenbarung (¼). Indem wir uns mit den Theologen der Vorzeit zusammen in der Kirche wissen, stehen wir zum vornherein, noch bevor wir sie irgendwie nåher kennen, in der Art neben ihnen, daû wir wissen: Es geht ihnen (¼) um die 23. Ûberschrift Iwands. 24. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zçrich 19471 / 19603 . Seitenangaben im Text.

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Antwort auf dieselbe Frage, um die es auch uns geht. (¼) Aber çber und in der damit gesetzten Verschiedenheit ist zunåchst und immer wieder die Einheit zu sehen, (¼) die uns mit den Theologen der Vorzeit im Grunde verbindet. Es wçrde eine unkirchliche und darum auch untheologische Haltung bedeuten, wenn wir einer bestimmten Zeit gegençber diese Voraussetzung nicht machen oder auch nur in Zweifel ziehen wçrden« (13). Mit anderen Worten: Die Kirchengeschichte endet nicht mit der Reformation, die Aufklårung ist nicht unter der Perspektive zu sehen, unter der die Restaurationstheologie eines Franz Hermann Reinhold Frank oder eines August Friedrich Christian Vilmar sie sah, als Untergang und Ende, als die Zeit der Nicht-Kirche, als die des Untergangs der Theologie in der Philosophie, sondern die Geschichte der Kirche hat auch hier ihre Zeugen und Theologen, und wir haben im Grunde zu ihnen keine andere Stellung als wie wir sie zu allen Epochen der Kirche innezuhalten und einzunehmen haben. »Gott ist ein Gott der Lebendigen« (Mk 12,27), sagt Barth. 25 Das ist das Erleuchtende, das Besondere und vielleicht auch Einmalige an diesem Buch, daû es hier ± anders und doch in gewisser Hinsicht åhnlich wie bei Hegel ± zum lebendigen Umgang mit den Theologen kommt. Die Theologiegeschichte, die wir bei Barth finden, ist keine Ideengeschichte, es ist ± in ihrer Art ± die erste wirkliche Theologiegeschichte. Hier werden nicht Ideen verfolgt, wie das Dilthey und auch Troeltsch tun, sondern hier treten lebendige Menschen in Erscheinung. Wir haben uns leider daran gewæhnt, die Theologie so weitgehend an die Geistesgeschichte auszuliefern, daû darunter der Mensch als solcher, der Mensch in seinen Tiefen und Hæhen, in seinem Kampf mit seiner Zeit, vællig untergeht. Der einzelne Denker erscheint nur noch als ein Bçndel mannigfacher, sich in ihm kreuzender und in verschiedenen Mischungen verschlingender Ideen, das Ganze mutet uns an wie ein Gewirr von Schienen, die sich çberschneiden, hierhin und dorthin abweichen, aber es fehlt der Zug, in den wir einsteigen, der nun seinen Weg da hindurch nimmt. Wir zerlegen das geistige Werk eines Denkers in seine Bestandteile, aber niemand vermag es hernach wieder zusammenzusetzen zu dem lebendigen Ganzen, das es einmal gewesen ist und das seinen Ruhm und seine Bedeutung in der Geschichte der Theologie ausmacht. Das ist das Groûe und Besondere an Barths Geschichte der Theologie, daû er die Stçcke zusammenzusetzen vermag, daû es hier wieder zu einem Gespråch, zu einer Begegnung, zu 25. Randnotiz Iwands: S. 3: »In ihm leben sie alle.« ± Barth zitiert Mk 12,27 nicht, sondern deutet auf diesen Text hin: »Augustin, Thomas, Luther, Schleiermacher und alle die Andern sind nicht tot, sondern lebendig. (¼) ­Ihm leben sie alle¬.«

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einem echten Nebeneinander kommt. Denn schlieûlich: Werden nicht auch wir morgen zu denselben Toten gehæren, die wir jetzt ± ohne daû sie sich wehren kænnen ± verachten oder auch verherrlichen? Sollte nicht auch hier gelten, was unter uns Lebenden gilt: Was ihr nicht wollt, daû euch die Leute tun! Insofern wird dieses Buch ein einmaliges Buch bleiben, denn hier ereignet sich nun eben doch etwas Besonderes: daû ein so groûer Theologe, ein so fçr die Schwere dieser Fragen und die Gefåhrlichkeit dieser Aufgabe gebildeter ± durch Gott selbst dazu erzogener Mann der Gespråchspartner ist. Dies Buch ist nicht zu denken ohne den Partner, hier versucht nicht die Gegenwart, sich auszuschalten und wie im Okular die Geschichte »an sich« zu sehen, ein solches Phantom von Objektivitåt, ein solches sich Vergessen des vermeintlichen Historikers, çber das schon Martin Kåhler spottete, gibt es hier nicht. Sondern immer bleibt auch der Partner sichtbar. Es ist der Karl Barth, der dies nach 1945 gedruckte Buch als Kolleg liest, unmittelbar vor dem groûen Zusammenbruch, der nach 1933 einsetzen sollte, wer Ohren hat, zu hæren, der kann auch bereits den Donner in der Ferne vernehmen und das Wetterleuchten, das das kommende Unheil ankçndet, sehen. Manchmal will es so scheinen, als ob der damalige Professor in Bonn einen besorgten Blick in jene Ferne wirft, so etwa, wenn er darangeht und das verzerrte Bild der »Aufklårung«, in dem die Restaurationstheologie der Erlanger und der sogenannten Positiven nichts als Abfall vom Glauben und reinste Verstandeskultur sehen wollte, in einem tieferen, ernsteren, echteren Lichte zeichnet ± sie zeichnet aus der Tiefe heraus, die in Goethes Faust und in Mozarts Musik dann doch auch in ihrer ganzen Tragik faûbar wird, in ihrem Wissen um die Grenze des Fortschritts und um den Schatten, den das Leben und der Genuû bei sich hat. Oder wenn wir plætzlich erleben, wie die Romantik ± es handelt sich um Novalis ± auf einmal als die furchtbare Verwechslung faûbar wird: Christus ± oder Sophie! Hat Barth hier etwas gerochen von dem Aufbrechen der chthonischen Måchte und Kråfte, die wie die Rachegætter das geordnete Welt- und Natursystem der Aufklårung zerrissen, um das Blut und das Leben, das Irrationale und das Geheimnis wieder zu seinem Recht zu bringen? Hat die Hærerschaft damals ± es sind ja nur dreizehn Jahre her, und es dçnkt einen heute wie eine Ewigkeit ±, hat sie auch etwas begriffen von den Fingerzeigen, die da immer wieder zwischendurch auf das sich drauûen ankçndigende Gewitter hinzeigen? Heute kænnte so ein Buch nicht mehr geschrieben werden, mit dem ganzen kæstlichen Duft des Herbstes, der Reife, der Klarheit, in der ± nach dem Gesetz der Natur die reine Herbstluft ± alle Fernen uns nahe rçcken und wir meinen, die Gipfel der Berge greifen zu kænnen. So nahe, zum Greifen

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nahe, stehen Barth auf einmal die Våter unserer oder soll ich sagen, seiner Zeit? ±: Lessing und Kant, Herder und Hegel. Und gerade diese Månner bekommen hier den ersten Platz in der Theologiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn man so will, ist das das Ørgernis dieser Geschichte der protestantischen Theologie. Man halte nur einmal Lçtgerts Geschichte des deutschen Idealismus 26 dagegen. Man hære nur einmal hinein in theologische Kollegs und in Predigten der Dorf- und Stadtkirchen, wo da Lessing und Herder, Goethe und Kant zu stehen kommen. Und das nun ausgerechnet von Barth, dem Vater und Begrçnder der dialektischen Theologie! Das ist das Ørgernis, und es wçrde mich nicht wundern, wenn man die Rezeption dieser Philosophen (unter denen Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling bezeichnenderweise nicht erscheinen) von der konfessionellen Polemik jenem Briefe Zwinglis an die Seite stellen wçrde, in dem dieser Plato und Cicero im Himmel anzutreffen hofft. 27 Aber Barth wçrde mit Recht sagen, daû Kant und Hegel, Lessing und Herder post Christum natum gelebt, gedacht und gelehrt haben, und es gehært schon zum Groûartigsten und Gerechtesten, was in dem letzten Jahrhundert von einem Theologen getan und geschrieben worden ist ± diese Rechtfertigung des trotz allem von Kant festgehaltenen Biblizismus, trotz allem von Lessing festgehaltenen, nein, wieder neu gewagten Begriffs der Offenbarung. »Das ist das Neue bei Lessing gegençber den anderen Neologen, daû es nach ihm einen solchen ­Gang¬ der Geschichte gibt, und diese Entdeckung, die Entdeckung der in der Geschichte wirksamen Dramatik ist es wohl gewesen, die ihm den Mut gegeben hat, mit neuem Pathos das alte Wort ­Offenbarung¬ zur Bezeichnung dieses Ganges in den Mund zu nehmen« (235). Gewiû, Barth weiû und sagt auch das andere, »einen Herrn der Geschichte in der Geschichte gibt es bei Lessing nicht« (234), aber daû er beides sagt und sieht, daû er Hegel nicht nur als den Philosophen des Selbstvertrauens der Vernunft bezeichnet, sondern die von ihm angefaûte Thematik einer im letzten Grunde eben doch christlichen Einheitskultur als Aufgabe herausarbeitet und so zeigt, woran dieser groûe Philosoph und Theologe gescheitert ist, das ist das Hervorragende an dieser Geschichte der Theologie. Dadurch daû einer den Mut hat zu begreifen, daû 26. W. Lçtgert, Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende, 4 Bde., Gçtersloh 1923-1927. 27. Zwingli, H. Zwingli, Christianae fidei brevis et clara expositio ad regem christianum, in: Huldreich Zwinglis Såmtliche Werke, Bd. VI, V, Zçrich 1991, 132. In Zwinglis Liste kommen zwar einige griechische und ræmische Philosophen vor, unter ihnen aber nicht Plato und Cicero.

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schlieûlich eben doch Kant und Hegel wie schon vor ihnen Leibniz und Lessing in die Geschichte der protestantischen Theologie hineingehæren; daû auch die Philosophie ± die wir hier finden ± eben nicht in das Hellas der Akademie oder auch in die Zonen der katholischen Renaissance oder Barockkultur zu verlegen sind; und daû das Wirken der eigentlichen Schultheologen nur im Zusammenhang und in der Auseinandersetzung mit dieser Basis faûbar wird: dadurch fållt ein neues und helles Licht in die ganze Geschichte der deutschen Philosophie von Leibniz an. Denn im Grunde genommen ist Barth der Meinung, daû dieses ganze Zeitalter des achtzehnten und des aus ihm geborenen neunzehnten Jahrhunderts in einem solchen umfassenden Phånomen, wie es Leibniz darstellt, repråsentiert wird. Aber çber einen Mann muû doch noch ein besonderes Wort gesagt werden. Nachdem Barth in geradezu erleuchtenden Partien çber den »Menschen im achtzehnten Jahrhundert«, çber »das Problem der Theologie im achtzehnten Jahrhundert« und die ± sich nun in ihren mannigfachen Vertretern pråsentierende ± »protestantische Theologie im achtzehnten Jahrhundert« sozusagen einleitend, aber in Wahrheit grundlegend geåuûert hat, beginnt er die Reihe der fçnfundzwanzig Philosophen und Theologen ± die Philosophen werden in die »Vorgeschichte« hineingestellt ± mit Rousseau. Fast denkt man, das håtte Stahl noch erleben sollen. Und man begreift, daû Stahls Streitschrift contra Bunsen 28 sich heute in dem Schlachtruf contra Barth der gesamten Restaurationstheologie wiederholt (leider ist mir in den letzten Jahren der Nietzschesatz von der Wiederholung in erschreckender Weise in den Sinn gekommen). Auch hier gilt die »Wiederkehr aller Dinge«! Aber jedenfalls, es ist so und steht da schwarz auf weiû zu lesen: Die Geschichte der Theologie im neunzehnten Jahrhundert beginnt mit Jean Jacques Rousseau. Das Kapitel çber Rousseau ist die Achse, um die das ganze Buch schwingt. Mit Rousseau ist Barth nicht fertig geworden. Bei allen anderen, die er hier bespricht, hat man den Eindruck, daû er durch sie hindurchgegangen und nun fertig ist; daû sie ihn belehrt haben zum Guten oder auch gewarnt haben vor dem Abgrund, dem sie zu nahe gekommen sind. Alle anderen grçût er wie ein dankbarer Sohn, der Abschied nimmt vom Elternhaus, weil er sich stark genug fçhlt, um ein neues Fundament zu legen fçr ein eigenes Dasein ± hier scheint es keine Tiefen zu geben, die er nicht durchmessen, keine Hæhen, die er nicht von seiner inzwischen neu, durch Bibel und Reformation gewonnenen Position her unter sich sieht wie ein Wanderer die Tçrme und Giebel der Stadt 28. F. J. Stahl, Wider Bunsen, Berlin 1856.

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im Talgrund. Aber Rousseau! »Wir gleichen jenem Manne«, so sagt ein munterer Bruder bei †mile Augier, »der in einem Monat sieben Schnupfenanfålle hatte und sie alle wieder los war, nur nicht den ersten!« »Mit Jean Jaques Rousseau fångt mitten im achtzehnten Jahrhundert die neue Zeit an, die wir die Goethezeit nennen, die Zeit, von der sich die protestantische Theologie seit Schleiermacher die Frage stellen und weithin die Antwort geben lieû. Mitten im achtzehnten Jahrhundert die neue Zeit!« (153). Wir werden bei der Besprechung von Paul Hazard sehen, daû man auch anders den Beginn der »neuen Zeit« ansetzen kann ± je nachdem, ob man mit Rousseau wirklich an die neue Zeit glaubt oder mit Bossuet in ihrem Aufbruch den Untergang sieht ±, aber diese These Barths bleibt kein Aperœu, sondern wird in einem fçnfundfçnfzig Seiten umfassenden Paragraphen meisterhaft abgehandelt: Barth spricht von dem »Ereignis Rousseau«, ein »paradoxes« Ereignis insofern, als »Rousseau nicht nur beilåufig, sondern in sehr ausgesprochener Weise, kçhner und folgerichtiger als fast seine ganze Umgebung, ein Mensch des achtzehnten und nun gerade so dessen Widersprecher und Ûberwinder gewesen ist« ± Rousseau, von dem schon Voltaire sagte, er habe ihm Lust gemacht, auf allen Vieren zu gehen, und von dem Barth schreibt, daû er vergeblich bei ihm das Wort gesucht hat: »Revenons ™ la nature« (160). Dieser Rousseau ist eben doch mehr als ein »Tråumer und Mçûiggånger«, ist mehr als der Verfasser der groûen Erziehungslehre, der seine fçnf unehelichen Kinder ins Findelhaus gab, mehr als der Verfasser des Contrat social, der sich »nicht im Geringsten in Staat und Gesellschaft einzuordnen wuûte« (153), nein, Barth sieht in ihm eine Zeit typisch Gestalt gewinnen. In Rousseau wird ein Zeitalter geboren ± darum ist diese Existenz eine so zerquålte und ausgeschiedene, darum hat sie dieses doppelte Gesicht. Man sollte verstehen, »daû Rousseau trotz und in dieser (¼) Abweichung von ihren græûten Heiligtçmern zuletzt und zutiefst doch zu ihnen gehærte, nur eben als der Mann, in dem diese Heiligtçmer wieder eine Zukunft bekamen, als der Mann, der ihr Eigenstes, das Alte, ganz neu erlebt, in verånderter Gestalt neu erzeugt und mit neuen Zungen zu verkçndigen hatte«. In ihm håtte diese Zeit trotz aller Abweichungen »ihre eigene Hoffnung (¼) erkennen mçssen« (154). Barth ist nicht der Meinung, daû die Franzæsische Revolution Erfçllung dieser Hoffnung wåre, sie gerade nicht ± Rousseau ist in seinem Staats- und Gesellschaftsideal weit çber sie hinaus. Er ist der Politiker und Kritiker von morgen; er gehært nicht in den Rahmen der Bourgeoisie, die sich im neunzehnten Jahrhundert als die Frucht des unter der Guillotine geendeten Kænigtums und der Sansculotten ± als der mittelmåûige Erbe napoleonischer Tråume ± auf dem eu-

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ropåischen Theater als die neue Gesellschaft repråsentieren wird ± nein, Rousseau ist nicht verstanden. Rousseau reicht weiter, langt auch çber diese Epoche hinaus, das Kind seiner Schmerzen ist noch nicht geboren und die Theologie, die seine Frage stillt, ist auch in der langen Reihe von Schleiermacher bis zu Ritschl noch nicht auf den Plan getreten. Mit anderen Worten: Was mit Rousseau begonnen hat, ist noch nicht erfçllt. Der Mann, der auf die Frage der Akademie von Dijon: »Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Kçnste zur Verderbnis oder zur Reinigung der Sitten beigetragen?« die Antwort gab: »Wissenschaften und Kçnste sind der Sittlichkeit noch immer schådlich gewesen, weil sie die natçrliche Tugend des menschlichen Herzens, aber auch die aus dieser stammende Bçrgertugend noch immer zersetzt und zerstært haben« (158) ± dieser Mann wirkte wie ein Johannes, der mitten im achtzehnten Jahrhundert auf die Axt hinwies, die den Båumen an die Wurzel gelegt war (Mt 3,10). Ist nicht seine Antwort heute die Frage unserer gesamten geistigen Kultur geworden? Und dann das zweite, Rousseaus Antwort auf die zweite Preisfrage derselben Akademie im Jahre 1754 »Ûber den Ursprung und die Grçnde der Ungleichheit unter den Menschen«: ist sie nicht ebenso das Aufdecken der einen tiefen Wunde, an der die moderne Gesellschaft verblutet ± hat nicht auch hier Rousseau das silence des pauvres durchbrochen, wenn er der neuen bçrgerlichen Gesellschaft den Satz ins Stammbuch schreibt: »Der Erste, der ein Stçck Land absteckte und zu sagen wagte: das gehært mir! und der Leute fand, die einfåltig genug waren, ihm das zu glauben ± er war der Grçnder der bçrgerlichen Gesellschaft« (159)? Das ist der Beginn »des fatalen amour propre im Gegensatz zu dem neutralen und gerade darin unschuldigen, natçrlich guten amour de soi-mžme (¼). Es bleibt nun«, so interpretiert Barth Rousseau wahrscheinlich vællig richtig und zum ersten Mal wieder wirklich gerecht, »unter Voraussetzung der hereingebrochenen Ungleichheit, zum Schutze Aller gegen Alle nichts çbrig, als die zweitbeste, aber eben wirklich nur zweitbeste Mæglichkeit des Staatsvertrags, in welchem durch Aufrichtung positiven Rechtes einigermaûen gutzumachen ist, was durch die Preisgabe des Naturrechts, jener vritable jeunesse du monde, fçr immer verfehlt ist.« (159 f.) Dieses Doppelte hat Rousseau gesehen und darunter hat er gelitten, unter diesem nicht mehr gutzumachenden Sçndenfall des Menschen, der seine gesellschaftliche Existenz als solche ausmacht. Oder hæren wir Barths Urteil çber die Nouvelle HloÒse, Rousseaus »notwendigstes Werk«, seine »direkteste Offenbarung«. Ja, in der Tat, hier wird die Liebe jenseits der Konvention gezeigt und entdeckt und gefeiert und schlieûlich doch auch in ihrem Ungençgen ± daû das Letzte nun doch eben

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nicht das Letzte ist ± erkannt: Die »neue Heloise« ist der »Freudenschrei des Menschen, der jenseits all des Menschenwerkes, an das dieses Jahrhundert mit so ganz besonderer Inbrunst glaubte, sich selber entdeckt hat, und der Notschrei desselben Menschen, der, dem Menschenwerk nicht entrinnen kænnend und auch nicht entrinnen wollend, auch mit sich selber nichts anzufangen weiû, gerade weil er jenseits alles Menschenwerks nun doch nur sich selber entdeckt hat« (164). Dieser im Prinzip mit sich selbst einsame, der absolute Mensch, der im absolutistischen Staat die »Revolution von oben« und in der leve en masse die »Revolution von unten« macht ± dort mit dem »Hohenfriedberger Marsch«, hier mit der »Marseillaise« ±, das ist der in furchtbare Mæglichkeiten und Schrecknisse hineinschreitende Mensch des achtzehnten Jahrhunderts. Rousseau ist fçr Barth wie die Quelle eines breiten und groûen Stromes, der hier seinen Anfang nimmt, der hier entspringt ± an dem man etwa dasselbe empfindet, wie wenn man den Gipfel erklommen hat, von wo ein Strom in klarem, ungetrçbtem Ursprung seinen Lauf in die Tiefe nimmt. Barth versteht Rousseau als den Entdecker (oder Wiederentdecker) der »zweiten Dimension«, als den, der die gesellschaftliche Existenz des Menschen ± eben gerade diese ± als eine darçber hinausreichende gesehen, der dieses trans angesteuert, der so das Schiff seiner Zeit wieder flott gemacht hat ± aber freilich, es sind eben doch nur zwei Dimensionen im Menschen, »zwischen dem Menschen in der Natur« (der nicht existiert, vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich nie existieren wird) »und dem Menschen in der Gesellschaft« (196). »Mit seinem ganzen Jahrhundert ist Rousseau ein entschlossener Pelagianer, ein abgesagter Gegner der kirchlichen Lehre von der Erbsçnde und von der Willensunfreiheit: der Mensch kann wohl faktisch bæse sein und er ist es tausendfach; er ist aber niemals wesentlich bæse und er muû es nicht sein. Er tut wohl das Bæse, aber er ist nicht bæse. Die Anklage, die gegen ihn zu erheben ist, trifft ihn immer nur in einer bestimmten Beziehung, nåmlich in seinem mit allen schlimmen Mæglichkeiten verbundenen Sein in der Gesellschaft. Genauer gesagt, sie trifft immer nur diese Beziehung als solche bzw. die Gesellschaft als solche. Sie ist eine Anklage gegen das Kollektiv. Angewandt auf den Einzelnen biegt die Anklage ab und wird zu einer Warnung eben vor dem Kollektiv. Ihn als solchen, den Menschen selbst, trifft sie nicht.« (196 f.) Und doch ist auf der anderen Seite Rousseau der groûe Entdecker des »Fçr-sich-Seins«, der Existenz. »Wenn Rousseau sein Herz fçr gut hålt, so tut er das, weil er inmitten einer ganz nach auûen gewandten und interessierten Gesellschaft ganz neu entdeckt zu haben meint, daû der Mensch ein Herz hat und was es denn çberhaupt um das Herz des Menschen ist.

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Das Herz ist kurzerhand: der Mensch selber unter Absehen von all dem, was er hervorbringt oder was ihm als fremde Existenz oder fremdes Werk gegençbersteht. Das ist's was Rousseau gefunden hat: sich selber. (¼) Eine ganze Welt tut sich ihm auf (¼) eine eigene Welt voll eigener Wahrheiten und Schænheiten« (200). Barth nennt diese Entdeckung Rousseaus »Existenz«. »Existenz ist sozusagen das Reich der Mitte. Existenz ist (¼) das Paradies fçr den Glçcklichen und der sichere Ruheport fçr den Unglçcklichen. (¼) Existierend, sich selber seiend, ist der Mensch, wie Rousseau mehr als einmal gesagt hat, bei Gott und wie Gott.« Und Barth zitiert jene Stelle aus den Ržveries du promeneur solitaire ± jenen posthum veræffentlichen Bekenntnissen des groûen Einsamen, das »Gefçhl, das fçr sich allein gençgen wçrde, einem diese Existenz lieb und wert zu machen« (201). Wir werden diesem »Existentialismus« bei Schleiermacher und seiner Definition der Religion wiederbegegnen. Denn Gefçhl ist der Inbegriff eines ungeteilten, noch nicht zwischen Begriff und Anschauung, Innenund Auûenwelt zerrissenen Daseins; Gefçhl ist der Zugang, der schwer auffindbare Weg in jene innerste Mitte ± es ist ein Apriori schlechthin, ein Ursprçngliches, das sofort zerfållt, wenn man es in die Sphåre des Begrifflichen, des Reflektierten zu çbersetzen sucht. In diesem Sinne fragt das Jahrhundert Rousseaus und Goethes nach dem »Sitz im Leben«, fragt nach der Fræmmigkeit, nach der lebendigen Gestalt, die hinter der Lehre steht; »das ist die groûe positive Seite der Entdeckung, die der christliche Bçrger dieser Zeit gemacht hat: das Christentum ist nicht Lehre, sondern Leben, seine Lehre selbst ist nur um des Lebens willen« (73) da; das ist die neue Klammer, die sich um das ganze Christentum herumlegt. Ich will hier abbrechen. Vielleicht haben Sie ein weniges von dem begriffen, was Barth mit seiner Geschichte der protestantischen Theologie geleistet hat. Will man sie wirklich in ihrem besten sachlichen Gehalt fassen, dann mçûte man die ersten drei Kapitel der »Vorgeschichte« genauer analysieren. Hier ist wirklich der Mensch des achtzehnten Jahrhunderts getroffen, und zwar als ein Typ, der zugleich in den Musikern und in den Politikern dieser Epoche erscheint, der sich hinter den Gegensåtzen von Rationalisten und Pietisten als der sich gleiche verbirgt, der vielleicht seine beste Darstellung gefunden håtte, wenn das Kapitel nicht unglçckseligerweise fehlte, das Barth eigentlich mit hineinnehmen wollte, das Kapitel: Goethe. Aber wie dem auch sei, das ist der Hintergrund, auf dem dann die theologische Leistung des neunzehnten Jahrhunderts gesehen wird ± und damit hat Barth recht. Das neunzehnte Jahrhundert ist gerade in seinen besten Leistungen ein Kind des achtzehnten. Es ist ein Irrtum, eine romantische Verzeichnung, wenn wir die Reformation als die Zeitenwende anse-

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hen. Barth çbernimmt hier ± worauf Dilthey wie Troeltsch so unermçdlich hingewiesen haben ± die These, daû auch das achtzehnte Jahrhundert eine epochale Wendung bedeutet, daû hier der Mensch heraustritt ± und zwar nicht nur dank der Naturwissenschaften; wahrscheinlich wird der Zusammenhang umgekehrt sein ±: der Mensch, der sich als der »moderne« weiû. Es wird wenig Bçcher geben, die den Umbruch der letzten fçnfzehn Jahre, die græûte seit einem Jahrtausend erfahrene Wandlung in der abendlåndischen Geschichte, so wertbeståndig çberstanden haben wie diese Vorlesung. Es hat sie darum çberstanden, weil es jenseits des pro und contra geschrieben ist, das diese verlorene Epoche kennzeichnet. Es hat sie darum çberstanden, weil es auf eine Karte setzt, auf die die wenigsten unter den Theologen zu setzen wagten: auf die Theologie; weil es von da aus einen adåquaten Maûstab gewann, um den Gang der Kirche und der Offenbarung auch in diesen Zeiten zu erkennen, in denen er weniger als Gang denn als Untergang erschien. Und doch ist das Buch ein Abschied, ein Abschied von diesem Menschen, der sich selbst genug ist, der die »Existenz« als den Punkt umklammern mæchte, der »sicher« ist, den Menschen, der »sich am Sein beglçckt erhålt«. 29 Dies Buch ist Dank und Abschied zugleich. Und es ist in allen seinen Partien mit dem Gesicht nach vorn geschrieben ± es ist geschrieben ein Jahr bevor derselbe Mann, der das seinen Studenten zumutete und vortrug, einer ratlos hin und her taumelnden Christenheit in Deutschland die Worte zurief: Ein jeder sein Gesichte In ganzer Wendung richte Steif nach Jerusalem! 30

Ich habe eingangs gesagt, es sei mir beim Lesen dieses Buches so ergangen wie nur zweimal in meinem Leben: zwei Bçcher mæchte ich nennen, die mir in einem åhnlichen Rang zu stehen scheinen wie dieses groûe und bedeutsame Buch innerhalb des faktischen Verhåltnisses zwischen der Theologie heute und der des neunzehnten Jahrhunderts. Das eine ist Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung: Sie war nicht nur die Geschichte, sie ist auch das Ende dieser Geschichte. Dies Buch erschien vor vierzig Jahren. Es war das erste Signal. Und ich mæchte es gern neben Barths Geschichte als eine spezielle, im Grunde auf den gleichen Ton gestimmte Untersuchung nennen. Auch hier wird jene Komponente entdeckt, die den »Historismus« des neunzehnten Jahrhunderts auflæst und 29. J. W. Goethe, Vermåchtnis, Goethes Werke, Bd. I, 369. 30. »Kommt, Kinder, laût uns gehen« (G. Tersteegen), EG 393,2. Zitiert in K. Barth, Lutherfeier 1933, TEH 4, Mçnchen 1933, 7.

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die das Geheimnis der Offenbarung wieder zu einem Geheimnis Gottes macht, nachdem es lange Zeit als Geheimnis des Menschen bzw. des Menschen Jesus angesehen worden war: die Eschatologie, die den Evangelien und ihrer Berichterstattung zugrunde liegt. Nur daû Schweitzer, çber seiner Entdeckung selbst erschrocken, als Ergebnis nichts anderes zu sagen weiû als eben dies, daû der Leichnam Jesu zerfetzt in den Speichen des eschatologischen Rades hångt, daû er aber das Rad zum Stehen, d. h. die Liebe vom Himmel auf die Erde gebracht hat. 31 Und ganz konsequent, obschon in der Symbolik dieses seines Tuns von den wenigsten verstanden, legt er seinen Beruf als Theologe nieder, wird Arzt und geht in den Urwald, um an den Schwarzen an seinem Teil gutzumachen, was die Weiûen an ihnen gesçndigt haben. Es muû offenbar nicht leicht sein, die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts zu begreifen ± und weiter, ehrlichen Herzens, Theologe zu bleiben. Und das dritte, das ich hier nennen muû, ist ein unbekanntes Buch, das nur einmal, als Erstlingswerk, erschien, aber dann nie mehr aufgelegt wurde: es ist Karl Heims Weltbild der Zukunft. 32 Heim sieht eine Wendung heraufziehen, die von den Naturwissenschaften kommen wird und die er das Weltbild der Perspektive nennt, also das, was wir heute die Relativitåtstheorie nennen. Sein Buch verhålt sich zur faktischen Relativitåtstheorie so åhnlich wie Kurt Lasswitz' schæner Roman »Auf zwei Planeten« zu der tatsåchlichen Eroberung der Stratosphåre, wie wir sie heute erleben. Aber Heim ± sein ganzes Leben von der Gewiûheitsfrage umgetrieben, eben dieser Frage nach der unmittelbaren, innerlichen Gewiûheit von der Wirklichkeit Gottes; deutlich sehend, daû an den modernen Erkenntnissen der Naturwissenschaft die geistigen Fundamente des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr halten; leidenschaftlich darum ringend, das »dahinter« los zu werden, das uns die Einfalt raubt, und das er als die Teufelsfrage ansieht, mit der uns das Paradies abgeschwåtzt wird; die ganze Epoche von Descartes bis Kant als die des furchtbaren Gegensatzes zwischen Innenwelt und Auûenwelt begreifend ±, Heim sieht den Menschen auch auf einer letzten Station: nur noch ein Schritt, und er ist gerettet: Gibt es kein Drauûen, dann gibt's auch kein Drinnen, dann wird endlich der Mythos eines in einem Menschenleib wie in einem Fetisch eingeschlossenen Ich zersprin31. A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tçbingen 1906, 367. Der Passus ist in der Bearbeitung fçr die 2. Auflage (Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tçbingen 1913) von Schweitzer gestrichen. 32. K. Heim, Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, Berlin 19041 / Wuppertal 19802 . Seitenangaben nach dieser zweiten Auflage.

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gen, dann werden wir nicht mehr gequålt werden von dem låcherlichen Verdacht, daû Gott, der Name, der Gedanke Gott, ein subjektives Gebilde sei, eine Erfindung des Menschenhirns, lediglich darum, weil gerade an dieser »Stelle« uns das »Licht« aufgeht; dann werden wir frei werden von dem furchtbaren Zauber der Unterscheidung zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich und werden wieder ± wie neugeboren ± zu »dem groûen Wurfe Gott jauchzend Ja sagen«. 33 Heim hat dies Buch nicht aufrechterhalten, was er spåter schrieb und sagte, ist als langsamer Rçckzug zu verstehen von dieser vielleicht zu frçh, vielleicht zu romantisch bezogenen Position (die einem Manne wie Kåhler so schwer einging). Aber tatsåchlich erfçllt sich mehr und mehr von dem, was er geahnt ± und das groûe Thema Theologie und Naturwissenschaften, das zu den leider vergessenen Themen im neunzehnten Jahrhundert gehært, ist von ihm in seiner radikalen Bedeutung neu gesehen worden. Immerhin ± Schweitzer, als er sah, daû die Zeit »erfçllt war« (Gal 4,4), die Zeit der historischen Theologie und der Psychologie, brach er seine Zelte ab und suchte seine Resignation im Christentum der Tat zu heilen. Heim, als er erkennen muûte, daû er in seiner Zeit stand wie ein Mensch von morgen ± unter lauter Schlafenden; daû sein Geist seismographisch das groûe Leben fçhlte, das die anderen erst zwei Jahrzehnte spåter nicht mehr leugnen konnten: Heim lieû die Auflage einziehen und hat nie mehr davon gesprochen, wovon er hier zu sprechen wagte. Beide standen an der Schwelle, beide haben dem neunzehnten Jahrhundert ganz und radikal ins Herz gesehen und begriffen, daû es fçr die Theologie kein Zurçck und keinen Stillstand gibt ± aber beide sind zurçckgebebt, als sie die Tçr nach vorn auftaten und den Blick in die Wçste taten, die sich da zeigte. ± Karl Barth in jenen denkwçrdigen beiden Semestern in Bonn, ein Jahr vor dem zweiten groûen Beben, das çber unseren Kontinent kam, Karl Barth ist durchgestoûen. Er hat einen Punkt jenseits der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts gefunden, wo er stehen, von wo er auch diese Theologie der Våter in ihrer fundamentalen Bedeutung untergehen lassen kann ± von wo er das Gericht begreifen kann, das sie und uns, sie in uns als ihren Sæhnen trifft, zur freudigen Umkehr nach neuen Zielen. Inzwischen war deutlich geworden, wo der Felsen in die aufgewçhlte See hineinragt, auf den durch den Sprung sich zu retten Wagnis und Heil der Kirche zugleich war, der Felsen, den Barth mit den Reformatoren in dem einen geheimnisvollen Begriff gesichtet und als Rettung ausgemacht hat: das Wort Gottes.

33. Heim, a. a. O., 300.

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2.2 Paul Hazard: La crise de la conscience europenne. 1680-1715 Das neunzehnte Jahrhundert ist ein Jahrhundert des Friedens, in seinem Ende ein Jahrhundert der Auflæsung. Will man unsere Zeit einer der vorangegangenen vergleichen, so wird man an jenen Umbruch denken dçrfen, der sich nach dem Dreiûigjåhrigen Krieg ± weniger in Deutschland als vor allem in Frankreich und England ± vollzogen hat und an den wir erst im achtzehnten Jahrhundert, durch Leibniz vornehmlich, wieder Anschluû finden. Die Blçtezeit, die in Deutschland den Freiheitskriegen folgt und die die reichste Ausdehnung und Wirkung der deutschen Wissenschaft in alle Gebiete und Lånder hinein zur Folge hat ± in Paris und in Moskau ist um 1830 die deutsche Wissenschaft und Philosophie der Traum der Jugend und die Schule der exakten Forschung ±, diese Blçtezeit ist eine spåte, vielleicht darum auch so schnell vorçbergehende Erscheinung im Rahmen der gesamteuropåischen Kultur. Was hier reift, kommt ± verwandelt und umgeschmolzen in dem deutsch-protestantischen Geist ± aus einer sehr viel tieferen Schicht, gehært hinein in einen umfassenderen Rahmen, in einen tieferen Umbruch, als er sich bei uns in der Aufklårung oder auch in der Franzæsischen Revolution vollzog. Und insofern dçrfte es gut sein, neben Barth, der die Geschichte der Theologie im wesentlichen von der deutschen Mitte her schreibt, noch ein anderes Werk zu stellen, das den Wandel des europåischen Bewuûtseins in einem viel græûeren Bezuge schildert, freilich darum auch viel weniger ins Detail, auch nicht ins theologische Detail eindringend, aber dennoch alles um diese Achse sich drehen lassend. Das Buch, das ich dabei im Sinne habe, ist Paul Hazards meisterhaftes Werk: »La crise de la conscience europenne«, das 1935 erschien und heute auch in einer deutschen, leider vællig ungençgenden Ûbersetzung vorliegt. 34 Man mæchte jedem Theologiestudenten raten, sich einmal grçndlich durch diese beiden Bånde durchzuarbeiten, weil sie uns eins zeigen: daû es sich bei dem, was wir die moderne europåische Situation nennen, nicht um Probleme handelt, die man in einzelnen Fachdisziplinen erfassen kann, auch nicht in der Theologie oder Philosophie allein, sondern daû es sich hier um ein neues Lebensgefçhl handelt, das sich auf allen Gebieten ± nicht nur auf der Kanzel, sondern auch im Theater, nicht nur im Denken, sondern auch in der Gesellschaft ±, also in der soziologischen Erscheinung 34. P. Hazard, La crise de la conscience europenne. 1680-1715, Paris 19351 (deutsch Die Krise des europåischen Geistes, Hamburg 19391 ). Seitenangaben nach der deutschen Fassung im Text.

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des menschlichen Daseins durchsetzt. Die Theologie ist in einer Hinsicht auch Ausdruck von diesem neuen Lebensgefçhl, sie formt es nicht, sondern wird von ihm geformt, die Kirche ist in die Verteidigung gedrångt; der Staat, zunåchst der absolutistische, aufgeklårte Staat, ist der Tråger und Beschçtzer der neuen Ideen. Bis heute erscheint die Kirche ± sehr im Unterschied zu dem Tatbestande des Urchristentums ± als Hort der rçckwårtsgewandten, konservativen, dem Neuen gegençber allzeit miûtrauischen Kråfte. Bis heute ± darin auch gånzlich der ersten Zeit der Reformation entfremdet ± verteidigt die Kirche das Alte, låût die Menschen, die nach vorn marschieren, allein, hat vergessen, daû man nicht den neuen Wein in die alten Schlåuche fçllen kann (Mk 2,22), hat vergessen, daû die Christenheit das wandernde Gottesvolk ist, ist nicht nur heimisch geworden auf der Erde, sondern kåmpft und leidet, ja stirbt mit und fçr die alten Ordnungen. Sie sieht, daû die Gesellschaft, deren Interessen sie vertritt, morsch ist; sie sieht, daû sie als Kirche aufgehært hat, Volkserzieher zu sein, daû das Volk unter ihrer Leitung eben nicht lesen und schreiben lernte ± man bedenke, daû in Frankreich und in Spanien wie auch im orthodoxen Ruûland die Massen Analphabeten waren ±; aber sie verteidigt trotzdem die alten Privilegien, sie lebt von gestern und nicht von morgen. Wir haben eine umgekehrte Situation beim Anbruch der Neuzeit, als wir sie beim Ausgang der Antike sehen: Damals sind die heidnischen Schriftsteller und Philosophen bemçht, das Sterbende zu neuem Leben zu erwekken; aber die Christen haben die Hand an den Pflug gelegt und sehen nach vorn, auf ihrem Angesicht wird man nicht den steinernen Zug entdecken, der Lots Weib entstellt, als sie sich umwendet nach Sodom und Gomorrha. Im siebzehnten Jahrhundert hingegen verteidigt die Kirche ihre Tradition und çberlåût es den Philosophen, die Kçnder einer neuen Zeit zu werden, den Menschen ein humanistisches, auf der Erleuchtung des Verstandes begrçndetes Evangelium zu predigen. Die frohe Botschaft, die Europa ± das Europa des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ± durchzieht, ist nicht die christliche, schon gar nicht die theologische, sondern die philosophische. Und erst von hier aus wird man vielleicht die Bedeutung und Græûe der Theologie im neunzehnten Jahrhundert in Deutschland ermessen: In Deutschland wird diese Botschaft wieder ins Verhåltnis gesetzt zur ± Theologie. Paul Hazard hat mit meisterhafter, nur bei den Franzosen anzutreffender Selbstbegrenzung einen Ausschnitt aus dieser ganzen Entwicklung herausgeschnitten, wie wenn man in einem kranken Kærper ± und Hazard ist çberzeugt, daû es sich um die Diagnose einer schweren Krankheit handelt ± ein kleines Stçck herausschneidet und dieses unter ein Mikroskop legt,

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um den Krankheitserreger zu entdecken. Und man wird ihm zugestehen mçssen, daû er das rechte Stçck getroffen, daû er ein ungemein fruchtbares und ergiebiges Teil herausgefunden hat: die Zeit zwischen 1680 und 1715. Er behauptet, daû alles, was hernach kommt, nur Epiphanie, nur Verwirklichung des hier zum ersten Mal Gedachten, des zum ersten Mal zu denken Gewagten ist. »Die entscheidende Ideenschlacht findet vor 1715 und sogar vor 1700 statt. Die Kçhnheiten der Aufklårung (¼) erscheinen blaû und bescheiden neben den aggressiven Kçhnheiten des Tractatus theologico-politicus, 35 neben den schwindelerregenden Kçhnheiten der Ethik. 36 Weder Voltaire noch Friedrich II. haben die antiklerikale, antireligiæse Raserei eines Toland erreicht. Ohne Locke håtte d'Alembert den Discours prliminaire de l'Encyclopdie nicht geschrieben. (¼) Von dieser Periode, die so reich und erfçllt ist, daû sie verworren erscheint, gehen ganz klar und unverkennbar die beiden groûen Stræmungen aus, die das ganze Jahrhundert hindurch weiterflieûen werden; die eine ist die rationalistische Stræmung; die andere, winzig in ihren Anfången, aber spåter çber ihre Ufer tretend, ist die sentimentale Stræmung.« (506 f.) Ein besseres Stichwort fçr die Problematik des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland kann kaum gegeben werden, denn hier flieûen nun diese beiden, die rationale, wissenschaftliche, und die sentimentale, die aus dem Erleben stammende, ins Erleben zurçckkehrende, zusammen. Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschland sucht beide zu vereinigen, die Idee und die Wirklichkeit, die Vernunft und die Geschichte. Und gerade dieser so spåt, vielleicht zu spåt kommende Versuch kennzeichnet die Theologiegeschichte. Aber es geht nicht nur um Ideen, sondern auch darum, fçr diese neuen Ideen neue Tråger zu finden; die Bahnbrecher der neuen Zeit, die fortschrittlichen Gelehrten, wenden sich nicht an die »Fachleute« und »Repråsentanten der Gesellschaft«, von denen sie selbst nicht selten ausgeschlossen sind ± wie Spinoza oder Bayle, die Sozinianer oder die Jansenisten ±, sondern sie wenden sich an das Volk. Es geht darum, »sich der Masse zu nåhern, um sie zu packen und zu çberzeugen« (507). Eine neue Art von »Kirche«, das heiût glåubiger Gemeinschaft, entsteht, eine mit den offiziellen Kirchen rivalisierende, auch ihren Glauben und ihre Propheten aufweisende Bewegung. Mit einer Kraft des Leidens und einer Lebendigkeit der Hoffnung, daû alle Macht von oben diesen durch die Menschheit laufenden Strom einer neuen Vision nicht hindern kann. Geistig wird diese Be35. B. de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 1670. 36. B. de Spinoza, Ethica, 1677.

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wegung die Universitåten und die Salons erobern, wird das Theater zur Ståtte seiner Verkçndigung machen und die Literatur, insbesondere die neuaufkommende Presse, die Zeitung, zum Flugblatt fçr ihre Botschaften, Fehden, Ideen und Ideologien, durch die sie die unsichtbare Gemeinde ± die Massen ± lenken und zu ungeahnten Ausbrçchen veranlassen. Halten wir einen Augenblick inne: Was sind çberhaupt Ideen? Es ist primår franzæsisch, die Geschichte als Ideengeschichte zu fassen, und Voltaire war der erste, der eine histoire de philosophie bzw. eine philosophie d'histoire entwarf. 37 Es geht offenbar zurçck auf den Gedanken, die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Fakten und Einzelheiten in einen kohårenten Zusammenhang zu bringen, es hångt aufs innigste zusammen mit dem Erwachen des organischen Denkens in der Naturwissenschaft. Wie, wenn auch die Geschichte einen solchen in sich lebendigen Organismus håtte? Mçûte er nicht in Erscheinung treten, mçûte er sich nicht vor unserem geistigen Auge bewegen, wenn es uns gelånge, die verschiedenen Teile passend zusammenzusetzen, eine Idee im Ganzen als das innere Gesetz zu entdecken? Diese Idee ist das Leben oder, wenn man so will, der Fortschritt ± denn beides ist eins. Wer Fortschritt sagt, sagt Leben, und wer Leben sagt, sagt Fortschritt. Anders kann es sich das Geschlecht der Voltaire und Leibniz nicht denken! Und damit ist auch bereits die Immanenz des Schicksals gegeben, denn wenn ein Zeitalter seine Stunde begreift, wenn es weiû, welches seine Phase ist in dem Gange des Ganzen, wenn es sich so seiner Sendung und damit auch seiner Beziehung nach rçckwårts und nach vorn bewuût wird, dann steht es im Ganzen. Es ist das Leiden dieser groûen Geister um die Jahrhundertwende zwischen 1680 und 1700, daû Europa als Ganzes, Europa als Vielheit von Nationalstaaten bzw. Dynastien diesen seinen Beruf nicht begreift, daû es sich in endlosen Kriegen erschæpft, daû es seine Kråfte nach innen statt nach auûen wendet ± Leibniz råt den europåischen Staaten, sie sollten sich nach auûen wenden, Ruûland gegen Sibirien und die Krim, England gegen Amerika, Frankreich gegen Afrika, Holland gegen Indien und Ústerreich gegen die Tçrkei, und so wçrde ein europåisches Gemeinwesen entstehen, das dem Gedanken des Fortschritts entspricht. Sie sind alle Paneuropåer, nicht mehr; aber das sind sie, und das vererben sie dem neunzehnten Jahrhundert in Deutschland. Noch Hegel, noch Marx kænnen sich die Weltgeschichte nicht anders denken als durchgefçhrt von den fçhrenden europåischen Nationen, und

37. Voltaire, La philosophie d'histoire (The complete Works of Voltaire Vol. 59), Genf / Toronto 1969.

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selbst Ritschl erklårt noch, daû das Christentum auf Europa und die weiûe Rasse im wesentlichen beschrånkt bleiben werde. Aber was sind Ideen? Wie kænnen Ideen Geschichte machen? Machen nicht ± um den Gegenbegriff zu zitieren ± Månner die Geschichte? 38 Nur ± inwieweit sind Månner Repråsentanten von Ideen? Inkarnationen, in denen sich eine Zeit ihrer Idee nach bejaht und gefçhrt findet? So wird es Hegel verkçndigen ± und jenes Rankesche Argument dagegen ist nur eine Variante, kein Widerspruch zu der ideologischen Geschichtsschreibung. Ein Gegensatz wåre es nur, wenn nicht Menschen die Geschichte machten, sondern Gott der Herr der Geschichte wåre. Aber diese revolutionåre Wendung von Bossuet zu Voltaire, die Hazard beschreibt, ist wohl eine Wendung zur Geschichte, aber gleichzeitig eine Abwendung von Gott. In der Wahl zwischen Gott und der Geschichte wåhlt man die letztere und glaubt so, sich fçr Gott entschieden zu haben. Denn man meint, daû sich im Verlauf der Geschichte der Wille Gottes manifestiert. Geschichte ist Offenbarung, im einzelnen, in der Seele, in der bewuûten und unbewuûten Tiefe des Erlebens ± wie auch im groûen: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Hazard schildert diesen Aufbruch, diese ungeheure Wendung in einem dramatischen Gemålde. Er schildert, wie man die Grundprinzipien der Herrschaft und den Begriff des Rechtes antastet, wie man die Gleichheit und die vernunftbegrçndete Freiheit des Individuums verkçndigt; wie man ± långst vor der Franzæsischen Revolution ± von »Menschen- und Bçrgerrechten« als der gesellschaftlichen Neuordnung sprach: »alles um 1760 uralte Geschichten!« (507) Schon fast seit einem Jahrhundert diskutiert man sie in aller Úffentlichkeit. Es ist nçtzlich, ein solches Buch zu studieren. Einmal, um frei zu werden von dem Wahn, der nach 1848, besonders in den christlichen Kreisen Deutschlands, in Pfarrhåusern und auf den Lehrkanzeln der orthodoxen Theologen sich breit macht, als ob alles Ûbel von der Franzæsischen Revolution stamme. Deren Wurzeln liegen tiefer, und wer sie ausreiûen will, soll wohl çberlegen, ob er damit nicht auch das Erdreich aufreiût, auf dem unser neuzeitliches Dasein ruht. Der Kampf gegen die Ideen der Franzæsischen Revolution hat in Preuûen zu der Geschichte von 1864 bis 1945 gefçhrt und in den sçddeutschen nichtpreuûischen Låndern zu der romantischen Reaktion eines gemeinchristlichen Konservativismus. Es ist weiterhin nçtzlich, solch ein Buch grçndlich zu lesen, um zu sehen, wie wenige fçhrende Geister ein ganzes Jahrtausend ± das des mittelalterlichen autoritåren Klassizismus ± aus den Angeln heben. Das Tier38. H. von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert I, Leipzig 1879, 28.

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und Pflanzenreich entfaltet sich ohne den Antrieb von Ideen. Man mag heute gegen Ideologien sagen, was man will, man mag die Ismen zu Tode verurteilen, man mag sich die Ohren verstopfen vor »Weltanschauungen«: solange Menschen noch nicht zu Tieren geworden sind, wird niemand sie hindern kænnen, auf Ideen zu reagieren. Mir ist es manchmal peinlich, wenn wir hæren, daû Christen solche Menschen sind, die frei sind von »Ideologien«. Zum mindesten mçûten wir doch noch so weit Menschen mit einem mitfçhlenden Herzen sein, daû wir wenigstens mit unseren Brçdern nach dem Fleisch trauern und mit ihnen lachen kænnen, daû wir nicht wie tote Gespenster durch diesen Zauberwald von neuen Ideen und Bildern gehen, in denen das neue Jahrhundert, das Jahrhundert des Experiments und der Maschine, von den Mæglichkeiten tråumt, sein Dasein zu verbessern und das græûtmægliche Glçck der græûtmæglichen Anzahl zu erzielen. Der Abschied der Jugend von dem Menschenalter, das die Religionskriege in Deutschland und in Frankreich zu verantworten hatten, ist ein grundsåtzlicher. Die Toleranz ± so werden Hobbes und Grotius lehren ± ist auch eine Mæglichkeit. Und zwar eine viel christlichere, als die, seinen Glauben mit dem Schwert, mit der Macht zu behaupten. Das wahre Christentum ist in den sich behauptenden, dafçr ganz Europa verwçstenden Konfessionskirchen nicht zu finden, es liegt in der natçrlichen Religion, die auch als Kritik der biblischen Ûberlieferung einleuchtend und erleuchtend ist. Denn auch in der biblischen Geschichte vollzieht sich eine Entwicklung, und die natçrliche Religion ist die Idee ± die die ganze Menschheit umspannende Idee ±, die hier als werdende gezeichnet wird. Jesus ist das Urbild des wahren Menschen! Man will nicht nur eine neue Welt, man will auch eine neue Religion. Die Idee vertrågt sich nicht mit dem Deus incarnatus, mit der These, daû ein Individuum, ein endlich-begrenztes Wesen, in sich die Fçlle der Gottheit bergen soll. Die Ideen kænnen sich nur adåquat, nicht absolut verwirklichen. Nur annåhernd, nur so, daû der Eingeweihte, der Geisttråger, sie in der ihnen fremden Hçlle erkennen kann. Die Fleischwerdung des Wortes ± das wåre mehr als die Adåquation! Das wåre Erfçllung und Ende aller Zeiten! Das wåre das Ende der Zeit mitten in der Zeit! Das wåre Endgeschichte mitten in der Geschichte! Und mit der Inkarnation fållt auch das Dogma als die Schranke, die dem freien Denken gesetzt ist ± Voltaire wird der Schlachtruf werden im Niederreiûen dieser Schranken, und mit dem Dogma fållt auch der Begriff der sichtbaren Kirche, der Heilsanstalt ± die Kirche steht vor der Alternative, entweder als Sekte, als private Glaubensgenossenschaft, als Konventikel, weiterzuexistieren, sichtbar, aber nicht æffentlich, geschçtzt, aber nicht autorisiert,

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oder Dienerin zu werden der allgemeinen, der universalen Menschheitsideen und insofern nur als unsichtbare Gemeinde das Ganze zu umspannen. Aber beides ± universal zu sein und als sichtbare Heils- und Gnadenanstalt zu existieren ±, das ist fçr dieses neue Jahrhundert, das mit Bayle, mit Locke und Spinoza, Newton und Leibniz anbricht, indiskutabel. Die Religion lebt weiter, glçhend und als ein Entgelt fçr die Entzauberung des Daseins, die diese neue Weltansicht bedeutet, aber als Mystik in Frankreich durch Fnlon und Madame de Guyon, als Puritanismus in England durch Wesley und Whitefield, als Pietismus in Deutschland durch Spener und Zinzendorf. Paul Hazard schreibt offensichtlich sein Buch, um der Moderne den Spiegel vorzuhalten. Er spricht als ein religiæser, und zwar als katholischer Denker. Er sieht in Europa den verlorenen Sohn, der gerufen ist, umzukehren, den weiten Weg zurçck, den er seit Spinoza und den Enzyklopådisten angetreten hat, um die Vernunft als das Vermægen der schrankenlosen Kritik und den Menschen als das Maû aller Dinge zu setzen. Wir fragen uns: Wird die Selbsterkenntnis, die heute als Akt europåischer Besinnung gefordert ist, von dieser Art sein mçssen? Hat nicht bereits die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, die Theologie der lutherischen Restauration, haben nicht bereits die Romantiker, Novalis und der åltere Schlegel, so gesprochen? Ist das klassizistische Ideal des Katholizismus ± wobei der Ordnungsgedanke voransteht und auch die Wahrheit zur Kunst des geordneten Denkens wird ± das rechte Ziel solcher Umkehr? Wer erst einmal die Idee geschmeckt hat, so wie sie hier geschmeckt wurde ± wer von ihr ergriffen und so in Unruhe versetzt ist: wie ist er zu erlæsen? Die protestantische Theologie des neunzehnten Jahrhunderts hat diese Problematik empfunden wie wenige; aber sie hat in ihren besten Vertretern die Antwort nicht in einem Lebensstil, sondern in ± Christus gesucht. Hæren wir den jungen Isaak August Dorner: »Darum ist es fçr beide Theile gut, wenn in der groûen Schlacht, die zwischen den græûten Måchten der Welt, dem Christentum und der Vernunft geschlagen wird, der Kampf sich immer mehr um den Punkt versammelt, wo allein alles zu gewinnen und alles zu verlieren steht. Fçr die Theologie keineswegs darum, als ob sie, aus so manchen sonst fçr wesentlich geachteten Stellungen vertrieben, noch die letzten Kråfte zur Deckung der Person des Feldherrn gegen die andringenden Gegner aufzubieten håtte, sondern vielmehr, weil diese Person allein 39 , als Mittelpunkt des Ganzen, die Stellungen, welche behauptet werden dçrfen und mçssen, zu bezeichnen, und alles als ein 39. Iwand notiert in Klammern: nåmlich der Gottmensch Jesus Christus.

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geschlossenes Ganzes den Angriffen entgegenzusetzen und zu decken vermag. Die Philosophie weiû nun den Punkt, wohin ihre Angriffe, falls sie treffen sollen, fallen mçssen.« 40 »Ist Christus, wie die Theologie çberzeugt sein muû, der Schlçssel zur Weltgeschichte, wie zur Læsung aller Råtsel, so ist es nicht Demuth, sondern eigenwillige Unthåtigkeit, diesen Schlçssel nicht zur Aufschlieûung aller Geheimnisse immer besser brauchen lernen zu wollen.« 41 Es muû ± so denkt die Theologie jener Jahre (1839) ± gelingen, den Gegensatz von Vernunft und Religion, den Zwist zwischen den Rationalisten und den »Religionåren«, wie Pierre Bayle die beiden Parteien nannte, in einer hæheren Einheit aufzulæsen ± in der Einheit, die mit der Person Jesu gegeben ist, in dem »das Gættliche« und »das Menschliche« eins geworden sind. Aber hæren wir Dorner noch einmal: »Wåre es zur philosophischen Anerkennung gebracht, daû die Idee eines sowohl historischen als idealen Christus eine notwendige sei, und wåre die spekulative Construktion der Person Christi einmal gelungen, so ist ebenso klar, daû dann Philosophie und Theologie, wesentlich und innerlich versæhnt, fortan eine gemeinschaftliche Arbeit håtten, oder vielmehr eigentlich eins geworden wåren: und die Philosophie håtte darum ihre Existenz nicht aufgegeben, sondern bekråftigt.« 42 Gibt es eine Versæhnung von Glauben und Wissen: das ist die Frage, die Hazard meint, auf die das neunzehnte Jahrhundert in der deutschen Theologie antwortet. Gibt es sie? Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts ist so weltfremd und abwegig nicht, wie man meint. Sie wird die Fragestellung des Zeitalters aufgreifen und sie auf eine Formel bringen: Christus und die Idee. Das ist schon ein unerhærtes, uns bis heute beherrschendes Thema. Es ist die Frage nach der christlichen Weltanschauung, die Frage, der alle diejenigen bewuût oder unbewuût nachgehen, die ± so wie die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts alle Erscheinungen des Lebens auf die Idee, auf ihre wahre Wesenheit zurçckfçhrte ± nun an die Stelle der Idee Christus setzen. Christus als Ursprung des Rechtes oder der Erkenntnis, ja sogar ± die Nazarener haben es versucht ± Christus als Ursprung der wahren Kunst. Oder, das haben dann Stahl und der unglçckselige Romantiker auf dem Thron, Friedrich Wilhelm IV., versucht, Christus als der wahre Kænig, dem alle 40. I. A. Dorner, Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi in den ersten vier Jahrhunderten, Stuttgart 18452 , XIV (Einleitung zur ersten Auflage 1839). 41. A. a. O., XVI. 42. A. a. O., XIV.

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Herrschaft zugeordnet ist. Denn die Idee ist die Mitte, die Einheit in dem Werden, in den Gegensåtzen, die das Dasein beherrschen. Die Idee ist das Jenseits, in dem Friede ist, in dem die Gegensåtze aufgehoben sind. »Die Idee ist die Einheit des Begriffs und der Realitåt.« 43 Man bedenke: des Begriffs und der Realitåt. Heiût das nicht: Der Logos ± die in Gott wesenhafte Idee Gottes von sich selbst ± wurde Realitåt, Geschichte? Das meint nicht nur die Theologie, sondern auch die Philosophie, die deutsche Philosophie des Idealismus. »Es kommt dem Glauben auf das sinnliche Geschehen gar nicht an, sondern auf das, was ewig geschieht. Geschichte Gottes« 44 , vermerkt Hegel am Ende seiner Enzyklopådie auf einem Zettel. Und: »Gott hebt die Trennung des Diesseits von dem als einem Jenseits Vorgestellten auf [!] und ist das ewige Leben. Diese Identitåt wird angeschaut in Christus.« 45 In Christus ist der Gegensatz von Mensch und Gott, von Sçnde und Gott aufgehoben. In ihm ist die Idee Gottes ± Realitåt. »Der Himmel ist bei uns auf Erden, im Glauben schauen wir ihn an; die eines Geistes mit uns werden, auch denen ist er aufgetan«. 46 So steht es in unserem Gesangbuch ± sehr friedlich neben dem so ganz anderen: »Den aller Welt Kreis nie beschloû, der liegt in Marien Schoû; er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhålt allein« 47 . Christus und die Idee! Gibt es dies Thema nicht schon im Neuen Testament? Heiût Idee nicht gerade das immer çber alle Erscheinungen Hinausragende, das sie Aufhebende, Verwandelnde, Umstçrzende? Kommt Christus so in die Welt wie die Ideen? Ist vielleicht das Thema: Christus und die Idee schon das geheime Thema der Versuchungs- oder auch der Passionsgeschichte? Ist der Anstoû, den die Juden an diesem Jesus nehmen, derselbe, den der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts nehmen wird, nåmlich der, daû die Gottesidee in diesem Jesus von Nazareth eben nicht wiederzuerkennen ist? Und liegt vielleicht hier ± in der theo43. G. W. F. Hegel, Philosophische Propådeutik II. Zweite Abtheilung. Logik, SW Bd. 3, Stuttgart 1927, 142 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 4, 202). 44. G. W. F. Hegel, Philosophische Propådeutik III. Zweite Abtheilung. Philosophische Encyklopådie, SW Bd. 3, 226 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 4, 68). 45. Ebd. (= Theorie-Werkausgabe, Bd. 4, 67). 46. Friedrich von Hardenberg (Novalis), »Was wår ich ohne dich gewesen?«, 3. Strophe: O geht hinaus auf allen Wegen und holt die Irrenden herein, streckt jedem eure Hand entgegen und ladet froh sie zu uns ein. Der Himmel ist bei uns auf Erden, im Glauben schauen wir ihn an; die eines Geistes mit uns werden, auch denen ist er aufgetan. 47. »Gelobet seist du, Jesu Christ« (M. Luther), EG 23,3.

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logia crucis (Kreuzestheologie), in dem Ørgernis Kierkegaards ± die Warnung, die uns auch heute vor dieser Grenze anhalten kænnte, die die Theologen des neunzehnten Jahrhunderts in bester Absicht, in der Absicht, eine christlich-universale Weltanschauung zu schaffen, immer wieder çberschritten haben, bis sich die Idee des Christentums ganz und gar ablæste von diesem Jesus von Nazareth und so eben dann doch die Menschwerdung keine wirkliche Menschwerdung war? Und ob der Begriff der Geschichte gençgt, um die Grenze zu markieren, die zwischen Idee und Offenbarung låuft? Die Geschichte ist ja gerade die Erscheinungsform der Idee. Geschichtlich, historisch denken alle groûen Theologen des neunzehnten Jahrhunderts, von Schleiermacher und Baur angefangen bis zu Ritschl und Harnack. Es ist nicht ihre Absicht gewesen, im Mythos zu enden. Sie haben hoch genug angesetzt, sie haben Geschichte gesagt im Gegensatz zur Aufklårung, sie haben gemeint, der Abstraktion auf diese Weise zu entrinnen. Aber eins haben sie nicht beachtet, was in seiner Art freilich erst Leute wie Feuerbach und Nietzsche gesehen haben: daû Ideen nicht unbedingt ins Reich des Lichtes gehæren, daû es eine Metamorphose geben kænnte der Måchte aus dem Reich der Finsternis in das Reich der Ideen. Die theologia crucis (Kreuzestheologie), die paulinisch-reformatorische Dialektik von Gesetz und Evangelium ist ihnen total fremd. Auch die Biblizisten unter ihnen haben an diesem Punkt kein Sensorium mehr. »Ist denn, was doch gut ist, mir zum Tod geworden? Das sei ferne! Sondern die Sçnde, damit sie recht als Sçnde erscheine, hat mir durch das Gute den Tod gebracht, damit die Sçnde çberaus sçndig wçrde durchs Gebot« (Ræm 7,13). Diesen Klang suchen wir allerdings vergeblich, diese »Stærung« des Systems. Es geht in der Theologie ± solange diese Theologie bleibt ± eben nicht um die Idee Gottes und die Idee des Menschen, sondern es geht um den Deus iustificans (rechtfertigenden Gott) und den Menschen als homo peccator (Sçnder). 48 Sçnde ist das Prådikat dieses Menschen, der das Gute will. Sçnde als das nun wirklich irrationale Geschehen, als das nicht mehr auf etwas, was nicht Sçnde wåre, reduzierbare. Sçnde als das den Menschen bei sich selbst behaftende Wort, das unergrçndliche Phånomen, das durch das Gute ± die Idee ± in Erscheinung treten soll, als çber alle Zeit und Endlichkeit hinausreichende Frage. Als die nun allerdings andere, bittere, 48. Vgl. Luther, WA 40 II, 328, 17 f.: »Theologiae proprium subiectum est homo peccati reus ac perditus et Deus iustificans ac salvator hominis peccatoris.« (Das eigentliche Thema der Theologie ist der schuldige und verlorene Mensch und Gott, der den sçndigen Menschen rechtfertigt und rettet).

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Einfçhrung

mich selbst fesselnde schlechthinnige Abhångigkeit, die ± so gesehen, von der iustitia Dei (Gerechtigkeit Gottes) her gesehen ± nach dem Menschen ruft, der ihr, der Sçnde, gegençber frei ist. Das Thema Sçnde ist in dieser Fassung nicht auffindbar; es geht um Idee und Geschichte, um Gott und Mensch, es geht um die Einheit des Weltbildes. Aber heiût nicht Sçnde gerade, daû dies monistische Weltbild, sei es nun christlich oder antichristlich gefaût, in jedem Falle an der Wirklichkeit, an meiner Wirklichkeit vorbeigeht? Daû wir in der Theologie nicht vom Ganzen ausgehen und den einzelnen darunter subsumieren kænnen ± weil die Sçnde nichts Generelles noch etwas Subjektives ist, weil hier, im Bekenntnis ± und zwar im æffentlichen Bekenntnis ihrer ±, jeder einzelne und der Mensch schlechthin eins werden? Darum beginnt das Evangelium nicht da, wo die Philosophie beginnt, beim Allgemeinen. Und selbst der wissenschaftliche Einsatz der Theologie muû ± jedenfalls von der Idee des Wissens her angesehen ± verkehrt erscheinen. Es geht nicht um Gott an sich und den Menschen an sich, sondern um den Deus iustus (gerechten Gott) und den Menschen als homo peccator (Sçnder) ± wenn es anders wåre, kænnte es vielleicht christliche Philosophie, aber ganz gewiû keine Theologie geben.

2.3 Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert Um Wissenschaft freilich geht es dem neunzehnten Jahrhundert. Hier wird die Ernte geborgen, die die Aussaat des achtzehnten erbringt. Welche ungeheuren Fortschritte zeigen die Wissenschaften ± so muû man jetzt reden, denn nun entstehen die Fachwissenschaften, die das Leben, das konkrete, in Geschichte und Natur sich uns zeigende Leben untersuchen und ergrçnden. Will man einen Einblick gewinnen, was unser Jahrhundert auf diesem Gebiet leistete, so muû man sich Schnabels Geschichte Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert ± vier Bånde ± ansehen. Wieviel reicher ist hier, von dem Katholiken, dem Sçddeutschen, der die Bedeutung des Partikularismus fçr die Kultur zu werten weiû, alles gesehen als in der allzu einseitig zugeschnittenen Geschichte Treitschkes, die etwa den gleichen Zeitraum umfaût! Denn die groûe Zeit des neunzehnten Jahrhunderts liegt in seiner ersten Hålfte. Sie liegt in dem Aufschwung der Rechtswissenschaft unter Savigny, der ± unter Ûberwindung des Naturrechts ± die historische Rechtsschule begrçndet; denn »das Recht wåchst mit dem Volke fort, bildet sich aus mit demselben und stirbt endlich ab, so wie das Volk

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seine Eigentçmlichkeit verliert«. 49 Die Grundlage des Rechtes ist sein geschichtliches Gewordensein; die Sitte, Wissenschaft und Gesetzgebung sind nur Hilfsmittel und Organe dieses mit Tradition und Geschichte verflochtenen organischen Rechtes. So hat er dann das »ræmische Recht« neu interpretiert und hier seine bleibende Leistung vollbracht. Oder denken wir an die Sprachforschung der mit Savigny eng zusammenhångenden Brçder Grimm, die Herders Gedanken çber die Sprache und ihr Wachstum aufnehmen und von der Sammlung der Mårchen bis hin zu der seit 1819 erscheinenden Deutschen Grammatik Sprache und Welt zueinander in Beziehung setzen. Neben ihnen begrçndet Karl Lachmann die altdeutsche Philologie durch exakte Herausgabe der altdeutschen Handschriften. Von der Sprache her ist Wilhelm von Humboldt zur Philosophie gedrungen; ihm ist sie das Individuelle, und er fordert im Unterschied zu Hegel, daû jede Geschichtsepoche ebenso individuell ± also als in sich selbst beschlossen ± erfaût werde. Sein Programm wird dann von Ranke ausgefçhrt werden unter dem Motio: »Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott.« 50 Aber keine Epoche ist als solche etwas Universales. »Eben darum folgen die Zeiten aufeinander, damit in allen geschehe, was in keiner einzelnen mæglich ist, damit die ganze Fçlle des dem menschlichen Geschlecht von der Gottheit eingehauchten geistigen Lebens in der Reihe der Jahrhunderte zu Tage komme« (87). Ranke, der an B. G. Niebuhrs Methode (vgl. 36-49) anknçpft, hat dann das Prinzip der genauesten Quellenstudien, der Objektivitåt, zur hæchsten Entfaltung gebracht. Er hat gesagt: »Ich mæchte mein Ich auslæschen«, und meinte damit, er wolle sehen, »was gewesen ist« (90) (vgl. Schlatter!). Jetzt grçndet der Freiherr vom Stein die Gesellschaft fçr Deutschlands åltere Geschichtskunde und legt den Grundstein fçr die Monumenta Germaniae historica, deren erster Band 1826 erscheint. Hier fanden Rankes Schçler die beste Mæglichkeit fruchtbarster Arbeit. Organischem Denken entstammt auch die Neubegrçndung der Geographie, die Karl Ritter, dem groûen Geographen, dessen Erdkunde seit 1817 erscheint, gelingt. Ihm ist die »Erde ein organischer Naturkærper, der wie ein Samenkorn mit allen inneren Keimen der Entwicklung und Entfaltung ausgerçstet, von dem Såmann in das Feld der Sonnenbahnen geworfen ist, da aufzugehen, zu wachsen und zu blçhen und zu rechter Zeit seine 49. F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Erfahrungswissenschaften und Technik, Freiburg i.Br. 19341 , 55. Seitenangaben im Text. 50. L. von Ranke: »Ich behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst« (Ûber die Epochen der neueren Geschichte [1854], in: L. von Ranke, Weltgeschichte IV, Leipzig 19103 , 529).

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Ernte, seine Frucht zu tragen« (114). Da mitten hinein gehært dann auch Schleiermacher, der auch die Geschichte ± und nicht die Spekulation ± zum Ausgangspunkt der Theologie, das organische Denken zum Gegenstand der Religionsbestimmung macht. Nachdem in der Lebenszeit Goethes und der Romantiker das deutsche Geistesleben einen weit çber die deutschen Grenzen hinausgehenden, in England und Frankreich tiefe Eindrçcke hinterlassenden Aufschwung bekommen hatte, folgte im ersten Teil des neunzehnten Jahrhunderts die Wissenschaft dem bald nach. Allem voran die klassische Philosophie und die Archåologie. Hegel wirkte geistig bei den Franzosen, und Herder erschloû den Slawen ihre eigene Geschichte, hatte er doch gerade in seinem »Slawenkapitel« 51 die osteuropåischen Vælker gefeiert, denen die Zukunft gehæren werde: »ex oriente lux« (»Licht aus dem Osten«). Kein Wunder, daû nun die jungen slawischen Studenten auf deutsche Universitåten zogen, weil sie hier jene groûe Liebe zum Slawentum fanden, die Grimm und Goethe mit ihrer Autoritåt ståndig stårkten. So ist der tschechische Nationalismus in Jena ± unter dem Eindruck der Freiheitskriege ± geboren, und die russischen Studenten haben Hegels Gedanken nach Ruûland getragen und Moskau zum Hauptsitz seiner Philosophie gemacht. Alexander Herzen und seine Freunde lesen Hegel wie ein Mysterium, »nåchtelang« wird çber jeden Paragraphen der Østhetik debattiert (157). Von Hegel her kommt der Begrçnder der Slawophilen, Michail Katkow, wie auch der erste Anarchist, Michail Bakunin. Øhnliches lieûe sich aus diesem wichtigen Jahrhundert nun auch von den naturwissenschaftlichen Bildungsståtten Deutschlands sagen, die allerdings erst spåter zu Weltruf gelangten. Sie stehen auf ihrer Hæhe, als die historischen und philosophischen Leistungen bereits den Zenit çberschritten haben. Aber in diesem Jahrhundert wirkt Justus Liebig, der Darmstådter Apothekerlehrling, der mit vierundzwanzig Jahren Professor in Gieûen wird und dort die organische Chemie entwickelt. Oder denken wir an Alexander von Humboldt, der sich aus der Naturphilosophie læst und als erster Deutscher die experimentelle Naturforschung in groûem Ausmaûe pflegt. Er entwarf den Gedanken einer Weltphysik 52 und nannte es selbst einen

51. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, mit einer Einleitung von H. Luden, Leipzig 1821 (Vierter Teil: Geschichte der europåischen Vælker ± Slawische Vælker, 16. Buch, IV. Teil). 52. A. von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bde., 1845-1862, Neuausgabe der ersten beiden Bånde in: Werke. Studienausgabe Bd. 7, hg. von Hanno Beck, Darmstadt 1993.

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»tollen Einfall, (¼) die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsråume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfeldern wissen, alles in einem Werke darzustellen« (200). Und dann Carl Friedrich Gauû, der mit achtzehn Jahren 1795 sein erstes, in der Arithmetik epochemachendes Werk geschrieben hat. Damals sind in Gættingen viele Dinge geschehen, die heute noch die Welt bewegen. Die Medizin beginnt jetzt mit dem Mikroskop zu arbeiten. Es ist kaum hundert Jahre her, seit Johannes Mçller in Berlin mit einem Mikroskop in die Vorlesung gekommen ist. Gleichzeitig mit diesem Aufschwung der Naturwissenschaften vollzieht sich die technische Revolution, indem zu den Baustoffen Holz und Stein das Eisen hinzukommt. Kohle und Eisen wurden die beiden wichtigsten Rohstoffe. Das »­eiserne Zeitalter¬ begann« (247). 1769 erwarb James Watt sein Patent fçr die Dampfmaschine, die es ermæglichte, die in der Erde aufgespeicherten Sonnenenergien industriell zu verwenden. 1770 wurde die erste Spinnmaschine gebaut; 1786 folgte die Erfindung des mechanischen Webstuhls; 1789 ± gleichzeitig mit der Franzæsischen Revolution ± gelangte die Dampfmaschine zum ersten Mal in eine Spinnerei. In Manchester entsteht die erste Industriemassierung, die Baumwollspinner von Manchester vollziehen die »Betriebsorganisation der Fabrik« (250). Von nun an wird nicht mehr der Mensch, sondern die Maschine das Tempo der menschlichen Arbeit bestimmen. Nun wird das Wirtschaftsprogramm Adam Smith' von der Erzeugung des Reichtums verwirklicht in der Beseitigung aller bçrokratischen und feudalistischen Beschrånkungen. Der Freihandel und der damit gegebene Kapitalismus beginnen, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesicht des Bçrgertums und der »Arbeiter« im neunzehnten Jahrhundert zu bestimmen. Man muû einmal sehen, wie jung diese gesellschaftlichen und nationalækonomischen Probleme sind, gemessen an den anderen, auf eine alte Tradition jetzt gerade zurçckgreifenden. Hier trennen sich nun bald die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften, und es zeigt sich jener Riû, der das alte und nun ganz von neuen Problemen erfçllte Europa an den Rand des Abgrundes bringen soll. Der Verkehr beginnt in einer bis dahin in der Menschheitsgeschichte nie gekannten Weise die Erdteile zu verbinden und die Entfernungen zwischen den græûeren Stådten gering zu machen. 1830 wird die »Baumwollstrecke« Liverpool-Manchester eræffnet; der geniale George Stephenson ± seines Zeichens ein Schmied ± setzte einen Dampfwagen auf Schienen, zehn Jahre vorher war das erste Dampfschiff ± die Savannah ± von New York nach Liverpool gefahren. Theologen wie Vilmar und Schleiermacher haben diese Erscheinungen auch und ge-

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rade als Theologen ernst genommen. Aber wåhrend der eine darin die Auflæsung der urtçmlichen Bindungen, die Zerstærung der Sitte und das Heraufziehen einer såkularen Kultur sieht, erkennt der andere in der Technik die Mæglichkeit zu einer groûen geistigen Entwicklung und Muûe der Menschen. Schleiermacher sieht das kulturelle Moment, und er sieht es nicht falsch, wenn er auch seine Komplikationen noch nicht begreift und nicht sieht, was das gerade fçr seine praktische Theologie håtte bedeuten kænnen. Aber Vilmar sieht trotz aller Abneigung die groûe ækumenische Bedeutung, die dieses Nåherrçcken der Vælker zueinander hat, und erblickt in der sich so vollziehenden Verwandlung des Lebens eine Annåherung an eine neue, wahrscheinlich endzeitliche Epoche der Kirchengeschichte, die Epoche des dritten Artikels oder der Kirche, wie er das nennt. Kulturell und politisch hatte diese Entwicklung unabsehbare Folgen. Die Herstellung der Gewerbefreiheit muûte den Gedanken des Verfassungsstaates, mit dem gleichen Recht aller und der gleichen Aufstiegsmæglichkeit, im Gefolge haben. Die Schulen wurden mehr und mehr vor neue, der Technik zugewandte Aufgaben gestellt, und das humanistische Gymnasium verlor sein Monopol, das es seit Melanchthons Tagen in Deutschland besessen hatte. Dabei hatten die Reformer Goethe auf ihrer Seite, er fand, daû die Gymnasien ihre »Fåcher zu weit ausdehnten, bei weitem çber die Bedçrfnisse der Hærer« (321). Die neuen Gewerbeschulen waren wieder darauf ausgerichtet, Bildung fçr ein bestimmtes Kænnen zu erwerben. Aber die Gefahr bestand, daû der Humanismus ein philologischer Fachberuf wurde, und der »Realismus« so tat, als ob die Ideen und die geistigen Bewegungen nicht zum »Realen« gehærten. Wåhrend England in seinem Bildungssystem nach wie vor eine gewisse Einheit des geistigen und realen Unterrichts zu wahren wuûte, vollzog sich bei uns die Entwicklung zur Fachbildung, die zwar in sich selbst meist ausgezeichnet war, aber den Zusammenhang des Ganzen und damit das Offensein fçr die allgemeinen Menschheitsfragen, wie sie das achtzehnte Jahrhundert entwickelt hatte, verlor. Es kçndigte sich jene Katastrophe an, die daraus geboren war, daû einem immer stolzer und einfluûreicher werdenden technischen Kænnen ein Positivismus in Politik und Ethik zur Seite ging, der diesen Tendenzen nicht gewachsen war und gewachsen sein konnte. Der Nationalækonom Wilhelm Roscher hat diese Entwicklung sehr deutlich in ihren Gefahren gesehen und schreibt um die Jahrhundertwende, daû, wenn es nicht gelingt, einen ethisch-religiæsen Aufschwung zu nehmen, diese Kultur ihrem Untergang entgegeneilt. Hand in Hand mit der Industrialisierung und zunehmenden Abhångigkeit der Industrielånder voneinander gehen Bemçhungen um Abbau der

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Zollschranken, in deren Verfolg dann auch die von Friedrich List so leidenschaftlich vertretene »nationale Solidaritåt« gegençber dem liberalen System sich durchsetzt. Aber vor allem treten jetzt Fragen auf, die fçr Kirche und Theologie mannigfache neue ± wir kænnen einfach sagen ± gesellschaftliche und ethische Probleme bringen: die Vermehrung der Bevælkerung und die Verstådterung. In tausend Jahren war die deutsche Bevælkerung nur auf 20 Millionen Menschen gekommen: jetzt wird sie in einem Jahrhundert 60 Millionen betragen. England hat dies Problem schon frçher vor sich gesehen und Malthus, ein Pfarrer, hatte gehofft, den Wohlstand durch Beschrånkung der Geburten halten zu kænnen. Noch wollte man nicht sehen, daû ganz neue Wege beschritten werden mçssen, um die Lebensformen des Proletariats zu heben und den sich hier ankçndigenden schweren Krisen vorzubeugen. Das ist die Zeit, da der franzæsische Kommunismus entsteht und Karl Marx schlieûlich in seinem Werk »Das Kapital« 1867-94 die alle anderen sozialistischen Theorien çberwindende Gesamtdarstellung gibt. Es ist merkwçrdig: Je mehr es der Technik gelingt, den Menschen frei zu machen von den Unsicherheiten seiner Existenz der Natur gegençber, desto mehr verlagert sich das irrationale, das unberechenbare Element in die menschliche Gesellschaft, die nun zur Ståtte der furchtbarsten Kriege und Revolutionen wird. Die Gesellschaft bekommt etwas den einzelnen wie ein Unheil, wie ein Schicksal Bedrohendes. Er ist nicht mehr in der Lage, fçr sich zu handeln, sondern sein Handeln wird ståndig durchkreuzt und mitbestimmt durch ein Gesellschaftssystem, in dem er nur noch dem Schein nach ein »Individuum«, eine fçr sich existierende Persænlichkeit ist. Das Ethos wird weithin durch diese Vorgånge bestimmt, und das alte, noch von der båuerlichen oder feudalistischen Kultur herstammende Ethos der kirchlichen Lehre erscheint in dieser Welt wie ein Mythos, mit dem der im Leben stehende moderne Mensch nichts anfangen kann und das nun wie alles Kirchliche, einen romantischen Zug erhålt, als eine zwar nicht ernst zu nehmende, aber auch nicht ganz preiszugebende »Verklårung« des Daseins, als seine eigentliche ± ihm den wahren Tatbestand verdeckende ± Ideologie. Es ist nun auûerordentlich interessant zu sehen, wie gerade hier energische Bemçhungen der christlichen Kreise beider Konfessionen einsetzen, um die Bewegung der Gesellschaftsschichten aufzuhalten und das alte ståndische System, wenigstens in seinem Prinzip, zu halten und parteipolitisch zu festigen. Dies ist das Motiv fçr die nach 1814 einsetzende restaurative Politik und das christlich-konservative Bçndnis. Unter diesem Gesichtspunkt sollte man Franz Schnabels und Heinrich von Treitschkes

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Geschichte im neunzehnten Jahrhundert vergleichen ± welch ein Fortschritt und welch ein Unterschied! Treitschke, der die Geschichte aus der ersten Hålfte des Jahrhunderts unmittelbar in die Schilderhebung Preuûens und die Politik Bismarcks und die kleindeutsche Læsung einmçnden sieht. Und nun der sçddeutsche, der katholische Franz Schnabel, der gerade die erste Hålfte des neunzehnten Jahrhunderts in ihrem çberwåltigenden Reichtum schildert, der die besten Details zusammentrågt çber die technischen Wissenschaften und Wandlungen in den kulturellen und verwaltungsmåûigen Lebensformen, der çber eine erstaunliche Kenntnis der Biographie, des ganzen sekundåren und tertiåren Materials verfçgt, der keine Ideengeschichte schreiben will, sondern in gutem Sinne eine katholische Darstellung und Kritik der Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts: mit seinen Maschinen und Industriestådten, aber auch den Gesellenvereinen ± der Kolpingfamilie ± und den christlich-konservativen Bemçhungen solcher Politiker wie Radowitz und Jarcke; des Jahrhunderts der aufblçhenden Wissenschaft in allen Gebieten, durch die Abwendung von der Aufklårung zur Geschichte, ob das nun in der Rechtswissenschaft durch Savigny oder in der Erdkunde durch Humboldt und Ritter oder in der Historie durch Ranke Ereignis wird. Hier wird nun wirklich die Romantik ohne Arg positiv gewertet. Hier wird die Wendung zur Form der mittelalterlichen Einheitskultur positiv gewertet. Ich mæchte hier nur kurz çber den Band 4 referieren, weil uns dieser besonders angeht. Es ist die beste Kirchengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, die wir bisher besitzen, und nicht nur eine katholische, sondern eine gemeinchristliche, die die katholische Kirchengeschichte neben die evangelische stellt und in beiden gleichmåûig viel Verståndnis aufweist. Es ist uns so nçtzlich, auch etwas von der Geschichte des wiedererstarkenden Katholizismus zu wissen. Wie viele wissen çberhaupt, daû erst unter Friedrich Wilhelm IV. die deutschen Bischæfe die Freiheit bekamen, direkt mit dem Vatikan zu verkehren? Wie viele wissen, daû noch auf dem Wiener Kongreû die Verhandlungspartei Wessenbergs den Plan einer katholischen Nationalkirche entwickelte, daû er dort ein Reichskonkordat und einen deutschen Primas forderte? Und es ist aufregend zu sehen, wie gerade die Månner, die aus den Kåmpfen der Franzæsischen Revolution herkommen ± Liebermann und Råû ±, den Ultramontanismus færdern. Sie haben gesehen, daû der Episkopalismus das Staatskirchentum færdert und vertreten von daher die monarchische Kirchenverfassung, die påpstliche Souverånitåt und Unfehlbarkeit ± Mainz wird das Zentrum dieser Bestrebung. Hier taucht auch die Frage der kirchlichen Wissenschaft zum ersten Male wieder konkret auf, insofern als man nicht die Fakultåten will, son-

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dern das kirchliche Seminar, weil es ja gerade gilt, der Såkularisation im Geistigen zu steuern. Der Katholizismus macht in der ersten Hålfte des neunzehnten Jahrhunderts seine groûe Wendung, weg von der Aufklårung, und seine Gegenbewegung gegen die Revolution von unten wie von oben. Von unten, indem man sich mit groûer Kraft der zersetzenden Wirkung des Industrialismus und des Manchestertums entgegenstemmt, die natçrlichen Ordnungen zu wahren sucht und in der ersten Zeit auch darin mit den Protestanten Hand in Hand geht; von oben, indem sich die ersten Kåmpfe gegen den modernen Beamtenstaat, den »akonfessionellen« Staat, der sich als Bçrokratie setzt, ankçndigen. Das erste Signal sind die so bedeutsamen »Kælner Wirren«. 53 Es galt zweierlei: Bonn als Sitz der katholischen Aufklårung, der »Hermesianer« 54 , zu çberwinden und in den Fragen der »gemischten Ehen« 55 das katholische Kirchenrecht durchzusetzen. Der barsche und stolze Graf Droste Vischering, der dem Papst mehr gehorchte als dem Staat, wurde verhaftet, und zum ersten Mal kçndigte sich in Deutschland eine kommende Entscheidung an, die zwischen Kirche und Staat (1837). Jetzt lieû der alte, aus Preuûen vertriebene, aber immer noch geistesmåchtige Gærres ± einer der græûten Publizisten des Jahrhunderts ± seinen »Athanasius« (1838) erscheinen, in dem die katholische und die vaterlåndische Sache eins werden ± im Gegensatz zum modernen »Staat«, dem Staat Hegels und der abstrakten Ordnung. Noch kåmpft der Katholizismus um die »Gleichheit der Konfessionen«, er erhofft die Freiheit in der Kirche, die Freiheit, die der Liberalismus in den Jahren der Revolution ganz anders, ideell ersehnte. »Die Bçrokratie« ± so fçhrte Gærres aus ± »hat die Verfassungsrechte der Kirche (¼) angetastet, sie hat sich erwiesen als das echte Erzeugnis einer gesellschaftlichen und geistigen Zersetzung, die mit dem

53. Vgl. F. Schnabel, a. a. O., 121-128 (106-164). 54. Nach dem katholischen Theologen Georg Hermes (1775-1831) genannt. 1807-1819 Professor in Mçnster, danach in Bonn, wo er eine breite Resonanz und viele Schçler fand. Hermes versuchte, die katholische Dogmatik mit der Kantischen Philosophie und einer von da aus entwickelten Psychologie zu versæhnen. 1835 wurde seine Lehre von Papst Gregor XVI. verurteilt. 55. Nach 1815 wurde im rheinischen Preuûen vom katholischen Klerus mehr und mehr die katholische Trauung von dem Versprechen der Brautpaare abhångig gemacht, zu erwartende Kinder katholisch zu taufen und zu erziehen. Dagegen verfçgte 1825 eine Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III., die Konfession der Kinder von der des Vaters abhångig zu machen. Der Vatikan lehnte dies ab, die konziliantere Haltung der Bischæfe in Preuûen wurde 1837 durch den Kælner Erzbischof Klemens von Droste Vischering beendet.

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Individualismus begonnen hatte, im Rationalismus weitergeschritten war und in der Revolution enden wird!« 56 Schon erheben sich Theologen und religiæse Fçhrer im Katholizismus, die wieder im echten Sinne »katholisch« sind ± im Unterschied zur Indifferenz der Aufklårung: In Mçnster die Fçrstin Gallitzin und ihr Kreis; in Landshut in Bayern der groûe katholische Pådagoge Johann Michael Sailer, der Erneuerer des katholischen Katechismus, dem dann Overberg, der Hausgeistliche der Fçrstin Gallitzin zur Seite trat; in Tçbingen der groûe Theologe Johann Adam Mæhler, der die 1817 der Tçbinger Theologischen Fakultåt angefçgte katholische Fakultåt zum Zentrum einer echten katholischen Regeneration machte (Symbolik). Ihm zur Seite steht Johann Baptist Hirscher und seine Arbeit an der katholischen Fakultåt Freiburgs. Aus dieser Arbeit erwåchst ± allerdings mit wesentlichen Umbildungen ± der Katechismus des Jesuitenpaters Joseph Deharbe 1847 hervor, der dann zur allgemeinen Geltung gelangt. Zwei Dinge heben sich aber besonders hervor: der soziale und der christlich-konservative Katholizismus. Der erste ± hier ist an Radowitz, Baader und den Freiburger Professor Buû zu denken ± sieht im aufkommenden Massen- und Maschinenzeitalter die ernsteste Bedrohung des religiæsen Lebens. Letzterer versucht das erstaunliche Kunststçck einer gemeinsamen christlichen Politik gegen die Revolution. Dies letzte Thema bildet eigentlich den Angelpunkt von Schnabels Werk. Es kænnte die Ûberschrift tragen: »Die christlich-konservative Koalition und ihr Ende«. 57 Es sieht mit dem Zerfall dieser Koalition keinen Weg mehr, der kommenden »Verweltlichtung« 58 zu steuern. Es bringt den Nachweis, daû ± mit Mæhler zu reden ± »die protestantische Orthodoxie sich selbst nicht versteht, wenn sie meint, gegen den Liberalismus einen Damm bilden zu kænnen, da sie selbst aus seinen Wurzeln hervorgegangen ist«. 59 »Es erwies sich in Deutschland unmæglich, die Katholiken und Protestanten in der Abwehr des Unglaubens zu einer çberkonfessionellen, christlich-konservativen Partei zu entwickeln, obwohl der preuûische Kronprinz der Sache huldvoll geneigt war« (145). Man kommt mehr und 56. F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Die religiæsen Kråfte, Freiburg i.Br. 19371 , 139. Seitenangaben im Text. 57. Die Seiten 143-148 von Schnabels viertem Band tragen die Ûberschrift: »Die christlich-konservative Solidaritåt und ihr Ende«. 58. Das erste Kapitel des zweiten Buches »Der Protestantismus« bei Schnabel trågt den Titel: »Der Weg der Verweltlichung«. 59. Mæglicherweise ist es kein wærtliches Mæhler-Zitat, sondern Iwands eigene freie Wiedergabe nach Schnabel, 71.

3. Ausblick

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mehr zu dem Schluû, daû die konservative und christliche Politik »nur noch auf konfessioneller Grundlage« (146 f.) mæglich sind. Man endet bei der Einsicht, daû Aufklårung und politische wie soziale Revolution nur die Folgen der mit der Reformation begonnenen Bewegung sind. Jetzt beginnt das »Luthertum« sich abzusetzen und in dem Eindringen der Reformierten und der mit ihnen in Preuûen geschlossenen Union die Verderbnis zu lokalisieren, um zwar die katholische These als solche anzunehmen, sich selbst ± und Luther ± aber auszunehmen. Das Thema, unter dem der Katholizismus das neunzehnte Jahrhundert sieht, heiût: Christentum oder Revolution. 60

3. Ausblick So also will ich nun versuchen, Ihnen einen Eingang zu vermitteln in das ernste und tiefe Ringen der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts. Und eben so, daû wir dabei unsere Position nicht verlassen, daû wir unsere Fragen nicht çbergehen ± echte Fragen kann man nicht çbergehen, echte Fragen machen uns ja erst zu denkenden Menschen, quålen uns, ångsten uns, mçssen eine Antwort finden ±, aber nun so, daû wir darin das Fragen und Antworten unserer Våter aufnehmen und in der Auseinandersetzung, nicht in der Ignorierung, uns als die erweisen, die wir sein mæchten: als die, die den von ihnen fallengelassenen Faden aufnehmen und ein Stçck weiterkommen. Alle Auseinandersetzung ± und die Begegnung zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert hat das Ausmaû einer weltumspannenden und weltveråndernden Auseinandersetzung angenommen ± darf nie vergessen, daû es doch eine Klammer gibt, innerhalb deren erst die Absetzung der neuen Zeit von der alten sinnvoll ist. Es hat keinen Sinn, nur nein zu sagen; Sinn hat das Nein, wenn auch deutlich

60. Notizen Iwands: Die Furcht vor der Revolution ± die Konservativen (Gerlach, Radowitz, Jarcke, Hengstenberg; die historisch-politischen Blåtter). Bismarcks Versuch, die Revolution von unten durch die von oben zu bannen. Hitlers miûlungene Konterrevolution. Amos 5,19.20: »Gleichwie wenn jemand vor dem Læwen flieht und ein Bår begegnet ihm und er kommt in ein Haus und lehnt sich mit der Hand an die Wand, so sticht ihn eine Schlange! Ja, des Herrn Tag wird finster und nicht licht sein, dunkel und nicht hell.«

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wird, wo das Ja ± das geheime und gemeinsame Ja liegt, das dem Nein zugrunde liegt. Die Vorlesung wird versuchen, die theologische Position des Protestantismus im neunzehnten Jahrhundert von drei Seiten her aufzurollen, sie unter drei Stichworte zu fassen. Solche Generalisierungen haben immer etwas Miûliches, aber sie sind zuweilen unvermeidlich. Sie sind wie ein Gerçst, das nætig ist, damit der Bau aufgefçhrt werden kann. Aber sie sind eben auch darin ein Gerçst, daû es abgerissen werden muû, wenn der Bau steht.

3.1 Das Geheimnis der Religion Im Mittelpunkt steht das Fragen nach der wahren Religion! Schon das achtzehnte Jahrhundert, das durch die Mission und die Entdeckungen anderer Kulturen und Hochreligionen in seinem Dogmatismus erschçttert ist, fragt nach der »wahren Religion«. Die dogmatischen Bestimmungen des Christentums sind ihm gerade das Relative, das mit den Bestimmungen aller positiven Religionen Rivalisierende und darum Fragwçrdige. Die Parabel von den drei Ringen, die Lessing aufnimmt, sagt dasselbe, was Schiller in den Satz faût: Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, Die du mir nennst! ± Und warum keine? ± Aus Religion. 61

Das neunzehnte Jahrhundert çbernimmt dieses Erbe, aus Religion der positiven Religion gegençber skeptisch zu sein. Es findet sich durch seine eigenen Våter vor den Zwiespalt von Religion als dem unmittelbaren Erleben, dem persænlichen Innesein und der geschichtlichen Offenbarung und Ûberlieferung gestellt. Die Geschichte als Problem wird aber nun wieder ernst genommen. Man ist es mçde, die Religion an das bloûe Wissen zu verraten, wie das die Orthodoxie nach Meinung dieser Generation tat (und darin ging man gerade auch mit dem Pietismus einig) ± oder sie lediglich als Tun zu verstehen, wie das die Moralisten wollten. Denn die Fræmmigkeit eines Menschen ist nicht zu messen an seinem Wissen oder an seinem Tun, sie ist eine Sache sui generis. Sie ist etwas dem einzelnen Individuum Eigenes, sie ist die eigentliche Lebensmitte: Wie kann unser Leben eine Mitte haben, wenn diese nicht der Religion gegeben ist! Erst so bekommt das 61. F. Schiller, Mein Glaube, Votivtafeln 33, Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 2.I, Weimar 1983, 320, 33.

3. Ausblick

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Leben wieder sein Geheimnis, erst hier berçhren wir wieder die Grenze zu dem, was wir nicht sind, zu dem Ganzen, dem Universum. Sinn fçr Religion bedeutet darum, daû ich meinen Platz im Ganzen wiedergewonnen habe. Religion ist damit gegeben, daû ich endlich bin und die Welt, in der ich lebe und mich bewege, unendlich ist. Dieses Sich-Geborgen- und Getragenwissen in dem Universalen, immer bei allem, was wir wissen, und ebenso bei allem, was wir tun, das Ganze im Sinn haben; so sich selbst, seine Eigenheit und Begrenztheit immer als etwas Erlæsungsbedçrftiges empfinden; den Sinn dafçr nicht verlieren, nicht abgleiten in die Froschperspektive des »Jetzt« und »Hier« und »Ich bin ich«: das heiût Religion. Das ist es, was Schleiermacher und Novalis, was aber genauso Schelling und der hochbegabte Friedrich Schlegel 62 , Schleiermachers Jugendfreund, empfinden und von wo aus sie denken. Sie haben die Religion entdeckt als ein Phånomen sui generis, als eine »eigne Provinz im Gemçte«. 63 So werden sie nun auch die Geschichte des Christentums und der anderen Religionen lesen, neu lesen und verstehen, indem sie nach dem »Sitz im Leben« fragen. Das Denken ist hungrig nach Leben, ist nicht mehr ± wie im achtzehnten Jahrhundert ± sich selbst genug. Religion ist der geheimnisvolle Hinweis auf jene Grenze zwischen Geist und Leben ± das hat niemand so leidenschaftlich verfochten und ausgefçhrt wie Hegel. Alle Dogmen und Lehren mçssen nun auf ihren religiæsen Gehalt çberprçft werden, darum werden wir vergeblich in diesen Dogmatiken nach der Lehre selbst fragen, sie wird nicht mehr als solche vertreten, sondern sie wird auf ihren Fræmmigkeitsgehalt hin modifiziert und mit neuem Inhalt gefçllt. Das also werden wir erwarten dçrfen, daû wir ein ganzes Jahrhundert bemçht sehen, dem Geheimnis der Religion nachzugehen. Was ist Religion? Etwas Ursprçngliches ± das Ursprçngliche antwortet die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts. Nein, das Ursprçngliche ist der Geist, antwortet die Philosophie, und die Religion ist nur die Anschauungsform. Gelingt es euch, auch noch die Anschauung zu eliminieren, gelingt es dem Geist, dem absoluten Geist, sich im anschauenden Verstande zu erkennen, das Bild, an dem alle Religion eben doch haftenbleibt, zu durchschauen, dann tritt der hæchste Akt der Gewiûheit ein: das Bewuûtsein des absoluten 62. Iwand schreibt nochmals und wohl irrtçmlich: Schelling. 63. F. Schleiermacher, Ûber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Veråchtern, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Werke. Auswahl in vier Bånden, hg. von O. Braun & Joh. Bauer, Vierter Band, Leipzig 1911, 232 (Dort steht auch die Seitenzahl der Erstausgabe angegeben: 37). Wenn nach dieser von Iwand benutzten Ausgabe zitiert wird, ist die Abkçrzung WW, mit der Nummer des jeweiligen Bandes in lateinischen Ziffern.

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Einfçhrung

Geistes im endlichen Geist ± das erst ist Offenbarung. Das erste ± das Stehenbleiben bei der Religion, dem schlechthinnigen Abhångigkeitsgefçhl ± ist Schleiermacher; das zweite, der »Durchbruch« durch die Religion zur hæheren Stufe derselben, »dem absoluten Wissen« 64 , ist Hegel, der das, was Schleiermacher Religion nannte, beim Hunde als vollkommen wiederfinden wollte. 65 Zwischen diesen beiden Polen, zwischen Schleiermacher und Hegel, zwischen dem Bçndnis der Theologie mit der Religion auf der einen und dem zwischen der Philosophie und der Offenbarung auf der anderen Seite, vollzieht sich das spannungsvolle Wechselspiel der deutschen Theologiegeschichte in diesem Jahrhundert. Mçûte nicht die Theologie sich zur Offenbarung und die Philosophie sich zur Religion direkt verhalten? Aber was ist çberhaupt Religion? Ist es denkbar, daû ± wie es eben doch in der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts wird ± »Religion ohne Gott« 66 ist, ein Atheismus sozusagen, aber dennoch mit tiefer religiæser Sehnsucht und feinem Verståndnis fçr Religion ausgestattet? Gott wird das Woher der schlechthinnigen Abhångigkeit ± das kænnte eine sehr tiefe Definition sein, denken wir nur an den 139. Psalm, aber muû es das sein? Ich erinnere mich noch sehr genau eines Tages, da ich als junger Student einen Satz bei Luther las, irgendeinen nebensåchlichen Satz, in dem Gesetz und Religion auf einen Nenner gebracht und nicht als Evangelium, als Offenbarung der Gnade Gottes, sondern als Gegenteil, als Verfinsterung und Zorn, bezeichnet wurden, und ich weiû noch heute, wie mich diese Entdeckung erstaunte und zugleich mit Hoffnung erfçllte, daû hinter der durchgestrichenen Religion ± dem Heiligtum des neunzehnten Jahrhunderts ± erst die echte Begegnung mit dem lebendigen Gott, erst das wahre Heiligtum liegen kænnte. Aber Religion und Gesetz ± beides in einem Atem nennen, kann man das? Ist das wirklich dasselbe? Lesen wir doch einmal den Ræmerbrief so ± wie werden dann uns seine Såtze treffen! »So halten wir nun dafçr, daû der Mensch gerecht werde nicht durch das religiæse Leben, allein durch den Glauben!« 67 (Ræm 3,28) Groû und drohend kçndigte sich çber dem neunzehnten Jahrhundert 64. G. W. F. Hegel, Phånomenologie des Geistes, SW Bd. 2, Stuttgart 1927, 602-620 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 3, 575-591). 65. G. W. F. Hegel, Vorrede zu Hinrichs Religionsphilosophie (1822), in: Vermiûte Schriften aus der Berliner Zeit, SW Bd. 20, Stutgart 1930, 19 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 11, 58): »Grçndet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefçhl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefçhl seiner Abhångigkeit zu seyn, und so wåre der Hund der beste Christ, denn er trågt dieses am stårksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefçhle.« 66. F. Schleiermacher, a. a. O., 287. 67. »Ohne des Gesetzes Werke« paraphrasiert von Iwand (vgl. GA I, 206).

3. Ausblick

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diese Krise an, ein neues Verståndnis der Rechtfertigung, ein Gericht, das gerade den frommen Menschen mit einbezieht: Wie, wenn wirklich unter dieser Religiositåt der Atheismus versteckt såûe, wenn er das Leben wåre in dieser Schale, wenn wir ihn hier sich bewegen, sozusagen von innen her diese Schale durchbrechen fçhlten! Das ist es, was Feuerbach und Nietzsche dann gesagt haben und warum sie dann so wenig gut gelitten waren: daû in der Religion der Mensch sich in seiner Unendlichkeit und darum Abstraktion und darum Un-Menschlichkeit festhålt; daû es gar nicht Gott ist, was er meint, sondern er selbst mit seinen mæglichen Prådikaten im Verhåltnis zu seinen wirklichen.

3.2 Der Primat der Ethik Neben der Religion steht nun der neu gefundene und behauptete Primat der Ethik. »Das Wesen dieser Problemstellung (¼) ist, daû die Ethik die çbergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft ist, in deren Rahmen die Religionswissenschaft sich einfçgt.« 68 Das heiût also, der Ausgangspunkt fçr die Theologie sind die »allgemeinen ethischen Probleme der letzten Werte und Ziele menschlichen Lebens und Handelns«. 69 Von da aus »kommt man [erst] zu den darin eingeschlossenen religiæs-metaphysischen Gedanken«. Das heiût: die Theologie ist eine »Werttheorie« (553). Troeltsch ± in seinem schænen Aufsatz çber die Grundprobleme der Ethik ± hat dann gezeigt, wie Schleiermacher auf halbem Wege stehenbleibt, weil er dann doch die »Glaubenslehre« ± im Widerspruch zu seinem Ansatz ± »kirchlich« entwickelt (566 f.). So ist »trotz der wundervollen philosophischen Ethik Schleiermachers in der theologischen wieder alles wie einst. (¼) Die Grundbegriffe von Schleiermachers allgemeiner Ethik sind durch das theologische Schema der Begrçndung der christlichen Ethik auf das Erlæsungswunder gekreuzt« (568). Diese »Glaubenslehre« ist also noch ein »Bastard«, aber dann wird Richard Rothe kommen, und er wird den eigentlichen Ansatz Schleiermachers durchfçhren und die Dogmatik ganz von der allgemeinen Ethik her entwickeln. Rothe geht nicht von der theologischen, sondern von der philosophischen Ethik Schleiermachers aus. Das ist die groûe Tat, die in der Philosophie seit Shaftesbury und Rousseau, seit 68. E. Troeltsch, Grundprobleme der Ethik. Erærtert aus Anlaû Herrmanns Ethik, in: E. Troeltsch, Zur religiæsen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften Bd. 2, Tçbingen 19131 , 553. Seitenangaben im Text. 69. Troeltsch spricht von »dem allgemeinen ethischen Problem«.

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Einfçhrung

Locke und den Schotten långst erfolgt war: »eine undogmatische oder erst sekundår-dogmatische Religion als Stçtze und Kraft der Moral und die Ethik als die die Dogmatik in sich schlieûende Fundamentalwissenschaft.« (564) Darum wird man dogmatische Unterschiede in weitestem Maûe tolerieren, die Fragen der Gottheit Jesu, der Auferstehung, der Satisfaktion, der Trinitåt ± sie alle bleiben der mehr oder weniger groûen Einsicht der »Fachleute«, das heiût also der »Schriftgelehrten«, çberlassen, aber heilig sind die ethischen ± und zwar die allgemein-ethischen ± Fundamente. Darum wird es so erschçtternd wirken, wenn diese Allgemeingçltigkeit, an die Kant noch so fest geglaubt, die aber Hegel schon auf den Staat als die Spitze bezogen hat, nun auf ihre soziologische Relativitåt hin beargwæhnt und sogar bestritten wird. Der Marxismus wird diese Allgemeingçltigkeit anzweifeln, sie als einen Repråsentationswert des bçrgerlichen Zeitalters verstehen. Auch Kierkegaard wird in dem Allgemeinen etwas Neues, Fçrchterliches entdecken: die Masse, das Man, das, was alle denken, sagen und tun und was darum gerade nicht die Wahrheit ist. So wird das Fundament, das Kant fçr den moralischen Gottesbeweis und von da aus fçr den Wiederaufbau der Reichsgottesidee gelegt zu haben schien, aufs tiefste erschçttert. Wie, wenn sich diese Umkehr nicht bewåhrt haben sollte? Wie, wenn nun eben doch nicht in der Ethik, sondern in der Dogmatik die Entscheidung fiele? Alles, was »nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sçnde« (Ræm 14,23) ± also auch die sich primår und damit in ihrer Weise autonom setzende Ethik. Gerade Hegel und durch ihn und nach ihm Marx beginnen nicht mehr mit der Ethik, sondern mit dogmatischen Såtzen. Was werden diese Theologie und die ihr gemåûen Theologen dieser Wendung gegençber tun? Erst als die ethische Basis der bçrgerlichen Gesellschaft prinzipiell angetastet wurde, etwa die Ehe oder die Grenze von Mensch und Tier (lebensunwertes Leben) oder die mçhsam aufrechterhaltene Moral des Krieges, da empærte sich die »Allgemeinheit«. Sie kann aber und wird nicht da widerstehen, wo die dogmatischen Entscheidungen als solche ± und zwar als neue Entscheidungen ± zu fallen haben. Wir werden das ethische Problem des neunzehnten Jahrhunderts sich anbieten und dann doch wieder zerfallen sehen und werden begreifen, daû wir sozusagen die Erben dieses Zerfalls sind. Daû also recht verstanden erst dann wirklich der Ansatz des neunzehnten Jahrhunderts çberwunden ist, wenn die Ethik aufgehært haben wird, »Fundamentalwissenschaft« zu sein, einfach darum, weil es ± trotz des heute so propagierten Naturgesetzes ± keine »voraussetzungslose« Ethik gibt. Wenn aber das neunzehnte Jahrhundert so nach der Voraussetzung der Dogmatik fragt ± und es ist seine Redlichkeit, daû es so fragt ±, dann wer-

3. Ausblick

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den wir festzuhalten haben, daû diese Frage nicht aufhært, auch wenn die Umkehrung vollzogen sein sollte: Auch die Dogmatik muû sich ausweisen, wenn sie nach ihrer Voraussetzung gefragt wird.

3.3 Die Geschichtsphilosophie Das ergibt den dritten wichtigen Grundzug der Theologie im neunzehnten Jahrhundert: die Geschichtsphilosophie 70 . Nicht alle Theologen sind den von Kant gewiesenen, von Schleiermacher nur zægernd beschrittenen Weg des Einbaus der Dogmatik in die Ethik gegangen. Es gibt noch eine andere Mæglichkeit, den der Geschichtsphilosophie, der Verbindung von Offenbarung, Dogma, Lehre einerseits und Philosophie, Spekulation, Geisterkenntnis andrerseits. Hier wird Hegel den ersten und bedeutendsten Schritt tun. Er wird die Einheit von Glauben und Erkennen wieder suchen und behaupten; er wird Ernst machen damit, daû der Gegensatz von Glauben und Wissen nicht toleriert werden darf, daû der Glaube, recht verstanden, das »wahre Wissen ist«, und so das Dogma diese Einheit manifestiert. Aber das Dogma ist selbst nur zu verstehen aus der Bewegung, die in ihm liegt. Es ist Resultat, aber Resultat einer Bewegung, und zwar der zwischen dem unmittelbaren Glauben, der Håresie und der schlieûlich ausgebildeten Einsicht des Glaubens in sich selbst. Darum gehært die Håresie mit hinein in den Prozeû. In ihr wird die Unmittelbarkeit des unreflektierten Glaubens aufgehoben, aber nicht, um zerbrochen zu werden, sondern um im Wissen, in der Bewuûtheit des Glaubens um sich selbst, erst in seiner ganzen Geistigkeit real zu werden. So ist das Dogma nichts ohne seine Geschichte, nur in der Dogmengeschichte entwickelt sich das christliche Bewuûtsein. Darum bedeutet Hegel die Ûberwindung der Aufklårung, weil er die Geschichte, und zwar die Geschichte als die Selbstauslegung des Geistes in der Zeit, hinzunimmt. Er taucht die Ideen in die Geschichte, sieht sie dort untergehen und auferstehen. So geht der Glaube unter in der Håresie, um neu im Dogma zu erstehen. Kein Wunder, daû sich hier neue und groûe Mæglichkeiten erschlossen: Auch das Dogma ist also Bewuûtheit, es ist das Objektive, das »Wiû- und Lehrbare«, in dem wir uns in unserer Einheit begreifen. Welcher Ansatzpunkt fçr die Restauration der Orthodoxie, ohne daû man in Wahrheit dabei orthodox werden muûte: Hier war der Weg vom Allgemeinen zum Besonderen in neuer Weise beschritten, nicht ethisch, sondern geistig! Die Erlanger Schule hat davon reichlich Ge70. Ursprçnglich: Religionsphilosophie; von Iwand handschriftlich korrigiert.

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Einfçhrung

brauch gemacht und im Dogma ± und zwar im konfessionell verstandenen, das heiût geschichtlich gegebenen Dogma ± die Bewuûtheit unserer selbst als Kirche gefunden. Sie hat von hier aus die Håresien als notwendig angesehen, um sich ihrer selbst bewuût zu werden; sie hat nun erst den konfessionellen Gegensatz neu entfaltet, um daran den lutherischen Charakter ihrer Dogmatik bewuût zu erfassen. Aber man kann auch die Dialektik anders verstehen, man kann die Entwicklung als ganze ins Auge fassen und in ihr als solcher die in keiner Phase ganz gegebene Wahrheit erkennen: Das ist Ferdinand Christian Baur. Kirchengeschichte ist in Wahrheit Dogmengeschichte, und diese wiederum ist das allmåhliche, immer klarere, immer mehr sich selbst herausschålende Wissen des Christentums um sich selbst. Nun liegen die Epochen nicht mehr wie erratische Blæcke nebeneinander. Nun ist ein Maûstab gefunden, um die Bedeutung eines solchen Prozesses zu wçrdigen. Hært die dogmenbildende Kraft auf, dann ist auch die Epoche selbst erschæpft. Auf einmal steht die alte Kirchengeschichte in einem ganz neuen Lichte; Baur und Dorner entdecken und reproduzieren die altkirchliche Christologie, wie sie kaum zuvor reproduziert worden ist. Aber Mittelalter und erst recht Reformation bleiben im Schatten, hier interessiert hæchstens die Subjektivitåt. Dogmenbildende Kraft ist hier nicht mehr. Wenn aber Glaube und Wissen eins sind, und das Wissen das Allgemeine, warum sollte man dann nicht auch sagen kænnen ± in der Umkehrung des Ganzen ±, daû in diesem Glauben der Mensch sein allgemeines Wissen um sich selbst, um die Menschheit, um das Selbstverståndnis dieser ihrer Existenz ausdrçckt? Dann erst ist die wirkliche Entmythologisierung gelungen, wenn deutlich wird, daû der Sinn des christlichen Dogmas kein theologischer, sondern ein anthropologischer und als solcher erst fçr uns relevanter ist. Im Christentum kommt die Menschheit zum Bewuûtsein ihrer selbst. Bewuûtheit ± das ist Ziel alles Denkens; so die Linkshegelianer, Strauû, Feuerbach und Bruno Bauer. Schlieûlich ist auch Christus nur Ausdruck des Erlæsungsbewuûtseins jener Epoche. Die radikalsten Hegelianer werden und mçssen damit die Trennung vollziehen zwischen der Christusidee und dem Jesus von Nazareth. Aber was ist das Dogma nun in Wirklichkeit? Daû diese ganze Richtung das Dogma nicht versteht ± kænnte es nicht daran hången, daû sie den Logos immer als Sinn, nie als Wort, als Verkçndigung, faût? Daû das Verhåltnis von Wort und Sein hier nur das der Auslegung, nicht der Setzung ist?

Kapitel 1: Die Religion

1. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 1.1 Leben und Werk 1.1.1 Der Prediger

Bekannt und oft zitiert ist jener Satz, mit dem August Neander seinen Zuhærern den Tod Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers am 12. Februar 1834 anzeigte: »Nun ist der Mann dahingeschieden, von dem man kçnftig eine neue Epoche der Theologie datieren wird.« 1 Das war insofern damals eine Prophezeiung, als Schleiermacher in seiner Stellung als theologischer Lehrer in Berlin keineswegs so anerkannt gewesen war, daû er selbst schon etwas davon håtte spçren dçrfen. Im Gegenteil, gerade seine letzte Berliner Zeit ist von schweren kirchlichen und politischen Anfeindungen bewegt, und zunåchst schien es so, als ob Hegel und dessen Schule ± dabei muû vor allem der Theologe Marheineke genannt werden ± die Zukunft gehæren sollte. Erst nach dem Verblassen der Hegelschen, mehr spekulativ eingestellten Restauration der dogmatischen Spekulation zeigte es sich, was Schleiermacher geschaffen und daû sich der Mann nicht geirrt hatte, der mit ihm, insonderheit mit dem groûen Werk seiner 1821 erstmalig erschienenen Glaubenslehre, eine neue Epoche der Theologie heraufgefçhrt sah. Was Schleiermacher in seiner Zeit so çberragend erscheinen lieû, war seine Tåtigkeit als Prediger. Er hat zeitweilig mit seinen Predigten Berlin bewegt und getragen, und seine Predigten waren das Ereignis der ganzen Stadt. Es muû vor allem der persænliche Einsatz gewesen sein, der ± nach Schweizers Bericht ± der Exegese folgte und der das »eigene, innere Erregtsein« 2 auf den Hærer çbertrug. Wenn man genau hinschaut, ist dies Moment des die Gemeinde erregenden, das heiût in dieselbe geistige Haltung versetzenden Zeugnisses, auch in seine Lehre von der gottesdienstlichen Versammlung und in seine Hermeneutik çbergegangen. »Die Fræmmigkeit bil1. 2.

A. Neander, in: Theologische Studien und Kritiken, 1834, 750. Alex. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger, Halle 1834, 95.

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Kapitel 1: Die Religion

det sich zur Gemeinschaft durch die erregende Kraft [der Aeuûerungen] des Selbstbewuûtseins« 3 , das heiût also, daû die Gemeinschaft im Grunde nichts rechtlich oder intellektuell Konstituiertes ist, sondern eine lebendige Erscheinung, in der der Heilige Geist als solcher durch das Zeugnis eines einzelnen so wirksam ist, daû die ganze Gemeinde davon ergriffen und durchdrungen wird. Das ist es, was Schleiermacher in seinen Reden den »Virtuosen« 4 nennt, aber Kunst und Form sind nur der Beitrag, den der Mensch dazu liefert ± denn das Subjekt, die eigentlich gemeinbildende Kraft, ist der Heilige Geist, der als solcher besondere Versammlungen nætig macht, um sich dadurch von dem Geist der Welt abzuheben. »Das Christliche als solches ist uns nicht in Einzelnen auch nicht in einer zufålligen Menge von Einzelnen, sondern in einer groûen Gemeinschaft gegeben, und auch nur mit ihr und aus ihr zu verstehen«. 5 Es kommt darauf an, sagt Schleiermacher, daû wir uns dessen »erinnern«, daû wir je schon aus »einer solchen Gemeinschaft« herkommen, und daû der einzelne »mit seinen frommen Erregungen auch wieder auf diese Gemeinschaft wirke«. 6 Also steht der Prediger bzw. der, welcher die »freie Geistesmacht« 7 in der Gemeinde oder auch als Schriftsteller im æffentlichen Leben zu bezeugen unternimmt, immer schon innerhalb der Kirche. Er steht ihr nie gegençber, alle Gegenstellung bedeutet nur, daû er kritisch, also reinigend und låuternd an dem Geist und Leben dieser Gemeinschaft arbeitet, ohne die er selbst nicht wåre und ohne die seine Tåtigkeit als solche sinnlos wåre. Denn er steht nicht in prophetischer Isolierung der Welt gegençber, sondern als Glied der Gemeinde innerhalb dieser Gemeinschaft handelt er und mit ihm die ganze Gemeinde vor der Welt und auf sie hin. Aber ± andererseits ± sind es doch immer wieder besondere, individuell dazu besonders veranlagte und berufene Menschen, in denen sich die ganze Gemeinde versteht und angesprochen weiû. »Die erbauende Wirksamkeit im christlichen Kultus beruht çberwiegend auf der Mitteilung des zum Gedanken gewordenen frommen Selbstbewuûtseins.« (§ 280) Der Gedanke ist im Grunde immer schon reflektiertes Selbstbewuûtsein, er ist leer und schal 3. 4. 5. 6. 7.

F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsåtzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/1822), Bd. I, 40, Leitsatz § 12 (S. 48 der Originalausgabe). F. Schleiermacher, Reden çber die Religion, passim. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/1822), Bd. I, 41, § 12.1 (S. 49 der Originalausgabe). Ebd. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, zweite umgearbeitete Ausgabe, Berlin 1830 (æfter nachgedruckt), § 328; § 313; § 323; § 326. Paragraphenangaben im Text.

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± man kann begreifen, wie das Hegel irritierte ±, wenn er nicht aus einer tieferen als der bloû gedanklichen Sphåre stammt, wenn man also den eigentlichen Sitz im Leben nicht mehr fassen kann. Denn da die Schriftsteller, die in der Verkçndigung auszulegen sind, nicht rational begriffen sein wollen, sondern aus dem Geist heraus, der sie bewegte, so kann nur der sie begreifen, der von einem gleichen Geist bewegt ist und in diesem Geist nun auch dem Hærer das Verståndnis des Textes erschlieût. Das Gedankliche an der Verkçndigung bezieht sich auf die Mitteilbarkeit der mich in meinem Selbst bewegenden Erkenntnis, und die Kunst, die dabei in Anwendung kommt, betrifft lediglich die »zusammenhångende Folge von Gedanken« (§ 280), betrifft also als solche auch wiederum die Zucht, die sich der Redner auferlegt, damit die anderen seiner Rede folgen und so zu dem Quellort gelangen kænnen, von dem die eigentliche Bewegung ausgeht. Wenn man vergiût, daû Schleiermacher zuerst und zutiefst Prediger war, Zeuge des Geheimnisses der in Jesus von Nazareth uns zuteilgewordenen Erlæsung, daû dieser sein Beruf von ihm nie vernachlåssigt, ja bis in die letzten Tage seiner abnehmenden Kraft mit unverminderter Treue wahrgenommen wurde, dann wird man die seltsame Mittelstellung, die seine theologische wissenschaftliche Arbeit auszeichnet, nicht verstehen. Denn nicht diese, sondern das, was in der Gemeinde geschieht, was sich in dieser vom Heiligen Geist bewegten Gemeinschaft ereignet, ist das Wesentliche, das Leben. Und wenn er die Theologie praktisch begrçndet, daû sie nåmlich der »Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln [sei], ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche nicht mæglich ist« (§ 5), so muû man das dahin verstehen, daû er im Theologiestudenten bereits den sieht, der einmal durch seine Verkçndigung in Predigt und Seelsorge eine Gemeinde zu leiten hat und behufs dieser Aufgabe sich einzuçben hat in der kritischen Funktion, um das eigentliche Wesen der Fræmmigkeit zu erkennen und es immer wieder in ihren inadåquaten Erscheinungen und gegen sie zu færdern. Denn die Einzelgemeinde ± darin denkt er ganz neutestamentlich und hier kommt sein Herrnhutertum heraus ± ist ihm die Darstellung der Kirche und er kann die, uns vielleicht sehr neuartig anmutende, Definition aufstellen: »Die ærtliche Gemeine, als ein Inbegriff in demselben Raum lebender und zu gemeinsamer Fræmmigkeit verbundener christlicher Hauswesen gleichen Bekenntnisses, ist die einfachste vollkommen kirchliche Organisation, innerhalb welcher eine leitende Tåtigkeit stattfinden kann.« (§ 277) Die Theologie ist also jeweils auf die Verkçndigung bezogen, sie setzt

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diese nicht aus sich heraus, sondern findet sie vor und ist in sich selbst das unablåssige Bemçhen um ihre bessere, reinere und dem Geist, der in der Kirche waltet, gemåûe Form. Schleiermacher håtte schon darum nicht einfach von seiner Tåtigkeit als wissenschaftlicher Theologe leben kænnen, weil das Denken ihm als solches in der Gefahr der Konstruktion zu stehen schien. Darum liest er schon als junger Student in Barby 8 ± verbotenerweise ± nicht nur den Werther, sondern auch Kant, und schreibt seinem Vater: »Was die Kantische Philosophie betrifft« ± die damals noch åuûerst neu und auf den Lehrstçhlen der Rationalisten und Pietisten als gleich verdåchtig galt ±, »so habe ich von je her sehr gçnstige Meinungen von ihr gehabt, eben weil sie die Vernunft von den metaphysischen Wçsten zurçck in die Felder, die ihr eigenthçmlich gehæren, zurçckweist«. 9 Werden wir bei einem solchen Satz nicht unmittelbar an die mephistophelischen Expektorationen çber die Metaphysik erinnert: »Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band.« 10 Das Leben ist immer etwas Ganzes und kann darum niemals von dem spaltenden, deduzierenden begrifflichen Denken in dieser seiner Einheit und Ganzheit begriffen, muû immer vorausgesetzt und in dieser seiner Vorgegebenheit respektiert werden. Das ist das merkwçrdige Zusammentreffen, das Goethe und Kant zugleich fçr diese junge Generation von Studenten und geistigen Menschen beiderlei Geschlechts in diesen Jahrzehnten des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts bedeutete, daû der eine das Leben in der Dichtung, in der Kunst zu vollkommenster Mitteilung brachte und der andere die Grenzen des Vernunftgebrauchs absteckte, sozusagen der Wissenschaft ihr Reich ± und zwar ein sekundåres ± zuwies, wåhrend der eigentliche Bereich des Lebens im Unmittelbaren, oder wie Schleiermacher sagt, im Selbstbewuûtsein zu suchen und zu finden ist, in dem geheimnisvollen Bereich dessen, was das Selbst in sich schlieût ± nåmlich das All, aber in einer innerlichen, wunderbaren, freien, von aller åuûeren Bedingtheit gelæsten Weise. »Im Innern ist ein Universum auch.« 11 Seitdem Leibniz die Welt drauûen und die Welt innen aufeinander bezogen und so seiner Zeit deutlich gemacht 8. Seminar der Brçdergemeinde. 9. Brief vom 14. August 1787, in: Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen. Erster Band. Von Schleiermacher's Kindheit bis zu seiner Anstellung in Halle, October 1804, Berlin2 , Berlin / New York 1974, 66. 10. J. W. Goethe, Faust I, V. 1936-1939. 11. J. W. Goethe, Spruch-Abteilung »Gott, Gemçt und Welt« (1815), Vers 2 und Proæmion von »Gott und Welt« (1827), Vers 2, Goethes Werke Bd. I, 357.

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hat, daû der Weg çber das Ich der Weg in die Weite des Universums ist ± seitdem Schiller das Universum als »Gedanke Gottes« 12 angesprochen und so die Seele ins Unendliche erhoben hat, seitdem lebt diese Zeit in ihren besten Geistern in einem vermittelten ± çber das Innen, den Geist vermittelten ± Verhåltnis zur Welt. Man wird sich schwer vorstellen, was fçr ein Aufbruch des Lebens gerade diese Erkenntnis fçr die junge Generation des nachfriderizianischen Zeitalters in Deutschland bedeutete. Hier mçssen wir Schleiermacher mitten drinstehend erkennen. Hier fragt er neu und durch die geistige Bewegung um ihn her aus seinen alten dogmatischen Vorstellungen herausgerissen ± nach Gott. Er, der als Junge von seinem Vater zu den Herrnhutern nach Niesky gebracht wird und dort die schwere Krise eines ihn stark berçhrenden geistlichen Erlebens und einer zugleich ebenso kråftigen gedanklichen Kritik in sich verarbeiten muû, hat zeitlebens dieses Verhåltnis zwischen Erlebnis und Wissen, zwischen der unzugånglichen geheimnisvollen Mitte dessen, was wir »Erleben« nennen, und der gedanklichen Darstellung dessen als die eigentliche Aufgabe empfunden. Er hat zeitlebens darum gekåmpft, daû des Leben den ersten Platz behålt, aber auch gleichzeitig um das andere, daû die geistige Klårung, die wissenschaftliche Erhebung des Erfahrungszusammenhanges in das helle Licht des Bewuûtseins, nicht unterbleibe.

1.1.2 Das Leben, das Selbst und das Bewuûtsein

Darum ist auch sein Leben nicht von seinem geistigen und wissenschaftlichen Schaffen zu trennen. So war es schon in seiner Jugend, in der er ± nach schwerer Zeit als Student in Halle und spåter als Erzieher in Gedickes Seminar in Berlin (er scheiterte vællig an seinen Zæglingen) ± endlich 1796 in sein kçmmerliches Stçbchen in der Charit in Berlin einzog. Und das war das Berlin, das ihn ein Jahr spåter in seine innerste geistige Mitte und Bewegung aufnahm, als er durch Alexander Dohna in das Haus des Hofrats Marcus Herz eingefçhrt wurde und nun jene Begegnung mit Henriette Herz und Friedrich Schlegel stattfand, die ihn zu dem entwickeln sollte, der er dann ± in manchen schweren Reifeprozessen ± bleiben sollte: der Apologet des Christentums mitten hinein in die geistige Welt, die sich als Frucht der Aufklårung hier in reichstem Leben zeigte. Schleiermacher war eins am wenigsten: ein Professor ± aber er war ein Gelehrter, und er war ein Prediger, und er war ein Virtuose der Freundschaft und des Gespråchs, und er hatte noch als dieser, der er war, ein Schicksal: Er hat erfahren, was 12. F. Schiller, Die Worte des Glaubens, Musenalmanach 1798.

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es heiût, weichen und ausweichen zu mçssen. Er war allezeit ein freier Mann und hat auch in den dunklen Zeiten der Karlsbader Beschlçsse und der Metternichschen Reaktion, als er selbst wegen seiner Freundschaften zu Ernst Moritz Arndt und Georg Reimer verdåchtigt und als er ± dessen Predigt den Freiherrn vom Stein auf seinem Gang çber die bæhmische Grenze als einziger Trost begleitete ± wegen seiner Anhånglichkeit zu freiheitlichen Ideen denunziert und angegriffen wurde, nicht gewankt und der politischen wie der kirchlichen Reaktion bis ans Ende widerstanden, indem er sich selbst treu blieb. Ranke erzåhlt uns von seiner Beisetzung und sagt, sie habe den »Charakter einer allgemeinen Volkstrauer« 13 gehabt. »20.000 bis 30.000 Menschen erfçllten die Straûen. Alles ging zu Fuû.« 14 »Ich erinnere mich, welch' einen Eindruck es auf mich machte, als wir Schleiermacher begruben, und die ganze lange Straûe hinab an allen Fenstern, an allen Thçren geweint ward.« 15 Es gibt keinen Theologen aus der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts, von dem wir werden Øhnliches berichten kænnen. Diese Trauer galt dem Prediger, dem Menschen und dem Manne, der als Patriot in den dunkelsten Tagen Preuûens nicht gezægert hatte, sich zu entscheiden und der damals ± man lese die Einleitung zu seinen Reden in der zweite Auflage, die er in Halle nach 1806 fertigstellte ± die Freiheit wåhlte. Berlin ist die eigentliche Ståtte dieses in Breslau am 21. November 1768 geborenen, als Sohn eines reformierten Predigers erzogenen Theologen gewesen. Alles andere waren nur vorçbergehende Momente, ob er in Ostpreuûen Hauslehrer oder in Stolp nach seiner ersten Berliner Zeit Prediger war oder schlieûlich in Halle fçr kurze Zeit ± von 1804 bis 1807 ± seine erste Professur verwaltete. In Berlin hat er drei groûe und entscheidende Perioden seiner Entwicklung erlebt: die erste im Kreis der Romantiker, aus der die »Reden« und die »Monologen« stammen; die zweite unmittelbar nach der Niederlage Preuûens, das ist die Zeit, in die seine Verheiratung mit Henriette von Willich fiel ± mit jenen denkwçrdigen Briefen, die Schleiermachers Auffassung von der Ehe als der tiefsten geistigen Gemeinschaft wiedergeben ±, und seine Arbeit auf dem Gebiete der Ethik und der Dialektik (1811); und schlieûlich die dritte und reifste Epoche, die ihn am Werke der Glaubenslehre und zugleich als Sekretår der Akademie der Wissenschaften zeigt, mit jenen denkwçrdigen Vorlesungen, die noch 13. Zitat bei O. Braun, Einleitung, in: WW I, IC. Braun beruft sich dafçr aber nicht auf Ranke; es ist nicht klar, ob er es bei ihm gefunden hat. In den unten notierten Stellen steht es nicht. 14. L. Ranke am 21. Februar 1834 an H. Ritter (L. Ranke, Die eigene Lebensgeschichte. Såmtliche Werke 53-54, Leipzig 1890, 206). 15. L. Ranke am 6. April 1840 an H. Ranke, a. a. O., 311 (vgl. NW 2, 340, Anm. 3).

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heute unsere Bewunderung erregen. Aber diese dritte Epoche war auch die schwerer Kåmpfe, und am 21. Mårz 1820 schreibt er an seinen Schwager Arndt: »Seit långer als 14 Tagen ist wieder die ganze Stadt voll davon, daû ich abgesetzt sei oder werden solle. Das factum, das dabei zum Grunde liegt, ist einmal, daû der Staatskanzler sich die Akten der Fakultåt de Wette's Entlassung betreffend hat geben lassen, und dann, daû Schulz sehr darauf inquirirt hat, was fçr Gesundheiten ich am 9ten Februar, wo die Studenten das Bewaffnungsfest feierten, ausgebracht habe.« 16 Trotz seiner lange Jahre hindurch gefåhrdeten Position hat Schleiermacher nicht zu den æffentlichen Fragen geschwiegen, sondern auch in den folgenden Unionsstreitigkeiten ± obschon ein Freund der Union ± die Ansprçche des Kænigs auf seine Rechte in der Kirche im Streit um das »liturgische Recht« eindeutig und mutig zurçckgewiesen. Von seinen letzten Tagen ist ein bezeichnendes Wort erhalten: »Ich bin doch eigentlich in einem Zustand, der zwischen Bewuûtsein und Bewuûtlosigkeit schwankt, (¼) ± aber in meinem Innern verlebe ich die gættlichsten Momente ± ich muû die tiefsten speculativen Gedanken denken und die sind mir vællig eins mit den innigsten religiæsen Empfindungen.« 17 Das ist der junge Schleiermacher, der zum Neujahrstage 1800 die Monologen erscheinen lieû mit der denkwçrdigen Vorrede: »Keine kæstlichere Gabe vermag der Mensch dem Menschen anzubieten, als was er im Innersten des Gemçtes zu sich selbst geredet hat: denn sie gewåhrt ihm das Græûte, was es gibt, in ein freies Wesen den offenen ungestærten Blick. Keine ist beståndiger: denn nichts zerstært dir den Genuû, den einmal dir das Anschaun gewåhrt hat, und die innere Wahrheit sichert ihr deine Liebe, daû du sie gern wieder betrachtest. Keine bewahrst du sicherer gegen fremde Lust und Tçcke: denn sie ist nicht mit irgendeinem Nebenwerk umgeben, das etwa anders gebraucht und miûbraucht werden kænnte.« 18 Der sterbende Schleiermacher sieht sich noch einmal an demselben Punkt, den er als Jçngling erstmals schaute, das Licht, das ihn damals in seiner Jugend entzçndete, leuchtet ihm auch çber den Acheron. Schleiermachers Leben hat einen groûen Biographen gefunden, einen, der åhnlich wie dieser als Theologe und Pfarrerssohn begann, der aber dann doch nur bei der Akademie endete und die Kanzel nie bestieg: Wil16. Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen. Zweiter Band. Von Schleiermachers Anstellung in Halle ± October 1804 ± bis an sein Lebensende ± den 12. Februar 1834, Berlin 1860, Berlin / New York 19742 , 373. 17. Ebd., 511 f. 18. F. Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800, WW IV, 403 (Dort steht auch die Seitenzahl der Erstausgabe angegeben: 3 f.).

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helm Dilthey, den groûen Berliner Gelehrten, der ein Jahr vor Schleiermachers Tode geboren wurde (1833). Der junge Dilthey schreibt einmal in sein Tagebuch: »Eine christliche Ethik mçûte von der Erkenntnis ausgehen, daû das Christentum kein System, sondern eine Lebensanschauung ist. Eine Lebensanschauung unter Lebensanschauungen. (¼) Schleiermachers Abhandlung çber das Verhåltnis zum Naturgesetzten und zum juristischen Gebot ist Programm dieser Richtung (¼). Sind dann die Weltanschauungen entwickelt, ist der Ort der christlichen und ihr Verhåltnis zu den anderen klar dargestellt, so ist die Aufgabe des zweiten Teils, historisch ihre Momente zu entwickeln, nicht sich kçmmernd um den Erdgeruch vieler Gedanken, der den Boden noch scharf anzeigt, wo sie gewachsen. Aber hier mag man auch erkennen, wie tief das christliche Prinzip der Ethik mit dem Gedanken, daû der Mensch Geist, Gott Geist, Geist das Wesentliche sei, das bis zum schroffen Dualismus zuweilen çberspannt ist, zusammenhångt.« 19 Dilthey hat Schleiermachers Leben von da aus dargestellt, er hat natçrlich das andere nicht so gesehen, was dies Leben auch ausmachte, die unlæsliche seltsame Gebundenheit an den anderen Pol, an diesen Jesus von Nazareth, die immer wie ein Wellenbrecher im Strom der Bildung ± fast unbeweglich ± mahnend, haltend, den, der nach ihm greift, rettend und ihm seine Ruhe und seinen Frieden gebend, dasteht. Dilthey hat Schleiermacher allzusehr unter dem Aspekt des Humboldtschen: Aus seinem Leben ein Kunstwerk machen, gesehen; das ist nur die eine Seite dieses Lebens. Das ist seine bildungsmåûige, als Bildungsaufgabe, als Thema der Ethik von Schleiermacher bewuût ergriffene und vertretene Erziehungsaufgabe. Aber die andere Seite ist die des Predigers, dessen, der in dieser Funktion sein innerstes Wesen, seinen Beruf ausdrçckt. Hier wurzelt auch das Miûverståndnis Troeltschs, der eine Inkonsequenz darin sieht, daû Schleiermacher die Theologie dann doch wieder dogmatisch enden lieû, nachdem er zunåchst sie gånzlich von der Ethik her beginnen wollte ± und zwar von der philosophischen, also der die allgemeinen Lebensverhåltnisse der Gemeinschaften beschreibenden und untersuchenden Ethik her. Man muû hinzunehmen, was Ethik fçr Schleiermacher ist. Sie ist keineswegs das, was Kant aus ihr gemacht hat. Sie hat mehr ihre Wurzeln bei dem »gættlichen Spinoza« als bei dem in einem unaufhebbaren Dualismus endenden, schlieûlich das radikale Bæse doch wieder behauptenden Kant. Ethik ist fçr Schleiermacher eine deskriptive Wissenschaft, die, åhnlich 19. Clara Misch-Dilthey, Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebçchern 1852-1870, Gættingen 19602 , 144 ff.

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wie die Naturwissenschaft, die Natur auf ihre Gesetzmåûigkeiten untersucht und dementsprechend davon ausgeht, daû es ein letztes Ûbereinstimmendes in der Natur gibt von Leben und Geist, um nun auch diese Ûbereinstimmung in der menschlichen Gesellschaft, in dem Miteinandersein der Menschen, in ihren sich anziehenden und abstoûenden Beziehungen aufzudecken und so das Gesetz der Gemeinschaft als in ihr selbst lebendig zu entfalten. Ethik ist die Wissenschaft der Geschichtsprinzipien. Schleiermacher unterscheidet vier Grundwissenschaften, die das ganze Gebiet mæglicher Erkenntnis umschreiben: die empirische Naturwissenschaft oder die Naturbeschreibung; die spekulative Naturwissenschaft oder die Physik; die empirische Vernunftwissenschaft oder die Geschichte und die spekulative Vernunftwissenschaft oder die Ethik. Und es ist nun wohl klar, was es bedeutet, wenn Schleiermacher die Dogmatik mit »Lehnsåtzen« aus der Ethik beginnen låût. Das soll heiûen: Mitten in der Menschheitsgeschichte treffen wir auf bestimmte, besondere Gemeinschaften, die als geschichtliche existieren, die wir nicht erst zu setzen oder zu postulieren haben, sondern die wir nur nach ihrem Wesen, nach ihrer Idee begreifen sollen. Die wir in solchem Begriff nach ihrem Wesentlichen von ihren Erscheinungsformen zwar kritisch abzunehmen, aber doch nur wieder in ihnen ± und nicht an sich ± zu erfassen haben. Man merkt, wie Plato, der »gættliche Mann«, Schleiermacher mit seiner Ideenlehre zur Seite steht. So gehært die Dogmatik eben doch hinein in die »Ethik«, freilich so, daû Schleiermacher sich der Hilfskonstruktion, die er damit vollzieht, ganz bewuût ist. Denn es geht ja um die frommen Gemeinschaften, es geht also darum, daû hinter und unter dem ethischen Phånomen noch ein anderes, das er das religiæse nennt, verborgen ist. Und es geht schlieûlich darum, daû dieses religiæse Phånomen »bewuût« gemacht wird, das heiût, daû ich mir selbst erst dessen, was Fræmmigkeit als Wirklichkeit fçr mich bedeutet, bewuût werde, voll und adåquat, so daû Sein und Bewuûtsein nicht miteinander in Konflikt geraten, wenn ich Jesus von Nazareth als meinem Erlæser begegne. Das ist der Punkt, den Troeltsch nicht fassen kann, daû ± wie Barth mit recht sagt 20 ± dies System Schleiermachers nicht um eine Mitte schwingt, sondern ± wenn man so will: dialektisch ± zwei Brennpunkte hat, das Selbst und das Bewuûtsein: das Sein in seiner Beziehung nach innen, in seiner Passivitåt, da, wo das Leben als uns çberzeugende und çberwindende Græûe erfahren wird, und das Sein nach auûen, das aus sich HerausTreten, das »Bewuût-Sein«, das im Sein zu anderen und zur Welt in ihrer 20. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 409 f.; 415 f.

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Teilhaftigkeit da ist und darum nie das Ganze fassen kann, darum immer unterwegs ist, immer in der Bewegung steht auf den Punkt hin, den wir im »Gefçhl«, ± im Christentum wçrden wir sagen: im Glauben ± je schon erreicht haben. Im Bewuûtsein bewegt sich der Mensch um die Unendlichkeit von auûen herum, aber im Sein, im Gefçhl, ruht er dabei zugleich in ihrer Mitte, ist er innen und begreift in anderer Weise das Ganze, das von auûen her umspannt »Welt«, von innen her mich umspannend »Gott« heiût. Troeltsch hat bei seiner Kritik an Schleiermacher als dogmatischem Theologen nicht begriffen, daû seine Forderung, die Theologie von einem Punkte her beginnen zu lassen, Gott entweder ganz und gar in die Welt auflæsen oder umgekehrt die Welt ganz und gar beiseite lassen mçûte, daû also dieser dialektische Charakter der Theologie offenbar damit gegeben ist, daû Gott und Welt nicht ineinander aufgehen und doch wiederum nicht ohne einander sind. Gott nicht ohne die Welt ± darum Ethik als Grundwissenschaft. Die Welt nicht ohne Gott ± darum die Religion als die geheimnisvolle, aber unentbehrliche, die Teile in der Einheit zusammenfassende Mitte des Daseins. Es fragt sich nur, ob Schleiermacher genug getan hat, wenn er ± in seiner »Dialektik« ± den Gegensatz von Gott und Welt und ihren Zusammenhang als Rechtfertigung seiner Methode ausgibt. Kænnte es nicht einen Gegensatz geben zwischen Gott und Welt auûer Christo und Gott und Welt in Christo? Kænnte nicht der Gott, wie wir ihn uns von der Welt her und auf ihn hin denken, im Gegensatz stehen zu dem Gott, der in Jesus Christus sein Verhåltnis zur Welt bestimmt? Das Problem Schleiermachers liegt nicht da, wo Troeltsch es vermutet, daû er in der Auflæsung des Gegensatzes zwischen Gott und Welt nicht zum reinen Pantheismus fortgeschritten ist ± diese Gefahr seiner Bewegung hat Schleiermacher sehr bewuût gesehen; es ist eben kein ethischer Monismus herausgekommen, wie das bei Troeltsch der Fall war, keine Auflæsung der Person des Jesus von Nazareth in die Idee des Christentums, wie das erst çber Rothe hinweg bei den ethischen Idealisten geschieht ±, sondern die Frage liegt darin, ob der Unterschied, das Gegençber von Gott und Welt gewåhrleistet ist, wenn nicht das Kreuz beides bindet und abgrenzt. Daû Gott in Jesus Christus die Welt richtet, daû Ethik hier Endgericht heiût, daû die Menschheit hier ihr Urteil empfångt: das freilich ist Schleiermacher nicht mehr bewuût gewesen. Die Rechtfertigungslehre ist nur noch Erlæsungslehre, aber nicht mehr ein Gerichtsakt Gottes. Barths Aufsatz çber Schleiermacher 21 ist insofern eine 21. K. Barth, Schleiermacher (1926), in: K. Barth, Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vortråge. 2. Bd., Mçnchen 1928, 136-189 (167-180).

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neue und aufschluûreiche Sache, als Barth einen Punkt in Schleiermachers Theologie besonders herausgestellt und fçr sich genommen hat: die Christologie. Schleiermacher hat auch gesehen, welches das Ørgernis war, das er der Philosophie, jedenfalls der Philosophie seiner Zeit, bieten muûte, wenn er Theologe sein wollte; und er hat es gewagt, ihr dieses Ørgernis zu bieten. Es handelt sich um das Problem der Christologie. Die Christologie ist die groûe Stærung in Schleiermachers Glaubenslehre ± Jesus von Nazareth paût verzweifelt schlecht in diese Theologie des im Grunde doch sich selbst gençgenden geschichtlichen Gesamtlebens der »Menschheit«. Aber eben, Er ist da. Und der Professor und Prediger macht sich diese Mçhe, schwimmt unablåssig ± um den Preis von gewissen Kçnsteleien und Sophismen ± gegen seinen eigenen Strom. Schleiermacher wollte in seiner Christologie, deren Gehalt vielleicht mit jenem Wasser zu vergleichen wåre, Christus verkçndigen. 22

1.2 Reden çber die Religion Wenn man einen groûen Mann kennenlernen will in seinen innersten oder auch am leichtesten çbersehbaren Intentionen, dann muû man sich an irgendein Jugendwerk halten. Man muû eine Sache von ihm nehmen, die ihn ganz enthålt. Schleiermacher macht es uns darin leicht, als es ihm gegeben wurde, einmal in einer bestimmten Stunde das wirklich zu sagen, was Thema und Aufgabe seines ganzen Lebens und Schaffens werden sollte: Er wurde der Redner »çber die Religion an die Gebildeten unter ihren Veråchtern«. Er wurde ihr groûer Apologet ± und hat die Theologie in diesem Sinne, als Apologetik in einer groûartigen, vielleicht Pascal vergleichbaren Weise, ins Verhåltnis zur Moderne gesetzt. Was bewegt ihn? Schleiermacher sieht eine Bildung heraufziehen, die die Welt aufteilt in ein rein wissenschaftliches Erkennen der gegenståndlichen Gegebenheiten und ein das Handeln des Menschen normierendes Moralgesetz; er sieht die moderne Welt ± und er ist wirklich ein Mensch und Bejaher der Moderne ± aufsplittern in diese beiden Gebiete des Wissens und der Moral; und er fragt sich nun, wo in diesem entscheidenden Moment der modernen Mensch22. In Stichworten notierte Iwand: Barth und Brunner! Abendmahl. ± Wahrscheinlich bezieht sich dieser Vermerk auf die Art und Weise, wie Barth der allzu direkten Verurteilung Schleiermachers durch E. Brunner entgegentrat. Das Stichwort »Abendmahl« deutet wohl auf die von Barth angefçhrte Geschichte von Schleiermachers »Abendmahl mit Wasser« (statt mit Wein) auf seinem Sterbebett hin (vgl. Einleitung, WW I, IC, und K. Barth, Schleiermacher [1926], 179).

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heitsgeschichte das Christentum, die Religion bleiben soll. Er will sie weder an das eine noch an das andere verraten, er will aber auch dem Menschen, dem »gebildeten Menschen«, das heiût dieser modernen Welt entgegengehenden Menschen, die Religion nicht vorenthalten: die Mitte des Lebens, die eigentliche Wurzel alles Seins.

1.2.1 Das Problem der Religion 23

Will man wissen, was »Religion« bedeutet, was mit diesem uns heute etwas suspekt gewordenen Worte gemeint ist; will man wissen, woher der religionsphilosophische Unterbau stammt, der die dogmatische Arbeit des ganzen neunzehnten Jahrhunderts auszeichnet, also alles, was Religionsgeschichte, Religionspsychologie, Religionssoziologie heiût ± dann muû man Schleiermacher lesen. Er ist der Kçnder, der Herold der »Religion«, ihr bester und wirkungsvollster Apologet. 1799 erscheinen ± anonym ± die »Reden«. Sie sind in fçnf Teile geteilt, der erste lautet: »Apologie« ± und in der Tat: Apologie ist sozusagen der Titel alles dessen, was Schleiermacher als Theologe arbeitet, ist der Inbegriff seiner immensen Leistung auf fast allen Gebieten der theologischen Wissenschaft, mit Ausnahme des Alten Testaments, gegen das er eine immer wieder offen bekannte Reserve zeigt. Was heiût Apologie? Wenn man die Theologie in apologetischem Sinne treibt, dann heiût das ein Doppeltes: Einmal sind wir dabei ausgerichtet auf die Ablehnung, auf den Widerspruch, der der Botschaft des Christentums drauûen widerfåhrt. Und zwar geht es um den bildungsmåûigen, weltanschaulichen Widerspruch, den wir jedenfalls in der Moderne, oder besser gesagt: in der Moderne wieder vorfinden. Wenn Schleiermacher sich an die »Gebildeten« wendet, dann nicht an sie als Stand im Unterschiede zum einfåltigen Volk, sondern er redet sie an als Typ. »Ich weiû, daû ihr ebensowenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als ihr die verlassenen Tempel besucht, daû es in euren geschmackvollen Wohnungen keine anderen Hausgætter gibt als die Sprçche der Weisen und die Gesånge der Dichter (¼). Es ist euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daû ihr der Ewigkeit nicht mehr bedçrftet, und nachdem ihr euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid ihr çberhoben an dasjenige zu denken, welches euch schuf. Ihr seid darçber einig, ich weiû es, daû nichts Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann çber diese Sache, die von Philosophen und Propheten, und dçrfte ich nur nicht hinzusetzen, von Spættern und Priestern nach allen Seiten zur Gençge be23. Ûberschrift Iwands.

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arbeitet ist«. 24 Trotzdem bekennt Schleiermacher, daû er »von einer inneren und unwiderstehlichen Notwendigkeit, die mich gættlich beherrscht«, gedrungen sei zu reden. Schleiermacher kennt eins nicht: die Angst vor der Moderne. Angst hat dieser Theologe nur vor seiner eigenen Zunft, vor dem »Bçndnis zwischen Christentum und Barbarei« 25 , wie er das als alter Mann in einem Sendschreiben an Lçcke betont. Aber genau so schon der Jçngling: »ich habe nichts zu schaffen mit den altglåubigen und barbarischen Wehklagen, wodurch sie die eingestçrzten Mauern ihres jçdischen Zion und seiner gotischen Pfeiler wieder emporschreien mæchten« (5). Schleiermacher bringt hier auch das Opfer, das wohl bei keiner echten Apologetik entbehrlich ist: er distanziert sich von seinem åuûeren Beruf, um ihn innerlich desto çberzeugter und andringender ausçben zu kænnen: »Als Mensch rede ich zu euch von den heiligen Mysterien der Menschheit nach meiner Ansicht, von dem, was, seit ich denke und lebe, die innerste Triebfeder meines Daseins ist, und was mir auf ewig das Hæchste bleiben wird, auf welche Weise auch noch die Schwingungen der Zeit und der Menschheit mich bewegen mægen« (5 f.). Dieser Mann hat also seine Mitte gefunden, von der aus er ± von oben her gehalten ± alle kirchlichen und såkularen Vorurteile çber den Haufen wirft. Er ist genauso respektlos gegençber dem in sich abgeschlossenen Bezirk einer rationalen, gesetzmåûig-kalten Welt wie der sakralen Institution und ihren dogmatischen Restbestånden gegençber, die diese mit permanent schlechtem Gewissen mit sich schleppt. »Sei es also weder schicklich noch ratsam, von der Religion zu reden, dasjenige, was mich also dringt [± wer dåchte hier nicht an das paulinische: Denn die Liebe Christi drångt uns also (2Kor 5,14)! ±], erdrçckt mit seiner himmlischen Gewalt diese kleinen Begriffe« (6). So redet kein Mystiker, und es ist offenbar, daû diese Sache nicht ohne weiteres mit dem Thema getroffen ist: die Mystik oder das Wort. 26 Nein ± schon das Thema: »Reden çber die Religion« låût auf den ganz und gar der Úffentlichkeit zugewandten missionarischen Zug dieser Theologie schlieûen. Hier wird die Welt angesprochen von einem, der meint, daû er ihr etwas zu kçnden hat. Was hat denn dieser Apologet des Christentums zu sagen? Eben dies, 24. F. Schleiermacher, Reden çber die Religion, WW IV, 211 f. Dort steht auch die Seitenzahl der Erstausgabe angegeben. Seitenangaben im Text, nach der Nummerierung der Erstausgabe. 25. F. Schleiermacher, Zweites Sendschreiben an Herrn Dr. Lçcke, WW I,2, 614. 26. Anspielung auf E. Brunner, Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tçbingen 1924.

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daû die moderne Kultur, die moderne »Bildung«, die er ± nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Metaphysik ± heraufziehen sieht, den Menschen in zwei Extreme treibt. »Den einen gebietet die unersåttliche Sinnlichkeit, eine immer græûere Masse irdischer Dinge um sich her zu sammeln, die sie gern aus dem Zusammenhange des Ganzen herausrisse, um sie ganz und allein sich einzuverleiben« (7). Das sagt Schleiermacher, nicht Karl Marx! Er sieht den Menschen sich an »einzelnes« hången, »immer mit selbstsçchtigen Beziehungen beschåftigt, bleibt ihnen das Wesen der çbrigen Menschheit unbekannt« (7 f.). Wird man nicht zugeben mçssen, daû dieser Mann damals unsere Krise, die Krise des Kapitalismus, die des »Fachwissenschaftlers«, des »Superman« im Gebiete der Wirtschaft und der Politik mit dem Scharfblick des um die Menschheit besorgten Propheten gesehen hat? Und er hat genauso das andere gesehen, daû auf der anderen Seite ein »sein Ziel çberfliegender Enthusiasmus« stehen wird: »ohne etwas Wirkliches besser zu gestalten, schweben sie um leere Ideale herum«. Schleiermacher sieht hier die Ohnmacht des modernen Geistes, der schlieûlich »tatenlos und erschæpft« (8) auf seinen ersten Punkt zurçckkehrt; der nur kritisch, nur phantastisch, also surrealistisch sich zur Wirklichkeit verhålt. Es wird diese moderne Kultur »auseinanderbrechen«. Schleiermacher sieht sozusagen zu seinen Fçûen bereits diesen Riû, er sieht, wie dieser neu heraufziehende Typ der Gebildeten Wirklichkeit und Geist nicht mehr zusammenfassen, nicht mehr durch einander gestalten kann, weil hier die Mitte herausgenommen ist, weil sich hier die Welt in Wissenschaft und Weltbeherrschung auflæsen muû ± da der eigentliche Zugang zum Leben verschçttet ist, die Religion. Aber Religion ist immer nur die Sache weniger. ± Hier klafft ein merkwçrdiger Kontrast auf zwischen den »wenigen« aus dem Evangelium, den »wenigen«, die durch die enge Pforte gehen, den wenigen, die »gerettet« werden (Lk 13,23 f.), den »wenigen«, die erwåhlt sind (Mt 22,14) ± und den ausgesuchten, besseren, edlen Naturen, die sich das Empfinden fçr Religion bewahrt haben. Es ist eine Sache der Aristokratie des Geistes, im Unterschied zu den rohen und sinnlichen Naturen, die Schleiermacher im Sinne hat. Religion ist Erhebung, Ek-stasis, nur wenige sind fåhig, sich erheben zu lassen, noch weniger freilich, diese Erhebung an anderen zu bewirken. »Darum sendet die Gottheit zu allen Zeiten hie und da Einige, in denen beides [also Natur und Geist] auf eine fruchtbarere Weise verbunden ist, (¼) und setzt sie ein zu Dolmetschern ihres Willens (¼) und zu Mittlern desjenigen, was sonst ewig geschieden geblieben wåre« (8). Diese Menschen ± und Schleiermacher fçhlt sich in diesem Berufe von oben her bestimmt ± mçssen wirken (auch wenn niemand da wåre!), ihr Wirken

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glçht in jedem Kçnstler oder Dichter, Redner oder Seher. Sie sind »wahre Priester des Hæchsten«. Damit ist deutlich, was es heiût, wenn der Theologe als »Redner« auftritt. Er steht damit in einer Reihe mit den Fçhrern der Menschheit, den groûen und kleinen Kçnstlern, die alle bemçht sind, »das gemeine Leben in ein hæheres zu verwandeln, die Sæhne der Erde auszusæhnen mit dem Himmel«. Das ist das »hæhere Priestertum, welches das Innere aller geistigen Geheimnisse verkçndigt und aus dem Reiche Gottes [!] herabspricht«. Dies Tun einzelner Menschen geht freilich dem Tage entgegen, da es sich selbst aufhebt: »Mæchte es doch geschehen, daû dies Mittleramt aufhærte. (¼) Mæchte die Zeit kommen, die eine alte Weissagung so beschreibt, daû keiner bedçrfen wird, daû man ihn lehre, weil alle von Gott gelehrt sind« (10; vgl. Jer. 31,34). Nicht der prophetische Angriff auf die widergættliche Welt ± nicht das Zurçckbeben vor dem Abgrund des Bæsen, wie das die Seele des jungen Tholuck bewegt ±, nicht Umkehr schlechthin, sondern Umkehr zu einer mit der Beseelung der Kultur, der Humanisierung der Menschheit gegebenen harmonischen Entwicklung kçndet dieser Freund des Novalis und des Friedrich Schlegel seiner Generation. Er sieht ein Ziel vor sich ± wenn auch noch in weitester Ferne ± da jeder »dann in der Stille sich und den anderen« leuchtete, »und die Mitteilung heiliger Gedanken und Gefçhle (¼) nur in dem leichten Spiele« (11) ± das heiût in dem freundschaftlichen Austausch gemeinsamer Bewegtheit unter Gleichgesinnten ± bestçnde. Religion heiût, daû heute schon in uns allen etwas aufkeimt von dieser neuen Menschheit, von diesem uns alle miteinander versæhnenden, aus dem Gegeneinander einen Reichtum der Begabung und der Anregung machenden Miteinander der neuen Menschheit. Das findet Schleiermacher schon jetzt wirksam in der Freundschaft, schon jetzt in dem gemeinsamen Bewegtsein des Volkes von einer groûen Idee, schon jetzt in der Gemeinschaft der Christen, die sich in der Versammlung als Brçder wissen und die Schlacken des Irdischen durchglçhen lassen von dem sie erfassenden Geist, der den Moment zum Augenblick erhebt, da das Irdische vom Ewigen erfaût und umgeformt wird. Schleiermacher ist Apologet, weil er wirklich zur Umkehr ruft, weil er die Menschen seiner Zeit hingleiten sieht in ein Dasein, dem Wissenschaft alles zu werden droht und das darum in seinen Trieben ganz der Sinnenhaftigkeit verfållt. Es liegt schon etwas drin von dem »Tut Buûe« ± von dem groûen Halt, das er seinem dem Rationalismus erliegenden Zeitalter zuzurufen sich gedrungen fçhlt. Nur daû er den Buûruf nicht griesgråmig, nicht sauer sehend, gerade auch zum kulturellen Fortschritt nicht sauer sehend und nicht hinterhertrabend vorbringt, sondern sich durchaus als »Freudenbote«, als Heros eben dieser neuen, die

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Religion bejahenden und in der Religion Gott und Welt bejahenden Kultur weiû. Der vermeintliche Atheismus ist nur eine Folge dessen, daû auf der einen Seite der Mensch nicht tief genug die Wurzeln seiner Bildung, nåmlich im tiefsten, kçnstlerischen, gættlich gemeinten Sinne, begriffen hat ± und auf der anderen Seite, daû gefçhllose Priester dem Menschen, der von drauûen herkommt, die toten Begriffe anbieten, daû sie nicht selbst »begeistert« sind, keine echten Interpreten des »Geheimnisses«, das es zu eræffnen gilt. Aber ihm, Schleiermacher, ist es widerfahren, und das muû er bekennen. »Vergænnet mir, von mir selbst zu reden: Ihr wiût, was Religion sprechen heiût, kann nie stolz sein; denn sie ist immer voll Demut. Religion war der mçtterliche Leib, in dessen heiligem Dunkel mein junges Leben genåhrt und auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde, (¼) sie half mir, als ich anfing, den våterlichen Glauben zu sichten, und das Herz zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt, sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden, sie leitete mich ins tåtige Leben, sie hat mich gelehrt, mich selbst mit meinen Tugenden und Fehlern in meinem ungeteilten Dasein heilig zu halten, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gelernt.« (12) Hier ist nahezu klassisch das Programm einer ganzen Epoche entfaltet: »Sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit schwanden«! Und was bedeutet der Satz: »Sie hat mich gelehrt, mich selbst in meinem ungeteilten Dasein ± mit meinen Tugenden und Fehlern ± heilig zu halten«? Darçber kænnte man Bånde schreiben. Diese Apologie des Christentums ist allerdings ein anderes als das, was Paulus und Johannes der Tåufer, als was Luther und Calvin ihrer Zeit zu sagen hatten. Aber sie redeten auch nicht zu den »Heiden«, sie redeten nicht an eine schlecht informierte Bildungswelt, um sie besser zu informieren. Ihr Anliegen war nicht ± wie das Schleiermachers ± mit Entmythologisierung umschrieben. Sie hatten keine Sorge um das Zerbrechen der Einheit der Kultur, im Gegenteil, sie haben manchen Schlag getan, um gerade diese Einheit ± auch die religiæse, etwa des Mittelalters ± zu zertrçmmern. Sie sprachen nicht zur Welt, sondern zur Kirche, sie bewegten sich in einem anderen Gebiet, an einer ± wie ich meinen wçrde ± viel gefåhrlicheren Stelle. Sie standen da und kamen daher, wo das Gericht den frommen Menschen trifft. Sie sahen, daû die Religion den Menschen vor Gott eben nicht sichert, daû hier gerade der Blitz herunterfåhrt, daû Gott, wenn er kommt, uns nicht nur aus der Welt und ihren Sicherungen, sondern auch aus dieser »Ungeteiltheit meines Daseins«, das Religion genannt wird, herausholt. Die Religion kænnte Hand in Hand gehen mit einem sehr virulenten, einem gerade aus dieser Wurzel aufsprieûenden Atheismus.

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Hat Schleiermacher das gesehen? Hat er genug Raum gelassen, um dieser Mæglichkeit gerecht zu werden? Hat er gezeigt, wo die Religion aufhært, Offensein, Passivitåt fçr Gottes Tun und Wort zu bedeuten? Hat er nicht die Religion sozusagen exlex (an kein Gesetz gebunden) gemacht, so daû auch Gott sie nicht mehr treffen, sie nicht mehr richten kann?

1.3 Glaubenslehre auf der Basis der Erfahrung 27 Wenn man Schleiermachers Glaubenslehre in die Hand nimmt, ist man immer wieder durch eins çberrascht: durch den gleichmåûigen Fluû der Gedanken, durch die wunderbare Ordnung und Lenkung, die dem Denken çber die Glaubensfragen hier zuteil wird, durch die Ruhe und Schlichtheit, ja den Mangel an Pathos, der das Ganze einem ruhig dahingleitenden, breiten und fruchtbaren Strome åhnlich macht, der, nach allen Seiten offen, bereit ist, viele Nebenflçsse in sich aufzunehmen. Wenn Troeltsch einmal gesagt hat, der Katholizismus sei das System des Synkretismus, also einer viele fremde Erscheinungen in sich aufnehmenden Religion, so kænnte man das bei Schleiermacher auch sagen ± freilich mit einem Unterschied: dies aus der natçrlichen Religion eindringende Fremde wird nicht ungelåutert çbernommen. Wenn Schleiermacher eine Kategorie zum Angelpunkt seines Systems macht, dann ist es die der Wiedergeburt ± und selbst da, wo er von einem so glçcklichen Fortschritt der Natur des Menschen im Sinne der Humanitåt redet, daû alles Rohe und primitiv Sinnliche schon durch die Verfeinerung der Geselligkeit abfållt, selbst da bleibt ein letzter Riû zwischen Natur und Gnade, der nie durch die Entwicklung aufgehoben wird, der nur durch die Erlæsung çberwunden werden kann und durch unser Eingegliedertsein in die neue Menschheit, die mit Jesus Christus als ihrem Haupte ihren geschichtlichen Anfang auf Erden genommen hat. Wenn wir uns also noch einmal an das Bild von dem Strom halten dçrfen: die Quelle desselben bleibt rein, sie liegt nicht in den Niederungen des menschlich-natçrlichen Lebens. Die Quelle desselben ist und bleibt die in Jesus Christus stattgehabte Erlæsung, und auf sie wird alles, wird jedes 27. Ûberschrift Iwands. Er notiert an der Oberseite dieses Blatts das dem Proslogion von Anselm entnommene Motto von Schleiermachers »Der Christliche Glaube« : »qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelliget.« (»Denn wer nicht zunåchst glaubt, der wird keine Erfahrung machen, und wer nicht erfahren hat, der wird nicht erkennen.« Proslogion 1, ed. Schmitt, I, 100, 18; De fide trinitatis 2, ed. Gerberon 42 C).

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einzelne Lehrstçck, wird die ganze auûerchristliche Religionsgeschichte bezogen. Niemals geht ± wie spåter bei Richard Rothe in seinem Kulturprotestantismus ± die Kirche in der sittlich verstandenen und sich sittlich verstehenden Menschheit auf, sondern umgekehrt, die Menschheit hat die Kirche in ihrer Mitte, damit in ihr der Strom der Erlæsung flieûe und sie an seinen Wassern das Bad der Wiedergeburt im Geiste empfangen kænne, ohne das weder der einzelne noch die Menschheit als ganze den Sinn und das Ziel ihrer gættlichen Bestimmung erreicht. Und nun denken wir uns jede einzelne dogmatische Lehre, also etwa das Lehrstçck von der Sçnde oder das von der Buûe oder das von der Erwåhlung und Verwerfung oder das von der Schrift und der Predigt oder ± um einige schwierigere zu nennen ± die Stçcke von den Eigenschaften Gottes oder von der activa et passiva oboedientia (vom aktiven und passiven Gehorsam) oder die Lehre von der Kirche, und zwar der unsichtbaren wie der sichtbaren, der missionarisch wirksamen wie der bekenntnisgemåû begrenzten: denken wir uns alle diese Lehren neu geprçft und çberarbeitet von diesem einen Quellort her, alle darauf angesehen, ob sie notwendig und geeignet sind, die uns in Jesus Christus zuteil gewordene Erlæsung zum Ausdruck zu bringen ± dann haben wir die Leistung und den Zweck der Schleiermacherschen Glaubenslehre vor uns. Im Zentrum steht nicht ein Prinzip, auch nicht mehr das der Schrift ± sonst wçrde, sagt Schleiermacher, ein Gelehrtentyp die Fræmmigkeit beherrschen ±, sondern im Zentrum steht Jesus Christus, steht die mit ihm unter uns wirksam gewordene Erneuerung des Menschengeschlechts, an der wir jeweils durch unsere eigene, bewuûte und als solche festgehaltene Neugeburt teilhaben. Der Mensch, verstrickt und verwoben in ein endliches, sinnliches, partielles Weltbewuûtsein, das sein Bestimmtsein fçr das Unendliche, seine ewige Bestimmung verdeckt, begegnet in Jesus Christus dem, der seinem angeborenen, aber nicht wirksamen, weil immer viel zu schwachen Gottesbewuûtsein die Hand reicht, um den Menschen, der hier gemeint ist, den neuen, den in Gott geborenen Menschen, herauszuziehen und zu wahrem, echtem Leben zu bringen. Die Begegnung mit Christus ist fçr Schleiermacher die Geburtsstunde des neuen Menschen, des Menschen, fçr dessen Selbstverståndnis (Schleiermacher sagt fçr Selbstverståndnis »Bewuûtsein«!) Gott und sein Bezogensein auf ihn (im Unterschied zu der Welt) konstitutiv ist. Vom Gesamtleben Jesu geht ein Geist der Erneuerung aus, ein Odem des Lebens weht von da aus çber die Totengebeine der Menschheit, daû die Berçhrung mit ihm, mit seiner Person (und nicht nur mit den Lehrsåtzen çber seine Person) jeden von uns mit hineinversetzt in den Gesamtzusammenhang des

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neuen Lebens, der in Jesus Christus seine nie versiegende und doch uns alle umfassende Quelle hat. »Fassen wir nun dies alles zusammen« ± so heiût es in § 88 ±, »so setzen wir hier çberall auf der einen Seite eine anfangende gættliche Tåtigkeit als etwas Ûbernatçrliches, zugleich aber eine lebendige menschliche Empfånglichkeit, vermæge deren jenes Ûbernatçrliche ein geschichtlich Natçrliches werden kann.« 28 Es kommt Schleiermacher darauf an, die »Selbigkeit der menschlichen Natur in beiden«, das heiût in dem Gesamtleben der Menschheit »vor der Erscheinung des Erlæsers« und »dem in der Gemeinschaft mit dem Erlæser« (15), zu wahren, denn die Selbigkeit der menschlichen Natur wahren ± auch in der Wiedergeburt! ±, das heiût das Bewuûtsein, das Selbstverståndnis als Ausgangspunkt des frommen Lebens wahren. Was aber im Blick auf diese Konstituante im persænlichen Leben des einzelnen gilt, das gilt auch von der Menschheit als ganzer: Schleiermacher leugnet nicht, daû Jesus Christus »çbernatçrlich geworden ist«. Er ist nach seinem Woher nicht aus dem »sçndlichen Gesamtleben« (14) des Menschengeschlechts zu begreifen. Es gehært zu dem Groûen an dieser Dogmatik, daû aus innerstem Interesse heraus das »versucht (¼) gleichwie wir, doch ohne Sçnde« (Hebr 4,15) im Zentrum der Christologie steht, aber das Neue ist ebenfalls etwas »Gewordenes«, es ist also ebenfalls den geschichtlichen Kategorien der Entwicklung unterworfen. Das Neue ist nicht ± wie die Aufklårung meinte ± eine Idee, sondern das Neue ist der in Jesus Christus mitten unter uns wirkende, lebende, aber auch fortwirkende, in seiner Gemeinde und durch seine Gemeinde weiterlebende Mensch. Und zwar ist er der im Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte sozusagen von Anbeginn, urbildlich gemeinte und angelegte, der, auf den die Menschheitsentwicklung nach ihrer gættlichen Anlage hinaus will. Jesus Christus ist der wahre Mensch ± »fçr diesen Gesamtumfang ist auch die Erscheinung des Erlæsers mitten in diesem Naturverlauf nicht mehr ein çbernatçrliches, sondern nur durch das vorherige bedingtes Hervortreten einer neuen Entwicklungsstufe, deren Zusammenhang mit dem vorigen freilich nur in der Einheit des gættlichen Gedankens liegt« (15). Das heiût also: Die Menschheit ist nach ihrem Gesamtzusammenhange, in dem wir alle stehen und aus dem jeder von uns nach seiner individuellen Existenz zu fassen ist, ein gættlicher Gedanke, sie ist darauf angelegt, ihr Dasein in allen einzelnen Beziehungen, wie sie sich durch Berçhrung 28. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsåtzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/1831), Bd. II, Berlin (bei G. Reimer) 1842, 15 (§ 88.4). Seitenangaben im Text.

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mit der Welt ergeben, vom Gottesbewuûtsein her bestimmen zu lassen. Dieser Glaube an die teleologische Bestimmung der menschlichen Existenz und die »Fræmmigkeit« sind fçr Schleiermacher eigentlich dasselbe. Seine Dogmatik will vermeiden, daû der Mensch, in seinem Welt- und Gottesverhåltnis, dabei wie eine tote Sache behandelt wird. Der Mensch soll im Zentrum stehen, nicht so, daû Gott dabei zurçcktråte, sondern im Gegenteil: der Mensch als die Ståtte, an der sich gerade Gott als Gott erweist. Fçr Schleiermacher ist Jesus dieser vollkommene Mensch: der, in dem das Menschliche und Gættliche zu ungetrçbter Einheit zusammengetreten sind, in dem alles, was bei uns Gnade heiût, Natur, wenn auch çbernatçrliche, urbildliche Natur ist. Und nun meint Schleiermacher, daû Jesus nicht als ein gelæstes, fçr sich zu nehmendes Individuum in der Menschheit stehe, und zwar dieser Mensch Jesus, der ihn eigentlich allein interessiert, sondern daû in ihm wie in einem Exemplar, in einem typos, die Menschheit ihre eigentliche Bestimmung erfaût, daû hier das Ziel des weiten und dunklen Weges aufleuchtet, den wir wandern, der in unserer Existenz immer wieder durch die Sçnde verdeckt, aber in der seinen in seiner tiefsten Eigentlichkeit offenbart ist. Indem wir uns nun in diesen neuen Menschheitszusammenhang hineinnehmen lassen, der in Christus begonnen hat, befinden wir uns alle in einer zunehmenden Annåherung auf ihn hin, freilich in einer Annåherung, die niemals, solange wir in diesem Zustande der Sterblichkeit und Irrtumsfåhigkeit leben, aufhært, Annåherung zu sein. »So muû offenbar jeder gegebene Zustand dieses Gesamtlebens (des frommen!) nur Annåherung bleiben zu dem, was in dem Erlæser selbst gesetzt ist, und eben dies verstehen wir unter seiner urbildlichen Wçrde« (30 [§ 93.2]). 29

1.3.1 Christologie 30

Man wird also sagen dçrfen, daû Schleiermachers Tat in der Dogmatik darin bestand, daû er sie radikal-christologisch aufgebaut hat. Es mag dies nach auûen anders erscheinen, aber der breite Vorbau, den er ihr gab, auch die Tatsache, daû er die Lehre von den Eigenschaften Gottes allein aus der Gott-Welt-Beziehung entfaltet ± sozusagen abgesehen von der in Christus geschehenen Offenbarung ±, ist nur methodischer Kunstgriff, ist apologetisch gemeint, gehært zu den unvermeidlichen Prolegomena der Dogmatik, in denen die Auseinandersetzung mit der vorfindlichen Situation der Philosophie und Theologie sich vollzieht. Schleiermacher hat seine Glaubenslehre zweimal herausgegeben, 1821 29. Iwand notiert im Text: Sendschreiben 2 siehe unten. 30. Ûberschrift Iwands.

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und 1831. Dazwischen liegen bestimmte Angriffe sowohl von seiten der Hegelianer ± insbesondere F. Chr. Baurs ±, die ihn des Gnostizismus bezichtigten, als auch von orthodoxer Seite, die ihn des Pantheismus zieh, und Schleiermacher war sich ± oder wurde sich, jedenfalls in den Jahren zwischen 1821 und 1832 ± immer deutlicher bewuût, was er zu tun hatte. Im Grunde haûte er nichts so sehr wie das »Gemisch von leibnitzischwolfischer rationaler Theologie und von sublimierten alttestamentischen Aussprçchen« 31 . Er schreibt der Unhaltbarkeit dieser Konstruktion ± çber die Antithese zum Alten Testament wird noch besonders zu reden sein ± es zu, daû »der franzæsische Atheismus unter uns Eingang fand; denn wo man unter uns von Gott nichts wissen wollte, war immer mehr die herrschende Darstellung gemeint als die Idee selbst. Das ist die Erfahrung, die sich mir seit meinem Knabenalter immer tiefer eingeprågt hat.« 32 Er gesteht, er habe niemals der rationalen Theologie bedurft, um seine Fræmmigkeit zu »nåhren« oder zu »verstehen (¼), aber ebenso wenig auch der sinnlich theokratischen des alten Testamentes«. 33 Manchmal fragt man sich, warum Schleiermacher so energisch die Brçcken zum Alten Testament abbricht. Man fragt sich, ob er dann wirklich noch meinte, eine Christologie entfalten zu kænnen. Man fragt sich, ob es angeht, wie er es tut, in der Lehre von der Schrift nur das Neue Testament zu berçcksichtigen. »Das Ansehen der heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begrçnden, vielmehr muû dieser schon vorausgesetzt werden« (323) ± so lautet der § 128, mit dem Schleiermacher die Lehre von der Heiligen Schrift beginnt. Er muû sie so beginnen, weil er nur das Neue Testament berçcksichtigt. Er kann infolgedessen mit dem fçr die Christologie so wesentlichen »Schriftbeweis« ± denken wir nur an 1 Kor 15, an das offenbar doch sehr alte und grundsåtzliche, mit den »drei Tagen«, die zwischen Tod und Auferstehung liegen, eng verbundene »kata tas graphas« (»nach den Schriften«; 1 Kor 15,3)! ± er kann damit gar nichts anfangen. Die Weissagungen der Propheten sind ihm mehr oder weniger verschwommene Ahnungen, und in einem fast existentiell zu nennenden Radikalismus erklårt er, das Christentum stehe, »was seine Eigenthçmlichkeit betrifft, mit dem Judentum in keinem anderen Verhåltniû als mit dem Heidenthum«. 34 Ja, er meint sogar, daû »das Christenthum (¼) aus dem Judenthum nicht eher hervorgehen (¼) konnte (¼), als bis dieses wåhrend 31. 32. 33. 34.

F. Schleiermacher, Erstes Sendschreiben an Herrn Dr. Lçcke, WW I,2, 603. Ebd. Ebd., 138 f. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/22), Bd. I, 121 § 22.1. Seitenangaben im Text.

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und nach der babylonischen Zerstreuung durch nicht jçdische Elemente mannigfaltig umgebildet und mit dem Heidenthum vermengt war« (122). Es ist wohl nicht allzu schwer zu sagen, worum es Schleiermacher geht: Er will Christus in Beziehung setzen zum Menschlichen als solchen. Eine bevorzugte oder ausschlieûliche Auslegung des »Messiastitels« vom Alten Testament her wçrde ihm als Verkçrzung des Menschlichen in Jesus von Nazareth erschienen sein. Vielleicht ist er auch an diesen Punkten in der Polemik immer wieder etwas gereizt und empfindlich, aber auch unerbittlich abweisend, weil hier eine ± nicht nur seine, sondern unser aller ± schwache Stelle liegt, weil wir alle nicht das proton (Erste) begreifen, das in der Bibel so håufig in der Rangordnung von Juden und Heiden auftritt, und weil wir alle spçren, daû wir hier aus unseren ± uns in besonderer Weise angeborenen ± hellenischen Ideen und Denkformen heraus mçssen auf das Trockene ± daû wir uns wie aufs Land geworfene Fische vorkommen, wenn wir hæren, daû der im Alten Testament verheiûene Davidide unser aller Heil in sich schlieût. Es ist nicht von ungefåhr, daû wir deutschen Theologen uns so schwer dahineinfinden kænnen, daû die Christologie im Alten Testament beginnt ± bei Luther war das noch anders, er hat bekanntlich seine Christologie immer wieder in der Psalmenauslegung entwickelt. Aber diese seit der Aufklårung und der Berçhrung mit dem Griechentum gerissene Lçcke in unserer theologischen Existenz hat auch Schleiermacher nicht zu schlieûen vermocht und nicht schlieûen gewollt. Wenn man von rçckwårts her urteilen wollte, so kænnte man hier die schwache ± die schwåchste Stelle in seinem ganzen System sehen, hier schon die Bresche vermuten, durch die einmal der furchtbare Einbruch des antichristlichen Prinzips sich vollziehen wird. »Da wir die Einheit einer frommen Gemeinschaft nur da finden kænnen, wo (¼) das Selbstbewuûtsein der Frommen (¼) auf gleiche Weise gestaltet ist: so mçssen wir das Judenthum eben so bestimmt vom Christenthum trennen wie das Heidenthum. (¼) Daher auch die Regel wol aufgestellt werden kann, daû wir nur diejenigen unserer frommen Erregungen in alttestamentischen Stellen genau kænnen wiedergegeben finden, welche mehr allgemeiner Natur sind und nicht sehr eigenthçmlich christlich ausgebildet; die es aber sind, fçr die werden alttestamentische Sprçche kein geeigneter Ausdruck sein, wenn wir nicht einiges daraus hinwegdenken und anderes hineinlegen«. So ist ihm der Alte Bund nur die »Uebergangsfåhigkeit einer veraltenden und unvollkomneren Glaubensweise in eine hæhere« (123). Ich meine nun allerdings, daû die Wertung des Alten Testaments aufs innigste mit der Entwicklung der Christologie zusammenhången dçrfte.

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Nicht nur darum, weil der Titel »Christus« nicht zu verstehen ist ohne das Alte Testament ± es ist das unermçdliche Anliegen Martin Kåhlers geworden, hier Stellung zu beziehen und die Notwendigkeit des Alten Testaments fçr den Glauben an Christus zu erweisen ±, sondern weil man eben sonst die Gættlichkeit Jesu nicht anders begrçnden kann, als es Schleiermacher dann tun wird, aus einer besonderen, durch keinen anderen Menschen erreichten Kråftigkeit des Gottesbewuûtseins heraus. 35 Im Neuen Testament ist aber Jesus der Verheiûene ± in ihm sind die Verheiûungen Gottes, die dem Volke Gottes geltenden Verheiûungen, Ja und Amen (2Kor 1,19 f.). Christus Jesus heiût, dieser Jesus von Nazareth hat eine Vorgeschichte, und diese Vorgeschichte ist angegeben mit dem Titel »Christus«. Ich finde immer noch die Formulierung Wilhelm Vischers wegweisend, die am Anfang seines »Christuszeugnisses« steht: »Der Christus Jesus ist nicht ein Begriff, der sich aus theologischen Schlçssen oder philologischer Interpretation ergibt, sondern er ist das von Gott selbst gesprochene Wort, aus der die Theologie entspringt und das die verschlossene Bibel æffnet.« 36 Den beiden Hauptwærtern des christlichen Bekenntnisses: Jesus ist Christus ± dem Eigennamen Jesus und dem Berufsnamen Christus ± entsprechen die beiden Teile der Heiligen Schrift, das Neue und das Alte Testament. »Das Alte Testament sagt, was der Christus ist, das Neue wer er ist.« 37 Oder Luther: »Denn das Neue Testament ist nicht mehr denn eine Offenbarung des Alten. Gleich als wenn jemand zum ersten ein beschlossen Brief håtte und danach aufbråche. Also ist das Alte Testament ein Testamentbrief Christi, welchen er nach seinem Tod hat aufgetan und lassen durchs Evangelium [beachte diese Formulierung!] lesen, und çberall verkçndigen, wie das Offenbarung 5 bezeichnet ist, durch das Lamm Gottes, das allein auftåt das Buch mit sieben Siegeln, das sonst niemand kund auftun noch im Himmel noch auf der Erden noch unter der Erden.« 38 Was wird werden, wenn wir Jesus Christus nicht mehr aus dem Alten Testament heraus verstehen? Heiût das nicht, daû wir ihn ausliefern in der Menschen Hånde ± vielleicht in die Hånde sehr frommer, sehr ihm gleich gestimmter, sehr religiæs veranlagter Menschen, aber eben doch in der Menschen Hånde ± so, daû er nicht mehr der sein darf und kann, der er nach der Verheiûung ist? Es ist auch kein Wunder, daû Schleiermacher im 35. Anspielung auf den Leitsatz § 100, F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/1831), Bd. II, 94. 36. W. Vischer, Das Christuszeugnis des Alten Testaments, Erster Teil. Das Gesetz, Zçrich 1946, 13. 37. Ebd., 7. 38. M. Luther, WA 10 I 1, 181-182 (Adventspostille 1522).

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Verfolg seines Ansatzes Auferstehung und Himmelfahrt nicht mehr als wesentlich fçr das christologische Bekenntnis ansieht. Darin çbrigens auch wieder vorbildlich fçr ein ganzes Jahrhundert: bis zu Wilhelm Herrmann wird jetzt die Auferstehung nicht mehr zu der eigentlichen Glaubensentscheidung gehæren. »Die Thatsachen der Auferstehung und Himmelfahrt Christi, sowie die Vorhersagung seiner Wiederkunft zum Gericht stehen mit der eigentlichen Lehre von seiner Person in keinem unmittelbaren und genauen Zusammenhang.« 39 Schleiermacher hat nicht die Auferstehung leugnen wollen, aber er kann sie nicht aus dem »Sein Gottes in Christo« ableiten ± er reduziert sie auf die Erscheinungen des Auferstandenen. Daû eine besondere, die messianische Zeit mit der Auferweckung Jesu Christi von den Toten angebrochen sei; daû es um der Auferstehung willen heiûen darf: heute; daû um dessentwillen das Euangelion eben das Euangelion, also eine besondere Botschaft, ist: das ist Schleiermacher nicht bewuût gewesen. Wie denn çberhaupt die Zeit ± das besondere, neutestamentliche, das eigentlich reformatorische Heute ± in dieser Dogmatik fehlt. Was bleibt nun doch noch an echtem Gehalt, wenn wir auch genætigt sind, diese Abstriche zu machen? Es bleibt trotz allem noch genug: Hæren wir Schleiermacher selbst. Er bekennt, daû er sich im Grunde eine Askese auferlegt habe, denn am liebsten håtte er sein Werk unmittelbar mit der Christologie begonnen: »das Grundgefçhl eines jeden mçndigen und zur Klarheit gekommenen Christen muû doch dieses alte sein, daû in keinem anderen Heil und kein anderer Name dem Menschen gegeben ist, wobei eine groûe Verschiedenheit der Vorstellungsart allerdings immer noch stattfinden kann« 40 . Schleiermacher entfaltet hier eine Mæglichkeit, die er nicht realisiert hat. Aber andere sind diesen Weg dann gegangen, die ganze Erlanger Theologie hat ihn gewåhlt, hat die theologia regenitorum (Theologie der Wiedergebornen) aus dem Selbstbewuûtsein des Wiedergeborenen entfaltet und hat eben das getan, was Schleiermacher als lockende ± fçr ihn als Herrnhuter durchaus lockende Mæglichkeit ± vor sich sieht; »dabei (also bei einem rein christologischen Ansatz) wçrde nun die eigentliche Lehre von Gott keineswegs zu kurz kommen«, denn »die ersten bestimmten Aussagen çber Gott wçrden gewesen sein, daû er durch die Sendung Christi das Menschengeschlecht erneuert und sein geistiges Reich in demselben stiftet, also auch die ersten gættlichen Eigenschaften wåren 39. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/1822), Bd. II, 248 f. (§ 120). 40. F. Schleiermacher, Zweites Sendschreiben an Lçcke, WW I,2, 606. Seitangaben im Text.

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Weisheit und Liebe gewesen; und so wåre die ganze Lehre ebenso wie jetzt verteilt vorgekommen, nur in umgekehrter Ordnung. Denn wie zu dem frommen Selbstbewuûtsein des Christen das Bewuûtsein der Sçnde immer noch als Element mitgehært, so håtten sich aus demselben ebenmåûig die Vorstellungen der gættlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit als dazu gehæriges Gottesbewuûtsein entwickelt: Was aber jetzt das erste ist, [der Abschnitt, der græûtenteils] die [sogenannten] metaphysischen [und natçrlichen] Eigenschaften Gottes [abhandelt,], wåre das letzte gewesen.« (606) Alles, was man an seiner Dogmatik spåter so rçhmte, besonders die Einleitung, die der Religionsphilosophie gewidmet ist, und die Lehre von Gott, die ganz aus dem Gott-Welt-Verhåltnis abgeleitet ist, »sind nur unausgefçllte Rahmen« (608) ± der Bruch kommt, aber er kommt sozusagen innerhalb der Dogmatik. Sieht man genau hin, so låuft durchaus durch diese Dogmatik eine gebrochene Linie, diese Beobachtung Karl Barths 41 ist durchaus richtig. Und wenn Schleiermachers Freund und Interpret Karl Immanuel Nitzsch Schleiermacher dahin interpretiert, er nehme das besondere christliche in ein allgemeines religiæses Wissen auf, dann hat Schleiermacher dagegen doch protestiert (602), weil eben in dieser Fassung die Stufe, der Sprung sozusagen verschwindet, den er ± Schleiermacher ± nun eben nicht nivellieren und beseitigen wollte. Es gibt etwas im Christentum, das durch keine Formel zu fassen ist, jede Formel wçrde es in eine Abstraktion verwandeln. Schleiermacher sagt es folgendermaûen: »Ich håtte gewçnscht es so einzurichten, daû den Lesern mæglichst auf jedem Punkt håtte deutlich werden mçssen, daû der Spruch Joh 1,14 der Grundtext der ganzen Dogmatik ist, so wie er dasselbe fçr die ganze Amtsfçhrung des Geistlichen sein soll.« (611) Warum geht aber Schleiermacher nicht den Weg, den erst die Pietisten, dann die Konfessionellen mit soviel Zuversicht gehen ± ausgehend vom Ich des Wiedergeborenen die Lehre des Glaubens zu entfalten, weil ja in diesem Ich der alte und der neue Mensch sozusagen typologisch zusammen sind: »Ich, der Christ, bin mir, dem Theologen, eigenster Gegenstand meiner Theologie.« 42 »Ich« ± »mir« und zwischen diesem Nominativ und diesem Dativ steht dann Christus! Er allein. Warum geht Schleiermacher 41. Vgl. oben S. 75, Anm. 20. 42. J. Chr. K. von Hofmann, Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch I, Nærdlingen 18572 , 10: »Freie, nåmlich in Gott freie Wissenschaft ist die Theologie nur dann, wenn eben das, was den Christen zum Christen macht, sein in ihm selbståndiges Verhåltniû zu Gott, in wissenschaftlicher Selbsterkenntniû und Selbstaussage den Theologen zum Theologen macht, wenn ich der Christ mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wisssenschaft bin.« Ders., Theologische Ethik. Abdruck einer im Som-

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diesen Weg nicht? Darum offenbar nicht, weil »wissenschaftlicher Geist und religiæse Erregung gleichen Schritt halten mçssen in theologischen Produktionen« (611). Schleiermacher hat die Theologie nicht auf einen Pfeiler gegrçndet ± er weiû, daû sich alle diese Såtze in zwei Ebenen bewegen mçssen, wenn anders sie rechte Såtze sein wollen. Er weiû, daû Wissenschaft hier nicht nur Form ist, sondern viel mehr. Er sieht die Gefahr heraufziehen, daû diese mit dem Bekenntnis anhebende, sich darauf allein beziehende Theologie der kommenden Zeit nicht gewachsen sein wird. Schleiermacher meint also, daû dies Bekenntnis sich nicht der Mçhe unterzieht, seinen Christusglauben mit einem Weltbild zu verbinden, das ihm gemåû ist ± daû also hier das Denken zu tråge ist und sich mit alten, unhaltbaren Vorstellungen begnçgt, hinter denen es sich verschanzt. Etwa die Wundervorstellung, die Inspirationslehre ± er sieht die moderne Naturwissenschaft heraufziehen und fragt: »was ahndet Ihnen von der Zukunft, ich will nicht einmal sagen fçr unsere Theologie, sondern fçr unser evangelisches Christentum?« (612) Der Spott çber die Rçckståndigkeit wåre noch zu ertragen. »Aber die Blockade! die gånzliche Aushungerung von aller Wissenschaft, die dann, notgedrungen von euch (¼) die Fahne des Unglaubens aufstecken muû! Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen, das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?« (614) Auf der einen Seite der Heidelberger Katechismus, insbesondere die Frage 15: Was mçssen wir denn fçr einen Mittler und Erlæser suchen? Antwort: Einen solchen, der wahrer und gerechter Mensch und doch stårker denn alle Kreaturen ist 43 (624 f.) ± auf der anderen Seite die Hoffnung, daû »ohne Nachteil des Glaubens (¼) die Wissenschaft uns nicht den Krieg zu erklåren braucht« (618). Dieses von zwei Polen her ± und zwar von zwei Polen her mit gutem Gewissen ± denkende und bekennende Tun seiner Dogmatik ist ihre eigentliche Græûe. Es kænnte ja auch hinter diesem Geschåft, hinter diesem Hineinnehmen des Jesus von Nazareth mitten in das wissenschaftliche Weltbild des Menschen unserer Zeit, und zwar als des einzigen und unersetzlichen, auch unumgånglichen Erlæsers, etwas drinstecken von dem: Ich schåme mich des Evangeliums nicht (Ræm 1,16)! Schleiermacher will, daû wir in unserem Christuszeugnis auf der einen Seite nicht lassen von dem Bekenntnis, daû unser Glaube nicht aus der Spekulation, sondern aus der Begegnung mit der Person Jesu stammt. Er mer 1874 gehaltenen Vorlesung, Nærdlingen 1878, 17: »Ich, der Christ, bin mir, dem Theologen, Gegenstand des Erkennens.« 43. Heidelberger Katechismus, Frage 15.

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will aber, daû wir das in neuen Zungen sagen: wer ihm diese wissenschaftliche, das heiût also, dem modernen Weltverståndnis angemessene Entfaltung der Christologie verargt, der mæge seine Lehre »heterodox nennen; aber ich bin fest çberzeugt, es ist jene divinatorische Heterodoxie, die schon noch zeitig genug, wenn auch gar nicht gerade durch mein Buch, und wenn auch erst lange nach meinem Tode orthodox werden wird« (603 f.). Was nun Schleiermacher an Christus festhålt, ist alles gefaût in den Begriff der Erlæsung. Der Begriff der Erlæsung ist der Zentralbeziehungspunkt im Christentum. Was heiût nun Erlæsung, und was versteht Schleiermacher unter dem Erlæser? »Die erlæsende Thåtigkeit Christi besteht in der Mittheilung seiner Unsçndlichkeit und Vollkommenheit« 44 ± dazu nur ein Satz: »Die erlæsende Thåtigkeit ist nur die Fortsezung der personbildenden Thåtigkeit der gættlichen Natur in Christo. Mit dem Werden der Person Christi hat diese zeitlich begonnen, und wirkt seitdem durch die menschliche Natur Christi als ihr ursprçngliches und unmittelbarstes Organ auf alle im natçrlichen Sinn schon persongewordene menschliche Natur, nach Maaûgabe wie sie sich in geistige Berçhrung mit der gættlichen Natur bringen låût, fort, um sie mit Ertædtung der frçheren Persænlichkeit in die Gemeinschaft des Lebens Christi aufzunehmen und so zu Personen im Sinne des hæheren Lebens, d. h. zu selbstståndigen Organen der gættlichen Natur in Christo, zu bilden« (256 f. § 121). Erlæsung hat also wirklich etwas zu tun mit einem ± ex[tra] se stare. 45 Mit einem Sterben in Christo ± mit der Drangabe des Fçrsich-sein-Wollens der Persænlichkeit. Aber die Erlæsung ist nicht auf die bloûe Tåtigkeit Christi begrçndet, sondern diese Tåtigkeit stiftet ein Gesamtleben ± und in dieses werden wir aufgenommen. Dieses ist seine Tat, und in diesem steht unsere Sçndhaftigkeit als unsere Tat. Schleiermacher hat hier ohne Frage eins gesehen: das Problem des Lebens (johanneisch). Es mag die Frage der Rechtfertigung als solche zu kurz gekommen sein, die Frage nach der Gerechtigkeit 44. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/22), Bd. II, 252 § 121 Leitsatz. Seitenangaben im Text. 45. »Auûerhalb seines Selbst stehen«. Grundlegend fçr Luthers Verståndnis von Gottes rettender Gerechtigkeit ist, daû der Glaube »auûerhalb unseres Selbst« den »Standpunkt« findet, »der ein neues Leben mæglich macht; Luther sagt: ­extra nos, i. e. in Christo.¬« (H. J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, GA II, 38; vgl. ders., Rechtfertigungslehre und Christusglaube. Eine Untersuchung zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfången, Theologische Bçcherei 14, Mçnchen 19663 , 28-31; NW 5, 206 f.).

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ist nicht eigentlich entwickelt, und hier hat spåter Albrecht Ritschl eingesetzt, aber die Frage des Lebens ist gesehen und von daher ist die Erlæsung dargestellt. Und nun der Erlæser selbst: Im Erlæser ist beides ± das Geschichtliche und das Urbildliche ± vereinigt. Das Geschichtliche meint, daû der Erlæser »wirklich gelebt habe«, und das Urbildliche, daû in ihm das »zeitlich Unbedingte« in Erscheinung getreten ist. Das heiût, der »Erlæser muû sich zeitlich entwikkeln; aber jeder geschichtliche Augenblick muû zugleich das Wesen des Urbildlichen ausdrçcken, also das zeitlich unbedingte« (186 § 115 Leitsatz). Hier taucht schon die Frage auf, ob es nicht denkbar sei, daû das Allgemeinleben çber den Stifter hinausgehe 46 . Es muû also in dem Bekenntnis zu der Wçrde des Erlæsers festgehalten werden, daû er ± was die menschliche Natur betrifft ± uns gleich ist, daû er aber, was die andere Seite angeht, »als Anfånger eines zur Verbreitung çber das ganze menschliche Geschlecht bestimmten neuen Lebens dadurch von allen andern Menschen unterschieden, daû das ihm einwohnende Gottesbewuûtsein ein wahres Sein Gottes in ihm war« (193 § 116 Leitsatz). »Christus war seiner Menschheit nach vor allen Andern ausgezeichnet durch seine çbernatçrliche Zeugung, durch seine eigenthçmliche Vortreflichkeit, und durch die Unpersænlichkeit der menschlichen Natur in ihm, abgesehen von ihrer Vereinigung mit der gættlichen« (210 § 118 Leitsatz).

1.4 Schleiermacher als Ethiker 47 Aber ± so seltsam es klingt ± die eigentliche Lebensarbeit hat Schleiermacher nicht auf die Dogmatik verwandt, obschon auf diesem Gebiete die stårksten Wirkungen von ihm ausgegangen sind, sondern auf die Ethik. Und es gehært zu den græûten Seltsamkeiten, daû die Nachwelt seine Dogmatik, nicht aber seine Ethik zum Vorbild genommen hat. In der Ethik ist es ihm nicht gelungen, sich gegen die måchtige Wirkung durchzusetzen, die auf dem Gebiet der persænlichen Moral von Kant und auf dem des æffentlichen, insbesondere staatlichen Lebens von Hegel ausgegangen ist. Gegen beide hat sich Schleiermacher bemçht, ein eigenes System zu schaffen ± gegen Kant insofern, als er die Unterscheidung von Natur und Sittlichkeit, die bei Kant als Antithese gefaût ist, zur Synthese umzubilden 46. Handschriftliche Notiz Iwands: Geschichte des Lebens Jesu. 47. Ûberschrift Iwands.

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bemçht war, gegen Hegel insofern, als er nicht vom Staat, sondern von der Gesellschaft und der Geselligkeit in seinem ethischen Ansatz auszugehen bemçht war. Aber verschaffen wir uns zunåchst einmal einen Eindruck seiner umfassenden Leistung auf diesem Gebiet. Kein Theologe im 19. Jahrhundert ± mit Ausnahme des einen, darin Schleiermacher fortsetzenden Rothe ± hat es ihm gleich getan, hat eine auch nur åhnliche Leistung aufzuweisen. Als erstes, immer noch lesenswertes ethisches Programm erscheinen zum Neujahr des Jahrhundertanfangs (1800) die Monologen. In ihnen steckt natçrlich bereits das Programm alles Weiteren. Auch hier geht es um das Leben, aber das Leben in der Begegnung von Ich und Du, um die Gemeinschaft und Offenbarung, die sich zwischen zwei Menschen entfalten kann, um die Freiheit und Bildung, die von Mensch zu Mensch in der echten Gemeinschaft sich formt. Der junge Schleiermacher fragt schon nach demselben, was der alte abzubilden nicht mçde werden wird: echte Gemeinschaft. Er sieht die Welt beschåftigt, sich die Erde untertan zu machen ± und dabei die Menschheit ihre eigentliche Berufung verlieren. Er sieht, daû, je mehr die Menschen die Natur beherrschen, desto armseliger, gefåhrlicher und starrer ihre Gesellschaft zu werden droht; er sieht das kommen, was wir ja als unser Schicksal heute erleben, daû an die Stelle der Probleme der Natur und der Naturbeherrschung die der Gesellschaft und ihres Verfalls treten mçssen. »Als håtten ihrer gewaltigen Vernunft donnernde Stimmen die Ketten der Unwissenheit gesprengt; als håtten sie von der menschlichen Natur, die nur als dunkles, kaum kennbares Nachtstçck abgebildet war, nun endlich ein kunstreich Gemålde aufgestellt, wo geheimnisvolles Licht von oben alles wunderbar erleuchtet, daû kein gesundes Auge mehr den ganzen Umriû oder einzelne Zçge verfehlen kænne; als håtte ihrer Weisheit Musik die rohe råuberische Eigensucht zum zahmen geselligen Haustier umgeschaffen und Kçnste sie gelehrt: so reden sie von der heut'gen Welt (¼). Wie tief im Innern ich das Geschlecht verachte, das so schamlos, als nie ein frçheres getan, sich brçstet, den Glauben kaum an eine bessere Zukunft ertragen kann und schnæde jeden, der ihr angehært, beschimpft, und nur darum dies alles, weil das wahre Ziel der Menschheit, zu welchem es kaum einen Schritt gewagt, ihm unbekannt in dunkler Ferne liegt! Ja, wem es gençgt, daû nur der Mensch die Kærperwelt beherrsche«! 48 Gemeinschaft soll nicht Beschrånkung, sondern Erhæhung sein. Das wird zum Programm seines Lebens erhoben werden. Er, den Bettina von 48. F. Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800, WW IV, 433.

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Arnim einen Virtuosen der Freundschaft genannt hat, hat dieses Programm auch in allen seinen Stadien zu leben versucht. In Stolp ± in seiner Verbannung ± reifte seine immer noch ausgezeichnete, fçr alles weitere grundlegende Arbeit »Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre« (1803); in Halle hat er dann weiter an der Ethik gearbeitet. 1804 liest er çber die Tugendlehre, 1805 entwirft er das interessante Brouillon zur Ethik, in dem er erstmalig einen ungefåhren selbståndigen Versuch einer Theorie des Lebens macht ± darin çbrigens die interessantesten Bemerkungen çber den Zusammenhang von Freundschaft, Ehe und Kirche, auch çber die Rolle von Mann und Frau in der Religion, Gedanken, die Barth aufgenommen und in seiner Auslegung von Gen 1 verwendet hat. Dann folgen die Berliner Vorlesungen çber Ethik, immer wieder neu ansetzend 1812, 1814/16, und schlieûlich die Zusammenfassung des Ganzen in der philosophischen Ethik von 1827, die spåter von einem seiner Schçler ± Alexander Schweizer, dem Basler Theologen ± zusammengestellt worden ist (Kirchmann). Und die Lehre vom Staat (1817). »So wie die Menschen, mçssen auch die Staaten verschieden sein.« 49 Dazu kommen aber dann die einzelnen Meisterstçcke, die Vorlesungen, die Schleiermacher in der Berliner Akademie hålt: 1. Ûber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (1819). Hier wird die Øhnlichkeit mit Gott als Ausgangspunkt genommen und das Problem der Vollkommenheit erærtert. 50 Tugend und Affektenlehre. 2. Ûber den Pflichtbegriff (1824). Die Tugend ist die im Menschen liegende Kraft ± die im Menschen als Handelndem liegt, die Pflicht geht auf die sittliche Handlung selbst. Die Pflichtformeln selbst dçrfen nicht miteinander im Streit sein. »Tue unter allem Sittlichguten jedesmal das, was sich in der gleichen Zeit durch dich am meisten færdern låût.« 51 3. Und die beiden groûen Vorlesungen çber das summum bonum (Hæchste Gut) (1827-1830) ± hinter dem ja immer die Gottesfrage steht. Dann aber finden sich da noch die auûerordentlich wichtigen und geradezu modernen Vorlesungen çber Naturgesetz und Sittengesetz (1825) ± ein Schleiermacher nie loslassendes, uns heute sehr naheliegendes Thema: Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Das Naturgesetz liegt nicht auf der entgegengesetzten Seite wie das Sittengesetz, sondern beide auf derselben. »So daû die Zulassung dieses Begriffes auf dem sittlichen Gebiet ein charakteristisches Merkmal derjenigen ethischen Systeme ist, welche 49. WW III, 539 Anm. (Vorlesungen von 1833). 50. WW I, 376 f. 51. Ebd., 387.

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ich die negativen genannt habe. Wer aber verlangt, es solle sich im sittlichen Menschen alles nur als Organ zur Intelligenz verhalten, der kann jenen Begriff nicht zulassen, sondern muû auch fordern, daû jede Handlung der Idee der Sittlichkeit widerspreche, zu welcher der Impuls nicht von der Intelligenz ausgegangen ist.« 52 Das erste, was diese Ethik auszeichnet, ist, daû Schleiermacher das System der Ethik nicht absolut setzt, sondern es aus einem hæheren, dem der ± noch nicht vorhandenen ± Wissenschaft schlechthin ableitet. Hier gewinnt er den Gegensatz. Dieser Gegensatz ist bei ihm der von Wissen und Sein. Dieser Gegensatz ist kein letzter, sondern im Letzten ist die bewuûte Welt und das Bewuûtsein als Seinserfassung eins ± aber diese Einheit ist Grenze, nur als Grenze gegeben: Dialektik. Das zweite ist das Gegençber von Vernunft und Natur als die eigentliche Exposition alles Lebens. Hier gewinnt Schleiermacher die Spannung alles ethischen Seins. Alle Natur ist immer schon Gestalt und insofern vernçnftig. Alle Vernunft ist noch auf ein Sein bezogen, also auf etwas auûerhalb ihrer. Damit ergibt sich der Gegensatz zwischen organisierendem und symbolisierenden Handeln. Dieser bestimmt das ganze ethische Tun. Der Pferdefuû des Ganzen ist: Gut und Bæse fållt nicht ins ethische System. Das Bæse ist nicht existent. 53 Schleiermacher gibt dem ethischen Problem eine ganz bestimmte Note, wenn man nicht sagen will: eine vorsichtige Einschrånkung. Was heiût Ethik, wenn man die Frage von Gut und Bæse nicht als Ausgangspunkt nimmt, sondern diesen Gegensatz erst entfaltet innerhalb der ethischen Konstruktionen ± wenn er also kein letzter, sondern nur ein immanenter Gegensatz ist? Ethik heiût dann eben dies, daû es gilt, Gesetze, Regeln des geschichtlichen Lebens zu finden. Und dieses selbst erscheint als ein allmåhliches Werden, als ein Hineinbilden der Vernunft ± das heiût des Geistigen ± in den Stoff. Wenn man so will, ist die Ethik getragen vom Glauben an den Primat des Idealismus çber den Materialismus; das etwa ist die Voraussetzung, unter der allein ethisches Denken Schleiermacher sinnvoll erscheint! Er drçckt es anders aus, er bezieht die Vernunft auf die Natur, er sieht in beiden relative Gegensåtze, in aller Natur liegt bereits eine gewisse Vernçnftigkeit ± wenigstens als Tendenz alles Lebens ±, in aller Natur liegt eine bildende Tåtigkeit auf ein Objekt, auf einen Stoff hin. Insofern er52. Aus der Vorlesung çber den Begriff des Erlaubten, WW I, 442. 53. Weiter Stichworte; vermutlich hat Iwand diesen Teil seiner Vorlesung benutzt fçr den Aufsatz »Schleiermacher als Ethiker« (im Anhang aufgenommen).

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scheint Schleiermacher dann der menschliche Organismus als Vorbild dieses Nebeneinanders von Seele und Leib; hier kommt die bildende Kraft des Geistes in der Gestalt menschlicher Ordnung ± Gesellschaft, Staat und Persænlichkeit ± zu ihrer eigentlichen Auswirkung. Natur ist also das Noch-nicht-Vernçnftige, aber niemals das Unvernçnftige. Und nun sagt Schleiermacher diktatorisch: »Da es keine reale Antivernunft geben kann, in welchem Falle es auch einen Antigott geben mçûte, so kann der Gegensaz zwischen gut und bæse nichts anderes ausdrçcken als den positiven und negativen Factor in dem Prozeû der werdenden Einigung«. 54 »Das Gute« ist »das ethisch gewordene« und »also ein positiver Ausdruck fçr das ursprçngliche Nichtnatursein der Vernunft, (¼) das Bæse, wie es das Nichtgewordene ausdrçckt, (¼) kann (¼) nur ein negativer Ausdruck sein fçr das ursprçngliche Nichtvernunftsein der Natur«. 55 Und an anderer Stelle heiût es: »Sollte bæse ein ethischer Begriff sein, so kåmen wir auf einen manichåischen Dualismus.« 56 Genauso hatte Augustin gelehrt, er, der selbst erst durch die Tiefe dieses Dualismus hindurchgegangen war. Die Folgen dieser Fassung sind leicht zu erkennen: Alles Sollen verwandelt sich jetzt in ein Werden: »Die Formel des Sollens ist ganz unzulåssig«, da sie »auf eine[m] Zwiespalt gegen das Gesetz« beruht. 57 In einer solchen Sittenlehre ist die Vernunft nicht als Kraft gesetzt. Was meint Schleiermacher damit? Doch wohl dies, daû alles Wissen ein organisches Ineinandersein von Natur und Vernunft als Handeln der Vernunft ausdrçckt ± und daû dieses Wissen in der Ethik seine auf das Dasein der Welt bezogene Form gewinnt. Ethik ist ihm das Werden des organischen Daseins in der hæheren Weise des vernçnftigen. Hier ergibt sich nun die Frage, die die Theologie an die Ethik zu stellen hat: ob die Sçnde wirklich nur das NochNicht der Vernunfttåtigkeit auf die Natur ist. Es ist ganz richtig: Die Sçnde ± als die behauptete Existenz des Bæsen, des Gottwidrigen ± ist als solche ein vernçnftig nicht Erfaûbares, nicht Definierbares. Man kann den Satz nicht bilden: Die Sçnde ist eine Wirklichkeit!

54. F. Schleiermacher, Ethik 1812/13, WW II, 250. 55. F. Schleiermacher, Ethik 1816, WW II, 501 f. 56. Nach Alex. Schweizer eine Randnotiz Schleiermachers von 1832 (vgl. F. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre, aus dem Nachlasse hg. von Alex. Schweizer, in: Friedrich Schleiermachers Såmmtliche Werke. III. Abtheilung, Zur Philosophie, Bd. 5, Berlin 1835, 54). 57. F. Schleiermacher, Brouillon 1805/06, 3, WW II, 80.

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2. Richard Rothe und das ethische Problem 58 2.1 Richard Rothe und August Friedrich Christian Vilmar Richard Rothe ist der Mann gewesen, der den Schritt vollzogen hat, den Troeltsch bei Schleiermacher vermiût, er hat die Theologie gånzlich in die Ethik aufgelæst, er hat sie nur noch als Ethik betrieben, er ist damit der Anfçhrer jenes Liberalismus geworden, der das Christentum nur noch als ethischen Faktor gelten låût und hat so eine Frage an die Theologie und die Kirche gestellt, die geradezu das Problem des modernen Christentums genannt werden kann: Kann die christliche Religion gånzlich im System der Ethik gefaût werden? Ist sie nichts anderes als dies? Ist das die Richtung, in die der Reich-Gottes-Gedanke uns weist? Richard Rothe, in seiner Jugend pietistischen Einflçssen offen ± er gehærte in Berlin zu den Jçngern des Barons von Kottwitz, der unter Hegels Einfluû konfessionell wurde und schlieûlich sogar starken katholischen Neigungen erlag; der dann in Rom in die Gesellschaft der dortigen unter dem Einfluû des hochgesinnten Josias von Bunsen stehenden liberalen, aber christlichen Kreise trat und nun wieder eine Bekehrung zur Weltlichkeit erlebte; der schlieûlich nach einer kurzen Tåtigkeit am Predigerseminar in Wittenberg sich in Heidelberg dem Protestantenverein zuwandte und die vællige Auflæsung der Kirche in den Staat lehrte ±: Rothe hat in seiner eigenen Entwicklung sozusagen den ganzen Gang der Theologie im neunzehnten Jahrhundert in edelster persænlicher Fræmmigkeit umschrieben und die theologische Basis fçr jene Richtung gelegt, die in der Selbstaufgabe der Kirche den Dienst sieht, den diese der Kultur zu leisten hat. Nicht im Sinne einer atheistischen Såkularisation, sondern im Gegenteil eher im Sinne einer Reich-Gottes-Idee, wonach einmal Kirche und Welt eins werden mçssen und der Staat die letzte und endgçltige Form der Herrschaft darstellt, in der sich das Gottesreich auf Erden verwirklichen wird, die Kirche aber dabei nur noch als reine Innerlichkeit wirksam ist, etwa im Sinne eines ± vom kulturellen Optimismus her geschauten ± Tausendjåhrigen Reiches. Man darf nicht çbersehen, daû diese uns zunåchst liberal anmutende Konzeption im Grunde genommen eschatologisch gemeint ist. Hier ist der Gedanke leitend, daû im neuen Jerusalem ± im Gottesstaat ± kein Tempel sein wird (Offb 21,22) und daû die Einwohnung Gottes durch seinen Geist

58. Ûberschrift Iwands.

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eine innerlich-sittliche in den Herzen der Menschen ist, so daû die unsichtbare Kirche die allein wahre und der Staat als Gottesstaat die allgemeingçltige, allumfassende Herrschaftsform darstellt, die zu dieser Innerlichkeit des vollkommenen Christentums gehært. Eine merkwçrdige, immer wieder anziehende, gerade allem Klerikalismus und aller Veråuûerlichung der Religion gegençber hæchst wirksame und verlockende Leitidee! Sie hat etwa in dem Kirchenbegriff Vilmars ihre direkteste Antithese, in jenem Gedanken, daû die Welt, besonders die moderne, in heilloser Auflæsung ihrem Ende entgegengeht und daû die Kirche ± die, wie Vilmar sagt, auf dem lutherischen Kirchenamt aufgebaute Kirche, die sich nun wirklich wieder als Hierarchie, als heilige Herrschaft und gottgesetzte Autoritåt zu verstehen wagt ± die einzige Feste ist, die in diesem revolutionåren Geschehen einer aus den Fugen gekommenen Welt und Gesellschaft der Ankunft ihres Herrn entgegenwartet. Rothe ist 1799 geboren und 1867 gestorben ± Vilmar 1800 geboren und 1868 gestorben. Beide haben dasselbe Weltbild vor Augen gehabt, beide die Wirkungen der Franzæsischen Revolution, die moderne Industrialisierung, die Auflæsung der låndlich-båuerlichen Sitte miterlebt; beide haben gesehen, was die moderne Presse bedeutet, beide die Propaganda des Sozialismus erlebt, beide die Erschçtterungen der 48er Jahre in ihrem reifen Mannesalter miterlebt. Der eine hat daraus die Konsequenz gezogen, daû das einzige uns verbleibende theologische Thema die Ethik ist, der andere, daû es Zeit sei, sich von der Theologie der Rhetorik auf die Theologie der Tatsachen zu besinnen und die Kirche als Heilsanstalt, gerade auch in ihrem kirchenamtlichen und sakramentalen Grundcharakter gegen die autonome und darum in sich haltlose Zeit zu rçsten und zu verbarrikadieren. Hier klafft ein Abgrund auf, der sich dann im ganzen neunzehnten Jahrhundert nicht mehr geschlossen hat. Beide Theologen sind in gewissem Sinne Auûenseiter geblieben, beide sind gescheitert. Rothe war am Schlusse seines Lebens der Verkçndigung so abgeneigt geworden, daû er dem Predigtamt, das ihm zunåchst in Heidelberg zustand, ganz entsagte; und doch berichten die Hærer seiner Vorlesungen, daû jedes Kolleg von einer hæheren Weihe und tiefen Andacht war: »Es waren erhebende Stunden, welche die Zuhærer hinbrachten, um diesen Mann geschart, eine kleine, feine Erscheinung, noch im Alter von elastischem Gange und elastischem Geiste, stets in tadellos schwarzem Gewande und mit blendend weiûer Binde, aus dem blauen Auge unter der scharfen Brille ernst sinnend und doch freundlich uns anschauend. Ihm danken wir die hohe Auffassung unseres Berufes. Er entzçndete in uns eine glçhende Begeisterung fçr

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Christentum und Christus.« 59 Richard Rothe wuûte sich als einer, der glaubte, das Kommende vorwegzunehmen, und der dies Kommende mehr in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung sah als in der kirchlichen, der darin der geistige Vater von Troeltsch und in etwa auch der Religiæs-Sozialen geworden ist. Der uns allen die Frage nahegelegt hat, ob nicht im politischen Geschehen nun in der Tat das Reich Gottes in ganz anderer Weise sich naht als in der Kirche, ja, Rothe fragt geradezu, ob das nicht bereits die eigentliche Tendenz der Urkirche war, die dann erst, im Frçhkatholizismus, davon abwich und aus der Kirche einen Selbstzweck gemacht hat. Aber wåhrend Rothe vom Staat, mehr dessen Begriff als seine empirische Erscheinung ins Auge fassend und darin nun doch Schleiermachers Gedanken aufnehmend und fortbildend, die maximale Annåherung an das Gottesreich sich versprach ± Er muû wachsen, ich aber muû abnehmen (Joh 3,30), lieû er die Kirche sagen ±, sah Vilmar im Staat das Ungeheuer aus der Offenbarung wachsen: Er sah im modernen Staat die Revolution von oben einbrechen, die genauso schrecklich wie die von unten war; er sah das Preuûen Bismarcks den grausigen Prozeû der Zertrçmmerung der legalen dynastischen und damit fçr die Reichsidee fundamentalen Basen des staatlichen Denkens einleiten, dem er sich ± unter Benutzung des letzten konservativ-reaktionåren Kabinetts Hassenpflug ± im politischen Amte entgegenzustemmen suchte. Beide ± Rothe wie Vilmar ± sehen in der Wendung der Theologie zur Ethik die durch die Lage bedingte Aufgabe der Kirche. »Jetzt scheint uns die Zeit vollkommen reif zu sein«, sagt Vilmar, »um den Moralpredigten in dem angegebenen Sinne wieder mehr Raum zu verstatten. Mit rechten Moralpredigten predigt man die Leute nicht nur nicht aus der Kirche heraus, sondern in die Kirche hinein, und es gilt hier das, was wir im Eingange bereits angedeutet haben: Moralpredigten verwerfen, heiût sich eines groûen, vielleicht des græûten Theiles des Einfluûes auf die Welt begeben.« 60 »Es handelt sich (¼) darum, zu zeigen«, sagt er an einer anderen Stelle dieses Aufsatzes çber das geistliche Amt und die sozialen Neuerungen der Gegenwart, »daû nicht allein in einem Einzelnen, sondern auch in einer Gesamtheit, daû auch in den Fabriken Christus eine Gestalt gewinnen solle und kænne.« (104) Oder: »Unser Ziel muû (¼) sein, aus den Fabrikbevælkerungen der Gegenwart und aus den Fabriksclaven der Zukunft christliche 59. Zitiert nach dem Artikel çber Rothe in RE3 Bd. 17, 171. 60. A. F. C. Vilmar, Das geistliche Amt und die socialen Neuerungen der Gegenwart, in: A. F. C. Vilmar, Kirche und Welt oder die Aufgaben des geistlichen Amtes in unserer Zeit. Zur Signatur der Gegenwart und Zukunft. Gesammelte pastoral-theologische Aufsåtze, Erster Band, Gçtersloh 1872, 104. Seitenangaben im Text.

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Familien, oder genauer: kirchliche Korporationen zu bilden. (¼) Erreichen wir dieses Ziel nicht, dann bricht unter der Voraussetzung, daû nicht vorher der ganze Industrialismus durch langdauernde verheerende Kriege zerstært wird, der Communismus unaufhaltsam herein.« (103) Er sieht sich im Industrialismus eine neue »Hærigkeit« (99) heranbilden, die im Kommunismus enden muû, der »furchtbarste(n) Sclaverei (¼), welche jemals auf Erden erhært sein wçrde, eine weit schrecklichere, als alle Sclavenzustånde in der gesamten Heidenwelt zusammengenommen jemals gewesen sind.« (101) Vilmar hat einen Trost: Sollten auch die deutschen Zustånde, »sollte die deutsche Treue und die deutsche Sitte rettungslos zugrunde gehen ± die Kirche Christi, die sein Leib ist, die seine Gegenwart darstellt, geht nicht unter, sie geht nicht nur nicht unter, sondern sie erhebt sich auf dem Umsturz alles weltlich Bestehenden (¼) mit neuer Kraft; sie war es, welche, als das ræmische Reich in Trçmmer zerfiel, ein neues Leben schuf, und fçr das neue Leben neue Ordnungen, und sie wird es abermals sein, welche, wenn auch diesmal in anderer (¼) Form, eine neue Ordnung der Dinge begrçnden und schaffen wird, eine neue Ordnung, deren, dem weltlichen Auge freilich unsichtbares, Ziel kein anderes ist, als dem in seiner Herrlichkeit wiederkommenden Christus sein Volk, seine Ståtte zu bereiten.« 61 So wird es denn seine »Absicht, die morschen politischen Stçtzen, auf welche man sich hin und wieder noch (¼) lehnt, gånzlich abzubrechen, damit sie nicht Rohre werden, welche uns beim Darauflehnen in die Hånde fahren«. Denn »in demselben Maûe, in welchem die politischen Gewalten sich dieser, ihnen von uns dargebotenen, Stçtze entschlagen, neigen sie sich dem Verfall und dem Untergange zu.« 62 Das sind ein Paar Worte Vilmars ± in gewisser Hinsicht prophetisch, dogmatisch und hierarchisch in seinem Ausgangspunkte, und doch im Grunde genauso moralistisch ausgerichtet wie Richard Rothe. Beiden geht es um die Ordnung, der eine erhofft sie von der sich auf ihr Wesen, ihre çbernatçrliche Stiftung besinnenden Kirche ± die nun von daher in die soziale Neuordnung eingreift ±, der andere erhofft sie vom Staat und von einer sich mehr und mehr çberflçssig machenden, einem »unbewuûten Christentum« entgegengehenden Kirche.

61. A. F. C. Vilmar, Kirchlicher Pessimismus und Synergismus. Zur Bezeichnung des Standpunktes (1861), in: A. F. C. Vilmar, a. a. O., 17 f. Vgl. H. J. Iwand, Von Ordnung und Revolution, NW 2, 157 f. 62. Ebd., 18.

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2.2 Kirchenzucht und Staat Wie sieht nun ein Mann wie Richard Rothe das Problem an? »Die durchschlagende Autoritåt des klerikalischen Amtscharakters ist unwiederbringlich dahin; heut zutage kann der Kleriker nur durch das Gewicht, welches seine persænliche Wçrde und Tçchtigkeit in die Wagschale legt, sich desjenigen Ansehens erfreuen, durch das seine gesegnete Tåtigkeit bedingt ist. Pochen auf das geistliche Amt macht jetzt Ûbel nur noch årger. (¼) Pfarrer zu sein, darauf muû sein eigentlicher Ehrgeiz gehen; gegen diese Seite seines Berufes muû ihm die andere entschieden zurçcktreten, nach der er in irgend einem Maûe Mitglied des Kirchenregiments ist. Um die Erbauung seiner Gemeinde, nicht um die des Ganzen der Kirche, soll er vor allen Dingen besorgt (¼) sein.« 63 Und weiter: »Er sei (¼) vor allem (¼) Seelsorger (¼) und in der mæglichst freien Form.« (450 § 1173) Fragen wir Rothe, warum er so resigniert vom geistlichen Amt denkt, so antwortet er uns ± sehr seltsam, aber nicht ganz unberechtigt ±: das geistliche Amt kænne keine Kirchenzucht mehr çben. »Die Stumpfheit unseres kirchlichen Lebens zeigt sich in ihrer ganzen Græûe insbesondere auch beim Hinblick auf den Stand der Kirchenzucht unter uns. Ohne irgend eine Art von Kirchenzucht kann es augenscheinlich eine Kirche çberhaupt nicht geben.« (452 § 1174) Gerade diese freien Theologen, deren Vorbild in der Leitung der Kirche die aus Klerikern und Laien zusammengesetzte Synode ist, wie Rothe aber auch Nitzsch (çbrigens schon Herder), sagen insgemein, daû »ohne eine Art von Kirchenzucht jene Verfassungsform (die Presbyterialund Synodalverfassung) schlechterdings undurchfçhrbar ist«. (Ebd.) 64 Der einzige Weg, der das Wiedererstarken der Kirchenzucht ermæglichen wçrde, die »strenge Scheidung des kirchlichen und des staatlichen Gemeinwesens« kann »im Interesse des Christentums nimmermehr herbeigewçnscht werden«. (456 § 1174) So mçssen wir uns auf ein Minimum beschrånken, um nicht Ørgernis zu geben. Es handelt sich vor allem um den Gebrauch der Sakramente. Dabei sollte man bei der Taufe das Ûbel an der Wurzel ausschneiden und die Taufzeugenschaft ± als rein menschlichen Ursprungs ± aufheben. »Die Abendmahlsfeier dagegen angehend wird die Kirche einen harten Kampf zu bestehen haben, aber sie darf sich ihm nicht entziehen.« (457 § 1174) Die Kirche kann im Grunde genommen nur noch resignieren, denn sie kann 63. R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. V, Wittenberg 18712 , § 1173, S. 449 f. Seiten- und Paragraphenangaben im Text. 64. Zitat von C. I. Nitzsch, Der deutsche Protestantismus, 396.

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das sittliche Problem der Erziehung des Menschengeschlechts nicht mehr leisten. Sie ist in der modernen Welt verloren, nicht aber der »Zweck, welchen die Kirche mit ihrer Disziplin letzlich im Auge hat«. (459 § 1174) Christliche Zucht und Sitte soll und muû allerdings zu Kraft kommen in der christlichen Welt, aber durch die Kirche wird das nicht mehr geschehen kænnen, sondern nur durch das sittliche Gemeinwesen, den Staat. Der moderne Staat ist der Erzieher zum christlichen Humanismus geworden. »Wenn man der Kirche nicht mehr bedarf, um zu wissen, was das christliche Sittengesetz fordert, unterwirft sich auch der, welcher sich çber jenes Gesetz hinwegsetzt, ihrer Disziplin nicht mehr. Sobald man auch ohne die Kirche Christ sein kann, hat diese die Macht verloren, vermæge welcher allein sie ihre Zucht durchfçhren kann«. (459 § 1174) So muû »an die Stelle der Kirchenzucht (¼) in unseren christlichen Nationen die christliche, d. h. çberhaupt die gute, æffentliche Sitte eintreten. (¼) Soll es besser mit ihr werden, so bedarf es zuallernåchst des freien Zusammentrittes Einzelner, die es ernst meinen«. (460 § 1174) Wie der Berliner Theologe de Wette hat auch Rothe in der Wirksamkeit der »Zucht-vereine«, also in der Vereinsbildung zum Zwecke moralischer Gesundung des æffentlichen Lebens, den neuen Weg gesehen und den Beginn einer Neubildung der christlich-æffentlichen Sitte. Die kleinen Kreise ± auch in der Kirche ±, die die Heiligung ernst nehmen, werden wie ein Sauerteig ins Groûe wirken. Rothe hat keineswegs die Probleme des æffentlichen Lebens çbersehen; er hat aber gemeint, daû die Kirche als Institution dieser Aufgabe nicht gewachsen sei, da die Welt heute in das Zeichen einer allgemeinen Missionierung trete. Die Kirche »reduziert sich, wenn sie mehr und mehr in den Hintergrund zurçckweicht, immer mehr auf den Kultus«, und das scheint auch Rothe so recht zu sein, er verlangt ± anders als Vilmar ±, »der Kultus beuge nur unsere Herzen und Kniee zur Anbetung vor Gott, er lasse uns nur das numen praesens 65 erfahren (¼) so wird er gewiû nicht långer vereinsamt dastehen.« (469 § 1176) Wo ist hier wie dort ± bei Vilmar wie bei Rothe ± die Verkçndigung geblieben? Sind sie nicht beide durch ihre ethischen Interessen vællig mit Beschlag belegt? Råcht sich hier nicht ein Ansatz, der die Kirche im Grunde genommen ± entweder verzweifelt oder mit guter Miene ± in den Hintergrund der Ereignisse treten låût, weil sie eben wirklich nichts mehr zu sagen hat, was die Welt nicht auch schon aus sich heraus wissen und tun kænnte ± nur daû Vilmar das Ganze durch eine moderne Katastrophe reifen sieht, Rothe aber durch eine nach oben hin sich ausbreitende Entwicklung? Denn der moderne 65. Die pråsente gættliche Macht.

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Kulturstaat çbernimmt nun die Funktionen der Ausbreitung christlicher Gesittung und Ideen. Hæren wir einen Absatz aus Rothes Ethik, der nach jeder Richtung einzigartig ist, aber zugleich åuûerst aufschluûreich fçr den ganzen Ansatz, den Rothe zugrunde legt: »Mit den verzeichneten sechs Punkten ± sittliche Gemeinschaft aller; ± Achtung der individuellen Freiheit und Entfaltung; ± der Staatszweck ist nur durch die Askese der Staatsbeamten zu erreichen; ± er muû Verfassungsstaat sein; ± Nationalstaat und weltbçrgerliche Grundhaltung; ± Ewiger Frieden; ist sofort auch schon die Christlichkeit des Staates gegeben, welche freilich unbedingt gefordert werden muû. Denn die sittliche Normalitåt ± nåmlich soweit sie innerhalb des geschichtlichen Gebietes der Erlæsung unter den jedesmal historisch gegebenen Verhåltnissen mæglich ist, ± die dann ihrem eigenen Begriff zufolge zugleich die religiæse Normalitåt mit einschlieût, ist unmittelbar auch die Christlichkeit. Nur wer da meint, einerseits das Christentum sei nichts als Religion und andererseits die Fræmmigkeit sei nur da vorhanden, wo sie unmittelbar und rein als solche auftritt, kann çber alles bis dahin geforderte hinaus noch etwas Weiteres und Besonderes als Christlichkeit des Staates fordern. Wo der wahre Staat gegeben ist, da ist von selbst auch das wahre Christentum gegeben und umgekehrt. Weit gefehlt, daû diese beiden sich zueinander gleichgçltig verhalten sollten, fordern sie sich viel mehr gegenseitig schlechthin als Lebensbedingung. Es ist in concreto kein anderer seinem Begriff entsprechender Staat denkbar als der christliche, das heiût als der durch das sittliche Prinzip, wie es das specifisch christliche ist, bestimmte; ebenso kann aber auch sich das christliche Princip nicht anders schlechthin aktualisieren und verwirklichen als in dem seinem Begriff entsprechenden Staat. Das Christentum ist wesentlich ein politisches Princip und eine politische Kraft. Es ist staatenbauend und trågt in sich selbst das Vermægen, den Staat zu bilden und zu seiner Vollendung zu entwickeln. Nur, wer Christentum und Kirche identificirt, kann dies in Abrede stellen. Denn die letztere freilich versteht nichts vom Staatsbau. Das Christentum verhålt sich keineswegs gleichgçltig gegen die Verschiedenheit der Staatsformen, nein, es strebt ausgesprochenermaûen die vollkommenste Form des Staates an (¼). Es vertrågt sich daher freilich mit allen Staatsformen, nåmlich mit jeder an ihrem Ort; dies heiût aber nur mit allen denen, welche wirklich Verfassungsformen des Staates sind, ± also mit der Despotie und Ochlokratie absolut nicht.« (356 ff. § 1162)

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Dieser christliche Staat ist gedacht als »ein Staat von Christen und nur von Christen«, aber beileibe nicht so, daû »das unumgångliche Kriterium des Christseins das Bekenntnis zur christlichen Religion aufstellt«. (358 § 1163) Sondern der christliche Staat setzt insofern christliche Bçrger voraus, als »in einem christlichen Staate keiner wirklicher Bçrger sein dçrfe, der nicht sittlich ein Christ ist, oder dessen Sittlichkeit nicht wesentlich die christliche ist.« (359 § 1163) In dem Gedrånge zwischen Regierungen, die nicht in eine Verbesserung der Verfassungen einwilligen wollen, und einer demagogischen Aufhetzung der Massen formuliert Rothe einen Grundsatz, der gewiû nicht çbersehen zu werden verdient: »Das wissen freilich unsere jetzigen Schreier von Weltverbesserung nicht«, so sagt er, »sie sagen sich nicht, (¼) daû eine sittlich schlechte Gemeinschaft auch nie eine politisch freie und in sich befriedigte sein kann. Sie haben keine wirkliche Erkenntnis der Sçnde; darin liegt in letzter Beziehung die Wurzel aller ihrer Verkehrtheiten«. (389 f. § 1165) Hier sieht man, worin Rothe den unerlåûlichen Beitrag des Christentums zum Aufbau des Staates sieht, warum er im Christentum wesentlich ein politisches Prinzip findet ± darum, weil nur hier ein Wissen um die Sçnde und die Erlæsung vorhanden ist.

2.3 Ethik der Erlæsung Hier wird deutlich, daû die etwa zweihundert Seiten, die der Erlæsung in diesem groûen Werke umfassender spekulativer Ethik gewidmet sind, die von der Sçnde anheben und mit dem Reich Gottes und seinem Siege innerhalb der Wirklichkeit dieser Welt enden, die Achse sind, um die dieses ganze sittliche Gebilde als um seine eigentlichste Mitte schwingt. Christus ist der neue Adam, in ihm ist ein neuer Anfang der Menschheit gesetzt. Dabei wird zweierlei zu beachten sein ± einmal: Die erlæsende Tat Gottes »muû die Setzung eines absolut neuen Anfanges des menschlichen Geschlechtes durch einen absoluten Akt sein, die Setzung einer neuen Bildung des menschlichen Geschæpfes, welche aus der natçrlichen Menschheit durch ihre bloûe Entwicklung nicht hervorgebracht werden kænnte. Aber sie muû ebenso wesentlich auch sein die Setzung dieses schlechthin neuen Anfanges des menschlichen Geschlechtes aus dem alten natçrlichen Menschengeschlechte heraus, also nicht ohne dasselbe.« 66 Es gibt zwei verschiedene Perioden der Menschheit ± eine der Sçnde und eine andere der 66. R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. III, Wittenberg 18702 , § 519, S. 118. Seiten- und Paragraphenangaben im Text.

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Erlæsung ±, aber nicht »zwei verschiedene Menschheiten«. (118 § 519) Darum also Ethik, weil die Schæpfung der Menschheit durch die Erlæsung wiederhergestellt wird, weil die Schæpfung die Folie ist, auf der die Erlæsung sich abzeichnet. Die abnorme, das heiût sçndige sittliche Entwicklung wird »kausiert«. »Ein solcher zweiter Adam vermag dann die alte natçrliche Menschheit aus der Materie in den Geist umzugebåren.« Und auf einen solchen »zweiten Ansatzpunkt« ist denn auch die Schæpfung des Menschen »sogleich von vornherein berechnet«. (119 § 519) »In dem Reiche Gottes [aber] tritt die Erlæsung der Welt gegençber als geschichtliche Macht auf.« (176 § 567) Sie macht die sçndhafte Entwicklung rçckgångig und hebt also die Welt auf, bewerkstelligt die neue normale Entwicklung und erbaut damit das Reich Gottes. 67 Nun erst wird begreiflich, warum Ethik der Inbegriff der christlichen Lehre werden muû ± es gilt ja, darin das Werden des Gottesreiches zu zeichnen. Dabei benutzt Rothe die Anordnung der Gçter-, Tugend- und Pflichtenlehre und zeichnet nun darin das objektive und subjektive Werden des Reiches Gottes ein. Was er in seiner ersten Untersuchung begann, eine Exegese çber Ræmer 5,12-21 ± die Gegençberstellung des alten und des neuen Adam ±, das ist sein Thema geblieben durch alle Wandlungen seiner Entwicklung hindurch. Die Schæpfung bildet den Ausgangspunkt der Erlæsung, und Christus ist ± als das »Centralindividuum der neuen geistigen Menschheit« (147 § 546) ± der Anfånger der neuen Kirche. Es geht schlieûlich um die neue Menschheit in diesem Dienst des Erlæsers, es geht darum, daû das Christliche und das Menschliche sich gegenseitig die Waage halten und regenerieren. Was bei Vilmar nur als Morallehre einer sakramental und hierarchisch gedachten Kirche in Erscheinung tritt ± freilich auch mit ausgezeichneten moralischen Einzelanweisungen ±, das ist bei Rothe organisch gedacht als Selbstentfaltung der neuen Menschheit durch Einpflanzung in das Erlæsungswerk des neuen Adam. Der Katholizismus vereinigt beide Ideen, indem er die Einpflanzung sakramental vermittelt denkt ± merkwçrdig, daû weder der eine noch der andere diesen letzten Schritt nach Rom getan hat. Wir haben hier den Grundriû eines ethischen Schemas, das sich als auûerordentlich fruchtbar und weitreichend erweisen wird. Die Erlæsung 67. Vgl. ebd.: »Die Aufhebung des Reiches der Welt oder die Rçckgångigmachung der alten sçndigen Entwickelung der Menschheit und die Erbauung des Reiches Gottes oder die Bewerkstelligung einer neuen normalen Entwicklung derselben sind nur zwei verschiedene Seiten Eines und desselbigen Processes oder Einer und derselbigen Wirksamkeit des Erlæsers, die nie auseinanderfallen kænnen.«

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durch Christus ± den çbernatçrlich gezeugten als das Haupt der neuen Menschheit, der Staat als das Feld, in dem die Reich-Gottes-Idee sich verwirklicht, wåhrend die Kirche mehr und mehr ins Kultische und Private zurçcktritt, aber darin ± im Verein ± gerade sehr wirksam ist, wie das innere Leben vor dem Gestaltgewinnen des Øuûeren. Dazu ist zu fragen: 1. Was heiût hier Erlæsung? Es geht offenbar um die Wiederherstellung der sittlichen Natur des Menschen. Die Sçnde gilt als Stærung der Gemeinschaft mit Gott. Wie nun, wenn diese Definition der Sçnde falsch sein sollte? Luther schreibt zu Ræmer 5,14: »Wenn man also meint, die Erbsçnde sei nur ein Mangel der Gerechtigkeit im Willen, so heiût das, der Lauheit Tçr und Tor æffnen und den ganzen Versuch zur Buûe aufheben«. 68 Luther weiû: »Bis zum Ende des Lebens stecken wir in Sçnden«. 69 Er weiû noch mehr, er weiû, daû Gott den Leib des Menschen auflæsen muû, »denn der Herr haût den Leib der Sçnde« 70 , daû also die Erlæsung nicht schon Gegenwart ist, wie Rothe meint, sondern Zukunft; daû wir im Glauben leben, nicht im Sein des neuen Wesens, daû unser Leben mit Christo verborgen in Gott ist (Kol 3,3), daû der Glaube in den Himmel, die Ethik aber auf die Erde gehært, in diesen Øon, die Erlæsung aber in jenen. Wir mçssen in der Tat fragen, ob nicht die Rechtfertigung und die Erlæsung zwei verschiedene Akte sind, ob wir nicht immer noch auf die Erlæsung warten, ob nicht die Hoffnung die ethische Kategorie sein mçûte, aber eben damit ein çber dies Sein hinausgreifender Akt. 2. Die Selbigkeit der Menschheit bzw. der Zusammenhang von Schæpfung und Erlæsung ist sicherlich wichtig zu beachten. Aber ± wird hier nicht die Christusidee der des ersten Adam und seiner eigentlichen Gemeintheit substituiert? Insofern ist Christus der »wahre Mensch« ± wåhrend seine Pråexistenz gar nicht mehr in Frage kommt. Der Glaube an den Erlæser ist zwar nicht aus der individuellen Existenz gewonnen, aber doch aus der generellen und aus dem Daseinsverståndnis des Menschen zwischen seiner empirischen und seiner ideellen Wirklichkeit, also aus der ethischen Frage heraus. 3. Somit kommt Christus, um einen Widerspruch im Dasein des Men68. »Putare ergo peccatum originis esse solam privationem justitiae in voluntate, hoc est occasionem dare tepiditatis et resolvere totum conatum poenitentiae.« M. Luther, Corrolarium zu Ræm. 5,14, WA 56, 313. 69. »Usque ad finem vitae sumus in peccatis«. M. Luther, Corrolarium zu Ræm. 6,2, WA 56, 321, 2. 70. »Odit enim Dominus corpus peccati«. M. Luther, Corrolarium zu Ræm 6, 2, ebd., Z. 16.

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schen aufzuheben, aber kommt er nicht, um allererst einen solchen in unser sicheres Dasein hineinzutragen? Sçnde ist eine adventliche Græûe. Wo Sçnde aufbricht, da ist der Herr nahe. Sçnde ist eine die sittliche Kategorien sprengende Græûe: »Du hast noch nicht ermessen, von welchem Gewicht die Sçnde ist.« 71 4. Erst von Christus her begreifen wir, was Sçnde ist. Nicht umgekehrt. Auch Sçnde ist ein Begriff der Offenbarung. Wer håtte je gedacht, daû, um die Sçnde zu vergeben, Gott Mensch werden mçûte? Das heiût »die Sçnde groûmachen«. 72 Die Vergebung der Sçnde ist ein Faktum sui generis (eigener Art). Sie hat kein çber dieses Faktum hinausreichendes telos. Sie dient nicht einem sittlichen Prozeû, sonst kann sie gar nicht »geglaubt« werden. Der Glaube an die Vergebung ist etwas Letztes, Absolutes ± das wissen weder Rothe noch Vilmar. Wo sie nicht so verkçndet wird, ist sie noch nie verkçndet worden. Darum ist die Ethik nie die Abzweckung der Vergebung, die Heiligung nie die Abzweckung der Rechtfertigung, sondern Gnade ist der Punkt, çber den wir nicht hinauskommen. 5. Was wird geschehen, wenn die Umkehr von Ethik und Dogmatik erfolgt? Kænnen wir sie vollziehen? Dçrfen wir sie vollziehen? 73 Wo bleiben dann alle die so wichtigen praktischen Fragen, die Rothe so erleuchtend und lehrreich behandelt? Was heiût die Umkehr? Hieûe das etwa die Reformation der Kirche? Also dies, daû der Mensch etwas ist, das çberwunden werden muû!? 74 Daû es um den Menschen ± und insofern dann auch um seine Welt geht? Also nicht um den aus dem Weltsein verstandenen Menschen, sondern um die aus dem Menschsein verstandene Welt? Denn wie sagt Luther: »Die Philosophen wollen die Sçnde wegnehmen und den Menschen bleiben lassen« ± das ist es, was Rothe Erlæsung nennt. 71. »Nondum considerasti, quanti ponderis sit peccatum.« Anselm von Canterbury, Cur deus homo, I, 21. 72. »Magnificare peccatum«. Damit deutet Luther den Zweck des Ræmerbriefes von Paulus am Anfang der Ræmerbriefvorlesung an (Glosse zu Ræmer 1,1, WA 56, 3, 6-11). Vgl. NW 5, 34 f. 73. Iwand notiert hier die Stichworte: Barth und Niebuhr. Er spielt damit an auf die Diskussion zwischen K. Barth und R. Niebuhr auf der Grçndungsversammlung der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam 1948; R. Niebuhr, Wir sind Menschen und nicht Gott, und K. Barth, Pråliminåre Gedanken zu Reinhold Niebuhrs Darlegung çber die »kontinentale« Theologie, beide in K. Barth / J. Danilou / R. Niebuhr, Amsterdamer Fragen und Antworten, TEH NF 15, Mçnchen 1949, 25-29 bzw. 30-35. 74. Iwand erinnert hiermit an Nietzsche, der diesen Ausspruch mehrmals im Zarathustra gemacht hat; z. B. in Zarathustras Vorrede (Abschn. 3), oder im 1., 3. (Von alten und neuen Tafeln) und 4. Teil der Reden Zarathustras; vgl. Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Band 7, 13; 51; 291; 388 (= Schlechta II, 279; 303; 446; 505; KSA 4, 14; 44; 249; 332).

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Aber der Apostel sagt: »den Menschen (¼) wegnehmen und die Sçnde bleiben lassen« 75 ! Die Identitåt des Menschen mit sich ist gerade nicht das Fundament der Erlæsung. Adam ist in Christus geschaffen, nicht die Christusidee mit Adam gesetzt. »Extra se stare« 76 !

2.4 Richard Rothe und die Ethik als theologische Grunddisziplin 77 2.4.1 Das ethische Problem

Wir haben an Richard Rothe eine ± fçr das ganze Jahrhundert und seine spezifische Fragestellung eigentliche ± Entdeckung gemacht: die Theologie wird sozusagen zwangslåufig zur Ethik. Schon Schleiermachers eigentliches Bemçhen gilt den ethischen Fragen, schon er behandelt die christliche und die philosophische Sittenlehre nebeneinander, und man merkt, daû sein Hauptaugenmerk der letzteren gilt. Schleiermacher sieht zwar in der philosophischen Sittenlehre noch nicht das letzte, aber von hier aus wird der Aufstieg zum Gipfel der reinen Wissenschaft erfolgen. Diesen Gipfel nennt er das »hæchste Wissen« 78 , es ist die Adåquation von Wissen und Sein, ein vollkommenes Aufgehen alles Seienden im Bewuûtsein ± also sozusagen die Verwandlung alles Daseienden in ein aus seinem Zusammenhang Begriffenes. Dies »hæchste Wissen«, eine Versæhnung aller Gegensåtze, ist noch nicht gefunden ± aber es wird sich wie der Himmel çber der Erde so çber dem, was wir »Ethik« nennen, erheben. Bei Rothe wird das noch deutlicher. Sein ausgesprochen spekulativer Ansatz duldet keine Doppelgleisigkeit, wie sie Schleiermacher immer noch versucht. Er baut die Theologie nicht auf in der Form einer Ellipse, mit zwei Brennpunkten 79 , sondern ihm ist sie das geschlossene System, der Kreis, der nur eine Mitte hat. Er sagt, diese Mitte sei jene Einheit im Selbstbewuûtsein, wo Gott und Mensch sich berçhren. Man kænne hier vom Menschen anheben ± das ergebe die Philosophie; man kænne aber auch bei Gott anheben ± das ergebe die Theologie. Daû er dabei Theologie und 75. M. Luther, WA 56, 334, 14. Der ganze Passus bei Luther lautet: »Modus loquendi Apostoli et modus methaphysicus seu moralis sunt contrarii. Quia Apostolus loquitur, ut significet sonet hominem potius aufferri peccato remanente velut relicto et hominem expurgari a peccato potius quam econtra. Humanus autem sensus econtra peccatum aufferri homine manente et hominem potius purgari loquitur.« 76. Siehe oben S. 93, Anm. 45. In Stichworten endet Iwand: »Sterben mit Christo. Kirche und Staat! Zwei Reiche.« 77. Ûberschrift Iwands. 78. Vgl. F. Schleiermacher, Ethik 1816, WW II, 517 ff. 79. Randnotiz Iwands: Selbstbewuûtsein und Jesus von N[azareth].

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Theosophie fast identifiziert, ist unvermeidlich. Und doch gesteht er in der zweiundzwanzig Jahre nach der ersten Ausgabe seiner Ethik niedergeschriebenen Vorrede zur zweiten Auflage des Buches: »Seinen Inhalt bildet der wissenschaftliche Inbegriff der eigenthçmlichen Gedanken von Gott und der Welt, die mir in meinem Geiste vællig unabhångig von dem Absehn auf irgendeine besondere offizielle Disziplin, rein aus meinem eigensten persænlichen wissenschaftlichen Bedçrfnisse und Triebe heraus, hervorgewachsen sind. Daû mir daraus gerade eine Ethik entstanden ist, das ist mir vællig absichtslos geschehen; es kommt lediglich daher, daû sich mir der die ganze Kosmologie (¼) beherrschende Begriff ganz ungesucht grade der des Moralischen ergeben hat.« 80 Rothe gesteht, er håtte sein Buch lieber »­spekulative Theologie¬ çberschrieben« 81 , aber weil die Physik ± also das ganze Gebiet der Natur und der Naturwissenschaft ± darin nicht enthalten sei, erschien es ihm anmaûend, solch einen Titel zu wåhlen. Ethik ist demnach der eine, zwar dominierende, fçhrende Teil der Kosmologie, aber eben nur ein Teil. Spekulation ist der einzige Weg, das Ganze zu fassen, sei es nun, das Ganze der Welt oder das der Weltregierung ± das heiût aber des in der Welt handelnden, sich darin manifestierenden Gottes. So wie Geschichte und Natur nebeneinander stehen, so stehen auch Inspiration ± Vergeistigung ± und Manifestation, Erscheinung dieses Handelns Gottes, bei Rothe nebeneinander. Die Physik als Manifestation Gottes zu begreifen ± das ist die fehlende Hålfte, um derentwillen diese Kosmologie den Namen Ethik erhålt. Rothe weiû also, daû die Ethik als solche ein Torso ist, in dem Sinne, daû der dazu gehærige Unterbau nicht ausgefçhrt wurde. Der Punkt, wo der Ûbergang aus dem Tier in das geistbegabte Tier stattfindet, wird nicht nåher untersucht. Dieser Punkt wird sich spåter ± bei Nietzsche und den Materialisten ± gerade als die weiche Stelle in diesem System des absoluten Geistes erweisen, das nicht nur die Theologie, sondern ± man denke an Hegel, Rothes Lehrer von Heidelberg her ± auch die Philosophie beherrscht. Aber haben diese Theologen nicht doch ± trotz aller Fehler ± ein Problem gesehen, eine Frage, die spåter ± in der zweiten Hålfte des Jahrhunderts ± fallengelassen wird: den Zusammenhang zwischen Naturgesetz und Sittengesetz 82 ? Darum kænnen sie nicht Ethik und Physik grundsåtzlich voneinander scheiden. Sie mçssen die Einheit suchen, wenn anders 80. R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. I, Wittenberg 18672 , Vorrede S. VI. 81. Ebd. 82. Vgl. F. Schleiermacher, Ûber den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz, WW I, 396-416.

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die Fragestellung der Aufklårung ± also die nach dem einheitlichen, vernunftgemåûen Weltbild ± von ihnen eine Antwort erhalten soll. Das neunzehnte Jahrhundert mæchte das Problem læsen, das ihm seine Våter ± die groûen Våter ± gegeben haben, das griechische Thema von dem einen vernunftgemåûen Weltbild. Das neunzehnte Jahrhundert sieht auch die Theologie hier gefordert ± ob das nun Schleiermachers Idee vom hæchsten Wissen ist, ob es Rothes Idee des Moralischen als des hæchsten Gutes ist, ob es Johann Christian Konrad von Hofmanns Idee von der Dialektik der Geschichte als dem Prozeû von Weissagung und Erfçllung ist, ob Hans Lassen Martensen, der dånische Bischof und Theologe, in einer lutherischen Theosophie darauf zu antworten sucht: alle versuchen vom Christentum aus die in der Aufklårung gestellte, eben nicht reformatorische Frage zu beantworten nach der Einheit der Weltanschauung. Erst in diesem Rahmen kommt dann die Theologie zu Worte, nicht an sich, nicht mehr als die prima scientia, nicht mehr als das unverbunden mitten in dieser Welt stehende Wort vom Kreuz, sondern als die Læsung und Erlæsung, ohne die das Weltgeschehen mit einer grausamen, weil eben ethischen Antinomie ± Rothe sagt Anomalie ± enden wçrde. Weil sonst das Problem der Sçnde çbergangen wçrde. Insofern als diese Frage ± als das Thema von Sçnde und Erlæsung ± zum Zentrum der christlichen Antwort gemacht wird, erscheint die griechische Fassung des kosmologischen Gesamtbildes unzureichend. Das Wort Ethik deutet an, wo es zum Zusammenstoû zwischen Christentum und Heidentum kommen muû. Nicht am Dogma als solchem, sondern bei der Frage, ob das philosophische Weltbild die Tatsache des gefallenen Menschen und der in Christus vollzogenen Erlæsung des Menschengeschlechts zu ignorieren gedenkt. Die Theologie wird nachweisen, daû ein solches Weltbild nicht realistisch ist, weil es die Frage des Bæsen nicht stellt und nicht beantwortet. Die Theologie wird sich dabei auch wieder in der Mitte halten, sie wird dem Bæsen keine Existenz zubilligen ± jedenfalls nicht so, daû dadurch ein Dualismus in der Schæpfungslehre entstçnde. Sie wird aber umgekehrt auch nicht die Selbsterlæsung des sittlich denkenden Menschen und die der Kulturentwicklung anerkennen, sie wird also zwischen dem heidnischen Optimismus und dem ebenso heidnischen Fatalismus die Mitte suchen. Das ist der Weg, den Rothe in der Ethik ± seinem erst posthum zusammengestellten Lebenswerk, das in tausend und abertausend Einzelheiten die gesamte Problematik jener Zeit widerspiegelt ± beschreitet. Indem die Theologie zur Ethik wird, wird deren begriffliche Darstellung sekundår. Ethik heiût ja gerade, daû die Entscheidung in der Sphåre erfolgt, wohin wir begrifflich nicht mehr reichen. Daû unsere Aufgabe nur

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sein kann, das Feld zu klåren, die unklaren Vorstellungen zu reinigen, die Unbildung zu beseitigen, den Zusammenhang der einzelnen Gebiete miteinander herzustellen ± aber nicht das Geheimnis selbst im Begriff fassen zu wollen. Gerade die tiefste Spekulation fçhrt immer wieder zur schweigenden Anbetung. Christentum ist eben nicht primår Lehre, sondern Leben ± ja, nur weil es zum Leben gehært, interessiert es uns. Gott und seine Offenbarung, Sçnde und Fall des Menschen, Gebot und Ordnung, Tugend und Untugend: alles muû lebensbezogen sein. Leben ist Wert, und gutes Leben ist hæchster Wert, ist ewiges Leben. Rothe hat sogar Gedanken darçber entwickelt, daû im Jenseits eine weitere Låuterung und Vervollkommnung stattfinden muû, so wie er auch gemeint hat, daû die Bæsen, die sich in ihrem endlichen Dasein çber dessen materielle Sphåre nicht erheben und seinen ethischen Sinn nicht wahrhaben wollen, im Banne dåmonischer Måchte stehen und im Jenseits dieses ihr verfallenes Dasein weiter auskosten mçssen, indem sie immer tiefer in die Nacht des Materiellen versinken. Das Christentum ist demnach eine dynamische Græûe, seine begriffliche Erfassung ist nur sinnvoll auf dem Grunde eines Weltverhåltnisses, das sich in ein Gottesverhåltnis ± dank Gottes eigener Tat ± umwandelt. So wie der Beginn der Welt Schæpfung ist, aber Schæpfung als naturhaftes, unpersænliches Geschehen, so ist ihr Ziel wiederum Schæpfung, aber nur als ethisches, als personales Geschehen, so daû die neue Menschheit, deren Haupt Christus ist, diese Schæpfung repråsentiert. »Nur ein solches Denken aus dem Ganzen kann (¼) das Bedçrfnis der Gegenwart befriedigen; schlimm genug, daû wir erst so spåt zu dieser Einsicht gelangt sind!« 83

2.4.2 Ræmer 5,12-21

Ich habe bereits angedeutet, daû Rothes ± und seiner Geistesverwandten ± gesamte Position im Grunde genommen mit der Auslegung von Ræmer 5,12-21 steht und fållt. Ich mæchte darum zu diesem Stçck einige Punkte herausstellen, die dogmatisch immer wieder entscheidend sind. 1. Was heiût »durch einen Menschen die Sçnde«? Es ist ganz sicher, daû der Apostel das ein heraushebt, um dann den einen damit zu konfrontieren, durch den die »Gnade Gottes und die Gnadengabe« vielen zuteil geworden ist (Vers 15). Es ist also nicht zu bezweifeln, daû hier zwischen dem »einen Menschen«, durch den die Sçnde in die Welt kam, und dem einen Menschen Jesus Christus ein Kontrapunkt besteht. Daû also die Menschheit von zwei Polen her bestimmt ist, deren einer Adam (Vers 14), deren 83. R. Rothe, a. a. O., Vorrede, S. XVII.

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anderer Jesus Christus heiût. Insofern scheinen jene Systeme recht zu haben, die den einzelnen nur im Zusammenhange mit dem ganzen Menschengeschlecht, also in einem totalen Zusammenhange sehen. 2. Es ist ebenso nicht zu bestreiten, daû sich diese Stelle im Ræmerbrief mit dem Verhåltnis, und zwar dem kausalen Verhåltnis von Sçnde und Tod befaût. Hier wird nun in der Tat der Zusammenhang von Ethos und Physis mit Hånden greifbar. Tod und Sçnde gehæren zusammen, und diese Tatsache, daû der Tod ± wie ein Fçrst ± mitten durch die ganze Menschheit »hindurchgeht«, ist ein Erweis, daû sie alle ihm durch die Sçnde bereits preisgegeben sind. Sçnde scheint zwar etwas Individuelles, persænlich Schuldhaftes zu sein ± aber der Tod ist ganz gewiû ein Generelles. Der Tod gehært zum Menschen, sobald dieser geboren. Er ergibt sich nicht einfach aus dem Weltbezug unserer Existenz. Er gehært zu dieser Existenz als solcher. Es mçûte sich also doch wohl in der Existenz des Menschen ein Wandel, ein Umschwung vollziehen, wenn anders die Sçnde und damit das adamitische Verhångnis wirklich aufgehoben werden soll. Es muû also durch »eines Gerechtsame«, also durch das dikaioma (den rechtfertigenden Akt) fçr »alle Menschen« zur dikaiosis (zur rechtsgçltigen Eintritt) ins Leben kommen (Vers 18). »Der Cherub steht nicht mehr dafçr.« 84 3. Es besteht drittens neben diesem Zusammenhang zwischen Adam und Christus ± zwischen Sçnde und Tod ± noch ein dritter: zwischen Gesetz und Sçnde. Und zwar wird nicht behauptet, daû das Gesetz der Sçnde vorangeht ± als ob man durch Aufhebung des Gesetzes dann das Ûbel an der Wurzel tråfe ±, sondern die Sçnde »war im Kosmos« långst vor dem Gesetz. Es gibt also ± und das ist wesentlich ± keinen Rçckgang auf ein Dasein des Menschen im Kosmos, das abstrakt von der Sçnde zu denken wåre. Und weiter, nicht um der Welt willen ist der Mensch ein Sçnder, sondern um des Menschen willen ist die Sçnde »im Kosmos«. Die Sçnde ist ein Schatten, den der Mensch mit allen seinen Bewegungen auf die Wand der Welt wirft. Die Sçnde ist das spezifisch Menschliche, das »Humane« in der Welt. Die Sçnde ist das Zeichen, daû es in der Welt menschlich ± und also nicht tierisch ± zugeht. Hier ist der Punkt, an dem die Entscheidung fållt gegençber all diesen Systemen, die die Sçnde unter ethische Kategorien einreihen. Die Sçnde ist keine ethische Græûe ± oder, wie ich auch sagen kænnte: Jene Theologen glaubten, in der Religion das Geheimnis der Begegnung zwischen Gott und Mensch fassen zu kænnen, aber wie, wenn nicht die Religion, sondern die Sçnde der Punkt wåre, an dem es zu dieser Begegnung kommt ± mçûte dann nicht diese Begegnung schlechthin Gna84. »Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich« (N. Hermann), EG 27,6.

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de heiûen? Und was ist dann noch der Sinn des Gesetzes? Es ist »dazwischen hineingekommen« (Vers 20). Wo denn »zwischen«? Fast kænnte man sagen: »von der Seite her«. Jedenfalls: Zwischen diesen beiden Græûen, zwischen Adam und Christus, zwischen Sçnde und Gerechtigkeit, zwischen Tod und Leben, zwischen Verdammnis und Begnadigung steht (als etwas Unmotiviertes, immer aber Aktuelles) der Nomos. Das Gesetz ist nur so weit wirklich Nomos im Sinne der Offenbarung, als es »dazwischen« kommt. Als es den »Fall« »aktualisiert«, also dem »magnificare peccatum« (»die Sçnde groûmachen«) 85 dient! Das Gesetz wirkt wie das Messer des Arztes, der etwa eine eitrige Beule am Kærper aufschneidet und einen ganzen Eiterherd aufdeckt. Ich glaube nicht, daû Barth recht hat, wenn er das »Dazwischenkommen« als »Episode« versteht; 86 sondern die Reformatoren hatten schon ganz richtig gesehen ± das pareiselthen heiût: Zu allem Ûbel kommt nun auch noch der Nomos dazwischen und reiût alle Hçllen weg und deckt den Schaden bis in die Wurzel hinein auf in einer Græûe, daû keine Hoffnung mehr bleibt. Die »Kænigsherrschaft der Sçnde« in der Gegenwart des »Todes« (Vers 12 ff.) låût keinen Ausweg zu irgendwelcher Moralitåt bzw. freien Willensakten. Daraus ergibt sich aber: 4. Gerade das Gesetz ± sein »Dazwischenauftreten« ± verhindert, daû diese Tat Gottes, daû die Gnade und das Geschenk der Gnade als Entwicklung, als ein von einem Punkt her zu fassender, sozusagen apriori einsichtiger Vorgang verstanden werden kann. Die Erlæsung des Menschengeschlechts ist eben kein Drama, kein çbersichtlicher Anfang und Ende umspannender Prozeû, ist kein gnostisches Erlæsungsmysterium vom Fall und der Wiederbringung des Menschengeschlechts. Das wird einsichtig, indem 5. gerade in unserem Text nicht nur die Parallelitåt, sondern auch das »um so mehr« herausgestellt ist, also das Paradoxe der Gnade Gottes, das Unbegreifliche dieser Tat Gottes in Jesus Christus. Das Bedenkliche ist eben, daû von der »Ethik« her das Unbegreifliche begreiflich wird, daû hier das zentrale Geheimnis der Gnade dem wissenschaftlichen Gesamtzusammenhange aufgeopfert wird, daû infolgedessen diese Theologie ihren Klang verliert. Kein Zufall, daû Rothe sich mehr und mehr vom Predigtdienst zurçckzog, kein Zufall, daû er im Abbau der Kirche und im Ausbau der politischen Einfluûnahme des Christentums den Fortgang des Reiches Gottes sah. Dabei wird nun das eigentlich Paradoxale von Ræmer 5 vællig 85. Vgl. S. 109, Anm. 72. 86. Wahrscheinlich handelt es sich hier nicht um ein wærtliches Zitat von Barth, sondern um Iwands eigene Interpretation (vgl. PM I, 594 f.).

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beseitigt ± Verkçndigung bedeutet aber, daû dies Paradoxale bleibt, daû es bleibt, solange die Welt besteht, daû uns die Gnade nie etwas »Begreifbares« wird. Rothe hat einmal gesagt, seine Spekulation sei nichts anderes als die wissenschaftliche Organisation des Kinderglaubens ± gerade aber die Erfahrung des Gesetzes erweist diesen Kinderglauben als çberholt: »Ich lebte einmal ohne das Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sçnde auf« (Vers 9). Das ist das Ende des Kinderglaubens ± wenn er nur immer so zu Ende ginge, wenn nur sein Zuendegehen immer so bekannt wçrde! Wir werden uns also eine ganz neue Frage zu stellen haben, wir werden zu fragen haben: Wo liegt der Ûbergang von der Verkçndigung zur Ethik, also vom Glauben zum Tun? Glauben im reformatorischen Verståndnis bedeutet eine ± vor aller Ethik liegende ± Kategorie! Der Glaube ist nicht eine Funktion im ethischen System. Der Glaube ist schlechthin sui generis. Er ist, wenn man so will, etwas Ûberflçssiges, wie denn auch die ganze Theologie etwas Ûberflçssiges ist! Man kænnte sich auch die Welt ohne Christus denken ± und die Wissenschaft ohne die Theologie. Notwendig ist dieses Ereignis jedenfalls nicht. »Nichts, nichts hat dich getrieben zu mir vom Himmelszelt« 87 ± die Gegenwart Jesu Christi auf Erden bleibt freie Gnade. Ræmer 5 will denn in Wahrheit so gelesen sein, daû an sich ein notwendiger, ein undurchbrechbarer Zusammenhang besteht zwischen Sçnde und Tod, zwischen dem Menschen und seinem Dasein in der Welt ± es ist wirklich Nacht, und der Weg, auf dem wir marschieren, mitten in den groûen Marschkolonnen der Menschheit, dieser Todesmarsch, in den hinein der Schritt des einen weist, der sein Menschsein zum Einfallstor der Sçnde in den Kosmos machte, ist in dieser seiner Geradlinigkeit ein unabånderlicher. Auch das Gesetz kann ihn nicht aufhalten. Auch die Ethik gehært mit hinein in diesen Gesamtvorgang des unaufhaltsamen Gefålles nach unten. Wie wenn man in einen Strom ein Wehr einbaut und die Wasser staut, bis sie schåumend und gewaltig darçber wegstçrzen, da man zwar anstauen, aber das Stræmen nicht aufhalten kann ± so steht das Gesetz, so steht unser ethisches Bewuûtsein in unserem faktischen Dasein. So stehen heute die besten Regeln der Moral und Humanitåt ± ja, die besten Verfassungen ± çber einem unausdenkbaren Abgrund von Bosheit, Sçnde und Todesmåchtigkeit. »Damit die Sçnde çbermåchtig wçrde.« (Vers 20) Das Gesetz ist sozusagen ± in einem negativen Verstande ± von Gott der Botschaft dienstbar gemacht, dem Evangelium von Jesus Christus. Wir sehen freilich, daû nun erst von neuem die Fragen aufbrechen: Wir werden eine Form der Ethik kennenlernen, die ganz und gar auf der Wiedergeburt auf87. »Wie soll ich dich empfangen« (P. Gerhardt), EG 11,5.

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baut (in etwa versucht das auch Rothe), aber nun eben doch die Wiedergeburt als speculum (Spiegel) ansieht, in dem sich alle Fragen der Ethik ± erstens wiederfinden, und zweitens neu læsen. Aber wie dem auch sei: Wir werden das eine bei Rothe lernen kænnen, daû Theologie eine Alternative enthålt: entweder die Versæhnung in Jesus Christus aus dem allgemeinen Weltzusammenhange sinnvoll zu machen und sie damit in ein ethisches Phånomen aufzulæsen oder die Beziehungslosigkeit der freien Gnade Gottes zu behaupten ± sozusagen als die offene Stelle mitten im System, als das Phånomen des Geistes, von dem man nun eben nicht sagen kann, woher er kommt und wohin er trågt, der aber dafçr eins verbçrgt: die Gegenwart ± die praesentia Dei (Gegenwart Gottes) in Jesus Christus!

2.4.3 Tugend und Wert

Trotzdem bleibt eine schwere Frage. Wir haben bereits gesehen, daû Rothe seine Ethik nach dem Schema der Gçter-, Tugend- und Pflichtenlehre aufbaut. Er geht auch darin in Schleiermachers Bahnen. Er meint, daû die Gesamtheit der ethischen Wirklichkeit nur dann vollståndig umrissen ist, wenn sie von diesen drei Seiten her angefaût wird, wobei die beiden letzten Teile: Tugend- und Pflichtenlehre keine grundsåtzliche Differenz bedeuten. Nur um der Sçnde willen, also darum, weil nicht nur Tugend, sondern parallel zu jeder Tugend auch Untugend da ist, bedçrfen wir einer Pflichtenlehre. Tugend wåchst nicht so wie etwa eine Blume auf dem Felde. Tugend ist im sittlichen Kampf ± als Persænlichkeit ± dem rohen Stoffe abgewonnener Charakter. »Christlicher Charakter ist das Resultat des wechselseitigen und wechselseitig influierenden Verhåltnisses der gættlichen Gnade und der menschlichen Individualitåt zueinander ± die christliche Ethik ist ± im eigentlichen Sinne ± eine Geschichte, Statistik und Politik des Reiches Gottes. Mittels des Charakters wird das innerliche Reich auch ein åuûerliches.« 88 In der Lehre vom hæchsten Gut werden also die objektiven, im Grunde ideellen Strukturen der Gottesherrschaft herauszustellen sein, hier ist die Welt geschaut als Welt Gottes ± so daû Gott und Welt eins sind wie ein Reich und sein Herrscher. Die objektiven moralischen Werte ergeben sich aus dieser Voraussetzung: Wie wçrde, wie mçûte die Welt aussehen, wie wçrde es in ihr zugehen, wenn Gottes Herrschaft in ihr in Erscheinung tråte! Rothe war offenbar der Meinung, daû wir ± wenn anders wir in der Welt leben und an Gott glauben ± bestimmte Ideen çber ihre innere Struktur haben mçûten. Rothe hat damit ± sehr im Gegensatz zum ethischen For88. R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. IV, Wittenberg 18702 , Vorwort S. XIV.

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malismus Kants ± wieder nach den objektiven Werten gefragt, er hat die Ethik wieder als Lehre von den echten, den ewigen Werten entwickelt und çberhaupt das Leben nur in bezug auf diese ewigen Werte fçr menschlich, fçr im edelsten Sinne human angesehen. Er hat damit eine Methode ± theologisch ± vorweggenommen, die heute, seit Husserl, Scheler, Meinong und Nicolai Hartmann wieder in der Philosophie gebraucht wird ± und die uns als protestantische Theologen vor die vielleicht schwierigste Frage stellt: vor die Frage des Wertes, des summum bonum (hæchsten Guts). Die Tugend ist nun ± auf diesem Hintergrunde des objektiven Wertes gesehen ± seine Erscheinung in der Weise der Beståndigkeit. Im Akt der Handlung gewinnt der Mensch eine Bewåhrung, eine gewisse Stetigkeit der Gesinnung. Man wird nicht einwenden dçrfen, daû die Gesinnung voraufgehen mçsse ± das ist selbstverståndlich ±, aber wo die Gesinnung nicht in bestimmten, ihr angemessenen Taten in Ûbung bleibt, verfållt sie. So spricht Rothe auch von der Einçbung bzw. Erziehung zur Tugend, die der einzelne an sich selbst zu leisten hat, also von der Zucht, ohne die die Tugend nicht zu erringen ist. Durch die Tugend wird das »gættliche Leben in der Welt zu Sitte«. 89 Auch dieses Problem ist ohne Frage von Bedeutung in der Ethik: die Frage nach der Sitte, nach ihrem Verfall, ihrer Wiederherstellung, ihrer eigentlichen Wurzel etc. Rothe hat ± wie aus Handzetteln hervorgeht ± zuweilen Zweifel gehegt, ob Tugend ein christlicher Begriff sei. Und mit Recht. Er håtte hinzusetzen kænnen, daû die Rezeption des heidnisch-griechischen Tugendbegriffs in der Scholastik eigentlich dort den Bruch mit der biblischen Rechtfertigungslehre bedeutet. Die Bibel spricht vom guten Werk, vom Werk als Frucht ± sei es nun des Glaubens oder auch des Unglaubens ±; sie spricht von Haû und Liebe, von Demut und Geduld, von Glaube und Hoffnung ± auch Glaube kann als charisma, als Gnadengabe, neben anderen Gnadengaben stehen ±, aber von Tugend spricht sie nur sehr selten und sehr am Rande. Vor allem fehlt eine Tugendlehre. Die Bibel sieht die Sitte nicht ± wie das Griechentum ± als ein Erzeugnis der Kultur, sozusagen analog zur Physik (ethe 90 als Gegenbegriff von pathe); sondern die Bibel sieht in dem Bereich der Sitte den der erhaltenden Gnade bzw. des Zornes Gottes. Fçr Rothe und seine Ethik ist der Mensch ± als Geistwesen ± frei. Die Bibel kennt diese Freiheit nicht. Freiheit ist in der Bibel ein Akt der Befreiung, ein Griff von oben, ein Einsatz, den der, welcher befreit wird, eben nicht von sich aus zu leisten vermag. Darum ist auch das Reich Gottes nicht primår das System der absoluten 89. Ebd. 90. Vgl. A. von Harleû, Christliche Ethik, Gçtersloh 18938 , 7.

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Werte oder hæchsten Zwecke, sondern das Reich Gottes ist pråsent in dem, was Jesus tut und sagt. Er ist sozusagen das Reich Gottes in Person. 91 Gewiû, es gibt Frçchte des Geistes und Werke des Fleisches (Gal 5,19-24), und das Reich Gottes ist verschlossen fçr die Ûbeltåter. Aber damit ist noch nicht gesagt, daû am Tun, also innerhalb der ethisch aufweisbaren Handlungen, die Zugehærigkeit bzw. die Nichtzugehærigkeit zum Reiche Gottes sich entscheidet. Diese reformatorische Erkenntnis, die den Sçnder zur Buûe ruft ± also gerade ihm die Tore der Gottesherrschaft auftut, ihn zum Mahl einladet ±, gerade das Evangelium als solches also ist hier nicht mehr gekannt.

91. Autobasileia theou. Von Origenes geprågter Begriff (vgl. K. L. Schmidt, basile‚a, Theol. Wærterbuch z. NT I, 591, 595).

Kapitel 2: Die Ethik

1. Hans Lassen Martensen 1 1.1 Hans Lassen Martensen und Sùren Kierkegaard Wir wollen im Anschluû an Rothe einen kurzen Einblick in den Stand der Ethik çberhaupt tun und einige ethische Systeme kurz behandeln. Da ist zunåchst eine in gewisser Hinsicht Rothe åhnliche Ethik, die des dånischen Bischofs Martensen, Sohn eines Schiffers, in Flensburg 1808 geboren, hochbegabt und sehr frçhzeitig zur hæchsten kirchlichen Wçrde seines Landes aufgestiegen. Dreiûig Jahre ist Martensen Bischof von Seeland gewesen ± er ist 1884 gestorben. Martensen hat Schleiermacher noch erlebt, als dieser ± gefeiert von der Bevælkerung Kopenhagens ± seine Reise nach Dånemark antrat; er hat Schelling, Hegel und Schleiermacher gut gekannt, ist von allen geistigen Fragen seiner gewiû nicht ganz ruhigen Zeit bewegt, gerade auch den Fragen des Sozialismus und der modernen Verstådterung, der in einen reinen Østhetizismus sich auflæsenden Stadtkultur ± alles das kennt er, und mit all dem setzt er sich auseinander. Martensen ist Lutheraner und ist es bewuût. Er meint jedenfalls immer wieder, bei seinen Entscheidungen ± etwa bei der Frage von Kirche und Staat oder von Religion und Sittlichkeit ± auf dieses Erbe sich berufen zu kænnen. Im Grunde meint er immer wieder das Schema der Zweiteilung, der »beiden Reiche«, das fçr seine Kulturtheologie so bezeichnend ist ± sozusagen das Schema, in dem es kein Entweder-Oder gibt. Martensen wird der Nachfolger von Bischof Mynster. Seine Berufung bedeutet in Kierkegaards Leben eine ± und zwar die letzte und radikalste ± Phase im Kampf gegen die Kirche, gegen das Christentum dieser Kirche. 2 1. 2.

Ûberschrift Iwands. Martensen hielt am 5. Februar 1854 anlåûlich der Beerdigung des lutherischen Bischofs von Seeland (Dånemark), Jakob Peter Mynster, dessen Nachfolger er werden sollte, eine Predigt, in der er ihn einen »Wahrheitszeugen« nannte. Das veranlaûte Kierkegaard zu einem scharfen Angriff auf die zeitgenæssische Kirche, der vor allem seinen Niederschlag fand in S. Kierkegaard, Der Augenblick. Aufsåtze und Schriften

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Mit allem, was er im »Augenblick« schreibt, meint er Martensen, meint er den domestizierten Hegelianismus, der ihn an Martensen reizt. Martensen gehært dabei mit all seiner Theologie ins 19. Jahrhundert ± er schreibt »zeitgemåû« ±, wåhrend Kierkegaard eigentlich nicht in eine Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts hineinpaût. Kierkegaard gehært zu jenen Frçhgeborenen, die verdammt sind, mit dem Kassandrablick in ihrer Zeit zu leben, und die darum nur noch in der Verkehrtheit der Ironie und der Anonymitåt ihre Existenz aushalten kænnen. Man muû einmal Martensen lesen, um Sùren Aabye Kierkegaard (1813-1855) zu verstehen, um das Gegençber zu sehen, das er meint ± dieses fçr seine jeremianische Qual, fçr das Sehen-Mçssen des Untergangs, des Kommenden, fçr das Begreifen des Schlafs, den alle um ihn her fçr Lebendigkeit halten, so bitter unempfindliche Gegençber des allerchristlichsten Bischofs. Martensen hat seinen ihm geistig unendlich çberlegenen Gegner um Jahrzehnte çberlebt, aber Kierkegaards Stimme ist neu aufgebrochen, als die Zeit kam, die er gesichtet hatte: die Zeit der Nivellierung, die Zeit, da das Christentum nicht ± wie Martensen mæchte ± das relativ Paradoxe (im Verhåltnis zur Sçnde, aber doch dem Eingeweihten, dem Wiedergeborenen Einsichtige, Sinnvolle) sein wird, sondern das, wovor dem Bischof Martensen graut: das »absolut Paradoxe, was aller Vernunft zuwider geglaubt werden mçsse, darum weil jede Idee, jeder Weisheitsgedanke davon ausgeschlossen sei, ein unter allen Umstånden fçr den Menschen Unzugångliches«. 3 Das ist Martensen das Ørgernis schlechthin. Er mæchte gern Kierkegaards Ruf, ein »einzelner« zu sein, als Erweckungsbewegung verstehen, er mæchte so gern daraus eine »Bewegung« machen; er mæchte diesen fçr seine Zeit und seine Stadt so peinlichen Ruf ± man denkt manchmal bei dieser Geschichte an Amos und Amazja (Am 7,10-17) ± in irgendein bekanntes Schema fassen. Es ist geradezu rçhrend zu sehen, wie der alte Mann sich in seinem Spåtwerk ± der Ethik ± noch immer mit diesem seinem långst verstorbenen Propheten auseinandersetzt, wie er schlieûlich die Kategorie des »einzelnen« akzeptiert, wenn dieser sich »zur Kirche« halte, aber im çbrigen erklårt, daû diese Kategorie fçr eine Sozialethik leider nicht verwendbar sei. Das ist die dånische Kirche im Jahre 1871. 1855 ist Kierkegaard gestorben. Man fragt sich: Muû es immer so sein, wird es immer so sein? Werden

3.

des letzten Streits (Gesammelte Werke, 34. Abt.), Dçsseldorf / Kæln 1959, 3 ff. Martensens Sicht seiner Kontroverse mit Kierkegaard ist enthalten in H. L. Martensen, Aus meinem Leben. Mittheilungen. Zweite Abtheilung. 1837-1854, Karlsruhe / Leipzig 1884, 150-154 und H. L. Martensen, Aus meinem Leben. Mittheilungen. Dritte Abtheilung. 1854-1883, Karlsruhe / Leipzig 1884, 12-24. H. L. Martensen, Die Christliche Ethik. Allgemeiner Theil, Gotha 18783 , 287.

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die kirchlichen Wçrdentråger immer die sein, die dem prophetischen Ruf gegençber am allerunempfånglichsten sind? Werden sie wirklich immer wieder ein Band zu eben der Kultur schlagen, die von Propheten wie eine çberreife Frucht bereits dem Untergange preisgegeben ist? Was fçr furchtbare Abgrçnde, Tiefen und Blindheiten offenbart doch die Geschichte ± zumal es eben doch wahr ist, daû der Herr Herr nichts tut, er offenbare es denn zuvor seinen Knechten, den Propheten (Am 3,7)!

1.2 Martensen als Ethiker Martensens Ethik ist nun in der Tat ± zumal in diesem Gegençber ± noch ganz anders als der Entwurf Rothes, der wenigstens den Mut hatte, heterodox zu sein und im Abbau der Kirche das Gottesreich kommen zu sehen. Martensen setzt mit seiner Ethik ein schænes, sinnreiches Denkmal auf das Grab der europåischen Kultur ± und er weiû es nicht einmal. Er sieht all die Kråfte und Bewegungen aufsteigen, die das Christentum seiner Tage seiner inneren Haltlosigkeit çberfçhren werden, aber er hofft auf einen Kompromiû. Er mæchte darum auch das Christentum kompromiûfreudig stimmen. Martensen ist im Grunde genommen ± wie Rothe ± theosophisch veranlagt, er fçhlt sich, besonders in seiner Manneszeit, Bæhme nahe. Er sieht in der Kontemplation ± åhnlich wie Thomas von Aquin ± die hæchste Tugend, das ethische Handeln ist gleichsam immer ein »Herausgehen« aus der kontemplativen in die aktive Haltung, ist ein Umschwung in der seelischen Haltung, freilich ein notwendiger, solange wir noch auf Erden leben. Kontemplation und Aktivitåt sind wie die Atemzçge, wie Ruhe und Arbeit im seelischen Bereich. Und diese Ruhe ist im eigentlichen Sinne die Ruhe in Gott, das reine Denken. Der junge Martensen schreibt çber Glauben und Wissen, das er wie Hegel als Einheit gefaût sehen mæchte, und seine Dogmatik geht darauf aus, aus dem christlich wiedergeborenen Bewuûtsein die Inhalte des Christentums im Zusammenhange zu erheben. Hier stoûen wir bereits auf einen Zug, den wir bei den Erlangern wieder antreffen werden: daû der wiedergeborene Mensch ± also nicht das Selbstbewuûtsein des natçrlichen Menschen ± der zentrale Beziehungspunkt der Glaubensaussagen wird. Die christliche Lehre ist dann nicht das natçrliche, sondern das christliche, aber eben als solches das natçrliche in sich einschlieûende Selbstverståndnis des Menschen. Das natçrliche ist eingeschlossen, weil es ohne den Gegensatz gar kein Wissen um die Erlæsung gibt. Also nur in der Konfrontierung mit dem Menschen, der ich nicht bin bzw. nicht mehr bin, kann ich

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die Glaubensaussagen entfalten. Ich muû also sozusagen immer wieder den natçrlichen Menschen, den ich aus mir kenne, ins Gestern verlegen, um Raum zu schaffen fçr den neuen, den wiedergeborenen Menschen, der das Subjekt der Glaubensaussage sein soll. Beide zugleich kænnen doch wohl nicht in einem »Menschen« wohnen? Beide zusammen ± in einem Menschen ±, das wåre ja in der Tat das absurd Paradoxe! Dann håtte ja der Glaubende schlieûlich nichts mehr, worauf er sich ± gegençber seinem alter ego, dem alten Adam, dem homo naturalis (natçrlichen Menschen) ± berufen kænnte als allenfalls auf seinen Glauben! Er aber mæchte sich berufen kænnen ± wie jener ± auf eine Existenz! Auf ein Sein, das im unmittelbaren Bewuûtsein mein Sein ist. Mein wiedergeborenes Sein. Dies wird nun zur Mitte eines neuen Lebens, einer neuen Weltansicht. Ja, gerade der Weltansicht der Erlæsten, da Gott alles in allem ist (1Kor 15,28). In seiner Selbstbiographie schreibt Martensen: daû er schon in seiner Schulzeit beim Lesen von Steffens' Schriften »eine Ahnung davon empfing, daû es eine Welt- und Lebensanschauung geben mçsse, in welcher alles, was im Bereiche des Daseins Bedeutung hat, Natur und Geist, Natur und Geschichte, Poesie, Kunst, Philosophie, sich harmonisch zusammenfaût zu einem Tempel des Geistes, in welchem das Christentum den Alles beherrschenden und Alles erklårenden Mittelpunkt bildet«. 4 Die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit ± und doch um ein Zentrum schwingend ± das Christentum als die Mitte aller menschlichen Mæglichkeiten. Seltsam, daû die Apostel darauf nicht kamen ± daû die Reformatoren von dieser Mæglichkeit gerade keinen Gebrauch machten! Fållt hier nicht schon dieser und jener Øon zusammen, ståndig sozusagen im Ûbergang befindlich? Und das alles in dem Europa um die fçnfziger Jahre. Dostojewski hat damals keinen christlichen Eindruck von Europa gehabt ± und schlieûlich: Hærte man denn in Kopenhagen nicht das heimliche Grollen im Untergrund der bçrgerlich-christlichen Gesellschaft, das von Paris her wie ein Erdbeben durch ganz Europa lief? Martensen hofft und glaubt und tråumt ± er lebt in den »reinen Erkenntnissen der Dogmatik« und muû sich offenbar immer çberwinden, aus diesen Hæhen niederzusteigen in die »vielverzweigte und verwickelte, labyrinthische Mannigfaltigkeit der menschlichen Handlungen«. Schlieûlich låût sich doch behaupten, »daû die uns offenbarten gættlichen Dinge bei weitem einfacher sind, als die menschlichen Dinge« 5 ± vielleicht sind sie 4. 5.

H. L. Martensen, Aus meinem Leben. Mittheilungen. Erste Abtheilung. 1808-1837, Karlsruhe / Leipzig 1883, 27. H. L. Martensen, Die Christliche Ethik. Allgemeiner Theil, IV.

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nur darum »einfacher«, weil beide Gebiete, das der Dogmatik und das der Ethik oder besser das der theologischen Gnosis und das der ethischen Praxis, so getrennt sind wie Himmel und Erde. Aber gerade diese Trennung gilt es zu çberbrçcken, es gilt zu zeigen, daû das christliche und das humane Interesse im letzten Grunde sich decken. »Mæge sie ± die Ethik ± sich geeignet erweisen, die christliche Welt- und Lebensanschauung da, wo sie schon vorhanden ist, zu festigen, oder auch die Wege ihr zu bereiten, und zugleich die von jener Anschauung unzertrennliche Einsicht in das wahre Verhåltnis des Christlichen und des Menschlichen zu færdern.« 6 Die Einheit des Christlichen und Menschlichen ist fçr Martensen gegeben in der Inkarnation ± darin, daû Gott Mensch geworden ist und die Menschheit in Gott aufgenommen wurde. Dieser Wechsel gilt sozusagen vice versa. So hat er es von Hegel çbernommen. Darin glaubt man das alte Dogma zu rekonstruieren. Wieder dasselbe Anliegen wie bei Rothe und Schleiermacher: das wahre Verhåltnis des Christlichen und des Menschlichen, das Thema der Scholastik, das bleibende Thema der katholischen Theologie. Im Mittelalter nannte man das Natur und Gnade. Keine Natur, ohne daû nicht schon darin die Gnade aufleuchtete ± keine Gnade, die nicht natçrlich, d. h. sittlich werden kænnte. Das ist der Sinn jener Doppelung der Gnade in der Scholastik, der gratia gratis data (umsonst gegebene Gnade) ± und der gratia infusa (eingegossene Gnade), der natçrlichen und der sakramentalen Gnade. Das ist ebenfalls gemeint in dem Tertullianischen Satz: »Die Seele ist von Natur christlich«! 7 Wie schæn, wie verlockend und einladend klingen diese Tæne ± warum hæren wir davon bei Luther und Melanchthon nichts? Kann man es den mçden Schiffern verdenken, wenn sie unter solchen Sirenentænen dem Hafen zusteuern, der ihnen endlich Ruhe verheiût; kann man es ihnen verdenken, wenn sie unwillig sind dem gegençber, der ihnen hier die Ohren verklebt und sie zwingt, weiter auf offener See zu bleiben: dies ist der Hafen nicht, da Ruhe winkt!

1.3 Kultursynthese Und nun wird dies alles hier nicht entwickelt als Auflæsung der Kirche, sondern als Synthese von Kirche und Kultur. Diese ganze Ethik liest sich 6. 7.

H. L. Martensen, a. a. O., VI. »Anima naturaliter christiana«. Tertullian, Apologie, Kap. 17,6 und De testimonio animae naturaliter Christianae (in: Corpus ecclesiasticorum latinorum, Wien, Bd. 69 II,1 bzw. Bd. 20).

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wie ein Programm der lutherischen Kultursynthese ± wobei der Volkskirche ihr Recht wird und der freien, im Grunde modern und liberal verstandenen Kultur ebenfalls das ihre. Suum cuique kænnte man mit Emil Brunner sagen, dessen Ethik ± »Das Gebot und die Ordnungen« 8 ± fçr das 20. Jahrhundert etwa das nåmliche ist, was Martensen mit seiner Ethik fçr das mittlere 19. Jahrhundert leistet. Vorangeht ein allgemeiner Teil, der die christlichen Grundbegriffe behandelt. Wiederum so, daû die Lehre vom Reiche Gottes als dem hæchsten Gut voransteht. Die Frage ist allerdings, ob nicht mit dieser Gleichung: das regnum dei = summum bonum (Reich Gottes = das hæchste Gut) bereits die Erschleichung einsetzt, ob nicht bereits hier Gottes Wille und unsere Wçnsche 9 ununterscheidbar zusammenflieûen. Denn dies Reich Gottes begegnet uns nicht als der Gegner ± mit dem wir uns zu versæhnen haben; es kommt nicht çber uns als die Welt von morgen, sondern es ist das zeitlos-ewige Reich, das je schon immer çber uns und vor uns ist, und es ist nun hæchst reizvoll zu sehen, wie von diesem (fast kænnte man sagen) »sicheren Port« aus die beweglichen und bewegten Fragen der Welt, d. h. der Zeit, angefaût werden. Also etwa: »Das Reich Gottes und das Reich der Sçnde« ± Thema: »Das græûte Ûbel«. 10 Oder: »Das Reich Gottes und die Welt« ± Thema: »Optimismus und Pessimismus«. 11 Oder: »Gottesreich und Menschheitsreich« ± Thema: »Erlæsung und Emanzipation«. 12 Oder: »Das Gottesreich und der Einzelne« ± Thema: »Sozialismus und Individualismus«. 13 Der Sinn dieser Themen ist der, daû çberall die Alternativen in ein Sowohl-Als-auch verwandelt werden, daû also die Vorgånge in diesem Øon als heimliche vorbereitende Vorgånge fçr die Stunde der Kirche begriffen werden. Kæstlich ist etwa das Problem der Emanzipation gelæst: »Zum Unterschiede von der eigentlichen Erlæsung bezeichnen wir dieses Moment, welches in dem gættlichen Erziehungsplane eine so groûe Bedeutung hat, als die Emancipation, d. i. die Befreiung von dem natur- und nationalgebundenen Zustande der alten Welt. Die Emancipation ist nur die Befreiung von hemmenden Schranken, von Natur- und Weltmåchten, von falschen 8. E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik, Tçbingen 1932. 9. Anspielung auf K. Barth, Gottes Wille und unsere Wçnsche, Theologische Existenz heute, Heft 7, Mçnchen 1934 (wieder abgedruckt in K. Barth, Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vortråge, 3. Bd., Zçrich 1957, 144-157). 10. H. L. Martensen, Die Christliche Ethik. Allgemeiner Theil, 185-203. 11. Ebd., 209-244. 12. Ebd., 244-258: »Gottesreich und Menschheitsreich. Erlæsung und Emancipation«. 13. Ebd., 259-303: »Gottesreich und der Einzelne. Socialismus und Individualismus«.

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Traditionen und falschen Auctoritåten, durch welche die persænliche Freiheit unterdrçckt wird (¼). Sie ist eine Freilassung zum Genusse der Menschenrechte, zur Herrschaft çber die Erde, zum vollen und ungestærten Gebrauche der Fåhigkeiten, mit denen der Mensch ausgerçstet ist, darunter auch des Vermægens, in Betreff des Uebersinnlichen und Unsichtbaren seine freie Bestimmung zu treffen, sich fçr das Evangelium oder, auf eigene Gefahr, auch gegen das Evangelium zu entscheiden: sie ist also die Befreiung des Menschen fçr das ­rein Humane¬, wie es in unsren Tagen gewæhnlich heiût.« 14 Diese Humanisierung des Lebens ist bereits eine Auswirkung des Christentums (gratia gratis data! [= umsonst gegebene Gnade]), die Emanzipierten sind zu Menschenwçrde und Menschenrechten erhoben, aber sie sind ± mæge auch ein Widerschein der Erlæsung auf ihnen ruhn ± doch noch »in ihren Sçnden« (1Kor 15,17) und also der Erlæsung als der zweiten Stufe der Gnade bedçrftig. So ist fçr Martensen Geschichte und Kultur eben doch Offenbarung neben der eigentlichen Offenbarung, die allgemeine Offenbarung umgibt wie ein Lichthof das in dem Zentrum brennende Licht, das freilich immer nur Christus ist ± Christus der einzige, wie Martensen sagt. Insofern ist auch er ein Gegner jeglicher ethischen Autonomie, da diese den freien Menschen die Tiefe ihres inneren Zwiespaltes verschleiert. 15 Es folgt dann die Ethik im çblichen Schema: erstens die Individual- danach die Sozialethik. Die Individualethik beginnt mit der Darstellung des »Lebens unter dem Gesetz«, 16 es folgt der zentrale Abschnitt çber die »Sçnde« 17 und die »Bekehrung«. 18 Dann steigt man auf zum Positiven bzw. zur »Heiligungslehre«, die unter dem Titel der »Nachfolge« behandelt wird und in zwei groûe positive Unterteile zerfållt: »Liebe« und »Freiheit«. 19 Die Sozialethik ist wie in den meisten lutherischen Ethiken gegliedert: »Familie« (das ist immer das Fundamentale), »Staat« (das ist das Ûbergeordnete), »Kultur« (das ist der Beitrag an die Moderne) und dann »Kirche« (im wesentlichen auf »Erbauung« eingestellt). 20 Merkwçrdig, daû am Schluû dieser glatten Ethik, die kaum Strudel und Stçrme aufweist, 14. Ebd., 247. 15. In Klammern notiert Iwand: »Siehe Goethe«. 16. H. L. Martensen, Die Christliche Ethik. Specieller Theil. Erste Abtheilung. Die individuelle Ethik, Gotha 1878, 25-100: »Die Hauptformen des sittlichen Lebens unter dem Gesetze«. 17. Ebd., 100-165. 18. Ebd., 165-183. 19. Ebd., 184-464: »Das Leben in der Nachfolge Christi«; »I. Die christliche Liebe« (190405) und »II. Die christliche Freiheit« (406-464). 20. H. L. Martensen, Die Christliche Ethik. Specieller Theil. Zweite Abtheilung. Die so-

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plætzlich vom Auftreten des Antichrist am Ende der Tage die Rede ist 21 , um nach diesem furchtbaren Gewitter vom Tausendjåhrigen Reich als der »goldenen Zeit« 22 zu handeln. 23

1.4 Gesetz und Sçnde Martensens Ethik ist eine modern lutherische Ethik ± wenn man so will. Wenn man sie liest, stæût man immer wieder auf durchaus gelåufige Theologumena. Man fragt sich, ob nicht diese schematisch festliegenden Såtze uns vielleicht hindern, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Hæren wir etwa folgenden Satz, mit dem der »spezielle Teil« beginnt: »Jedes, noch nicht der Erlæsung theilhaftig gewordene Menschenleben ist ein Leben unter dem Gesetze, im Gegensatze gegen das Leben unter der Gnade. Denn mæge sich dessen der Mensch bewuût sein oder nicht, immer schwebt bis dahin çber seinem Leben das Gesetz als eine unerfçllte Forderung, und in der Tiefe seines eigenen Wesens bleibt dieses gegenwårtig als ein unabweisbares, aber unbefriedigtes und ungesçhntes Anrecht an ihn, welches eine solche menschliche Existenz, weil im Widerspruche befangen mit ihrer ursprçnglichen Bestimmung, als eine sçndige und schuldbeladene kennzeichnet.« 24 An diesem einen Satz kann man den Grundriû dieser ±

21. 22. 23.

24.

ciale Ethik, Gotha 1878. »Die Familie« (3-99); »Der Staat« (100-292); »Die idealen Culturaufgaben« (293-369); »Die Kirche« (370-422). Ebd., 423-440: »Vollendung des Reiches Gottes« (§ 158: »Der groûe Abfall und der Antichrist« [425-430]). Ebd., § 159: »Die goldene Zeit. Die Vollendung« (430-434). Von Iwand fçr den Vortrag gestrichener Passus: Man liest diese Dinge mit einer bangen Frage auf dem Herzen: Wie kommt es, daû diese ganze feinsinnige Weisheit so wenig Erfolg hatte ± daû dieser christliche Silberstreif am Horizont sich eben nun nicht als Ankçndigung eines heraufziehenden Morgens erwies, sondern als das letzte Abendleuchten, um bald ganz und gar unsere Kultur in Nacht und Grauen untergehen zu lassen. Was ist hier falsch gemacht? Was machen wir offenbar permanent weiter falsch? Worin besteht unsere grundsåtzliche ethische Impotenz, der gegençber die Potenz der Atheisten und der Heiden immer wieder im Vorteil sein wird? Geht es wirklich an, daû das Christentum die christliche Theologie und Verkçndigung, das Dasein verklårt, wåhrend die immanente Betrachtung das Dasein richtet? Kann man so milde und irenisch reden, wenn doch in Wahrheit sich allerorten die Beulen der Pest auf den Angesichtern der Tanzenden zeigen? Wenn die Zeichen der Zeit auf Untergang stehen? Das haben diese Månner vor uns vorausgehabt, daû sie wirklich die mannigfachen Fragen des æffentlichen Lebens behandelten, aber sie haben darçber das eine vergessen, das not tut. H. L. Martensen, Die Christliche Ethik. Specieller Theil. Erste Abtheilung. Die individuelle Ethik, 1. Seitenangaben im Text.

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und nicht nur dieser ± Ethik ablesen. Voran steht eine These: Das Kennzeichen des unerlæsten Lebens ist das »Dasein unter dem Gesetz«. Dieses Leben ± so wird weiter konstruiert ± ist ein in sich widerspruchsvolles = unerlæstes. Der Widerspruch mit meiner und in meiner Existenz ist also meine eigentliche Unerlæstheit. Diesen Widerspruch deckt das Gesetz = Nomos auf. Wobei das Gesetz zunåchst als die »bçrgerliche Gerechtigkeit« verstanden ist. Nun setzen eine Menge Versuche ein, die diesen Widerspruch in einer anderen als christlichen Weise auflæsen wollen: also etwa die åsthetische Erziehung, die Moral der Mittelstraûe oder die »Knechtschaft der Pflicht«. Alle diese Wege gehen an einem Phånomen vorbei ± an der Sçnde. Man kann geradezu sagen: Um diese Position wird die ganze Schlacht der Theologie im 19. Jahrhundert gefçhrt, darum, das idealistische oder åsthetische Selbstverståndnis des Menschen als unzulånglich gegençber dem Phånomen der Sçnde zu erweisen. Es geht um das moralistische bzw. idealistische Miûverståndnis des Bæsen. Hier liegt die Position, um die die Schlacht tobt. Ist erst einmal die »Lehre von der Sçnde« erreicht, dann ergibt sich der Fortgang im Schema von Bekehrung und Heiligung, in individueller wie sozialer Hinsicht. Das Peinliche an diesem Schema ist die Leichtigkeit und Verbreitetheit, mit der es gehandhabt wird. Ob die Theologie wirklich davon abhångt, daû das richtig ist? Ob hier wirklich die cardo rerum (der Angelpunkt) ist? Es ist doch merkwçrdig, daû diese Lutheraner dann die eigentlichen Steine des Anstoûes, also etwa den unfreien Willen, die Prådestination, das Gerecht-und-Sçnder-Zugleich oder auch die Lehre vom Wort als dem adversarius hominis (Gegner des Menschen) 25 und dementsprechend die Beziehung der Sçnde auf das Wort Gottes (»Ursprung aller Versuchung ist, wenn die Vernunft çber das Wort und çber Gott zu urteilen versucht ohne das Wort« 26 ) ± daû alles dies aus dem Wege geråumt zu sein scheint und darum diese modernisierte Form der ordo salutis! (der Heilsstufentheologie) uns allen so glatt eingeht. Ist das wirklich Luther? Ist das nicht der scholastischen Erlæsungslehre viel åhnlicher? 25. »Verbum Dei, quoties venit, venit in spetie contraria menti nostre, que sibi vera sapere videtur; ideo verbum contrarium sibi mendacium iudicat adeo, ut Christus verbum suum apellaverit adversarium nostrum« (Rm II, 270 f. = WA 56, 446 f. zu Ræm 12,2). Iwand zitiert durchgehend frei und verkçrzt: »Gottes Wort kommt, wenn es wirklich zu uns kommt, immer als Gegner« (H. J. Iwand, Von Bildung, Einbildung und Unbildung. Ein Wort zum sogenannten Boykott der Kænigsberger Theologischen Fakultåt, Heiligenbeil 1936, 7; GA I, 243; NW 2, 308; GA II, 23). Vgl. unten S. 440, Anm. 24. 26. M. Luther zu Genesis 3,1 (WA 42, 116): »Est autem haec omnis tentationis origo et caput, cum de verbo et Deo ratio per se iudicare conatur sine verbo«.

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Aber vor allem eine Frage: Wie steht es um den Stand des »vorgesetzlichen« Lebens? Wie bei Rousseau dem »bçrgerlichen Dasein« der Stand der Unschuld vorangeht; wie hier erst mit dem »Gesetz« und zwar dem Gesetz als dem »gesellschaftlichen Zustand« ± dem primus usus legis, dem usus civilis ± das Bæse entsteht, die Entfremdung des Menschen von seiner eigentlichen Natur eintritt: so lehren diese neolutherischen Theologen des 19. Jahrhunderts, daû dem »Dasein unter dem Gesetz« eine relative Unschuld voranging. Ob sie vielleicht beide dasselbe meinen, ob nicht doch bei beiden ein und dasselbe Lebens- und Daseinsgefçhl dahintersteht? Und hier und da verråt sich denn auch Martensen ± so wenn er etwa zu Ræm 7,9 (»ich aber lebte weiland ohne Gesetz«) sagt, daû Paulus hier von einem »vor-ethischen« Zustand spreche: wir wçrden »kaum fehlgehen, wenn wir annehmen, er habe hier auf seine Kindheit (¼) als auf einen paradisischen Lichtpunkt in seinem Leben, zurçckgeblickt« (4)! Wenn das nicht Rousseau ist ± was ist es denn dann? Paulus ist das bestimmt nicht, und von Luther kann er eine solche Auslegung nicht haben. Bei Luther finden wir nirgends solch ein wehmçtig zurçckblickendes Ausgerichtetsein seines Lebens. Martensen aber kann schreiben: »Viele dçrfen doch sagen: ­Auch ich lebte einmal ohne Gesetz¬; oder wie man's nach dem bekannten Dichterworte ausdrçcken kann: Auch ich war in Arkadien!« (5) 27 Barth sagt in seiner Geschichte der Theologie sehr treffend: »Es gibt ein franzæsisches Bonmot, nach dem man vom Russen nur wenig abkratzen muû, um auf den Tataren zu stoûen. Ebenso kænnte man vom ­modernen Menschen¬ sagen, man brauche nur wenig von ihm abzukratzen, um auf die Romantik zu stoûen. (¼) Ich meine den ­modernen Menschen¬, der sich einst, typisch fçr die Hæhe des 19. Jahrhunderts, mit Bewuûtsein und Euphorie so nannte, wie er etwa zwischen 1870 und 1914 geblçht hat, wie er in der Theologie schon Ritschl und noch Troeltsch zum Orientierungspunkt diente.« 28 Im çbrigen ist das, was hier folgt, sehr lesenswert, zumal das alles als Ouvertçre geschrieben ist zu dem Kapitel Novalis, das die schårfsten Tæne in der Beurteilung durch Barth, die einzige rundweg ablehnende Geste dieses sonst so versæhnlichen und verstehenden Buches enthålt. Aber nun hat es in der Tat eine seltsame Verbindung gegeben zwischen lutherischer Theologie und Romantik ± und das Kennzeichen dieser morganatischen Ehe ist diese seltsame Gesetzeslehre, wodurch die Ethik 27. Das Wort stammt ursprçnglich aus Italien, und wird von der Mitte des 18. Jahrhunderts an auch von Dichtern in Deutschland håufig zitiert (vgl. G. Bçchmann, Geflçgelte Worte. Der klassische Zitatenschatz, Berlin 199540 , 354 f.) 28. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 303.

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von vornherein schief gelagert ist. »Auch ich lebte einmal ohne Gesetz« ± auch ich war in Arkadien: ist das wirklich dasselbe? Kann hier der Theologe wirklich den Dichter als seinen Dolmetscher anfçhren? Aber was heiût dieser Satz aus Ræm 7,9 positiv? Ist sein Verståndnis nicht entscheidend wichtig fçr den ethischen Einsatz? Ist hier wirklich die Unschuld des Heidentums, wenn auch nur die tråumerische, gemeint? Luther formuliert das jedenfalls anders, und es ist doch wohl in solchem Falle angebracht, sich, wenn man schon lutherisch sein will, auf Luther selbst zu beziehen. Welchen Zustand versteht denn Luther darunter? Luther zu Ræm 7,9: »So ist's bei den stolzen Ketzern und Werkheiligen. Weil sie das Gesetz Gottes, das wider sie ist, nicht kennen, darum ist's unmæglich, daû sie ihre Sçnde erkennen. Daher sind sie unbelehrbar. Erkennten sie es, dann wçrden sie alsbald auch ihre Sçnde erkennen«. 29 Augustin bezeichnet das »die Sçnde lebte wieder auf« (Ræm 7,9) als »fing an sich zu zeigen« 30 . Das heiût also: Solange Gottes Wille und meine quasi fromme Intention, meine religiæse Einstellung sich decken ± solange wir nicht begreifen, daû das Gesetz Gottes »gegen mich« 31 gerichtet ist (und das fehlt nun in der Tat in der ganzen Martensenschen Ethik), solange haben wir noch keine Ahnung von der Sçnde. Solange werden wir nicht begreifen und bekennen: »Es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben« 32 ! Solange werden wir unser Sein vor Gott doch immer wieder an einem ethisch-moralischen Kanon unseres Lebens, jedenfalls unseres uns selbst bewuûten Lebens ablesen wollen. Solange werden wir nach faûbaren Maûståben suchen, um Fortschritt und Rçckschritt in dem Heiligungsleben wie an einer Skala abzulesen. Aber das Martensen-Schillersche Arkadien, aus dem er durch das Gesetz so unsanft herausgeholt worden ist ± bzw. meint, herausgeholt worden zu sein ±, ist fçr Paulus eben nicht sein Kindsein, sondern sein Pharisåersein, sein Fromm-Sein, sein Dasein unter der Fiktion des inneren, wenigstens inneren Einsseins mit dem Willen, der Ordnung Gottes. In dieser pharisåischen Epoche kannte er die Sçnde nicht, ja er kannte auch das Gesetz nicht, gerade weil er meinte, beides zu kennen. Er kannte diese Græûen eben nicht in der Tiefe, die sie bei Gott haben und die sie unserer Erkennbarkeit entziehen. 29. »Sic superbi heretici et Iustitiarii, quia legem Dei contra se non cognoscunt, impossibile est, quod peccatum suum cognoscant; ideo sunt et incorrigibiles. Si autem cognoscerent, statim peccatum suum cognoscerent.« M. Luther, Glosse zu Ræm. 7,9: WA 56, 68,5. 30. »Apparere coepit«. M. Luther, Glosse zu Ræm. 7,9: WA 56, 68,2. 31. Contra me. Handschriftliche Randnotiz: »als homo religiosus« (als religiæser Mensch). 32. »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« (M. Luther), EG 299,2.

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Hæren wir noch ein Wort Martensens çber die Sçnde: Die Sçnde ± so heiût es da ± »ist (¼) nicht allein das Unsittliche, das eigentlich Unmoralische: ihr innerstes Wesen ist das Irreligiæse, ist der Unglaube, welcher sich erfahrungsgemåû auch findet, wo das Leben in der weltlichen Sphåre ein relativ sittliches ist« (100) ± und weiter: »Das Irreligiæse kann sich lange verbergen, kann unter dem bloû Unsittlichen latent bleiben; doch einmal muû es zu Tage treten.« (100 f.) (Wann, fragen wir? Fçhren wir Menschen diesen Moment herbei? Was ist das fçr ein Tag?) »Latent liegt es jeder Gestalt (¼) zu Grunde, bei welcher der Mensch den Mittelpunkt seines Lebens in sich selbst hat; einmal aber muû fçr diese Sittlichkeit ein Zeitpunkt eintreten, wo sie vor ein groûes Entweder-Oder gestellt wird [nicht das Entweder-Oder Kierkegaards, sondern offenbar ein psychologisches Entweder-Oder]: entweder alle eigene Gerechtigkeit aufzugeben (¼), oder auch sich in einen Kampf mit diesem Evangelium einzulassen« (101). Wir werden nicht sagen kænnen, daû das ganz falsch ist, aber falsch ist, daû wir das Entweder-Oder sozusagen vor unserem Blick entfalten kænnen, als stçnden wir jenseits desselben. Auch der Dogmatiker bzw. der Ethiker steht nicht jenseits, sondern inseits dieses Entweder-Oder.

1.5 Der Mensch zwischen Gott und Teufel? Aber das Entweder-Oder von Glaube und Unglaube, auf das Martensen im Sinne Goethes heraus will, ist ein Drama, ist das Drama des Einzellebens wie der Weltgeschichte. Und weil es ein Drama ist, in dem wir stehen und çber dem wir doch immer wieder ± reflektierend ± uns erheben, ist es im Ûberindividuellen, im Metaphysischen begrçndet. Ûber unser Haupt geht eine Schlacht, und wir sind mitten dahineingenommen. »Die Hauptformen der Sçnde, gegen welche ein Jeder, der nach Gerechtigkeit trachtet, ankåmpfen muû, kennen wir schon. Jeder Mensch, der in diese Welt der Sçnde und des Blendwerks kommt, wird auch in jenen mystischen Wald hineingefçhrt, welchen Dante in dem Eingange zu seinem Inferno schildert, wo er emporstrebt zu einer sonnigen Hæhe (der des Ideals), wo aber drei Ungeheuer ihm entgegenkommen: ein gefleckter Panther, das Sinnbild der Sinnlichkeit, ein Læwe in der Wuth des Heiûhungers, das Sinnbild des Hochmuths, und ein gefråûiger, abgemagerter Wolf, das Sinnbild der Habgier, welche nie gesåttigt wird, wie viel sie auch bekommen mag. Gegen diese Ungeheuer haben schon die Edleren in der Heidenwelt gekåmpft. Das Christenthum hat auf diesen Kampf ein neues Licht geworfen, indem es uns lehrt, daû es eine hæhere Macht, ein hæheres Willensprincip giebt,

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welches durch diese Ungeheuer wirkt, und im Hintergrunde uns die dåmonischen Måchte und den Teufel zeigt, als den Feind Gottes und der Menschen (Eph 6,12), daû der Kampf, welchen der Mensch in dieser Welt zu kåmpfen hat, in einen Kampf der hæheren Geisterwelt verflochten ist. Und obschon zu diesem Kampfe dem Menschen ein çbermenschlicher Beistand, die Gnade Gottes in Christo angeboten wird, so drohet doch hier die neue Gefahr, daû der Mensch diese Gnade zurçckstoûe. Und hierdurch bildet sich eine neue Gattung, ein neuer Kreis von Sçnden, welche das alte Heidenthum nicht gekannt hat« (101 f.). Immerhin ± dieser Gedanke, daû die christliche Anfechtung nicht von der Ebene der heidnischen Sittlichkeit aus zu begreifen ist, dçrfte wesentlich sein fçr das Verståndnis der speziellen biblischen Ermahnungen. Aber der Unterbau des Ganzen? Setzt sich nicht eben doch hier der Mensch ± natçrlich der hæhere Mensch ± mit Hilfe eines metaphysischen Prinzips durch? Vollzieht nicht Martensen an diesem schlechterdings entscheidenden Punkt ± er håtte hier die Ethik aus den Angeln heben kænnen ± die Ausflucht ins Metaphysische, in die Welt der guten und der bæsen Geister? Ist nicht dann nur die Gnade wieder eine Hand von oben, die uns bei unserem guten Wollen hilft, ist das Entweder-Oder nicht ganz in den Akt verlegt und im çbrigen in ein çbermenschliches Jenseits? Gott und der Teufel ± gewiû, es gibt sicher diese Antithese, aber wo ist der Zusammenhang von Sçnde, Gesetz und Tod hingeraten? Die Kraft der Sçnde ist nach biblisch-paulinisch-reformatorischer Meinung nicht der Teufel, sondern das Gesetz. Ist dies, daû wir in dieser Anfechtung gerade dahin fliehen, wo keine Rettung ist: ins Gesetz hinein! Der vor der Macht des Bæsen ins Gesetz hinein sich retten wollende Mensch ist geradewegs in sein Gericht gelaufen! Gesetz ist die Klammer von Sein und Tat! Gnade aber heiût, daû in Jesus Christus diese Fessel unseres Daseins in der Mitte zerschlagen ist und wir frei sind; daû also die Tat ± um Jesu Christi willen und durch ihn ± aufgehært hat, das Feld der letzten Entscheidung zu sein, daû Gott in seiner Gnade diese Entscheidung in ein anderes Feld verlagert hat ± daû wir herausgenommen sind aus diesem Entweder-Oder, und damit insgesamt aus dem Entweder-Oder von Engeln und Dåmonen, von Gott und dem Teufel. Was kann schlieûlich auch einem Sçnder anderes als Gnade widerfahren, als daû er vernimmt, daû das çber ihm schwebende Entweder-Oder aufgehoben ist. Gnade ist ganz gewiû kein Entweder-Oder, und daû Martensen die Gnade in das Gebiet des Entweder-Oder, also der immer noch uns aufgeladenen und nicht eben uns in Jesus Christus abgenommenen Entscheidung verlegt, zeigt, daû er die letzte Intention lutherischer Rechtfertigungslehre nicht begriffen hat.

1. Hans Lassen Martensen

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Das Gesetz hat nach Martensen die Funktion des Bewuûtwerdens ± es fallen also Bewuûtsein und Gewissen zusammen. ± Hier ergibt sich nun die dritte Differenz zu der lutherischen Position. Luther bringt das Sein und das Bewuûtsein gerade so in Differenz zueinander, daû das Sein immer das vom Bewuûtsein her Unerreichbare ist: das ist das eigentliche Paradox. »Denn das ist das Merkmal eines geistlichen und weisen Menschen: er weiû, daû er fleischlich ist und er miûfållt sich, er haût sich selber und preist das Gesetz Gottes, daû es geistlich ist. Hinwiederum ist dies das Merkmal eines tærichten und fleischlichen Menschen: er meint, daû er ein geistlicher Mensch ist, oder er gefållt sich selber, er liebt seine Seele in dieser Welt.« 33 Darum, weil Sein und Bewuûtsein in notwendiger Inkongruenz sein mçssen, wenn anders Gott der Richter und der Retter ± und zwar solange wir leben, in diesem Øon leben ± fçr uns ist, kommt noch das Weitere hinzu, daû Sçnde und Gesetz sich unserer grundsåtzlichen Erkennbarkeit entziehen. »Wie David sagt: ­Wer merkt auf die Fehle?¬ (Ps 19,13) Also auch: Wer erkennt das Gesetz?« 34 Lex ± Gesetz ± ist also von einer unermeûlichen Tiefe, sowenig wir Gott begreifen, sowenig sein Gesetz. »Denn das Gesetz rçhrt an jede Sçnde. (¼) Darum, wer glaubt, er erkenne das Gesetz: ­Du sollst dich nicht lassen gelçsten¬, wenigstens bei sich selber, der ist ein Narr und hochmçtig.« 35 Es gibt also keine cognitio sui (Selbsterkenntnis) von der ich ausgehen kænnte ± auch die Selbsterkenntnis des Sçnderseins ist kein legitimer Ausgangspunkt der Ethik. Sondern Gott muû Raum behalten, mir immer von neuem mein Sçnder-Sein zu offenbaren: »Das sind die verborgensten Tiefen des Gesetzes, eine Erkenntnis, die man niemals vollståndig erkennen kann. Aber nun wird sie offenbart, damit man glaube. Wer also weiter keine Sçnde bekennen will, als eben nur die, die er weiû und die ihm vor Augen steht, der wird nur wenige Sçnden bekennen und spricht nicht: ­Meine Sçnde habe ich dir bekannt.¬« 36 33. »Quia spiritualis et sapientis hominis est scire se esse carnalem et sibi displicere, seipsum odire et legem Dei commendare, quod sit spiritualis. Rursum insipientis et carnalis est scire se spiritualem vel sibi placere, amare animam suam in hoc mundo.« M. Luther, WA 56, 340, 25-29. 34. »Ut David: ­Delicta, quis intelligit?¬ Ergo et legem quis intelliget?« M. Luther, WA 56, 68, 15 f. 35. »Lex enim omne peccatum tangit. (¼) Ideo qui se putat hanc legem intelligere: ­Non concupisces¬, saltem de se ipso, stultus et superbus est.« M. Luther, WA 56, 68, 17 ff. 36. »Haec sunt absconsissima legis: cognitio, quae nunquam perfecte cognoscitur, Sed manifestatur, ut credatur. Qui ergo non amplius peccatum vult confiteri, quam quod scit et sibi videtur, pauca confitebitur et non dicit: ­Delictum meum cognitum tibi feci.¬« M. Luther, WA 56, 68, 26 f. ± 69, 21 ff.

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Was aber wçrde das bedeuten, wenn wir die Identitåt von Sein und Bewuûtsein nicht mehr zur Voraussetzung einer Ethik machen wçrden? 37 Wçrde dann nicht Ethik wieder zurçckbiegen in die rechte Auslegung des Willens Gottes, in ein Fragen danach aus der Tiefe unseres Verlorenseins und aus der Bereitschaft unserer Umkehr? Wçrde nicht auch in der Ethik immer von neuem die Gnade gepriesen werden mçssen ± nicht als Kraft, sondern als Vergebung?! Als Glaube an die Vergebung, ohne den der Tåter nicht vor Gott besteht?

2. Adolf von Harleû 38 2.1 Adolf von Harleû und die bayrische Erweckungsbewegung Mit Gottlieb Christoph Adolf von Harleû (1806-1879) begeben wir uns von Kopenhagen nach Erlangen, aus der groûen Welt hinçber in eine vielleicht sehr viel engere, aber fçr die deutschen Verhåltnisse von damals und von heute sehr viel bedeutsamere theologische Arbeit. Man kænnte geradezu am Lebenswerk dieses bayrischen Theologen und Kirchenfçhrers einen Querschnitt durch die mannigfaltigen Fragen der lutherischen Theologie und die damit verbundenen kirchlichen und politischen Probleme ziehen, die uns heute wieder neu gestellt sind. Denn Harleû gehært in jene Zeit der konfessionellen Restauration, die in Erlangen ± nach der Wirksamkeit von Schelling und Hegel ± mit so bedeutenden Namen wie Johann Christian Konrad von Hofmann, Johann Wilhelm Friedrich Hæfling, Theodosius Harnack und Friedrich Julius Stahl ihren bedeutsamen Aufstieg nahm. Dort vollzieht sich ± nach der rationalistischen Epoche ± eine Wendung çber den Pietismus hinweg zu dem konfessionellen Luthertum, welches nun von dort seine besten und wahrhaft kirchenbildenden Anstæûe empfångt. Man ist immer wieder çberrascht, zu sehen, wie diese Månner ± gerade in ihrer Studienzeit bzw. nach deren Abschluû, als sie die philosophischen und philologischen Mæglichkeiten ihrer Zeit kennengelernt und zunåchst auch begeistert in sich aufgenommen haben ± plætzlich die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche wiederentdecken und es ihnen wie Schuppen von den Augen fållt, daû hier die Theologie ist, die sie such37. Handschriftliche Notiz Iwands: Wiedergeburt. 38. Ûberschrift Iwands.

2 Adolf von Harleû

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ten ± und die ihnen durch das Zeitalter des Rationalismus und der Aufklårung verdeckt war. Man darf nicht çbersehen, daû der Konfessionalismus im 19. Jahrhundert eine Erweckungsbewegung war ± nicht nur in Bayern, sondern ebenso in Nordhannover und in Minden-Ravensberg ± und so zu einer echten inneren Erneuerung, zu einer tiefen inneren Umgestaltung des christlichen Lebens in den Gemeinden und im Kirchenregiment fçhrte. Harleû ist ein Zeitgenosse von Wilhelm Læhe, eine tiefe Jugendfreundschaft verbindet diese beiden fçr Bayern so bedeutsamen Månner. Læhe ist drauf und dran, eine Freikirche zu schaffen; und als die Kontinuitåt zwischen der Landeskirche und dieser konfessionellen Erweckung zu zerreiûen droht und sich die Lutheraner Bayerns zwischen zwei Fronten sehen, zwischen der Læheschen Reform, die die Landeskirche als nicht mehr fåhig zu einer Erneuerung im Sinne des Bekenntnisses ansieht, und dem Vordringen des Katholizismus, der seine Einheitskultur mit amtlicher Gewalt durchsetzen will und im Ministerium Abel vor keiner Maûnahme zurçckschreckt: da wird Harleû der Theologe und Kirchenfçhrer, dem es gelingt, Læhe innerhalb der Landeskirche zu halten und gleichzeitig den drohenden Vorstoû des Katholizimus mit mannhaftem Einsatz abzuwehren. Es handelt sich um den sogenannten Kniebeugestreit, um die Anordnung des bayrischen Ministeriums, daû die protestantischen Soldaten vor dem Venerabile die Knie zu beugen håtten 39 . Harleû, der damals sechsunddreiûigjåhrig als Erlanger Professor in die Ståndekammer gewåhlt wurde, hat dort den Kampf um die Freiheit des Glaubens ± in direktem Gegençber zu Abel ± gefçhrt und darçber schlieûlich sein Amt verloren. Das geschah in den Jahren 1840 bis 1845. Aber er hat gesiegt ± auch gegen Dællinger, der diesen Akt nicht als einen religiæsen, sondern nur als »militårische Salutation« verstanden wissen wollte. Es waren dies eben die Jahre, in denen von Wien wie von Berlin aus jenes verhångnisvolle Einheitsdenken sich durchsetzte, weil man nur so die revolutionåren Tendenzen aufhalten zu kænnen meinte. Der Katholizismus wirkte im preuûischen Raum åhnlich provozierend wie der Protestantismus im katholisch-æsterreichischen. Wir befinden uns in der lehrreichen Epoche der Karlsbader Beschlçsse, deren Ergebnis schlieûlich die Kapitulation jener ganzen Richtung in den 39. Vgl. Th. Heckel, Adolf von Harleû. Theologie und Kirchenpolitik eines lutherischen Bischofs in Bayern, Mçnchen 1933, 337-398. C. A. von Abel (1788-1859), katholischer Staatsmann, verordnete am 14. August 1838, daû bei Militårgottesdiensten alle Teilnehmer, auch die evangelischen Offiziere und Mannschaften, zur Verehrung der Hostie bei der Konsekration und beim Segen niederknien sollten. Dieser Kniebeugungsstreit endete damit, daû am 12. 12. 1845 die Verordnung im wesentlichen aufgehoben wurde.

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Revolutionsereignissen des Jahres 1848 war. So wie Bayern die Kniebeuge vor der Monstranz befahl, so befahl Friedrich Wilhelm III., daû die katholischen Soldaten im Rheinland die evangelischen Gottesdienste zu besuchen håtten, damit sie sehen, »daû wir auch an Christus glauben«. 40 Der kurze Versuch, der von Konservativen beider Seiten gemacht war, eine antirevolutionåre Einheitsfront zu bilden, zerbrach, und nun vollzog sich jenes merkwçrdige Schauspiel, daû die katholischen Lånder die ræmische Kirche, die protestantischen ± unter Hegels Øgide ± die Staatsautoritåt als das jedenfalls nach auûen zu respektierende Symbol des einheitlichen Geistes anzuerkennen håtten. So kam es in Bayern zum Kampf um die Freiheit des Bekenntnisses, wåhrend es in Kæln zum Kampf um die Freiheit der Kirche im Staat kam. Harleû hat diesen Streit mit der Feder und mit seinem ganzen persænlichen Einsatz gefçhrt und war zeitweilig geradezu der Sprecher des Protestantismus in Deutschland. Seine Schrift »Jesuitenspiegel« 41 , eine Entgegnung auf die Lobpreisungen des Ordens, die der publizistisch so gewandte Gærres in den »Historisch-politischen Blåttern« veræffentlicht hatte, wurde konfisziert; Harleû, wie gesagt, seiner Professur enthoben. Harleû hat dann in Leipzig gewirkt, er muû ein Mann gewesen sein, der çber eine ungewæhnliche Anziehungskraft auf dem Katheder verfçgte, er hat çber fast alle Disziplinen gelesen und hat seine besten und bleibenden Leistungen im Neuen Testament und in der Ethik geschaffen. Aber er war nicht im wesentlichen Gelehrter, sondern hat so stark ins æffentliche Leben eingegriffen, daû er auch in Sachsen bald in die Kirchenleitung berufen wurde und dann ± nachdem der bayrische Kronprinz Max II., dem er persænlich nahestand, ans Regiment gekommen war ± nach Bayern zurçckkehrte, um dort ± eine Ausnahme fçr die damalige Zeit ± am 19. September 1852 (also sechsundvierzigjåhrig) zum Pråsidenten des Oberkonsistorums ernannt zu werden. Er fand eine stark gewandelte Landeskirche vor ± Gottfried Thomasius hat das in der wichtigen Schrift »Das Wiedererwachen des

40. Iwand zitiert wahrscheinlich die Worte Friedrich Wilhelms III. frei nach Schnabel IV, 132: »Es ist Sitte in meinem Heere, daû vor der Schlacht der Herr der Heerscharen angerufen werde: sollen die Katholiken rechts, die Evangelischen links treten, wenn wir wieder fçr das Vaterland zu streiten haben? Damit nun unsere katholischen Mitchristen keinen Anstand finden, bei solchen Gelegenheiten mit uns zu beten, habe ich gedacht, es wåre zweckmåûig, daû sie sich selbst vorher çberzeugen, daû wir auch Christus als unsern Heiland erkennen.« 41. A. von Harleû, Jesuitenspiegel, oder: hat man Ursache sich vor den Jesuiten zu fçrchten?, Erlangen 1839.

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evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Bayerns« geschildert. 42 Hier war vor allem eins eingetreten, das von græûter Bedeutung fçr die kçnftige Entwicklung innerhalb des Protestantismus werden sollte: Gleichzeitig mit dem Liberalismus in der Theologie war derselbe Liberalismus im politischen Denken in den Reihen des Protestantismus Bayerns beseitigt. Der einzige von den fçhrenden Theologen, der darin ± wie auch sonst ± eine gewisse Ausnahme machte, war Hofmann, der sich kurz nach Harleû' Berufung in Erlangen habilitierte; aber auch er war kein »Revolutionår«. Die Generalsynode 1849 zeigte eine phalanxartige Geschlossenheit der bayrischen Pfarrerschaft den Ereignissen von 1848 gegençber und zugleich die Wendung zu dem Bekenntnis oder, wie das Hæfling ausdrçckt: »daû sie auf dem Grund unseres evangelisch-lutherischen Bekenntnisses stehe und auf nichts anderes als auf dies Bekenntnis bauen wolle«. 43 Man darf ± um die heutige Situation in der deutschen evangelischen Kirche zu begreifen ± nie vergessen, daû die Bekenntnisbewegung vor hundert Jahren gegen die Revolution von links gerichtet war und daû man eigentlich nur von hier ± aus den aufsteigenden demokratischen und sozialistischen Tendenzen ± die Gefahr fçrchtete, die fçr das bekenntnisgemåûe Verhåltnis von Staat und Kirche bzw. fçr den Begriff der Autoritåt drohte. Hier liegt im çbrigen das tiefste Problem unserer eigenen Situation, weil sich inzwischen gezeigt hat, daû derselbe Stoû auch von der anderen Seite her erfolgen kann und jenes Bçndnis zwischen dem Christentum und dem konservativen Denken ± das in jenen Jahren zustande kam und dann ein Jahrhundert lang (praeter propter) Gemeinden und Pfarrerschaft im protestantischen Deutschland den Stempel aufgedrçckt hat ± heute durch eine neue Entscheidung abgelæst werden muû, der aber bisher eine åhnlich markante und durchgångige Prågung, wie sie damals erfolgte, fehlt. Im çbrigen darf man sagen, daû jene Jahre ± ich denke etwa an die Zeit zwischen 1835 und 1855 ± innerhalb der bayrischen Theologie von einer ungemeinen Fruchtbarkeit waren und daû es ein Mangel ist, der gewiû mit der Tatsache der Union und der mehr und mehr sich vollziehenden kirchlichen Trennung zwischen Preuûen und Bayern zusammenhångt, daû die dort ventilierten Fragestellungen und Probleme damals nicht vor einem viel græûeren Gremium, also vor der Gesamtheit der evangelischen Kirche erærtert werden konnten. 44 Selbst Sachsen, in dem doch Harleû wirkte, hat 42. G. Thomasius, Das Wiedererwachen des evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Bayerns, Erlangen 1867. 43. Zitiert nach dem Artikel çber Harleû in RE3 Bd. 7, 428. 44. Handschriftliche Notiz Iwands: Z. f. Prot. u. Kirche. ± Die Zeitschrift fçr Protestan-

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wenig davon mitbekommen. Hier liegt das eigentliche theologische Reservoir, aus dem heute die Versuche einer lutherischen Kirchengrçndung gespeist sind. Aber ob dies nicht hundert Jahre zu spåt kommt, da inzwischen ganz neue Fragestellungen çber uns hereingebrochen sind? Es ist dem Sçden Deutschlands seltsam ergangen ± die wçrttembergische und die bayrische Erweckungsbewegung sind um hundert Jahre geschieden: 1752 stirbt Bengel, dreiûig Jahre spåter Oetinger ± sie sind Zeitgenossen Zinzendorfs und Franckes. Hier wird bezeichnend fçr die Erweckung der Kirche die Bibel, das Gnomon: »Darin wird aus der ursprçnglichen Bedeutung der Worte die Schlichtheit, die Tiefe, der innere Zusammenhang und die heilsame Wirkung der gættlichen Gedanken angezeigt« 45 ± die Erweckung Wçrttembergs ist dem Wort zugewandt. »Trage nichts in die Schrift hinein, aber schæpfe alles aus ihr, und laû nichts von dem zurçck, was in ihr liegt« 46 . Die Erweckung des 19. Jahrhunderts in der evangelischen Theologie Deutschlands dagegen ist konfessionell, ist der Lehre, der reinen Lehre zugewandt, ist Restauration einer durch die Aufklårung, den Idealismus und Rationalismus sich selbst entfremdeten Kirche auf dem Boden des »Bekenntnisses«. Hier beginnt man wieder Luther zu lesen; »Luthers Theologie« von Theodosius Harnack ist damals geschrieben worden 47 : man bejaht die Konfession aus dem geschichtlichen Verståndnis der Kirche heraus, und zwar sowohl im katholischen wie im protestantischen Lager. Die Erweckung des 18. Jahrhunderts hatte eine andere Front als die des 19.: sie, die auf Speners kritische Haltung gegençber der Lehre, der bloûen Orthodoxie zurçckgeht, meint das Leben, die pietas (Fræmmigkeit), das fromme Leben. Das 19. Jahrhundert, insbesondere die von Erlangen ausgehende konfessionelle Erweckung, hat das Problem Kirche und Welt zum Thema, sie sagt zunåchst einmal Kirche ± Kirche sagen sie alle, Læhe wie Harms wie Vilmar wie Stahl. Læhe ist zunåchst der Meinung, daû er diese Kirche nicht in der Landeskirche findet, aber Harleû widersteht ihm darin. Er prågt die Lehre von der Erscheinungs- und der tismus und Kirche (1838-1876), deren Herausgeber Harleû von Anfang an war, war das Organ der Erlanger Theologie (vgl. G. Thomasius, a. a. O., 278 ff.). 45. »In quo ex nativa verborum vi simplicitas, profunditas, concinnitas, salubritas sensuum coelestium.« J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, Untertitel. Randnotiz Iwands: »Wesley« (Zu J. Wesleys Ûbersetzung des Gnomon ins Englische [1755] siehe Vorwort des Herausgebers, S. VII). 46. Ebd., Editio octava stereotypa, hg. von P. Steudel, Stuttgart 1891, Vorwort des Herausgebers, S. VI, Punkt 9. 47. Theodosius Harnack, Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versæhnungs- und Erlæsungslehre, 2 Bde., Erlangen 1862 u. 1886.

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Wesenskirche: der Erscheinungskirche, die sozusagen als die nach auûen hin erscheinende, geschichtlich gewordene Landeskirche ± Schleiermacher wçrde sagen: positiv gegebene Kirche ± immer wieder das Material fçr das eigentlich innere Leben, die Wesenskirche, abgibt. Diese ist der Kern, sie ist das innere Zentrum, hier kommt es zur Deckung von Leben und Lehre. Wåhrend die åuûere Kirche nur rechtlich den Bekenntnisstand zugrunde legen kann, wird er in der Wesenskirche geistlich gelebt.

2.2 Kirche und Kirchentum Harleû unterscheidet zwischen Kirche und Kirchentum. 48 »Dem Kirchentum eignet der Begriff der rechtlich verfaûten, gesetzlich normierten Anstalt, der Kirche nicht« ± interpretiert ihn sehr gut sein Biograph, der nachmalige Auslandsbischof Theodor Heckel. 49 Das Kirchentum ist Institution, die Kirche nicht. »Das Kirchentum ruht auf jener Reichsgemeinschaft (der Glåubigen in Christus) und ist mit ihr ­dem Kern nach identisch¬.« 50 Das »Kirchentum« ist die irdische Form der »himmlischen Reichsgemeinschaft«. 51 Stellen wir uns also Kirche und Kirchentum als zwei konzentrische Kreise vor, dann ergibt sich, daû beide sich in einem Bereich decken ± in der Lehre und in der Darreichung der Gnadenmittel ±, daû aber çber den inneren Kreis der nie anschaulich zu machenden wahren und wesentlichen Kirche hinaus, die allein aus dem Glauben lebt, das Kirchentum mit seiner rechtlichen Verfassung als irdische Institution neben und gegençber dem Staat existiert und existieren muû. Gerade die Kåmpfe um die Union haben ± so bekennt Harleû, der seine geistliche Erweckung nicht in Erlangen, sondern in Halle durch Tholuck empfing ± ihn dahin gebracht, dem Begriff der Kirche, ihrer Institutionen, ihres Amtsbegriffs und ihres rechtlichen

48. A. von Harleû, Christliche Ethik, 550 ff. u. 560 ff. 49. Th. Heckel, a. a. O., 197; Heckel bezieht sich auf A. von Harleû, Kirche und Kirchentum, ZPK 1866, 146 und ders., Christliche Ethik, Gçtersloh 18757 , 566 (vgl. 548-588). Th. Heckel wurde 1934 vom DC-Reichsbischof L. Mçller zum »Bischof« ernannt als Leiter des ± auf Wunsch Hitlers ± neuerrichteten kirchlichen Amtes fçr auswårtige Angelegenheiten, das im Ausland den Kirchenkampf verharmlosen und die deutschen Auslandsgemeinden unter den leitenden Gesichtspunkt des »Volkstums« bringen sollte. 50. Th. Heckel, ebd., 197 unter Zitierung aus einer handschriftlichen Dogmatik von Harleû. 51. Zur Kirche als Reichsgemeinschaft siehe A. von Harleû, Christliche Ethik, 180-183.

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Verhåltnisses nachzugehen. 52 Nur das bestimmte, geschichtliche Kirchentum steht in einer sichtbaren, rechtlich faûbaren Relation zum Staat. Denn »Staat und Kirche« ± auch dieses Problem ± ist durch die Unvollkommenheit der Kirche bestimmt. »Wenn es ein christliches Kirchentum gåbe, in dem das wahrhaft christliche Prinzip zur vollen und ungetrçbten Herrschaft gekommen wåre, und dessen nach auûen gewendete, æffentliche Betåtigung nur in vollkommenem Einklang mit dem Wesen des Evangeliums stånde, ± wenn das so wåre, dann dçrfte und mçûte der Staat nur eine absolut freie Kirche wollen.« 53 Merkwçrdig, die Terminologie ist zwar etwas anders, aber auch hier regiert der Idealis den Realis, wie bei Rothe. Der Idealfall, den Harleû zur Norm nimmt, unterscheidet sich nicht allzusehr vom Rotheschen Gedanken des vælligen Aufgehens der Kirche im Staat. Les extržmes se touchent. Das Kirchenideal der konfessionellen Erweckung und das des Protestantenvereins 54 trågt beidemal eine besondere Vorstellung der »Reichsgemeinschaft« in sich, nur daû Harleû grundsåtzlich dieses Ideal preisgibt, daû er es fçr einen Irrealis erklårt und dafçr nun den Realis als einen Verzicht vertritt. Er nimmt den Bruch zwischen der Wesenskirche und der Erscheinungskirche hin, nur von ihm aus kann er sich als Pråsident der bayrischen Kirche gegen Læhe behaupten, wåhrend dieser in Neuendettelsau um die wahre Bekenntniskirche ringt, die eigentliche Kirche baut, sozusagen den Punkt besetzt hålt, an dem sich die ewige Kirche und ihre empirische Erscheinungsform decken. Harleû und Læhe 55 ± ein wenig anders, ein wenig friedlicher, vielleicht mehr wissend um ihr gegenseitiges Abhångigsein voneinander, denn beide sagen immerhin noch Kirche und beide sagen sehr betont lutherische Kirche ±, aber erinnert uns das nicht an das Gegençber von Martensen und Kierkegaard? Harleû hat Læhe gegençber kein anderes Argument als die Wirklichkeit ± und das ist immer eine miûliche Argumentation. Harleû behauptet, daû die wahre Kirche niemals so in Erscheinung treten kænne, daû sie zugleich als Kirchentum, als Institution, die rechtlich faûbar sei, begriffen werden kann. 56 52. Vgl. Th. Heckel, a. a. O., 210. 53. Wiedergabe von Harleû' Meinung bei Th. Heckel, ebd., 233 (ohne Belegstelle). Vgl. A. von Harleû, Staat und Kirche oder Irrtum und Wahrheit in den Vorstellungen von »christlichem« Staat und von »freier Kirche«, Leipzig 1870. 54. R. Rothe war beim ersten Protestantentag 1865 in Eisenach einer der Grçnder des Protestantenvereins. 55. Dazu RE3 , Bd. 7, 428 f.; Th. Heckel, a. a. O., 73-80. 56. Handschriftliche Randnotiz: »ecclesia mixta« (»durchmischte Kirche«: nach CA VIII gebildeter Ausdruck, wonach in diesem Leben der Kirche viele offensichtliche Sçnder und Heuchler beigemischt sind).

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Im letzten ist fçr ihn die wahre Kirche ohne Recht und ohne formuliertes Bekenntnis (hier grenzt er sich sehr bestimmt von der lutherischen Orthodoxie und deren Identifizierung von Bekenntnis und Kirchenrecht ab), darum kann Harleû auch der Zulassung von Reformierten und Unierten zum Abendmahl das Wort reden. Darum kann in Erlangen etwa geschehen, was in Neuendettelsau ein Sakrileg wåre. Denn Kirche ist eine Entwicklung, ein Weg, von auûen nach innen. Kirchentum ist Vorhof der wahren und darum nie rein in Erscheinung tretenden Kirche. Nur sozusagen verborgen in dem Kirchentum ist Kirche ± jeweils, charismatisch, sich hier und da aktualisierend ±, aber gerade diese echte Reichsgemeinschaft ist nicht fçr diese Erde, fçr Staat und Recht und Institutionalismus gedacht. Darum mçssen wir uns trennen, obschon wir doch Brçder sind, gehe du, Læhe, zur Rechten ± ich gehe zur Linken, wenn wir nur nie vergessen, daû wir von einer Kirche herkommen und einer Kirche entgegengehen. So wird die Erweckung zur innerkirchlichen Bewegung ± zur wahren Mitte, der das Landeskirchentum einen konfessionellen und rechtlichen Schutz gewåhrt. Denn das Kirchentum ist, obschon Ståtte der Unvollkommenheit, doch Schale, in der erst der Kern sich bilden kann. Harleû kann die Dinge auch umkehren und im Kirchentum die Øuûerung des wahren ± inneren ± Lebens sehen. Er kann sagen, es verhalte sich zur Kirche wie die Werke zum Glauben. Im Kirchentum wird dem Bekenntnis die erste Stelle zugewiesen. »Was das Wort Gottes fçr die Kirche, ist das Bekenntnis fçr das Kirchentum«. 57 Es ist entsetzlich ± aber ich habe diesen Begriff nicht geprågt ± schlieûlich gelangt Harleû zu einer »Zweinaturenlehre« des Bekenntnisses, unterscheidet zwischen Symbol und Symbol, um so das Symbol fçr das Kirchentum, die Verfassung, das Amt, die Mission, Agende und Liturgie ± gerade gegençber der Union ± rechtsverbindlich zu machen und doch zugleich den Abweg in den Katholizismus zu vermeiden, als ob nun doch neben der Schrift eine zweite Norm der (wahren) Kirche aufgerichtet sei. Also vom Glauben der wahren Kirche her wird das Bekenntnis immer neu normiert, hier kann man von einer Entwicklung und Korrektur des Bekenntnisses reden; aber vom Kirchentum und seiner Verfassung her darf das Bekenntnis nicht relativiert werden, weil sonst das Kirchentum seine geschichtliche ± seine çbersubjektive ± Gestalt verliert, denn diese hat es nur in einem geschichtlich fixierten »Bekenntnis«. Es mçûte also, wie Kirche und Kirchentum, auch Bekennen in actu ± aus dem Zeugnis des Geistes heraus ± und rechtlich verfaûtes Bekenntnis zu57. Das Folgende auf der Grundlage von Th. Heckel, a. a. O., 201 ff. (mit Belegen aus der unveræffentlichten Dogmatik von Harleû).

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sammenfallen. Ideal wåre, wenn beide ± das lebendige Bekennen und das çberlieferte Bekenntnis ± so eins wçrden, daû nun dementsprechend auch Kirche und Kirchentum immer mehr zur Deckung miteinander kåmen. Harleû entwirft hier das, was Ernst Wolf die »bekennende Bekenntniskirche« nannte 58 und hat durch diese Zweiteilung im Kirchen- und Bekenntnisbegriff versucht, Volkskirche und Kirche als Gemeinschaft der Heiligen ebenso zu versæhnen wie Bekenntnis als çberlieferte nota ecclesiae (Kennzeichen der Kirche) mit der viva vox evangelii (lebendigen Stimme des Evangeliums). So gibt es nun ein nach innen und ein nach auûen gewandtes Wesen der Kirche. Wie Christus selbst zwei Naturen hat, so auch die Kirche; der inneren Herrlichkeit entspricht die åuûere Niedrigkeit. Die åuûere Niedrigkeit aber ist gerade der Gegenstand einer oftmals ausgesprochenen, teilweise auch auf Luther selbst zurçckgefçhrten »Liebe«. Eine dementsprechende Kenosislehre in der Christologie der Erlanger ging damit Hand in Hand: So wie die Kraft Christi in seiner Erniedrigung verborgen ist, er sich bestimmter gættlicher Prådikate entåuûert hat, um wahrer Mensch zu sein, so entåuûert sich auch das Kirchentum der ihm eigentlich ± als Reich Gottes ± zustehenden Machtansprçche in der Welt und erfçllt seine Sendung im Dienst.

2.3 Ethik der Wiedergeburt Adolf von Harleû ist 1806 geboren, er enstammt einer alten Nçrnberger Patrizierfamilie. Seine Geburt fållt in jene Jahre, in denen die alte freie Reichsstadt, aus der einstmals so viel Geist und Tat ausgegangen ist, um das Werk der Reformation nach allen Seiten unseres Vaterlandes hin auszubreiten, als Preis fçr den Rheinbund an das katholische Kænigreich Bayern fållt. Aber das Nçrnberg von damals war nicht mehr das Nçrnberg des Willibald Pirkheimer und des Christoph Scheurl, des Albrecht Dçrer und des Veit Stoû ± auch nicht mehr das der Fugger, nicht mehr die Stadt, von der ein Papst sagte, daû die Bçrger dort reicher und freier lebten als in Schottland die Kænige. »Je mehr die Menschen schliefen, umso lauter muûten die Steine schreien«, sagte einmal der junge Harleû. 59 Sein Weg ist dann auch ein Weg des Erwachens geworden, seine Jugend fållt in die 58. E. Wolf, Bekennende Kirche oder bekennende Bekenntniskirche?, 1936 (jetzt in: W. Fçrst, Dialektische Theologie in Scheidung und Bewåhrung. Aufsåtze, Gutachten und Erklårungen, Mçnchen 1966, 284-302). 59. Zitiert bei Th. Heckel, a. a. O., 5.

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Zeit, da die Aufklårung, der Rationalismus zu Ende gehen und das Gestirn der neuen idealistischen Philosophie am Himmel der Theologie zu leuchten beginnt. Harleû, der eine romantische Seele hatte, muûte in seiner Jugend alles durchlaufen, er hat nicht nur Schelling und Hegel tief in sich aufgenommen, er hat auch seine spinozistische Epoche gehabt und Blaise Pascal zu sich sprechen lassen, um schlieûlich ± fast mæchte man sagen: wie ein Feuer, das heruntergebrannt ist, wie eine von allen Stçrmen erschæpfte Natur ± nach dem Festen zu fragen, nach der Form, nach dem Gewissen. Die Wiedergeburt, die bei ihm eine solch bedeutende Rolle spielt, besagt in erster Linie dies: daû wir aus dem Suchen zum Finden kommen, aus der Mannigfaltigkeit unserer und anderer Mæglichkeiten zu der einen Wirklichkeit, die uns Frieden gibt, die uns hålt. Suchen und Finden, Frage und Antwort ± so steht die menschliche Natur zu der Offenbarung, zur Gnade. So entwirft dann auch Harleû sein Lehrbuch der Ethik, das græûte Verbeitung findet und achtmal aufgelegt wird. In der Mitte des Ganzen steht die »Bekehrung«, die »neue Geburt«, zu der der Mensch nichts tun kann. Aber indem sie geschieht, wird des Menschen Natur aufgenommen in das neue Leben, in das Leben aus Gott. »Es muû zuvor erst eine Wiedergeburt von Seiten Gottes in uns eingetreten sein, ehe wir glauben kænnen und um glauben zu kænnen. Diese nenne ich die primitive und grundlegende Wiedergeburt, kraft deren nicht wir in Gott ein Neues anheben, sondern Gott in uns ein Neues anhebt. Dieses Neue ist die Gnadengegenwart des heiligen Geistes in uns. Vor ihr kann nichts gedacht werden, was Leben aus Gott hieûe; nach ihr nichts, was nicht diese innere Umschaffung unseres Verhåltnisses zu Gott zur Voraussetzung håtte.« 60 Eines wird man Harleû also nicht vorwerfen kænnen: daû er nur eine Reparatur, eine Verbesserung des Menschen vornehme ± das hat er, der Hallenser Student, von Tholuck empfangen. Dieser rationalistische Sauerteig vom »gættlichen Samen«, der in der Natur des Menschen liegt, war ausgefegt ± aber nur, um in der Ûbernatur des Menschen, um nun als Produkt dieser gættlichen, jenseits des Glaubens liegenden Zeugung wiederzukehren: »Der Eintritt dieser Gemeinschaft Gottes des heiligen Geistes in unser Inneres ist die Geburtsstunde zu einem neuen Leben, der wiedergebårende Anfang und Grund eines Lebens, da Gott in uns schafft und wirkt; und alle Wiedergeburt zum Glauben, zur Liebe, zur Hoffnung (¼) ist nur die weitere Folge des in uns gesenkten sp€rma qeo½ 61 , mit dessen Dasein [!] die Wiedergeburt aus Gott beginnt.« (233) 60. A. von Harleû, Christliche Ethik, 233. Seitenangaben im Text. 61. Samen Gottes.

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Fragen wir weiter, was denn Harleû unter diesem Eintritt des Geistes Gottes in unser Leben meint, so antwortet er uns, daû »das Leben der Gottesferne aufhært, und das Leben der Gottesnåhe und Gottesgegenwart in uns beginnt.« (234) Ist es nicht auffallend, mit welcher Ruhe und Unbekçmmertheit alle diese Theologen von der Nåhe zu Gott reden. Wie kommt es denn, daû die Bibel das nicht tut? Ja, daû sie es nicht einmal da tut, wo wir es doch wohl meinen erwarten zu dçrfen ± etwa wenn es um das letzte Offenbarwerden geht, vor dem »Richtstuhl Jesu Christi«? Wo in aller Welt wird denn im Neuen Testament ein Unterschied gemacht zwischen Wiedergeburt und Glauben? Wo gibt es bei Luther ein apriori der Bekehrung? Harleû nimmt damit freilich die orthodoxen Termini wieder auf, die Unterscheidung von der conversio transitiva (von Gott gewirkten Bekehrung) und der conversio intransitiva (Bekehrung als Akt des Menschen) (257), also dem, was Tat Gottes, objektives Tun von oben an uns ist ± in der Taufe ± und hernach dem, was Tat des Menschen, des wiedergeborenen Willens ist ± in der Bekehrung. Hier ist die analogia entis (Seinsanalogie) nun wirklich einmal in einer Deutlichkeit zu greifen, wie selten sonst in dieser Epoche: die neue Geburt wird nach Analogie der alten verstanden! So wie bei der Geburt des natçrlichen Menschen ein schæpferischer Akt vorliegt, der dem Menschen selbst ± also seiner Existenz ± vorangeht, so und nicht anders liegt ein gættlich schæpferischer Akt vor, wo immer es zum Glauben kommt, wo immer ein natçrlicher Mensch hineingenommen wird in die Lebens- und Entwicklungsgeschichte des Reiches Gottes. Die »Gabe« ist freilich nicht »fixiertes Produkt, sondern ein beståndiger Prozeû agierender und regierender Substanzen unserer Organisation« (255). »Der kreatçrlich organisierte Anknçpfungspunkt fçr diese Wirksamkeit Christi in uns ist eben das Gewissen des Menschen. So sieht sich, was Werk des Friedens ist, nach einer Seite wie Werk der Zerstærung an, denn es ist Zerstærung des faulen und falschen Gewissensfriedens. Es ist Erregung des Hungers nach Gnade in verschårfter Empfindung der Angst des Gewissens.« (256) Und weiter: »Wo immer im Gegensatz hiezu eine falsche Empfindung vermeintlichen Reichseins und Nichtsbedçrfens eintreten will, da soll das zerstært werden durch eine Erkenntnis, wie elend, jåmmerlich, arm, blind und bloû wir sind (Offb 3,18). Dies ist der Ruf, mit welchem Christus an der Thçr steht und anklopft; so jemand auf diese Stimme hært und die Thçr aufthut, bei dem zieht er ein und hålt das Mahl seiner Gemeinschaft mit ihm (¼). Dieses Aufthun der Thçr von seiten des Menschen nenne ich dessen Bekehrung« (256 f.)! Also ein von mir aus zu vollziehender Akt ± aber nur von mir vollzogen, weil ich bereits durch den, der da ruft, gewonnen, gezogen bin.

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Aber nun doch so, daû die Tçr nicht von auûen aufgeht, sondern daû ich sie æffnen muû. Das meint Harleû. Darum trennt er Wiedergeburt und Bekehrung ± nicht der substantiellen Wesenhaftigkeit nach, sondern dem Akt nach. Der Wechsel alles Lebendigen zwischen Empfånglichkeit und Spontaneitåt, zwischen dem, was auf mich wirkt, und dem, worin ich wirke, soll damit zum Ausdruck kommen, wenn anders auch der Glaube als Lebensakt, als der Akt des neuen Lebens begriffen ist. Denn »man kommt zum richtigen Verståndnisse des Christen nicht ohne richtiges Verståndnis des Menschen«, und man »versteht (¼) das Werk und den Stand der schlieûlichen Erlæsung des Menschen nicht ohne das Verståndnis jener gættlichen Propådeutik, wie sie auch in der geschæpflichen Naturanlage des Menschen gegeben ist« (XX; Vorrede zur siebenten Auflage). Darin sieht Harleû auch ein Recht, seine Ethik als lutherische zu bezeichnen. Denn ± und das ist nun von dem alten Harleû 1874 mit merkwçrdiger Unbekçmmertheit ins Vorwort geschrieben ± »diese Erkenntnis (¼) sichert (¼) vor dem heillosen und verderblichen Irrtume, welcher das Verhåltnis von Natur und Gnade so faût, als stehe das Werk der Gnade und Erlæsung, statt in Heiligung und Verklårung des gottgeschaffenen Natçrlichen, in einer Art Vernichtigung und Ausrottung gottgeschaffener Natur« (XX). Eindeutiger kann man nun schlieûlich doch nicht mehr das katholische Schema von Natur und Gnade zugrunde legen. Darum also die merkwçrdige Stellung, die das Gewissen ± als Anknçpfungspunkt fçr die Dogmatik ± hier gewinnt (nebenbei bemerkt: Was Gewissen ist, was Gewissen bei Luther und Shakespeare ± aber auch dann wieder bei Nietzsche bedeutet, das ist dem ganzen neunzehnten Jahrhundert fremd geworden). Gewiû, Harleû weiû, daû es eine »Gewissensangst« gibt, aber hier ist alles bereits ins Subjektive, ins Existenzielle verlagert ± als ob Gewissen ein immanenter Vorgang wåre, als ob die Kategorien des Bewuûtseins ausreichten, um das Gewissen zu charakterisieren. Und vor allem vergessen diese Theologen ± darin durch die Philosophen angesteckt ± eins: den Gewissensbezug zur Tat! Im Gewissen kçndet sich die objektive Græûe der Tat an. Im Gewissen kçndet sich ± vorweglaufend ± etwas an, was wir eben als Menschen nie wahrhaben wollen, daû unsere Taten bleiben. Daû sie unsere Taten bleiben und daû das Gesetz ± man kann auch sagen: das Ideal ± die Kette ist, mit der der Mensch an seine Taten gefesselt wird.

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2.4 Das Gewissen Man muû es immerhin Harleû lassen, daû er sich in seiner Ethik um das Gewissen auûerordentlich gemçht hat. Gewissen heiût fçr ihn: »Ich stehe vor mir selbst, wie vor einem Råtsel, dessen Schlçssel nicht das menschliche Selbstbewuûtsein hat, sondern ihm von Gott in dem Worte der Offenbarung gegeben wird. Diesem Worte [als Deutung meiner Existenz] entnehmen wir ein Ursprungsverhåltnis des menschlichen Geistes, kraft dessen er Gott entstammt und in sein geschæpfliches Dasein von Gott gesetzt wurde« (63). Gewissen ist also der Ausdruck fçr die unabhångig von mir gesetzte Gottesbeziehung in meiner geistigen Existenz. »Aus diesem Grunde heiût der Lebensgeist des Menschen zugleich Leuchte Gottes (Prov. 20,27)« (63). Wieder begreifen wir, warum Theologie Ethik wird: der Anknçpfungspunkt muû dasein, er muû ein existenzieller, ein ethischer, also mit meinem Verhåltnis zu mir gegebener sein: er ist das Gewissen. Bei diesem wichtigen Punkte muû ich doch noch einen Moment verweilen; denn wenn Harleû recht håtte, wenn die Wiedergeburt das in der Gnade befriedete Gewissen wåre: wåren dann nicht Glaube, Liebe, Hoffnung, die die christliche Fræmmigkeit, die »Mutter aller Tugenden« (395; 418 ff.) ausmachen, im Grunde nur Øuûerungen dieses neuen, in mir vorhandenen Seins? Ist das wirklich noch dasselbe, was die Reformatoren sagen? Wo in aller Welt haben sie im Gewissen ein positives Zeichen gesehen einer Verbundenheit mit Gott? Doch weder vor noch nach meiner Bekehrung! »Ich habe zwei Teufel«, sagt Luther, »die Sçnde und das Gewissen« 62 , und: »Wo der Glaube ist, da gibt es kein Gewissen« 63 . Hier, bei Harleû, wird das Gewissensphånomen dem Glauben vorgeordnet, und alle Vorgånge des christlichen Lebens werden vom Gewissen her interpretiert; dort ± in der Reformation ± wird der Glaube dem Gewissen vorgeordnet, und der Mensch flieht vor den Anklagen seines abgrçndigen Gewissens ± vor dem sich hier eræffnenden Abyssos ±, flieht aus dieser Einsamkeit des Sich-selbst-çberlassen-Seins durch den Glauben zu Christus! Das Gewissen ist fçr die Reformatoren ± åhnlich noch bei Kant ± ein »Gerichtshof«; aber das Furchtbare an diesem Gerichtshof ist, daû der Richter und der Angeklagte eine Person sind. Daû also ± weil wir wir selbst sind und weil der Tag kommt, da 62. »Habeo duo diabolos, peccatum et conscientiam«. Vgl. M. Luther, WA 40, I,73,2: »Nostri duo diaboli, peccatum et conscientiam.« Vgl. auch WA 40, I,73,11. 63. »Ubi fides, ibi nulla conscientia«. Vgl. M. Luther, WA 29,434,10: »Ubi fides, non est ibi mala conscientia.«

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wir wissen, wer wir sind, schonungslos, so daû kein Winkel mehr bleibt, um uns selbst zu verstecken ± wir eines Tages uns unser Urteil sprechen mçssen. Wir kænnen den Richter dann nicht mehr betrçgen, denn wir selbst werden uns zu richten haben. Unsere Taten werden uns reklamieren, und wir werden hæren, wie uns von ihnen her, aus der Unabånderlichkeit des Getanen, ein Ruf erreicht, der uns an den Fleck bindet, bewegungslos, so daû wir weder nach der Hælle noch nach dem Himmel diesem Ruf ausweichen kænnen. »So macht Gewissen Feige aus uns allen« 64 ± oder »im ­esse¬ liegt die Stelle, welche der Stachel des Gewissens trifft«. 65 »O feig Gewissen, wie du mich bedrångst! ± Das Licht brennt blau. Ist's nicht um Mitternacht? Mein schauerndes Gebein deckt kalter Schweiû. Was fçrcht' ich denn? Mich selbst? Sonst ist hier niemand. Richard liebt Richard: das heiût, Ich bin Ich. Ist hier ein Mærder? Nein ± Ja, ich bin hier. So flieh. ± Wie? Vor dir selbst? Mit gutem Grund: Ich mæchte råchen. Wie? Mich an mir selbst? Ich liebe ja mich selbst. Wofçr? fçr Gutes? Das je ich selbst hått' an mir selbst getan? O leider nein! Vielmehr hass' ich mich selbst, Verhaûter Taten halb, durch mich verçbt ¼ Hat mein Gewissen doch viel tausend Zungen Und jede Zunge bringt verschiednes Zeugnis, Und jedes Zeugnis straft mich einen Schurken. Meineid, Meineid, im allerhæchsten Grad, Mord, grauser Mord, im fçrchterlichsten Grad, Jedwede Sçnd', in jedem Grad geçbt, Stçrmt an die Schranken, rufend: Schuldig! schuldig! Ich muû verzweifeln. ± Kein Geschæpf liebt mich. Und sterb' ich, wird sich keine Seel' erbarmen. Ja, warum sollten's andre? Find' ich selbst In mir doch kein Erbarmen mit mir selbst. Mir schien's, die Seelen all, die ich ermordet, Kåmen ins Zelt, und ihrer jede drohte Mit Rache morgen auf das Haupt des Richard.« 66 64. W. Shakespeare, Hamlet III, 1 (vgl. NW 5,184; PM I, 680). 65. A. Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik. Behandelt in zwei akademischen Presseschriften von Dr. Arthur Schopenhauer, in: A. Schopenhauer, Såmtliche Werke. Bd. III, Darmstadt 1974, 708. 66. W. Shakespeare, Kænig Richard III., çbersetzt von A. W. von Schlegel, Monolog des Richard in V, 3 (vgl. NW 2, 278; Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen. Antwort auf W. Hauers »Deutsche Gottschau«, EvTh 2 [1935] 180).

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Das heiût »Gewissen«. Niemand wird die allgemeinen, zeitlosen ± natçrlich darum auch fçr solche Schurken wie Richard III. und fçr Kænigsmærder wie Macbeth geltenden ± Phånomene eines an sich gçltigen Gewissens verkennen. Aber dies allgemeine Gewissen ist nur Norm, ihm fehlt der Ruf, die unmittelbare Sprache: Du! ± hier lebt der Mensch faktisch ohne das Gesetz, er weiû von ihm, aber mehr nicht. Wenn aber das Gewissen bzw. im Gewissen die Tat mich vor die Schranken ruft, dann wird »die Sçnde lebendig« (Ræm 7,9), dann bleibt fçr mich kein Platz mehr zu leben ± dann ist mein ganzes Dasein von der mich verklagenden Tat besetzt. Hæren wir nun dasselbe bei Luther: »Woher werden wir also die Gedanken nehmen, die uns entschuldigen? Nur von Christus und in Christus. Denn wenn das Herz des, der an Christus glaubt, ihn tadelt und verklagt und wider ihn zeugt, er habe Ûbles getan, so wendet er sich alsbald davon ab, nimmt seine Zuflucht zu Christus und spricht: Er hat aber genug getan, er ist gerecht, er ist meine Verteidigung, er ist fçr mich gestorben, er hat seine Gerechtigkeit zu der meinigen gemacht und meine Sçnde zu der seinigen. Hat er meine Sçnde zu der seinigen gemacht, so habe ich sie nicht mehr und bin frei; hat er seine Gerechtigkeit zu der meinigen gemacht, so bin ich nunmehr gerecht in derselben Gerechtigkeit wie er. Meine Sçnde aber kann ihn nicht verschlingen, sondern sie wird verschlungen vom unendlichen Abgrund seiner Gerechtigkeit; denn er selber ist Gott, hoch gelobt in Ewigkeit. Und so ist ­Gott græûer als unser Herz¬ (1 Joh. 3,20). Græûer ist der, der verteidigt, als der, der verklagt, ja unendlich viel græûer. Gott ist's, der verteidigt, das Menschenherz, das verklagt. Was fçr ein Verhåltnis! Aber so verhålt sich's, so, gerade so! ­Wer will die Auserwåhlten Gottes beschuldigen?¬ D. h.: Keiner. Warum? ­Gott ist hie, der rechtfertigt.¬ ­Wer will verdammen?¬ Keiner. Warum? ­Christus ist hie¬ (der auch Gott ist), ­der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist ¼¬ Also: ­Ist Gott fçr uns, wer mag wider uns sein?¬ (Ræm 8,33 f.).« 67 Wir sehen hier bei 67. »Unde ergo accipiemus defendentes? Non nisi a Christo et in Christo. Cor enim credentis in Christum, si reprehenderit eum et accusaverit eum contra eum testificans de malo opere, mox avertit se et ad Christum convertit dicitque: Hic autem satisfecit, hic iustus est, hic mea defensio, hic pro me mortuus est, hic suam iustitiam meam fecit et meum peccatum suum fecit. Quod si peccatum meum suum fecit, iam ego illud non habeo et sum liber. Si autem iustitiam suam meam fecit, iam iustus ego sum eadem iustitia, qua ille. Peccatum autem meum illum non potest absorbere, sed absorbetur in abysso iustitiae eius infinita, cum sit ipse Deus benedictus in saecula. Ac sic ­Deus maior est corde nostro¬. Maior est defensor quam accusator, etiam in infinitum. Deus defensor, cor accusator. Que proportio? Sic, sic, etiam sic! ­Quis accusabit adversus electos Dei¬ ? Q. d. nullus. Quare? Quia ­Deus est, qui iustificat.¬ ­Quis est, qui condemnet¬ ? Nullus. Quare? Quia ­Christus Jhesus est¬

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Luther, daû die Lehre von der satisfactio (Genugtuung) Christi unmittelbar hineingehært in das sich selbst verklagende Gewissen. Und zwar gerade die Lehre von der satisfactio ± »Græûer ist der, der verteidigt, als der, der verklagt.« Und was ist hier conversio (Bekehrung)? »Alsbald wendet er sich davon ab und nimmt seine Zuflucht zu Christus«. Es handelt sich hier nicht um eine »weltanschauliche« Wendung, nicht um die Bekehrung im Sinne einer Abkehr von der Philosophie zur Theologie etc. ± sondern um die conversio ad Christum (Bekehrung zu Christus) in der Gewissensanfechtung: Abkehr von einem auf das eigene Tun bezogenen Seinsverståndnis; Aufhebung des Satzes: Das bist Du! und Hinwendung zum reinen Erbarmen Gottes: »Hier hat er genug getan«! Geltend machen des gættlichen Gerichts ± gegen den Spruch meines eigenen Gerichts: »Gott ist der Verteidiger, das Herz der Anklåger«. Bei dieser Wendung gibt es keine Brçcke, es gibt wohl einen Weg vom Sinai nach Golgatha ± aber nicht zurçck! Das Gesetz weist auf Christus ± aber nicht Christus zurçck auf das Gesetz. ± Man darf nicht çbersehen, daû Nietzsche den Gewissensbegriff, den wir bei Harleû finden, zum Anlaû seiner Lehre von »Jenseits von Gut und Bæse« genommen hat. Faût man nåmlich das Gewissen als menschliches »Selbstverståndnis«, warum soll es dann nicht mæglich sein, den Menschen ± das am Gewissen kranke Tier ± von seiner Krankheit durch Befreiung von dieser Superstition zu heilen? Man hat dem Menschentier »ein Gedåchtnis« eingeprågt, auf nicht zarte Weise. »Man brennt etwas ein, damit es im Gedåchtnis bleibt: nur was nicht aufhært, weh zu tun, bleibt im Gedåchtnis«. Mit Peinigung und Blut, Martern und Opfern und den »grausamsten Ritualformen aller religiæsen Kulte« ist dem Menschentier ein Gedåchtnis eingebrannt, auf welches man nun sein Versprechen geben darf, um unter den Vorteilen der Sozietåt zu leben.« 68 Wo aber entsteht das schlechte Gewissen ± nicht durch Strafe: »die Gefångnisse, die Zuchthåuser sind nicht die Brutståtten, an denen diese Spezies von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht« (Aph. 14). Das schlechte Gewissen ist »die tiefe Erkran(qui etiam Deus est) ­qui mortuus est, immo qui et resurrexit¬ etc. ­Si ergo Deus pro nobis, quis contra nos¬ ?« M. Luther, WA 56, 204, 14-29. Im Manuskript steht die Stelle nicht ausgeschrieben, sondern nur angegeben als: Ræm II S. 44 (die Seitenzahl bezieht sich bei Iwand auf die Ausgabe von Ficker); der hier zitierte Passus kommt nach Meinung des Bearbeiters am ehesten in Betracht. 68. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Dem letztveræffentlichten »Jenseits von Gut und Bæse« zur Ergånzung und Verdeutlichung beigegeben, Abschn. 3, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 348 (= Schlechta II, 802; KSA 6, 295). Das Folgende aus den Aphorismen 14-24, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 375-396 (= Schlechta II, 822-837; KSA 6, 319-336).

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kung, welcher der Mensch unter dem Druck jener grçndlichsten aller Verånderungen verfallen muûte, die er çberhaupt erlebt hat ± jener Verånderung, als er sich endgçltig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand« (Aph. 16). Also auch hier wieder: Auch ich lebte einstmals »ohne das Gesetz«. Auch hier wieder dieser typisch moderne Rousseauismus, diese Frage nach dem Jenseits der gesellschaftlichen Moral. So muû es »den Wassertieren ergangen sein (¼), als sie gezwungen wurden, Landtiere zu werden: (¼) Mit einem Male waren alle ihre Instinkte entwertet«. Sie waren »auf ihr ­Bewuûtsein¬, auf ihr årmlichstes und fehlgreifendstes Organ« angewiesen. »Alle Instinkte, welche sich nicht nach auûen entladen, wenden sich nach innen«, der Mensch ist das an sich selber kranke Tier. »Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Ûberfall, am Wechsel, an der Zerstærung ± alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des ­schlechten Gewissens¬. Der Mensch (¼), eingezwångt (¼) in Regelmåssigkeit der Sitte« und drçckende Ordnung der Gesellschaft, »dies an den Gitterstangen seines Kåfigs sich wund stossende Thier, das man ­zåhmen¬ will, (¼) ± dieser Narr (¼) wurde der Erfinder des ­schlechten Gewissens¬. Mit ihm aber war die græsste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich«. Damit ist das Zukunftsvolle gegeben, der Mensch als »Brçcke« und »Ûbergang«, als Versprechen der groûen Zukunft (Aph. 16). 69 Ein »Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott«, ein »Sieg des Atheismus«, wçrde uns von diesem »ganzen Gefçhl, Schulden zu haben«, erlæsen. »Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehæren zu einander« (Aph. 20). Das Christentum hat mit seinem »Geniestreich«, Gott sich selbst fçr den Menschen opfern zu lassen, der »gemarterten Menschheit eine zeitweilige Erleichterung« gebracht (Aph. 21) ± aber die furchtbare Krankheit wçtet noch weiter. Kommen muû der Ûbermensch ± der uns erlæst vom Fluch, den unser Ideal auf uns gelegt hat. Hier ist Ernst gemacht mit der These, daû der Mensch mit sich allein ist. Auch hier ist von Erlæsung die Rede, aber nun so, daû aus ihm ± dem Menschen ± der neue Mensch geboren wird und das Gewissen, als Sublimierung, wie eine Schwangerschaft (Aph. 19) ± als Krankheit und doch als Verheiûung der hæchsten Gesundheit ± den neuen Typus Mensch erwarten 69. Vgl. auch F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustra's Vorrede 4, und Teil IV, Vom hæheren Menschen, 3, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 7, 16; 418 (= Schlechta II, 281; 523; KSA 4, 16 f.; 357 f.).

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låût, den Besieger Gottes und des Lichtes ± den Glockenschlag des Mittags und der groûen erlæsenden Entscheidung (Aph. 24).

2.5 Das Fundament der Ethik: der Heilsbesitz Was Harleû nicht liebt, was er als græûte Gefahr fçrchtet, ist der Idealismus ± er fçrchtet ihn mehr als den »Materialismus der exakten Forschung«, wie er sagt. »Idealismus und Spiritualismus« sind fçr ihn kein gesunder Untergrund der Psychologie, er sucht nach dem psychophysischen Parallelismus. Vielleicht ist es kein Zufall, daû er gerade 1849 ± immer noch hært man das Rollen der revolutionåren Stræmungen im Untergrunde ± diese Geistesrichtung geiûelt, um dann fortzufahren: »Schlimm genug, wenn Christenthum bei jenem Gespenst, das Zeitgeist heiût [håtte so Hegel reden kænnen?!], sich das Gewand borgen soll, um dem Geschmacke anståndig zu erscheinen. Wer hat, borgt nicht. Christentum ist aber ecclesia possidentium 70 , nicht schola quaerentium 71 « 72 . Schola ± das ist im Grunde die Wissenschaft schlechthin, das ist das Griechentum, dessen philosophische Wege ihm ± dem einstigen Philologen ± so wunderbar vertraut waren. Fast wird man erinnert an ein Wort, das Barth hundert Jahre spåter schreibt: Die Kirche lebt nicht von Fragen, sondern davon, daû sie um die Antwort weiû. 73 Nun, jene Gegençberstellung der schola quaerentium (Schule der Suchenden) ± die »Suchenden« von Martensen ± und der ecclesia possidentium (Kirche der Besitzenden) ± man kann jene Zeit ja nur glçcklich preisen, daû sie den jungen Luther nicht gekannt hat ± ist geradezu das Paradigma seiner Ethik geworden. Dem heidnischen Fragen, dem natçrlichen Suchen des Menschen begegnet die gættliche Antwort, die Antwort der Offenbarung, in der Kirche. Dementsprechend ist die Ethik bei ihm konzentriert um das Thema des Heilsbesitzes (2. Teil). Diesem geht eine objektive Beschreibung des Heilsgutes (1. Teil) voran und ihm folgt eine mahnende Tugendlehre als Heilsbewahrung oder die konkrete Erscheinung christlicher Tugend in den Grundbeziehungen menschlichen Lebens 70. Kirche der (Heils)besitzer. 71. Schule der Suchenden. 72. A. von Harleû, Christliche Ethik, XI (Vorrede zur vierten Auflage). Seitenangaben im Text. 73. Iwand spielt hier wahrscheinlich auf Barths Vortrag auf der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam (1948) an, in dem dieser die Folge des ihm gegebenen Themas kritisierte: Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan, und fçr dessen Umkehrung plådierte (K. Barth, Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan, Zçrich 1948).

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(3. Teil). Harleû hat hier eine wichtige Erkenntnis festgehalten: daû es sich in der christlichen Ethik um Bewahrung handelt. Er untergliedert das sehr eigentçmlich: Bewahrung der Seele in ihrem himmlischen Beruf (§ 42), Bewahrung der Seele in ihrem irdischen Beruf (§ 43), Bewahrung des Leibes zum Dienste der Seele (§ 44), Bewahrung der irdischen Gçter zum Dienste der Seele (§ 45). Und nun (3. Teil III) wird das Ganze noch einmal in Bezug auf die Gemeinschaft durchgenommen, um dann wieder die typischen Themen der lutherischen Sozialethik zu behandeln: Ehe, Familie, Volk und Staat, Kirche und kirchliche Gesinnung, wobei die ethische Bedeutung kirchlicher Ordnung als »hæchste gættliche Ordnung auf Erden« bezeichnet wird und die Kirche als »Bewahrerin [wieder Bewahren] des allein in Christo und seinen Gnadenmitteln wirksamen Geistes der Wiedergeburt« (XXXV) erscheint. Bewahren heiût conservare. Die Kirche bewahrt den Geist in der Welt 74 ! Nimmt man dazu noch das Vorwort aus Luther hinzu, dann hat man die Grundidee dieser Ethik: »Die Glåubigen sind eine neue Kreatur, ein neuer Baum; darum gehæren alle diese Reden, so im Gesetz gebråuchlich, nicht hieher, als: Ein Glåubiger soll gute Werke thun. Wie nicht recht gesagt wird: die Sonne soll scheinen, ein guter Baum soll gute Frçchte bringen, drei und sieben sollen zehn sein. Denn die Sonne soll nicht scheinen, sondern sie thuts ungeheiûen von Natur, denn sie ist dazu geschaffen: also ein guter Baum bringt ohne das gute Frçchte; drei und sieben sind vorhin zehn, sollen's nicht erst werden. Daû also hie nicht geredt wird, was geschehen oder sein soll, sondern was allbereit ist, geschieht und ist.« 75 Darum also ecclesia possidentium (Kirche der Besitzenden). Der Indikativ ist dem Imperativ çbergeordnet. Harleû hat immerhin ein auûerordentliches Problem gesehen, daû man nåmlich in der Ethik nicht unbedingt vom Sollen ausgehen muû, sondern es mæchte auch sein, daû es heiûen kænnte: »Werde, was du bist.« 76 Wie soll denn anders von der Gnade geredet sein, wie anders von der Tatsache, daû wir erlæst sind? Wenn nur dieses Sein nicht allzu nahe an das Sein der Natur herangerçckt wçrde, wenn man 74. »Ecclesia conservat spiritum in mundo.« Dieses Wort, von Iwand nicht in Anfçhrungsstrichen niedergeschrieben, kænnte ein Zitat von Harleû sein, aber es låût sich auch denken, daû Iwand selber eine Meinung aus dem bayerischen Luthertum ins Lateinische çbersetzt hat. 75. Harleû zitiert aus: M. Luther, Werke. Hall. Ausg. Th. XXII, S. 717. Vgl. PM I, 517 (Anm. 1). 76. Mæglicherweise spielt Iwand auf F. Nietzsche, Die fræhliche Wissenschaft, Drittes Buch, § 270 an: »Was sagt dein Gewissen? ± ­Du sollst der werden, der du bist.¬« Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Band 5, 205 (= Schlechta II, 159; KSA 3, 519).

3. Das Gewissen

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nur irgendwo såhe, daû es ein »Sein in Christo« und nicht in uns ist; wenn nur das »extra nos stare« 77 des jungen, aber auch des alten Luther hier gesehen und ernst genommen wåre!

3. Das Gewissen 78 3.1 Noch einmal: Adolf von Harleû Wir haben bereits angedeutet, daû die Ethik von Harleû im Gewissen den Anknçpfungspunkt findet, den die christliche Wiedergeburt voraussetzt. Das »Bewuûtsein der Menschen um diese, die Richtung seines Willens bedingende hæhere Bezogenheit (¼), nennen wir Gewissen«. 79 Das Gewissen »ist eine in meinem Geiste sich åuûernde, (¼) den ganzen Menschen ergreifende Macht,« die »mich unfreiwillig ergreift« (62). Harleû hat damit recht gesehen, daû das Gewissen anders als sonstige Bewuûtseinsvorgånge ± die wir vollziehen kænnen ± sich unserer Macht entzieht. Er nennt es darum etwas »Ûbermenschliches«, auch »Ûberkreatçrliches«, er will das Gewissen nicht direkt als »etwas Gættliches« ansprechen, meint aber, daû das Gewissen Vorgånge aufweist, die nicht erklårbar wåren, wenn es nur ein »mir menschlich angeborner Naturgrund meines individuell-persænlichen Lebens« (63) wåre. Das Gewissen ist sozusagen das apriori meiner von mir aus unternommenen Beziehung zu Gott. Wenn der Mensch als Geist sich Gottes bewuût wird ± also von unten her ±, so stæût er auf die Tatsache, daû unserer Beziehung zu Gott eine Beziehung zu uns vorausgeht ± das ist das Gewissen. »Kein Mensch håtte ein Bewuûtsein des unbedingt Wahren und Guten, wenn des Menschen Geist ein schlechthin auûer Gott gesetztes Dasein håtte« (64). Gewissen ist als ein innerhalb des menschlichen Geistes vorfindliches, dahinein gehæriges Phånomen, welches den Menschen und seine Vernunft auf den Begriff des Guten und Wahren ausrichtet. Sehen wir genauer hin, so ist die Stimme dessen, der im Gewissen redet, nicht die Stimme des Menschen, sondern Gottes selbst. Wie die alten lutherischen Dogmatiker sagen: »Verflechtungspunkt von Gott und dem 77. Siehe oben S. 93, Anm. 45. 78. Ûberschrift Iwands. Vgl. zu diesem Paragraphen: H. J. Iwand, Das Gewissen und das æffentliche Leben, NW 2, 125-152. 79. A. von Harleû, Christliche Ethik, 52. Seitenangaben im Text.

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menschlichen Geist«. 80 »Symploke« ist die Verflechtung, ist der Punkt, wo zwei Fåden miteinander in einem Knoten verschlungen sind. Das nimmt Harleû auf. »Der letzte Faktor des um Gott wissenden Geistes oder [!] des Gewissens (¼) ist (¼) wirklich Gott, nicht der Mensch.« (76) Im Gewissen begegnen wir also einer ± besser der Autoritåt, die zwar als mir selbst bewuûte, aber doch nicht aus mir stammende meinem Geist von dem Unterschied zwischen Gut und Bæse Zeugnis gibt. Das Gewissen ist »creatrix imago in imagine creata« (76) ± es ist das Bild des Schæpfers eingebildet in das geschaffene Bild. Mit dem Gewissen hat Gott dem Menschen den Stempel seines Geistes eingedrçckt und hat ihn so fçr die Erlæsung prådestiniert (vgl. Eph 1,4-8). Harleû mæchte nicht, wie Kant und der Moralismus, das Gewissen identifizieren mit dem Gesetz oder mit der Thora, wie er einmal sagt (77). Die Tatsache, daû beim natçrlichen Menschen das Gewissen im Gesetz das Hæchste und Letzte sieht, ist eben dessen Verlorenheit ± das Gewissen kænnte auch, mit einem Wort Luthers gedeutet, »unverrçckt und rein behalten werden ihrem rechten, einigen und eigenen Bråutigam Christus« (77). Also wohl Befreiung vom Joch des Gesetzes ± aber nicht Aufhebung des Gewissensbezugs des Glaubens, im Gegenteil, das Gewissen ist die gottgegebene, dem Menschen im Urstande als Zeichen seiner echten Menschlichkeit eingeprågte, imprågnierte Form, an die das Erlæsungswerk Christi anknçpft. »In dem Gewissen hat Gott seinen bleibenden, stets offenen und unverwehrbaren Zugang zu dem Menschen als seiner Kreatur.« (78) Harleû hofft von da aus das Gute auf das Wahre zurçckfçhren zu kænnen, und zwar, wie er sagt, nicht im noetischen, sondern im ontologischen Sinne (78). Man sieht hieran, wie er auf den Begriff des Guten, dessen Selbstbezeugung im Gewissen des Menschen erfolgt, den des Wahren bzw. der Offenbarung Gottes als des wahren Seins aufbaut, also die ethische Analyse der menschlichen Existenz zur Basis der Offenbarung macht. Auch hier ist die Ethik Ausgangs- und Zielpunkt der Theologie.

3.2 Martin Kåhler Wir verdanken Martin Kåhler eine ausgezeichnete Monographie çber das theologische Problem des Gewissens, gleichzeitig eine vorbildlich geschriebene Geschichte dieses so bedeutsamen Begriffs 81 , auf Grund deren 80. »Symploke theou kai pneumatos«. Bei Harleû, a. a. O., 74, der es als einen »Ausdruck Jamblich's« auffçhrt. 81. M. Kåhler, Das Gewissen. Erster Theil: Die Entwicklung seiner Namen und seines

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er in dem Artikel »Gewissen« in der 3. Auflage der »Realenzyklopådie« eine komprimierte, aber sehr lehrreiche Darstellung gegeben hat. Alle diese Theologen auf protestantischer Seite fassen das Gewissen als die persænliche, subjektive Gewiûheit und sehen in dem Weg vom objektiv gebundenen Gewissen zur Individualitåt des Gewissens einen geistesgeschichtlichen Fortschritt, der sich auch in dem Begriff der »Gewissensfreiheit« wiederfindet. Sie alle mæchten einen der Erziehung und der Sitte voraufgehenden Rang des Gewissensurteils festhalten und sehen gerade darin den Ertrag, der nach dem Zusammenbruch der åuûeren Bindungen geblieben ist und der nun vom Christentum als »Anknçpfung« mit dem Ziele neuer Sinnerfçllung aufgenommen wird. Wåhrend sich allerorten die Geschichte und damit der Relativismus des Christentums und seiner Dogmatik bemåchtigt, hofft man hier den »topos pou sto« gefunden zu haben, den absoluten Punkt, an dem der Mensch selbst aus dem Relativen herausgehoben und vom Absoluten her, von dem letzten Gegensatz von Gut und Bæse her, ansprechbar ist. Kåhler leitet die Entstehung des Gewissensbegriffs ± durchaus zutreffend ± aus dem Umschwung »von der unbedingten Beugung unter die çberlieferte Gemeinsitte« zu dem »inneren Gerichtshof« ab. 82 Er geht aus von der Tatsache, daû das Rechtsbewuûtsein zunåchst aus dem æffentlichen Charakter des griechischen Stadtstaates sich ergibt, daû aber damit, daû der »einzelne sich der Vormundschaft der wankenden sittlichen Volksanschauung entzieht« (647), er im eigenen Herzen auf eine »sittliche Bindung« stæût. Gewissen hat also eine Geschichte innerhalb der Menschheit. Und damit kommt ein Begriff hinein, der hæchst folgenreich fçr die Gewissensvorstellung werden sollte. Nåmlich die Frage: Woher kommt das Gewissen? Ist es ein Faktor der Erziehung? Wie verhålt sich Gewissen zur Sitte? Wie verhålt sich also das Objektive an der Moralitåt, wie es in der Gesetzgebung des Staates zum Ausdruck kommt, zu den ungeschriebenen Gesetzen, die der Mensch als die lex naturae in seiner Brust findet? Hat Gott nicht in dem »Gewissen«, in der conscientia, einen Zeugen in die Brust des Menschen gesetzt, der die æffentliche Gesetzgebung der Willkçr ebenso wie dem bloûen Nutzen entzieht? Ist nicht Gewissen die Entdeckung, die der Mensch macht, wenn er in sozialen und politischen Katastrophen drauf und dran ist, das Ethos als etwas schlechthin Relatives anzusehen? Begriffes. Geschichtliche Untersuchung zur Lehre von der Begrçndung der sittlichen Erkenntniû. Erste Hålfte: Alterthum und neues Testament, Halle a. d. Saale 1878 (= Das Gewissen. Ethische Untersuchung. Erster, geschichtlicher Theil, Darmstadt 1967). 82. M. Kåhler, Art. Gewissen, RE3 , Bd. VI, 647. Seitenangaben im Text.

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Ist Gewissen nicht der Inhalt jener schlechthinnigen Abhångigkeit, die Schleiermacher als die Wurzel der religiæsen Bindung ansah? Man hat manchmal den Eindruck, wenn man diese theologischen Ethiken aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts durchsieht ± etwa Kåhlers »Wissenschaft der christlichen Lehre« 83 oder Delitzsch' »System der christlichen Psychologie« 84 oder auch Hirschers »Christliche Moral« 85 (katholisch) ± daû sich die Theologen damals einer åhnlichen Wendung bewuût waren, daû sie einsehen mochten, wie der Versuch, den noch Schleiermacher und in hæherem Maûe Hegel gemacht hatten, die christliche und die æffentliche Moral miteinander zu versæhnen, auf einen entschiedenen Widerspruch stieû und nun eben das Individuum im Gewissen jenen Weg zur Verinnerlichung gegeben sah, der es auch der einsetzenden Såkularisierung gegençber frei und verantwortlich machte. So læste sich ± gerade unter Berufung auf das Gewissen ± die Theologie von der gçltigen Moral und trat dieser als Zeitkritik, als Verinnerlichung und Vertiefung gegençber. Aber nicht nur dies, sondern auch dem Mythos gegençber ist der Rekurs auf das Gewissen die Berçhrung mit der eigentlichen Lebenswurzel des Daseins. Das Leben in der Polis mit seinem von auûen her gesetzten ± positiven ± Recht und mit der diese Rechtssåtze autorisierenden religiæsen Mythologie geht zugrunde, um einer neuen und besser fundierten Ordnung den Weg frei zu machen: »Was der Mensch ehedem im grausen Bilde der Phantasie aus sich heraus versetzte, das erkennt er nun als innerstes Eigentum, als die dauerhafteste Mitgabe seiner geistigen Ausstattung« (647 f.). 86 Die Entdeckung des Gewissens ist also ± geistesgeschichtlich gesehen ± der Felsengrund, auf dem der Mensch in seinem Selbstverståndnis Fuû faût, als die mythologische Welt ± dieser Sand, auf den er das Haus seiner Weltanschauung erbaut hatte ± in den Stçrmen zusammenbrach, die mit der Aufklårung und der Bildung groûer Imperien çber die antike Welt kamen. Es ist die Vorbereitung ± die geschichtliche sowohl wie die existentielle Vorbereitung ±, die der christlichen Botschaft entgegenarbeitet. Darum hat denn auch Paulus, der ± im Unterschied zu Jesus und der 83. M. Kåhler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Leipzig 19053 (Neudruck Neukirchen-Vluyn 1966). 84. Franz Delitzsch, System der biblischen Psychologie, Leipzig 1855. 85. Johann Baptist Hirscher, Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des gættlichen Reiches in der Menschheit, 3 Bde., Tçbingen 1835/36. 86. Handschriftliche Notiz Iwands: Jenseits. Inseits. Vgl. die Auseinandersetzung K. Barths mit Paul Jåger und dessen Buch: Innseits. Zur Verståndigung çber die Jenseitsfrage, Tçbingen 1917, in der CW 1924; nachgedruckt: K. Barth, Vortråge und kleinere Arbeiten 1922-1925, 381-394.

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johanneischen Literatur ± den Begriff der syneidesis (Gewissen) in die Verkçndigung hineinnimmt, hier den Punkt gesehen, an dem ein entmythologisiertes Heidentum ± sozusagen Proselyten des Tores ± die Botschaft von der Gottesgerechtigkeit zu vernehmen bereitet sind. »Hiernach ist das Gewissen durch den paulinischen Lehrtropus unzweifelhaft fçr das christliche Denken legitimiert und seine Bedeutung fçr das christliche sittliche Leben ins Licht gestellt« (649). Die Gewissensfreiheit ± gerade auch gegençber dem »allgemein Geltenden« ± wird von diesen Theologen als ethische Aufgabe festgehalten und als Ausgangspunkt fçr eine Lehre vom Beruf angesehen: »die erkannte individuelle Lebensaufgabe oder der Beruf (¼) wird (¼) durch das Gewissen zur hæchsten leitenden Macht der Lebensgestaltung« (654).

3.3 Friedrich Nietzsche Wåhrend sich die Theologie des Schleiermacherschen, im wesentlichen auf die Christologie bezogenen Ansatzes begibt, um in diesem anthropologischen Ansatz einen festen Punkt zu finden, ereignet sich nun gerade an dieser Stelle der folgenschwerste Einbruch, der dem ausgehenden neunzehnten und vor allem dem anhebenden zwanzigsten Jahrhundert sein Gepråge geben sollte: ich meine die Gewissensdeutung, wie sie Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900) in seiner »Genealogie der Moral« gegen die theologische und philosophische Position seiner Epoche unternahm. Die »Genealogie der Moral« ist in zwanzig Tagen niedergeschrieben, sie erscheint im November 1887, sie will ein Kommentar, eine Interpretation sein der kurz zuvor erschienenen Schrift »Jenseits von Gut und Bæse«. Sie gehært hinein in das Schaffen des spåten, des nachzarathustraschen Nietzsche. Sie ist der Ûbergang von da zum »Antichrist« und bereitet diesen insofern vor, als hier ± in der »Genealogie der Moral« ± das Problem der Moral und das des Priesters in eins genommen ist. Das Ganze gehært hinein in jenen Gesamtenwurf, dem Nietzsche die Ûberschrift gab: »Der Wille zur Macht«. Hinter der »Genealogie der Moral« stehen ± als Anregung und geistesgeschichtliche Basis ± Jacob Burckhardts »Weltgeschichtliche Betrachtungen« 87 , die Nietzsche in Basel vortragen gehært hat, und daneben das Hauptwerk des Grafen Gobineau: »Versuch çber die Ungleichheit der Menschenrassen« 88 . 87. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Ûber geschichtliches Studium, Herausgegeben von Jacob Oeri, Berlin / Stuttgart 1905. 88. J. Arthur de Gobineau, Essai sur l'ingalit des races humaines, 4 Bde., 1853-1855.

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Nietzsche hat selbst von seiner Schrift »Die Genealogie der Moral« gesagt: »Dies Buch enthålt die erste Psychologie des Priesters« 89 , und daû dies Buch der Prçfstein sei fçr alles, was zu ihm gehære. 90 Nietzsche hat gemeint, daû sich damit, daû er die Moral auf ihre Genealogie hin befragen låût ± so grçndlich, so von jenseits von Gut und Bæse her befragt ±, die groûe Wendung in seinem Leben, die Wendung zur zweiten Jugend, vollzog: »Oh Jugend-Sehnen, das sich miûverstand! Die ich ersehnte, Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wåhnte, Dass alt sie wurden, hat sie weggebannt: Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt. Oh Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit! Oh Sommergarten! Unruhig Glçck im Stehn und Spåhn und Warten! Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit, Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit! * Dies Lied ist aus ± der Sehnsucht sçûer Schrei Erstarb im Munde: Ein Zaubrer that's, der Freund zur rechten Stunde, Der Mittags-Freund ± nein! fragt nicht, wer er sei ± Um Mittag war's, da wurde Eins zu Zwei ¼« 91

Wenn ich mit einem Wort sagen wollte, was eigentlich das Ungeheure dieser Schrift ist, worin sie ± mit einem genau gezielten Schuû sozusagen ± ins Schwarze traf, wenn ich sagen sollte, was hier Nietzsche tat ± dem blinden Simson vergleichbar, der die eine Såule in dem Philistertempel anfaûte und umriû (Ri 16,29 f.), so daû er und seine Feinde, die Philister, die auf dem Sæller waren, unter den Trçmmern begraben wurden ±, so mæchte ich sagen: Er vollzog die folgenschwere Gleichung zwischen Gewissen und Ressentiment! Gewissen ist eine Krankheit, eine alte, uralte, durch tausendjåhrige Erziehung dem Menschentier eingebrannte Wunde, 89. F. Nietzsche, Ecce homo, Genealogie der Moral, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 11, 365 (= Schlechta II, 11543; KSA 6, 353). 90. F. Nietzsche, Der Fall Wagner, Epilog, Anmerkung, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 11, 224 (= Schlechta II, 937 f.; KSA 6, 52). 91. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bæse, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 279 (= Schlechta II, 758 f.; KSA 5, 243).

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durch die das Tier im Menschen mit allen seinen Instinkten gebåndigt, gezåhmt wurde. Dadurch daû man dem Menschen ein Gewissen gemacht hat ± und man hat es gemacht durch viel Blut und Strafen ±, hat man ihn gelehrt, sich seiner Instinkte, der Raubtierinstinkte, zu schåmen. Man hat den Menschen dazu gebracht, daû seine Scham zu verbergen sucht, was doch recht eigentlich einmal seine Kraft, seine Leidenschaft und Græûe ausmachte. Die Priestermoral hat es verstanden, diese Instinkte zu invertieren, den Menschen zum Feind seiner selbst zu machen, so daû sein Inneres zur blutigen Walstatt wurde. Es ist ein feiner ± vielleicht der feinste ± Griff, das wunderbarste Geschehen, das sich in der Natur der Lebewesen vollzogen hat, daû das Tier anfångt, sich seiner natçrlichen Raubtierinstinkte zu schåmen, sie zu verbergen, seine Zåhne nicht mehr in das Fleisch anderer Wesen, sondern ins eigene Fleisch zu graben. »Geist ist das Messer, das ins eigene Fleisch schneidet.« 92 So ist der Mensch die Sackgasse in der Stufe der Entwicklung, er ist eine merkwçrdige ± eine einzigartige ± Station auf dem Wege nach oben. Gewissen ist der Name fçr diese Station ± und wenn wir sie aufheben kænnten, wçrden wir damit zugleich den Menschen, den Menschen des Ressentiments, den Menschen, der sich schåmt, und also das schlechte Gewissen aufheben. Nietzsche meint nicht etwa, daû diese Aufhebung sich in einem Rçckfall vollziehe in das Tiersein; Nietzsche meint nicht, daû diese Sackgasse nichts bedeute; sie bedeutet im Gegenteil alles ± sie ist die Exposition fçr den hæheren Menschen. Der an seinem Gewissen kranke Mensch ± gerade er ± trågt den Menschen von morgen, den Menschen der neuen Gesundheit, den Menschen der zweiten Jugend in seinem Schoû. Seine Krankheit ist eine Schwangerschaft und nur wer sie aushålt, wer ihre Schmerzen durchhålt, nåhert sich dem Jenseits von Gut und Bæse, der wahren Erlæsung. »Fçgen wir sofort hinzu, daû andrerseits mit der Tatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhærtes, Råtselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, daû der Aspekt der Erde sich damit wesentlich verånderte. In der Tat, es brauchte gættlicher Zuschauer [eine seltsame Rechtfertigung unserer Theologen], um das Schauspiel zu wçrdigen, das damit anfing und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehn ist, ± ein Schauspiel (¼) zu wundervoll (¼), als daû es sich sinnlos-unvermerkt auf irgend einem 92. »Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet« (F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zweiter Teil, wiederholt im vierten Teil: Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 7, 151; 364 (= Schlechta II, 361; 490; KSA 4, 134; 312). Vgl. NW 2, 117, wo Iwand dieses Wort ebenfalls ungenau zitiert.

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låcherlichen Gestirn abspielen dçrfte! Der Mensch zåhlt seitdem mit unter den unerwartetsten (¼) Glçckswçrfen, die das ­groûe Kind¬ des Heraklit, heiûe es Zeus oder Zufall, spielt, ± er erweckt fçr sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewiûheit, als ob mit ihm sich etwas ankçndige, etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brçcke, ein groûes Versprechen sei ¼« 93 »Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist« (Aph. 19) ± diese Krankheit zu Ende aushalten heiût den Untergang des Christentums als Moral aushalten, heiût die »asketischen Ideale« 94 aufheben, mit denen bisher das Christentum das Leiden des Menschen an sich sinnvoll zu machen suchte. »Alle groûen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde (¼). Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muû nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn, ± wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. (¼) An diesem Sich-bewuût-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an ± daran ist kein Zweifel ± die Moral zugrunde: jenes groûe Schauspiel in hundert Akten, das den nåchsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwçrdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele ¼«. Nietzsche meint, daû die gerade aus dem Christentum, aus der »Beichtvåter-Feinheit« stammende Wahrhaftigkeit des christlichen Gewissens, sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis, die moralischen Basen des Christentums zerstæren wird, also etwa den Leibnizschen Gedanken von der Welt als der besten aller Welten, den Aufklårungsgedanken von der Natur als Beweis fçr die Gçte und Obhut eines Gottes, den Hegelschen Gedanken von der Geschichte als Verwirklichung der gættlichen Vernunft, den Schillerschen Gedanken von der Weltgeschichte als dem Weltgericht 95 , den pietistischen Gedanken, »als ob alles Fçgung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe ausgedacht und geschickt sei«. Das »ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanståndig, unehrlich, (¼) ± mit dieser Strenge (¼) sind wir eben gute Europåer und Erben von Europas långster und tapferster Selbstçberwindung«. Das Mitleid mit sich selbst, die Verwendung des Chri93. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, Aphorismus 16, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 379 f. (= Schlechta II, 826; KSA 5, 323 f.). 94. Das dritte Kapitel von Nietzsches »Genealogie der Moral« befaût sich mit der Frage: »Was bedeuten asketische Ideale?«. Daraus die nåchsten Zitate: Aphorismus 27, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 481 (= Schlechta II, 898; KSA 5, 410). 95. F. Schiller, Resignation, V. 85.

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stentums als Sinngebung des Leidens, ist zu Ende. Hier wird das Neue ± das Unbekannte, weil eben wirklich Neue Ereignis werden. Und dieser Mensch, der hier Ereignis werden will ± wird Gott und das Nichts zugleich hinter sich lassen, das heiût, er wird jenseits von Gut und Bæse er selbst sein. »Gænnt mir einen Blick (¼) auf etwas Vollkommnes, zu-Ende-Geratenes, Glçckliches, Måchtiges, Triumphierendes, (¼) auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen komplementåren und erlæsenden Glçcksfall des Menschen, um deswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf!..«. 96 Nietzsche hat wahrscheinlich klarer gesehen, daû jene biedere Bezogenheit von Wahrheit und hæchstem Gut, wie sie in der theologischen Moral vertreten wird, diese komische ± weil im Grunde harmlose ± Relation von Noetischem und Ontologischem, also der gånzlich unchristliche Kurzschluû von Sein und Wert de facto eine ganz andere Spannung und Hårte hat. Nietzsche ist nicht umsonst nach Hegel gekommen, ist der Verdeutscher Hegels, der Hegel wieder ins Romantische, ins Deutsche zurçckgebogen hat. Aber darin hat er Hegels Ruf in das geistige Leben Europas festgehalten, daû er das Negative mit hineingenommen hat, die Bewegung und Selbstaufhebung, die Negation der Negation ± ohne die das wirkliche Leben nicht begriffen werden kann. Nein, die Wahrheit und unsere Werte sind einander feind, darum Umwertung aller Werte. Wahrheit ist kein Wort und Wert ist kein Sein. Es wird auch Ritschl wenig nçtzen, sich in diesem Gericht ± das çber die Theologie und das Christentum von der Wahrheit, der Wissenschaft her einbricht ± in die Welt der Werte zu flçchten; diese Welt der Werte befindet sich gerade im Zustand der eigentlichen Katastrophe. Wir erinnern uns, wie Harleû hoffte ± und Kåhler nicht minder ± im Gewissen jene Einheit von Wert- und Seinsurteilen zu verankern, die ihnen fçr die Theologie wesentlich schien. Hinter dem Wissen um Gut und Bæse, das im Gewissen unausrottbar vorliegt, steht das Sein Gottes. Die »Genealogie der Moral« fragt, fragt nur, macht das Fragezeichen dahin, wo diese Theologen das Sein Gottes setzen ± das alte Fragezeichen, das erste und letzte, das den Menschen fragen, denken, zweifeln und Gott ausschalten gelehrt hat. Sollte Gott gesagt haben (Gen 3,1)? Warum Gott? Hat die Moral, haben Gut und Bæse wirklich keine Geschichte? Wozu sind wir so wahrhaftig geworden, sollten wir nicht auch an diesen letzten Mythos, an diese letzte Bastion der Theologen die Sonde der Kritik anlegen dçrfen? Haben sich hierhin nicht die letzten Christen sozusagen geflçchtet, in der Sintflut ihrer untergehenden Weltanschau96. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, Aphorismus 12, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 325 (= Schlechta II, 788; KSA 5, 278).

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ung? Wer sie hier angriffe, angriffe um sie aufzuheben, und zwar mitsamt Kant und seinem kategorischen Imperativ, mitsamt Hegel und seiner objektiven Sittlichkeit ± wonach der Staat die Funktionen Gottes auf Erden einzunehmen habe 97 ±, der mçûte wie ein kluger Jåger mit einem Wurf alle diese Vægel in sein Netz einfangen kænnen. »In der Tat ging mir bereits als dreizehnjåhrigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bæsen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man ­halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen¬ hat, (¼) meine erste philosophische Schreibçbung ± und (¼) ich (¼) machte [Gott] zum Vater des Bæsen«. 98 Ist das vielleicht das Problem unserer gesamten Theologischen Ethik, daû es auf diese Frage keine Antwort mehr gibt? Daû hier der junge, doch immerhin theologisch sehr interessierte Nietzsche ± man denke nur an sein Gedicht çber Golgatha 99 ± keine Antwort bekommen konnte? Daû die Theologie die entscheidenden Brçcken zwischen Dogmatik und Ethik bereits abgebrochen hatte, daû sie keine Lehre von der Prådestination mehr enthielt, kein Verståndnis mehr aufwies, warum Gott im Paradiese den Menschen sagte, daû sie vom Baum der Erkenntnis nicht essen durften ± heiût nicht »Sein wie Gott« gerade: wissend um Gut und Bæse (vgl. Gen 3,5)!? Wie seltsam, daû man in der Theologie immer wieder hært und vernimmt, daû die Sçnde des Menschen dies Gleichseinwollen mit Gott sei ± aber daû die Vorsetzung, das Prådikat zu diesem Satz fehlt: »wissend um Gut und Bæse«! und daû darum, was man eben noch in der Dogmatik als verbotene Frucht bezeichnet hat, in der Ethik nun wirklich zum Essen angeboten wird. Der Mensch ± wissend um Gut und Bæse, das ist das Thema dieser Ethiken: man beachte, wer hier Subjekt und was hier Thema ist. Der Mensch ± der wissende, bewuûte Mensch ± soll Tråger sein der Entscheidung von Gut und Bæse. Wenn das nicht heiût, Gott entthronen, wenn das nicht eben das ist, was Luther in Erasmus heraufziehen sah und was ihn zu solcher leidenschaftlichen Abwehr bewegte ± was sollte es denn sonst sein?! Hat nicht Nietzsche recht, wenn er einen Menschen erwartete, der die Verheiûung, die Erfçllung des Menschen sein kænnte ± hat er nicht recht, wenn er sah, daû das Wissen um Gut und Bæse den Menschen zutiefst verwundete, daû es eine fçr den Menschen nicht bestimmte Frucht war, die er aû, um daran zu sterben? Daû damit das Paradies des Lebens 97. Vgl. unten Kap.3, S. 176 ff. 98. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Vorrede, 3. Abschnitt, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 289 f. (= Schlechta II, 764 f.; KSA 5, 246). Das Zitat darin: J. W. Goethe, Faust I, V. 3781 f. 99. F. Nietzsche, Gethsemane und Golgatha (1864), in: Friedrich Nietzsche, Såmtliche Gedichte, hg. von R.-R. Wuthenow, Zçrich 1999, 55 f.

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aufhært, das Paradies zu sein ± daû damit Gott aufhært, Gott zu sein? Daû wir damit aufhæren, nach Seinem Willen zu fragen ± weil wir ihn zu kennen, zu wissen meinen, weil die Verwirklichung ± sozusagen das letzte Stçck der Befreiung von Gott ± unsere einzige quålende Frage geworden ist? Was Nietzsche çber die Genesis der Moral und des schlechten Gewissens sagt, ist åuûerst flach und långst von der Psychologie ± gerade Max Scheler hat darin Bedeutendes geleistet 100 ± erkannt: daû das schlechte Gewissen auf die Strafe zurçckgehen soll, mit der das Tier zum Gemeinschaftsleben dressiert worden, daû also der letzte Sinn dieses Gewissens das Allgemeingçltige sei ± das ist ganz sicher nicht zu halten. Aber daû das Gewissen eine spezifisch menschliche, nicht metaphysisch, sondern eschatologisch çber den Menschen hinausweisende Funktion hat ± das kænnte schon weiterfçhren. »Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen komplementåren und erlæsenden Glçcksfall des Menschen«, wartet er ± und er sieht darin das Unertrågliche an der europåische Lage, daû hier niemand wartet: »Wir sehen heute nichts, das græûer werden will, wir ahnen, daû es immer noch abwårts, abwårts geht, ins Dçnnere, Gutmçtigere, Klçgere, Behaglichere, Mittelmåûigere, Gleichgçltigere, Chinesischere, Christlichere ± (¼) mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebçût. Der Anblick des Menschen macht nunmehr mçde, ± was ist heute Nihilismus, wenn es nicht das ist? Wir sind des Menschen mçde ¼«. 101 Gehært es nicht zum Verhångnis der Theologie des neunzehnten Jahrhunderte, daû sie diese Frage nicht stellt, daû wir diese Klage nicht vernehmen, daû wir die Verheiûung des Jenseits von Gut und Bæse, die doch im Glauben der lutherischen Rechtfertigungslehre ihren græûten Triumph gefeiert hat, nicht mehr als Verheiûung wagen? Daû wir das Gewissen als Ressentiment nicht mehr als die Quelle der Verbogenheit und Verlogenheit aller unserer moralischen Wirklichkeit wahrhaben wollen ± daû wir anders reden als wir leben, daû wir eine Moral vertreten, die ± angesichts des faktischen Lebens ± uns immer nur krånker macht und machen muû, immer nur bæser und gehåssiger, daû dementsprechend unser politisches, gesellschaftliches, ja auch persænliches Denken immer mehr bestimmt wird von 100. Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Zweiter Teil, Halle 1916, 289-309 / Gesammelte Werke II, 1966, 179-598. Vgl. NW 1, 147-150. 101. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, Aphorismus 12, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 325 f. (= Schlechta II, 788 f.; KSA 5, 278).

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der furchtbaren Macht des Ressentiments, daû wir wieder Tiere werden, die ± solange sie im Gitter sind ± kuschen, aber wehe wenn sie losgelassen! ± daû sich darum die alten heidnischen Methoden der Herren- und Sklavenmoral als letzter Ausweg in der Ausweglosigkeit Europas anzubieten scheinen? Wo geschieht nun, was geschehen mçûte: daû der Mensch frei wird ± dank dem Worte: »wen der Sohn frei macht, der ist wahrhaftig frei« (Joh 8,36)? Ist die Freiheit der Kinder Gottes ein Thema der Ethik ± muû sie nicht wieder dahin verlagert werden, wohin sie gehært: hineingenommen in den Glauben, daû Jesus der Herr ist ± aber nun wirklich so, daû in diesen Glauben die Freiheit hineingenommen wird, daû wir wissen und wagen, hier das Land zu betreten, das »jenseits von Gut und Bæse« liegt? Ist es nicht ein grauenvolles Zeichen, daû diese Parole ausgegeben wurde unter dem Stichwort des Antichrist ± muûte sie nicht darum nur dazu fçhren, daû wir nun noch einmal, noch matter, noch verlogener, das alte Spiel der Moral ± zum dritten und wahrscheinlich letzten Male ± spielen? Denn »Jenseits von Gut und Bæse« unter dem Zeichen des Antichrist zu proklamieren, das heiût nun in der Tat, die furchtbarste Metamorphose zu vollziehen, die sich denken låût: aber vielleicht sind wir darum gerade dem nahe, zu begreifen, daû der Mensch, der den Menschen rechtfertigt, ± nicht erst kommen muû, sondern gekommen ist.

4. Moralstatistik: 102 Alexander von Oettingen 4.1 Naturgesetz und Sittengesetz Es ist nun zum Abschluû des ethischen Problems noch auf eine Erscheinung hinzuweisen, die auûerordentlich seltsam und interessant, wirklich fremdartig und neu mitten drin steht in den nach einem Schema gearbeiteten Systemen christlicher Ethik. Ein Buch, das seinerzeit viel Ablehnung erfahren hat, viel Kopfschçtteln erregte und das sich heute noch in manchen Partien aufregend und grundstçrzend liest: ich meine die »Moralstatistik« von Alexander Konstantin von Oettingen (1827-1905). Wir erinnern uns, daû Schleiermacher, aber auch Rothe noch einen Sinn hatten fçr ein Phånomen, das uns meist auch als Problem abhanden ge-

102. Ûberschrift Iwands.

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kommen ist, dafçr nåmlich, daû es sich bei dem Sittengesetz und beim Naturgesetz um das Gesetz handelt. Daû es also hier wie da um ein Allgemeines geht, um eine mit Notwendigkeit zu statuierende Erkenntnis. Ich weiû, daû wenigstens mit einer gewissen Gesetzmåûigkeit bestimmte Naturereignisse, wenn die åhnlichen Bedingungen gegeben sind, sich auch mit der gleichen Konsequenz ereignen. Gibt es nun im Sittlichen Øhnliches? Kann ich auch im Sittenleben der Vælker, kann ich innerhalb der Gesellschaft etwa Øhnliches konstatieren? Wir sind seit Kant gewæhnt, im Sittenleben die Freiheit als das Wesentliche, als das eigentlich »Gesetzgebende« anzusehen. Das heiût also, daû die Gesetzgebung der sittlichen Persænlichkeit nicht von einem Auûen her erfolgt, also nicht heteronom ist, sondern daû sich der vernunftbegabte Mensch selbst Gesetz, daû er autonom ist. Freiheit und Gesetz fallen innerhalb der sittlichen Persænlichkeit zusammen, weder ist die Freiheit Willkçr noch ist die Gesetzmåûigkeit Zeichen eines Unfreiseins. Hier ± so lehrt man seit Kant ± liege der wesentliche Unterschied zwischen der Bewegung, die jene drei Kugeln auf der schrågen Ebene vollziehen, und einer Bewegung, die etwa drei ± åuûerlich verschiedene ± Persænlichkeiten vollziehen wçrden. Die letzteren kænnen die ungleichen Bedingungen ihres åuûeren Daseins ausgleichen, sie unterliegen nicht dem ihnen fremden Gesetz, sondern sie kænnen sich selbst Gesetz sein; und wenn sie es wåren, wçrden sie gleichmåûig gut handeln und sich in gleicher Weise dem ideellen Ziel ihres Lebens entgegenbewegen. Man hat von da aus die Welt der »freien Geister« von der naturbestimmten Welt geschieden. Die åuûeren Bedingtheiten des Daseins erscheinen von daher gesehen nur als Aufgaben, um sie zu relativieren. Ein reicher Mann oder ein armer Mann, ein kranker oder ein gesunder, ein Mensch in Kriegs- und Revolutionszeiten lebend oder ein Mensch in langen Friedenszeiten lebend, ein Bauer in alter landgebundener Dorfgemeinschaft und ein Industriearbeiter, in ein ganz neues Dasein, sowohl arbeitstechnisch als auch genossenschaftlich eingebunden; eine Frau, als Glied eines patriarchalischen Familienverbandes lebend, und eine Frau, die sich und ihren Kindern das Brot verdienen muû, die Frau im sakral verstandenen Familienverband und die emanzipierte Frau als Studentin oder als Mitarbeiterin des ± nicht etwa ihres ± Mannes: das sind alles keine grundsåtzlichen sittlichen Fragen; die sittliche Frage ist, weil sie die Freiheit der Selbstbestimmung des Menschen voraussetzt, weil dies erst das Sittliche ist, davon grundsåtzlich unabhångig. Es ergibt sich damit eine quasi statische moralische Welt, die wie der bestirnte Himmel çber uns ihre festgefçgten Bahnen zieht und die jedem leuchtet, jedem seinen Weg weist, mitten in der

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Dunkelheit auf Erden ± jedem, der nur bereit ist, nach oben zu blicken und sein Gewissen zu richten nach jenen ewigen Gesetzen. Wie aber, wenn diese reine Scheidung nicht durchzufçhren wåre? Wenn sich mitten in dem sittlichen Leben nun auch jene andere Gesetzlichkeit bemerkbar machen sollte, die nicht von oben, sondern von unten ist? Also nicht nur dann und wann ein Versagen, sondern gesetzlich erfaûbare Vorgånge nun auch im sittlichen Bereich, wie es deren im naturwissenschaftlichen gibt?

4.2 Moralstatistik Im Jahre 1868 erscheint das merkwçrdigste Buch, das innerhalb der theologischen Ethik geschrieben wurde, die Moralstatistik des Dorpater Theologen Alexander von Oettingen. Sein Untertitel lautet: Induktiver Nachweis der Gesetzmåûigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit. 103 Es handelt sich um ein Buch von 1800 Seiten, mit einer Menge von heute nutzlosen Tabellen: Tabellen çber Trauungen, Altersverhåltnisse bei Trauungen, Geburten von Knaben und Mådchen, eheliche und uneheliche Geburten, Verbrechen, Zusammenhånge von Steigerung von Verbrechen und wirtschaftlichen Situationen (etwa steigender Kornpreise); Tabellen çber das Wachstum und die Zusammensetzung der Prostitution, çber Prostitution auf dem Lande und in der Stadt, çber Verbindung von Bildung und Verbrechen, çber Selbstmordziffern ± kurz all dem, was das mehr oder weniger unerforschte Dasein der Massen der Gesellschaft ausmacht. Die Moralstatistik ist besonders in Frankreich entwickelt worden. Induktive Methode heiût: Es gilt nachzuforschen, ob sich nicht, wenn man eine græûere Anzahl von »Fållen« untersucht, ein åhnlicher Ûberblick und eine bestimmte Regelmåûigkeit im sittlichen Leben ergibt, wie sie in den Vorgången der Natur vorliegt. Hier sammeln wir »Fålle« und stellen durch Beobachtung und Experiment die Gesetze der »Wahrscheinlichkeit« heraus ± sollte es nicht etwas Øhnliches auch im sittlichen Leben geben? Nur solange wir den einzelnen isoliert betrachten, scheinen seine Handlungen »frei«, aber sehen wir ihn im Zusammenhange mit der Gesellschaft und den gesellschaftlichen Vorgången ± wie anders nimmt sich dann alles aus. Johann Peter Sçûmilch, ein Pfarrer in Berlin, hat die erste Schrift darçber 103. A. von Oettingen, Moralstatistik. Inductiver Nachweis der Gesetzmåûigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit, Erlangen 1868.

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herausgegeben: »Die gættliche Ordnung in den Verånderungen des menschlichen Geschlechts, d. i. grçndlicher Beweis der gættlichen Vorsehung und Vorsorge fçr das menschliche Geschlecht aus der Vergleichung der geborenen und sterbenden, der Verheirateten und Geborenen, wie auch insonderheit der beståndigen Verhåltnisse der geborenen Knaben und Mådchen.« 104 Der Grundgedanke der Aufklårung ist sofort faûbar: Das Menschengeschlecht ist nicht zufålliges Geschehen, seine Erhaltung ist Gottes Vorsehung, und wir stehen alle darin. Nehmen wir noch den uns bereits gelåufigen Gedanken hinzu, daû es sich bei der Erlæsung nicht um die des einzelnen, sondern um die Erlæsung des Menschengeschlechts handelt ± Ræm 5 ±, dann ist die Perspektive eines solchen Ansatzes deutlich. Es gilt den Spuren des gættlichen Waltens in der natçrlichen Erhaltung der Menschheit nachzugehen und analog dazu die Sittlichkeit als Werk der Erlæsung zu entwickeln. Es sind dann die Franzosen gewesen, die die Methode der Moralstatistik aufgenommen und entwickelt haben, insbesondere Adolphe Qutelet, »Physiker und Metereologe von Fach« 105 , um 1835 (tout est prvu, tout est rgl). 106 Der Grundgedanke ist, daû wir durch Kenntnis der gesellschaftlichen Vorgånge auch eine Besserung und Erhæhung der sittlichen Zustånde erzielen kænnen, daû es also eine åhnliche Einwirkung auf die Gesellschaft geben mçsse wie auf die Natur. Es geht ihm um eine physique social ± in seinem Werk »Ûber den Menschen«. 107 Der freie Wille gehært bei ihm unter die causes accidentielles ± die eben durch das Gesetz der groûen Zahl eliminiert werden. Dann kommt Guerry, der die analytische Methode anwendet und der Moralstatistik ein weiteres Moment hinzufçgt: »die tragischen Folgen des Bæsen in gewaltiger Thatpredigt«. 108 Hier kommt ein Gedanke hinein, der auûerordentlich bedeutsam ist: die selbståndige Wirkung der Tat, die »fortzeugend« Bæses schafft 109 , »Das eben ist der Fluch der bæsen Tat, Daû sie fortzeugend immer Bæses muû gebåren.«, die ± ist sie erst einmal getan ± nun ihrerseits wie ein Stein, der ins Rollen gekommen ist, selbståndige Wirkungen ausçbt. Der Tåter kann die Tat nicht zurçckneh104. Erster Theil Berlin 1761, Zweyter Theil Berlin 1762, Dritter Theil Berlin 1776. 105. L. A. J. Qutelet (1796-1874), belgischer Statistiker und Astronom, war Begrçnder der auf Statistiken beruhenden Kriminologie. Zitat bei A. von Oettingen, a. a. O., 118. 106. L. A. J. Qutelet, Du syst me social et des lois qui le rgissent, Paris 1848, 16, in der Wiedergabe bei A. von Oettingen, a. a. O., 119 (Anm.). 107. L. A. J. Qutelet, Sur l'homme et les dvelopments de ses facults, ou essai de physique sociale, 2 Tom. Paris 1835 (deutsch Stuttgart 1838), in der Wiedergabe bei A. von Oettingen, a. a. O., 120 (Anm.). 108. A. von Oettingen, a. a. O., 135. 109. F. Schiller, Wallenstein. Die Piccolomini, 1799, V, 1, Oktavio:

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men, ihr Wirken zeichnet sich ab in der »Gesellschaft«. Es geht hier um die »invitable liaison des actions humaines et de leurs consquences«. 110 Dahinter steht der Gedanke Augustins: »Du hast es angeordnet, Herr, und so ist es: daû jeder ungeordnete Geist sich selbst die eigene Strafe ist«. 111 Das moralische Geschehen sieht auf einmal ganz anders aus! Ûber dem Ganzen steht eine Frage: Was wird aus den Problemen der Moral, wenn wir sie ins Licht der Statistik rçcken? Wenn die qualitativen Fragen unter das Gesetz der Zahl, also der Quantitåt zu stehen kommen? Es zeigt sich nåmlich, daû etwa die Zahl der Verbrechen, die in einem bestimmten Lande unter gleichbleibenden Verhåltnissen begangen werden, in gewissem Sinne konstant sind. Wie kommt es, daû die Zahl der Selbstmorde in einer fast gesetzmåûigen Kurve von 1816 bis 1865 in allen europåischen Låndern gleichmåûig zunimmt, am hæchsten in Frankreich (mittlere jåhrliche Zunahme 4,86; am geringsten in Norwegen 3,0)? 112 Jahr um Jahr mçssen sich sozusagen mehr Menschen das Leben nehmen; genau solche Gesetze finden sich, wenn man mehr ins Detail geht, also mit welchem Mittel sie es tun, Strick, Wasser, Erschieûen, Herabstçrzen ± und wenn man dann die Mittel hinzunimmt, die die beiden Geschlechter bevorzugen. Ganz besonders seltsam aber mutet es doch an, wenn man dann noch die klimatischen Vorgånge einbezieht und sieht, daû allerorten die heiûen Monate doppelt soviel Selbstmordziffern zeigen als die kalten oder auch die trçben (November). 113 Øhnliche noch frappierendere Ergebnisse zeigen die Ziffern çber eheliche und uneheliche Geburten: so stehen in Frankreich von 1844 bis 1853 etwa 92,50% ehelichen Geburten konstant 7,50 uneheliche gegençber. Genau so in Belgien. In Preuûen hålt sich die Zahl zwischen 6,90 und 7,10; in Sachsen liegt sie konstant bei 15 %; in Bayern bei 21 %. In Wçrttemberg steigt sie in genau diesen Jahren von 11 auf 13% und so fort. 114 Man kann diese Berechnungen ins unendliche fortsetzen, und Oettingen hat sie nicht nur sehr ins Detail hinein fortgefçhrt, sondern auch eine Reihe hæchst interessanter und nicht immer ungefåhrlicher Fragen damit verbunden. Kann man nicht ± so fragt er ± nun daraus schlieûen, daû sich in dem und dem Lande innerhalb einer bestimmten Epoche eine solche bestimmte 110. A. M. Guerry, in der Wiedergabe bei A. von Oettingen, a. a. O., 135. 111. »Jussisti Domine, et ita est, ut poena sua sit sibi omnis inordinatus animus«. Augustin, Confessiones I 12. Zitiert bei Guerry, in der Wiedergabe bei A. von Oettingen, a. a. O., 135. 112. Vgl. A. von Oettingen, a. a. O., 909 und Tabelle 159. 113. Vgl. A. von Oettingen, ebd., 906-930. 114. Vgl. A. von Oettingen, ebd., 549 f. und die Tabellen 92, 94, 95, 97, 98 u.100.

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Anzahl unehelicher Geburten ereignen wird und also muû? Nur wenn wir den Einzelfall ansehen, wirkt alles wie eine persænliche ± zusammenhanglose ± Erscheinung, im ganzen gesehen bekommt der einzelne Fall seine feste Bestimmung. 115 Ein deutscher Gelehrter, Adolf Wagner, hat im Blick auf diese merkwçrdigen Vorgånge folgenden Passus niedergeschrieben, der das Problem sehr gut trifft: »Denken wir uns, in jener guten alten Zeit, in welcher man fabelhafte Reisebeschreibungen wie denen Swifts in seinen Erzåhlungen von Gulliver mehr Geschmack abgewann wie gegenwårtig, håtte ein Schriftsteller, um seinem Publikum etwas Neues zu bieten, etwa folgende Schilderung eines fremden Volkes und Staates entworfen: In diesem Lande wird fçr ein jedes Jahr im voraus durch ein Staatsgesetz bestimmt, wieviele Paare heirathen dçrfen, welche Altersklassen untereinander heirathen, wieviele junge Månner alte Frauen, wieviele junge Mådchen alte Månner bekommen, wieviele Witwer und Witwen wieder heirathen, wieviele Ehen durch die Gerichte geschieden werden sollen etc. Alsdann bestimmt das Loos unter den einzelnen Geschlechtern, Alters-, Zivilstands- wie Berufsklassen die einzelnen in der gesetzlichen Zahl, welche sie heirathen sollen. Ein anderes Gesetz normiert im voraus die Zahl derjenigen Personen, welche ihrem Leben in dem nåchsten Jahr ein Ende zu setzen haben, und verteilt diese Zahl nach einem im voraus bestimmten Verhåltnis auf die Geschlechter, die Alters- und Berufsklassen, verordnet endlich auch gleichzeitig, wie viele dieser, den verschiedenen Klassen angehærenden Personen das Wasser, den Strick, die Pistole, das Messer, das Gift etc. als Mittel zum Selbstmorde zu benutzen haben. Wiederum bezeichnet dann das Loos auf Grund dieser Vorschrift die Individuen, welche sich das Leben zu nehmen haben. Ein drittes Gesetz des Staates setzt in åhnlicher Weise fest, welche und wieviele Verbrechen im nåchsten Jahre begangen werden, wieviele Verurteilungen und Freisprechungen dafçr erlassen werden, wieviele und welche Strafen eintreten. Und auch hier entscheidet das Loos wieder çber den einzelnen, welcher das Verbrechen zu begehen und dafçr zu leiden hat. Kurz alle Handlungen, welche wir frei und nach eigener Bestimmung 115. Folgender Passus wurde von Iwand gestrichen: Es stçrzt hier die bloûe Privatmoral. »Es giebt keine blosse Privatmoral mehr. Selbst der Gedanke einer solchen ist schon eine Versçndigung gegen den Geist der Gemeinschaft, gegen die Idee der Solidaritåt.« (A. von Oettingen, ebd., 990) Die eigentliche Sçnde ist das unorganische Denken, als ob die Menschheit aus lauter einzelnen Individuen zusammengesetzt wåre, die nun ein jedes in seiner persænlichen Freiheit handeln kænnen. Dieses Denken ist eine Abstraktion ± die çbrigens den Reformierten in die Schuhe geschoben wird ± die Freiheit ¼

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und eigenem Gutdçnken vorzunehmen pflegen, diese werden nach der Beschreibung unseres Reisenden in jenem Staate von oben geboten und angeordnet und ihr Zahlenverhåltnis festgesetzt. Und das Volk dieses Staates fçgt sich vollkommen darein und fçhrt Jahr aus Jahr ein die Gesetze treu aus. Am Schluû jeden Jahres wird dies nach den darçber gefçhrten Listen geprçft, da findet sich dann in der Tat, daû die vorgeschriebenen Gesetze erfçllt wurden. Zwar sind mitunter ganz kleine Abweichungen vorgekommen, aber das wird dadurch wieder gut gemacht, daû in dem ­Budget der vorzunehmenden Handlungen¬ fçr das nåchste Jahr das Plus oder Minus auf die nåchste Jahresrechnung çbertragen und dafçr dieser ein entsprechendes kleineres oder græûers Erfordernis eingestellt wird, ganz wie in unseren Finanzrechnungen. Das Volk dieses Landes ist an diese merkwçrdige Einrichtung so gewohnt, daû es darin gar nichts besonderes mehr erblickt.« 116

4.3 Freiheit und Gemeinschaft Die moralische Situation ± von ihrer Erscheinungsseite als Sitte her gesehen ± zeigt also ein ganz anderes Bild, als wenn wir sie von der ideellen, der rein normativen Seite ins Auge fassen. Das Feld unserer Freiheiten scheint sehr eng zu sein, viel stårker, als wir es wahrhaben wollen, sind wir eingespannt in die Grenzen unserer Zeit, deren gesellschaftlicher Situation, der ståndischen Urteile und Vorurteile und was derselben mehr sind. Es handelt sich nicht um eine Determiniertheit des einzelnen von auûen her, also nicht um das geistleibliche Problem, sondern ± wie Oettingen sehr richtig sagt ± hier kçndigt sich das neue Problem von Freiheit und Gemeinschaft an. Und nun vertritt dieser Lutheraner im Dorpat des ausgehenden 19. Jahrhunderts die These, unsere ganze Morallehre mçsse umgestellt werden. »Es giebt keine blosse Privatmoral mehr. Selbst der Gedanke einer solchen ist schon eine Versçndigung gegen den Geist der Gemeinschaft, gegen die Idee der Solidaritåt.« 117 Wenn man will, so kænnte man das Werk Oettingens umschreiben unter dem Gesichtspunkt eines christlichen Sozialismus, denn das ist seine Grundidee. Wir leben als Individuen in viel græûeren Organismen, die als solche im Zusammenhange des Menschheitsganzen stehen. Was sich also etwa in einer Stadt, an einem 116. Adolf Wagner, Die Gesetzmåssigkeit in den scheinbar willkçhrlichen menschlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik, Hamburg 1864, 44 f. 117. A. von Oettingen, a. a. O., 990.

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Volkskærper im einzelnen zeigt, darf nicht isoliert, als moralischer Verfall dieses einzelnen, gesehen werden, sondern ist wie Flecken auf der Haut eines Organismus, die die Krankheit des ganzen Organismus anzeigen. Das nennt Oettingen »Solidaritåt«, das ist im Grunde die Erbsçnde, das Hineingenommensein des einzelnen Menschen in den Gesamtverfall, aber darum auch in die Gesamthoffnung der Menschheit. Es geht also in dieser Ethik nicht um einzelne Personen, sondern um groûe soziale Gebilde, um Familie und Volk, um die moderne Stadt ± der Sittenverfall im Departement Seine stand schon damals in keinem Vergleich zu der moralischen Lage in der franzæsischen Provinz, desgleichen geben London, Birmingham und Manchester erschreckende Probleme des Verfalls. Es ist sinnlos, den einzelnen hier anzusprechen ± der etwa im Departement Seine um 1850 geborene Franzose ist in ein ganz anderes moralisches Klima getreten als der im Rhonetal zur Welt gekommene. Diese Bedingtheit, gerade auch gesellschaftliche Bedingtheit, relativiert das persænliche Schuldigsein, begrenzt die persænliche Freiheit. Darum wird und muû eine »Privatmoral« grundsåtzlich an der ethischen Situation des Menschen vorbeireden, er wird weder ihre eigentliche Verfallssituation begreifen noch ihre Verheiûung. Es gilt Gesundung des Kollektivs, sei es nun des kleinen oder des weiter gefaûten Kollektivs, in dem der einzelne in geschæpflicher Beziehung zum Ganzen steht. Darum kann nicht die aus einzelnen glåubigen Individuen zusammengesetzte Gemeinde Tråger des Gesamterlæsungswerkes sein, sondern nur die die Menschheit als Ganze in sich fassende Kirche, in der die dem Verfall preisgegebene Menschheit der Wiedergeburt entgegengeht. Hier bricht dann auch der konfessionelle Gegensatz auf, denn diese Kirche gibt es nur im Luthertum, weil der Katholizismus zu viele heidnische Elemente mit hineinnimmt und so nicht zur echten Wiedergeburt der Gesellschaft fçhrt, der Calvinismus aber die Gemeinde als Summe einzelner ansieht und damit jenen grundsåtzlichen Fehler macht, der jede Mæglichkeit einer echten Verståndigung von vornherein aufhebt. Denn in diesem System gibt es ± das ist seine Stårke und seine Schwåche zugleich ± nur eine Sçnde, das eben ist die Fassung des Menschen als isoliertes Individuum, herausgenommen aus dem schæpfungsmåûigen und darum auch erlæsungsbezogenen Zusammenhang. Darum wird die Wiedergeburt die »urtçmlichen« Bindungen erhalten, sie wird nicht die geschæpflichen, familiåren, volksmåûigen, stammesartigen Grundzçge des menschlichen Daseins aufheben; sie wird im Gegenteil eine solche nivellierende ± alles auf einen Nenner bringende ± Fassung des Daseins grundsåtzlich ablehnen und bekåmpfen mçssen. Sie wird die Eigengesetzlichkeit des Organischen verteidigen, weil sich nur in ihr, nur in

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diesem Rahmen die Wiedergeburt und das neue Leben vollziehen kann. Die Kirche ist also auch hier in ihrem Ethos die wiederhergestellte Schæpfung, aber nun nicht ausgehend vom einzelnen und seinem ± subjektiv gefaûten und darum letztlich eigensçchtigen ± Heil, sondern den einzelnen in seinem spezifischen Beruf und Stand ansprechend, dahinein neu versetzend, ihn darin aber durch den Zusammenhang mit der wiedergeborenen Menschheit ± also der Gemeinde ± zu einem echten Glied der Gesundung machend. Hæren wir Oettingen selber: »Die Gemeinschaft ist kein bloûer Haufen gleichberechtigter Individuen, sondern ein geordneter Leib, der (¼) nach seinen eigenthçmlichen Gesetzen sich bewegt. Ûberordnung und Unterordnung erscheinen nicht mehr als etwas Peinliches, da die gegenseitige Handreichung den Gegensatz oder Unterschied der Glieder zu einer Bedingung fçr die Lebensfåhigkeit des Ganzen macht. (¼) Mein Nåchster, dem ich brçderlich oder kindlich zu dienen habe, ist nicht mehr der Mensch in abstracto, den ich als Menschen um seiner Menschenwçrde achte, sondern es ist der mir wirklich d. h. kraft der Organisation des Gesammtleibes Zunåchststehende, welcher in der engeren Berufs- oder Verwandtschaftsgruppe auf mich und meine Handreichung angewiesen ist. Auch hier tritt dem vielgeschåftigen Machenwollen die bescheidene Anschauung entgegen, welche nur die gegebenen organisch-naturwçchsigen Formen mit bewuûtem sittlichen Gehalt zu erfçllen sucht. Tradition und Sitte werden dann als die erhaltenden und bauenden Måchte anerkannt und geachtet und jede organisirende und neu gestaltende Tåtigkeit wird in ihrem Segen bedingt erscheinen durch den geschichtlichen Sinn, der sie beseelt. (¼) Auch in dieser Sphåre legt die Moralstatistik mit ihrer Thatsachenpredigt ein gewichtiges Zeugnis ab gegen jeden leichtfertig pelagianisch-rationalistischen Sinn, der mit Gleichheitstheorien die Welt beglçcken und durch autonome Selbstgestaltung aus dem eigenen Hirn, durch Vernunft und Tugend die Menschheit zu idealen Zustånden zu bringen und eine Weltverklårung anzubahnen gedenkt. Und wie dieser Wahn faselnder Optimisten zunichte werden muû gegençber der gåhnenden Tiefe des Abgrunds, den die massa perditionis uns vor das geistige Auge stellt, ± so wird andererseits der Pessimismus sein Gegengewicht erhalten an der konstatierten Tatsache, daû die gegliederte Gesellschaft durch gesetzgebende und ordnende Selbstorganisation sich mit den Kråften der Heilung bewahren kann.« 118

118. Ebd., 990 f.

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5. Ausblick Die Stichproben aus der Ethik, die sich leicht mehren lieûen ± ich denke etwa an Vilmars oder Hofmanns theologische Ethik 119 ± haben uns eins gezeigt: daû dieses Rçckzugsgebiet der Theologie nicht den erhofften topos pou sto ± den Feldherrnhçgel ± abgeben wird, an dem wir bei dem Kampf um das Christentum innerhalb der europåischen Geistes- und Nationalgeschichte hoffen dçrfen zu stehen oder zu fallen. Was mit dieser Ethik gemeint ist, muû nicht unbedingt den Segen und das Wohlgefallen Gottes haben. Mehr oder weniger sind alle diese Ethiker besorgt, mehr oder weniger sehen sie alle in der Zeit Stræmungen aufsteigen, die sie als Verfallserscheinungen beurteilen und zu deren Heilung oder Ûberwindung sie das christliche Ethos anbieten. Nur wenige Auûenseiter sehen, daû man, wenn man hier helfen wollte, einen viel radikaleren Abstand gewinnen, daû man viel mehr preisgeben mçûte, um zu gewinnen. Aber unsere normalen ethischen Entwçrfe wollen das gerade nicht, sie wollen die ideelle Identifizierung des bçrgerlichen Lebens mit dem, was sie Schæpfungsordnungen oder Gewissenserziehung nennen, nicht aufgeben. Sie geben wohl die Phånomene des sittlichen Lebens, aber nicht dessen Prinzipien, vor allem nicht das Grundprinzip preis: daû der Mensch nåmlich von Natur aus wçûte, was gut und bæse ist, und daû dieses Wissen im wesentlichen zusammenfållt mit der bçrgerlichen Welt- und Lebensanschauung, mit den hier herausgestellten Werten. Man meint sogar, daû um dieser Werte willen der Gottglaube, und zwar der christliche Gottglaube, erhalten werden mçsse. Albrecht Ritschl hat infolgedessen hier reinen Tisch gemacht und erklårt, die Theologie habe es nur mit Werturteilen zu tun, das heiût, sie sei nur insoweit interessant, wichtig und nætig, als es sich um die ethischen Fragen, um die Freiheit und Zielstrebigkeit des sittlichen Lebens handelt. Wie aber, wenn der Wille Gottes sich nun eben nicht mit dem deckte, was wir gemeinhin das bçrgerliche Dasein nennen, wenn der Wille Gottes wieder von der ersten Tafel der Gebote her verstanden ± wenn seine Erfçllung darin gegeben wåre, daû Gott in uns, bei uns dasselbe, derselbe sein will, der er in sich, in seinem Reiche ist ± daû also sein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden (Mt 6,10) und daû sein Wille noch etwas anderes, 119. A. F. C. Vilmar, Theologische Moral. Akademische Vorlesungen. Nach dessen Tode hg. von C. Chr. IsraŸl, 3 Theile, Gçtersloh 1871; J. Chr. K. von Hofmann, Theologische Ethik. Abdruck einer im Sommer 1874 von Prof. Hofmann gehaltenen Vorlesung, Nærdlingen 1878.

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ja totaliter anderes sein kænnte als lediglich die Verwirklichung eines uns sozusagen angeborenen, uns von uns aus bewuûten Gesetzes? Wir werden wieder fragen mçssen, was der Wille Gottes ist, wir werden nicht ± wie es bei dem katholischen Naturrecht so leicht geschieht ± meinen dçrfen, das Was sei im Grunde entschieden, wesentlich sei nur das Wie, die Verwirklichung. Vielleicht låût uns Gott die Verwirklichung eben nicht gelingen, die wir im Auge haben, damit wir eben nicht unseren, sondern seinen Willen suchen. Wenn wir aber seinen Willen suchen ± ob wir dann noch jene Einheit von Schæpfung und gesellschaftlich-bçrgerlichem Dasein werden halten und behaupten kænnen, die von den Ethiken des neunzehnten Jahrhunderts ± mit Ausnahme Kierkegaards und Nietzsches ± quasi stillschweigend vorausgesetzt werden? Hat es wirklich Sinn, den Riû, den Rousseau gesehen hat, den Riû zwischen dem Menschen und der Gesellschaft immer wieder zu çberkleistern, immer wieder in diesen oder jenen Bewegungen, Erscheinungen, statischen oder dynamischen, das Kommen oder Dasein der Gottesherrschaft sehen zu wollen? Kann man den neuen Wein in die alten Schlåuche fçllen? Ist die Gegenwart Gottes unter den Menschen ± die Tatsache, daû er uns besucht und unter uns wandelt und mit uns redet, daû es Sçndenvergebung auf Erden gibt und das Evangelium vom Himmel her hier vernommen wird ± ist das alles nur notwendiger Schluûakt eines Dramas, das von Anbeginn darauf angelegt war und nun darin seinen harmonischen Abschluû findet? Ist die Tatsache, daû man eine ethische Sinngebung des Christentums gefunden zu haben meint, nicht dessen faktische Aufhebung? Ist Gnade ± ohne ethischen Vorspruch ± nicht erst wirklich Gnade? »Wem ich gnådig bin, dem bin ich gnådig« (Ex 33,19) ± hat ein solcher Satz denn nur Sinn, wenn man einen gefallenen, sçndigen, ethisch verlorenen Menschen vor sich sieht, oder hat er nicht erst dann wirklich gçltigen, auch fçr diesen Menschen gçltigen Sinn, wenn dahinter und darin das »Ich werde sein, der ich sein werde« (Ex 3,14) faûbar wird? Weil Gott Gott ist und weil er sich treu bleibt und in ihm kein Wechsel des Lichtes und der Finsternis ist; weil er nicht wie wir den Guten gut und den Bæsen feind ist, weil Gnade so hoch çber allem steht, was wir kennen, wie der Himmel çber der Erde: darum kann man sich daran halten ± sie, die Gnade, ist Voraussetzung, wenn anders sie Gnade ist; sie ist nicht die Kapitulation Gottes vor unserer Sçnde, als ob Gott lieber eine gute Welt vor sich såhe, der er nicht gnådig zu sein brauchte ± als ob Gnade ein Tolerieren unserer Schwåche wåre. Gnade und Schæpfung, Gnade und Leben treten hier aufs neue zusammen. Das Gesetz ist wahrhaftig »dazwischen hineingekommen« (Ræm

5. Ausblick

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5,20), es ist ein ± freilich notwendiger, auch sehr grausiger, und keineswegs nebenbei zu erledigender ± Zwischenakt, aber Mose bleibt Diener im Hause des Christus. Christus ist A und O, ist der Ring, in dem das Ganze låuft, um seinetwillen heiût es nicht: »Wahrheit und Wert«, sondern »Gnade und Wahrheit« (Joh 1,17). Alle Wahrheit sollte Gnade sein, als Gnade uns ergreifen und von uns begriffen werden, so wie die Gnade um Jesu Christi willen Wahrheit ist, nur um seinetwillen, nur da, wo Er der Weg ist ± also nur in der besonderen Geschichte, die als Gottes Geschichte mit uns und fçr uns in Jesus Christus vor unser aller Augen anschaulich geworden ist. Nehmen wir Christus aus dem Mittel, dann werden wir nur noch die gnadenlose Wahrheit (unserer natçrlichen Existenz) und die eingebildete, nur noch im Erlebnis, in der Erfahrung gesuchte Gnade (unserer christlichen Existenz) çbrigbehalten wie zwei Stçcke eines im Grunde einheitlichen, aber in unseren Hånden (gerade in unseren theologischen Hånden) zerfallenen Glaubens.

Kapitel 3: Das Dogma

1. Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1.1 Um die Einheit von Denken und Sein Mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) betreten wir einen neuen Boden, berçhren wir ein geistiges Geschehen, das die andere Seite in der Theologiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts umspannt, die nichtschleiermachersche, die diesem und allem, was von daher kommt, grundsåtzlich abgeneigte, ihr antithetisch gegençberstehende Bewegung, die im Denken ± und zwar im schlechthinnigen Vertrauen auf das Denken, auf die Bewuûtheit, oder wie es nun heiût: auf das absolute Wissen ± verlåuft. Wenn bei Schleiermacher und allen ihm verwandten Theologen die Gesellschaft das eigentliche ethische Problem war, die Gesellschaft und das heiût immer wieder die Kultur, die in der Kultur erscheinende, auf das Reich Gottes hinweisende Humanitåt, so ist bei Hegel der Staat nunmehr der »Gott auf Erden« 1 , die Erscheinungsweise des Reiches Gottes. Denn der Staat ist seinem Begriff nach das Allgemeine, vor dem Angesicht des Staates haben alle individuellen Besonderheiten und Wçnsche, wie sie das Charakteristikum der Gesellschaft ausmachen, zu schweigen. Darum auch der Krieg ± wenn auch in negativer Form ± doch immer wieder als Reinigung, als Probe dafçr nætig ist, wie weit eine Bçrgerschaft noch bereit ist, das Besondere fçr die allgemeinen Zwecke einzusetzen und zu opfern. Der Staat ist der heroische Zug in der Gesellschaft, soweit hier noch der Staat als echter Staat, als Einheit von Macht und Recht, also als Realitåt von çberindividuellem Recht gewollt wird. Soweit hat eine solche Gesell1.

Es ist kein direktes Hegel-Zitat, sondern eher eine interpretierende Umschreibung Iwands, mit einem Anklang an Hobbes' Verståndnis des Staates als »sterblichem Gott«. Am nåchsten kommt Iwands Zitat bei Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, Zusatz: »¼ diesen wirklichen Gott ¼« (SW Bd. 7, Stuttgart 1928, 336 [= Theorie-Werkausgabe Bd. 7, 403]). Vgl. auch § 272, Zusatz: »Man muû daher den Staat wie ein Irdisch ± Gættliches verehren ¼« (a. a. O., S. 370 [= Theorie-Werkausgabe Bd. 7, 434]).

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schaft noch Anspruch auf geschichtliche, auf politische Existenz, soweit sie noch bereit ist, das Negative, den Tod, vielleicht auch die Grausamkeit, vielleicht auch das Unrecht, dem sich das Individuum zu fçgen hat, in seine ± nåmlich staatlich ausgerichteten ± ins Weite, ins Allgemeine greifenden Zwecke einzubeziehen. Der Weltgeist, den Hegel in der Weltgeschichte am Werke sieht, ist ein kalter Geist, ist der deus absconditus (der verborgene Gott), der durch Stræme von Blut schreitet 2 , ist der Rçcken Gottes, das Negative, das sich uns erst von hinterher, vom Ganzen her auflæst als ebenso sinnvoll und notwendig wie das andere, die Seite des Unmittelbaren, des Positiven, des positiv Zweckhaften und positiv Humanen in der Geschichte. Vorwårts ist der Gang der Geschichte trotz allem gerichtet ± sollte hier oder da ein Land, ein Volk, eine Epoche untergehen, so ist auch der Tod nur eine geheime Auferstehung, wie aus dem Untergang der ågyptischen Welt die geistige Welt des Griechentums erstand und aus deren Untergang sich die des ræmischen Rechtsstaates erhob und dieser wiederum in seinem Sterben nur wunderbar und neu jene mittelalterliche Welt schuf, die sich wie der Phænix aus der Asche erhob. Es gibt, wenn man Hegel recht versteht und hinter allem Optimismus das Tragische begreift, das in seiner Philosophie steckt ± die These vom spirituellen Karfreitag 3 ±, es gibt bei ihm etwas, das 2.

3.

Iwand faût hier Hegels Lehre vom Weltgeist zusammen, der, als Gang Gottes durch die Geschichte, sich nicht um das Leid und Unglçck der einzelnen Menschen kçmmert. Vgl. dazu z. B.: Vorlesungen çber die Philosophie der Geschichte, Einleitung, SW Bd. 11, 49 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 12, 35): »Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glçck der Vælker, die Weisheit der Staates und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden ¼«. Der »Endzweck« aber, dem alle diese Opfer gebracht werden, ist die Realisierung der Wirklichkeit der Freiheit des Geistes im Gang der Weltgeschichte als Gang Gottes: »Dieser Endzweck ist das, was Gott mit der Welt will« (47 [= Theorie-Werkausgabe Bd. 12, 33]). Iwand interpretiert Hegels Verståndnis der Weltgeschichte zugleich mit einem Anklang an Luthers Gedanken zum Deus absconditus in »De servo arbitrio«: Im Unterschied zum »gepredigten Gott« gilt: »¼ der in seiner Majeståt verborgene Gott beklagt werder den Tod noch hebt er ihn auf ¼« (Martin Luther, Vom unfreien Willen, in: Martin Luther, Ausgewåhlte Werke, hg. von H. H. Borcherdt und G. Merz, 1. Ergånzungsband, Mçnchen 19543 , 108). Vgl. Iwands Erlåuterungen, ebd., 292 ± 294. Vgl. G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivitåt, in der Vollståndigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, SW Bd. 1, Stuttgart 1927, 433 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 2, 432): »spekulativer Charfreitag«. Der Ausdruck »spiritueller Karfreitag« kommt bei Hegel nicht vor. Iwand zitiert wohl aus dem Gedåchtnis (wie auch PM I, 310). Mæglicherweise gibt Iwand mit »spirituell« statt »spekulativ« faktisch (vielleicht ohne bewuûten Akt) eine Interpretation dessen, was durch Hegels Aufhebung des »weiland historischen« Karfreitags in die Philosophie geschieht: Karfreitag und Ostern, Kreuz

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noch nicht bei Lessing, wohl auch kaum bei Kant zu spçren ist, wohl aber in der Romantik, wohl in den Nachtgedichten des Novalis und in der Notwendigkeit des Bæsen bei Schelling greifbar wird ± es gibt ein dem Fçhlen und Wçnschen çberlegenes Wissen, mit dem der Mensch den Untergang bejaht, ihn als notwendig empfindet, ja ihn geradezu braucht. Wenn Clemenceau gesagt hat, die Deutschen liebten den Krieg, weil sie den Tod lieben, so hat er darin nicht ganz unrecht. »Wir Deutsche sind alle Hegelianer« sagt Nietzsche. 4 Wenn man etwas wirklich Deutsches lesen will, muû man Hegel lesen. Hegel ist eigentlich nur von den Deutschen verstanden worden ± und (was mag das bedeuten?) von den Russen. Nicht erst, seit er als der Groûvater von Karl Marx gilt, sondern vom ersten Moment an, von den Tagen an, da nicht nur die besten unter den jungen Deutschen ± sondern auch Månner wie Michail Katkow, der Begrçnder der Slawophilen, und Michail Bakunin, der anarchistische Revolutionår, bei Hegel studieren. Wåhrend in Petersburg die Ideen des franzæsischen Positivismus vorherrschend sind, wird Moskau in den dreiûiger Jahren zum Zentrum der Hegelschen Philosophie. Alexander Herzen erzåhlt in seinen Memoiren, wie sie jeden einzelnen Paragraphen der »Logik«, der »Østhetik« und der ± auûerordentlich wichtigen und aufschluûreichen ± »Enzyklopaedie« durchbuchstabieren, wie man sich die unbedeutendsten und kleinsten Broschçren, wenn sie nur çber Hegel handeln, aus Deutschland verschafft, wie man hier etwas findet, was das zeitgenæssische Deutschland ± vielleicht bis heute ± und das westliche Abendland ± ebenfalls bis heute ± nicht gefunden hat. Wie man hier nicht erschrickt ± wie Schleiermacher ± vor dieser Geradlinigkeit des kalten, absoluten Wissens, sondern im Gegenteil auch hinter dem Negativen, hinter dem, was Hegel den Schmerz nennt und die List der Vernunft ± hinter allem doch das andere sieht, was genauso bei Hegel drinsteckt, den Optimismus, dies Stçck Leibnizscher Harmonienlehre, die eben doch wie ein immer wiederkehrendes Motiv das Ganze durchzieht: daû schlieûlich gerade in der Bejahung der Negation, des Untergangs, des »ganz anderen«, des scheinbar Sinnlosen ± in diesem Mut zur Bejahung ± das Ja zum Leben steckt, das unentwegte Optimum, die Anerkennung dessen, daû Gott Gott ist, daû auch da, wo sein Weg çber meinen eigenen hinweggeht, er recht

4.

und Auferstehung werden zu einem dialektischen Prinzip der Vernunft bzw. des Geistes. Es ist der ins »Spirituelle«, d. h. in den Geist aufgehobene Karfreitag; mit anderen Worten: sein Gedankenwert, sein Vernunftwert wird aufgenommen; er wird im Geist verstanden, das krude Faktum wird durchsichtig. F. Nietzsche, Die fræhliche Wissenschaft, 5. Buch, Aphorismus 357, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 5, 300 (= Schlechta II, 226 f.; KSA 3, 599).

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hat, daû es sozusagen eine obere Bahn gibt, die çber die Hæhen und Tiefen der Geschichte hinwegzieht wie ein Flug, der uns in die Lçfte hebt, und unter uns alles ± wie in wesenlosem Scheine ± liegt, als ob wir schon nicht mehr dazugehærten, als ob wir sub specie aeternitatis all das såhen, was sich da zu unseren Fçûen an Leidenschaft und Glçck, an Gçte und Bosheit, an Sinnlosigkeit und Unverstand, an Kommen und Gehen der groûen und heroischen Geister vollzieht. Kænnen wir nicht begreifen, daû es eine groûe Sache wåre, so çber den Dingen zu stehen, çber den Dingen, wie Gott darçbersteht, so oben im Licht zu wandeln, wie die Unsterblichen ± wenn anders wir Geist, wirklich absoluter Geist sind. Wenn anders wir endlich dazu çbergingen, unsere endliche partielle Existenz als das zu nehmen, was sie ist, als Zufall, als das Unmittelbare, als den momentanen Standort eines Bewuûtseins ± das aber an sich, in seinem An-und-fçr-sich, also gelæst von seinem momentanen Hic et nunc, ewig ist. Was heiût Bewuûtsein anderes ± so wird noch der junge Karl Heim fragen ± als eben dies, daû das Sonnenlicht aufgeht çber einem Menschenantlitz; was heiût Gewiûheit, Glaubensgewiûheit, anderes, als daû wir endlich aufråumen mit einem im Menschenleib wie in einem Fetisch wohnenden Ich? Es gibt nur ein Ich, nur ein Subjekt ± das ist Gott, und jedermann, der ich sagt, der also bewuûtes Sein ist ± besser noch: selbstbewuûtes Sein ±, partizipiert ebendarin an dem Sein, das ist, indem es denkt. In Gott ist der Unterschied aufgehoben zwischen Subjekt und Objekt ± oder kann man sich etwa Gott denken und ihm gegençber ein von ihm unabhångiges, von »auûen« gegebenes »Sein«? Gibt es fçr Gott das »Dasein einer Auûenwelt«? Doch wohl nicht, sonst wåre schlieûlich der Begriff Gottes, das mit diesem Begriff Gedachte nicht eingehalten. Es gibt also, so gewiû es Gott gibt, ein Jenseits, ein echtes Trans gegençber dem Zerfall des bewuûten Daseins in Subjekt und Objekt, in Unmittelbarkeit und Reflexion, in ein denkendes Ich und eine gedachte Wirklichkeit. Und es ist die Aufgabe der Philosophie ± ja, es ist ihr Rechtsgrund und ihr Wesen, diese Tåuschung des erscheinenden Wissens aufzuheben. »Diese Ansichten çber das Verhåltnis des Subjekts und Objekts zueinander drçcken die Bestimmungen aus, welche die Natur unsers gewæhnlichen, des erscheinenden Bewuûtseins ausmachen; aber diese Vorurteile, in die Vernunft çbertragen, als ob in ihr dasselbe Verhåltnis stattfinde, (¼) so sind sie die Irrtçmer, deren durch alle Teile des geistigen und natçrlichen Universums durchgefçhrte Widerlegung die Philosophie ist«. 5 5.

G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik, SW Bd. 4, Stuttgart 1928, 39 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 1, 37 f.). Seitenangaben im Text,

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Mit anderen Worten: die Welt, in der wir leben, ist eine verkehrte Welt; es gilt hier die Umkehr zu vollziehen, die Umkehr des normalen, alltåglichen Bewuûtseins zur Philosophie. Der natçrliche Verstand ± also die vom Alltåglichen ausgehende Bewuûtheit ± ist der trennende Verstand, der zwischen Denken und Gedachtem unterscheidet, der also immer wieder fragt, ob dem, was ich denke, eine Wirklichkeit entspricht, ob mein Denken nicht eine Vergewaltigung, Mythologisierung, Subjektivierung des an und fçr sich Seienden sei. Aber, so meint Hegel, dieses Trachten nach dem Dahinter ± dieses komische Problem des Historismus ± etwa wie bei Jakob, wo bist Du? 6 ± ist insofern tæricht, als das Problem gar nicht aus der Vernunft noch aus der Wirklichkeit stammt, sondern nur das Spiegelbild des aufgeklårten Verstandes ist, des sich an sich selbst narrenden Verstandes. Denn wenn ich erst einmal zwischen Denken und Sein, also zwischen Subjekt und Objekt trenne und dies Trennende als Kennzeichen der Wahrheit ansehe, dann muû ich ja immer von neuem an allem Gedachten und Erkannten wie auch an allem Gegebenen zweifeln ± ich muû mich såttigen an den Trebern meines eigenen aufgeklårten Verstandes. Ich habe den Himmel, das heiût die Vernunft ± und hier denkt Hegel an Kant ±, und mit der Vernunft die Metaphysik abgeschafft, ich habe mich auf die Existenz beschrånkt, vielleicht noch im Sinne der praktischen Vernunft auf die sittliche Existenz, oder im Sinne der Religion auf das Irrationale (dem der eigentliche und besondere Haû Hegels galt, als dem Verwesungsgeruch eines am Denken verzweifelnden Zeitalters, dessen Flucht ins Gefçhl nur Ausdruck seiner Verzweiflung sei) ± kein Wunder, daû mir die Welt zu enge wird. Dieser rationale, aufgeklårte Verstand (man wçnschte, Hegel håtte noch erleben kænnen, daû sich die Theologen, ausgerechnet sie, mit dem Problem der Entmythologisierung beschåftigen), gegen die Vernunft gekehrt, betrågt sich als gemeiner Menschenverstand und macht seine Ansicht geltend, daû die Wahrheit auf sinnlicher Realitåt beruhe, daû die Gedanken nur Gedanken seien, in dem Sinne, daû erst die sinnliche Wahrnehmung ihnen Gehalt und Realitåt gebe, daû die Vernunft, insofern sie an und fçr sich bleibe, nur Hirngespinste erzeuge. »In diesem Verzichttun der Vernunft auf sich selbst geht der Begriff der Wahrheit verloren; sie ist darauf

6.

wobei die erste Ziffer die Seitenzahl in der Glockner-Jubilåumsausgabe angibt, und die zweite die in der Theorie-Werkausgabe. Iwand spielt auf ein Kinderspiel an, das heiût: »Jakob, wo bist du?«. Dabei stehen Kinder im Kreis. Zwei Kindern werden die Augen verbunden, und das eine Kind muû das andere Kind fangen. Es kann das andere Kind nur dadurch orten, daû es ruft: »Jakob, wo bist du?«.

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eingeschrånkt, nur subjektive Wahrheit, nur die Erscheinung zu erkennen«. Und nun folgt der entscheidende Satz: »Das Wissen ist zur Meinung zurçckgefallen« (40/38). Griechisch gesprochen, aus der aletheia ist die doxa geworden. Der Mensch, das erkennende, oder auch das handelnde, oder ± horribile dictu ± das fçhlende und sich fçhlende Subjekt, meint sich selbst im Denken. Damit ist die Philosophie verraten ± die alte, ewige Frage der Philosophie, sozusagen ihre Sendung, ihr Buûruf gegençber allem den Geist verratenden Empirismus und Positivismus: daû Wahrheit nur im Rçckgang, in der Ûberwindung, im Transzendieren der Phånomene zu gewinnen ist. So wird fçr Hegel die Wissenschaft ± aber hier im strengen Sinne des absoluten Wissens genommen ± der Ruf zur Umkehr sowohl an Rationalisten wie Irrationalisten; denn beide leben von derselben falschen Voraussetzung. Sie leben davon, daû sie den Splitter im Auge des anderen sehen und ihn ± halb komisch, halb tragisch ± herauszuziehen bemçht sind. Hegel erklårt, daû wir den Streit dieser feindlichen Brçder auf sich selbst beruhen lassen kænnen, daû Kant den Weg fçr eine neue Metaphysik zwar freigelegt hat, aber nicht gegangen ist, daû er Mose gleich ins Land der Verheiûung geschaut, aber es mit seinen Fçûen nicht betreten hat. Daû darum nun die Philosophie beim Gegensatz von Subjekt und Objekt verharrt, anstatt die alte griechische Aufgabe neu zu çbernehmen und die Einheit von Denken und Sein neu zu fassen. Das eben ist seine, ist Hegels bewuût ergriffene und geistesgeschichtlich durchgefçhrte Sendung. »Die reine Wissenschaft setzt somit die Befreiung von dem Gegensatz des Bewuûtseyns voraus. Sie enthålt den Gedanken, insofern er eben so sehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie eben so sehr der reine Gedanke ist. (¼) Dieses objektive Denken ist (¼) der Inhalt der reinen Wissenschaft« (45/43). Diese Worte finden sich in der Einleitung zur Logik, dieser wichtigen Schrift Hegels, die er in Nçrnberg am 22. Mårz 1812 ± fast abseits von den Bewegungen seiner unmittelbaren Zeit ± abschloû. Wir entnehmen diesen Worten, daû Hegel hier das Programm dessen aufstellt, was die Phånomenologie Husserls spåter zu verwirklichen suchte: Das Wesen enthålt in sich beides, den Begriff und das Sein, und der Zusammenfall beider, des begriffenen Seins, ist die Aufgabe des reinen Denkens. »Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hçlle und fçr sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrçcken, daû dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist« (45 f./44).

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So hoch wird also Hegel die Philosophie treiben, er wird nicht haltmachen bei der Bestimmung und Erfassung der empirischen Welt, er wird sich nicht begnçgen mit der Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, er wird wieder nach dem System fragen und er wird in der Einheit des Systems die Wahrheit ± allein hier und so die Wahrheit finden. Die Philosophie, die nicht mehr Gott denkt, die nicht mehr begreift, daû das Recht und die Gewiûheit des Denkens Gott ist, hært auf, zu sein, was sie vorgibt.

1.2 Hegels Methode Was zur Græûe Hegels hinzukommt, ist die Methode. Hegel hat Methode ± vielleicht ist er darum den Russen so bedeutsam geworden, denn Methode haben heiût, Lehrer sein. Hegel vollzieht, indem er seine Methode immer wieder, immer aufs neue in den Einleitungen zu seinen groûen Werken vorausschickt, damit die Loslæsung des Werkes von der Person. Insofern ist Hegel ± nåchst Kant ± der bescheidenste unter den groûen Denkern dieser Epoche, wenn er auch zugleich der anmaûendste ist; denn er glaubt an die Vollkommenheit der Methode und meint, daû nach ihm nichts mehr an Neuem kommen kænne. Karl Barth hat ihn darin mit Thomas von Aquin verglichen und gefragt, wie es mæglich gewesen sei, daû sein Jahrhundert, das er auf den Gipfel zu fçhren berufen war, ihn dann doch verwarf, daû man wåhnte, doch noch eine neue Philosophie anfangen zu kænnen 7 . Daû man, als der geistesgewaltige Philosoph auf dem Lehrstuhl Berlins, ± der Tçbinger Stiftler, der in seiner Rechtsphilosophie den politischen Katechismus der preuûischen Staatsraison entwickelte ± 1831 an der Cholera gestorben war, den alten, mythologisch gewordenen Schelling auf den Lehrstuhl berief, der nun insofern Hegels Satz beståtigte, als er tatsåchlich nicht mehr Philosophie trieb, sondern die Wissenschaft durch eine Art Gnosis, ein Gemisch von Wissenschaft und Offenbarung ersetzte, sehr zum Gefallen des Romantikers auf dem Throne, des unglçcklichen Friedrich Wilhelm IV., eines Vorlåufers des letzten deutschen Kaisers. Kant und Hegel sind die beiden einzigen unter den groûen idealistischen Philosophen, die im echten Sinn Methode haben. Fichte und Schelling bleiben zu stark sie selbst. Der eine bleibt zeitlebens ein Prediger, ein predigender Ethiker, ein mit seiner Zeit ewig unzufriedener, sie unausgesetzt moralisierender und aus diesem Sendungsbewuûtsein lebender, alles in al7.

K. Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 343-349.

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lem groûartiger, aber eben doch immer wieder sein Ethos propagierender Philosoph: »Was fçr eine Philosophie einer hat, das hångt davon ab, was er fçr ein Mensch ist.« 8 Der andere weicht nach der anderen Seite aus, ins bloû Hingegebene, Passive, ins Kontemplative ± denn so allein låût sich das Leben einfangen, ohne daû wir ihm Gewalt antun. Gerade Schelling sucht die Einheit zwischen Subjekt und Objekt, er prågt den Begriff der Identitåtsphilosophie, er bestimmt zuerst die Identitåt als Form des absoluten Ich ± aber ihm gelingt nicht die Ûbernahme dieses Ansatzes in den Begriff der Wissenschaft: Låût sich denn nach Kant ± nach der Zertrçmmerung des methaphysischen Ansatzes in der Seelenlehre ± noch eine auf der Identitåt aufgebaute Wissenschaft denken, eine den Stoff bearbeitende, aber nicht in diesem Stoff aufgehende, nicht zum Pragmatismus werdende Wissenschaft? Fichte und Schelling sind fçr Hegel nur Stufen, Zeichen, daû man bei Kant nicht stehenbleiben kann, wie keiner von diesen beiden hier stehenbleiben konnte. Aber sie sind Zeichen der Sehnsucht, sie sind nach oben greifende Arme, die jedoch an der glatten Wand, die sie erklimmen mæchten, keinen Griff, keine Stufe finden: so daû dann der eine sich mit einem Postulat ± also moralisch ± çber sich erhebt, der andere aber dies tut, indem er die Augen schlieût, indem er die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum verwischt. Hegel aber wird ihr Vermåchtnis antreten, wird çber diese Stufen weg den Gipfel, den hæchsten Grat erreichen und die Gratwanderung auf dem Hæhenzug antreten, den das achtzehnte und anfangende neunzehnte Jahrhundert als das Ziel ihrer Sehnsucht, als die Berge, von denen uns Hilfe kommt, von ferne gesichtet haben. Keiner hat das vollendeter geschaut und gesagt als Barth in seiner Geschichte der Theologie: Er hat Hegel die geistesgeschichtliche Rolle gegeben, die er innehat. Er hat sich gefragt, was denn das neunzehnte Jahrhundert damit tat, daû es ihm ± Hegel ± auf diesen Gipfel nicht folgte: war es zu kçhl da oben, zu einsam, zu leer? Was in aller Welt dachte sich ein Jahrhundert, daû es meinte, die letzte Konsequenz verneinen zu kænnen, die sich notwendig aus allen vorangegangenen Schritten ergab? Denn die Methode Hegels ist seine eigentliche Leistung. Methode heiût Wissenschaft, Methode heiût, daû ich das Geheimnis der Erkenntnis entdecke und preisgebe; Methode ist Weg, den alle gehen kænnen; Methode verzichtet auf glåubige Gefolgschaft, in der Methode unterstelle ich mich 8.

»Was fçr eine Philosophie man wåhle, hångt sonach davon ab, was man fçr ein Mensch ist.« J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, 1797/1798 Abschn. 5, Philosophische Bibliothek 239, 17.

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selbst dem Gericht der Sache, læse ich die Erkenntnis von mir, von meiner Intuition und Inspiration ± gebe ich den Schlçssel aus der Hand und verwandle das Denken in ein Werk. Was ist Hegels Entdeckung? Was ist seine Methode? »Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen ± und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemçhen ±, ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daû das Negative ebensosehr positiv ist oder daû das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflæst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besondern Inhalts, (¼) daû also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert, ± was eigentlich eine Tautologie ist, denn sonst wåre es ein Unmittelbares, nicht ein Resultat. Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der hæhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthålt ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten« (51/49). Machen wir uns kurz klar, was das bedeutet. Der Satz: Jesus ist Gottes Sohn, ist an sich genommen die Wahrheit, aber zunåchst die sehr unmittelbare, die auf das bloûe Erleben eines einzelnen zurçckgehende, als solche behauptete Wahrheit. Sie muû einen Widerspruch zeitigen, eine Negation ± damit sie zur hæheren Wahrheit werden kann. Es muû sowohl dieser Wahrheit von daher widersprochen werden, daû Jesus Mensch ist und darum nicht Gott sein kann, und umgekehrt, daû er Gott ist und darum nicht Mensch kein kann ± und erst in der Aufhebung dieser Verneinung der Wahrheit vollzieht sich deren volle, ganze, umfassende Einheit. Die Wahrheit des Christentums ist konkret gegeben im Dogma, aber Dogma ist strenggenommen Bewegung, ist das Hineinnehmen der Negation ins Resultat. So ist etwa die Lehre von der Trinitåt nicht eine primåre biblischneutestamentliche Gegebenheit, sondern eine Entfaltung der Offenbarung Gottes durch den Gegensatz hindurch: Anfang und Ende sind einander gleich, die Wahrheit am Anfang und am Ende ist die gleiche, aber am Ende steht die reife, die volle, die alle Gegensåtze, alle Håresien in sich aufnehmende Wahrheit ± am Ende steht der Sieg, der seine Gegner in seinem Triumphzuge mit sich fçhrt und so erst das absolute Wissen, die alle Gegensåtze in sich aufnehmende Gewiûheit geworden ist. Das Nichts, die Negation ± theologisch gesprochen die Håresie ± ist also insofern notwendig, als es die Wahrheit als eine werdende erweist. Nicht die abstrakte Idee, wie die Aufklårung meinte, ist schon die Wahrheit, hier muû ja notwendig Sein und Sollen auseinandertreten, hier muû jene leere Entzweiung zwischen Vernunft und Wirklichkeit eintreten, die dem einen

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die Wirklichkeit unvernçnftig erscheinen låût, dem anderen aber die Vernunft unwirklich, die also das Problem der Sinnlosigkeit der Existenz aufbrechen lassen muû. Es gibt ein Stadium in der Entfaltung des Geistes, in dem es so zu sein scheint ± Sollen und Sein klaffen auseinander: der Geist erscheint als das abstrakt Allgemeine, die Realitåt als das Besondere ±, aber diese Fatalitåt liegt nicht etwa im Dasein der Welt oder gar in ihrer Sçndhaftigkeit begrçndet, in ihrem Fall, sondern sie liegt in der Methode. Die Wirklichkeit muû uns so erscheinen, weil wir das Negative nicht von vornherein mit einsetzen bei der Bestimmung des Seins. Das Sein, das Nichts und das Werden, das sind die drei logischen Grundbegriffe, ohne die es kein absolutes Wissen gibt. Das Werden ist die Aufnahme, das tollere (Aufheben), des Negativen in das Sein ± das Stirb und Werde, das auch die Altersweisheit Goethes kennzeichnet. 9 Kants Philosophie ± mit dem merkwçrdigen Rest des radikalen Bæsen ± låût einen Schatten zurçck, der nicht weichen will. Fichtes Ethizismus mit seinem »Du kannst, denn du sollst« 10 beseitigt diesen Schatten, aber so, daû damit zugleich das Werden, der Schmerz, die Sçnde, die Reue, die Nacht des Daseins çberhaupt aufgehoben wird. Die Methode Hegels låût nicht nur Raum fçr die Negation, sondern ist ohne sie nicht zu denken. Sie ist çberhaupt kein Ausgedachtes, das ein Denker hier auf irgendwelche Objekte, Geschichte, Religion, Kunst, Recht oder Philosophie, anwendet ± als ob er willkçrlich mit einem Dietrich, der in jedes Schloû paût, die verborgenen Schåtze ans Licht bråchte ±; Hegel meint vielmehr, daû fçr den, der sich recht anspricht, die Wirklichkeit selbst sich æffnet, daû diese Methode in den Dingen selbst liegt: »Wie wçrde ich meinen kænnen, daû nicht die Methode, die ich in diesem Systeme der Logik befolge ± oder vielmehr die dies System an ihm selbst befolgt ±, noch vieler Vervollkommnung, vieler Durchbildung im einzelnen fåhig sei; aber ich weiû zugleich, daû sie die einzige wahrhafte ist. Dies erhellt fçr sich schon daraus, daû sie von ihrem Gegenstande und Inhalte nichts Unterschiedenes ist; ± denn es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt.« (51 f./50)

9. J. W. Goethe, Selige Sehnsucht, V. 18, West-æstlicher Divan, Goethes Werke II, 19. 10. Dieser Ausdruck, der als Kant-Wort bekannt geworden ist, stammt ursprçnglich weder von ihm noch von Fichte, sondern aus den »Xenien von Schiller und Goethe«, die veræffentlicht wurden im Almanach von 1797: »Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden, Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst!« Das Gedicht ist Schiller zuzuschreiben, der diesen Ausspruch Kant in den Mund legt. Vgl. GA II, 67 f. und NW 5, 84.

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Logik ist also die Selbstbewegung des Seienden. Denken, recht denken, hieûe demnach das Sein in seiner Bewegung, das Sein in der Zeit, fassen, nicht ± wie bisher ± es fixieren auf ein Seiendes, auf ein Das-ist-so oder Das-ist-nicht-so, sondern So-Sein und Nicht-so-Sein sind beide Funktionen ein und derselben Bewegung! Was sich heute als Seiendes durchsetzt und behauptet, wird morgen ± auf Grund der Negation, des Besonderen, die es selbst mit heraufbeschworen hat ± zum Nicht-Seienden degradiert werden. Die Negation von heute ist die Position von morgen, und die Position von morgen wird wieder aufgehoben werden mçssen durch eine neue Negation ± was çbrigbleibt, ist nur das Wissen, das sich nun wie der leuchtende Himmel çber diesem Schlachtfelde des Werdens, des Kommens und Gehens, erhebt, als die Welt der Auferstehung, in der es kein Nein, keinen Tod, keinen Untergang mehr gibt. Darum der berçhmte Schluû der Phånomenologie des Geistes ± von der Geschichte als der »Schådelståtte«, also dem Golgatha »des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewiûheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wåre.« 11 Ja, Geschichte, Werden, Sterben und Auferstehen, Position und Negation, das Leben in Gegensåtzen, das Werden als Geheimnis und Erfçllung ± das ist Gottes Wirklichkeit und Wahrheit. Geschichte ist der Ort, wo der abstrakte Geist das Blut trinkt, das ihn erst in einen wirklichen verwandelt. Geschichte wird Signum, Thema, Kennzeichen der Offenbarung werden. Kein infinitum ohne das finitum! Aber auch kein Endliches, ohne Transporteur, Gefåû, Symbol des Unendlichen zu sein. Geschichte die Schådelståtte des Geistes! Beides also in einem: Tod und Auferstehung. Sinnlosigkeit ± bares Nichts, wenn man sie an sich sieht, o ja, das ist die Geschichte: versucht man, sie zu heben, so verrenkt man sich hier die Hçfte (Gen 32,31 f.); versucht man, sie zu entsiegeln, so ist niemand da im Himmel und auf Erden, der diese Siegel brechen kænnte (Offb 5,3). Wie viele Trånen sind darum schon vergossen! Wie viele haben hier ± angesichts dieser Schådelståtte ± aufgehært, an Gott zu glauben! Golgatha ist das Ende eines Weges, ist Sieg des Bæsen, der Unvernunft, der Macht, des Wahns, alles Negativen ± und çberall, wo wir auf Geschichte stoûen, stoûen wir auf ein Stçck Golgatha. Das hat Leibniz noch nicht gesehen, so tief hat er noch nicht geschaut wie Hegel, der Jugendfreund Hælderlins und Schellings. Das hatte die Aufklårung, die meinte dem Goldenen Zeitalter entgegenzugehen, nicht begriffen ± den Abgrund, der hier zu çberspringen sein wird, die Tatsache, daû wir es nicht nur mit Natur, sondern mit Geschichte 11. G. W. F. Hegel, Phånomenologie des Geistes, SW Bd. 2, Stuttgart 1927, 620 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 3, 591).

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zu tun haben. Geschichte aber heiût Tod! Tod als Negation dessen, was ist. Tod als Ermæglichung von Geburt. Wollen wir Fortschritt, Entwicklung, Teleologie haben ± und das wollte doch wohl die Aufklårung ±, dann mçssen wir auch den Tod, den Untergang haben wollen, damit das Neue komme. Wir mçssen eine positive Seite des Nein entdecken ± mçssen wagen (das Heideggersche Wagnis), ihm tapfer, glåubig ins Angesicht zu sehen und es so aus dem, als was es erscheint, zu verwandeln in das, was in ihm werden will. Nur so, durch ståndigen Tod zu neuer Wiedergeburt, lebt die Geschichte der Menschheit, geht sie voran; wie sollten wir sonst an den Fortgang der Menschheitsgeschichte glauben kænnen? Hegel stellt der Aufklårung die Frage, ob sie das realiter sein will, was sie zu sein vorgibt: eine nach vorn sich bewegende, progressive, unbekannten Hæhen entgegenschreitende Menschheit, ob sie es auch wagt, den Tod als Station dieses Weges mit einzubeziehen. Die Geschichte als das Element des Werdens ist das »Hic Rhodus, hic salta« (»Hier ist Rhodus, springe hier«) 12 , an dem sich der Ansatz der Aufklårung zu rechtfertigen haben wird. So vollendet und çberwindet Hegel die Aufklårung.

1.3 Hegel und die Theologie 13 Man kænnte ein ganzes Semester çber Hegel lesen. Was sage ich: Man kænnte sein Leben erfçllt sehen in der Nachzeichnung, Ausarbeitung, Korrektur und Verfeinerung dieser Methode. Philosophen wie Gans 14 oder Michelet 15 haben das getan. Die eigentlichen Hegelianer waren çberzeugt, daû hier das non plus ultra aller Wissenschaft erreicht ist. Daû diese ihre Ûberzeugung sich nicht hielt, liegt weniger an dem Verhalten und der Geschichte der Geisteswissenschaften, die Theologie eingeschlossen, sondern daran, daû die Naturwissenschaften sich in einer ganz anderen Weise entfalteten und sie eigentlich die Geltung der Hegelschen Methode zerbrachen. Aber ± wie gesagt ± es ist fast gefåhrlich und bedenklich, mit so wenigen Såtzen çber Hegel und seine Leistung zu sprechen. Immerhin, es geht uns ja hier mit allen anderen auch so. Schlieûlich ist auch Schleiermacher ein Theologe, den man nicht in einem Vortrage »abmachen« kann, und selbst von Harleû und Rothe, von Martensen und Oettingen gilt das nåmliche. 12. In einer Fabel Aesops rçhmt sich jemand, er habe einst in Rhodus einen gewaltigen Sprung getan. Ein Umstehender fordert ihn auf: »Hier ist Rhodus, springe hier.« 13. Ûberschrift Iwands. 14. Eduard Gans (1798-1839). 15. Carl Ludwig Michelet (1801-1893).

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Nur daû Schleiermacher und Hegel doch weit çber alles andere herausragen, wie Berge, die zum Hochgebirge gehæren, wie Gipfel, auf denen zu stehen einen Blick erlaubt, wie wir ihn von den anderen Erhebungen im Hçgelgelånde des Flachlandes nie haben. Das ist das Besondere der wahrhaft groûen Denker, daû sie den, der sich die Mçhe nicht verdrieûen låût, den sauren Aufstieg zu unternehmen ± und groûe Denker verlangen meist eine ganze, eine ungeteilte Anstrengung und Aufmerksamkeit ± daû sie uns dann çberreich belohnen, wenn wir in die uns umgebende Mannigfaltigkeit des Daseins einen Rundblick und Einblick tun dçrfen, der sich von da aus in nie gekannter Weise ordnet und zum unvergeûlichen Bilde zusammenfçgt. Schleiermacher ist ganz gewiû der Theologe des neunzehnten Jahrhunderts geworden und gewesen. Hegel, sein groûer Berliner Rivale, hat ihn nicht »aufzuheben« vermocht. Hegel ist zwar nicht wegzudenken aus der Geschichte der Theologie, aber er wirkt wie ein Meteor, der einen Moment ein unerhært helles Licht ausstrahlt und dann wieder sich dem Auge entzieht. Ob er wohl wiederkommt? Ob etwa das zwanzigste Jahrhundert ihm die Reverenz erweisen wird, die ihm das neunzehnte versagte? Ob nicht Nietzsche, ob nicht Croce ± ob nicht Spengler, ob nicht Heidegger, ± ob nicht der æstliche Marxismus wenn auch nicht Geist von seinem Geist, so doch sicher Fleisch von seinem Fleisch sind? Ob wir Deutschen nicht gut daran tåten, uns diesen Mann ein wenig genauer anzusehen, zumal er wohl zur Zeit noch einiges mehr zu sagen hat als ± Kant? Vielleicht hat der Neukantianismus uns allzulange den Aufmarsch der långst totgesagten Hegelschen Philosophie verborgen, bis sie auf einmal ± wie eine Rachegættin ± als Tat und Ereignis çber denen stand, die meinten, sie fçr immer beerdigt zu haben. Es gibt ein paar Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unser Verstand nichts tråumen låût. Ich wçrde fragen: Wissen wir eigentlich, daû wir Hegel die Dogmengeschichte verdanken, dieses spezifische Phånomen, wie es Ferdinand Christian Baur und Isaak August Dorner, auf anderer Ebene Gottfried Thomasius und Nathanael Bonwetsch ausbilden? Wissen wir, daû Hegels groûer Schatten ± freilich sehr verdçnnt ± hinter der Theologie Reinhold Seebergs steht? Wissen wir, daû auch eine scheinbar so innertheologische Erscheinung wie der Schriftbeweis von Johann Christian Konrad von Hofmann sich in Wahrheit nur im Hegelschen Denkraum vollziehen konnte? Und auch David Friedrich Strauû, auch Ludwig Feuerbach, auch all diese gescheiterten theologischen Existenzen bis hin zu Bruno Bauer und den »Freien«, jenen Berliner Radikalen ± sie sind im Grunde genommen alle einmal von jenem Gipfel angezogen, vielleicht nur auf jene Hæhe gezogen worden, um im Nebel irgendwo abzustçrzen.

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Wie der groûe Mann rechts und links von seinem Wege die zerbrochenen Versuche seiner Nachfolger und Weggenossen aufweist, so ist auch der Weg Hegels umsåumt von solchen Katastrophen ± man weiû nicht, ob eine spåtere Zeit auch Marx dazu rechnen wird. Aber auch noch die Katastrophen sind Ereignisse, sind nicht leere Nichtigkeiten, sondern sind Fehlzçndungen gleich, die immerhin Zçndungen sind und eine bestimmte Dynamik zur Entladung bringen. Die Theologiegeschichte jener Tage ist dadurch bestimmt, daû Hegel, der Tçbinger Stiftler ± der in seinen Frçhschriften eigentlich nur theologische Probleme kennt, der schlieûlich immer wieder auf seinen Hæhepunkten zur Geheimsprache der Theologie zurçckkehrt ± durch sie hindurchgegangen ist. Aus Tçbingen und Erlangen ist Hegel nun einmal nicht wegzudenken. Aber schlieûlich ist seine Wirkung innerhalb der engeren Theologie immer noch begrenzt, immer noch domestiziert. Selbst Strauû, selbst Bruno Bauer haben nicht allzuviel bedeutet: Sie haben das Problem der Mythologisierung aufgeworfen, haben schieûlich die Christusmythe als letztes halten wollen ± aber da sie zu wenig vom eigentlichen Hegel in sich tragen, da sie nur die Destruktion, nicht die Konstruktion begriffen haben, bleiben sie schlieûlich doch ephemer. Immerhin, auch die groûen Theologen wie I. A. Dorner und F. C. Baur sind Hegelianer ± jedenfalls in gewissem Sinne. Hegel wirkt çberall da stark, wo seine Idee von Dogma verstanden wird. Das Dogma ist ja jene Einheit, in der Denken und Gedachtes eins sind. Das Dogma hat zum Subjekt nicht den einzelnen Frommen, nicht dessen Erleben, nicht sein Erlæsungsbedçrfnis ± sondern den Gesamtgeist, die Christenheit bzw. die Kirche. Hegel kann sich kein theologisches Denken vorstellen, das nicht vom Dogma herkåme und auf das Dogma hinzielte. Wie seine Methode endgçltig ist, so ist ihr Inhalt dogmatisch. Freilich so dogmatisch, daû er die Kritik in sich aufgenommen, daû er auch die Negation seiner selbst umgreift. Was spåter ein Theologe wie Erik Peterson geschrieben hat: Das Dogma ist die Elongation des Leibes Christi 16 ± wçrde in dem Munde der Hegelianer lauten: Das Dogma ist die Elongation des Geistes Christi. Denn mit der Erdenwanderung Christi hat ± nach ihnen ± erst die Offenbarung begonnen. Sie schreitet fort, in der Lehre expliziert sich durch ståndige Negation die Wahrheit. Das Dogma ist also das Fortwirken, das eigentliche Leben des Geistes der Offenbarung. Kein Wunder, daû die Or16. E. Peterson, Was ist Theologie?, Bonn 1925, 18 ff. (auch abgedruckt in: Theologie als Wissenschaft. Aufsåtze und Thesen, herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Sauter, Theologische Bçcherei Band 43, Mçnchen 1971, 132-151[145 f.]).

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thodoxen in Hegel einen Bundesgenossen sahen, der nicht nur dem Dogma seinen Platz zurçckgab, sondern es auch zum Fundament der Philosophie machte. Hegel hat wieder gewagt, den Gottesbeweis in die Philosophie einzubeziehen und ihn zum Angelpunkt seines Ansatzes zu machen (das dçrfte ein heimlicher Spinozismus, also dessen Axiomatik sein). Aber ob die Theologen ihn damit wirklich verstanden haben, ob sie nicht zu frçh gejubelt haben, daû nun durch Hegel der Satz des finitum capax infiniti (Endliches vermag Unendliches zu fassen) gerechtfertigt sei, daû man endlich die philosophische Berechtigung der Inkarnation gefunden habe? Ob sie sich nicht ebenso geirrt haben, wie der preuûische Staat, der sich schmeichelte, mit Hegel den rocher de bronce gefunden zu haben, auf den man in unsicheren Zeiten Dynastien grçnden kann? Denn andere haben es anders erlebt: Sie haben sich von Hegel losgerissen und sind erst, mit abgekehrtem Angesicht, Christen geworden ± das græûte Beispiel ist vielleicht Friedrich Julius Stahl. Der Pietismus roch hier, daû die Sache nicht stimmen konnte; ein Mann wie Kåhler kannte eigentlich nur einen theologischen Antipoden, den er fçr gefåhrlich hielt ± der Begriff des absoluten Geistes von Hegel, der Gott zum X da droben macht. Die Theologen, die ± wie Kåhler ± am Dogma festhielten, ohne doch Hegelianer zu werden, sahen, daû hier der Gedanke einen Rang erhielt, den er in der Schrift nicht hat, und Kåhlers Gebet: Fçhr aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dein Eigen zu sein 17

liest sich wie die Bitte eines, der sich von Hegel mit Mçhe losgerissen hat. Aber es kommt noch eine andere Ûberlegung hinzu: Wir werden sehen, wie nahe uns manches von dem erscheint, was Hegel sagt. Ist es nicht doch seltsam, wie Gedanken Geschichte machen? Wir stehen heute in einer fçr die meisten von uns kaum çbersehbaren Katastrophe. Wir gleichen zunåchst noch den Schiffbrçchigen, die ins Wasser gestçrzt und so stark mit ihrem endlichen Dasein beschåftigt sind, daû ihr Denken zunåchst ganz davon bestimmt wird ± also von dem praktischen Endzweck ihrer Handlungen. Aber wenn wir uns einmal erheben wçrden, wenn wir ein wenig Distanz dazu gewinnen kænnten, ein wenig objektiver und hårter das Gestern und vielleicht auch das Morgen der europåischen Katastrophe ins Auge faûten, dann wçrden wir wahrscheinlich immer wieder auf Hegels Spuren stoûen, wçrden sehen, daû dies sein Jahrhundert ist, wçrden 17. M. Kåhler, »Der Jahrtausende geht«, in: M. Kåhler, Theologe und Christ. Erinnerungen und Bekenntnisse, hg. von Anna Kåhler, Berlin 1926, 304.

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erschrecken, daû die Orthodoxie auch heute noch nicht darçber hinausgekommen ist ± wie sie auch heute noch nicht abgehen will von der These, daû der Staat das Allgemeine und darum das dem einzelnen Dasein Ûberlegene sei. Wer von uns weiû, wie tief wir alle in Hegel selbst drinstecken ± und sei es nur in der Gewiûheitsfrage, denn was suchen wir, wenn nicht die Identitåt des Glaubenden mit dem Geglaubten? Oder in der Frage der Mythologisierung ± denn was heiût das, wenn nicht der Rçckgang hinter die Vorstellungen auf den reinen Begriff? Oder in der Frage der politischen Moral ± denn wie kænnten wir sonst mit dem Gewissen (mit unserem bçrgerlichen Gewissen) bei der Demokratie, mit dem Herzen aber (mit unserem eigentlichen Glauben) bei dem Staat von morgen, dem omnipotenten Staat stehen, der Macht und Recht in einem ± also die eigentliche Manifestation Gottes ist? Wenn wir heute ± nach den Erkenntnissen und Erschçtterungen, durch die wir gegangen sind, und angesichts derer, die uns bevorstehen ± Hegel lesen, dann spçren wir færmlich, daû vor hundert Jahren die Entscheidungen fielen, die wir heute als unsere auszugeben belieben ± daû wir nur die faktischen Auswirkungen jener Phånomene erfahren, die sich als gewaltige Ereignisse im Reiche des geistigen Lebens vollzogen und die im Namen und in der Sache, die Hegel vertrat, eine noch nicht absehbare Entwicklung eingeleitet haben.

1.4 Sendung und Form Ich habe hier damit angefangen, eine kurze Einfçhrung in Hegel zu geben. Es ist an und fçr sich eine Vermessenheit, auf so wenigen Seiten çber Hegel zu reden ± man mçûte denn schon sehr viel oder sehr wenig von ihm verstehen. Wenn ich es trotzdem getan habe, so nur um auf einen Mann und ein System aufmerksam zu machen, das åhnlich wie der Ansatz Schleiermachers von tiefster Bedeutung in der Geschichte der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Ohne Hegel wird man weder den tieferen Sinn der Dogmengeschichte, die nun ihre banale Form der Aufzåhlung einzelner Dogmen verliert, begreifen, noch wird man jemals jene tiefe Kritik verstehen, die in Feuerbach und Strauû, aber auch in Karl Marx schlieûlich gegen die Offenbarung und gegen die Theologie måchtig wurde. Wie gesagt: Es ist noch nicht heraus, ob Hegels Zeit schon vorçber ist. Es gåbe manches, was dafçr språche, daû er ± gerade auch in seinen theologischen Aussagen ± neue Bedeutung fçr uns gewinnen kænnte. Zwei Mo-

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mente habe ich hervorzuheben versucht, als fçr Hegel bezeichnend, zwei Momente, die ich hier noch ein wenig deutlicher herausstellen mæchte. Das erste betrifft den Inhalt, den Sinn seiner Arbeit ± wenn man nicht geradezu seiner Sendung sagen will. Das zweite die nicht minder berçhmte Form, die Methode seines Denkens, die neue Methode, die er einfçhrt und die man als die dialektische bezeichnen kann. Beides hångt natçrlich miteinander zusammen, denn der Inhalt der Hegelschen Thematik ist der Geist, und die Dialektik ist der Weg, um alles Gegebene in Geist zu verwandeln. Fragen wir uns zunåchst einmal, ob denn diese beiden Grundbegriffe die Theologie berçhren, so werden wir ebenso schnell und bedenkenlos ja sagen, wenn es sich um den Geist, um den absoluten Geist handelt ± auch Hegel hat hier gemeint, glåubig ja sagen zu dçrfen. Er hat Gott und den absoluten Geist immer in eins gesetzt, er hat darauf die Einheit des gættlichen und des menschlichen Geistes basiert. Anders hingegen erscheint die Sache, wenn wir fragen, was denn die dialektische Methode ± dieses logische Gesetz des Unmittelbaren, des Reflektierten und schlieûlich des Gewuûten ± mit der Theologie gemein hat. Ich habe aber behauptet, daû sie ungemein viel mit der Theologie zu tun habe und daû sie nichts anderes sei als das, was wir das Gewiûheitsproblem oder auch die Glaubensgewiûheit nennen. Zunåchst ist çber den Geist, das absolute Wissen und die Philosophie als solche noch einiges sagen.

1.4.1 Der Versuch, den Gottesbegriff der Aufklårung zu çberwinden

Hegel kåmpft darum, den Gottesbegriff der Aufklårung zu çberwinden: »Die Aufklårung«, so sagt er, »meint Gott recht hoch zu stellen, wenn sie ihn das Unendliche nennt, fçr welches alle Prådicate unangemessene und unberechtigte Anthropomorphismen seyen. In Wirklichkeit aber hat sie Gott, wenn sie ihn als hæchstes Wesen faût, hohl, leer und arm gemacht.« 18 Dieser »Vernunfttheologie der Aufklårung« (47/37) gibt Hegel weiter Schuld, daû sie Gott als »leere Idealitåt« gefaût habe, der nun »das Endliche åuûerlich gegençbersteht«, ± daraus resultiere dann auch die Abspaltung der »Moral als besondere Wissenschaft«; die »Beziehung des Menschen zu Gott stand abgesondert fçr sich da« (47/37). Die Welt zerfållt demnach in einen Dualismus, in ein leeres Ideal und eine geistlose Wirklichkeit, auf die 18. G. W. F. Hegel, Vorlesungen çber die Philosophie der Religion I, SW Bd. 15, Stuttgart 1928, 47 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 16, 37). Seitenangaben im Text, wobei die erste Ziffer die Seitenzahl in der Glockner-Jubilåumsausgabe angibt, und die zweite die in der Theorie-Werkausgabe.

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hin das Subjekt »ethisch handelt«. Man kænnte also sagen: Der ganze Hegel ringt mit dem Problem der beiden Reiche, er will die durch die vernunftmåûige Abstraktion hervorgerufene Bewuûtseins- und Seinsspaltung aufheben. Er weist diese Aufgabe der Philosophie zu, da die zeitgenæssische Theologie dazu nicht in der Lage sei. Was ist nun seine Position? Beziehungsweise die der »denkenden Vernunft«? »Gott ist ihr (¼) nicht das Leere, sondern Geist und diese Bestimmung des Geistes bleibt ihr nicht nur ein Wort oder eine oberflåchliche Bestimmung, sondern die Natur des Geistes entwickelt sich fçr sie, indem sie Gott wesentlich als den Dreieinigen erkennt« (48/38). Aber nun zeigt sich etwas hæchst Merkwçrdiges, daû nåmlich gerade in Gott, in diesem Begriff der Trinitåt, bereits die Bewegung, die Dialektik, auftaucht. »So wird Gott gefaût, wie er sich zum Gegenstande seiner selbst macht und dann der Gegenstand in dieser Unterscheidung seiner selbst mit Gott identisch bleibt, Gott sich darin selbst liebt.« (48/38) ± Hier also schon jene merkwçrdige Hegelsche »Denkbewegung«, die er in der Logik als gættliche Bewegung darstellt. Gott ist darin Geist, daû er »sich zum Gegenstand seiner selbst macht« und dann doch in dieser »Unterscheidung« mit Gott identisch bleibt. Wie schon der junge Hegel sagte, ist das die Liebe. Die Liebe ist das Vermittelnde im Denken, ist die Aufhebung der Unterscheidung in einer ± nun nicht mehr gegenståndlichen ± nun wirklich jenseits von Subjekt und Objekt liegenden Einheit. »Ohne diese Bestimmung der Dreieinigkeit wåre Gott nicht Geist und Geist ein leeres Wort« (48/38). Hegel hat ein unbegrenztes Selbstvertrauen zum Denken, zur denkenden Vernunft. Er sieht in dem Abgleiten der Theologie in die Exegese eine Schwåche, die der Beschrånkung der Philosophie auf die verstandesmåûige, rein empirische Erkenntnis parallel låuft. »Sie« ± die Theologen ± »betrachten die Philosophie als etwas Gespensterartiges, von dem man nicht wisse, was es sey (¼). Haben es doch jene Theologen, die sich mit ihren Råsonnements in der Exegese bewegen, sich bei allen ihren Einfållen auf die Bibel berufen, wenn sie gegen die Philosophie die Mæglichkeit des Erkennens låugnen, so weit gebracht und so sehr das Ansehen der Bibel herabgesetzt, daû (¼) der Geist sich nach einer anderen Quelle umsehen mçûte, um eine inhaltsvollere Wahrheit zu gewinnen.« (49/39) Die Philosophie steht in Wahrheit der positiven Religion und der Lehre der Kirche unendlich nåher, als es auf den ersten Blick erscheint, ja: die »Wiederherstellung der vom Verstande auf ein Minimum reduzierten Kirchenlehre (¼) ist (¼) ihr Werk« (49/40). Das ist ein unerhærtes Angebot, ein Angebot, wie es nur einmal bisher in der Theologiegeschichte gemacht worden ist ± nåmlich die Lehre der Kir-

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che, die Dogmatik, zu restaurieren, sie als die wahrhafte Erkenntnis (neben der es keine andere gibt) zu erweisen. Also jene Einheit von Glauben und Wissen zu bewåhren, an der die rationalistische Aufklårung nicht minder als die pietistische Flucht in die Bibel verzweifelte. Hegel ist der Meinung, daû »die Angst des Verstandes« daher kommt, daû hier ± in der Philosophie ± »es zu einer Erkenntnis der Natur Gottes« komme, »zum Affirmativen«, also dazu, daû Gott ist und dieses Sein Gottes nun eben doch der Anfang alles Denkens sei. ± Und dann folgt der unvergeûliche Satz: »Jeder Inhalt erscheint dieser negativen Richtung als Verfinsterung des Geistes, wåhrend sie doch nur in der Nacht, die sie Aufklårung nennt, bleiben will und da allerdings den Strahl des Lichts der Erkenntniû fçr feindselig halten muû« (49 f./40). ± Oder an einer anderen Stelle heiût es: »Wir haben die Idee rein speculativ zu betrachten und sie gegen den Verstand zu rechtfertigen, (¼) der sich gegen allen Inhalt der Religion çberhaupt empært. Dieser Inhalt heiût Mysterium, weil er dem Verstande ein Verborgenes ist.« 19 ± Hegel ist also darin das Ende des aufgeklårten Verstandes, daû er die Leugnung Gottes ± die rationale ± lediglich als Folge des sich in seiner Endlichkeit absolut setzenden Verstandes sieht. Am Ende der Aufklårung muû ± nach Hegel ± die Verzweiflung stehen, der nicht geschlichtete Zwist zwischen Einsicht und Religion. »Diese Verzweiflung ist die einseitig durchgefçhrte Versæhnung. Man wirft die eine Seite weg, hålt die andere allein fest, gewinnt aber dabei nicht wahrhaften Frieden.« (66/56) 20 19. G. W. F. Hegel, Vorlesungen çber die Philosophie der Religion II, SW Bd. 16, Stuttgart 1928, 553 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 17, 535). 20. Loses Blatt: [»Ist der Zwist zwischen der Einsicht und der Religion] entstanden, so fçhrt er, wenn er nicht in der Erkenntnis geschlichtet wird, zur Verzweiflung, welche an die Stelle der Versæhnung tritt«. Hat Hegel damit nicht einen sehr unbestechlichen Blick bewiesen, einen Blick, den Kierkegaard und Nietzsche dann ihm nachgetan, ihm zutiefst nachgetan haben? »Diese Verzweiflung ist die einseitig« ± also nur auf der Seite des Subjekts, des Ichs ± »durchgefçhrte Versæhnung. (¼) Man wirft die eine Seite weg, hålt die andere fest, gewinnt aber dabei nicht wahrhaften Frieden. Entweder wirft dann der in sich entzweite Geist die Forderung der Einsicht weg und will zum unbefangenen, religiæsen Gefçhl zurçckkehren. Das kann aber der Geist nur, wenn er sich Gewalt anthut.« (66/56) Und weiter: »Darin sind die materialistischen Ansichten, oder wie sie sonst bezeichnet werden mægen, die empirischen, historischen, naturalistischen, wenigstens consequenter gewesen, daû, indem sie den Geist und das Denken fçr etwas Materielles genommen und auf Sensationen zurçckgefçhrt zu haben meinen, sie auch Gott fçr ein Produkt des Gefçhls genommen und ihm die Objektivitåt abgesprochen haben; das Resultat ist dann der Atheismus gewesen.« Man versteht, warum Hegel und Schleiermacher Antipoden waren. Aber es geht noch weiter: »Hiernach scheint es nothwendig, zuvor zu zeigen, daû Gott nicht bloû das Gefçhl zur Wurzel hat, nicht bloû mein Gott ist. Die frçhere Metaphysik hat daher immer zuerst bewiesen, daû ein Gott ist und nicht bloû ein

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Was so entsteht, nennt Hegel den »in sich entzweite[n] Geist« (66/56), den er dann auch ± fast wie in einer Konfession ± schildern kann: »Ich erhebe mich denkend zum Absoluten çber alles Endliche und bin unendliches Bewuûtseyn und zugleich bin ich endliches Selbstbewuûtseyn (¼). Beide Seiten suchen sich und fliehen sich. (¼) Ich bin und es ist in mir fçr mich dieser Widerstreit und diese Einigung«. Immer geht es also um den Gegensatz zwischen endlich und unendlich in mir, und weil dieser Gegensatz als »Bewuûtsein« vorhanden ist, darum kann er ihn auch als »endliches Bewuûtsein gegen mein Denken als unendliches« setzen. Nahezu reformatorisch klingt es dann, wenn es heiût: »Ich bin nicht einer der im Kampf Begriffenen, sondern Ich bin beide Kåmpfende und der Kampf selbst. Ich bin das Feuer und Wasser, die sich berçhren, und die Berçhrung und Einheit dessen, was sich schlechthin flieht« (80/68 f.). 21 Diesen Kampf hat die Philosophie zu bestehen, diesen Zwiespalt hat sie zu versæhnen. Hegel ist offenbar der Meinung gewesen, daû die Aufklårung eine ganz neue Situation herbeigefçhrt hat, eine Fragestellung, die man nicht einfach mit den Mitteln der Reformation beantworten bzw. læsen kann. Die Aufklårung hat den Verstand und die Vernunft entzweit, sie hat den Menschen an seine Endlichkeit gewiesen, aber sie hat doch nicht hindern kænnen, daû das Denken »unendlich« ist, daû es nach dem »Sein«, nach dem »Absoluten« fragt und nicht zufrieden ist, als bis es das »Absolute« findet. Diese Entzweiung des Bewuûtseins in unserem Leben kann aber nicht mehr die Theologie versæhnen. Die Theologie verlagert die Versæhnung einseitig ins Subjekt, låût den Gegensatz im Objekt bestehen, dort bleibt eigentlich das Axiom der Unerkennbarkeit. »Frçher hatte der Geist darin sein hæchstes Interesse, von Gott zu wissen und seine Natur zu ergrçnden (¼). Unsere Zeit hat dieû Bedçrfniû, die Mçhen und Kåmpfe desselben beschwichtigt, wir sind damit fertig geworden, und es ist abgethan. Was Tacitus von den alten Deutschen sagte, daû sie securi adversus deos [gleichgçltig den Gættern gegençber] gewesen, das sind wir in Rçcksicht des Erkennens wieder geworden: securi adversus deum [gleichgçltig Gott gegençber]«! (52 f./43)

Gefçhl von Gott« (68/57). Hier wird nicht nur Schleiermachers Theorie von der Religion nach einer jedenfalls faktischen Auswirkung hin beleuchtet, sondern das scheint nun auch den reformatorischen Ansatz selbst zu treffen, das lutherische pro me kænnte vielleicht bereits der Schnitt sein, der das Band zwischen Glauben und Wissen zertrennt. 21. Handschriftliche Ergånzung Iwands: Der sich entfremdete Geist: die Aufklårung! (Vgl. G. W. F. Hegel, Phånomenologie des Geistes, VI. Der Geist, B.I.II).

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Hegel hat damit einige sehr ernsthafte Fragen aufgeworfen: 1. Ist Gotteserkenntnis nicht ebenso wichtig und wesentlich als das Tun seines Willens, also das ethische Handeln? Warum nehmen wir das Nichtwissen um Gott als eine Selbstverståndlichkeit hin, wåhrend wir das Handeln wider seinen Willen als unerlaubt und von dem Staate zu strafen ansehen? Hat wirklich die Aufklårung darin etwas fertiggebracht, was bisher keine Zeit, auch keine heidnische Epoche fertigbrachte, nåmlich den Versuch zu machen, eine Ethik ohne Erkenntnis aufzustellen? Wie wenn man einem Blinden sagt, er solle gehen ± weil er ja noch seine Beine habe? Ist nicht das in der Tat ein biblischer Gedanke, daû das Nichtwissen um Gott Schuld ist? 2. Die Frage von Glauben und Wissen ist keine rein theologische Frage. 22 Wenn diese Frage nur gelæst wird durch Bezug auf die Person, also das glaubende Subjekt, so ist wirklich zu fragen, ob nicht derartige Læsungen immer aufs neue den Zweifel oder gar die Verzweiflung aus sich heraussetzen mçssen. Denn der Zweifel ist ja nichts anderes als die Entdekkung, daû ich mit meinem Glauben »allein« bin, daû es nur die subjektive Seite des Seins ist 23 , daû die Wirklichkeit »ganz anders« aussehen kænnte. Insofern ist die Versæhnung von Glauben und Wissen ein notwendiger Akt, es ist die Aufrichtung inhaltlicher Gewiûheit. Der Glaube muû sagen kænnen: Christus ist Gottes Sohn, nicht nur, er erscheint mir als Gottes Sohn. Das Ist ± das berçhmte »est« ± enthålt ein eigenes Problem, das sich nicht einfach von der Seite des Subjekts her læsen låût. 24 3. Hegel hat von da aus eine Restauration des Dogmas und eine neue Bestimmung und Definition des Kultus gegeben. Die Theologen haben »Alles gethan, um das Bestimmte der Religion aufzulæsen, indem sie (¼) die Dogmen in den Hintergrund geschoben oder fçr gleichgçltig erklårt haben« (54/44) »Wird das Erkennen der Religion nur historisch gefaût, so mçssen wir die Theologen, die es bis zu dieser Fassung gebracht haben, wie Comtoirbediente eines Handlungshauses ansehen, die nur (¼) fçr Andere handeln, ohne eigenes Vermægen zu bekommen; sie erhalten zwar Salair; ihr Verdienst ist aber nur zu dienen und zu registriren, was das Vermægen Anderer ist.« (58/48) Hegel behauptet ± und er behauptet es, wo er steht und geht, ob er nun Logik oder Religionsphilosophie treibt, ob es um Philosophie geht oder um Glauben ±, daû Denken Einswerden ist mit 22. Handschriftliche Notiz Iwands: Kein Zurçck hinter die Aufklårung ± (der mit sich selbst entzweite Geist!) 23. Handschriftliche Notiz Iwands: Grenze des pro me! 24. Handschriftliche Notiz Iwands: Dogma! Menschwerdung Gottes! Aber Verkçndigung!

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dem Gedachten, absolutes Wissen, wie er das nennt, daû also der Gedanke nicht mehr mein oder eines anderen Gedanke ist, sondern ± die Wahrheit, das An-und-fçr-sich eines Gegenstandes, sein Begriff. Wer aber lediglich historisch in der hæchsten Frage verfåhrt, die es gibt, in der Religion, der kann ja nicht von Gott wissen. »So wenig der Blinde das Gemålde sieht, wenn er auch den Rahmen betastet, so wenig wissen sie von Gott. Sie wissen nur, wie ein bestimmtes Dogma von diesem oder jenem Concil festgesetzt ist, welche Grçnde die Beisitzer eines solchen Concils dazu hatten, wie diese oder jene Ansicht zur Herrschaft kam. (¼) Sie erzåhlen uns viel von der Geschichte des Malers eines Gemåldes, von dem Schicksal des Gemåldes selber, welchen Preis es zu verschiedenen Zeiten hatte, in welche Hånde es gekommen ist, aber vom Gemålde selbst lassen sie uns nichts sehen.« (58 f./48 f.) Das will Hegel, er will das Gemålde selbst wieder zu Gesicht bringe, er will das Wesentliche herausstellen. Und dieses Wesentliche in der Religion ist das Dogma. Die Philosophie vertritt sozusagen den auf das Dogmatische gerichteten Punkt in der Theologie, die Verachtung der Philosophie als solcher muû ± so meint er ± sich darin råchen, daû es zu einem Verfall der Dogmatik kommt. 4. Genauso baut er auch eine Begrçndung des Kultus auf. Hegel gibt fçr den Kultus folgende Begrçndung: Der Kultus ist »das positive Gefçhl des Theilhabens, der Theilnahme an jenem Absoluten und die Einheit mit demselben sich auch wirklich zu geben, diese Aufhebung der Entzweiung macht die Sphåre des Cultus aus.« Kultus ist ein »die Innerlichkeit, wie die åuûerliche Erscheinung umspannende[s] Thun« (83/72). Hegel prågt das tiefe Wort: »Erst wenn die Religion wirklich Verhåltniû ist, (¼) dann ist der Cultus als Aufhebung des Entzweiten wirklich gestaltet und lebendiger Proceû.« (85/74) Das dçrfte ohne Frage eine der tiefsten Definitionen sein, die der Begriff des Kultischen erfåhrt. Er wird davon abhångig gemacht, daû es im Gottesdienst ein Gegençber gibt, ein Verhåltnis, wie Hegel sagt; freilich setzt er gleich hinzu: den Unterschied des Bewuûtseins ± und nun wissen wir doch nicht, ob er damit nicht nur den Unterschied im endlichunendlichen Bewuûtsein meiner selbst meint, sondern ob er auch einen anderen Unterschied ± etwa wie den in Jesaja 6 ± meinen kann? Aber auf jeden Fall erlæst Hegel auch den Begriff des Kultus aus seinem rein Formelhaften, gibt ihm wieder einen echten Bezug ± nåmlich zugleich den, in dem »das Wissen von der Welt zur Erscheinung kommt. (¼) Denn auch das weltliche Leben (¼) hat jenes substantielle Bewuûtseyn zu seiner Grundlage (¼). In diesem Ûbergange in die Welt erscheint die Religion als Moralitåt in Bezug auf den Staat« (86/74). Hier haben wir sofort das Inein-

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ander von Kirche und Staat, die sich im Kultus und in der Moralitåt unterscheiden und doch wiederum eins sind, wenn anders gerade die Versæhnung (oder auch Vermittlung) der beiden Reiche immer wieder Hegels Anliegen ist. Das Ganze aber låût sich in den Satz zusammenfassen, der sich in der Religionsphilosophie findet: »daû es nicht zweierlei Vernunft und zweierlei Geist geben kann, nicht eine gættliche Vernunft und eine menschliche, nicht einen gættlichen Geist und einen menschlichen, die schlechthin verschieden wåren. Die menschliche Vernunft, das Bewuûtseyn seines Wesens, ist Vernunft çberhaupt, das Gættliche im Menschen und der Geist, insofern er Geist Gottes ist, ist nicht ein Geist jenseits der Sterne, jenseits der Welt, sondern Gott ist gegenwårtig, allgegenwårtig und als Geist in allen Geistern. Gott ist ein lebendiger Gott der wirksam ist und thåtig.« (50/40) Hier ist der Geist das, was sonst der Sohn ist: der Offenbarer und der Versæhner.

1.4.2 Der Selbstbewegung des »Gegenstandes« folgen

Das Zweite ist die Methode. Wenn Hegel gemeint hat, daû seine Philosophie Ziel und Ende aller Philosophie sei, daû hier nicht eine bestimmte Philosophie vorgetragen werde, sondern Philosophie schlechthin, philosophische Existenz behauptet wird ± gegençber der nicht philosophischen, ans Endliche verlorenen, mit dem Stoff von Wissen beschåftigten Existenz ±, dann liegt das an der Methode. Die Methode Hegels ist sehr einfach ± aber sie ist scheinbar unwiderleglich. Sie ist die Selbstbewegung des »Gegenstandes«, und da dieser Gegenstand Gott ist ± bzw. Geist oder Idee, oder wie man es nennen will ±, so ist die Methode das Gesetz des Lebens dieser Idee. Denn dieser Dreitakt »ist der Rhythmus, das reine, ewige Leben des Geistes selbst und håtte er diese Bewegung nicht, wåre er das Todte. Der Geist ist, sich zum Gegenstande zu haben, das ist seine Manifestation; aber zunåchst ist er das Verhåltniû der Gegenståndlichkeit und in diesem Verhåltnisse ist er Endliches. Das Dritte ist, daû er sich in der Weise Gegenstand ist, daû er in dem Gegenstande mit sich versæhnt, bei sich selbst und damit zu seiner Freiheit gekommen ist: denn Freiheit ist, bei sich selbst zu seyn.« (76/65) Øhnlich spricht er von der Logik als den drei Teilen des unmittelbaren, des reflektierenden und des aus der Reflexion in sich gegangenen und in seiner Realitåt bei sich selbst seienden Gedankens. Hegel will also darauf hinaus, daû das Denken und das Gedachte eins sind, das ist ihm das absolute Wissen. Aber dieses Einssein ist immer nur

1. Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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im Werden, ist Intention in dem ganzen Prozeû. Darum ist auch die Wahrheit bei ihm Prozeû, Auseinandersetzung (Ur-teil) und Versæhnung der Differenz in der Einsicht in das Bei-sich-selber-Sein. Ohne daû es zu der Differenz kåme, ohne daû Ich und Gegenstand sich als fremd gegençbertråten, kåme es nie zu der Einsicht. Die Einsicht ist also nichts anderes als das Unmittelbare, aber sie ist die Unmittelbarkeit, aufgehoben im Bewuûtsein des Geistes. Hat Hegel damit ein echtes, ein wirkliches Gegençber erreicht? Muû nicht das Endliche 25 , die Welt, der Gegen-stand, nur dazu dienen, die Reflexion zu ermæglichen, das Bewuûtsein zum Ich-Bewuûtsein zu machen, um so es dann wieder in einem hæheren Bewuûtsein aufzuheben? Methode bei Hegel ist Weg des Denkens, um immer Denken zu bleiben, um gerade nie auf ein »auûen«, auf ein vom Denken nicht Aufzulæsendes zu stoûen. Gott ist wesentlich Gedanke! Alles verwandelt sich in den Gedanken. Kant mit seiner Bestimmung von Gegenståndlichkeit erscheint demgegençber als ein primitiver Flachlandbewohner, der nicht begriffen hat, wie hoch man steigen kann. »Der kantische Kriticismus ist daher nur eine Philosophie der Subjectivitåt (¼). Sie bleibt in dem Endlichen und Unwahren stehen, nemlich in einem Erkennen, das nur subjectiv, eine Aeuûerlichkeit und ein Ding-an-sich zu seiner Bedingung hat, welches die Abstraction des Formlosen, ein leeres Jenseits ist.« 26 Also ist der Kantische Empirismus, die Einschrånkung der Erkenntnis, nicht ein Ende, kein geschlossenes Tor, kein non plus ultra. Hegel stæût das Tor auf, vor dem mit niedergeschlagenem Auge sozusagen die ganze Wissenschaft zum Stocken gekommen ist ± und låût jedermann in die endlose Bewegung geraten, låût ihn in die blendende Helle sehen, die uns da entgegenschlågt. Vorwårts geht der Weg. Was heiût schon Endlichkeit? Endlichkeit ist nur ein Takt im Ganzen, ohne Endlichkeit freilich kein Wissen des Geistes um seine Unendlichkeit ± aber nur so, nur dazu ist sie gesetzt. Methode heiût bei Hegel immer Aufhebung, Vermittlung, Prozeû, Geschehen, Rhythmus, Leben. Gibt es eine Beziehung der Theologie zur Methode? Was ist theologia crucis (Kreuzestheologie)? Was ist theologia gloriae (Theologie der Herrlichkeit)? Was heiût natçrliche Theologie? Wenn schon, mçûte sich dann nicht mit Hegel alle theologische Problematik læsen lassen? Methode ist 25. Handschriftliche Notiz Iwands: Problem der Endlichkeit. 26. G. W. F. Hegel, Enzyklopådie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 33, SW Bd. 6, Stuttgart 1927, 46. Die Stelle findet sich nicht in der Theorie-Werkausgabe.

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Kapitel 3: Das Dogma

die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie, heiût das: In der Methode entscheidet sich die wissenschaftliche Bedeutung der theologischen Aussage? Mçssen wir uns die Methode von der Wissenschaft geben lassen? Ist die Offenbarung auch Vorstellung im Verhåltnis zum Begriff? Nimmt die Theologie teil an Hegels Angebot des absoluten Wissens? Gibt es in der Schrift selbst Hinweise auf die Methode? Etwa, daû die Liebe erbaut (1Kor 8,1)? Oder daû wir hier stçckweise erkennen (1Kor 13,12)? Oder daû das Wort vom Kreuz als Torheit erscheint (1Kor 1,18)? Oder daû wir den Vater im Sohn erkennen und den Sohn im Vater (Mt 11,27)? Oder daû niemand um Gott weiû als der Geist, der in Gott ist (1Kor 2,11)? Oder daû das Gesetz Erkenntnis bringt, und zwar Erkenntnis der Sçnde (Ræm 3,20)? Und was sagen wir zu dem Dreitakt der Hegelschen Methode? Gibt es dazu eine theologische Entsprechung? Etwa Paradies, Fall und Versæhnung? Sollte sich uns hier das Prinzip der christlichen Dramatik als Bewegung des Geistes repråsentieren? Und wenn ± was heiût es, daû aus einem Inhalt eine Methode gemacht ist, aus dem Kerygma ein Wissen, ein absolutes Wissen? Soll, kann, darf wirklich das Gewuûte und der Wissende in diesem Maûe eins sein; darf das Gewiûheit heiûen, daû der Inhalt des Glaubens und das Subjekt eins sind, beide unendlich? Ist Freiheit wirklich das letzte? Ist nicht bei Hegel die Methode ± fast ± die schon geschehene, ja mehr, die ståndig geschehende Auferstehung?

Anhang: Schleiermacher als Ethiker

I Will man Schleiermacher in seiner eigensten, persænlichsten Bemçhung um seine wissenschaftliche Existenz begreifen, dann muû man ihn sehen, wie er um den Aufbau der Ethik als Wissenschaft ringt, wie er diesem Ziele, einem Wanderer gleich, entgegenstrebt, vor dem der Horizont von Mal zu Mal in neue Ferne rçckt. Geht man die Entwçrfe durch, die er unermçdlich und mit græûter Umsicht unternimmt, angefangen von dem die ganze Ethik, vor allem die griechische, prçfenden Ûberblick, den »Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre« 1 , die er in der Einsamkeit von Stolp fertigstellt, çber die vielen Vorlesungen hinweg, die er seit seinem ersten Kolleg in Halle çber den Tugendbegriff hålt, bis zu jenen Akademievortrågen, die das Reifste sind, das wir von ihm haben, und die das geradezu klassische Format eines groûen Meisters aufweisen ± ich meine jene Vorlesungen çber die Tugend, die Pflicht und das hæchste Gut, die er zwischen 1819 und 1830 in Berlin hålt 2 ±, dann hat man das Empfinden, in die Werkstatt eines Kçnstlers zu treten und ihm hier zuschauen zu dçrfen, wie er, seinem Daimonion folgend, in einer fast faustisch zu nennenden Unruhe das Erreichte wandelt und umformt, zerbricht und neu zusammensetzt, um etwas Ganzes zu schaffen, das ihm als sein Geheimnis und seine Sendung vorschwebt. Dieses Ganze und Neue, dem er nachjagt und das vor ihm wieder in die Ferne weicht, so daû wir nur Fragmente dieses Griffes nach dem Unerreichten vor uns haben ± dies nennt er die Ethik der Zukunft. Die noch nicht gefundene, die der Wissenschaft sich immer noch entziehende Gestalt, die, wenn wir sie ergreifen werden, eine Wendung in unserer gesamten wissenschaftlichen Existenz bedeuten wçrde. 1. 2.

F. Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 18031 / 18342 , WW I, 1-346. F. Schleiermacher, Ûber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (1819), WW I, 349-395; Versuch çber die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs (1824); Ûber den Begriff des hæchsten Gutes (1: 1827; 2: 1830), WW I, 446495.

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Anhang: Schleiermacher als Ethiker

Was ist das ± die Ethik, diese Ethik, die er als Aufgabe schaute und die zu vollenden ihm nicht vergænnt war. Vielleicht ist schon damit etwas gesagt, daû es jedenfalls unter keinen Umstånden die Ethik ist, wie sie in Kants kategorischem Imperativ auf den Plan getreten war. Hier sieht Schleiermacher im Gegenteil sich einen Abgrund auftun, der geeignet sein kænnte, alles bisher Erreichte in Frage zu stellen. Hier zerfållt die Einheit der Wissenschaft, und das heiût fçr ihn: die Einheit des Seins. Und man wird wohl nicht irregehen, wenn man sagt, jenes Bemçhen Schleiermachers kænnte geradezu auf die Formel gebracht werden: es gilt, diesen Riû zu schlieûen, diesen Abweg nicht måchtig werden zu lassen fçr die kçnftige Entwicklung. Nein, zwei andere Sterne sind es, die ihm voranleuchten, Plato und Spinoza ± hier sieht er sein Anliegen begriffen und in Gestalt gebracht: Gott und Welt nicht zu trennen und die Ethik zu erlæsen aus der Beziehungslosigkeit, in die sie durch jede Trennung von Natçrlichem und Geistigem geraten muû. So wie wir betrachtend die Gesetze der Natur finden und uns ihnen in der Freiheit des Erkennenden unterstellen ± warum sollte es denn nicht auch åhnliche Gesetze des geistigen, des geschichtlichen Daseins der Menschen geben, die ± erst einmal begriffen und zur Grundlage der Bildung gemacht ± der Menschheit den Weg weisen, der Natur ihr Gegenstçck an die Seite zu stellen, wonach diese im tiefsten verlangt. »Nur fçr den gibt's Freiheit und Unendlichkeit, der weiû, was Welt ist und was Mensch, der klar das groûe Råtsel, wie beide zu scheiden sind, und wie sie ineinander wirken, sich gelæst: ein Råtsel, in dessen alten Finsternissen tausend noch untergehn, und sklavisch, weil das eigene Licht verloschen, dem trçgerischsten Scheine folgen mçssen. Was sie Welt nennen, ist mir Mensch, was sie Mensch nennen, ist mir Welt. Welt ihnen stets das erste, und der Geist ein kleiner Gast nur auf der Welt, nicht sicher seines Orts und seiner Kråfte. Mir ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt erkenne, ist sein schænstes Werk, sein selbstgeschaffener Spiegel.« 3 »Was Welt zu nennen ich wçrdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluû auf einander, ihr gegenseitiges Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit.« (17) »Der Tanz der Horen (¼) geht (¼) melodisch und harmonisch nach dem Zeitmaû; doch Freiheit spielt die Melodie und wåhlt die Tonart, und all die zarten Ûbergånge sind ihr Werk. Sie gehen aus dem innern Handeln und aus dem eignen Sinn des Menschen selbst hervor.« (18 f.) Wir spçren, bis in die Sprache hinein ± dies ist ein Wort aus den Monologen, jener Morgengabe zum Neujahrstage des Jahres 3.

F. Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800, WW IV, 408. Seitenangaben nach der Erstausgabe im Text.

Anhang: Schleiermacher als Ethiker

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1800 ±: Es ist eine Vision, die ihn leitet und die wie ein Tor zu einer neuen Welt sich vor ihm auftut. Er ist »ausgewandert aus dem Gebiet der Zeit« (19), er hat gelernt, zu unterscheiden zwischen dem »Inneren und dem Øuûeren«, nicht das Tun gestaltet den Menschen, sondern dieser sich in allem Tun, ohne daû er sich daran verlære. »Im Innern ist alles Eins, ein jedes Handeln ist Ergånzung nur zum andern (¼) Drum hebt auch weit çber das Endliche, das in bestimmter Folge und festen Schranken sich çbersehen låût, die Selbstanschauung 4 mich hinaus.« (23 f.) Das groûe Wunder, daû ich selbst ± mir immer gleich ± mein Tun begleite, daû ich einen anderen Halt gefunden habe, an den ich mich halte, als es die Spur des Weges ist, den ich hinter mir lasse ± das begeistert ihn. »Es flieût mein irdisch Tun im Strom der Zeit, es wandeln sich Erkenntnis und Gefçhle, und ich vermag nicht eines fest zu halten; es fliegt vorbei der Schauplatz, den ich spielend mir gebildet, und auf der sichern Welle fçhrt der Strom mich Neuem stets entgegen. So oft ich aber ins innere Selbst den Blick zurçckwende, bin ich zugleich im Reich der Ewigkeit; ich schaue des Geistes Handeln 5 an, das keine Welt verwandeln, und keine Zeit zerstæren kann, das selbst erst Welt und Zeit erschafft.« Und weiter: »Immer mæchte das gættliche Leben fçhren, wer es einmal gekostet hat« (25 f.). Er bekennt, er habe lange Zeit gemeint, »es gebe nur ein Rechtes fçr jeden Fall, es mçsse das Handeln in Allen dasselbe sein, und nur, weil jedem seine eigne Lage, sein eigner Ort gegeben sei, unterscheide sich einer vom andern«. Dann wåre freilich der Mensch, der einzelne, kein »eigentçmlich gebildet Wesen, sondern nur ein Element und çberall derselbe« (38). Ein »heller Augenblick« (36), so gesteht er, eine Offenbarung, hat ihn erlæst aus diesem Wahn, »von innen kam die hohe Offenbarung, durch keine Tugendlehren und kein System der Weisen hervorgebracht« (35), und »es læste die dunkeln Zweifel die Freiheit durch die Tat«. (36) Es ist bezeichnend, daû er damit auch ± fast kænnte man an Luther hierbei denken ± bekennt: »Was sie Gewissen nennen, kenne ich nicht mehr«, er strebt nun nicht mehr »nach der und jener Tugend«, sieht das Sittliche nicht mehr in »dieser oder jener Handlung«, sondern »in stiller Ruhe« findet er die Gewiûheit, daû ihn nichts hinabstçrzen kænnte »von der Hæhe der Vernunft zur Tierheit« (36 f.). Das ist die Stunde, »da ich die Menschheit fand« (35), »ich denke mich in tausend Bildungen hinein, um desto deutlicher die eigne zu erblicken« (42). Fortan kann er nicht mehr »wie der Kçnstler, einsam bilden; es trock4. 5.

Hervorhebung von Iwand. Hervorhebung von Iwand.

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Anhang: Schleiermacher als Ethiker

nen mir in der Einsamkeit die Såfte des Gemçts, es stocket der Gedanken Lauf« (47), denn nur in der »Anschauung des weiten Gebietes der Menschheit« (49) findet jeder seinen Platz. »Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muû der Sinn geæffnet sein fçr alles, was er nicht ist. Auch hier im Gebiet der hæchsten Sittlichkeit regiert dieselbe genaue Verbindung zwischen Tun und Schauen.« (50) Es mag gençgen, diese Stellen zu zitieren, sie lassen klar erkennen, was hier geschehen ist und was mit ihm geschehen ist: Die Ethik ist zerbrochen, die wie ein allgemeines Gesetz das Dasein der Menschen auf einen Nenner bringen mæchte, weil sie nur vom Øuûeren her die Mannigfaltigkeit der Individuen zu begreifen und zu bestimmen vermag. Aber »im Innern ist ein Universum auch« 6 ± so meint der wiedergeborene, der die Menschheit in sich entdeckt habende Schleiermacher, kein Wunder, daû er nun bestrebt sein muû, sie da anzuschauen, wo sie anzuschauen ist ± in der Geschichte. »Daher ist die Ethik zu keiner Zeit besser oder weiter fortgeschritten als die Geschichte, und es giebt einen wesentlichen und fortlaufenden Parallelismus beider.« 7 Und wenn er darum die Ethik die Wissenschaft von den Geschichtsprinzipien nennt, so meint er eben dies: daû so wie jeder Mensch ein eigenes Gesetz hat, dem er nachgeht und das er nicht als ein fremdes, als ein Joch, sondern als seine »Eigentlichkeit« empfindet, als das ihm »Eigentçmliche«, wie Schleiermacher gern sagt, so mçssen doch wohl auch die gewachsenen Gemeinschaften der Menschen ihre Sitte haben oder wenigstens die Anlage zu einer solchen. Darum darf sich die Ethik nicht wie ein Panzer aus Allgemeinbegriffen um das Leben legen, dasselbe verkçmmernd und vergewaltigend, sondern sie sollte sich anbieten wie ein Kleid, das jene Bewegung, die in ihnen liegt, zur Darstellung, zur »Anschauung« bringt. Nun aber so, daû mit dieser Anschaulichkeit das Eigentliche dieses Lebens erfaûbar wird in seiner geistigen Gestalt. Darum ist sie die Wissenschaft von den Prinzipien, den geistig-bewegenden Kråften, die in der Geschichte wirken. »Der Stil der Ethik ist der historische. Denn nur wo Erscheinung und Gesetz als dasselbe gegeben ist, ist eine wissenschaftliche Anschauung. (¼) An die Spitze wird gesetzt der Umriû: Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft.« 8 Ethik im Sinne Schleiermachers setzt also immer schon etwas voraus, was geschehen ist, damit anderes geschehen kann. Das erste und Entscheidende kann 6. 7. 8.

J. W. Goethe, Spruch-Abteilung »Gott, Gemçt und Welt« (Vers 2) und Proæmium von »Gott und Welt« (Vers 2), Goethes Werke Bd. I, 357. F. Schleiermacher, Ethik 1816, WW II, 499 (§ 60). F. Schleiermacher, Brouillon 1805/06, WW II, 87.

Anhang: Schleiermacher als Ethiker

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nicht postuliert werden, es muû immer schon als gegeben hingenommen werden: die Beseelung, also jenes Phånomen, das eintritt, wenn die Vernunft menschlich wird, wenn sie sich im Menschen mit der Natur berçhrt. »Die Ethik als Darstellung des Zusammenseins der Vernunft mit der Natur ist die Wissenschaft der Geschichte.« 9 Sie »erklårt« die »festen Formen des sittlichen Daseins, Familie, Staat etc. als auch die flieûenden Funktionen« ± darunter versteht Schleiermacher das »sittliche Vermægen« ± »und reduziert beide aufeinander« (251 § 52). Sie ist »Anschauung der Natur gewordenen Vernunft in einer Mehrheit von Funktionen« (251 § 53). Der Mensch muû also vorgegeben sein, und zwar so, daû hier das »Handeln der Vernunft in der Persænlichkeit unter der Bedingung von Raum und Zeit gesetzt ist« (255 § 82). Die »Darstellung der vollendeten Einigung der Vernunft mit der Natur fållt nicht in die Ethik« (250 § 40), denn damit wçrde ja der Gegensatz und somit alles Werden aufgehoben sein.

II Das ist, wenn ich recht sehen kann, die groûe unerfçllte Mæglichkeit, die Schleiermacher vor sich sieht, wenn er von Ethik spricht. Es ist zugleich der Grund, warum er in Kant und seiner imperativischen, das Sollen und das Sein entgegensetzenden Ethik keinen Fortschritt fçr diese Wissenschaft zu sehen vermag. Denn damit wçrde die Ethik herausgenommen aus der Geschichte. Wie Hegel in seiner Lehre von der Vernunft als Entfaltung und Ûberwindung des Gegensatzes von Sein und Nicht-Sein zur Geschichte vorzustoûen sucht, und zwar von der Logik aus, so sehen wir Schleiermacher in derselben Richtung bemçht, den Kantianismus zu çberwinden, aber auf dem Gebiete des Ethischen. Die bloû normative Ethik ist ihm ein Greuel, sie steht mit leeren Forderungen, nur das Nicht-Sein entfaltend, vor der Fçlle des reichen Lebens ± wie ein die Verzweiflung an diesem nåhrendes Gesetz ±, sie verwechselt das ethische Gesetz mit dem mathematischen und vergiût somit, daû alle ihre Postulate nur relative Geltung haben, relativ zu dem Leben selbst, das sie als Anschauung vorauszusetzen hat. »Da es keine reale Antivernunft geben kann, in welchem Falle es auch einen Antigott geben mçûte, so kann der Gegensatz zwischen 9.

F. Schleiermacher, Einleitung 1812/13, WW II, 251 § 50. Seiten- und Paragraphenangaben im Text.

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Anhang: Schleiermacher als Ethiker

gut und bæse nichts anderes ausdrçcken als den positiven und negativen Faktor in dem Prozeû der werdenden Einigung.« (10 § 47) Alles Gegensåtzliche also im Prozesse des Werdens zu verstehen, das wåre die eigentlich ethische Aufgabe, und zwar darum, weil mit dem menschlichen Leben selbst eine Verheiûung gegeben ist, die das ethische Denken zu respektieren hat, wenn anders es den Anspruch erhebt, ethisch zu sein. »Die Vernunft wird in der Natur gefunden und die Ethik stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprçnglich hineinkåme!« (9 § 39) Das ist der entscheidende Satz, mit dem sich Schleiermacher absetzt von der Kantisch-Fichteschen Ethik, die die Welt nur »als Material meiner Pflicht« 10 ansieht. Damit wird zweierlei erreicht: einmal, daû die Ethik im Glauben voraussetzt, was sie dann, erklårend, entfaltet ± und daû damit in der wissenschaftlichen Methode der Bruch mit der Physik aufgehoben ist. Die Zuordnung von Physik und Ethik ist Schleiermacher nicht etwa nur ein methodischer Kunstgriff, sondern ein auf die Totalitåt des Wissens und dessen dialektische Methode bezogenes Schema. Er ist der einzige, der ± nach den Griechen und ihnen darin nacheifernd ± das versucht hat. »So gewiû sie (die Ethik) wissenschaftliche Darstellung des menschlichen Handelns ist, so gewiû ist sie die ganze Eine Seite der Philosophie, der nur noch Eine andere gegençber steht« 11 , und weiter, mit noch schårferer Beziehung aufeinander: »Beide Seiten stehen in einem Verhåltnis gegenseitiger Abhångigkeit vermittelst der gleichen Notwendigkeit der Gesinnung (!) und der Wissenschaftlichkeit; kænnen sich also nur gemeinschaftlich und parallel der Vollkommenheit nåhern.« 12 Schleiermacher meint, der Riû zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ± mag er auch noch so tiefsinnig begrçndet sein ± låût sich in der hæchsten Dialektik des Seins nicht halten. Beide, Physik und Ethik, haben ein gemeinsames wissenschaftliches Schicksal, sie blçhen auf und verfallen wie die beiden Verzweigungen ein und desselben Stammes, aber was ist das fçr eine Einheit, die sie beide in ihrer Gegensåtzlichkeit aneinander bindet? Die also auch als eine gemeinsame Wurzel das Sittengesetz und das Naturgesetz tragen mçûte? 13 Fragen wir hier weiter, so bekommen wir pråziseste Antwort. 10. J. G. Fichte, Ûber den Grund unseres Glaubens an eine gættliche Weltregierung (1798), in: ders., Såmtliche Werke (hg. von J. H. Fichte), V, 184 f. Vgl. auch Appellation an das Publikum (1798), in: ders., Die Schriften J. G. Fichtes zum Atheismusstreit, »Das versinnlichte Materiale unserer Pflicht«. Vgl. NW 2, 23. 11. F. Schleiermacher, Brouillon 1805/06, 86. Hervorhebung von Iwand. 12. Ebd., 87. 13. Vgl. die Akademievorlesung: Ûber den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz von 1825, WW I, 396-416.

Anhang: Schleiermacher als Ethiker

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Schleiermacher hat gesehen, daû weder die Physik ± so nennt er das ganze Gebiet der Naturwissenschaft ± noch die Ethik ± als die Erkenntnis und Beschreibung der Prinzipien, nach denen die in Erscheinung tretende, die empirische Geschichte begriffen wird ± einen befriedigenden Wissenschaftsbegriff von sich aus bilden kænnen, den sie der anderen Seite aufzwingen, sondern die Wissenschaft muû beide umfassen, und aus ihr mçssen beide gegensåtzlichen Seiten gleichmåûig hervorgehen. »Da das System der Aktionen fçr uns nur da ist vermittelst der organischen Affektionen, also vermittelst des bewegten Bewuûtseins, so entsteht von selbst ein Gegensatz zwischen denjenigen Aktionen, wo das Bewuûtsein nur leidend, und denen, worin es tåtig erscheint. Jene bilden im Umfang des empirischen das Gebiet des physischen, diese das des ethischen Wissens«, heiût es in der Dialektik (§ 211). 14 Wir kennen ja die Unterscheidung zwischen dem »Sichselbstsetzen« und dem »Sichselbstnichtsogesetzthaben«, die Schleiermacher in jenem Paragraphen der Glaubenslehre zugrunde legt, der das »Wesen der Fræmmigkeit« ermittelt, eben dies ist hier gemeint. Da, wo es sich um das »Sichselbstnichtsogesetzthaben« handelt, ist das Bewuûtsein »leidend«, und wo es um das »Sichselbstsetzen« geht, erscheint es tåtig. Und ebenso wird von hier aus jener Einschub verståndlich, der in der Einleitung zur Glaubenslehre sich findet: »Unter Ethik wird hier verstanden die der Naturwissenschaft gleichlaufende spekulative Darstellung der Vernunft in ihrer Gesamtwirksamkeit.« 15 Wir wissen nun, was das heiût: Gesamtwirksamkeit kann nur bedeuten Geschichte als Inbegriff aller Mæglichkeiten, wo Menschen auf sich und andere wirken. Denn Wirklichkeit, Dynamis, bedeutet ihm dies, daû hier ein endliches Sein unter die Potenz der Vernunft tritt, daû es ihr Organ wird. So werden wir nun auch jenen aufschluûreichen Paragraphen aufnehmen kænnen, der sich in der Ethikvorlesung von 1816 findet: »Der speculative Ausdruck des endlichen Seins unter der Potenz der Natur ist die Physik oder Naturwissenschaft, der empirische ist die Naturkunde, eben so der speculative Ausdruck des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunft ist die Ethik oder Geschichtswissenschaft, der empirische ist die Geschichtskunde« 16 und ± wie nur Schleiermacher die Beziehungen knçpfen und læsen kann ± heiût es dann geradezu verblçffend einfach: »Da die Ethik von der Physik nur [!] durch 14. F. Schleiermacher, Dialektik 1814/15, hg. von A. Arndt, Hamburg 1988, Felix Meiners Philos. Bibliothek Bd. 387, 61. 15. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsåtzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/1831), Bd. I, Einleitung Glaubenslehre, 6 (§ 2, Zusatz 2). 16. F. Schleiermacher, Ethik 1816, 496 f. § 46 (Hervorhebung Iwand).

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Anhang: Schleiermacher als Ethiker

den Stoff, das ausgedrçckte Sein verschieden ist, so muû sie ihr gleich sein der Form nach [also in der Weise des gesetzmåûigen Erkennens!], da sie der Geschichte nur entgegengesetzt ist durch die Art der Betrachtung [sie fragt nach den Prinzipien derselben], so muû sie ihr gleich sein in dem Stoff.« 17 Im Stoff ± das heiût hier aber: endliches Sein unter der Potenz der Vernunft. Im Menschen begegnet uns ein von der Vernunft beseeltes und insofern immer unter ihrer Potenz stehendes Sein. Machen wir uns erst einmal klar, was damit gewonnen ist: Hier tritt nun nicht mehr die Persænlichkeit, wie in der nachschleiermacherschen Theologie, gleichsam aus dem Haupte des kategorischen Imperativs entsprungen (der kategorische Imperativ kann beim besten Willen aber nicht schæpferisch tåtig sein!), auf den Plan der ethischen Wissenschaft, ohne daû wir jemals erfahren, wie nun dieses Sein ± das Sein des Menschen ± mit allem anderen Seienden zusammenhångt, sondern hier ist jene Erschleichung vermieden und sowohl das Gegençber des Menschen als eines vernçnftigen Wesens zu allem Seienden als auch der Zusammenhang dieses »endlichen« Wesens Mensch mit der Natur gewahrt. Es wird aufgeråumt mit der nun in der Tat auch von der Schæpfungslehre her unstatthaften praesumptio [Voraussetzung], die erst çber Kant und Fichte in die theologische Ethik eingedrungen ist, als wçrde damit ein »ursprçngliches Hineintreten der Vernunft in die Natur« 18 ausgedrçckt. Im Gegenteil, Vernunft und Natur sind ± im hæchsten Sein ± nicht getrennt, damit will Schleiermacher doch wohl sagen, daû ± wie es in der Dialektik heiût ± »wir (¼) nicht befugt (¼) sind (¼), ein anderes Verhåltnis zwischen Gott und der Welt zu setzen, als das des Zusammenseins beider«, 19 er meint: Weder kænnen wir einen Gegensatz beider »konstruieren«, wie das Schelling tat mit seiner Theorie von dem Abfall des endlichen Seins, noch eine Identitåt, wie das in der spinozistischen Formel Deus sive natura [Gott oder, d. h. gleich Natur] nahe lag. Beide mçssen vermieden werden, »wir schweben also zwischen dem einen und dem andern«. 20 Der Satz çber dies Ineinander von Gott und Welt wird mehr als Abgrenzung gegen zwei Irrtçmer denn als positive Aussage zu verstehen sein. Als positive Aussage hieûe er ± und auch das wagt Schleiermacher, man kænnte fast meinen, um der Wissenschaft den Spiegel vorzuhalten, damit sie nicht vergesse, daû alle ihre Gegensåtze nur relativ sind: »Wie im hæchsten Sein Natur Vernunft ist und 17. 18. 19. 20.

Ebd., 497 § 49. Ebd., 500 § 63. F. Schleiermacher, Dialektik 1814/15, 71 § 224. Ebd., 71 f. § 224.

Anhang: Schleiermacher als Ethiker

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Vernunft Natur, Idee Erscheinung und Erscheinung Idee, und im hæchsten Wissen Ethik Physik und Physik Ethik, das Spekulative zugleich empirisch und das Empirische zugleich spekulativ« ± fast mæchte man dazwischenrufen: bei der Auferstehung der Toten, denn so ist es ja gemeint! ±, »so ist im unvollkommenen und gesonderten die Ethik bedingt durch die Physik und umgekehrt und das Spekulative bedingt durch das Empirische und umgekehrt, also auch die Ethik bedingt durch die Geschichte.« 21 Fragen wir noch einmal zurçck ± so wçrde doch wohl, wenn die Ethik immer nur die eine Seite der Wissenschaft ist, und zwar jene Seite, in der die Vernunft bildend in Erscheinung tritt, jede ethische Aussage, soweit sie wissenschaftlich ist, relativ sein mçssen; auch Gut und Bæse sind, wie wir schon sahen, dieser Relation eines geschichtlich-menschlichen Werdens unterzuordnen. Nicht die absolute, sondern die relative Gerechtigkeit wçrde als Thema in der Ethik auftauchen (wieder kænnen wir leise anmerken, so gerade hat das Luther gemeint!), und darum wird sie nicht normativ, sondern darstellend verfahren mçssen. Das Leben ist immer mehr als die Speise und der Leib immer mehr als die Kleidung (Mt 6,25). Um jenes soll man sich nicht sorgen, damit die Sorge um dieses von uns bewåltigt werde! So brauchen wir nicht gar zu sehr zu erschrecken çber dem, was wir hier bei Schleiermacher lesen, und sollten uns sehr çberlegen, was wir tun, wenn wir auf ihn das schwere Geschçtz der absoluten dogmatischen Begriffe richten. Schleiermacher hat hier kaum das verraten, was er sonntåglich von der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche verkçndigte, jene »durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlæsung«, 22 sondern gemeint haben wird er vielmehr, sie darin zu bezeugen. Und ist es nicht gerade jene apodiktische, jene »summa justitia« [hæchste Gerechtigkeit], die die Ethik verdorben und sie so gnadenlos gemacht hat? Es geht, wenn anders Ethik bedingt ist durch die Geschichte, doch wohl hier immer um unser »Sein in der Zeit« und damit auch um das Sein in unserer Zeit, und niemand soll meinen, daû kommende Zeiten aus unserem Urteilen und Richten, unserem Verdammen und Werten nicht heraushæren werden, wo unsere Bedingtheiten und unsere Bedingungen gelegen haben. Kænnten nicht die Akte, in denen wir çber unsere Zeit und ihre Dekadenz ± wenn auch nur wissenschaftlich ± wenn auch immer unter der Vorgabe eines Kampfes gegen die praesumptio des Menschen ± zu Gericht sitzen, ebenso bezeichnend fçr uns, die vermeintlichen Richter dieser Epoche, sein? Es ist schon keine geringe Sache, 21. F. Schleiermacher, Ethik 1816, 498 § 56. 22. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsåtzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/1831), Bd. I, 67 § 11.

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daû wir bei Schleiermacher von dieser Tendenz, seiner Zeit vom Gesetz Gottes her den Spiegel vorzuhalten, nichts, aber auch gar nichts bemerken. Sollte das vielleicht damit zusammenhången, daû er der Versuchung aus dem Wege gegangen ist, Kants kategorischen Imperativ ± jenes Sollen, das wie ein Racheengel der Verneinung çber dem Leben schwebt ± mit dem Gebot Gottes, das zum Leben gegeben ist, zu verwechseln? Schleiermacher ist nach dem Aufbau seiner Ethik, nach ihrer scheinbar ganz immanenten, ganz auf die Bildung und Kultur bezogenen Form von jedem Kandidaten der Theologie zu widerlegen. Aber es kænnte sein, daû er, der von ferne steht, doch gerechtfertigt herausginge aus dem Tempel (Lk 18,9-14), weil er der Versuchung widerstanden hat, die Erde und das Leben des Menschen auf der Erde dem absoluten Gegensatz preiszugeben, als wåre hier schon Himmel und Hælle. Und ob er ihr vielleicht darum so unbefangen widerstehen konnte, weil der Himmel ihm nahegerçckt war und die Hælle bereits ihre Macht verloren hatte?

III Aber gehen wir nun çber zu dem eigentlichen Aufbau der Ethik, freilich, gerade er ist immer nur Grundriû, immer nur Skizze geblieben, »wiewohl ich schon seit langer Zeit in der Ausarbeitung eines eignen Entwurfs der Sittenlehre begriffen bin, bei welchem es darauf ankommen mçûte, ob und mit welchem Erfolg ich an ihm selbst eine åhnliche Kritik geçbt, wie dort an meinen Vorgångern: so verzægert sich doch die Vollendung dieser Arbeit so sehr çber die Gebçhr ¼« bekennt er, als er am 4. Mårz 1819 seine Vorlesung çber die »wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs« hålt. 23 Und doch ist, abgesehen von allen prachtvollen, von Geist und Einsicht sprçhenden Erkenntnissen und Aperœus eins ganz deutlich: der Gliederbau seiner Ethik. Alle wissenschaftliche Ethik muû ± so meint er ± dreigegliedert sein. Auch darin ist er ein Schçler der Griechen. Sie zerfållt in Tugend-, Pflichten- und Gçterlehre. Man kænnte jeden dieser drei Querschnitte durch das Ganze der Ethik mit Husserl eine »regionale Eidetik«, also eine dem Wesen des zu untersuchenden Gegenstandes angemessene Betrachtungsweise nennen. 23. F. Schleiermacher, Ûber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (1819), WW I, 349.

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Da uns diese Dreigliederung fremd ist ± meines Wissens hat sie nach Schleiermacher keiner mehr versucht, auch die philosophische Ethik ist zwischen Pflichten- und Wertlehre auseinandergetreten ±, mæge dazu zunåchst eine kurze Ûberlegung gestattet sein: In dieser Dreigliederung pråsentiert sich uns in der Tat das gesamte Erbe ethischer Bemçhungen. Auch sittengeschichtlich gesehen ist diese Dreigliederung vollkommen. Jeder dieser drei Begriffe hat in einem bestimmten Ethos seine vorherrschende Rolle gespielt: die Protestanten haben dem Pflichtbegriff den Vorrang gegeben, das beginnt bereits in Melanchthons Ethik und setzt sich bei dem Philosophen Wolff endgçltig durch. Die Tugend- und Gçterlehre hingegen ist hier dem Verdacht eines offenen oder versteckten Eudåmonismus ausgesetzt, wofçr Kant und Fichte beispielhaft werden. Umgekehrt herrscht der Tugendbegriff bis heute in der katholischen Moraltheologie vor, seitdem bereits aus der Zeit des Ambrosius jene heidnischen Tugenden der temperantia, fortitudo, iustitia und prudentia als virtutes cardinales (als Kardinaltugenden: Selbstbeherrschung, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit) in das System der christlichen Moral eingehen. Was bei Aristoteles als ein »Haufe« erscheint, wird jetzt durch die Vorordnung der Liebe geordnet und schlieûlich durch den Hinzutritt von Glaube und Hoffnung zu dem Kranz der sieben Haupttugenden gewunden, wie er dann im thomistischen System erscheint. Hier wiederum ist die tiefere Problematik des Wertgedankens, die im Begriffe des amor sui (der Selbstliebe) liegt, fast çbersehen. Die Gçterlehre ihrerseits begegnet uns, wenn ich recht sehe, als die spezifisch soziale und gesellschaftliche Moral in der angelsåchsischen Ethik und hat dort jenen praktischen Sinn erzeugt, der darauf achtet, daû bei dem sittlichen Handeln auch Formen und Institutionen des von der Person gelæsten allgemeinen Lebens herauskommen. So dçrfen wir feststellen, daû Schleiermacher, obschon rein spekulativ verfahrend, darin die wesentlichsten Typen der abendlåndischen Gesellschaftsordnung getroffen hat, und sehen ihn nun bemçht, aus der Ûberordnung des einen Begriffs çber den anderen ein Neben- und Ineinander herzustellen, bei welchem jedem der drei unentbehrlichen Begriffe sein volles Recht wird. Was Fichte, den er darum lobt, in der Pflichtenlehre durchfçhrt, die vollståndige Entfaltung der ganzen Ethik von diesem einen Begriffe aus, das mæchte er in jedem der drei vollziehen, um zu zeigen, daû sie sich weder ergånzen noch aufheben, sondern in einer Art von Dreieinigkeit das Ganze enthalten unter drei der Ethik wesentlichen Aspekten. Die einfachste Formel ihres Ineinandergreifens finde ich im Brouillon 1805/06: »Es ist darzustellen das ganze organisierte Leben als hæchstes Gut. Die Beseelung in der Vereinzelung der Person als neue Qualitåt, Tu-

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gendlehre. Die Beseelung in der Vereinzelung der Zeit als Vernunftinhalt des Momentes, Pflichtenlehre«. 24 In Tugend und Pflicht erscheint jener Unterschied von neuem, den der junge Schleiermacher als den von Mensch und Welt bezeichnete, die Tugend qualifiziert die handelnde Person als eine in sich gegrçndete, er sagt »beseelte«, die Pflicht umgekehrt bestimmt das Handeln in der »Zeit«, also das Flieûende, Vorçbergehende, als »Vernunftinhalt des Moments«; in dem Tugendbegriff wird die »eine, sich aber mannigfach verzweigende, dem Menschen als Handelnden einwohnende Kraft« 25 dargestellt ± denn die Tugend ist ja immer nur eine ±, im Pflichtbegriff hingegen die sittliche Handlung selbst. So ist die Pflichtenlehre die »Darstellung des ethischen Prozesses als Bewegung, und die Einheit also der Moment und die That«. 26 Das Werk ist immer, da es nur im Moment seine Einheit hat, Zeichen und das sittliche Handeln insofern symbolisierend, wåhrend der tugendhaft Handelnde dabei als Organon der Vernunft in Erscheinung tritt. Dieses Ineinander von organisierender ± wir wçrden vielleicht sagen bildender, d. h. sich ein Organon bildender ± und symbolisierender, das heiût die rohe Natur dem Geist einbildender Tåtigkeit ist das untrennbare Zusammenwirken von Tugend und Pflicht. Denn keine ist ohne die andere. Nur handelnd kann die Tugend den Menschen sich zum Werkzeug schaffen, und nur da, wo sie Motiv des Handelns ist, wird dieses den Charakter des Pflichtgemåûen aufweisen. Auch hier wieder wçrde man Schleiermacher schwerlich verstehen, wenn man nicht berçcksichtigte, daû dahinter das reformatorische Schema von Person und Werk steht, und zwar so, daû das Gut-Sein der Person nicht ein Ergebnis ihres Wirkens ist, sondern umgekehrt: die Gçte ihres Wirkens ein Zeichen des Gutseins der Person. »Denn an der Frucht erkennt man den Baum« (Mt 12,33), nur daû Schleiermacher das Ineinander von Sein und Wirken so unzertrennlich erwiesen hat, daû jedwede Versuchung zum Quietismus hinfållt. Interessant ist, wie er die Tugendlehre der Pflichtenlehre gegençber hervorhebt: »Die Tugendform geht von dem technischen Interesse aus, indem sie zeigt, wie derjenige sein muû, der im ethischen Prozeû mit Erfolg arbeiten soll.« 27 Wåhrend die »Pflichtform von dem kritischen Interesse ausgeht«, sie sondert, was »ethisch real« und was »ethisch leer« ist (257 § 95). Sie ist also kritisch gegençber der Mæglichkeit der Tugend, wåhrend die 24. F. Schleiermacher, Brouillon 1805/06, 87. 25. F. Schleiermacher, Ûber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (1819), 379. 26. F. Schleiermacher, Ethik 1812/13, Die Pflichtenlehre § 1, WW II, 406. 27. F. Schleiermacher, Ethik 1812/13, 257 § 94. Seiten- und Paragraphenangaben im Text.

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Tugendlehre optimistisch ist gegençber der Mæglichkeit der Pflicht. Und dann der bezeichnende, aber wahrscheinlich tief wahre Satz: »Die Tugendform war daher das natçrliche Produkt einer produktiven Zeit«, wåhrend die »Pflichtform das Werk einer reflectirenden leeren Zeit« ist (257 § 96). Beide ± Tugend- und Pflichtenlehre ± sind aber »an sich selbst unvollståndig« (256 § 90), weil jene das Subjekt, diese den Moment isoliert. Denn weder dort noch hier erscheint das Produkt des Sittlichen. In der Tugendlehre bleibt es unsichtbar, ist nur »implicite« gesetzt ± man kænnte sagen, daû die Tugenden immer nur die Gesinnung, also etwas Innerliches, meinen und niemand sagen kann, wie sich diese gegençber den Widerstånden, die sie auûen oder auch im Zustande des handelnden Subjekts antreffen, auswirken. In der Pflichtenlehre »ist nur ein System von Formeln unmittelbar gesetzt«, gemeint ist damit eben das, was wir heute den Formalismus der Ethik nennen, »und das Product erscheint so wenig wie die Kurve in ihrer Funktion« (256 § 89). Beide Darstellungen des ethischen Systems haben »ihre Genesis im Bedçrfnis« (256 § 91), beide weisen auf etwas Hæheres zurçck, denn schlieûlich muû eben doch bei allem Produzieren auch ein Produkt in Erscheinung treten. Diese Einheit aber von Produzieren und Produkt ist »die Darstellung unter der Idee des hæchsten Gutes«, die allein »selbståndig (¼) ist (¼), weil Produzieren und Product in derselben identisch gesetzt ist, und so der sittliche Prozeû zur vollen Darstellung kommt« (256 § 87). So wie die Darstellung der Natur die Totalitåt ihrer Formen bezweckt, so genau die Darstellung des Sittlichen. Die Naturwissenschaft erfaût das Ganze der Natur in der Einheit ihres Lebens und Werdens ± die Ethik mçûte darstellen das Ganze der Vernunft, wie es die Natur bindend diese geistig gestaltet. Dabei ist der menschliche Organismus der Mikrokosmos solcher Bildung ± wåhrend die Erde den Makrokosmos bedeutet. Hier æffnet sich nun der Blick fçr die ganze Mannigfaltigkeit der »anbildenden Thåtigkeit« der Vernunft, denn ihr Gebiet ist der »Erdkærper« 28 . So ist denn die »ganze Auûenwelt (¼) der Stoff fçr die symbolisirende Thåtigkeit mit Einschluû alles dessen, was im Menschen noch kann als ein Aeuûeres gedacht werden. ± Das schlechthin Innere des Menschen ist das Streben nach Gott, welches eben deshalb, weil es nie ein Aeuûerliches sein kann, sondern nur ein solches haben, auch nie Symbol sein kann, sondern nur Symbole suchen oder hervorbringen.« (433 § 12) Denn »das Werkzeug in seiner Thåtigkeit verkçndet das Dasein dessen, der es braucht« (433 § 13). So wie also die Himmel des Ewigen Ehre rçhmen und die Feste seiner 28. F. Schleiermacher, Ethik 1814/1816, WW II, 431 § 5. Seiten- und Paragraphenangaben im Text.

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Hånde Werk verkçndigt (Ps 19,2) ± so sollte die Lehre vom hæchsten Gut dartun, wie nun auch hier, im Organon des Menschen, das sich bildet und bildend wirkt, der Herr sein Reich mit den Menschen baut. So kann dann Schleiermacher mit einer wahrlich auch unter den Theologen seiner Zeit einzig dastehenden Offenheit das Wachsen der Technik, den die Menschheit zu Mitteilung und Austausch zueinanderfçhrenden Verkehr, so kann er die Geselligkeit und das Recht, das Lehren und das Lernen, die Rede und das Gehær zu der »symbolisierenden Tåtigkeit« rechnen, innerhalb deren sich das hæchste Gut entfaltet. Dabei seien zwei besonders interessante Beobachtungen hervorgehoben; die eine betrifft das Recht. »Recht und Verkehr«, so sagt er, sind »Correlate«, denn »wo ein Recht des Einen sein soll, da mçssen auch Ansprçche Anderer sein« (442 § 35). Es ist z. B. Unsinn, von einem Recht des Menschen auf seine Gedanken zu reden, es sei denn, daû diese »als Organ« kænnen angesehen werden. Recht hat hier einen Doppelsinn: einmal wird das Tun eines jeden »Bildenden« nur sittlich, als er sich dadurch »im Arbeiten fçr die Totalitåt setzt«, und umgekehrt ist das Aufnehmen seiner Arbeit in die Gemeinschaft nur sittlich, als ihm die »Aneignung von seiner Seite« anerkannt wird (442 § 35). Die Bedeutung dieser einfachen Formel kann wohl, wie wir heute sehen, kaum çberschåtzt werden. Denn wenn der Mensch kein Recht vorfindet, das ihm die Anerkennung seiner Arbeit bei ihrer Aufnahme in die Gemeinschaft sichert, so wird er damit seines eigenen persænlichen Organon-Seins beraubt. Er kann nicht mehr im sittlichen Sinne produzieren, sondern seine Tåtigkeit wird zur bloû mechanischen absinken. »Die moderne Polemik«, heiût es an einer Stelle, »welche der Kultur Erkenntniûlosigkeit und Feigherzigkeit zuschreibt, bezieht sich auf das Zerfallen der Fertigkeiten, wo der Masse in den mechanischen Geschåften das hæhere Bewuûtsein verloren geht, und auf den Lustgehalt, welcher nur çbrig bleibt, und dann durch jedes Mittel will gerettet sein.« 29 Es ist die Mechanik und die Agrikultur, die »als ihr Resultat alles in sich (¼) schlieûen (¼), was wir Reichthum nennen« 30 , und von welcher Seite her Schleiermacher immerhin, wenn auch nur wie mit einem scheuen Seitenblick, die Gefåhrdung der sittlichen Kultur heraufziehen sieht. Denn hier wie dort droht das verlorenzugehen, was er das Eigentçmliche des Bildens nennt. Und das ist das zweite, auf das ich hinweisen mæchte. Eben dieses Eigentçmliche, das damit gegeben ist, daû jeder Mensch in sich selbst ein Einmaliges, eine so nicht wiederkehrende Erscheinung der 29. F. Schleiermacher, Einleitung 1812/13, WW II, 278 § 20. 30. Ebd., § 21.

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Menschheit als solcher darstellt, liegt seiner Lehre vom Eigentum zugrunde. Im Schutz des Eigentums durch das Recht wird dieses Eigentçmliche des Menschen innerhalb der Gemeinschaft anerkannt. Hier wird das Eigentum nicht vom Ding her, also von der Materie her, begrçndet, aber auch nicht von der Ungleichheit der Menschen und dem Vorrecht einzelner, sondern aus dem bildenden Prozeû, in dem der Mensch seine sittliche Leistung vollbringt. Er legt sozusagen in seine Arbeit etwas hinein, was nur ihm gemåû ist. Das eben hångt zusammen mit dem Ineinander des Symbolisierenden und Organisierenden alles sittlichen Handelns. Nehmen wir also etwa den Garten, den ein Mensch pflegt, als das Gebiet seines Handelns auf die Natur. Dieser Garten wird nicht durch das Recht sein Eigentum, sondern ist insofern ein solches, als er bildend hierin sein Eigentçmliches ± und zwar so, daû es aus ihm heraustritt und ein »Ding« wird ± gestaltet. Das Recht hat durch den Schutz des Eigentums diese Potenz des Menschen, als eines Wesens, durch das die Vernunft symbolisierend tåtig ist, anzuerkennen, freilich so, daû seine Arbeit damit zugleich »gemeinschaftsstiftend« wird. Die Aberkennung des Eigentums mçûte also ebenso zur Entwertung des Menschen fçhren ± man denke etwa an die groûen Fabriken! ±, wie umgekehrt, wenn sich etwas als Eigentum herausstellt, was in Wahrheit in keiner Weise mehr den Stempel des Eigentçmlichen trågt und tragen kann ± wie etwa die Industrieaktie. Wenn irgendwo, so kann man bei Schleiermacher eins lernen, daû wir durch die Klårung der hæchsten Begriffe uns nicht etwa vom Leben entfernen, sondern jene Hæhen erreichen, von denen aus wir dann besonnen und weise, aber auch in Hoffnung und Liebe herabsteigen, um bis in die trivialsten Fragen des Lebens hinein uns als solche zu bewåhren, die der Vernunft zutrauen, daû sie das Leben gestaltet. In einer seiner Akademievorlesungen erwåhnt Schleiermacher die herrschende Anarchie ethischer Begriffsbildungen 31 und vergleicht die Menschen, die sich hier um keine Ordnung und Klårung bemçhen, jenen Seeleuten, die nicht erst das Schwimmen lernen, weil sie im Falle des Schiffbruchs das sofortige Untergehen dem nutzlosen Versuche vorziehen, sich çber Wasser zu halten. 32 Den Menschen in dieser Hinsicht tçchtig zu machen, lebenstçchtig, auch 31. Vgl. F. Schleiermacher, Ûber den Begriff des hæchsten Gutes. Erste Abhandlung (1827), WW I, 447. Der Ausdruck selbst findet sich nicht bei Schleiermacher, sondern stammt von W. Dilthey (vgl. W. Dilthey, Rede zum 70. Geburtstag, in: ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hålfte, Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften Bd. 5, hg. von G. Misch, Stuttgart 19574 , 9). 32. Ebd., 450.

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wenn die festen Dåmme einmal brechen und das Gehåuse, in dem wir leben, Risse bekommen sollte, das ist Schleiermachers sokratisch-christliches Anliegen. Vernunft und Natur in ihrem Gegensatz sind niemals absolut, sondern in aller Natur steckt schon die sie organisch bildende Vernunft, und in aller Vernunft liegt die Tendenz, das von auûen Gegebene, die Welt, sich anzubilden. Darum steht der Mensch nie dem Chaos gegençber, als ob wir erst ordnen, als ob wir Schæpfer spielen mçûten, aber er steht auch nie einer harmonischen Welt gegençber, der er sich nur anschauend hinzugeben brauchte, sondern die Welt wartet darauf, daû er sich an ihr nach seiner Eigenschaft als Organon der Vernunft bewåhre und beståtige. »Askese« im Sinne einer frommen Distanz von der Welt, als ob diese mein Wesen verderben kænnte, kennt er nicht und sagt, daû sie weder in seiner Tugend- noch in seiner Pflichten- noch in seiner Gçterlehre Raum habe. Kænnte es nicht uns gerade eine Mahnung sein, und kænnten wir nicht ein wenig ahnen, daû dieser Theologe in seiner ethischen Bemçhung Mitarbeiter sein wollte unserer Freude (2Kor 1,24)?

IV Aber nun noch ein letztes Wort çber die drei Grundbegriffe, die Pfeiler in dem Dreieck seiner Sittenlehre: die Tugend, die Pflicht und das hæchste Gut. Was ist die Tugend? Weil sie eine ist, darum ist sie undefinierbar; denn sie ist ja in allen ein und dieselbe ± es geht also weniger um ihre Definition als um ihre Zerlegung in die Mannigfaltigkeit. Låût sich die eine Tugend zerlegen? Darum, antwortet Schleiermacher, låût sie sich zerlegen, weil sie immer in einer Tåtigkeit besteht ± jedenfalls im Menschen ±, im Aufnehmen des Niederen ins Hæhere und im Kampf des Hæheren gegen das Niedere. Sie ist belebend und kåmpfend zugleich. Schleiermacher håtte nicht çber Eros und Agape so schreiben kænnen, wie Theologen unserer Zeit darçber geschrieben haben 33 ± wie låût sich denn beides trennen, ohne eben damit sie neu zu vereinigen! Das Niedere wird nicht besiegt, um vernichtet, sondern um in das Hæhere aufgenommen zu werden. Nur so wirkt Tugend bildend. Und weil sie bildend ist, ist sie in sich zurçckgehend und aus sich heraustretend. Sie ist Sein und Akt. Als Sein ± in sich 33. A. Nygren, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, Gçtersloh I (1930), II (1937).

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bildend und hier die Zwecke alles Tuns formend ± ist sie Liebe, als Akt auf die Stetigkeit und in der Ûberwindung aller Widerstånde bedacht ist sie Beharrlichkeit oder Treue. Weisheit als belebend (wofçr auch Glaube gesagt werden kann) und Besonnenheit als kåmpfend, Liebe als bindend und Beharrlichkeit als siegend, das ist das Vierergespann, dem Schleiermacher den Wagen des Lebens anvertraut. Mit ihm geht die Fahrt zwar kåmpfend und Mçhsalen erleidend, aber dennoch siegend und liebend voran. Weisheit und Liebe, diese beiden dominierenden Tugenden, haben ihren Widerschein in den beiden Weisen, wie Gott in sich und auûer sich ist und eins ist, wåhrend Besonnenheit und Beharrlichkeit zeigen, daû wir es hier beim Menschen und seinem Ethos nicht mit Gottgleichheit, sondern nur mit Gottåhnlichkeit zu tun haben. Wenn es Schleiermacher darauf ankam, das Nebeneinander der Tugenden aus der Einheit derselben zu gewinnen und so deren bloûe Aufzåhlung im aristotelischen System ± die çbrigens bis heute in der Philosophie vorherrscht ± zu çberwinden, zudem auch die Gerechtigkeit durch die Liebe zu ersetzen, da jene im Staat, diese aber in der Gemeinschaft die Vollkommenheit des Lebens sieht ± kommt es ihm nun bei der Pflichtenlehre aufs Entgegengesetzte an: die Einfachkeit, den Formalismus der Kantischen Maxime zu zerschlagen und den konkreten Bezug der Pflichtenlehre darzutun. Es gilt praktische Regeln zu gewinnen, um dem Menschen im Handeln zurechtzuhelfen, nicht aber ihn nur auf die Stimme des Gewissens zu verweisen. Er gewinnt diese Konkretion durch das Gegençber von Person und Gemeinschaft, indem er diese nicht jener opfert und umgekehrt jene, die Person, nie ohne Beziehung auf die Gemeinschaft gesetzt denkt. »Jeder einzelne bewirke jedesmal mit seiner ganzen sittlichen Kraft das mæglichst Græûte zur Læsung der sittlichen Gesamtaufgabe in der Gemeinschaft mit allen« 34 ± das ist die neue »Pflichtformel«, die er der Kantischen Maxime gegençbersetzt. In allem Unterschied das Gemeinsame, in aller Gemeinsamkeit das Eigentçmliche festhalten ist Vollkommenheit der sittlichen Gemeinschaft. Was auch immer ich mir aneigne ± ob Dinge oder Eigenschaften ±, sie sollen gemeinschaftsbildend sein! Wo auch immer ich in Gemeinschaft lebe, es soll in einer mich bildenden, aneignenden Weise geschehen. So ergeben sich die beiden Gemeinschaftsgebiete des Rechtes und der Liebe und die beiden Gebiete der Aneignung, nåmlich der Beruf und das Gewissen. Und er endet mit den beiden Regeln: »Begib dich unter kein Recht, ohne dir einen Beruf sicher zu stellen und ohne dir das Gebiet 34. F. Schleiermacher, Versuch çber die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs (1824), WW I, 390.

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des Gewissens vorzubehalten«. 35 Das nennt er die »kollisionsfreie« Regel der Rechtspflicht. Und die der »Liebespflicht« lautet parallel: »Gehe keine Gemeinschaft der Liebe ein, als indem du dir das Gewissen frei behåltst und in Zusammenstimmung mit deinem Beruf.« 36 Es ist einsichtig, wie von hier aus der Staat und die Gesellschaft, die Ehe und der Beruf als Gabe und Aufgabe vor uns liegen. Es bleibt vielleicht noch zu erwåhnen, daû er den Begriff des »Erlaubten« als die Quelle aller Kasuistik aus dem ethischen Schema entfernt. Denn »wir achten es als ein Zeichen herannahenden Verfalls der Gesellschaft, wenn es sehr viele Handlungsweisen gibt, welche die Sitte gleichgçltig çbersieht, und çber welche sich die æffentliche Meinung nicht ausspricht. (¼) So daû die Zulassung dieses Begriffes auf dem sittlichen Gebiet ein charakteristisches Merkmal derjenigen ethischen Systeme ist, welche ich die negativen genannt habe.« 37 Hatte nicht Luther seinerzeit åhnlich die »Råte«, die consilia, als ethisch zersetzend aus dem mittelalterlich-katholischen System entfernt, wie das hier Schleiermacher mit dem »Erlaubten« tut? Und was ist nun das »hæchste Gut«? Jedenfalls nicht das Reich Gottes, das hierbei nur als Analogie, nicht aber als erreichbarer Zweck auftaucht. Sondern die Lehre vom hæchsten Gut hålt sich innerhalb des Irdischen und der menschlichen Tåtigkeit. Sie grçndet auf dem einfachen Satz, daû ein Gut so lange diesen Namen verdient, als es færdernd ist. Eine abgebaute Grube oder ein ausgesogener Acker hæren auf, ein Gut zu sein. Auch der Reichtum kann aufhæren, ein Gut zu sein, muû es aber nicht. Die Lehre vom hæchsten Gut meint also, daû es Produkte unseres Produzierens gibt, die in sich selbst den Fortgang solcher Tåtigkeit einschlieûen, auch abgesehen von dem, der sie geschaffen hat. Man kann sagen, wenn das organisierende Tun aufhært, symbolisierend zu sein, also çber sich hinauszuweisen, wenn ein Volksverband sich abschlieût vom Ganzen der menschlichen Gemeinschaft oder eine Kirche von der Gesamtheit aller anderen, dann hæren sie auf, færdernd ± also ein Gut ± zu sein und werden wie ein abgestorbenes Glied. Das Ineinander des Organisierenden und des Symbolisierenden ist zerbrochen. Familie und Staat, Verkehr und Schulen gehæren in diese Organisation des hæchsten Gutes, in der sich die Menschheit geistig und råumlich nåherkommt. Nur ist hier das Letzte, das Universale, nie zu organisieren, denn ein Weltstaat wçrde das Eigentçmliche der Vælker und eine einheitliche Weltanschauung das Eigentçmliche der Sprache auf35. A. a. O., 394. 36. Ebd. 37. F. Schleiermacher, Ûber den Begriff des Erlaubten (1826), WW I, 441 f.

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heben mçssen. Anders hingegen steht es mit der Religion. »Wenn wir (¼) jedes Bestreben (¼), einen Universalstaat aufzurichten, fçr Unsinn erklåren; wenn wir ebenso auch den Gedanken, ein einiges System des Wissens trotz der Diversitåt der Sprache geltend zu machen, als eine falsche Tendenz bald wieder aufgeben: so finden wir es dennoch natçrlich, daû jede Religion, die auf einem kråftigen Bewuûtsein ruht, auch darauf ausgeht, sich allgemein zu verbreiten. Ja, wir sehen hier die Vollendung nur darin, daû wirklich eine derselben in der Weltgeschichte diesen Preis erreiche (¼). Denn das Himmelreich ist nur als Eine [Gemeinschaft (¼) gesetzt]« 38 . Wir brechen hier ab. Die Lehre vom hæchsten Gut erfordert eine eigene Darstellung, sie schwebt Schleiermacher als die Vollendung der Ethik als Wissenschaft vor, als jene Einheit, die beide, Tugend- und Pflichtenlehre, erst sinnvoll, ich darf sagen, in einem irdischen, diesseitigen Sinne hoffnungsvoll macht. Es muû bei unserem Sein und Tun etwas herauskommen, das seinerseits wieder Ansporn ist, den Sieg der Tugend çber das Laster und der Pflicht çber die Lust zu glauben und zu verwirklichen. »Daû aber in diesen Resultaten von der Wirksamkeit der Vernunft in der menschlichen Leiblichkeit nicht sollte das hæchste Gut des Menschen auf dieser sich ihn immer wieder zum Herrn gebårenden Erde ausgesprochen, oder in denselben nicht alles enthalten sein, was zu dem aus sich herausgehenden und in sich zurçckkehrenden Leben des Geistes in dieser Form gehæren kann, dieses auch nur zweifelhaft zu machen, dçrfte schwerlich gelingen, auûer insofern die Vernunft selbst und ihre Tåtigkeit irgendwie geleugnet wçrde.« 39 Wir sind am Ende. Was sollen wir dazu sagen? Sollen wir urteilen, daû dieser von einem schier unergrçndlichen Optimismus erfçllte Schleiermacher bis ans Ende seines Lebens aus »Monologen« nicht herausgefunden hat? Sollen wir sagen, daû er uns, angesichts der uns umgebenden Welt, vorkommt wie der alte Faust, der, blind gemacht durch den Anhauch der Sorge, nicht sieht und nicht sehen kann, daû die Lemuren sein Grab schaufeln? 40 Sollen wir sagen, daû mit Recht auf diesen alles Hemmende nur als Reiz zur Ûberwindung aufnehmenden Entwurf jenes Ernstnehmen der Dekadenz unserer Zivilisation, wie es dann Schopenhauer und Nietzsche zum Gemeingefçhl unserer Gebildeten erhoben haben, mit Notwendigkeit folgen muûte? Sollen wir fragen, wo in diesem ganzen Prozeû die Sçnde und das radikale Bæse, von dem Schleiermachers groûer Antipode Kant nicht los konnte, geblieben sind? Sollen wir uns die Ohren verstopfen lassen vor 38. F. Schleiermacher, Ûber den Begriff hæchsten Gutes. Zweite Abhandlung (1830), WW I, 492 f. 39. Ebd., 494. 40. J. W. Goethe, Faust II, V. 11505.

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diesen Sirenengesången, damit wir nicht ihnen folgen und dann am Felsenriff harter Wirklichkeit, eines sich dem Geist nun eben doch widersetzenden Auûen zerscheitern? Wo bleibt der Widerspruch und die Antinomie, wo bleiben die Trånen und der Tod, wo das Leid und das Unrecht, das keinen Træster findet, wo bleibt jener Schrei von Ræm 7: »o ich elender Mensch, wer wird mich erlæsen von diesem Todesleibe?« (Ræm 7,24) Muûte darum nicht Hegel neben Schleiermacher stehen, weil er das Nicht-Sein, den Schmerz, das Leiden und die Nacht tiefer hineingenommen hat in sein Denken? Darum denn auch der eine die Gesellschaft, der andere den Staat als die Zielform des hæchsten Gutes gesehen hat. Aber vergessen wir eins nicht ± wir haben immerhin hier das Eigentlichste und Persænlichste eines groûen Lebenswerkes vor uns, und zwar eines solchen, das sich selbst ohne die mit Jesus von Nazareth geschehene Erlæsung nie verstanden håtte. Es kænnte ja sein, daû wir dies alles darum so schwer verstehen und es uns nach unserem theologischen Gewissen so verdåchtig erscheint, weil die Chiffre, unter der wir Schleiermachers Ethik lesen, eben die Chiffre des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium ist, die gewiû besser zu der Ethik des Kænigsberger Philosophen als zu der des Herrnhuter Theologen paût. Wie aber, wenn wir uns einmal çberwånden und das, was Schleiermacher anstrebte und nun auch wirklich immer nur symbolisierend darstellte, unter der umgekehrten Chiffre låsen, unter der von Evangelium und Gesetz, Glaube und Werk, Gott mit uns und wir mit ihm, wenn wir es einmal lesen wçrden als die, welche »wiedergeboren [sind] zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten« (1Petr 1,3)? Es wird auch dann noch vieles abgebrochen werden mçssen, was er, wie wir alle, an Tribut der jeweiligen Denkungsart seiner Zeit opfern muûte; ich denke an die Gegensåtzlichkeit von Idealem und Realem, von Hæherem und Niederem, Vernunft und Natur. Brechen wir den Rahmen ruhig entzwei, das Bild, das darin hångt, kann dadurch nur gewinnen. Denn es geht eine wunderbare Bewegung durch diese Ethik, die alle Gegensåtze aufsucht, um sie zu versæhnen, die im Frieden, der nun wirklich auch hier hæher ist als alle Vernunft, das Ziel der Wege Gottes gesehen und geglaubt hat. Kænnte man darum nicht das unermçdliche Schaffen Schleiermachers an und in der Ethik unter ein einziges Wort stellen, unter das der Dankbarkeit, der Dankbarkeit dafçr, daû Mensch und Welt versæhnt sind, weil Gott und Mensch versæhnt sind in Jesus Christus? Ethik heiût dann nichts anderes als dieser Versæhnung, die von Gott her Wahrheit und Wirklichkeit zugleich ist, nun auch da Raum zu geben, wo Wahrheit und Wirklichkeit noch im Gegensatze miteinander ringen, weil dieser Gegensatz schon zugunsten der Kinder Gottes entschieden ist.

EINFÛHRUNG IN DIE GEGENWØRTIGE LAGE DER SYSTEMATISCHEN THEOLOGIE Vorlesung, Gættingen 1949/1950

Einleitung

1. Die gegenwårtige Lage 1.1 Das Feld der Theologie Eine Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie scheint mir aus zwei Grçnden notwendig: einmal um der seit langem nicht mehr dagewesenen Zerstærung und Aufsplitterung unserer trotz aller Differenzen dennoch gemeinsamen Arbeit innerhalb der Theologie zu steuern. Ich sehe meine Aufgabe so an, erst einmal das ganze Feld der theologischen Positionen aufzuzeigen, innerhalb deren sich Studierende bewegen. Wie wenn man einen jungen Offizier, der ein Grabenstçck çbernimmt, die Karte des ganzen Gelåndes zeigt, in dem sich die Schlacht abspielt, damit er weiû, in welchem Gesamtzusammenhange er steht, kåmpft, vielleicht auch fållt. Diese Ûbersicht ist verlorengegangen. Und zwar nicht nur im Sinne des Bescheidwissens, sondern im Sinne des Zusammenhanges; es ist, als ob alle Bånder gerissen sind, als ob jeder nur noch fçr sich »theologisierte«, auf sich und seine ± doch schlieûlich von der Sache her gesehen uninteressante ± Position ausgerichtet. Dieser furchtbaren Isolierung und Subjektivierung der theologischen Arbeit, die die Sachlichkeit der Leistung zu gefåhrden droht, gilt es zu steuern. Erst innerhalb ihrer, erst innerhalb eines wiederhergestellten Gesamtzusammenhanges von Fragestellung und Methode kænnen Position und Gegenposition fruchtbar werden. Es muû erst das Schlachtfeld wiedergewonnen werden, wo sich die Gegner çberhaupt treffen. Wenn sich jedermann in einer unerreichbaren Burg einschlieût und dort seine Munition in die Luft jagt, dann ist das im besten Falle ein Feuerwerk. Diese Einfçhrung soll also dazu dienen, die verschiedenen theologischen Positionen sichtbar zu machen, die unsere theologische Gegenwart bestimmen, und sie aufeinander zu beziehen; das abgerissene, durch die grausame Zertrennung abgerissene Gespråch wiederaufzunehmen. Insofern hat die Darstellung also die Aufgabe einer Rekonstruktion. Sie mæchte die verschiedenen Standpunkte, ohne Aufhebung ihrer Unterschiede, doch so weit aneinander heranrçcken, daû die Beziehung, die Re-

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lation des einen zum anderen wieder faûbar wird. Sie mæchte ein wenig hæren und spçren lassen, wie sozusagen im Øther der Sache, die wir Theologie nennen, dennoch diese so vielfåltigen Stimmen im gegenwårtigen Protestantismus den Vollzug eines Geschehens, einer Entwicklung ankçndigen. Es hat jedenfalls einmal diese Entwicklung gegeben, und sie ist jedenfalls einmal eine sehr hoffnungsvolle und zukunftsreiche gewesen ± sie ist dann gewaltsam abgebrochen worden! Was seit Jahrhunderten innerhalb der protestantischen Welt Deutschlands nicht mehr dagewesen ist, das ist eingetreten: Eine Seite hat mit Zuhilfenahme von Gewalt und Verfolgung versucht, die theologische Erneuerung zu unterdrçcken, um sich ± wie es altgewordene Græûen gerne tun ± mit Gewalt an der Macht zu halten. Sie ist damit gescheitert. Sie hat sich damit tief befleckt. Aber auch das Umgekehrte droht nun einzutreten: die Vergeltung der Entrechteten. So ist mitten in den theologischen Aufbruch, der nach 1918 so hoffnungsvoll gerade in Deutschland sich ereignete, eine bæse politische, machtpolitische Note hineingekommen, die wie ein Gift das theologische Leben zu låhmen droht. Diese Einfçhrung will den Versuch machen, die Anknçpfung an das Gespråch zu suchen, als es noch »sauber« war, als noch die Sache der Theologie, der Kirche, der Wissenschaft dabei der fçhrende Gesichtspunkt war, als noch nicht der bæse Schatten der Macht çber dem Ganzen lag. Die Darstellung geht dabei von der Zuversicht und Hoffnung aus, daû es in dem allen ein gesamtprotestantisches Anliegen gibt, daû die Reformation und die dort hervorgegangene Theologie noch immer gewisse Linien hergibt, innerhalb deren sich unser Fragen und Antworten vollzieht ± mag das auch, wie bei Ernst Troeltsch, sehr weit nach links fçhren; mag das auch, wie bei Rudolf Bultmann, sehr radikale Folgerungen einschlieûen; mag das auch, wie bei Rudolf Otto, hart an die Mystik herankommen, ja eigentlich mitten hinein in sie mçnden; mag das auch, wie bei Albert Schweitzer, uns mitten in die Welt des Kulturprotestantismus versetzen und mægen wir auch jene veneratio vitae (Ehrfurcht vor dem Leben), die sein Leitmotiv geworden ist, mit etwas Zurçckhaltung annehmen; mag das auch, wie bei Werner Elert, sehr konfessionell steif und eng wirken, mægen wir auch hier ein wenig zusammenzucken, wenn wir sehen, mit welcher Unbekçmmertheit die steife Position des »non possumus« (»wir kænnen nicht«) bis hin zur »manducatio oralis« (»mit dem Munde geschehendes Essen«) 1 verfochten und als kirchentrennend verteidigt wird; mag auch 1.

Anspielung auf den Abendmahlsstreit im 16. Jahrhundert, der vom konfessionellen Luthertum im 19. und 20. Jahrhundert ± Elert u. a. ± noch immer als Argument gegen eine Union bzw. EKD eingebracht wurde.

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Karl Barths monumentale Leistung wie ein alles çberragender Berg die Maûe etwas verschoben haben, so daû neben ihm so vieles zu verblassen scheint ± wie eine der alten hochragenden Kathedralen sich heraushebt aus den kleinen Håuschen einer franzæsischen Stadt ±: schlieûlich gehært doch alles das zusammen zu einem Bild, und die Kathedrale paût in diese Landschaft und ist da fçr die Bewohner dieser Stadt! Oder ± um noch ein anderes zu sagen ± mçûten wir nicht wenigstens den Versuch machen, eine so groûe und einheitliche Leistung, wie sie das Lebenswerk Karl Heims darstellt, einmal in ihrem Gesamtzusammenhange zu wçrdigen; mçûten wir nicht, um wenigstens zwei von denen zu nennen, die unmittelbar noch in unsere Generation hineingewirkt haben, wenigstens einen Hauch von Wilhelm Herrmanns und Martin Kåhlers Wirksamkeit verspçren, die beide einst Amanuenses bei Tholuck waren und beide die Fackel der Erweckung, des Pietismus weitergereicht haben, so daû Marburg und Halle theologische Brennpunkte in der sonst so matten Zeit vor 1914 waren? Oder ± um noch einen anderen Namen zu nennen ± welchen Platz und welche Rolle ist einer so imposanten, wenn auch immer etwas beziehungslosen Leistung wie der von Adolf Schlatter zuzuweisen, die sich fast çber alle Gebiete der Theologie, bis hinein in die Dogmatik und Ethik erstreckt ± und dies alles von der Welt der Exegese des Neuen Testaments her? Mein Anliegen ist also: Ich mæchte die Stimmen alle zum Klingen bringen, die verblichenen, vielleicht auch die verfemten, ich mæchte ein wenig die Græûe der Leistung und der Aufgabe erkennen lassen, die unter dem Namen »Theologie der Gegenwart« zu verstehen ist. Und noch mehr: Es gibt da ein paar Namen, die nicht unmittelbar in die Theologie hineingehæren, aber doch von græûter Bedeutung fçr ihre Entfaltung gewesen sind: man denke etwa nur an die Namen Max Weber, dessen Gestalt bei Troeltsch immer çber die Schulter schaut ± Max Weber, der als ein areligiæser Mensch, wie er sich mit Recht bezeichnete, dennoch die Religionssoziologie (fast mæchte man sagen im Spenglerschen Sinne) begrçndete ± und Martin Heidegger, der mit seinem Werk »Sein und Zeit« einer bestimmten Entwicklung innerhalb der modernen Theologie sozusagen die Hand reichte. Es kommt mir darauf an, erst einmal wieder die Fçlle, die Mannigfaltigkeit des Lebens innerhalb der Theologie der Gegenwart zu rekonstruieren, die heute in Gefahr ist, der Langeweile, der Monotonie eines so oder so approbierten Systems Platz zu machen. Der Stellungskrieg, in dem die protestantische Theologie in Deutschland immer noch verharrt, ist unertråglich langweilig geworden, es kommt darauf an, daû wir den Mut haben, aus den Gråben herauszuspringen und das theologische Geschehen wieder als Bewegung zu erfassen und mitzumachen.

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1.2 Begegnung mit der eigenen Vergangenheit Das ist das erste, was mir vorschwebt: Es gilt, die Weite wiederzugewinnen, die Theologie gerade zu unseren Zeiten einmal gehabt und die sie jedem gegeben hat, der sich ihr zuwandte. Das zweite aber ist: daû wir dabei nicht vergessen, woher wir kommen! Es wird nicht richtig sein, wenn wir so tun, als existierten die letzten fçnfzehn Jahre fçr uns nicht. Es muû zu einer unwirklichen, zu einer gespenstischen, im besten Falle tråumerischen Existenz fçhren, wenn wir uns zu unserer letzten und jçngsten Vergangenheit nicht bekennen. Es kænnte sich so und dann die Ungeschichtlichkeit unseres Daseins, seine sich allein ideologisch begrçnden wollende Weise des Existierens fortsetzen. Auch die christliche, auch die theologische Existenz entlastet uns nicht von der geschichtlichen Verantwortung. Gerade wenn wir Christen sind, werden wir nicht leben kænnen und leben wollen, ohne Stellungnahme zur Vergangenheit, ohne die Vergangenheit als unsere eigene Vergangenheit zu erfassen. Der Mann, der gesagt hat, daû der Heide çber die Vergånglichkeit des Daseins Klage fçhrt, der Christ hingegen danken kann, daû er eine Vergangenheit hat 2 , hat gewiû nicht so unrecht gehabt. So wie sich ja auch Paulus, wie sich die ersten Christengemeinden immer wieder zu dem bekannt haben, was sie waren! Gerade die neu in Christus gewonnene Freiheit, das Leben der aus der Macht der Finsternis Herausgenommenen lieû sie ja sagen zu dem, was sie waren. Gott sei Dank ± so sagen sie immer wieder! Sie leben wirklich von dieser Zåsur her; Jesus Christus leuchtet nicht nur çber dem, was sie sind (vgl. Eph 5,14), sondern auch çber dem, was sie waren! Er steht çber Gestern und Heute! Und wenn wir nun dieses Licht ganz hell aufgehen lassen çber dem, was wir waren und was wir sind ± mçûte man dann nicht die Theologie der Gegenwart doch mit einem etwas anderen Auge ansehen; mçûten nicht unsere Not und Verfehlung, unser Mangel und unser Unverstand nach den Ereignissen von 1933 doch in einem etwas anderen Lichte erscheinen, als sie uns vor denselben erscheinen konnten?! Wer von all den Månnern und Menschen, die es angeht, håtte wohl die Stirn zu sagen, er wçrde, 2.

R. Hermann, Die Sachlichkeit als ethischer Grundbegriff, Zeitschrift fçr systematische Theologie 5 (1928) 250-312, 284 f.: »Wenn eine Religion das Schicksal der Vergånglichkeit nicht in den Mittelpunkt ihrer Gedanken stellt, so ist es die biblische Religion. (¼) Den Seufzer: Gott sei es geklagt, daû es eine Vergånglichkeit gibt ± mag man ihm auch im biblischen Schrifttum, etwa im Hiob oder im Prediger Salomonis, begegnen ± darf man nicht als spezifisch biblischen Gedanken ansehen. (¼) Will man einen christlichen Glaubenssatz diesem Seufzer gegençberstellen, so darf man ihn formulieren: Gott sei gedankt, daû es eine Vergangenheit gibt.«

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wenn er jene Jahre noch einmal durchleben kænnte, es genauso machen ± wer mçûte sich nicht vors Gesicht schlagen, angesichts des uns umgebenden Gerichtes Gottes, und bekennen, daû wir trotz all unseres Wissens und Erkennens blind waren, daû wir keine Christen im Sinne dessen waren, der uns dazu berufen hat, daû wir nicht gefaût waren auf jenen Gegner, der von der Flanke her uns angriff, wåhrend wir meinten, im besten Zuge zu sein und von Sieg zu Sieg zu schreiten! Vieles von dem, was in die Theologie der Gegenwart gehært, und viele von denen, die gemeint haben, hier einen nahezu reformatorischen Aufbruch der Theologie zu erleben, hat und haben sich nicht bewåhrt. Und angesichts dessen, was geschehen ist, angesichts des Aschenregens, der çber uns herniedergegangen ist (Gen 19,24) ± und wer weiû, ob es der letzte Ausbruch war, wer weiû, ob nicht Seine Hand immer noch ausgereckt ist und sein Zorn immer noch kein Ende hat (Jes 9,16) ± ich sage, angesichts dieses gerade çber unsere Generation und unser Reden und Tun ergangenen Gerichts wird uns jedes Rçhmen vergehen. Wir werden Ræmer 3 ± und zwar nicht erst von Vers 23 an, sondern von Anfang an ± mit neuem Ernst und neuer Bezogenheit auf uns und unsere Lage lesen, wir werden nicht mit blinden Augen an dem vorçbergehen kænnen, was als Frucht unseres Ungehorsams rechts und links am Wege liegt und ± wenn wir nur Ohren håtten, zu hæren ± uns anklagt: nicht nur die zerstærten Håuser und Stådte, nicht nur das Versinken einer fast tausendjåhrigen deutschen Kultur und Geschichte im Osten gegençber der slawischen Welt; nicht nur der Untergang Preuûens und der damit gegebene, sich noch sehr betråchtlich auswirkende Wegfall Preuûens als der fçhrenden protestantischen Macht seit mehr als dreihundert Jahren in Europa, sondern vor allem auch die Menschen, die Heimatlosen 3 , die Witwen und Waisen, die Flçchtlinge, die lauter noch und vernehmlicher als je an unser ganzes Gesellschaftsgefçge, insbesondere aber an die Christengemeinde die Frage stellen, die Heinrich Vogel in so beredte Worte gekleidet hat und mit denen seine neueste Christologie endet: »Seht den Menschen!« 4 Theologie ist nicht Mathematik. Es wird der Theologie wenig nçtzen, wenn sie angesichts dieser von auûen hereindringenden Empærung und Zerstærung nur mit dem Satze zu reagieren weiû: »Stære meine Kreise nicht!« 5 Der Satz des Pythagoras gilt in einer letzten Endes mæglichen 3. 4. 5.

Vgl. H. J. Iwand, Zur religiæsen Lage der Flçchtlinge (1949), FO 25-32. H. Vogel, Christologie I, Mçnchen 1949, 477. »Noli perturbare circulos meos!«. Ausruf von Archimedes wåhrend des 2. Punischen Krieges, als Soldaten seine im Sand gezeichneten Plåne fçr die Verteidigung von Syrakus zu zerstæren drohten.

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Welt, in einer Welt und Wirklichkeit, die nur eine unter vielen Mæglichkeiten darstellt. Auch die Wissenschaft als solche meint die mægliche Welt. Die Theologie aber hat die wirkliche, die gefallene, die damit eine ganz bestimmte Wirklichkeit von Welt herauffçhrende Menschheit im Sinne, die Theologie meint diese Erde und diesen Himmel, diesen Øon, der damit zu seinen letzten Mæglichkeiten gekommen ist, daû Jesus Christus Mensch geworden, hier gestorben und vor den Augen sterblicher Zeugen auferstanden ist. Die Ûbernahme der theologischen Existenz ist der Abschied von dem Leben in einer mæglichen Welt, ist Ûbernahme, und zwar trotz allem freudige, gehorsame, um der Gnade Gottes willen zuversichtliche Ûbernahme der wirklichen Welt. In der Theologie heiût es: Heute! Unabånderlich, unbegreiflich erklingt dieses Heute der Gnade und Gegenwart Gottes allen Menschen und allen seinen noch so abgrçndigen Mæglichkeiten gegençber. Denn das Evangelium ist weder eine Sache von gestern noch von morgen, das Evangelium ist nur im Heute zu vernehmen. Das Evangelium verlangt nur eins von uns, auch und gerade von denen, die es begreifen und verkçndigen wollen, daû wir dort stehen, wo es uns sucht ± daû wir nicht Traummenschen sind, die sich ins Gestern flçchten oder im Gebçsch des Morgen verstecken, sondern nackt und bloû, wie wir sind, Gottes Wort standhalten (vgl. Gen 3,8). So ergibt sich die andere Seite der uns gestellten Aufgabe: Wie werden wir unserer eigenen Vergangenheit begegnen? Wird und kann unsere Gegenwart in diesem Sinne uns zur Begegnung, zu dem werden, was Kierkegaard die Reflexion nannte? Wenn man eins von jener theologischen Epoche zwischen den beiden Kriegen, der Epoche von »Zwischen den Zeiten« sagen darf, dann ist es dies: Sie ist tief von einer echten Reflexion bestimmt! Sie ist in allem, was groû und gut an ihr war, Umkehr! Sie ist darum so schneidend in ihrer Kritik, so zerrissen in ihren eigenen Kåmpfen, so leidenschaftlich in der Bloûstellung des Gegners, so wissend um das Gericht, das am Hause Gottes seinen Anfang nimmt (1Petr 4,17) ± man lese dazu noch einmal die Partien in Barths »Ræmerbrief« zu Ræm 9-11 6 und die frçhen Aufsåtze Gogartens zur Kritik des Religionsbegriffs 7 ±, weil sie tief erschrocken, tief angefochten ist, weil sie die dunkle Wolke sieht, die çber dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts steht. Eins hat diese Epoche 6. 7.

Handschriftliche Notiz Iwands: Barth. Dibelius. F. Gogarten, Die religiæse Entscheidung, in: F. Gogarten, Die religiæse Entscheidung, Jena 1921, 5-11; Religion und Volkstum?, ebd., 12-31; Kultur und Religion, in: F. Gogarten, Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus, Jena 1926, 101-127.

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denn doch begriffen, begriffen wie keine der ihr unmittelbar vorangehenden, die iustificatio impii (Rechtfertigung des Gottlosen); vielleicht daû ihr die sanctificatio (Heiligung), die Frage der Ethik, der gesellschaftlichen, der æffentlichen Moral darum suspekt war, vielleicht daû sie gerade darum dieser Seite der Sache zu wenig Aufmerksamkeit zuwandte; vielleicht daû darum gerade hier sich ein Hohlraum bildete, ein leerer Fleck, ein Aufmarschgebiet jener paganistischen, jener vælkischen und antisemitischen Kråfte, die çberall im ersten Nachkriegseuropa als Erbe des ersten Krieges den Bodensatz in den Massen bildeten. Vielleicht daû, nachdem wir das Evangelium durchbuchstabiert haben, nun auch das Gesetz darankommen mçûte, aber eben das im und vom Evangelium her verstandene Gesetz, das neue Ja zum Leben, das gerade dem verlorenen Menschen Hoffnung, und zwar Hoffnung zum Diesseits seines Wirkens und Dienens gibt. Vielleicht daû, nachdem wir die Eschatologie neu begriffen und sie als entscheidende Komponente des Reiches Gottes erfaût haben, wir das Vorlåufige, das Adventliche unseres Erdendaseins auch darauf beziehen, auch von daher dirigiert sein lassen mçûten. Karl Barth hat einmal gesagt, daû die Dogmatik in der alten Kirche Ethik war, 8 vielleicht daû das der neue, der zweite Schritt sein wird, den wir ± gerade wir als die Ûberlebenden und Schuldigen ± tun, daû dies die Richtung wåre, in der wir weiterschreiten mçûten, um die Kråftigkeit, die Dynamis, des Reiches Gottes in der Welt sichtbar zu machen. Was heiût iustificatio impii (Rechtfertigung des Gottlosen) ± etwa hineingestellt in das æffentliche und vielleicht auch das geheime Denken çber Ost und West? 9 Was heiût Versæhnung im Blick auf die unabsehbare Schuld, die heute die Nationen Europas im Todeskampf aneinander kettet? Was heiût nova vita ± neue Kreatur ± im Hinblick auf die tiefen Schåden der Gesellschaft, an denen ihr Gefçge zu zerbrechen droht? Wir werden die Freiheit haben, Fragen dieser Art an die Theologie und an die Theologen zu stellen, mit denen wir ins Gespråch kommen. Wir sind nicht genætigt, uns lediglich im Rahmen ihrer Fragestellungen zu bewegen. Wir haben Dinge gesehen und erlebt, die sie nicht gesehen und erfahren haben. Wir sind inzwischen weitergerçckt ± vom ersten zum zweiten Jesaja ±, wir

8.

9.

K. Barth, Wçnschbarkeit und Mæglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses (1925), in: Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vortråge. 2. Bd., Mçnchen 1928, 101 (= K. Barth, Vortråge und kleinere Arbeiten 1922-1925. Karl Barth Gesamtausgabe, Zçrich 1990, 639): »Erkenntnis des Dogmas hat bei den Alten mit abstrakter Gnosis nichts zu tun. Sie ist von Haus aus Ethos.« Handschriftliche Notiz Iwands: Schuld.

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werden mit Hiob fragen dçrfen, weiterfragen, auch wo die Freunde haltmachen und uns belehren wollen; wir werden mit Paulus die theologia crucis (Kreuzestheologie) behaupten dçrfen, auch wo die ihrer Sache allzu getrosten Korinther nun doch schon ein wenig mehr von positivem Christentum zu sehen wçnschen; wir werden darauf dringen mçssen, daû jenes morsche Ethos, dessen Versagen innerhalb der christlichen Welt des Abendlandes wir erlebt haben, nicht wieder auf halben und illusionåren Voraussetzungen aufgebaut wird, sondern daû erst jenseits unserer Mæglichkeiten die Mæglichkeiten Gottes beginnen: daû erst mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten das Gesetz des Lebens und das Leben im Gesetz zur menschlichen, zur irdischen Mæglichkeit wird. Fortsetzung ist es also, was dieses Kolleg bezweckt. Fortsetzung jener ersten, nach dem ersten Weltkrieg unternommenen Bewegung, Wiederaufnahme des Marschtritts, in dem sie geschah, aber hoffentlich ein wenig wachsamer, ein wenig gemeinsamer, kirchlicher, praktischer ± mit denselben Augen, die gesehen haben, was wir nun eben sahen, mit den Ohren, die nicht vergessen haben, was einmal erst begeistert, dann verzweifelt in sie hineingeschrien hat ± Fortsetzung im Sinne dessen, daû eine neue Generation die Fackel çbernimmt, daû sie nicht der trågen und zåhen Restauration nachgibt, die heute als Versuchung çber ganz Europa hingeht, daû sie aber nun ihren Weg nach vorn macht. Das sind die beiden Grundgedanken, die uns leiten werden: einmal der Versuch, den Gespråchszusammenhang innerhalb der Theologie, der so jåh abgerissen ist, wiederherzustellen, die Breite des Feldes abzustecken, in dem sich heute das theologische Denken innerhalb des evangelischen Deutschlands wenigstens abspielt ± und zweitens mit einer, sagen wir einmal, Metakritik, einer Fragestellung, der man anmerkt, woher wir kommen, einer Kritik, die an sich, aber nicht an Gott irre geworden ist, dieses ganze theologische Unternehmen der Gegenwart noch einmal zu çberholen: es zu sehen in jenem Feuerbrand, der die Spreu vom Weizen scheidet; alles zu prçfen, um das Beste zu behalten (1Thess 5,21).

1.3 Theologie der Gegenwart Es bleibt nun noch kurz zu klåren, was wir unter »Gegenwart« verstehen und warum es gerade die »systematische Theologie« ist, bei der wir einsetzen. Unter Gegenwart verstehen wir die erste Hålfte des zwanzigsten Jahrhunderts, diese Hålfte, die den Menschen, die in ihr zu leben berufen waren ± meine Zeit nehme ich mir ja nicht, sondern sie ist mir von Gott

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gesetzt, und ich bin meine Zeit 10 ! ± so ungeheure Fragen, Probleme und Næte aufbçrdete. Spengler hat sie die Zeit des Untergangs des Abendlandes genannt. Es spricht so vieles dafçr, daû er recht hat. Ein Historiker unserer Tage hat das Jahr 1917 als das entscheidende Jahr dieses Zeitabschnitts bezeichnet, das Jahr des Eintritts Amerikas in den Krieg und der Revolution in Ruûland, der Revolution, welcher im Unterschiede zur franzæsischen das kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels zugrunde lag 11 . Max Scheler, der ehemalige Kælner Philosoph, sah im ersten Weltkrieg die entscheidende Zåsur, weil hier das bis dahin aufrechterhaltene Ideal der Humanitåt, das aus dem achtzehnten und frçhen neunzehnten Jahrhundert stammte, zugrunde ging und gleichzeitig die Welt ± also das Mit- und Gegeneinander aller græûeren Kulturnationen ± bewuûtes Ereignis wurde. 12 Schlieûlich wird man auch noch den weiteren Gedanken Spenglers geltend machen dçrfen, daû in unserer Epoche das Kolonialzeitalter endet, in Europa sowohl wie in Asien. 13 In Europa sind die deutschen Kolonisatoren endgçltig zurçckgeworfen ± in Asien ist die Herrschaft des weiûen Mannes zu Ende. Was das wiederum an Krisen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und auch moralischer Art fçr unseren Kontinent zur Folge haben wird, denn der Industrialismus Westeuropas hat ja faktisch weithin von der Tatsache der billigen Arbeit in den Kolonien her und dem Export dorthin gelebt, das sieht man heute an den Wirtschaftskrisen Westeuropas. Dazu kommt dann weiter die groûe Problematik des Krieges, der, als technischer Krieg, sich mehr und mehr als Ende jeglicher Zivilisation entfaltet und der auch in Europa die Gedanken der non-violence (zunåchst in nicht-christlicher, mehr Ghandischer als Tolstoischer Fassung) in Umlauf gebracht hat. Wenn man heute eine Landkarte Europas aus dem Jahre 1900 neben 10. R. Hermann, Die Sachlichkeit als ethischer Grundbegriff, 250 ff., und ders., Religionsphilosophie, Gesammelte und nachgelassene Werke, Band V, mit einer Einleitung herausgegeben von Heinrich Assel, Gættingen 1995. 11. Diese Andeutung des Jahres 1917 als »das Epochenjahr« findet sich u. a. bei Karl Kupisch, Harry Pross und Golo Mann. Vielleicht war Werner Conze der erste, der diese Formulierung gebraucht hat (Neueste Geschichte, in: Karl Ploetz, Auszug aus der Geschichte, Kap. VI, Wçrzburg 195024 , 940). Hat sich aber Conze schon vor 1950 in åhnlichem Sinne çber 1917 geåuûert? 12. Vgl. Max Scheler, Die christliche Liebesidee und die gegenwårtige Welt; Vom kulturellen Wiederaufbau Europas; ders. Der Krieg als Gesamterlebnis, in: Gesammelte Werke, Bd. 4: Politisch-pådagogische Schriften, Bonn 1982, 274. Vgl. H. J. Iwand, Das Liebesgebot und der Wiederaufbau Europas, JK 21 (1960) 519. 13. Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Zweiter Band. Welthistorische Perspektiven, Mçnchen 1922, 537540.

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eine solche aus dem Jahre 1949 legen wçrde; wenn man heute die Hauptstådte Europas von damals ± das Berlin Wilhelms II., das Petersburg des letzten Zaren, das Wien Franz Josephs, aber auch das Paris der Dritten Republik und das London der englischen society aus der viktorianischen Epoche ± mit dem vergleicht, was heute diese Stådte als die empfindlichsten Punkte unserer Zivilisation ausdrçcken ± Angst, Sorge und Untergang ± und man sich dann fragt, was hatte, was hat die Theologie in diesen Zeiten gesagt, getan: dann erst hat man den Rahmen, den weltgeschichtlichen, groûen, nicht wegdenkbaren Rahmen, in den hinein unser Stçck Theologiegeschichte zu stehen kommt. Ist die Kirche vielleicht ± und mit ihr die Theologie ± zu einer Art Arche Noah geworden, in der die Menschen hoffen, die Sintflut zu çberleben (Gen 9)? Oder ist hier wirklich etwas laut geworden von echter Prophetie, von rettungweisender Umkehr und Buûe, ist hier wirklich etwas zu spçren davon, daû Berge weichen und Hçgel hinfallen, aber der Bund des Friedens Gottes gehalten wird (Jes 54,10), trotz Sçnde und himmelschreiender Bosheit? Ist hier ± wenn nicht hier, wo sollte es sonst sein? ± wirklich etwas davon begriffen, daû Gottes Wort und Offenbarung etwas anderes ist als Moral, daû nicht der Zusammenbruch der Moral, sondern der Unglaube die Wurzel aller Sçnde ist (Joh 16,8 f.)? Hat die Theologie in diesen Zeiten wirklich Gebrauch gemacht von ihrem Erstgeburtsrecht, also davon, daû hier mehr ist als Philosophie, daû hier Antworten sind und nicht nur Fragen, Entscheidungen und nicht nur Probleme, Gebote und nicht nur menschliche Plåne und Planungen? Hat sie, die Theologie, in ihr eigentliches Arsenal zurçckgegriffen, wagt sie Ernst zu machen mit dem, was sie doch in der Schrift vor sich hat, daû die Schwachheit Gottes stårker ist, als die Menschen sind, und die Torheit Gottes weiser, als die Menschen sind (1Kor 1,25)? Das eigentlich ist die Frage gewesen, um die es in dieser Epoche immer wieder geht ± also ob die Theologie wagt, von sich wieder so groû zu denken, wie es ± der Sache nach ± nætig wåre, und doch wieder so gering, wie es den Umstånden nach ± eben den Umstånden, die uns fast von Kindesbeinen an in diesem Kontinent umgeben ± ebenfalls nætig wåre. Oder will die Theologie doch ± Kulturtheologie bleiben, Verklårung dieses Daseins und seiner menschlichen Leistungen, die hæchste Spitze der Humanitåt, das, was sie eben war und geworden ist im neunzehnten Jahrhundert, mit ihren groûen, imposanten wissenschaftlichen Leistungen ± aber doch gerade darum dem Gericht preisgegeben, das die Berge einebnet und die Tåler erhæht (vgl. Jes 49,11)? Und das wiederum bringt uns zum anderen: warum wir gerade von der systematischen Theologie ausgehen! Darauf ist zu antworten: Weil hier im

2. Was ist Theologie?

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Prinzipiellen und im einzelnen der Kampf um die theologische Existenz ausgefochten wird. Weil hier, das heiût systematisch, die Fragen im Zusammenhang gesehen werden, weil hier nach den Prinzipien gefragt wird, nach denen in den einzelnen Disziplinen gearbeitet wird.

2. Was ist Theologie? 14 2.1 Von Gott reden Es ist unendlich schwer, einen guten und tiefen Einblick in das Ringen zu geben, das sich gerade um diese Frage in den Jahren nach dem ersten Weltkriege, in dem Jahrzehnt zwischen 1922 ± als Barth seinen berçhmten Vortrag hielt: »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie« 15 ± und dem Jahre 1932, in dem Gogartens Aufsatz: »Zur Problemlage der theologischen Wissenschaft« 16 erschienen ist. In diesen Jahren werden immer wieder, unter Beteiligung der besten und wachsten unter den jçngeren Theologen, die Fragen nach der Aufgabe und dem Wesen der Theologie durchdiskutiert. Der ganze Boden wird neu aufgepflçgt. Der bis dahin ± mit wenigen Ausnahmen ± als fundamental hingenommene Ansatz Schleiermachers, der den Begriff der Religion zugrunde legte, wird grundsåtzlich angegriffen. Warum? Woher? In welcher Kraft geschieht dieser Angriff? Gehen wir zunåchst einmal dem Grundgedanken jenes Vortrages von Barth nach. Merkwçrdig, daû Barth hier schon es vermeidet, seine Fragestellung als durch die Zeit, die Gesellschaft oder auch durch die Situation der Kirche motiviert sein zu lassen. Was er zu sagen hat, hångt mit diesen Dingen nicht zusammen. Er spricht von einer Bedrångnis, die sich daraus ergibt, »daû wir Theologen sind«, diese »Bedrångnis (¼) ist von den Umstånden, in denen wir uns befinden mægen, ganz unabhångig« (148). Er tritt nicht an mit dem Wunsche und der Forderung einer Kirchenreform.

14. Ûberschrift Iwands. 15. K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), in: K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vortråge, Mçnchen 1924, 156-178, auch in: K. Barth, Vortråge und kleinere Arbeiten 1922-1925, 144-175. Seitenangaben nach der letztgenannten Fassung im Text. 16. F. Gogarten, Die Problemlage der theologischen Wissenschaft, ZdZ 10 (1932) 295311.

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»Wenn einmal alle Kåmpfe gegen eine alte und fçr eine neue Kirche (¼) so gegenstandslos werden, wie sie es innerlich vielleicht ohnehin sind, wenn (¼) der darauf verwendete Ernst frei wird fçr ernsthaftere Gegenstånde, rçckt einem die wesentliche Not der Theologie nur umso grimmiger zu Leibe« (150 f.). Denn sie liegt »in der Sache« (151). Sie ist nicht geringer bei Mose oder bei Paulus, bei Luther oder bei Calvin als bei uns heute. Sie wird sich immer wiederholen, wo einer Ernst macht mit seiner theologischen Existenz. Sie ist insofern unabhångig von guten und schlechten Zeiten, sie hat nichts zu tun mit dem »seltsamen Schaukelspiel des seelischen Lebens« (148), das heiût also mit dem, was etwa die Psychologen, was die Selbstbeobachtung an uns feststellen kænnte ± sie ist gegeben mit der Berufung zur Theologie, zu dem darin beschlossenen Auftrage. Und dann formuliert er sie, die mit der »Situation« des Theologen gegebene Not in jenen drei so einfachen und schlichten Såtzen, die dennoch entscheidend dafçr geworden sind, daû die Frage nach der Theologie seither nicht mehr zur Ruhe gekommen ist: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und kænnen als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Kænnen, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.« Das ± sagt Barth ± sei unsere Bedrångnis, alles andere daneben ist Kinderspiel. Sieht man nun genauer hin, so erkennt man, daû der Mann, der hier redet, aus der Not und Bedrångnis seines Amtes kommt. Dies Thema ist auf der Kanzel aufgebrochen, ist aufgebrochen angesichts der Tatsache, daû Menschen kommen, um von uns »etwas« zu hæren. Was der spåtere Barth in seiner groûen Dogmatik ausfçhren wird, daû nåmlich die Existenz des Menschen nur dann gottwohlgefållig gelebt ist, wenn sie von Mitmenschen her gelebt ist, das bricht hier schon auf: Unsere Existenz als Theologen ist nur zu verstehen auf Grund der Existenznot der anderen Menschen. Man kænnte schon sagen, gerade das hat auch Schleiermacher gewuût, gerade das hat auch er eingebaut in das Fundament seiner Glaubenslehre. Fræmmigkeit ist immer Sache der Gemeinschaft. Aber er hat sich's doch etwas leichter gemacht. Er hat sich bei dieser Not, um die es geht, innerhalb der Existenz gehalten. Barth aber meint im Gegenteil: »Zum Aufbau ihrer Existenz (¼) brauchen sie uns nicht.« (151) Jenseits ihrer Existenz beginnt erst die Sache, das Wozu, um deswillen sie zu uns kommen. Sie sind naiv genug, anzunehmen, andere kænnten, was sie nicht kænnen. »Darum schieben sie uns in unsre merkwçrdige Sonderexistenz, darum stellen sie uns auf ihre Kanzel (¼), damit wir daselbst von Gott reden sollen.« »Zum Leben« ± so meint Barth ± »brauchen sie uns nicht, wohl aber zum Sterben, in dessen Schatten ja ihr ganzes Leben

2. Was ist Theologie?

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steht.« 17 Auf dem messerscharfen Gradweg zwischen Zeit und Ewigkeit ± wo wir immer wieder zu wandeln genætigt sind ± da brechen jene »letzten Fragen«, die Fragen nach den »letzten« Dingen auf, um derentwillen sie dann »zu uns« kommen. Und nun vollzieht Barth die Emanzipation der Theologie, um die es seither geht: »An den Grenzen der Humanitåt ist das theologische Problem aufgerufen. Die Philosophen wissen das, wir Theologen scheinen es manchmal nicht zu wissen« (152). Das ist die Rebellion gegen alles bisher Geltende. Bisher hatte die Theologie ihren Platz »innerhalb der reinen Vernunft«, innerhalb der Grenzen der Humanitåt, bisher galt als ihre Begrçndung nach einem Satze Herders, daû Humanitåt ohne Divinitåt Bestialitåt sei 18 ; bisher galt Christus als »der Anfang der Entwicklung des hæchsten Selbstbewuûtseins der menschlichen Natur«. 19 Nun auf einmal wird die Theologie herausgenommen aus diesem wissenschaftlichen, geistigen, kulturellen Zusammenhang und wird als »Notzeichen einer Verlegenheit« bezeichnet, einer Verlegenheit freilich, »die çber die ganze Skala wirklicher und mæglicher menschlicher Zuståndlichkeiten sich ausbreitet, in der sich (¼) der moralische mit dem unmoralischen, der geistige mit dem ungeistigen, der fromme mit dem unfrommen Menschen, in der sich der Mensch einfach als Mensch befindet« (153). Die Bedrångung der theologischen Existenz ist das Aufbrechen einer Not, die den Menschen in seinem qualitativen Anderssein als Gott trifft. Die also seine besondere und doch seine allgemeine Not ist. Hier bricht sie auf, hier wird sie akut. Der Mensch »schreit (¼) nicht nach Læsungen (¼), sondern nach Erlæsung« (154), »nicht nach einer Wahrheit, sondern nach der Wahrheit« (153 f.) ± er schreit »nach Gott als dem Erlæser seiner Menschlichkeit«. Natçrlich kann man diese Frage mit Surrogaten beantworten. Wir kænnen antworten, wir antworten auch oft genug, wir bringen so den Fra17. »Zum Leben brauchen uns die Menschen offenbar nicht, aber zum Sterben, in dessen Schatten ja ihr ganzes Leben steht, scheinen sie uns brauchen zu wollen.« 18. J. G. Herder: »Das Gættliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanitåt (¼) Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablåssig fortgesetzt werden muû, oder wir sinken (¼) zur rohen Tierheit, zur Brutalitåt zurçck« (Briefe zur Befærderung der Humanitåt 27, Dritte Sammlung 1794, in: Herders Werke. Nach den besten Quellen revidierte Ausgabe, hg. von H. Dçntzer und W. da Fonsoca, Band 13, Berlin 1879, 124). Das Wort »Bestialitåt« findet sich in einem Epigramm F. Grillparzers von 1849: »Der Weg der neueren Bildung geht / Von Humanitåt / Durch Nationalitåt / Zur Bestialitåt« (Gedichte, 3. Abteilung, III »Einfålle und Inschriften«). Vgl. NW 2, 21; NWN 2, 460. 19. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsåtzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/1831), Bd. I, 93 (§ 14 Zusatz): »Ist also Christus einmal als Erlæser anerkannt, mithin als der Anfang der hæchsten Entwicklung der menschlichen Natur auf dem Gebiet des Selbstbewuûtseins: so ¼«.

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ger, aber nie die Frage zum Schweigen. Wir erzeugen nur die verzweifelte Einsicht der Fragenden, daû wir auch nicht mehr wissen ± in dieser letzten Frage jedenfalls nicht mehr wissen ± als sie. Aber ± wer diese letzte Frage stellt, die Frage nach dem lebendigen Gott, dem werden alle unsere Antworten immer wieder unter den Hånden »zu einem einzigen Træpflein (¼), das nur noch Frage ist, und diese Frage ist er selbst, seine Existenz, und jenseits, jenseits aller bekannten Meere ist die Antwort«. »Nach der Antwort, die als Antwort seine Frage wåre, nach dem Unendlichen, das als Unendliches endlich wåre, nach dem dort, der als der, der er dort ist, er hier wåre, nach Gott, der als Gott Mensch wåre, fragt er, wenn er nach Gott fragt« (154). Im Grunde ist damit ± mit diesen ganz einfachen Såtzen ± etwas Unerhærtes, etwas wirklich Neues geschehen: hier ist die Frage schon von der Antwort her verstanden und damit erst wirklich verstanden: »Nach Gott, der als Gott Mensch wåre, fragt er!« Damit ist ein Strich gemacht durch alle die mçhsame, lahme und im Letzten weder Gott noch dem Menschen gerecht werdende Apologetik, die meinte, die Menschwerdung Gottes nur als eine theologisch hæchst verklausulierte Sache in der Welt des »modernen Menschen« anbringen zu kænnen ± nein, so gewiû alle Religionen der Menschen Gott vermenschlicht haben, so gewiû hat Barth den Nagel auf den Kopf getroffen: Das ist unsere Sehnsucht, das wåre die Erfçllung, das die Antwort, um derentwillen wir aufgesucht, wir noch gehært, wir in diesem Beruf geduldet, vielleicht sogar geehrt werden! Weil vielleicht der Monolog unseres Daseins hier ein Ende haben kænnte, weil mitten in unserem Menschsein ein anderes Menschsein wåre, so daû wirklich unsere Einsamkeit, unser Verlassensein ein Ende håtte. Um deswillen wird gepredigt, um deswillen wird die Predigt gehært. Barth hat die Aufgabe der Theologie ± dieses harte und schwere Problem ± aus der Verkçndigung gewonnen. Was heiût denn: Es wird verkçndigt? Wenn nicht dies, daû hier der Monolog unserer Existenz durchbrochen ist ± und die ganze menschliche Geschichte in ihrem tausendfachen Wechsel, ihrem Auf und Ab, ist doch nur ein einziger Monolog. Sie wåre es jedenfalls, wenn ± ja, wenn es die Verkçndigung, das Reden Gottes mit uns, nicht gåbe! Genau dasselbe gilt aber auch von der Universitåtstheologie. »Auch als Glied der Universitas literarum ist die Theologie ein Notzeichen, ein Zeichen, daû etwas nicht in Ordnung ist.« Denn »gerade die echte Wissenschaft ist bekanntlich ihrer Sache nicht sicher« (155). »Jede Einzelwissenschaft« weiû genau um »das Minus, das vor ihrer Klammer steht. (¼) Denke man sich, diese Fragezeichen seien nun wirklich das Letzte was jede Wissenschaft zu sagen hat, wie offenkundig wåre es dann, daû der vermeintliche akademische Kosmos in Wirklichkeit ein Gewirr von vereinzel-

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ten Blåttern ist, die çber einem Abgrund flattern! (¼) Und darum, um ihres schlechten oder vielmehr um ihres trostbedçrftigen Gewissens willen, duldet die Universitåt die Theologie in ihren Mauern, etwas verdrieûlich çber die Ungeduld, mit der die Theologen ausgerechnet gerade auf das Letzte, von dem man nicht spricht, die Finger 20 legen ± und doch (¼) auch heimlich froh darçber, daû Jemand sich dazu hergibt, so unwissenschaftlich zu sein und durch lautes (¼) Reden eben von diesem Letzten (¼) die Erinnerung wachzuhalten, daû das Ganze, was da getrieben wird, einen Sinn haben mæchte.« Theologie ist auch hier ± innerhalb der akademischen Welt ± von Erwartung umgeben, und zwar von der Erwartung, »daû sie von Gott nicht nur flçstere und munkle, sondern rede, auf ihn nicht nur hinweise, sondern von ihm herkommend ihn bezeuge« (156). Nicht als »religionswissenschaftliche Fakultåt« hat die Theologie Sinn im Rahmen der universitas ± das Studium der religiæsen Phånomene unterscheidet sich in seiner prinzipiellen Mæglichkeit und Reichweite nicht von dem, »wie wenn ich einen Kåfer studiere« (157) ±, aber »als Frage- und Ausrufzeichen« am åuûersten Rande dieses ganzen wissenschaftlichen Unternehmens, das eben doch kein »Kosmos« ist ± als Eingeståndnis einer letzten Not und einer letzten Hoffnung, da hat Theologie und nun gerade als das, was sie ihrem Namen nach ist, als Lehre vom Worte Gottes, doch einen Sinn. Zwar nur einen zufålligen, nicht einen notwendigen; »nur als Notstandsmaûnahme« (156) låût sich das Dasein der Theologie neben der Philosophie rechtfertigen, erklårt Barth, genauso wie das der »Kirche in der Gesellschaft« ± und damit hat er wiederum einen gordischen Knoten zerhauen, an dem sich bereits Schleiermacher so ehrlich und unermçdlich gemçht hat. Schon Schleiermacher muû, um die Theologie innerhalb der Wissenschaften zu begrçnden, sich auf »Lehnsåtze aus der Ethik« berufen. Er muû etwas als »gegeben« hinnehmen, was nicht aus der Theologie selbst stammt. Er findet, eben weil er ja weiû, daû die Theologie es immer mit diesem Jesus von Nazareth zu tun hat, daû sie um seinetwillen und er nicht um ihretwillen da ist, keine ureigene Wurzel, aus der die Theologie ableitbar wåre wie etwa die Philosophie aus der Frage, warum ist das Sein und nicht vielmehr das Nichtsein. 21 Die Theologie entspringt keiner Frage, 20. Iwand benutzte einen frçheren Druck, in dem irrtçmlich »die Fragen« stand: K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, 162. 21. Der mittelalterliche hollåndische Philosoph Siger van Brabant fragte schon im 13. Jahrhundert: »Warum ist çberhaupt etwas und nicht vielmehr nichts in der Wirklichkeit?«. Meistens wird als erster G. W. Leibniz erwåhnt: »Warum ist çberhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?« (G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grace, Abschn. 7.); vgl. auch F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung,

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so gewiû sie eine Frage, die letzte Frage hært, meint und fçr ihr Lautwerden das Ohr frei macht ± aber die Theologie, die mehr und anderes ist als Religionswissenschaft, steht ebenso kontingent, so »fremd« in dem Zusammenhang der Wissenschaften, im »System« der vernunftmåûig erfaûten Welt, wie eben der, der ihr Gegenstand ist, der Gott, der Mensch wird, fremd in seiner eigensten Schæpfung steht. Barth hat wieder gesehen, daû wir auch im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht befugt sind, das »es hat Gott gefallen« von 1 Kor 1,21 durch ein von uns aus einsichtiges »Prinzip« zu ersetzen. Es muû die theologische Erkenntnis etwas »Fremdes«, etwas »Ørgerliches« an sich tragen, sie darf sich nicht dem »Schema« dieses Kosmos und seiner sophia (Weisheit) anpassen, gerade weil sie sonst dem Kosmos und allem, was in ihm sophia heiût, nicht helfen kænnte. Sie darf sich auch hier des Evangeliums nicht schåmen. Barth hat eins getan: Er hat die Frage nach der Theologie aus ihrer Formalisierung herausgenommen. Er hat sie vom Inhalt der Theologie her neu gestellt. Er hat keinen Hehl daraus gemacht, daû es in der Theologie um Eschatologie geht, daû nur das den Namen verdient, wo es nun eben gættlich und nicht menschlich zugeht. Freilich, Barth weiû nur zu genau, daû auch dies wieder zum billigen Schlagwort werden kann, zu einem bloû theoretischen »Gesichtspunkt«. »Eine Theologie« ± so heiût es in seinem Aufsatz çber Overbeck ±, »die es wagen wollte ± Eschatologie zu werden, wåre nicht nur eine neue Theologie, sondern zugleich ein neues Christentum, ja ein neues Wesen, selber schon ein Stçck von den ­letzten Dingen¬, turmhoch çber der Reformation und allen ­religiæsen¬ Bewegungen. Wer es wagen wollte, an diesem Turm zu bauen, wçrde wohl daran tun, zuvor zu sitzen und die Kosten zu çberschlagen (vgl. Lk 14,28). Zunåchst wird es fçr uns Alle, und je mehr wir uns unter dem Eindruck der Zeitereignisse zu Entscheidungen und Durchbrçchen gedrångt fçhlen um so mehr, das Beste sein, vor jener engen Pforte erst einmal erschrocken und ehrfçrchtig und ohne Geschrei nach positiven Vorschlågen stehen zu bleiben, zu begreifen, um was es sich handelt, einzusehen, daû uns aus dem Unmæglichen nur das Unmægliche retten kann.« 22 Der Overbecksche Satz: »Anders als mit Verwegenheit ist Theo-

Såmtliche Werke hg. von K. F. A. Schelling, Bd. II/3, 1858, S. 7: »Warum ist çberhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?«; M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a. M. 1967, 19: »Warum ist çberhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«. 22. K. Barth, Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie (1920), in: K. Barth, Die Theologie und die Kirche, 25. Seitenangaben im Text.

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logie nicht wieder zu grçnden« (23), 23 ist Barth aus der Seele gesprochen. Und auch der andere ist nicht ganz abzuweisen: »Man kann die Theologen die Figaros des Christentums nennen. Auf jeden Fall sind die modernen die hæchst anstelligen und brauchbaren, aber auch hæchst unzuverlåssigen Faktoten desselben. Das ist's was im Grunde ihres Herzens alle ehrlichen Pietisten von ihnen denken« (21). 24 Barth fragt so, zwischen Weltmenschen und Pietisten stehend: Was ist mein Beruf, eben in dieser meiner Sache als Theologe? Schleiermacher fragte: Was ist »Religion« ± und mit dieser Frage und der Antwort, die er darauf gab, grçndete er eine Epoche in der Theologie. An derselben Stelle, da, wo es um die Prinzipien geht, hebt nun die Frage an: Was ist Theologie? Und als Antwort auf die Mæglichkeit der Theologie als Wissenschaft, besser noch als menschlicher Rede, erscheint der Begriff »dialektische Theologie«. Wir haben gesagt, Barth hat dem Monolog des Menschen mit sich selbst ein Ende gemacht, der Begriff der dialektischen Theologie bedeutet auch dies: daû es um Rede und Antwort geht ± daû zwei dabei im Spiel sind.

2.2 »Es predigt« ± Gotteswort und Menschenwort So bricht kurz nach dem ersten Kriege die Frage nach der Theologie ± die Frage, was ist Theologie? ± neu auf, sie bricht so auf, wie sie eigentlich wohl seit der Reformation nicht mehr dagewesen ist. Die Aufklårung hat diese Frage ersetzt durch die andere: Was ist Religion? bzw. hat sie von vornherein beantwortet mit der These: Theologie ist die Wissenschaft von der Religion. Jetzt auf einmal ist die so lange vergessene, so lange unterdrçckte Frage wieder da: Was ist Theologie? Ist sie Menschenwort ± oder Gotteswort? Und wir sahen, diese Frage kam nicht aus der Wissenschaft ± weswegen sie auch von der zçnftigen Theologie so lange als unpassende Frage negiert wurde, wie wenn jemand das ganze, so gut eingespielte Konzert stært ±, sondern, und das ist von græûter Bedeutung: sie kam von dem Amt der Verkçndigung, sie kam von der Kirche her. Die Kirche fragte zurçck in den Raum der Wissenschaft, die Kirche vollzog innerhalb der Wissenschaft eine Art Aufstand, eine Revolution; sie fragte zurçck, was denn diese als Religionswissenschaft betriebene Ausbildung dem, der dazu 23. F. Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, aus dem Nachlaû hg. von C. A. Bernoulli, Basel 1919, 16. 24. F. Overbeck, a. a. O., 274.

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bestimmt oder auch dazu verurteilt, dazu von einer hæheren Instanz genætigt ist, zu predigen ± was dem diese Wissenschaft in seiner Not helfen kænnte. Die Kirche wurde zur Ståtte, von der aus ein »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« 25 vernehmbar wurde. So vernehmbar, daû es schlieûlich nichts nçtzte, das Schreien und Rufen von da drauûen zu ignorieren; zu erklåren, derartige Prinzipienfragen seien doch uferlos, demgegençber gelte es nur, tapfer weiter den Stoff zu bearbeiten ± der Schrei pflanzte sich fort, es zeigte sich, daû hier das Ûbel an der Wurzel gefaût war, oder soll ich sagen: es war darum an der Wurzel gefaût, weil hinter dieser Frage wieder die groûe, die långst uns entglittene Hoffnung stand: Der dort mçûte der hier sein!? Wenn sonntags die Glocken låuten, wenn die Menschen aus ihren doch so nætigen Arbeiten oder ebenfalls nætigen Erholungszeiten sich aufmachen, um dort eine bestimmte, eine besondere, mit keinem Theater, mit keinem Vortrag vergleichbare Rede anzuhæren ± dann mçûte in, mit und unter unseren Worten, unseren Menschenworten, dort ein anderes Wort erklingen, ein Wort, so totaliter aliter (ganz anders), daû es begreiflich wçrde, warum die Menschen an diese Quelle kommen, warum sie dies Wasser, das gratis, umsonst, rein aus Gnaden ausgeteilt wird (Jes 55,1) ± so begierig zu trinken suchen. 26 »Es predigt«, sagt Barth spåter in dem ersten Entwurf seiner Dogmatik. 27 Es predigt landauf und landab, aber was heiût das? Und was leistet die Theologie dazu, damit »es« wieder »predigt«? Er sagt, wir suchen in der Predigt von heute die Predigt von morgen. Barth sucht, was einmal da war, was einmal Sinn und Basis des evangelischen Gottesdienstes war: er sucht und fragt nach dem Wort Gottes im Menschenwort 28 . Wie ist das mæglich, daû Gott redet, indem ein Mensch, indem ich rede. Das fragt Barth ± diese Unterscheidung, diese Dialektik, macht er unaufhærlich geltend. Diese Dialektik bedeutet, daû der Monolog, 25. M. Luther, EG 299,1. 26. Anspielung auf K. Barth, Not und Verheiûung der christlichen Verkçndigung (1922), in: K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, 104; auch in: K. Barth, Vortråge und kleinere Arbeiten 1922-1925, 73. 27. »Sucht sie (sc. die Dogmatik) doch in der Predigt, die heute gehalten wird, die Predigt, die morgen gehalten werden soll. ­Es predigt¬« (K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. Bd. I Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik, Mçnchen 1927, 36 [= Karl Barth Gesamtausgabe, Zçrich 1982, 57]). 28. Iwands erste Begegnung mit Barth war in Kænigsberg 1924, als Barth dort einen Vortrag »Menschenwort und Gotteswort in der Predigt« hielt (Zwischen den Zeiten 3, 1925, 119-140; wieder abgedruckt in: K. Barth, Vortråge und kleinere Arbeiten 1922-1925, 426-457). Vgl. E. Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, Mçnchen 1975, 169 f.

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in den die Theologie als Religionswissenschaft verfallen war, dieses Reden innerhalb der menschlichen Mæglichkeiten, durchbrochen ist und durchbrochen werden muû, daû eine neue, ± obwohl alte ± und genuin biblische, genuin reformatorische Græûe wieder entdeckt ist: das Wort Gottes. Eine Fundgrube von auch heute ± gerade heute noch ± entscheidenden Mahnungen, Fragen, Weckrufen ist jener Vortrag, den Barth im selben Jahre ± 1922 ± in Magdeburg hålt. 29 »Darf ich Ihnen (¼) etwas erklåren?« ± heiût es da ±: »Es gehært zur Sache. Ich war 12 Jahre Pfarrer wie Sie alle, und hatte meine Theologie, nicht die meinige natçrlich, sondern die meines unvergessenen Lehrers Wilhelm Herrmann, aufgepfropft auf die mit meiner Heimat gegebene und mehr unbewuût als bewuût çbernommene reformierte Richtung (¼). Unabhångig von diesen meinen theologischen Denkgewohnheiten bin ich dann durch allerlei Umstånde immer stårker auf das spezifische Pfarrerproblem der Predigt gestoûen worden, suchte mich, wie Sie das ja sicher (¼) kennen, zurecht zu finden zwischen der Problematik des Menschenlebens auf der einen und dem Inhalt der Bibel auf der anderen Seite. Zu den Menschen, in den unerhærten Widerspruch ihres Lebens hinein sollte ich ja (¼) reden, aber reden von der nicht minder unerhærten Botschaft der Bibel (¼). Oft genug sind mir diese beide Græûen, das Leben und die Bibel, vorgekommen wie Skylla und Charybdis. Wenn das das Woher? und Wohin? der christlichen Verkçndigung ist, (¼) wer soll, wer kann da Pfarrer sein und predigen?« (70) Barths Theologie fçhlt sich ± das ist das Besondere an ihr ± nie als etwas Besonderes, als etwas Neues, als das, was er, nun gerade er zu sagen håtte. Er meint, er sage nur, was andere schweigend tragen, leiden, långst wissen. »Schweigen hat seine Zeit und Reden hat seine Zeit (¼) es war nun einmal so: die bekannte Situation des Pfarrers am Samstag an seinem Schreibtisch, am Sonntag auf der Kanzel verdichtete sich bei mir zu jener Randbemerkung zu aller Theologie, zuletzt in der voluminæsen Form eines ganzen Ræmerbriefkommentars und åhnlich ist es meinen Freunden ergangen« (70 f.). Barth will mit der Frage nach der theologischen Substanz die letzte Frage dringend machen, die Frage, die ohne Antwort bleiben muû, weil sie sonst nicht letzte Frage wåre, weil sie sonst doch schon im geheimen von uns beantwortet 29. Iwand zitiert im Folgenden Barths Vortrag »Not und Verheiûung der christlichen Verkçndigung«, in: K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, 99-124; auch in: K. Barth, Vortråge und kleinere Arbeiten 1922-1925, 65-97. Seitenangaben nach der letztgenannten Fassung im Text. Barth hat diesen Vortrag aber nicht in Magdeburg (wie Iwand auch in seinem Aufsatz »Erneuerung unserer Bildung aus dem Evangelium« [Der evangelische Erzieher 3, 1951, H.4, 10] erwåhnt), sondern in Schulpforta bei Naumburg a. d. Saale gehalten.

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wåre, ehe wir noch fragen. Barth will zeigen, daû unser Reden im Dienste Gottes ein Angewiesensein ist auf Sein Reden, daû jeder ± der ein rechter Theologe ist ± eines Tages an der Furt mit dem Engel Gottes um den Ûbergang, um die Heimkehr zu ringen hat und mit gebrochener Hçfte aus diesem Kampfe hervorgeht (Gen 32,22-32). Barth graut davor, daû wir eines Tages »unsere Theologie« (68) haben kænnten, daû es so harmlos, so menschlichumschreibbar zugehen kænnte, wo es doch im Grunde zunåchst eine kaum faûbare Bewegung ist: theologia viatorum (Theologie der Wanderer), das so lange vergessene Wort, kommt wieder auf. Erinnerung daran, daû wir als Christen Pilgrime sind und hier keine bleibende Stadt haben (Hebr 13,14) und daû die Theologie teilnehmen muû an dieser eschatologischen Situation der Kirche. »Ich weiû, daû ich nicht der erste und nicht der einzige bin, dem eine theologia viatorum quer hindurch durch die vorhandenen theologischen Mæglichkeiten zur Linken, zur Rechten und in der Mitte, alle verstehend, alle umfassend und alle çberwindend als Ziel seiner Sehnsucht vorschwebt. Wer mæchte heute nicht irgendwie ­çber den Richtungen¬ stehen? Ich weiû auch das, daû es noch keinem von diesen wirklichen oder vermeintlichen theologi viatores ± wenn die Gætter ihn nicht so sehr liebten, um ihn frçh sterben zu lassen ± gelungen ist, seinen Lauf zu vollenden, ohne daû er eben doch, wenn auch nicht eine Kathedrale oder Festung, so doch ein Zigeunerzelt irgendwo errichtet håtte, das dann, ob es ihm recht war oder nicht, statt als Glosse als Text, als eine neue Theologie aufgefaût worden wåre« (68 f.). Gerade das will der junge Barth nicht ± gerade dagegen kåmpft, streitet, davor fçrchtet sich noch der heutige, der die ganze Dogmatik mit seiner Frage nach der theologischen Substanz der Lehre durchwandernde Barth. Barths Theologie meint das mit der Situation der Predigt gegebene, in der katholischen Kirche verhångnisvoll verdeckte, durch das Geschehen der Eucharistie in den Schatten gestellte Ereignis der Gegenwart Gottes. Gott redet ± wie verfallen auch immer das Institut der evangelischen Gottesdienstordnung sein mag, wie schlecht die Predigt, wie gering die Gemeinde: es erinnert doch, im Unterschied zur katholischen Kirche, daran, daû es hier ums Letzte geht, eben weil Gott gegenwårtig ist, weil er mit seinem Wort mitten unter uns wohnen, uns leiten, regieren, træsten und zum ewigen Leben bewahren will. Weiû das die Theologie? Das Wissen um diese Not erscheint Barth immer wieder als das A und O der theologischen Existenz, wie eine Wunde, die nicht heilen darf ± an der wir nicht herumkurieren sollen, die auf einen anderen Arzt wartet. Man kænnte geradezu sagen, daû die Barthsche Theologie immer mehr und immer deutlicher darauf hinauskam, daû die theologische Frage die theologische Existenz,

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die Existenz des Menschen schlechthin, des Menschen vor Gott, des Menschen in seiner letzten Auswegslosigkeit, umfaût und in sich einschlieût ± alles andere ist sekundår; wåhrend die andere Seite, die spåter sich mehr und mehr von ihm trennte, die existential-theologische Seite nicht von der Theologie zur menschlichen Existenz, sondern umgekehrt, von der menschlichen Existenz zur Theologie schreitet. Fçr Barth ist letztlich alles uninteressant an der Existenz des Menschen, was nicht schon mit der theologischen Existenz gegeben wåre ± fçr die anderen ist es umgekehrt, da ist all das Theologische uninteressant, ist unwesentlich, was nicht mit der Existenz des Menschen gegeben wåre.

2.3 Dialektische Theologie Die dialektische Theologie hatte einen ungeheuren Vorzug: Sie verlegte die theologische Existenz jenseits von positiver und liberaler Theologie, sie nahm gewisse Wahrheiten beider in sich auf, aber hob das EntwederOder auf, das sich gegenseitig richtende, das die Tatsache verkennende Entweder-Oder, daû hier eine menschliche Mæglichkeit gegen eine andere ± ebenso uns mægliche ± Position ausgespielt wurde. Positiv kann ich sein, liberal genauso, ich kann sogar daraus Parteien, kirchliche Gruppen und Richtungen machen, ich kann dann doch in einer Synode zusammensitzen, wie verschiedene Parteien in einem Parlament, und alles, was eben noch in so todernsten Gegensåtzen erschien, wird dann doch ertrågliches Nebeneinander. An diesem Gegensatz kann die theologische Existenz nicht wiedergewonnen werden, hier wird sie weder gewonnen noch verloren; hier sind beide Parteien trotz aller Gegensåtze doch bereit, sich zusammenzuschlieûen, wenn die wahre theologische Existenz zur Debatte gestellt wird. Barth unterscheidet zwischen drei Wegen in der Theologie. Der erste ist der orthodoxe Weg. Da Theologie fçr ihn immer unter dem Satz steht: daû Gott Mensch wird ± Gott, der dort, wird der hier 30 ± hat er auch ein neues Auge fçr das Recht der Orthodoxie: schlieûlich, so meint er, kann auch der liberalste Theologe es nicht vermeiden, an einer bestimmten Stelle »dogmatisch« zu werden. Die Orthodoxie verhçllt sich das nicht, »in ihr lebt eine kråftige Erinnerung an das, was çberflçssig, und an das, was nætig ist, mehr als in manchen ihrer theologischen Gegner«. Wer erst einmal begrif30. K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (s. oben Anm. 15), 154. Seitenangaben im Text.

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fen hat, daû es sich nicht um »die Vergottung des Menschen«, sondern um »die Menschwerdung Gottes« 31 handelt, der »gewinnt (¼) Geschmack (¼) an dem Objektiven«, er begreift »die ihm zuvor als ­supra-naturalistisch¬ so verdåchtige (¼) Welt« der Dogmatik bis hin zu dem »Apostolikum mit allen seinen Hårten« (162). Aber ± »die Schwåche der Orthodoxie« ist dies, daû, insofern »wir alle ein wenig Dogmatiker sind, nicht darçber hinauskommen, diesen Inhalt, und wåre es auch nur das Wort ­Gott¬ ± dinglich, gegenståndlich, mythologisch-pragmatisch (¼) den Menschen gegençberzustellen: da, das glaube nun!« (162 f.). Hier wird »die Frage (¼) nach Gott durch die Antwort einfach niedergeschlagen« (163). Darum geht es ja gerade, daû der Mensch diese Dinge und Erkenntnisse wohl begreifen, aber daû er trotz alledem eben nicht ­glauben¬ kann, daû diese Not durch keine noch so lçckenlose Orthodoxie çberwunden werden kann ± denn um an Gott zu glauben, mçûte er sich uns offenbaren; ich will ja nicht an das glauben, was die Kirche, ihre Amtstråger, Bischæfe, Pastoren, Lehrer çber Gott lehren ± wie kann ich das glauben! Glauben hieûe doch, daû Gott selbst mich seiner gewiû macht, daû ich ganz von seinem Wort und seiner Gnade her weiû, was ich weiû ± das »testimonium spiritus sancti« (»Zeugnis des Heiligen Geistes«), das »ubi et quando Deo visum est« (»wo und wann Gott will«) 32 : das kann keine noch so linientreue Orthodoxie ersetzen. Der zweite Weg in der Theologie, wie Barth sie antraf ± vor einem Menschenalter ± ist der kritische. Hier handelt es sich darum, dem Menschen beim Abbau seiner Existenz behilflich zu sein. »Der Mensch ist etwas, das çberwunden werden muû.« 33 Hinter diesem Weg stehen Kierkegaard und Nietzsche, beide stellen den Menschen ihrer Zeit unter das Gericht, unter die Negation. Die »Lehre von der Katastrophe des Menschen (¼) ist ein Stçck Wahrheit (¼). Die Stårke dieses Redens liegt dort, wo die Schwåche des dogmatischen liegt: hier geschieht etwas, hier werden wir nicht stehen gelassen mit dem Bescheid, wir mçûten eben glauben, hier wird der Mensch in der ernsthaftesten Weise angegriffen, hier wird Gott so energisch Mensch, daû vom Menschen (¼) gar nichts çbrig bleibt.« (165) Aber ± der Inhalt dieser Botschaft ist eigentlich kein Inhalt. Er ist nur das Negative. Er ist das was alle Mystik, was die theologia negativa (negative Theologie) aller Zeiten wuûte und hochhielt: Gott muû wachsen, ich muû 31. Iwand wåhlte selber diesen Gegensatz als Titel einer theologischen Meditation im Kirchenkampf (Menschwerdung Gottes ± nicht Vergottung des Menschen, Evangelisches Gemeindeblatt fçr Ost-Preuûen 91, 1936, Heft 1, 3-5 und Heft 4, 26-28). 32. Confessio Augustana, Art. 5. 33. Vgl oben S. 109, Anm. 74.

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abnehmen (Joh 3,30)! Aber gerade diese Negation ist ja dem Menschen durchaus von sich her gelåufig, ist ja ± kann ja wenigstens der Ausdruck eines tiefen Nihilismus des Menschen selbst sein. »Wenn wir (¼) daran denken, daû der Mensch (¼) von diesem Fragezeichen jenseits aller (¼) Lebensinhalte (¼) gerade herkommt, so muû es uns doch stutzig machen, daû wir auf dem kritischen Wege eigentlich nichts Anderes tun, als daû wir (¼) dieses Fragezeichen irgendwie riesengroû machen.« (165). »Nicht Gott ist da Mensch geworden, sondern der Mensch ist da wieder einmal und erst recht Mensch geworden, und das ist kein heilvoller Vorgang« (166). So ergibt sich der dritte Weg, der dialektische ± dialektisch darum, als die groûen Wahrheiten des dogmatischen und des kritischen Weges hier in gleicher Weise vorausgesetzt sind, er ist der paulinische, der reformatorische Weg der theologischen Existenz. »Der echte Dialektiker weiû, daû [die] Mitte unfaûlich (¼) ist« ± unsere Mitteilungen çber diese Mitte sind »immer entweder Dogmatik oder Kritik« (167), aber niemals Mitteilungen çber das Geheimnis, das in der Mitte zwischen Position und Negation liegt ± çber das Wort Gottes selbst. Denn das Wort, Gott und Sein Reden ist undialektisch, Gottes Wort in Jesus ist Ja (2Kor 1,20) ± hier ist kein Wechsel von Licht und Finsternis. Unsere Theologie ist Bewegung, ist Frage, die nach Antwort verlangt, und Antwort, die zu neuer Frage fçhrt, ist Glaube, aber immer zugleich mit der Bitte: Herr, hilf meinem Unglauben (Mk 9,24). In jedem Akt des Glaubens wird mein Unglaube nur neu und tiefer und gefåhrlicher sichtbar ± bis ans Ende unser aller Existenz. Aber Gott und sein Wort sind nicht Bewegung, sind nicht »zeitgemåû«, Gottes Wort ist. Mit dem Satz, daû Gottes Wort nicht dialektisch sei, nimmt Barth das lutherische Est wieder auf, denn das meinte Luther in Marburg: »Der Text ist mir zu gewaltig.« 34 »Wer ­Jesus Christus¬ sagt, der darf nicht sagen: ­es kænnte sein¬, sondern: es ist. Aber wer von uns ist in der Lage, ­Jesus Christus¬ zu sagen? Wir mçssen uns vielleicht begnçgen mit der Feststellung, daû Jesus Christus gesagt ist von seinen ersten Zeugen. (¼) Zeugen von ihrem Zeugnis zu sein, also Schrifttheologen, das wåre dann unsere Aufgabe« (175).

34. »Aber ich bin gefangen, kann nicht heraus, der Text ist mir zu gewaltig da und will sich mit Worten nicht lassen aus dem Sinn reissen ¼«. M. Luther, Brief an die Strassburger Prediger (Dezember 1524), WA 15, 394, 12 ff.).

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2.4 Der andere Schçler Wilhelm Herrmanns: Rudolf Bultmann Man sieht, der junge Barth hat die långst vergessene, långst ins Reformationsmuseum gebrachte und bei Jubelfeiern gezeigte Fahne der sincera theologia (der reinen Theologie), der theologia crucis et ressurrectionis (Theologie des Kreuzes und der Auferstehung) wieder ergriffen, vom alten Staub befreit und um diese Fahne zum Sammeln gerufen, sie tief ins Lager des Gegners hineingetragen und dieses ganze religionswissenschaftliche, religionsgeschichtliche, psychologische, philosophische Geschåft in tiefste Verwirrung versetzt. Barth hat ± wie er selbst sagt ± im dunklen Glockenturm nach einem Seil gegriffen, ohne zu wissen, daû es zu låuten beginnt ± und auf einmal trug der Wind den Schall in alle Lande. 35 Aber Barth ist nicht der einzige und auch nicht der einzige Wilhelm-Herrmann-Schçler, auch nicht der einzige, der die neue Kraft der eschatologischen Zeit begriffen hat, um von da aus die Frage nach der Theologie neu zu stellen. Rudolf Bultmann kommt aus derselben Schule und derselben Zeit, Rudolf Bultmann kommt vom Neuen Testament her, er ist auch kein Liberaler mehr, er hat Wellhausens und Wredes den Liberalismus aufhebende, radikalisierende Kritik in sich aufgenommen. Er versteht die Theologie auch nicht mehr aus dem Kulturzusammenhang des ± griechisch verstandenen ± Kosmos, er weiû um die Kategorie der Offenbarung und des Offenbarers; er ist einer der ersten, der als junger Privatdozent in Breslau ± er liest çber den Ræmerbrief ± seine Vorlesung abbricht und die eben erschienene zweite Auflage des Ræmerbriefs von Barth statt dessen behandelt. Bultmann bleibt aber keineswegs bei der bloûen Fachwissenschaft des Neuen Testaments stehen, er gehært auch zu denen, die nicht mehr im alten Gehåuse der theologischen Methodik Ruhe finden; er hat selbst diese Methode ad absurdum fçhren helfen, er hat die letzten Positionen, auf denen sich der Liberalismus ein Existenzminimum von Offenbarung zu sichern suchte ± die Unterscheidung von echten und unechten Jesusworten, die These vom gættlichen Selbstbewuûtsein Jesu, die Theorie von der allmåhlichen Entfaltung des Gottesbewuûtseins in Jesus, von den Spuren einer solchen Evolution in der synoptischen Ûberlieferung ±: dies alles hat er zertrçmmert. Er hat und will durch die Forschung gerade den Glauben herausfordern, will zeigen, daû er im Nichts steht, im Nichts, aber auf dem Wort ± auf dem in actu je und dann geschehenden Wort. Darum muû auch er die Frage sich neu stellen: Was ist Theologie? ± und 35. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. Bd. I Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik, IX (= Karl Barth Gesamtausgabe, 7 f.).

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sehr zu unser aller Ûberraschung beantwortet er sie so, daû seine Antwort zu einer Rechtfertigung der natçrlichen Theologie fçhrt! Bultmann meint, die echte Dialektik zwischen Offenbarung und Vernunft verlange den Beibehalt, wenn auch den kritischen, den immer unter dem Vorzeichen dieses Øons, der Welt gemachten Beibehalt der natçrlichen Theologie. Aus dieser stammt jeweils das Vorverståndnis, ohne welches die Begriffe der Offenbarung in ihrem wahren Sachverhalt nicht einsichtig zu machen wåren. Wenn Bultmann die Frage nach der Theologie stellt, dann verwandelt sie sich bei ihm sofort in das Problem der Hermeneutik, das der rechten Interpretation. Fçr ihn ist die Frage nach der Theologie mit dem Thema »Glauben und Verstehen« umrissen. Machen wir uns erst einmal den Unterscheid klar. Hier fehlt der Ausgangspunkt, den wir soeben kennenlernten, die Predigt der Kirche, die Not und Verheiûung der Verkçndigung als Thematik, als Ursprung der Unruhe vællig. Hier ist ein ganz anderes Thema aufgesprungen, das von Glauben (credere) und Verstehen (intelligere). Hinter der Bultmannschen Fragestellung steht die wissenschaftliche Existenz des Theologen, des Christen çberhaupt. Manchmal denkt man, die alte Hofmannsche Formel: Ich der Christ bin mir dem Theologen eigenster Gegenstand meiner Theologie, 36 wåre hier wieder zum Leitmotiv der Ausgangsfrage gemacht. Ich denke, wenn ich wissenschaftlich denke, doch wohl innerhalb des Gesamtzusammenhanges eines allgemeinverståndlich ausgelegten Lebensganzen. Ich arbeite, auch als Theologe, innerhalb dieser gegebenen Normen und Gesetzlichkeiten. Ich kann nicht eine pneumatische Exegese fçr mich beanspruchen, eine Geheimwissenschaft der Theologen, die zu ganz anderen Resultaten fçhrt, als sie die normale Geschichtswissenschaft und Philologie zeitigen wçrde. Ich kann das intellektuelle Gewissen nicht dadurch zum Schweigen bringen, daû ich darauf hinweise, daû wir hier »als Theologen«, als »Glåubige« urteilen und forschen. Andererseits komme ich freilich nie durch Wissenschaft zum Glauben. Denn Glaube ist Entscheidung ± gerade diese Entscheidung zu radikalisieren, sie ganz und gar als Entscheidung, als Sprung zu erweisen, den Menschen den qualitativen Unterschied zwischen Erkenntnis und Offenbarung in ihrem hic et nunc deutlich zu machen, ist die Aufgabe der Theologie. 36. »Freie, nåmlich in Gott freie Wissenschaft ist die Theologie nur dann, wenn eben das, was den Christen zum Christen macht, sein in ihm selbståndiges Verhåltniû zu Gott, in wissenschaftlicher Selbsterkenntniû und Selbstaussage den Theologen zum Theologen macht, wenn ich der Christ mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft bin« (J. Chr. K. von Hofmann, Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch I, Nærdlingen 18572 , 10). Vgl. GA II, 179; NW 1, 32 (Anm. 13).

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Bultmann hat Martin Dibelius gegençber in seinem Aufsatz çber Geschichtliche und çbergeschichtliche Religion 37 sehr deutlich seine Meinung çber Theologie ausgesprochen. Weil, so meint er, Denken fçr Dibelius nicht ein »Lebensakt« ist, sondern eine »Beschåftigung«, eine rationale »Reflexion, deren Objekte den Dingcharakter haben, der wahrgenommen wird im Distanz-nehmenden«, d. h. im Absehen von der Wirklichkeit des eigenen Seins, darum »kann er die Theologie nicht als die Besinnung auf die Existenz des Christen fassen, sondern als rationale Untersuchung der Objekte des Glaubens und als Begrçndung des Glaubensinhalts«. Das aber ist ein grundsåtzlicher Fehler. Denn »von der gættlichen Welt (¼) kann (¼) çberhaupt nicht als von einem Etwas, einem Vorhandenen geredet werden«, und darum ist »der Mythos trotz græûerer Naivitåt um nichts besser daran (¼), als eine rationale Theologie, sofern auch er von der gættlichen Welt als von einem Etwas redet« (84). Das heiût aber nun nicht etwa, daû der »christliche Besitz nicht in Aussagen formuliert werden dçrfe« ± man hære und staune: »der christliche Besitz« ±, vielmehr gilt: »Ist das Sein des Menschen ein geschichtliches, so gehært dazu, daû der Mensch im Denken sich seine Welt und seine Existenz erschlieût und im Reden mit andern teilt.« Geistige Erschlossenheit von Existenz erst macht deren Geschichtlichkeit aus ± klingt das nicht ganz Hegel-Heidegger gemåû? Er-Innerung ist geschichtlich begriffenes Sein und ausgezeichnetes personales Sein. Darum ist es »des Menschen dringendste Aufgabe (¼), sich im Denken und Reden çber seine Situation klar zu werden, und nicht eine Kultusfrage (¼) ist die Kirchenfrage fçr den heutigen Protestantismus, sondern eine Frage der Theologie« (84). Das also heiût Theologie: sich çber seine Situation klarzuwerden, und zwar so, daû die Tåuschung, die nicht zufållige, sondern notwendige Illusion, in der der Mensch qua Mensch çber seine Situation lebt, hinfållt. Daû sie der Erkenntnis, dem Verstehen der Eigentlichkeit meiner Existenz, so wie ich als Geschæpf gemeint bin, weicht. Hier ergibt sich nun fçr Bultmann der so notwendige Begriff des Vorverståndnisses. Bultmann hat diese Gedanken in einem Aufsatz entwickelt, çberschrieben »Das Problem der natçrlichen Theologie« 38 . Denn mit dem Begriff des Vorverståndnisses will Bultmann bestimmen, welches Recht die natçrliche 37. R. Bultmann, Geschichtliche und çbergeschichtliche Religion im Christentum? in: R. Bultmann, Glauben und Verstehen [Bd. I], Tçbingen 1933, 65-84. Es handelt sich um eine Besprechung von M. Dibelius, Geschichtliche und çbergeschichtliche Religion im Christentum, Gættingen 1925. 38. R. Bultmann, Das Problem der »natçrlichen Theologie«, in: R. Bultmann, Glauben und Verstehen [Bd. I], 294-312. Seitenangaben im Text.

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Theologie im Protestantismus hat. »Die Tatsache, daû die christliche Verkçndigung, wenn sie einen Menschen trifft, von ihm verstanden werden kann, zeigt, daû er ein Vorverståndnis von ihr hat« (295). Alles Neue, was mir begegnet, also auch die christliche Botschaft, begegnet mir »in meinem Lebenszusammenhang«. Auch da, wo es seine Negation ist, wird »das Neue vom Alten her verstanden«. Nun kann man eben nicht sagen ± und dieser Gedanke ist eigentlich der entscheidende fçr Bultmann, er ist das A und O, die Quintessenz seiner Theologie ±, der »Lebenszusammenhang (¼) wird (¼) zerbrochen, [so] daû in dem Alten çberhaupt kein Vorverståndnis fçr das Neue enthalten sein kann«. Das wåre naturhaft, aber nicht geschichtlich gedacht. Eine Naturkatastrophe kann so ± kann diskontinuierlich ± gedacht werden, nie aber das geschichtliche menschliche Leben ± »es mçûte denn sein, daû durch Offenbarung und Glaube der alte Mensch vællig vernichtet wçrde und ein neuer ohne Kontinuitåt an seine Stelle tråte«. Aber das ist, so sagt Bultmann, die Meinung der Mystik, der Hermetik, nicht des Christentums. Im Christentum, welches den Glauben als Vergebung der Sçnden faût, »çbernimmt der Mensch seine Vergangenheit«. Die Kontinuitåt des alten mit dem neuen Menschen ist mit der »Vergebung« gesetzt: »er, der Mensch, ist es, der glaubt: simul peccator, simul iustus« (ist die Umkehrung zufållig oder ist sie bezeichnend?). Und nun formuliert Bultmann den wichtigen Satz vom Glauben: »Durch das Verstehen (¼) wird (¼) der Lebenszusammenhang (¼) erst voll konstituiert« (296). Das hieûe also: Der Glaube ist volles, den Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erst voll konstituierendes Verstehen. Auch der Glaube ± so lesen wir dort ± ist »eine Weise der Existenz«, genauso »wie der Unglaube das ganze Dasein durchherrscht als die charakteristische Weise des natçrlichen Menschen zu existieren«. Existenz ± der Name fçr mein Leben, sofern es von mir gelebt, nicht nur »objektiv« vorgestellt wird, sofern ich es »selbst bin«, ± Existenz ist also die Klammer, die Glaube und Unglaube umspannt. »Das glaubende Existieren vollzieht sich in einem neuen Verstehen der Existenz.« Es wird damit nicht wieder die Rede vom Gættlichen im Menschen, auch nicht vom Anknçpfungspunkt gerechtfertigt ± wohl aber gibt es ein mit »der alten Existenz und ihrem Selbstverståndnis gegebene(s) Vorverståndnis des Glaubens«. Die Offenbarung aktualisiert nur die Fragwçrdigkeit der menschlichen Existenz ± sie »kann nur in Frage stellen, was« ± an sich ± »schon in Frage steht« (297). Darum ist es die Aufgabe der natçrlichen Theologie, »aufzudecken, inwiefern die unglåubige Existenz und ihr Selbstverståndnis von ihrer Fragwçrdigkeit beherrscht und bewegt wird« (sie ist die »Unheimlichkeit des Exi-

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stierens«), »die als solche erst dem glåubigen Daseinsverståndnis sichtbar geworden ist«. Dieses sich selbst verstehende Dasein wird im »Phånomen« des Gewissens faûbar. Bultmann unterscheidet dann in der Weise des Existierens çberhaupt zwei Mæglichkeiten: einmal den Unglauben, als »Abweisung der [christlichen] Verkçndigung« ± er versteht den Ruf des Glaubens als Ruf zur Preisgabe des bisherigen Selbstverståndnisses ±, dann aber im Unterschied zu diesem Unglauben »kann (¼) die Existenz çberhaupt als vorglåubig bezeichnet werden« (298). Wir håtten also dann drei Weisen des Existierens, einmal die der Existenz als solcher, die beide, die des Unglaubens und die des Glaubens, umspannt. Sie ist der Boden, wo sich beide Menschen, der alte und der neue, wo sich Theologie und Philosophie, wo sich Kirche und Welt, wo sich sogar Unglaube und Glaube ± verstehen! Die Existenz ist die notwendige Voraussetzung des Ûbergangs vom Unglauben zum Glauben, der Glaube vernichtet ja nicht die Existenz, sondern konstituiert sie in ihrer »Eigentlichkeit«. Glaube ist fçr Bultmann ebenfalls, wie fçr alle dialektischen Theologen, Gehorsam und als solcher auf den »Augenblick« bezogen. Unglaube ist »Ungehorsam gegen die Forderung des Augenblicks«, wåhrend der Mensch, der sich ihn ± den Augenblick ± zu eigen macht, Gegenwart gewinnt: »in der todbereiten Ûbernahme des Da den Ur-Augenblick, in dem das Dasein verstehend sich selbst konstituiert. Indem er also die Urbewegung des seine Freiheit grçndenden Daseins wiederholend sie als die einzige Bewegung des Daseins versteht, in der es seine Eigentlichkeit wiedergewinnt« (304). Wir haben hoffentlich bereits begriffen, daû das eine andere Welt ist und daû der Gegensatz, der hiermit gesetzt ist, vielleicht sehr viel ernster ist und tiefer reicht als der alte von liberaler und positiver Theologie. Hier wird ja die »natçrliche Theologie« als solche gerechtfertigt, wird sie um der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins willen gefordert ± und somit wird indirekt aller diese natçrliche Theologie ausschliessenden Theologie erklårt, daû sie die Existenz des Menschen nicht mehr treffe, daû sie notwendig in alte Formen »objektiver Vorstellungen« verfalle. Bultmanns Thesen sind ein Angriff, ± er will damit alle Theologie treffen, die auûerhalb der Entscheidung, auûerhalb des Augenblicks denkt. Er behauptet nicht nur die »Unschuld« der Existenz als solcher ± Existenz heiût dann Schæpfung ±, sondern erklårt ausdrçcklich: »die formalen Strukturen des Daseins, die in der ontologischen Analyse aufgewiesen werden, sind neutral, d. h. sie gelten fçr alles Dasein«. Bultmann meint also, daû das glåubige Dasein nur seine Existenz versteht, indem es das unglåubige in sich eingeschlossen weiû, also beides zusammen ist. »Sofern die Theologie (¼)

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selbst die Bewegung des Philosophierens vollzieht, muû sie eine Bewegung des Unglaubens bewuût vollziehen« (312). Fast kænnte man sagen: »der Glaube kann mit der Sçnde zusammengehen«. 39 »Die Interpretation der vorglåubigen Existenz und ihres Selbstverståndnisses vom Glauben aus ist ­natçrliche Theologie¬« ± der Glaube fçhrt auf diese Weise »zur ursprçnglichen Schæpfung zurçck« (311). Wieder kænnte man ein scholastisches Motto anfçhren: »Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern stellt sie wieder her«. 40 Und schieûlich, was meinte denn die Scholastik anderes, wenn sie zwischen der existentialen Gnade, der gratia gratis data (umsonst gegebenen Gnade), und der Sakramentsgnade, der gratia gratum faciens (Gott angenehm machenden Gnade), unterschieden wissen wollte? Unglaube, so meinte die Scholastik, bedeutet eben dies, daû ich von der gratia gratis data, also aus der Freiheit des Daseins in der Existenz, zu meiner eigenen Freiheit abfalle, und erst durch die gratia gratum faciens, durch die Vergebung Gottes, wieder in die Schæpfung aus Gnaden aufgenommen, hineinversetzt werde. 41 Existenz als solche ist ja schon ± wenn auch nicht verstandene, nicht im Glauben gelebte ± Gnade. Offenbarung bedeutet zweierlei, einmal, daû mir offenbar wird, daû ich ein Sçnder bin, der seine Existenz nicht im Gehorsam, also nicht aus der iustitia originalis (ursprçnglichen Gerechtigkeit), lebt ± und zweitens, daû ich ein Gerechtfertigter bin, der dank Jesus Christus die Mæglichkeit wiedergewonnen hat, in der Eigentlichkeit seiner Existenz, so wie ihn Gott gemeint hat, zu existieren. Ich finde also nicht den Punkt, es sei denn in der personalen und nicht sakramentlichen Fassung der Gnade, wo dieses Verståndnis von Theologie sich wesentlich von der ernsthaft verstandenen Scholastik ± etwa des Thomas ± abhebt. Eine Existenz ± und zweierlei modi zu existieren: der unglåubige modus und der glåubige, aber der unglåubige nie sich selbst einsichtig, sondern nur vom Glauben her »sich verstehend«. Zweierlei Gnade, eine der Schæpfung und eine der Wiederherstellung, der Vergebung. Und çber dem allen, genau wie bei Thomas ± genau in derselben, mit der Philosophie konfrontierten Fragestellung ±: Es gibt »neutrale« »Strukturen des Daseins«, es gibt also philosophisch »unschuldige« »ontologische Strukturen«, die in beiden Systemen, in der Philosophie wie in der Theologie gleich sind. Steht Heidegger so hinter Bultmann wie Aristoteles ± nicht mehr, aber auch nicht we39. »Fides non potest stare cum peccato« (Thesen de fide 1535, WA 39 I, 45). Vgl. NWN 1, 18; 274. 40. »Gratia non tollit, sed reparat naturam« (Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I.1.8 ad 2). 41. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II, qu. CXI.

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niger ± hinter Thomas steht? Begegnen wir hier der thomistischen Methode in protestantischer Existentialitåt? Also mit der durch den Namen Kierkegaard und seinen »Augenblick« bezeichneten Grenze? Sollte auch bei Bultmann faûbar werden, wie nahe alle, die sich dem Existentialismus Kierkegaards verschreiben, denn doch dem katholischen Schema von Theologie kommen? Aber Bultmann wird sagen, was er behaupte, zeige sich schon darin als richtig, daû die Hermeneutik des Daseins nicht ohne ein gemeinsames Verstehen der Begriffe auskomme, Tod und Leben, Gott und Welt, Sçnde und Gerechtigkeit treffe ich einfach als mit einem bestimmten Existenzverståndnis erfçllt an. Das sei doch gar nicht zu leugnen. Was sagen wir dazu? Wir werden fragen mçssen, ob die Grundthese zu recht besteht, daû Dasein sich selbst auslegendes, verstehendes (wenn auch falsch verstehendes) Dasein ist; ob also das Verstehen Grundstruktur des Daseins ist, ob alles existere und vivere, wie Augustin meinte, im intelligere endet. Wer sagt eigentlich, daû Glaube und Unglaube je schon auf Verstehen bezogen seien? Ist das nicht gerade die Grundthese der scholastischen Theologie? Ihres echten und tiefen ± aber keineswegs unbestrittenen Wesens? Ist das nicht auch gerade mittelalterlich-katholisch, daû die glåubige und die unglåubige Existenz ± sich mit sich selbst vergleichend ± zum Verstehen ihrer selbst zu gelangen sucht? Darum simul peccator, simul iustus. Wåhrend die Reformatoren umgekehrt sagen: Simul iustus, simul peccator (Gerechter und Sçnder zugleich), wåhrend sie proklamieren: fides non potest stare cum peccato (der Glaube kann mit der Sçnde nicht zusammengehen) 42 ± sie meinen damit etwas ganz anderes: daû nåmlich das rechtfertigende Urteil Gottes nur aus dem Gegençber zu Gott sinnvoll sei, iustus Deo reputante, peccator in estimatione mea (gerecht in Gottes Urteil, Sçnder in meinem eigenen Urteil). 43 Daû hier zwei ± wenn man so will ± Daseinsaussagen gemacht werden, aber so, daû die Aussage des Menschen çber sich durch Gottes Urteil aufgehoben wird. Nicht die glåubige und die unglåubige Existenz wird hier miteinander ins Verhåltnis gesetzt, sondern der Mensch im Urteil çber sich selbst wird dem Urteil Gottes ± dem Gnadenurteil Gottes ± unterstellt. Die Reformatoren haben gerade dadurch das scholastische Schema zerbrochen, daû sie das Verstehen, also das Selbstverståndnis, nicht mehr als Basis der theologischen Begriffsbildung ansahen, sondern das Wunder Gottes darin bezeugten: »­Wundersam ist Gott in seinen Heiligen¬ (Ps 42. Vgl. oben S. 251, Anm. 39. 43. Vgl. M. Luther, WA 56, 268, 31-269, 3.

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68,36), vor dem sie zugleich Gerechte und Ungerechte sind. Und wundersam ist Gott in den Heuchlern, vor dem sie zugleich Ungerechte und Gerechte sind. Weil die Heiligen ihre Sçnde immer vor Augen haben und die Gerechtigkeit von Gott nach seiner Barmherzigkeit erflehen, eben darum werden sie auch von Gott immer als gerecht angesehen. Also sind sie in ihren eigenen Augen (¼) ungerecht, bei Gott aber, der sie um dieses Bekenntnisses ihrer Sçnde willen als gerecht ansieht, sind sie gerecht. In Wirklichkeit Sçnder, sind sie gerecht durch das gnådige Ansehen Gottes, der sich ihrer erbarmt. Ûber ihr Wissen hinaus sind sie gerecht, ihrem Wissen nach ungerecht, Sçnder in Wirklichkeit, gerecht aber in Hoffnung.« 44 Das Schema der Bewuûtheit, des Sich-Verstehens, ist also hier nicht mehr festgehalten, hier ist nicht mehr gesagt, daû die Rechtfertigung und Vergebung uns zum Verstehen des eigentlichen, des ursprçnglichen Daseins bringt; hier bleibt die Gerechtigkeit, das neue Leben dem Spruch Gottes inhårent ± »çber ihr Wissen hinaus«, sagt Luther! »Die Heuchler aber sind inwendig immer gerecht«! 45 Heuchler nennen die Reformatoren jeden Versuch, »intrinsece«, also »in uns« gerecht zu sein, das neue Leben als eine Mæglichkeit meines Existierens zu verstehen. So schwierig es fçr eine von Bultmann herkommende Theologie sein wçrde, dies zuzugeben und das reine Wort, die reputatio Dei (Urteil Gottes), das extrinsece = apud Deum (auûer uns, d. h. bei Gott), so stehenzulassen, so schwer war und ist es heute noch einem katholischen Theologen, das zu fassen, was Barth als Wesen der Theologie bestimmt.

2.5 Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? Bultmann nimmt also dieselbe Frage auf, die Barth stellt: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? 46 Auch er weiû, daû wir von Gott nicht schwei44. »­Mirabilis Deus in sanctis suis¬, cui simul sunt iusti et iniusti. Et mirabilis etiam in hypocritis Deus, cui simul sunt iniusti et iusti. ± Quia dum sancti peccatum suum semper in conspectu habent et iustitiam a Deo misericordia implorant, eo ipso semper quoque iusti a Deo reputantur. Ergo sibi ipsis (¼) iusti sunt, Deo autem propter hanc confessionem peccati eos reputanti iusti; re vera peccatores, sed reputatione miserentis Dei iusti; ignoranter iusti et scientes iniusti; peccatores in re, iusti autem in spe.« M. Luther, WA 56, 269, 21-30. Vgl. Rechtfertigungslehre und Christusglaube, 31 (Anm. 2) und 59 (Anm. 2); NW 4, 267; GA II, 213 (Anm. 34). 45. »Hipocrite, qui intrinsece sunt iusti!« Vgl. M. Luther, WA 56, 268, 29: »Hipocritae autem intrinsece sunt iusti semper.« 46. R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: R. Bultmann, Glauben und Verstehen [Bd. I], 26-37. Seitenangaben im Text.

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gen kænnen, daû es sich bei diesem Reden um ein Mçssen handelt, ein Mçssen, das »von Gott aus gesprochen« ist, und »sich ganz unserer Verfçgung (¼) entzieht (¼). Unser ist allein die freie Tat«, die in der gehorsamen Ûbernahme des Mçssens besteht. Wir sagen »ja auch nur hypothetisch« ± so umschreibt Bultmann seine Position: »es gibt fçr uns die Mæglichkeit, aus Gott zu reden und zu handeln, wenn es sie als Mçssen gibt.« Niemand kann also sagen, daû es fçr ihn dieses Mçssen gibt, er kann nur sagen, was es bedeutet, wenn er je unter dieses Mçssen geriete, »daû es nåmlich von uns aus nur freie Tat sein kann, weil es sonst ja nicht unser existentielles Sein enthalten wçrde« (35). Merken wir uns das zunåchst einmal: Existenz und Freiheit gehæren zusammen ± aber Freiheit bedeutet hier den ± durch kein Auûen bedingten ±, erschlossenen Einsatz der Existenz. Bultmann geht es bei der Theologie darum, daû da, wo wir von Gott reden, wir anders bei der Sache sind als wenn wir von etwas Gegenståndlichem, etwas Innerweltlichem reden. Bultmann meint ± und meint mit Recht ±, daû von Gott reden eine Aufgabe umfaût, die durch ihren Inhalt umschrieben ist, daû also eigentlich nur Gott selbst von sich reden kann und in ihm auch die Mæglichkeit liegt, daû wir von ihm reden. Die Entscheidung, ob wir reden oder schweigen, handeln oder ruhen sollen, ist uns gar nicht anheimgegeben. Es geht um ein Mçssen, um eine »vællige Abhångigkeit, aber nicht als frommes Gefçhl, sondern eben als freie Tat, denn nur in der Tat sind wir selbst« (34). Hier wird also bei der Bestimmung der Theologie als des Redens von Gott eine ganze Menge behauptet. Denn die »Freiheit der Kinder Gottes« (Ræm 8,21) ist ganz gewiû nicht identisch mit der Existenz des Menschen als solcher. Wo in aller Welt wird der Gehorsam des Glaubenden als »Freiheit« bezeichnet! Die »ananke«, von der Paulus redet (1Kor 9,16), wird eben nicht als die Eigentlichkeit seiner Existenz verstanden, sondern als sein »Beruf«, sein çber ihn gekommenes Schicksal; er muû Bote des Evangeliums sein, aber in einem ganz bestimmten, spezifischen Auftrage. Und hier ergibt sich schon der erste und wesentliche Unterschied der Fragestellung bei Bultmann und Barth. Bei Bultmann fehlen die »Menschen, zu denen ich gesandt bin«, es handelt sich bei ihm um die Mæglichkeit an sich, von Gott zu reden. Es handelt sich darum, daû Gott kein Ding ist, das ich in seinem »In-der-Welt-Sein« fassen kænnte. Und hier wåre weiter zu fragen: Wo vermeidet Bultmann die Hineinnahme eines idealistischen Ansatzes in die Grundbestimmung der Theologie? Womit begrçndet er, daû Gott nicht Welt und Welt nicht Gott ist? Ist meine Existenz nicht auch ein Stçck Welt ± und soll etwa der Bezug meiner Existenz auf Gott die Auûerweltlichkeit seines Existierens sein, lediglich die Negation meines innerweltlichen

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Seins? Wo ist die Garantie, daû Bultmann nun nicht doch wieder da endet, wo Feuerbach auf die Theologen wartet mit seiner Frage, ob denn nicht die Theologie nur eine verdeckte Anthropologie sei? Das fçhrt zum Zweiten. Bultmann geht immer wieder aus vom Gedanken der Korrelation von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Das ist sein eigentliches Anliegen. Ohne Zweifel nimmt er damit Wilhelm Herrmanns Mahnung auf ±, daû in der Theologie alles nur so weit echt ist, als es um mich geht. Wilhelm Herrmann: »Von Gott kænnen wir nur sagen, was er an uns tut.« 47 Hæren wir auch hier wieder erst einmal den Ton, der in das ganze Konzert paût: Wir wissen nie von Gott, wir wissen nie von unserer eigenen Wirklichkeit. Wir haben beides nur im Glauben an Gottes Gnade. Das ist grundbiblisch, grundreformatorisch! Hier ist gesehen, daû der Mensch erst durch die Offenbarung, erst durch Gottes Wort sich erkennen kann und muû. Und er weiû und sagt noch mehr: »So wåre also der Glaube der archimedische Punkt, von dem aus die Welt aus den Angeln gehoben wçrde und aus einer Welt der Sçnde zur Welt Gottes wçrde? Ja, das ist die Botschaft des Glaubens.« (37) Also nicht das Wissen, nicht ein tradierbares System von Lehrsåtzen, sondern der persænliche Glaube, die Entscheidung, in der mich niemand vertreten kann, ist der Angelpunkt theologischen Erkennens. Das ist wiederum der Gesteinsboden der Reformation, diese Proklamation der fides (des Glaubens) ± und zwar der den Sçnder rechtfertigenden fides ±, auf den wir hier stoûen. Man meine nur nicht, daû Bultmann die Theologie auf den Flugsand des Liberalismus grçnden mæchte ± ganz im Gegenteil. Bultmann meint, er kænne dem Liberalismus so viel Raum zur Kritik geben, weil ja gerade dadurch das falsche Fundament einer christlich-mythischen Weltansicht aufgedeckt wird. Glaube hat seiner Meinung nach nichts zu tun mit Weltanschauung, darum wird durch diese Kritik grundsåtzlich nur der falsche Glaube getroffen ± wie Bultmann meint ±, die fides quae creditur (der Inhalt des Glaubens), wåhrend der wahre Glaube keiner Kritik mehr unterliegen kann. Denn ± und wieder mçssen wir Bultmann ganz zustimmen ± wer »nach dem Grund des Glaubens« fragt, erhålt als Antwort immer wieder nur den Verweis »auf die Botschaft des Glaubens«. Man hat manchmal bei Bultmann den Eindruck, daû er diese Mitte wie eine lebendige Quelle erhalten mæchte, daû er alle dogmatischen, alle allgemeingçltigen Aussagen in der Theologie wie den Gefriertod dieser lebendigen Quelle in der Mitte ansieht, der stets 47. W. Herrmann, Die Wirklichkeit Gottes, Tçbingen 1914, 42 (auch aufgenommen in: Wilhelm Herrmann, Schriften zur Grundlegung der Theologie. Teil II, 314); zitiert bei Bultmann, a. a. O., 36.

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offenzuhaltenden Entscheidung. Daran fåhrt er wie ein Eisbrecher immer wieder durch jede Verfestigung hindurch, mægen auch die Leute, die sich auf dem Wasser Håuser, Kirchen und Systeme errichtet haben, vor Entsetzen schreien, es geht um Hæheres als um die securitas dieser Leute ± es geht um die Aktualitåt des Wortes Gottes selbst und um sein Aktwerden in meiner eigenen Existenz. Denn ± »vællig zufållig, vællig kontingent, vællig als ein Ereignis tritt das Wort in unsere Welt hinein. Keine Garantie ist da, auf die hin geglaubt werden kænnte. Keine Berufung hat Platz auf den Glauben anderer, sei es Paulus, sei es Luther. Ja, fçr uns selbst kann der Glaube nie ein Standpunkt sein, woraufhin wir uns einrichten, sondern stets neue Tat, neuer Gehorsam.« Aber diese Negation ist nur die Kehrseite einer unzweideutig proklamierten Position: »All unser Tun und Reden hat nur Sinn unter der Gnade der Sçndenvergebung, und çber sie verfçgen wir nicht; wir kænnen nur an sie glauben« (37). Alles das ist richtig. Es ist nicht nur richtig, sondern wird in einem Ernst vorgetragen und wissenschaftlich in der Form der theologischen Existenz durchgehalten, daû sich keiner dem entziehen kann, was hier gerade auch im Blick auf die Exegese zum Ereignis wird. Wenn nur die Korrelation nicht wåre! Wenn nur alle diese schænen und guten Såtze und Ansåtze nicht in dieser einen Klammer stçnden. Ich meine folgenden Satz: »Wir kænnen nicht çber unsere Existenz reden, da wir nicht çber Gott reden kænnen (¼) ± denn dazu mçûten wir auûerhalb ihrer stehen und Gott selbst sein (¼) ± und wir kænnen nicht çber Gott reden, da wir nicht çber unsere Existenz reden kænnen. Wir kænnen nur eins mit dem anderen. (¼) Jedenfalls mçûte ein Reden von Gott, wenn es mæglich wåre, zugleich ein Reden von uns sein. So bleibt das richtig: wenn gefragt wird, wie ein Reden von Gott mæglich sein kann, so muû geantwortet werden: nur als ein Reden von uns« (33). Das ist der Punkt, wo eine Stringenz aufgerichtet wird, die nicht einsichtig ist! Kann man das wirklich so sagen: »Nur als ein Reden von uns«? Ist Gottes Wort nicht auch das Wort Gottes an sich und als solches das Wort an uns? 48 Ist seine Offenbarung nicht auch abgesehen von uns ± ja abgesehen von der Welt ± seine Tat und seine Mæglichkeit? Fehlt vielleicht darum der christologische Ansatz bei Bultmann, und ist er vielleicht darum durch den anthropologischen ersetzt, weil er kein Wort Gottes an sich kennt und kennen kann? Jedes »An-sich« erscheint ihm schon Verrat an der allgemeingçltigen Wissenschaft. Aber muû das sein? Ist das letztlich 48. Handschriftliche Korrektur Iwands; ursprçnglich stand geschrieben: ist es denn nur das Wort an uns?

3. Theologie ± das Thema der Zeit

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nicht nur eine kantisch-idealistische These? Was heiût es denn, wenn gesagt wird: Niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn (Mt 11,27)?49

3. Theologie ± das Thema der Zeit 3.1 Der Gegenstand der Theologie Man kænnte den Nutzen und die Mæglichkeit einer solchen Einfçhrung çberhaupt bezweifeln. Man kænnte sagen: Am besten kommt man in die Gesamtlage hinein, wenn man an einer bestimmten konkreten Stelle beginnt und mit einer eigenen Position den Plan betritt, um dann von hier aus bejahend und verneinend, in jedem Falle lernend, auf die gegenwårtigen Fragestellungen zu antworten. Darauf ist zu erwidern: Das ist durchaus richtig. Es ist die Gefahr einer solchen Darstellung, daû sie keinen echten Gegenstand hat. Daû sie sich nur innerhalb der Meinungen anderer bewegt. Aber das muû nicht sein, im Gegenteil, wir kænnen gerade die theologische Bewegung, in der wir mitteninne stehen, als eine Bewegung auf einen bestimmten Gegenstand hin erfassen. Wir kænnen dadurch gerade sehen, daû wir in einer bestimmt umrissenen Gemeinschaft der Arbeit an diesem Gegenstande stehen. Es muû sich ja nicht nur um Kenntnisnahme handeln, sondern es wird sich um kritische, das eigene Urteil bildende Kenntnisnahme handeln. Um die Rekonstruktion eines in gefåhrlicher Weise abgebrochenen Gespråchs, das nætig ist, gerade wenn wir den Gegenstand der Theologie in seiner aktuellen Bedeutung erfassen mæchten.

3.2 Der Zusammenhang mit der jçngsten Vergangenheit Denn, das ist nun das Zweite, die Gefahr, in die wir geraten sind, ist die, daû wir den Zusammenhang mit unserer allernåchsten Vergangenheit verlieren und dadurch selbst verkçmmern. Was uns heute kulturell auf Schritt und Tritt begegnet ± daû eine groûe und reiche Geschichte einfach ver49. Der Ûbergang im Manuskript Iwands ist hier nicht klar. Vielleicht fehlen eine oder mehrere Seiten. Was folgt, ist von Iwand jedenfalls in einem neuen Semester als Fortsetzung der Vorlesung gelesen.

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Einleitung

schçttet ist und uns von çberallher die Barbarei, der Untergang entgegenblickt ±, gilt auch fçr die Wissenschaft. Wer nicht mehr weiû, was einmal gekonnt, gedacht und gearbeitet wurde, der verliert den Maûstab seiner Leistung und geråt in die Gefahr eines sehr begrenzten Doktrinarismus. Ich erinnere nur an Schleiermachers berçhmtes Wort: »Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn; das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?« 50 Viele freilich werden es so machen, die Anstalten dazu werden schon stark genug getroffen, und der Boden hebt sich schon unter den Fçûen, wo diese dçsteren Larven auskriechen wollen, von eng geschlossenen religiæsen Kreisen, welche alle Forschung auûerhalb jener Umschanzungen eines alten Buchstabens fçr satanisch erklåren. Gerade dagegen werden wir eine gute und hilfreiche Ermunterung erfahren, wenn wir uns in den Kreis jener theologischen Arbeit begeben, die um uns her geleistet worden ist. 51 Denn gerade auch die Theologen, die uns vielleicht heute am wenigsten zusagen, weil sie den Zusammenhang von Offenbarung und Vernunft unter allen Umstånden wahren mæchten, haben dies doch getan, weil sie eben die »Aushungerung« fçrchteten, die Zusammenhanglosigkeit der theologischen Såtze, die allein aus der Offenbarung geschæpft sind, mit denen der historischen, der psychologischen, der soziologischen Wissenschaft. Und die systematische Theologie hat ja von daher ihren Namen, daû sie um den Zusammenhang, um das Ganze des Lehrsystems bemçht ist.

3.3 Die aktuelle Aufgabe der systematischen Theologie Daraus ergibt sich drittens, daû wir in dieser Vorlesung begreifen lernen, daû systematische Theologie und Theologie çberhaupt in bestimmter Hinsicht dasselbe sind. Die systematische Theologie hat keinen besonderen Gegenstand. Sie unterscheidet sich dadurch von allen anderen Disziplinen. Das ist auch ihre tiefste Gefahr. Sie kann leer bleiben. Sie kann zur bloûen Erærterung methodologischer Vorfragen werden. Es ist keine Frage, daû hier ein wesentlicher Unterschied liegt zwischen unserer gegenwårtigen Lage und der ± etwa in der Reformation oder im Mittelalter. Nehmen wir etwa ein Werk wie die Summe des Thomas zur Hand, dann beginnt diese sofort mit der Frage: an Deus sit (ob Gott ist)? 52 , und erst dieser untergeordnet folgt 50. F. Schleiermacher, Zweites Sendschreiben an Herrn Dr. Lçcke, WW I,2, 614. 51. Randnotiz Iwands: 1900-1950. 52. Vgl. NW 1, 95 ff.; 112-132.

3. Theologie ± das Thema der Zeit

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dann der Artikel de veritate (çber die Wahrheit). Oder denken wir an den berçhmten Beginn von Calvins Institutio: »All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlåssig ist, umfaût im Grunde eigentlich zweierlei: Die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis.« 53 Wobei die Erkenntnis Gottes vorgeordnet ist. Daû unsere Theologie so nicht mehr redet, daû sie ± nach Schleiermachers epochemachendem Vorbild ± eine Einleitung voranstellt, in der zunåchst einmal der Mensch auf seine eigene religiæse Existenz hin angesprochen wird, das ist ohne Frage ein Mangel. Wir zahlen hier den Tribut, daû wir Menschen dieser unserer Zeit sind. Und doch håtten ganz gewiû die Theologen, mit denen wir es hier zu tun haben ± ob das nun Troeltsch, Heim, Friedrich Brunståd oder Albert Schweitzer 54 sind ±, sie håtten gewiû gern auch direkt bei der Offenbarung eingesetzt, wenn sie nicht håtten befçrchten mçssen, damit unwahrhaftig zu sein, sich der Tatsache zu entschlagen, daû wir in einer Welt leben, deren heimliche oder offene Ûberzeugung ist: »Gott ist tot.« Karl Heim hat dem einmal in einem sehr einprågsamen Bilde Ausdruck gegeben, welches fçr diese ganze Epoche, von der wir herkommen, bezeichnend ist: »So wichtig diese mannigfaltigen Bestimmungen des Inhalts sind, auf dessen Gewiûheit alles ankommt, und die Kåmpfe um diese Inhaltsbestimmung, und so sehr wir mit unserer ganzen persænlichen Leidenschaft gerade jetzt in sie verwickelt sind, sie erscheinen zunåchst nebensåchlich, solange die Elementarfrage ungelæst ist, ob es çberhaupt mæglich ist, çber derartige Dinge gewiû zu werden, ob also diese Kåmpfe çberhaupt ernst zu nehmen sind. Es ist, wie wenn ein Parlament, in dem gerade eine Redeschlacht zwischen den Konservativen und Liberalen tobt, sich plætzlich von einem allgemeinen Aufstand der Volksmassen bedroht sieht, der es wegfegen will, um die Diktatur des Proletariats an seine Stelle zu setzen. So wichtig die Verhandlungen des Parlaments sein mægen, so hat es doch in diesem Augenblick keinen Sinn, sie fortzusetzen, ehe die Existenzfrage des Parlaments entschieden ist, oder ob es nicht infolge seiner Aufhebung vællig gleichgçltig geworden sein wird, ob die konservativen oder liberalen Antråge durchgegangen sind. Øhnlich steht es jetzt in der religiæsen Frage. So ernst die Verhandlungen çber den Inhalt der religiæsen Ûberzeugung sind, die Debatte darçber muû vorlåufig vertagt werden, da zunåchst etwas anderes zur Debatte steht, nåhmlich die Existenzberechtigung des ganzen religiæsen Parlaments. Revolutionåre Massen 53. »Tota fere sapientiae nostrae summa, quae vera demum ac solida sapientia censeri debeat, duabus partibus constat: Dei cognitione et nostri.« J. Calvin, Institutio Christianae religionis (1559) I.1, Opera Selecta II, Mçnchen 1967, 31. 54. Randnotiz Iwands: Tillich.

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haben die Tçren des Sitzungssaales erbrochen und verlangen Auflæsung des ganzes Hauses, da sich dieses mit Unrecht anmaûe, ernsthafte Menschheitsinteressen zu vertreten. Die Frage nach der speziellen Formulierung der theologischen Såtze, so wichtig sie ist, tritt zunåchst einen Augenblick in den Hintergrund gegençber der primåren Frage nach der prinzipiellen Berechtigung zur Aufstellung theologischer Såtze çberhaupt; und das gewaltige, ein Jahrtausend lange Ringen nach einer Læsung dieser Frage, die das gemeinsame Problem der sonst entgegengesetzten theologischen Richtungen war, nimmt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch.« 55 Hier wird in plastischer Weise das gesamte Anliegen der systematischen Theologie dieser Epoche deutlich: die Frage der speziellen Formulierung tritt einen Augenblick in den Hintergrund. Die eigentliche Dogmatik, die Beziehung der Theologie auf das Dogma in seiner inhaltlichen Bestimmtheit, wird bewuût ausgesetzt ± denn eine andere Frage hat sich als vordringlich gemeldet: ob es çberhaupt Sinn hat, hier zu streiten, ob hier wirklich »ernsthafte Menschheitsinteressen vertreten werden«. Das ist das Anliegen einer ganzen Generation. Wir kænnen darçber låcheln, wir kænnen es ablehnen, auch unsererseits diesen Weg zu gehen, aber wir mçssen wissen, was wir tun. Und wir dçrfen das Problem, von dem jene ausgingen, nicht einfach von der Hand weisen. Andererseits ist deutlich, welch einen Unterschied es bedeutete, wenn wir ± von dieser Fragestellung herkommend ± nun etwa die Bekenntnisse der Reformation lasen und sahen, daû es hier eigentlich nur um den Inhalt der religiæsen Ûberzeugung ging. Und doch ± es hat schon etwas Imposantes an sich, daû diese Generation meinte, hier eine Læsung finden zu kænnen. Daû sie sich an diese Arbeit machte. Es war jedenfalls nicht Resignation, wenn sie sich in dieses Vorfeld begab, um erst einmal wieder die Sinngemåûheit theologischer Rede als solcher zu begrçnden. Ob es ihr gelungen ist, und wenn nicht, warum sie gescheitert ist, ob ihr Scheitern bei diesem Bemçhen bedeutet, daû die »Theologie als eine rçhrende und herzbewegende Dichtung çber das ewig Unbekannte zu gelten hat« 56 , oder ob wir andere und bessere Mittel und Wege anzugeben wissen, um dieser Frage gerecht zu werden: das festzustellen wird eine der Aufgaben unserer Darstellung sein mçssen. Sie haben jedenfalls gesehen, daû es nicht um Einzelfragen geht, sondern um das Ganze. Und insofern haben sie nun doch systematisch theologisiert.

55. K. Heim, Glaubensgewiûheit. Eine Untersuchung çber die Lebensfrage der Religion, Leipzig 19202 , 35 f. Vgl. NW 1, 106 f. 56. K. Heim, Glaubensgewiûheit, 35.

3. Theologie ± das Thema der Zeit

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3.4 Grund und Bedeutung der Theologie Daraus ergibt sich viertens, was wir bereits darzutun suchten, daû hier eine Frage gesehen ist, die mehr und mehr in den Vordergrund trat: was nåmlich Theologie als solche bedeutet. Wo hat sie ihren Rçckhalt? Die Medizin hat ihre Wurzel in der Krankheit ± die Rechtswissenschaft in der Nætigung, Menschen in eine Gemeinschaft einzufçgen ± die Philosophie, wenn wir es einmal grob sagen dçrfen, in der Sinneståuschung. Aber worin hat die Theologie ihren Grund? Ist sie ebenso notwendig wie die anderen Wissenschaften? Sie ist ja doch erst mit dem Sieg des Christentums im Abendlande an ihren Platz als prima scientia (hæchste Wissenschaft) gerçckt, wie kann sie ihn begrçnden im Zusammenhange der wissenschaftlichen Existenz des Menschen çberhaupt? Steht sie nicht ebenso unableitbar dazwischen wie etwa die Bibel zwischen den anderen Bçchern oder die Kirche als communio zwischen den anderen menschlichen Korporationen? Wir werden sagen mçssen, daû die Theologie (wenn anders sie ihren Inhalt, ihre Bestimmung nicht verlieren soll) auf die Kirche bezogen ist, und zwar auf die Kirche, insofern dort verkçndigt wird. An diesem einen Punkt fållt die Wende des Ganzen. Das ist der so wesentliche Drehpunkt, durch den der ganze bisherige Ansatz aufgehoben, durch den die Frage Karl Heims eine so glånzende und einfache Beantwortung findet, als wollte einer sagen: Ja, womit habt ihr denn çberhaupt gerechnet? Habt ihr damit gerechnet, hier, in der Theologie, eine allgemeingçltige Wahrheit zu vertreten, wie es etwa die Logiker oder Mathematiker tun? Oder habt ihr damit gerechnet, einen allgemein anerkannten Mangel zu beheben, wie es die Mediziner oder Juristen tun? Daû die Menschheit sich im Aufruhr gegen euch befinde, ist viel zu wenig gesagt. Sie befindet sich im Aufruhr gegen Gott. Das weiû die ganze Bibel. Das ist keineswegs ein Argument gegen, sondern vielmehr fçr die Theologie. Aber die Theologie ist der Gnadenbotschaft zugeordnet, die um Jesu Christi willen dieser Menschheit zuteil wird. Die Theologie hat dafçr zu sorgen ± das ist ihre Wurzel ±, daû die Gnadenbotschaft wirklich Gnadenbotschaft bleibt. Sie ist also darin eine Funktion der Kirche ± in der Theologie unterzieht sich die Kirche immer von neuem dem Gericht des Wortes Gottes selbst, damit sie sein Wort und nicht Menschenwort verkçndigt. Es gåbe keine Theologie, so lautet die Antwort auf jene Frage, wenn es nicht Verkçndigung gåbe, und zwar Verkçndigung als fehlsames Menschenwort ± das ist die Krankheit, um derentwillen Theologie nætig ist, um derentwillen Theologie auch ganz exakt und wissenschaftlich studiert werden muû. In der ecclesia triumphans (triumphierenden Kirche) ± abge-

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sehen von unseren Sçnden und Irrtçmern ± wåre Theologie nicht not. Wo an die Stelle des Glaubens das Schauen tritt, da muû sich auch der Charakter der Theologie grundlegend åndern. Da wçrde zwischen ihr und der Weisheit ± der sophia ± kein Unterschied mehr sein. Aber solange wir hier auf Erden sind, solange die Kirche verkçndet und eben damit nicht auûerhalb des Irrtums und der Verfçhrung steht, so lange ist Theologie nun in der Tat notwendig, und zwar gerade als Dogmatik, gerade als spezielle Theologie.

3.5 Theologie im Aufbruch Mit dieser letzten Erkenntnis ist fçnftens deutlich geworden, daû es sich hier nicht nur um eine Ûbersicht handeln wird. Sondern es handelt sich darum, zu zeigen, wie diese Wende sich anbahnt und vollzieht, eine Wende, die fçr den Grundcharakter der Theologie entscheidend ist. Und es wird darauf ankommen, daû wir begreifen, wie sich ± ausgehend von der systematischen Mitte ± diese Wende in allen Disziplinen verbreitet. Wie kein Fach davon verschont und ausgenommen ist, wie dadurch nicht nur das Neue Testament, sondern auch das Alte Testament grundlegend betroffen ist, wie die praktische Theologie sich unter derartigen Gesichtspunkten wandelt, wie auch die einzelnen dogmatischen Loci 57 von hier aus neu angefaût und wieder geradezu entdeckt werden. Insofern ist also unsere Vorlesung eine Art Enzyklopådie, nicht in dem Sinne wie Schleiermacher eine Enzyklopådie entwarf, indem er die Lehrsåtze fçr die einzelnen Fåcher der Theologie hæchst prågnant und erleuchtend fixierte, so daû man das Ganze dieser Wissenschaft vor sich sieht. Sondern so, daû wir den Drehpunkt spçren, die Angel, in der die Wende der Theologie sich heute vollzieht, und nun so, daû wir dabei immer das Gestern und das Morgen im Auge haben, das, was hinter uns liegt und das, was ± wie wir hoffen ± vor uns sich als ein Neuland auftut. Die Situation der Theologie heute ist ± wie kaum in einer anderen Wissenschaft ± in Bewegung. Und in ihr kçndigt sich eine ebensolche der Kirche an, eine Bewegung, die die Kirche zur bekennenden Kirche machen muû ± wenn anders sie fortgeht. Eine Bewegung, die man fast unter die Worte des Auszuges aus dem Knechtshause fassen kænnte, aber nun wirklich auch eine Bewegung, die sich notwendigerweise theologisch vollziehen muû. Also so, daû die alten Fragestellun-

57. Dogmatische Grundpositionen und Lehrsåtze.

3. Theologie ± das Thema der Zeit

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gen nicht einfach abgelehnt werden, sondern daû sie aufgenommen, umgewandelt, radikalisiert und so der Antwort nahe gebracht werden. Wie sich dieser Prozeû vollzieht, das darzustellen wåre eine gelungene Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie. Wenn wir uns deutlich machen, daû man die Existenz erstens religiæs und zweitens christlich verstehen kann, dann muû eigentlich auch das dritte mæglich sein, daû man beide Voraussetzungen weglåût und sie absolut nimmt. Man vermeidet damit zwei groûe Schwierigkeiten, die der so entstandenen theologischen Arbeit auf Schritt und Tritt begegnen mçssen. In dem Augenblick nåmlich, da ich die Existenz des Menschen bestimme, so oder so, bçrgerlich oder proletarisch, aus der Ich-Zeit oder aus der Wir-Zeit, aus dem konservativen oder aus dem revolutionåren Denken heraus und also auch aus dem Religiæsen oder aus dem Christlichen, habe ich damit zu rechnen, daû ich sofort die Antithese mitsetze. Die Religion, das Christentum, die Offenbarung als positive Bestimmung der menschlichen Existenz gefaût, muû eo ipso die Negation setzen. Die religiæse Kultur muû eine areligiæse, eine materialistische herausfordern, die christliche muû eine liberale, eine religiæs neutrale zeitigen. Zug um Zug muû sich dieser Wechsel ereignen, und wir setzen, indem wir die Existenz so bestimmen, eben damit ihre Aufhebung. Das ist der tiefe und gefåhrliche Schatten, den diese theologischen Entscheidungen werfen und werfen mçssen. Wir erzeugen eben damit sofort unseren eigenen Gegensatz. Der Schatten, der unser gegenwårtiges geistiges, religiæses und politisches Leben çberdeckt und der uns heute so Angst macht, dieser Schatten sind wir selbst. Das ist nicht Gott, wie wir meinen, auch nicht die Gottlosen, wie diese in einer gewissen Selbstçberschåtzung meinen, sondern wir sind das, unvermeidlich, so wie kein Mensch in die Sonne treten kann, ohne daû der Fleck, auf dem er steht, ins Dunkel getaucht wird. Ich muû, ehe ich nun den dritten und letzten Fall charakterisiere ± eben die Beseitigung aller zusåtzlichen Bestimmungen zu dieser mysteriæsen Existenz ±, eine Bemerkung einschieben. Diese Bestimmung der Existenz ± sei es als religiæs, sei es als christlich ± hat offenbar weit çber das, was wir Kirche nennen, hinausgehende Bedeutung. So wie der Zællner nicht denkbar ist ohne den Pharisåer (Lk 18,9-14) und wie das Gott entfremdete Volk ± der `am ha'arez ± in seiner ganzen psychologischen, ethischen, soziologischen Wirklichkeit nicht denkbar ist ohne die »Schriftgelehrten«, die grammateis, so ist auch die Welt, in der wir existieren, die uns oft so fremd, so feindlich, so gefahrdrohend erscheint, nicht denkbar ohne ± uns. Das heiût ohne diese im tiefsten und letzten Grunde eben doch auslæsenden Vorgånge auf dem Felde der Theologie. Nicht die Ideologien, wie man

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heute immer wieder hæren kann, sondern die Theologien dçrften der Schalthebel sein fçr das, was die Menschen dieser Welt bewegt, was sie aufregt zu ihren groûen und schrecklichen Revolutionen, was sie aneinander Richter spielen und Vergeltung çben låût, was wie eine ruhelose Mitte im Ganzen des Prozesses steckt, den wir Leben und Geschichte nennen und den zu begreifen die Vernunft sich immer wieder als zu schwach erweist. Das meine ich, das ist sozusagen das geheime Thema dieser Vorlesung ± ich mæchte wenigstens, daû es dies wåre ±: zu zeigen wie die Philosophie mehr und mehr abtritt und die Theologie als Thema sich in den Mittelpunkt schiebt. Gewiû, nicht als etwas, das nun auf einem ganz anderen Brett stçnde; nicht so, daû nun auf einmal gelten dçrfte, »verachte nur Vernunft und Wissenschaft«; 58 nicht so, daû an die Stelle von Wirtschaftsund Gewerkschaftsfçhrern, von Generålen und politischen Bossen der Klerus rçckte ± es kænnte diese Gefahr bestehen; aber gerade ein solcher lediglich mit dem alten Mobiliar vorgenommener Umzug, daû hier nun die Bewohner aus dem Keller in die belle tage ziehen und die von oben ein wenig tiefer rçcken, wåre eben nicht das, was ich meine. Nein, es kænnte doch sein, daû die Grundfrage jener ganzen Konstruktion ± also die menschliche Existenz als Ausgangspunkt genommen, um Gottes Existenz zu behaupten oder auch zu leugnen ±, daû diese ganze Position unseres Theismus und Atheismus mit einem einzigen Griff aufgehoben wçrde, daû das Fundament getroffen wçrde, auf dem das Ganze ruht, daû einer mit starker Hand die eine Såule zu packen bekommt, auf der der ganze Tempel der Philister ruht (Ri 16,26) und sie allesamt dadurch ihres Standpunktes beraubt wçrden. Das kænnte und mçûte eigentlich geschehen, wenn Theologie wirklich wieder Theologie wçrde, wenn hinter ihr, sie ermæglichend und dirigierend, wieder jene Verkçndigung von der iustificatio impiorum auftauchte, wenn es wieder gelten dçrfte, daû wir »allesamt Sçnder sind« (Ræm 3,9-20), daû wir allesamt hier, an einer ganz bestimmten Stelle und aus einem ganz bestimmten Grunde, der eben die theologische Existenz ausmacht, auf den Mund geschlagen sind, daû hier, an dieser unausdenkbaren, aber mitten in unser Denken hineinragenden Stelle jene Antithetik aufgehoben ist, daû fromme und gottlose Existenz an dieser Stelle gleich gerichtet und gleich begnadigt ist. Dann, ja dann mçûte in der Tat dieser ganze Philistertempel einstçrzen, denn die eine, einzige Såule, die ihn trågt, wåre ja dann geborsten, an die Stelle jener dunklen und vielsagenden Gleichung Ich = Ich, Mensch = 58. »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft« ist der Rat von Mephistopheles in: J. W. Goethe, Faust I, V. 1851.

3. Theologie ± das Thema der Zeit

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Mensch wåre die andere getreten, daû Gott Gott ist, daû sein Wort durch den Abfall nicht selbst fållt, daû die Einheit, nach der wir suchen, die das Wahrheitsmoment in unseren Aussagen ist, nicht in uns, im Menschen, auch nicht im Ich und Du, in zwei Menschen, liegt, sondern in Gott und nun so in Gott, daû sie in den beiden Personen des einen Gottes liegt. Damit ist der Bogen gespannt, in dem sich diese Vorlesung halten wird, damit ist der terminus a quo und der terminus ad quem aufgezeigt, der die Lage der systematischen Theologie in unserer gegenwårtigen Zeit bestimmt. Es handelt sich um eine der bedeutungsvollsten, interessantesten und hoffnungsvollsten Ablæsungen ± der Ablæsung und Ûberwindung des Existentialismus in allen seinen Formen durch die Theologie. Nicht durch eine bestimmte Art von Theologie, sondern durch die Rçckkehr, die Rçckbildung der Theologie zu ihrem eigentlichen Beruf. Durch die Einbeziehung aller ihr geraubten und entlaufenen Fragestellungen in ihr eigentliches, letzte Fragen und letzte Gewiûheiten aufgebendes und gebendes Forum. Dem »cogito ergo sum« (»ich denke, darum bin ich«) des Descartes steht hier ein anderes entgegen: »So sind Sonne, Mond, Himmel, Erde, Petrus, Paulus, ich, du usw. Namen Gottes.« 59 Theologie hat, wenn anders sie çberhaupt sein will, was ihr Name besagt, festzuhalten an dem einen: »So sind die Worte Gottes Realitåten, und nicht bloûe Bezeichnungen.« 60 Das groûe Geheimnis des Wortes Gottes im Unterschied zu allen unseren, das Gegebene bezeichnenden, klassifizierenden, deutenden, von ihm abstrahierenden Menschenworten ist das Thema der Theologie.

3.5.1 Der Mensch ± Thema der Zeit?

Aber damit sind wir nun unmittelbar und unausweichlich vor die letzte, die dritte Mæglichkeit gestellt, die damit gegeben ist, daû die menschliche Existenz den Ausgangs- und Ansatzpunkt der Theologie bildet. Die beiden anderen Mæglichkeiten sind heute mehr oder weniger verbraucht, abgenutzt, wie Mçnzen, die bereits durch viele Hånde gegangen sind. Aber die dritte Mæglichkeit ist offenbar noch nicht erschæpft, hier scheint sich das eigentliche, das ernsthafteste Widerlager zu formieren; von hier scheint noch einmal der ganze Glanz echter Verfçhrung auszugehen, der unsere theologische Existenz heute zu einer so anfechtungsvollen, und zwar in geistiger Hinsicht so çberaus anfechtungsvollen Sache zu machen scheint. Man kænnte doch ± so wåre diese dritte Mæglichkeit zu konstruieren ± den 59. »Sic Sol, Luna, Coelum, terra, Petrus, Paulus, Ego, tu etc, sumus vocabula Dei.« M. Luther, WA 42, 17, 18 f. 60. »Sic verba Dei res sunt, non nuda vocabula.« A. a. O., 17, 23.

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Menschen absolut setzen, ihn und seine Existenz, ihn in Bezug auf seine Existenz in die echte und rechte Entscheidung rufen, ihn begreifen lehren, daû Existenz Entscheidung ist, und daû, weil diese Entscheidung abseits und jenseits aller vorhandenen Wertsysteme stattfindet, sie ± die Entscheidung selbst ± die Freiheit ist. Daû, wenn der Mensch nur nicht feige wåre, wenn er in der Entzauberung der Welt 61 nur noch den letzten, den åuûersten, den rettenden Sprung wagte, er drçben sein wçrde, in dem neuen Land der Freiheit, wo unser Dasein auf Erden nicht mehr durch Himmel und Hælle eingeengt, wo es nicht mehr der Schauplatz relativer Entscheidungen ist. Warum kænnte denn nicht endlich die Stunde gekommen sein, da der zu sich selbst befreite Mensch seine Augen aufschlågt und Erde und Welt, Mann und Frau, Ding und Leben, Gesellschaft und Staat frei ansehen lernt, ohne Hintergrçndigkeit, ohne Furcht vor diesen Nichtsen, die der Mythos hinter sie gesetzt, durch die er ihnen die rechten Maûe genommen hat. Mçûte nicht einmal die Frucht reifen aus all dem, was wir, die Menschen der Neuzeit, geschaffen, erfunden, gedacht und geschrieben haben? Einmal muû doch die rationale Wissenschaft, einmal muû doch die moderne historische Betrachtung ihre Frucht bringen auch fçr die Existenz des Menschen, eben und gerade dieses modernen, dekadenten, ein Untergang und ein Ûbergang seienden Menschen 62 . Das ist die Epoche, in der wir mitteninne stehen. Der Mensch als solcher ± das Thema der Zeit. Anders, neu und tiefer, entsetzlicher, aber auch groûartiger, als es jener Humanismus meinte, der vor vierhundert Jahren als Mitarbeiter, Begleiter und schlieûlich Gegner der Reformation auf den Plan trat. Hier kçndigt sich ein neuer, sozusagen existentialistischer Humanismus an ± dessen eigentliche Våter zu nennen ich hier unterlassen mæchte, es gençgt, darauf hinzuweisen, daû es ein harter, den Tod und das Bæse in die Existenz einbeziehender und gerade so schicksalsmåchtiger Humanismus sein wird. Es wird ihm darum gehen, die existentiale Bestimmtheit des Menschen herauszustellen, und zwar des Menschen, der in tragischer Einsamkeit sich seines In-der-Welt-Seins bewuût wird. Des Menschen, der die Sorge um das Ganze çbernimmt, des Menschen, der sich selbst ± sich in seiner theologischen Bestimmtheit ± als Ziel versteht. Der Pfeil muû sein Ziel erreichen ± aber dieses Ziel ist nicht etwas, das çber dem Menschen liegt, kein transzendentes, auch kein immanentes, sondern ± der Mensch selbst ist das 61. M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie I, Tçbingen 19201 / 19889 , 94; M. Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), in: M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Wissenschaftslehre, Tçbingen 19221 / 19887 , 594. 62. Vgl. oben S. 150, Anm. 69.

3. Theologie ± das Thema der Zeit

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Ziel. Er ist Verheiûung, Name, Anwartschaft, darum aber auch Hemmnis, Gefåhrdung, leibhaftes Hindernis dieser seiner eigensten Mæglichkeit. Es kænnte sein, daû die alten theologischen Kennkarten, mit denen wir einander kontrollieren, nicht mehr stimmen. Es kænnte sein, daû es einmal radikal ± uneingeschrånkt ± heiûen wird: Meine Schafe hæren meine Stimme (Joh 10,1-16), also an all jenen Klassifizierungen vorbei, mit denen wir Christen und Nichtchristen, Fromme und Gottlose einzuteilen pflegen. Es kænnte sein, daû es von dieser letzten, absoluten Phase des Existentialismus heiûen kænnte: Ich bin »ein Teil von jener Kraft, die stets das Bæse will und stets das Gute schafft.« 63 Es kænnte freilich sein, daû die Begegnung mit diesem letzten und von allen Vorverståndnissen gereinigten Existentialismus (das hieûe dann, daû Kierkegaard sich doch zwischen zwei Stçhle gesetzt håtte) ± sehr anders, sehr viel unakademischer, sehr viel ernster und unbarmherziger verlaufen wird, als es bis vor kurzem aussah. Aber es ist hier nicht unsere Aufgabe, zu prophezeien. Es ist vielmehr unsere Aufgabe, eine Formel zu prågen, die den mannigfachen Bewegungen, die wir in der Theologie unseres ersten halben Jahrhunderts vor sich gehen sehen, einigermaûen gerecht wird. Es ist durchaus denkbar, daû ein anderer eine bessere, eine treffendere Formel fånde, es wird hier kein Anspruch erhoben auf letzte Gçltigkeit. Dieses Schema von der religiæsen, der christlichen und schieûlich der absoluten Existenz will nichts anderes sein als eine leider und notwendig vereinfachende Arbeitshypothese. Wie eine Aufnahme einer Landschaft von oben, bei welcher vieles Schæne, Gute und Richtige, das man im einzelnen sehen kann und lieben muû, zu kurz kommt. Aber die Linien, die sich gegeneinander absetzenden, dem Ganzen seine Struktur gebenden Linien sind eben auch da. Und wenn wir uns das theologische Geschehen eines halben Jahrhunderts ± eines grausamen, çppigen, verlogenen und doch wieder unerhært ehrlichen, eines mit Blut und Grausamkeit çber ahnungslose Kirchenchristen und Kirchenfeinde eingebrochenen Jahrhunderts ± ansehen, dann kommt man auf diese Meinung: es kænne sich um die letzte und schwerste, aber vielleicht auch entscheidende Wendung handeln, die sich an der Theologie und darum in der Theologie vollzieht.

63. J. W. Goethe, Faust I, V. 1335 f.

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3.6 Das Ziel der Darstellung So wollen wir uns die verschiedenen theologischen Gebåude ansehen, ihr Aufbauen und ihr Abgebaut-Werden. So wollen wir versuchen, doch die eine Bewegung zu erfassen, die sie alle umschlieût, wie wenn in einem Heer, das plætzlich auf einen unerwarteten, aber sehr ernsthaften Gegner stæût, alles durcheinander rennt und ruft und kommandiert, und doch eins alle erfçllt: daû die Schlacht begonnen hat, daû der Gegner erreicht ist. Wer weiû, welche Schlacht? Wer weiû, welcher Gegner? Vielleicht gerade nicht der Gegner, auf den alles, der ganze Vormarsch und das Exerzierreglement, vorbereitet ist ± vielleicht der Gegner, dem gegençber keine Kraft und keine List hilft, der Gegner, dem man nur unterliegen kann, um an seinem Sieg teilzuhaben. Wir werden sehen, es gibt eine Reihe von Theologen, die das sagen, die eine so seltsame, uns çberraschende These von dem Gegner vertreten, mit dem die Spitze der Truppe in Fçhlung geraten ist. Andere deuten diese Sache anders. Andere reden von Dåmonen, von Måchten, andere wieder von Welt, von moderner Welt, von Schicksal und Geschichte. Jedenfalls werden wir versuchen, so in das Geschehen und die Bewegung einzutreten, die unter dem Namen der systematischen Theologie begriffen werden muû, unerhært aufregende und interessante, mit schlimmsten Feindseligkeiten geladene Verhandlungen im groûen Hauptquartier der Kirche, die andeuten, daû etwas geschehen sein muû, daû an der Front etwas los ist, was alle bisherigen Plåne einfach auf den Kopf stellt. Das ist die Lage innerhalb der Theologie in den letzten fçnfzig Jahren. Alle, die irgend etwas bedeutet haben, haben davon etwas gerochen, sind dadurch aufgerçttelt worden aus dem Trott, in dem das Ganze noch dahinmarschierte, sie haben alle versucht, das zu sehen. Mehr und vernehmlicher haben sie zur Umkehr gerufen als die Theologen der ræmischkatholischen Konfession. Bis zur Preisgabe ihrer eigenen kirchlichen, christlichen Existenz haben sie sich an den Rand der Dinge herausgewagt, um zu vernehmen, was Gott ist und was Er sagt, dieser in unserer modernen Welt långst totgesagte Gott. Und gerade dort ± am Rande aller Zeit ± haben sie das Ohr gewonnen, zu hæren, das Auge, zu sehen, gerade dort haben sie ± mitten in der åuûersten Bedrångnis ± etwas begriffen von dem Evangelium an die Armen. Denn wer sie auch nun sein mægen, die Theologen der Gegenwart, mit deren Arbeit wir uns hier vertraut machen wollen ± damit wir wissen, wie weit sie bereits gekommen sind: sie sind alle dadurch gekennzeichnet, daû der Blitz von oben, wenigstens momentan, ihnen einmal das Dunkel erleuchtete, in dem sie sich und den Zug der Menschen um sie her marschie-

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ren sahen. Ob das nun der junge Albert Schweitzer ist, der die Hand an die gesamte Leben-Jesu-Forschung legt, oder der junge Karl Heim, der das unverstandene, aber immer noch nicht çberholte »Weltbild der Zukunft« 64 schreibt, oder der so zåh mit der Kirche und ihrem Konservativismus ringende Ernst Troeltsch, hinter dem schlieûlich immer wieder der Schatten von Max Weber auftaucht, dem Heidelberger Nationalækonomen, der so tief und unerbittlich in das Reich der Religionssoziologie vorgestoûen ist, einer der modernsten unter den Menschen seiner Zeit, auch darin, daû er sich jeden Sinnes fçr Religion bar wuûte und sie unter das unbarmherzige Gericht allgemeiner soziologischer Prozesse stellte. Vielleicht gehært auch Rudolf Otto hierher, dessen Buch »Das Heilige« 65 1917 ± mitten im ersten Kriege ± erscheint und 1922 bereits die neunte Auflage erreicht. Rudolf Otto sieht, daû sich Gott der rationalen Definierbarkeit entzieht, er sucht nach neuen Kategorien fçr die Wirklichkeit, die wir mit dem Wort Gott meinen, nach Kategorien, die von dort her, von der Epiphanie Gottes her gewonnen sind und darum unsre Kategorien sprengen. Oder der Rudolf Bultmann, der seinen »Jesus« 66 schreibt, den Jesus der eschatologischen Nåhe des Gottesreiches, ein Jesus-Buch, das im Grunde genommen bis heute noch nicht bis ins Bewuûtsein der Gemeinde durchgebrochen ist ± und das es doch verdiente, eben um seiner nçchternen Aufgeregtheit willen, gerade heute von den mçden Abendlåndern gelesen zu werden. Oder ich denke an die neue Sicht der Reformation: Wann wåre sie uns so nahe gewesen? Wie anders hat sich das Reformationsjubilåum von 1817 ausgewirkt als das von 1917, nun auf dem Hintergrund der neuesten Edition der Weimarer Ausgabe und der eben entdeckten wichtigen Frçhschriften ± also des jungen Luther. Ein alter Mann, an der Grenze des eigentlich produktiven Lebens stehend, gibt ± ebenfalls wieder kurz nach Kriegsende ± ein paar Aufsåtze heraus çber Luther ± und dieses Luther-Buch Karl Holls 67 bricht eine Bresche in die bisherige Luther-Auffassung. Man soll sich nicht wundern, daû an diesem Kçken noch manche Eierschalen hången. Entscheidend ist, daû hier eine Schale zerbrochen ist, die im vorigen Jahrhundert das Thema Reformation unter Verschluû hielt; entscheidend ist, daû dieser eine Karl Holl gemerkt hat, daû in dieser Schale sich immer 64. K. Heim, Das Weltbild der Zukunft, Berlin 1904 / Wuppertal 19802 . 65. R. Otto, Das Heilige. Ûber das Irrationale in der Idee des Gættlichen und sein Verhåltnis zum Rationalen, Breslau 19171 . 66. R. Bultmann, Jesus (Die Unsterblichen, Bd. I), Berlin 19261 ; Mçnchen und Hamburg 19673 . 67. K. Holl, Gesammelte Aufsåtze zur Kirchengeschichte. Bd. I Luther, Tçbingen 19211 , 19326 .

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Einleitung

noch etwas regt und man dem Luft machen muû, damit es herauskommt. Oder ich denke an die Erlanger des 20. Jahrhunderts, die nun noch einmal ± auch durch den neuentdeckten, aber mehr den alten Luther bewegt und zum Trotz gerufen ± den Versuch machen, der Dogmatik den konfessionellen Panzer anzulegen, weil sie ein Thema sehen, das neu wichtig werden wird, wichtig entgegen allem, was der Neuprotestantismus çber seine Unwichtigkeit und Unerheblichkeit deklarierte: das Thema der Kirche, der Lehre, des Bekenntnisses. Das sind ein paar Themen und ein paar Namen, die genannt sein wollen, wenn wir ungefåhr ein Bild haben mæchten von der Aufgabe einer solchen Darstellung. Am Ende muû noch etwas anderes stehen. Am Ende muû noch die Rede sein von den nun in der Tat zentralen Wandlungen, die sich nicht nur im Neuen Testament und Alten Testament, sondern vor allem im Zentrum der Dogmatik vollziehen. Die nicht nur in dem Vorfeld der Apologetik eine Umgruppierung vornehmen, sondern die ins Herz der Dinge stoûen und in der umfangreichen Kirchlichen Dogmatik Karl Barths einen fast zu voluminæsen Ausdruck gefunden haben. Aber sehen wir hinein in diese Bånde, dann bemerken wir: Es ist, als ob ein Mann mit einer Fackel durch långst verlassene und verkommene, durch verstaubte und abgeschlossene Råume ginge und hier ± gerade hier ± wieder die erloschenen Lichter ansteckte. Wåhrend andere ± die meisten anderen ± sich immer noch darum bemçhen, das Dogma der Welt, dem modernen Menschen, den Fragen von heute anzupassen unter dem Beifall der bedrångten Kommandanten der kirchlichen Bastionen, ist einer ins Innere vorgedrungen und hat die Verkçndigung wieder erklingen lassen çber dem toten Dogma, hat begriffen, daû Dogmen Leuchter sind, auf die das Licht gehært, das Jesus selbst ist, Jesus in seiner Person, in seinem Ich bin ± daû sie nicht von sich selbst leuchten, wårmen, den Weg weisen. Karl Barth fragt nicht mehr: das Dogma und der moderne Mensch? sondern er fragt und låût sich fragen: das Wort und das Dogma? Das ewige Wort und der dogmatische Prozeû, in dem wir uns mit unseren Våtern und Sæhnen, mit denen, die vorangingen und nachkommen, befinden. Er meint offenbar, daû es nutzlos ist, die Kirche von auûen zu verteidigen oder zu reformieren, solange nicht das Licht in ihr aufleuchtet, das alles macht, was wir nicht machen kænnen. Solange es also gerade im Zentrum der Verkçndigung dieser Kirche so tot, so leer, so dunkel ist. Das wird das Ziel dieser Darstellung sein mçssen: der Hinweis auf diese Bewegung, die sich im Zentrum der ganzen Kirchlichen Dogmatik abspielt. Es wird noch einiges dazwischenliegen. Ich denke etwa an das Problem der Religiæs-Sozialen, an die Schweizer und Oberdeutschen, an die

3. Theologie ± das Thema der Zeit

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Form, die ihm schlieûlich Paul Tillich gegeben hat. Hier wird das Thema von Kirche und Gesellschaft 68 angeschlagen, hier wird der Punkt berçhrt, der seit der Botschaft der Propheten im Alten Testament als die Stelle der eigentlichen Gerichte Gottes gilt. Die Begleitmusik, unter der sich dieses Umdenken vollzieht, ist auch fçr die hårtesten Ohren noch vernehmbar. Unter weichenden Bergen und hinfallenden Hçgeln vollzieht sich dies aufregende Geschehen (vgl. Jes 54,10). Wer das Wort Gottes aus dem Auge lieûe und nur die steigenden und fallenden Wasser såhe, die heute die einen heben, um sie morgen in den dunkeln Abgrund zu reiûen ± wie kænnte der noch in diesem Gedrånge von Leben und Tod der Erkenntnis der Wahrheit nahe bleiben? Seine Existenz wird sich in dieser Nacht als die tiefste Anfechtung erweisen, als der Stekken, der ihm selbst in die Hand fåhrt, als das Trojanische Pferd, das er in sich selbst hat und aus dem die Gestalten heraussteigen, die ihn von innen her besiegen. Vielleicht, daû wir auch diesen letzten ± gefåhrlichen ± Halt fahrenlassen und Gottes ewiges Wort sein lassen, was es seiner Bestimmung nach ist: das Bleibende ± oder, was im alttestamentlichen Sprachgebrauch dasselbe ist, die Wahrheit.

68. Randnotiz Iwands: Ethik.

Kapitel 1: Der »lebendige Christus« und die Frage des Verhåltnisses von Glaube und Geschichte

1. Wilhelm Herrmann 1.1 Wilhelm Herrmann und Martin Kåhler 1 Zwei Månner haben ± mehr als alle anderen ± die Theologengeneration von heute geprågt, zu ihren Fçûen haben Karl Barth und Rudolf Bultmann, Julius Schniewind und Hans Emil Weber, Karl Heim und Rudolf Otto gesessen, und von ihnen ausgehend sind dann ± oft in neuer, und oftmals auch in entgegensetzter Weise ± die Systeme gereift, die wir als die Theologie unserer gegenwårtigen Epoche ansprechen dçrfen. Beide, Herrmann wie Kåhler, sind in erster Linie Lehrer ihrer Studenten gewesen, der Einfluû, der von ihren Hærsålen ausging, war weit bedeutender als der, den ihre Bçcher hatten. Beide haben eigentlich kein festes System entfaltet, beide waren bis zum Schluû Ringende und Werdende, und man wird vielleicht darum sagen dçrfen, daû ihr unmittelbarer Einfluû so groû gewesen ist, weil es ihnen geschenkt wurde, bis ans Ende ihres Lebens und Lehrens die Verkrustung und Erstarrung ihrer theologischen Arbeit zu verhindern. Beide waren Amanuenses des Studentenvaters und bedeutsamen Pietisten August Tholuck, beide haben jene groûe Zeit in Halle erlebt, da dort geradezu das Zentrum jener theologia regenitorum (Theologie der Wiedergeborenen) lag, von dem die Ausstrahlungen weit çber Europa hinausgingen. Kåhler ist es spåter selbst zugefallen, diese Hallenser Tradition fortzusetzen, wåhrend Herrmann Marburg zum Mittelpunkt seiner Theologie gemacht hat, das Marburg des Neukantianismus, das Marburg, in dem Paul Natorp und Hermann Cohen ± der eine platonischer, der andere kantischer ± Wege einer neuen Grundlegung der Philosophie suchten. Da mitten hinein gehært Johann Wilhelm Herrmann (1846-1922), mit dem wir uns nun zunåchst befassen wollen.

1.

Ûberschrift Iwands.

1. Wilhelm Herrmann

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1.2 Das Woher des inneren Lebens des Menschen Wer in die geistige und theologische Welt Wilhelm Herrmanns eintritt, bemerkt sofort eins: Diese Welt hat eine Mitte! Worçber auch immer Herrmann schreibt, wozu auch immer er Stellung nimmt, er tut es von einer Mitte aus, die ihn bindet. Es gehært dies ja immer zu den groûen Leistungen eines Theologen, daû er um eine solche Mitte ± nicht nur weiû, sondern sich auch zu ihr bekennt. Und bei Herrmann ist es nun so, daû er daraus geradezu auch eine bestimmte Aufgabe seines Lebens macht. Der Mensch, der kein Selbst hat, der sich zersplittert, der diesen seinen sittlichen Halt preisgibt, den er, wie Herrmann meint, doch haben kænnte, das eigentlich ist ihm der unerlæste, der friedlose, der gottferne Mensch. »Sobald wir uns ernsthaft die Frage stellen, wie wir allein die Zuversicht eines Lebens in Wahrheit haben kænnen, haben wir auch die Antwort. Wahrheit hat die Vorstellung eines eigenen Lebens nur insoweit, als uns ein Einziges gegenwårtig ist, fçr das wir leben wollen. Solange wir uns eingestehen mçssen, daû unsere Anteilnahme zu verschiedenen Zeiten verschiedenem gehært, hat das Bewuûtsein eines eigenen Lebens keine Wahrheit fçr uns selbst. Bei diesem Mangel an innerer Geschlossenheit ist es ohne weiteres deutlich, daû das Selbst, das wir zu behaupten meinen, nicht vorhanden ist. Dann kommt es also darauf an, daû wir das Eine finden, das uns wirklich ganz in Anspruch nimmt, so daû wir nun in reiner Hingabe die innere Einheit des wahrhaft Lebendigen gewinnen. Das sind Erwågungen, auf die jeder von selbst kommt, dem jemals in der Zerstreuung durch ein Vielerlei die Ruhe und Kraft der Lebenszuversicht verloren ging. Sobald wir aber deshalb anfangen, das Eine zu suchen, dem wir uns ganz hingeben kænnen, sind wir auf dem Weg der Religion.« 2 Das ist Wilhelm Herrmann, das ist die Mitte, auf die man immer wieder bei ihm stæût, das ist der granitne Kern seiner Theologie: Eins ist not! Was heiût das nun im Zusammenhange seiner Fragen und Probleme? Das heiût zunåchst einmal, daû Religion nichts ist, wenn es uns dabei nicht um uns selbst geht! Sonst, so meint Herrmann, bleiben wir lediglich im Bannkreis fremder Vorstellungen, sonst bleiben wir dem Vielerlei der objektiven Welt ausgeliefert. »Alle Objekte der Geschichte sind (¼) nicht Glaubenssachen, sondern Tatsachen. Die Objekte der Religion liegen (¼) çber dem Bereich des Wissens.« 3 Durch bloûe Wissensmehrung und Bereicherung komme 2. 3.

W. Herrmann, Die Auffassung der Religion in Cohens und Natorps Ethik (1909), in: W. Herrmann, Schriften zur Grundlegung der Theologie. Teil II, 217. W. Herrmann, Warum bedarf unser Glaube geschichtlicher Tatsachen? (1884), in:

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Kapitel 1: Der »lebendige Christus«

ich aber nicht zu mir selbst, sondern es kann dies genauso zerstreuend, genauso »unsittlich« auf mich wirken, wie etwa andere, åuûere, sinnliche Zerstreuungen. Die »geistige(n) Erhebung, die uns das wissenschaftliche Erkennen bereitet: sie ist ein Genuû, durch den wahrlich reich gesegnet sind, die seiner gewçrdigt werden. Aber Færderung des inneren Lebens schafft sie nicht« (96). Religion ist also, indem sie nach dem Selbst fragt, oder besser noch, indem sie mehr als eine bloûe Sehnsucht, die Unruhe des zu sich selbst kommenden und kommen wollenden Menschen ist, des Menschen, der begreift, daû er sich, sein Selbst im Vielerlei des Lebens zu verlieren droht, eine jenseits der wissenschaftlichen, der rein spekulativen und darum auch der bloû metaphysischen Welt gelegene Entscheidung. Herrmann war der Meinung, daû die Sache, um die es in der Religion geht, jedermann kenne, daû aber jedermann ± auch der Østhet, auch der Philosoph ± hier in der gleichen Ferne und Nåhe sei, daû niemand sich das verschaffen kænne und doch jedermann es bedçrfe: daû er er selbst sei! »Das innere Leben des Menschen, seine Persænlichkeit, wird hervorgerufen durch die Frage: Was bist du selbst, was ist Zweck und Ziel deines Daseins? Diese Frage wird nicht in der Wissenschaft (¼) gelæst« (96 f.). Darum kann man in hohen Gedanken leben und doch von dem Leben, das diese Gedanken meinen, nicht ergriffen sein. Man merkt, Herrmann wie Kåhler, von dem wir noch sprechen werden, sind hier, in diesem Ausgangspunkt sich gleich, beide haben ihre jungen Jahre in Halle unter dem Einfluû des groûen Studentenerziehers Tholuck verbracht, beide waren Amanuensis bei ihm, beide haben das von ihm, dem selbst durch einen Laien Erweckten, mitgenommen, daû Wissen nicht selig macht. »Hilf aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dein eigen zu sein«, dichtet Martin Kåhler 4, und dieses ist genau das, was ich die Mitte in Herrmanns theologischer Arbeit nennen mæchte, Herrmann weiû, daû man çber das Ewige reden, sich ± wie ein Kçnstler ± in Spekulationen darçber erfreuen kann, aber »Religion ist nicht die reine Freude am Ewigen, in welcher der Mensch die zeitlichen Dinge und sich selbst vergessen kann, sondern sie entsteht, indem der Mensch sich sagt, daû er selbst fçr das Ewige da ist« (96). Das kænnte geradezu Kåhler gesagt haben. Das ist der Kampf aller dieser aus der Welt des deutschen Idealismus herkommenden Christen, daû sie auf einmal begreifen, daû Religion

4.

W. Herrmann, Schriften zur Grundlegung der Theologie. Teil I, 91. Seitenangaben im Text. M. Kåhler, »Der Jahrtausende geht«, in: M. Kåhler, Theologe und Christ. Erinnerungen und Bekenntnisse, hg. von Anna Kåhler, Berlin 1926, 304.

1. Wilhelm Herrmann

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doch etwas anderes ist als Wissenschaft und Kunst! Daû sie es mit dem Selbst des Menschen zu tun hat, mit dem Ernst der Ewigkeit, von der ich mich gefragt weiû, woher ich komme und wohin ich gehe. »Gott sei Dank«, sagt Herrmann, »daû es so ist, daû nicht das hæchste Gut (¼), das in dem Ewigen begrçndete innere Leben an den aristokratischen Vorzug der Wenigen geknçpft ist, welche Wissenschaft und Kunst verstehen« (97). Wer es bisher noch nicht gemerkt hat, wird es hier merken, daû Herrmann Kantianer ist. Denn eben das war ja das Groûe an der Philosophie des Kænigsbergers, daû er die Hæhe der praktischen Vernunft nun eben nicht fçr die Gebildeten oder Aufgeklårten reservierte sondern daû hier die Stelle war, wo in Sokratischer Demut der Mensch, der zur inneren Freiheit gelangte, den Lorbeer erhielt. Was wir in der »Kritik der praktischen Vernunft« lesen, das begleitet als eine herbe, aber doch månnliche und starke Melodie das ganze Lebenswerk von Wilhelm Herrmann: Ich meine jenen Dithyrambus auf die Pflicht, wo der sonst so nçchterne Kant, plætzlich entzçndet von seinem Gegenstande, wie ein Wanderer nach mçhsamer Bergbesteigung vom Gipfel her in Bewunderung ausbricht: »Pflicht! du erhabener groûer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich fçhrt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natçrliche Abneigung im Gemçte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloû ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemçte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich in Geheim ihm entgegen wirken, welches ist der deiner wçrdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlågt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaûliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben kænnen? (¼) Es ist nichts anderes als die Persænlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhångigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur«. So Kant. 5 Und nun hæren wir noch einmal Wilhelm Herrmann: »In dem Erleiden des Ûbels erfahren es alle, daû unsere gesamte Existenz sich aus dem Zusammenwirken von Naturvorgången erhebt, in denen kein Verståndnis fçr das, was der Mensch sein mæchte, zu walten scheint. Dulden und vergessen ± das soll die Summe der Weisheit sein, mit welcher der Mensch der Herrschaft der Welt çber sein Leben begegnen mçsse ± (¼) Jenes weichliche Dulden und Vergessen wird uns unmæglich, sobald wir uns klarmachen, was das fçr uns bedeutet, daû 5.

I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, werkausgabe Band VII, hg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M. 1974, 209 f.

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Kapitel 1: Der »lebendige Christus«

in der einfachsten Pflicht etwas sittlich Notwendiges als ein Werk unseres eigenen freien Willens gefordert wird« (98 f.). Und weiter: »Uns also ist mit dem sittlichen Gebot, in welchem ein ewiges Gesetz als die Forderung unseres eigenen Willens gelten will, der Gedanke ins Herz gegeben, daû der Schlçssel fçr das Råtsel unserer Existenz in dem Naturlauf nicht zu suchen ist. Wenn das Faktum zu recht besteht, daû das menschliche Individuum sich selbst die sittliche Forderung, den Unterschied von gut und bæse, gesagt sein låût, dann ist die resignierte Unterwerfung unter die Macht der Welt ein Abfall von der Humanitåt. Des Menschen wçrdig ist dann allein, daû er den ungeheuren Widerspruch anerkennt, der zwischen der sittlichen Bestimmung und dem natçrlichen Lose der menschlichen Individuen obwaltet. (¼) Im christlichen Glauben aber findet der Mensch die Kraft zu der Zuversicht, daû die sittliche Bestimmung der menschlichen Individuen recht hat gegençber dem Zeugnis der Erfahrung« (99). Machen wir hier erst einmal Halt! Man kænnte sagen, dieses Schema, das nun eben doch ohne Kant jedenfalls nicht denkbar wåre, beherrscht seit Ritschl eigentlich unwidersprochen die ganze Theologie der Vorkriegszeit. Ich kann mich noch genau dessen erinnern, wie ich als junger Student diese Theologen las, wie ich sie nicht begriff, obschon ich Kant mit Leidenschaft zu begreifen meinte. Was liegt hier vor? Oder um noch auf etwas anderes hinzuweisen, ich erinnere mich noch genau, als ich in Luthers Galaterkommentar zum ersten Male die These fand, daû Person eigentlich Maske bedeute und daû der Glaubende keine Person fçr sich selbst sei, sondern sein Leben in Christus habe. 6 Und ich weiû genau, daû ich mich fragte, wie es denn mæglich sei, daû all diese Månner, die so tief und bedeutsam von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben zu sprechen und zu schreiben wuûten, nun auf einmal bei dem Selbst, bei der Persænlichkeit, bei dem inneren Leben, bei der Freiheit stehenblieben. Ich weiû, daû ich mich damals fragte, ob der christliche Glaube wirklich dazu da sei, die sittliche Bestimmung der menschlichen Individuen gegençber dem Zeugnis der Erfahrung sicherzustellen. Und weiter: Ich fragte mich, ob denn, wenn man einmal Kant so ansåhe, daû er das Mosewerk tue, daû er die Heiligkeit des Gesetzes wiederherstellte, daû er etwas davon geltend machte, daû die Heiden, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz sind (heautois eisin nomos! Ræm 2,14) ± ob wir als Christen nun dem nichts anderes entgegenzusetzen håtten als eben dies, daû der christliche Glaube den Dualismus zwischen Freiheit und Naturbestimmtheit des Menschen 6.

M. Luther, Galaterkommentar 1531/1535 zu Gal 2,20 (WA 40/I, 281 ff.).

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zugunsten der ersteren entschiede. Ist dann Christus nun nicht doch wieder ± wie in der Scholastik ± ein legislator (Gesetzgeber)? Dient er dann nicht doch wieder dem, daû die Gnade nur eine Kraft wird, die uns hilft, das Gesetz zu tun? Dann wåre ja nun in der Tat Christus um Mose willen gekommen, und nicht Mose um Christi willen! Dann wåre ja nun doch der Nomos das Hæchste, dann wåre Golgatha so viel und so wenig wert, als hier das Råtsel, das menschliche Råtsel vom Sinai gelæst wçrde. Aber lassen Sie mich nun auch das Gegenteil dazu betonen: Wie, wenn die Gnade nun nichts anderes wåre als jenes »Dulden und Vergessen« (98), als jene mystische Innerlichkeit, die Herrmann so haûte und in der er den Verderb des Christentums sah? 7 Hat Herrmann nicht recht damit, daû die Ewigkeit uns erst in Pflicht nehmen muû, ehe wir von Religion anders als von einem Gegenstand unseres »Interesses« reden werden? Es muû in all diesen Fragen um uns gehen, Herrmann meinte das immer wieder, er meinte, daû in dem Christus fçr uns einfach der Kern und Stern der reformatorischen Wendung gegençber aller toten Orthodoxie liege. Wo kommen wir hin, wenn wir das vergessen? Wenn schon von der Philosophie gilt, daû jeder die Philosophie habe, dementsprechend was er fçr ein Mensch ist 8 , wieviel mehr gilt es dann in der Theologie. Also ich wçrde sagen: Wir werden schwerlich jene Mitte verlegen kænnen, die Herrmann immer so tapfer und klar behauptete, wir werden gerade von da aus den tiefen und nachhaltigen Einfluû begreifen, den er in den 43 Jahren seines Wirkens in Marburg auf viele bedeutende Schçler gehabt hat. Dies Eine ist not, das wie eine Buûpredigt das Ganze durchzieht, dies: tua res agitur (es geht um deine Sache), dies: Gott ist nicht Objekt ± das muûte deutlich machen, daû es hier um das Besondere, um das Eigentliche in der Theologie ging. Aber eins dçrfen wir vielleicht doch in diesem Ansatz mit einem Fragezeichen von vornherein versehen: ich meine den nun freilich schon von Kant und Schleiermacher her çbernommenen Gegensatz von Natur und Geist! Ist nicht Natur nach diesem Begriffe gerade das Unpersænliche, das, womit ich nichts zu tun habe? Was heiût »Abfall von der Humanitåt« (99)? Er soll da erfolgen, wo wir trotz des Wissens um Gut und Bæse die resignierte Unterwerfung unter die Macht der Welt vollziehen. Herrmann hat gewiû darin recht, daû ich in jedem derartigen Akt nicht nur mich, sondern den Menschen çberhaupt, den Menschen in seiner moralischen Mæglich7. 8.

Vgl. W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluû an Luther dargestellt, Stuttgart 18922 , Kap. I. Iwand benutzte die 2. Auflage. J. G. Fichte. Siehe oben S. 183, Anm. 8.

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Kapitel 1: Der »lebendige Christus«

keit entwçrdige. Aber haben die beiden Seiten, Natur und Geist, wirklich miteinander so wenig zu tun? Kænnte es nicht sein, daû das, was Kant Unterwerfung unter die Macht der Welt nennt, das ist, was die alten Dogmatiker die poena (Strafe) nannten, die dem peccatum (der Sçnde) zugeordnet ist? »Darum hat Gott sie dahingegeben« heiût es bei Paulus (Ræm 1,24). Wie, wenn die vermeintliche Freiheit, die wir haben kænnten, um aus diesem Kerker zu entkommen, gar nicht unsere Freiheit mehr wåre? Wie, wenn das Gesetz wie ein Blitz nur diese Situation beleuchtete? Wie, wenn es gar nicht die Natur wåre, die uns bindet, sondern gerade der, von dem Herrmann meint, daû er ganz und gar auf der anderen Seite, auf der Seite des Geistes und damit der Freiheit stçnde ± also Gott selbst? Man wird sagen mçssen: Entweder ± oder! Wer das nicht sagt, der mçûte nun allerdings Geist oder Natur sagen, der mçûte nun allerdings die Persænlichkeit als die Læsung dieser Gebundenheit ansehen, der mçûte allerdings nun auch unter ihrer Freiheit eben dies verstehen, daû damit die Vergånglichkeit und alles, was von auûen an uns herantritt, uns in Wahrheit nicht mehr erreicht. Aber ± und hier kommt ein weiterer Einwand: Wie steht es denn mit dem verlorenen Sohn, ist nicht etwas ganz Øuûeres, ein Naturereignis, nåmlich die Hungersnot, gerade die Wende in seinem Leben (Lk 15,17)? Es dçrfte zu griechisch gedacht sein, wenn man meint, das Naturhafte kænne unser Selbst, unser Ich nicht erreichen. Was wird dann aus dem Tode? Es ist sehr auffållig, daû Herrmann in seiner Ethik behauptet, daû die Auferstehung kein Glaubensartikel sei, 9 daû dies alles schon mit dem Kreuz gegeben sei. Nicht so, daû er die Auferstehung Jesu nicht geglaubt und gelehrt håtte, aber er fand hier nicht das pro me (fçr mich), denn er sah eigentlich nur die Schuld, nicht den Tod als etwas, das uns von Gott trennt. Der Tod ist eben auch ein Naturereignis!

1.3 Das innere Leben Jesu Herrmann hat eine Frage in den Vordergrund gestellt, das ist die von Glaube und Geschichte. Das Buch, in dem er darin seine Ûberzeugung zusammenfaût, heiût: »Der Verkehr des Christen mit Gott«. Das Buch endet mit zwei sehr bemerkenswerten Feststellungen. Erstens: Es ist »den Glåubigen ebenso klar wie denen, die die Wissenschaft kennen, dass die Wissenschaft an dem Inhalt jener Gedanken keinen Anteil hat. Fçr diese Dinge gibt es 9.

W. Herrmann, Ethik, Tçbingen 19215 , 119 f.

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keine Erkenntnistheorie. In diesen Gedanken bricht der Glåubige jede Brçcke zwischen seiner Ûberzeugung und dem, was die Wissenschaft als wirklich erkennen kann, ab, eben weil sie aus dem durch Gottes geschichtliche Offenbarung erweckten Glauben erwachsen sind.« 10 Denn Jesus ist eine geschichtliche, das heiût, eine in seiner eigenen Måchtigkeit von Gott her gesetzte Græûe und entzieht sich damit den allgemeinen Gesetzen der Erkenntnis. »Der Glaube entsteht, wenn der Mensch in der Erscheinung Jesu dasjenige Zeichen seiner eigenen Existenz erkennt, welches ihm den Mut gibt, in dem Ewigen, das ihn durch die sittliche Forderung in Anspruch nimmt, das Element des Lebens fçr ihn selbst zu sehen« (281) ± Die Erscheinung Jesu hat also in sich die Macht, die von keiner anderen Autoritåt abhångige, die freie Macht, meine eigene Existenz in Anspruch zu nehmen. Darum ist der Kern aller Theologie frei von intellektuellen Zweifeln, man sollte das zugeben und sehen, man sollte nicht die Schrift, auch nicht das Dogma der wissenschaftlichen, der historischen Kritik vorenthalten, denn an das Zentrum des Glaubens kommt diese Kritik doch nicht heran, dieses Zentrum kann sie hæchstens freilegen. Denn »ihren Halt (¼) haben die Gedanken des Glaubens in dem Glauben selbst« (281). Darum heiût es dann zweitens: »Wir sehen mit fræhlicher Ruhe dem theologischen Parteitreiben der Gegenwart zu, weil wir mit unserer so fundamentierten Theologie fest auf dem Gesetz und dem Evangelium stehen und weil wir auf diese Weise ebenso frei sind von der Unterwçrfigkeit unter die Wissenschaft, welche den Glauben entehrt, wie von dem traurigen Bedçrfnis, die Wissenschaft auf ihrem eigenen Gebiete einzuengen, damit dem armen Glauben kein Leid geschehe. Einmal wird ja diese befreiende Erkenntnis auch andern tagen; wir aber freuen uns in dem Gedanken an die Freude, die ihnen bevorsteht, wenn ihnen Gott die Kraft geben wird, die Mænchskutte der scholastischen Theologie abzuwerfen« (281 f.). So åhnlich hatte der von Herrmann hoch verehrte Schleiermacher auch von seiner Theologie gesprochen ± Scholastik ist der Ballast des altkirchlichen Dogmas, mit dem die Person Jesu umgeben ist, dadurch gerade kann die Person selbst nicht wirken. Man muû die Schale zerbrechen, damit es zu der geschichtlichen Begegnung zwischen Jesus und uns kommt. Herrmann hat fçr diese Offenbarung Gottes in Jesus Christus einen besonderen Begriff geprågt: das innere Leben Jesu. »Sowie wir dessen inne werden, daû in dem persænlichen Leben Jesu uns Gott selbst berçhrt, (¼) fçhlen wir uns auf eine neue Lebensbahn gestellt. Wenn wir nur mit dem inneren Leben Jesu als der Macht, die uns zu Gott erhebt, verbunden blei10. W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, 280. Seitenangaben im Text.

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Kapitel 1: Der »lebendige Christus«

ben, so wird immer neu der Eindruck in uns entstehen, daû ein neuer Lebensinhalt in uns einzieht, dessen wir nicht Herr werden, weil er unerschæpflich ist, der aber uns umbildet.« (92) Das »innere Leben Jesu« geht uns dann auf, wenn wir reif geworden sind, wenn wir nicht mehr in unserem Kinderglauben von anderen her leben und von ihrem Glaubenszeugnis, das uns zunåchst mit Jesus vertraut macht, sondern selbst in die Entscheidung gestellt sind. Wir werden in unserer sittlichen Entscheidung selbståndig, »wir sollen selbst einsehen, was gut und bæse ist«, in dem Moment, da wir hier allein, auf uns gestellt, urteilen mçssen, fållt auch die Entscheidung des Glaubens, wir entwachsen auch hier der Abhångigkeit von unserer Umgebung, »das Wachstum der sittlichen Freiheit macht fçr uns eine andere Offenbarung nætig«. Diese ist der persænliche und ± nicht mehr durch andere vermittelte ± Verkehr mit Gott. »Denn unsere Gewiûheit, daû Gott wirklich ist, beruht immer auf der Anschauung, daû Gott mit uns verkehrt.« Herrmann hat gewuût, daû »so selbståndig wie die sittliche Ûberzeugung (¼) der (¼) Glaube niemals werden« kann. »Es ist also nicht mæglich, daû wir jemals çber die Abhångigkeit von der Offenbarung hinauskommen« (93). Aber eben von der Offenbarung abhångig ± nicht im Sinne der Unfreiheit, sondern gerade der Freiheit. Das ist ja die Erlæsung meines Lebens, daû ich diese echte Abhångigkeit finde, die meinem Dasein erst seinen ewigen Sinn gibt. Und indem ich nicht einem Lehrgesetz, einer kirchlichen Autoritåt, einer »Schrift« als solcher untertan bin, sondern diese Abhångigkeit sich dem inneren Leben Jesu gegençber erweist, ist ein Lebendiges auf ein Lebendiges bezogen! Mein Leben auf sein Leben! Denn: »Wir kænnen uns aus der Gottverlassenheit des bæsen Gewissens nur dann wieder aufrichten und uns zu Gott zurçckfinden, wenn wir sehen kænnen, daû Gott in seiner Offenbarung auf diese unsere Not Rçcksicht nimmt. Diese Anschauung verschafft uns Jesus.« (95) Herrmann meint also ein Doppeltes: einmal, daû der Mensch, mit seinem Ideal allein gelassen, der Hut seiner Erzieher entwachsen, vor der Frage steht, ob er sich der Sorglosigkeit eines lediglich vegetierenden Lebens çberlåût ± oder zum Lçgner wird, indem er vor sich selbst weiû, daû er dem Ideal, das er in seiner sittlichen Anschauung vertritt, nicht entspricht. Herrmann weiû, daû der Idealismus den Menschen, der mit ihm allein bleibt, »durch das Schuldgefçhl unglçcklich und kraftlos« (95) macht. Und er weiû zweitens, daû ihm in dieser Lage keine »Theorie« hilft, sondern allein die Person dessen, in dem Gott selbst mir nahe ist. Es ist immer wieder groûartig und wunderbar zu sehen, wie Herrmann dieses innerste Zentrum ungeschçtzt und unbekçmmert um die Umgebung, in der er sich bewegt, eben die wissenschaftliche Welt, entfaltet. Es

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geht ihm um den Menschen und sein Heil, hier hært alle falsche Rçcksichtnahme auf. Er achtet die Feierlichkeit des Sabbats nicht, wenn es gilt, ein Menschenleben, ein in der Gefahr des Verlorenwerdens stehendes Menschenleben zu retten (Mk 3,4). Und er vernichtet mit Ingrimm alle Surrogate, die Welt und Kirche ± die Welt mit ihrem falschen wissenschaftlichen Stolz auf Bildung und Kultur und die Kirche mit ihrem Dogmatismus und Institutionalismus ± diesem Kranken als Heilmittel anbieten. Er weiû, daû hier nur das getan werden kann, was jene Leute taten, die das Dach abdeckten, um den Gelåhmten direkt zu den Fçûen Jesu niederzulegen (Mk 2,1-12). Das innere Leben Jesu ± das eben ist Jesus selbst, das ist dies, daû wir ohne irgendwelche Zwischentråger unmittelbar der Macht ausgesetz werden, die mit Jesus selbst in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist. Diese leidenschaftliche Rçcksichtslosigkeit, wenn es gilt, alle Hemmungen zwischen Jesus und dem schuldbeladenen, nach innerer Freiheit verlangenden Menschen zu beseitigen, kennzeichnet das theologische Handeln Herrmanns. Denn er ist in allem, was er sagt, ein Handelnder. Er weiû, daû wir abnehmen mçssen, wir ± das heiût der wissenschaftliche, der kirchlich-traditionelle, der dogmatisch-gebundene Mensch ±, damit Er wachsen kann (Joh 3,30), damit es zum Verkehr des Menschen mit Gott bzw. Gottes mit dem Menschen kommen kann. Das ist die Mitte, um die es Herrmann ± dem Tåufer gleich ± zu tun ist; dies hat er unablåssig, mehr als vierzig Jahre hindurch, mit ungebrochenem Mute getan ± er hat gemeint, damit Melanchthons These fortzusetzen, daû von Gott wissen heiûe, von den beneficia Dei (Wohltaten Gottes) wissen 11 . Wir werden uns hçten, diese innerste Mitte seiner Theologie anzugreifen. Wir werden uns vielmehr fragen mçssen, ob nicht in dieser Unbefangenheit Herrmann gerade etwas getan hat, was nun die Theologie als Theologie mitten in der Wissenschaft in ihrer ganzen Armut, aber auch in ihrem Reichtum erweist, ± als das ganz andere, das sie doch alle irgendwie suchen, brauchen, nach dem sie verlangen. Wo bleibt denn sonst der Mensch mitten in dem letztlich so kalten und unpersænlichen Getriebe dessen, was wir nun einmal wissenschaftliches Welterkennen nennen? Und jenes uns so fremde, leicht psychologisch anmutende Wort von dem inneren Leben Jesu ± ob es nicht gerade dartun sollte, daû Jesus nur soweit und sofern der Punkt sein kann, da die Offenbarung Gottes uns zuteil wird, 11. Ph. Melanchthon: »Hoc est Christum cognoscere, beneficia eius cognoscere«, Loci communes theologicarum seu Hypotyposes theologicae, 1521, Introductio (Die Loci communes Philipp Melanchthons in ihrer Urgestalt, hg. von Th. Kolde, Leipzig 19003 , 63 = Stud. Ausg., hg. von R. Stupperich, Bd. II, 1, Gçtersloh 1952, 7, 10.

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wenn »uns nicht Fleisch und Blut« sagt, wer er ist, sondern »sein Vater im Himmel« (Mt 16,17)? Das »innere Leben« ist er selbst in seiner Freiheit. Ist er selbst als der Lebendige. Ist der Jesus, der durch die verschlossenen Tçren der Wissenschaft geht und zu den trauernden Jçngern sagt: Ich bin's (Joh 20,19-29)! Ist der, welcher nicht von uns aus dem Grabe geholt zu werden braucht, um einen Golem theologisch zu beleben, sondern der uns »begegnet« als der Lebendige, wie er Martha begegnet, als sie hingeht, einen Toten zu beweinen (Joh 20,1-18). Das innere Leben Jesu ist ± wenn man so will ± der Auferstandene selbst. Herrmann hat es fertiggebracht, daû er, dieser Gekreuzigte und Auferstandene, mitten im theologischen System, freilich dieses zersplitternd und frei da hindurchtretend, doch immer wieder da ist, in jedem Satz, sozusagen auf ihn hin geredet, in jeder Aussage letzlich von ihm her gezeugt. Das gibt seinen Bçchern, gibt seiner ganzen Lebensarbeit die, wie er selbst meinte, reformatorische Mitte. Das ist das pietistische Úl, mit dem er, trotz Ritschl, nun einmal gesalbt ist und das ihn neben seinen beiden groûen philosophischen Rivalen in Marburg, neben Cohen und Natorp, denn doch wie ein Zeuge aus einer hæheren Welt wirken låût. Glaube und Geschichte ist sein Thema geworden, und er hat gemeint, es beantwortet zu haben: indem er Geschichte aus dieser Polaritåt verstand ± aus der Polaritåt zwischen meiner eigenen Existenz und der mir hier, eben geschichtlich, einmalig und unausweichlich, begegnenden Entscheidung Gottes in dem inneren Leben Jesu.

1.4 Ethik Herrmann hat nicht eigentlich Bçcher geschrieben, sondern nur eins getan: Er hat das, was er meinte sagen zu mçssen, das Ganze seines theologischen Willens und Vermægens, in ein Buch zusammengefaût, die Ethik. Die Dogmatik ± Nachschrift seiner Vorlesungen ± ist erst nach seinem Tode herausgekommen. Die Ethik aber ist immer wieder aufgelegt worden, und sie ist die Gestalt geworden, in der er meinte, seine Botschaft, seine Sache in ihr gemåûem Gewand darzustellen. Im Zentrum dieser Ethik steht die Wiedergeburt, die Erlæsung durch Jesus Christus. Nur im ethischen Zusammenhange kann, so meint Herrmann, von Wiedergeburt und Erlæsung durch Christus ernsthaft gesprochen werden. Nur hier kann der christliche Glaube als das Bewuûtsein der Vergebung sinnvoll im Zusammenhange unseres ganzen Lebens stehen. Denn dieser Glaube ist nicht nur Antwort auf unsere sittliche Not, sondern er ist

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zugleich Ansporn zu sittlicher Tat. Darum endet diese »Ethik«, die nun entschlossen nur noch als »praktische Vernunft« auftritt, mit der Bestimmung der »Aufgabe des Christen in der Welt« 12 , und es ist fast rçhrend zu sehen, wie der letzte Paragraph çberschrieben ist: »Die sittlich erlaubte Erholung« (S. 236 ff.; § 32) Was haben wir zu dem Ganzen zu sagen? Es ist natçrlich auch hier wieder dasselbe: »Unsere Existenz ist in der Gewalt verborgener Måchte« lesen wir, »und je mehr wir an der sittlichen Aufgabe arbeiten, desto deutlicher sehen wir, wie wir auch innerlich gebunden sind« (91). Und dann: »Die Ûberzeugung von der Wirklichkeit Gottes wird uns durch Jesu Autoritåt aufgedrångt, wenn wir sittlich schlaff und zerstreut, an nichts weniger denken mæchten als an die Macht des Guten« (129). Und schlieûlich als Drittes und sozusagen Modernstes: »Das ist der Grund unserer Erlæsung, daû eine aufrichtige Besinnung auf die Wirklichkeit, in der wir stehen, uns vor dieses Faktum fçhren kann« (141). Aufrichtigkeit, Besinnung çber die Wirklichkeit, in der wir stehen, ethische Aporie in der Entscheidung zwischen Gut und Bæse und Begegnung mit dem Ganz Anderen in der Person Jesu ± das etwa ist das Spannungsfeld, in das Herrmann die Theologie versetzt. Er setzt weder Glauben voraus noch resigniert er vor dem Unglauben der Menschen, er will zeigen, wie der Mensch, der nicht glauben kann, zum Glauben an Gott und damit zum inneren Frieden kommt. Er setzt in die Mitte die Vergebung ± er weiû wie Luther, daû niemand das Wort von der Vergebung hæren und annehmen kann, es sei denn, er hære es von Gott selbst, Gott schenke ihm in Jesus Christus eben diese Gewiûheit seiner vergebenen Schuld 13 .

2. Martin Kåhler 2.1 Theologe und Christ Als der Philosoph Friedrich Paulsen sich selbst folgende Grabschrift verfaûte, die auf einer Gedåchtnistafel seines Heimatdorfes Langenhorn bei Husum angebracht wurde:

12. W. Herrmann, Ethik, § 25 (S. 170 ff.). Seitenangaben im Text. 13. M. Luther, Kleiner Katechismus, Auslegung des dritten Artikels.

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Zum Andenken an D. Dr. Friedrich Paulsen (¼) der Wahrheit und der (¼) Vernunft Freund, Feind der Lçge und dem Schein, ein Anhånger der guten Sache, auch der nicht siegreichen, der Ehre der Welt nicht allzu begierig, (¼) lebte er in einer Zeit, die von dem Allen das Gegenteil hielt und verlieû daher nicht unwillig diese Welt in der Hoffnung einer besseren. 14

schrieb Kåhler dazu: »So denken die, welche nur mit einer Welt und gar nicht mit einem Gott zu tun haben! Sie mçssen sich in den Dualismus hinein retten. Lauter Formbegriffe, deren Inhalt allein den Wert bestimmt bei ihrer Relativitåt.« 15 Und dann folgt das Gedicht: Ja, ich gehær' in diese Welt, die Sinnenlust und Haû entstellt, drin Selbstsucht unter Schein regiert und Menschentum poliert vertiert, da andre man und sich belçgt, und gern auf fremdem Acker pflçgt. Doch bin ich auch von ihr erkauft an Leib und Seel' im Geist getauft, von Trotz und Narrheit drum geschieden voll Mitleid und Geduld mit ihr im Frieden, weil der Gekreuzigte sie nicht verlåût, hålt sie und mich in seiner Liebe fest! 16

Das ist der ganze Martin Kåhler (1835-1912). Dieses auf die Welt gerichtete Angesicht, das ohne Selbstbetrug und Einschmeichelung sieht, was ist, und dann eben doch ± gerade im Blick auf die wirkliche, ungetçnchte Welt ± sein Auge erhebt zu dem Kreuz mit der ehernen Schlange (vgl. Num 21,8 f.; Joh 3,14), um zu bezeugen, daû dieses die Ståtte des Sieges, der die Welt und mich in ihr nicht lassenden Sçnderliebe Gottes ist. Man kænnte fast meinen, Kåhler håtte hierbei an jene berçhmte These Luthers gedacht: »Der Theologe des Kreuzes sagt, was wirklich ist« 17 , aber er wird sie kaum gekannt haben. Und doch hat er eine ganze Vorlesung gehalten çber das Thema »Das Kreuz. Grund und Maû fçr die Christologie« 18 und hat 14. Zitiert nach: M. Kåhler, Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen«, in: M. Kåhler, Theologe und Christ, 310 f. 15. Ebd., 311. 16. Ebd. Vgl. NWN 2, 134 f. 17. »Theologus crucis dicit id quod res est«. M. Luther, Heidelberger Disputation, 1518, These 21 (WA 1,354,21 f.). Vgl. H. J. Iwand, Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen. Antwort auf W. Hauers »Deutsche Gottschau«, EvTh 2 (1935) 166; GA II, 275; NW 5, 35, 167; GA I, 248. 18. M. Kåhler, Das Kreuz. Grund und Maû der Christologie, Beitråge zur Færderung christlicher Theologie 15 (1911), Heft 1 (auch aufgenommen in M. Kåhler, Schriften zur Christologie und Mission, 292-350).

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sich dabei auf das paulinische Wort berufen: Mir ist die Welt gekreuzigt und ich der Welt (Gal 6,14)! Es war ein langer, schwerer Weg, den der Jçngling, der in der Geisteswelt des deutschen Idealismus und der Klassiker lebte, bis dahin zurçckzulegen hatte ± er, der einmal von sich sagte, daû er Schiller und Goethe wohl zu lesen wisse, aber von der Bibel keinen Satz verstçnde 19 ±, und noch der Mann hat sich nichts geschenkt. Er hat als Amanuensis Tholucks den Eingang in das biblische Christentum gefunden, nachdem ihn Richard Rothes Theosophie nicht befriedigte, obschon der Mensch und Christ einen unvergeûlichen Eindruck auf ihn machte. Er hat spåter, als Konviktsinspektor und auûerordentlicher Professor in Halle seine zweite Umkehr erlebt, wie er selbst sagt, jenes gånzliche Loslassen seiner selbst, das ihn dann zu der groûen sachlichen Leistung befåhigte, die die letzten drei Dezennien seines Lebens ausfçllen. Vielleicht kann man etwas von dem, was in dem fçnfundvierzigjåhrigen vorging, entnehmen, wenn wir ihn, der aus dem Pietismus und der Romantik herkommend sein Leben lang die Selbstbeobachtung und Kontrolle ± und das heiût das Tagebuch ± nicht aufgab, von sich sagen hæren: »Die bloûe Freude am Menschenfangen auf eigene Faust hålt nicht lange vor. Die es versuchen, werden es bald satt; sie werden Menschenkenner, und die Menschenkenner werden Menschenhasser. Nur die geblendeten Schwårmer ziehen mit dem eingebildeten Kuû fçr die ganze Welt, in ihre Wolke gehçllt, durch dieses Leben. Gibt sich einer ernstlich mit den Menschen ab, so sichert ihn nur eins vor dem Menschenhaû: wenn er ein grçndlicher Selbsthasser geworden ist. Und das wird man, wenn Jesus zu uns in den Nachen tritt und wir ihm nicht mehr ausweichen kænnen.« 20 Der von seinen Fakultåtskollegen çbersehene, im Mannesalter sich schier verzehrende Kåhler, mit dem wunden Empfinden fçr alle Demçtigungen, die ihm widerfuhren, stand gerade unmittelbar vor Sonnenaufgang: das tiefe Tal der Schwermut, das er noch in einem Alter durchmessen muûte, da andere auf der Hæhe des Schaffens stehen, sollte die letzte Probe sein vor einem sich ganz und voll im Lehren erfçllenden Leben. »Je långer ein Mensch seinen sonnigen Aufgang verschob, desto glånzender, glaubt er, mçût' er aufgehen«, so heiût es in Jean Pauls »Flegeljahren«, und Kåhler setzt in einem Brief an seine Frau dazu: »Das ist der Humor von der 19. M. Kåhler, Jesus und das Alte Testament (1896), in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen, Erster Band, 168 (= M. Kåhler, Jesus und das Alte Testament, Biblische Studien 45, Neukirchen-Vluyn 1965, 79 f.): »als die traurige Zeit meiner ersten Studienjahre vorbei war, in der ich sagte: Kant verstehe ich und Spinoza verstehe ich, aber von den Schriften des Paulus verstehe ich keine Zeile ¼«. 20. M. Kåhler, Theologe und Christ, 260.

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Geschichte ± von meiner Geschichte, soweit sich's nur um Humor handelt.« 21 Es geht einem auch seltsam mit Kåhlers Bildern, eigentlich ist erst der alte Mann schæn, wenn Schænheit der Ausdruck dessen ist, was in einem Menschen gemeint, was in ihm angelegt ist. Erst der sechzigjåhrige, dessen Vorlesungen nun die Mitte und das Ereignis der ihre Wirkungen çber ganz Deutschland ausbreitenden Hallenser Fakultåt sind, ist der Martin Kåhler, wie ihn die Nachwelt kannte. Seine Bçcher aber haben immer etwas Schwerfålliges, sich selbst gegençber Kritisches behalten, und daran mag es gelegen haben, daû seine persænliche Wirkung die seiner immerhin sehr ausgebreiteten Schriftstellerei bei weitem çbertraf. Leider haben wir nur sehr wenige direkt ausgearbeitete Kollegs von ihm, aber was davon erhalten ist, låût uns verspçren, daû hier alles Schulmåûige und Schulmeisterliche durchbrochen ist, daû hier ein Mann redet, der alles Schielen auf eine ihm versagte Gelehrsamkeit hinter sich gelassen hat und der gerade so in das Wesentliche und Eigentliche der theologischen Existenz durchzustoûen verstand. Tholucks »Menschenfischerei«, von ihm mehr genialisch geçbt, wird hier, bei seinem græûten Schçler, in der Strenge der biblischen Sprache und in der Erziehung zum systematischen Durchdenken der groûen Heilstaten Gottes Ereignis im Kollegsaal.

2.2 Christentum und Systematik Die Eræffnungsrede, mit der er seine Vorlesungen çber die Wissenschaft der christlichen Lehre einleitete, ist uns erhalten ± wir, Dozenten wie Studenten, werden sie heute noch mit Bewunderung und nicht ohne Gewinn lesen. Er fragt nach der »Erkenntnis eines Ganzen«, 22 denn das heiût ihm Systematik, und nach der Berechtigung, welches ein solches Verlangen dem Christentum gegençber habe; er erinnert daran, daû Weisheit ein Erfassen von Zusammenhången ist und daû wir mit Paulus von einem Rat Gottes wissen, der in der Person Jesu Christi seine vollkommene und abschlieûende Offenbarung gefunden habe. Denn ± sehr im Unterschiede zu vielen seiner Zeitgenossen ± weiû Kåhler etwas von dem Felsblock der Offenbarung, der sich dem Strom der Zeit widersetzt: »Offenbarung ist uns mehr als die uneigentliche Bezeichung fçr das Aufwallen religiæser Stim-

21. Ebd., 258. 22. M. Kåhler, Christentum und Systematik, in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen, Bd. III, 84. Seitenangaben im Text.

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mungen, bei denen ­Gefçhl alles¬, ­Name¬ (¼) ­leerer Rauch¬ wåre; sie ist nicht nur erwårmendes, sondern vornehmlich erhellendes Licht. Gott tut seine Gedanken kund, und seines Geistes Werk ist es, daû menschliche Rede seine Gedanken in sich fassen und erschlieûen kann.« (85 f.) Voraussetzung ist freilich, darin ist Kåhler der dankbare Schçler J. A. Bengels, C. A. Auberlens und J. Chr. K. von Hofmanns, daû die Schrift ein Ganzes, ein Systema, in sich sei, scriptura sui ipsius interpres (die Schrift ist ihr eigener Ausleger) ± dieser bis heute nicht aufgegebene Grundsatz aller Biblizisten. Denn die »Ganzheit eines Ganzen« gehært zu allem Lebendigen, und gerade weil Gott und sein heilschaffendes Tun nichts Erdachtes ist, ist es Ganzheit, der nachzusinnen es sich lohnt. »So geht durch alles Zeugen und Sinnen in der Heiligen Schrift ein Zug nach Erkenntnis des Zusammenhanges.« Und mit einem Male wendet sich nun der Lehrer seinen Hærern zu, um sie anzusprechen auf das hin, was diese Frage fçr sie bedeutet: »Auch Ihnen ist die Stunde gekommen, oder sie wird Ihnen gewiû kommen, in der Sie nach einem Ganzen fragen, nach einer in sich zusammenstimmenden, in sich geschlossenen Erkenntnis und Darstellung des Christentumes«, denn, so meint er, »die wissenschaftliche Arbeit«, die der Theologiestudent zunåchst treibe, sei eine »geschichtliche« (87). »Es sind Tatsachen und Ûberreste der Vergangenheit, mit denen Sie sich beschåftigen, und Sie lernen es, dieselben mit den geistigen Augen genau zu sehen, sie aus den Nebeln herauszulæsen, in welche die Zeitentfernung und die Ûberlieferung dieselben eingehçllt hat« (87 f.). Aber hier ± eben in der Theologie des Alten und des Neuen Testaments ± »bestehen (¼) noch andere Zusammenhånge, als die der geschichtlichen Aufeinanderfolge und Bedingtheit; sie flieûen aus einem Tun Gottes, aus seiner Offenbarung« (88). Und dann, als wåre es heute geschrieben: »Erst der lebendige verklårte Jesus Christus macht auch den irdischen, gestorbenen Jesus zum Gegenstande des Glaubens (¼). Fçr Religion und Sittlichkeit hat Wert nicht das, was gewesen ist, sondern das, was ist und das, was sein soll.« Es sind die »Tatsachen des inneren, çbersinnlichen Lebens (¼), Tatsachen des persænlichen Daseins«, mit denen es die Theologie zu tun hat, »Gedanken, zu deren Billigung man sich (¼) entschlieûen muû« (89). Genau wie Wilhelm Herrmann meint auch Kåhler, daû hier die Grenze der Wissenschaft erreicht sei, die Wissenschaft wird zum Mythos, sie versinkt ins Tråumen und Taumeln, wenn sie ihren Ikarusflug antritt und nach den letzten Grçnden und Zielen des Lebens fragt. Und nun ± ganz Kåhler ± entrollt er vor den Hærern das Bild, wie der Idealismus sich des Empirismus zu erwehren sucht, aber schlieûlich doch seinem festen Griff erliegt. »Mit welcher Geschicklichkeit die Kunst des Dådalus den Flçgel aus irdischen

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Stoffen gebildet hatte, die Glut der Himmelsphåre læste die kçnstliche Bindung, und Ikarus stçrzte hinab. Wie fein der Verstand die Ordnungen des materiellen Seins herausstelle und ihre Gesetze begrifflich auspråge, die irdisch-sinnlichen Dinge und Kråfte haben ihren Bestand in Raum, Zeit und Zahl, und ihre Begriffe verlieren Halt und Gehalt, wenn man sie in das Gebiet des Geisteslebens hinçber trågt« (91). Daraus erklårt Kåhler den Bankbruch der Alten Welt, fçr den Seneca wie Pilatus ihm das Exempel abgeben, um dann fortzufahren: »Und mitten hinein in die Zweifelflucht 23 und das Faustrecht, in die Culturpracht und den Blutdurst, in die Schwårmerei und Verlogenheit jener Welt der Verres und Catilina, der proscribierenden Triumvirn und der Vierfçrsten, der Cåsaren und der Pråtorianer ± mitten hinein in dieses aussichtslose Ringen derber Wirklichkeiten trat die einfache Geschichte Jesu von Nazareth hinein. Ein kurzer Gang, so weltlos und weltfremd, wie ein irdisches Geschehen çberhaupt sein kann; fçr ein rein irdisches Schauen fast ganz zusammengedrångt in seinen schmachvollen Tod mit seinen Vorbereitungen und Folgen. Zu dieser Geschichte bekennt sich die Glaubensregel der ersten, der welterobernden Kirche ± unser apostolisches Symbol« (91 f.). Man sieht: Immer wieder entfaltet Kåhler den Gegensatz, die Geschichte des Jesus von Nazareth bedarf echten Kontrastes, um nicht zur Abstraktion zu werden. Denn gerade das ist ihm der Ansporn unermçdlichen, unergrçndlichen Nachdenkens, »die am meisten anmutende und lohnende Aufgabe, den Reichtum jenes schlichten, aber unergrçndlich tiefen Manneslebens vor anderen zu entfalten; zu zeugen und zu vernehmen, wie Gott ­seine Liebe preiset, da Christus fçr uns Gottlose gestorben¬« (93). Anders als der Philosoph, der das Ganze im Begreifen zu fassen sucht, ist der Theologe der Zeuge, der hinweist auf die Ganzheit der Offenbarung Gottes in Christus. »Die Welt, wie die Kirche, erwartet in einem Theologen einen Zeugen vor sich zu finden« (98). So endet diese Vorlesung, die ich hier in etwa reproduziert habe, aber sie endet nicht, ohne ein drittes Moment anklingen zu lassen, das fçr die Erziehung zur systematischen Theologie Kåhler unerlåûlich schien: Neben der Offenbarung als der Ganzheit und dem Zeugnis als dem von uns geforderten Bekennen steht ± gleichsam in der Mitte, als ståndige Ûbung, die den theologischen Charakter der echten Ûberzeugung formt ± die Arbeit. »Arbeiten lernt man nicht am Schaufenster (¼), sondern (¼) in der Werkstatt.« In diesem Sinne betreibt Kåhler seine theologische Erziehungsarbeit wie ein Handwerk, sehr exakt, sehr

23. Iwand: Zwietracht.

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wenig nach auûen blendend, sehr selbst zurçcktretend und die Studenten zur Urteilsbildung erziehend. »Zu lernen ist hier das christliche Denken (¼), die Gedankenbewegung, die ernste strenge Handhabung der Gedanken. Nicht Resultate behufs des jurare in verba magistri 24 soll ich Ihnen çberliefern; vielmehr Sie hineinfçhren in die groûe Werkståtte, in welcher seit Jahrhunderten und noch heute an der Ausmçnzung jenes einen edlen Schatzes gearbeitet wird (¼). Sie kommen als Lehrlinge zum Lehrer; aber das Lernen selbst ist Ihre Sache; und der Mçhe ist es wert« (96). Gewiû, wir werden auch hier ein paar Fragen zu stellen haben: vor allem gegençber dem merkwçrdigen Begriff von objektiver Gegebenheit ± Kåhler sagt »Ganzheit« ±, mit der hier gearbeitet wird. Kann man wirklich sagen: Das geschichtlich gegebene Christentum soll sich in einem zusammenstimmenden Bilde darlegen? Je nachdem, ob das in den Vorlesungen çber Apologetik, Dogmatik, Ethik gelingt oder nicht, ist die Probe gelungen oder miûraten. Doch das Christentum fållt damit so wenig wie das Leben aufhært, Leben zu sein, weil wir es nicht erklåren oder begreifen kænnen. Hat sich hier nicht eine Lebensphilosophie, die wir immer wieder bei ihm treffen ± das ist nun einmal sein romantisches Erbe ±, dazwischen eingeschlichen, die nun doch wieder den Ernst der theologischen Arbeit herabmindert? Sie ist ein »Probieren«, ein nur annåherndes Nahekommen, ein Beschreiben und Erzåhlen der biblischen Geschichte. Oder: Zeugnis und Ûberzeugung werden von Kåhler sehr nahe aneinandergerçckt. So gewinnt er den Zusammenhang zwischen Glauben und Wissen. Und doch ist der Zeuge etwas anderes als ein Ûberzeugter; hier stoûen wir immer wieder auf einen freilich in jedem Pietismus anzutreffenden Subjektivismus, der ± im Vergleich zum Symbol-Legalismus 25 einer kirchlichen Institution ± vorzuziehen sein mag ± und Kåhler hat damals sehr gegen diese Front gestritten ±, der aber doch noch nicht gençgt, um das herauszuarbeiten, was Lehre, die pura doctrina evangelii (die reine Lehre des Evangeliums) heiût. Wer Kåhler in seiner besten Form, in seiner eigentlichen Lebendigkeit sehen will, muû mit diesen Vorlesungsresten beginnen. Hier ist ein kleiner Eindruck dessen erhalten, wie er die Verbindung zwischen dem Stoff und den Hærern ± sozusagen in jedem Moment ± knçpfte; er ist ± er wuûte das selbst nur zu gut ± in jedem Moment Rhetor; er trågt keinen toten Stoff

24. Auf des Meisters Worte schwæren. 25. M. Kåhler, Die starken Wurzeln unserer Kraft. Betrachtungen çber die Begrçndung des Deutschen Kaiserreiches und seine erste Krise, Gotha 1872, 207.

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vor, sondern steht, redend zeugend, apolegetisch und polemisch, selbst im Gesamtzusammenhange des auch jetzt, auch hier wirksamen Geschehens, von dem er zeugt, ist selbst ein Glied in der Kette und dient solchen, die ihrerseits einmal wieder Zeugen sein werden. »Der Kirche will alle Theologie dienen, der Kirche in ihren Evangelisten, Lehrern und Propheten.« Oder: »Die Schwelle des Heiligtums rein zu halten, das ist die bescheidene, aber wichtige Aufgabe unserer Disziplinen« (93). Man kænnte von diesen Vorlesungen her an Rilkes Gedicht denken: »Werkleute sind wir: Knappen, Jçnger, Meister, und bauen dich, du hohes Mittelschiff.« 26 Aber Kåhler weiû, und seine Studenten hæren es von ihm jede Stunde, daû die Reihe dieser Werkleute eine Vergangenheit und eine Zukunft hat. In der Kirche stehen heiût, eine theologische Ahnenreihe haben. Und Kåhler hat sich nie gescheut, die Namen der Månner zu nennen, von denen er unmittelbar Bleibendes empfing. Er hat sich nicht nur auf ein paar Groûe in der Theologie bezogen, um das andere »in wesenlosem Scheine« neben sich versinken zu lassen. Dazu war er ein viel zu stark geschichtlich denkender Mensch. Er lebt in Abhångigkeit und Kontroverse mit seinen Zeitgenossen, ein Nehmender und Ablehnender, der keinen Hehl aus seinem Pro und Contra macht.

2.3 Kirche ± Politik und Kirchenpolitik Es darf in diesem Zusammenhange gesagt werden, daû wir ihm eine Kritik von Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen« verdanken, die heute wieder lesenswert ist. Und zwar gerade darum, weil er in Bismarck den kritisiert, der neben sich nichts mehr gelten lassen will. Kåhler lebte ganz in den geschichtlichen Ereignissen seiner Zeit. Er håtte es gern noch intensiver getan, aber sein kurzer Ausflug in die Kirchenpolitik endete mit einer groûen Enttåuschung. »Die Kirche will ihre Selbståndigkeit nicht« ± damit verlieû er die Synode 27 . Und doch waren gerade in jenen Jahren der Reichsgrçndung wenige Christen in Deutschland so wach und so kritisch wie er. Er sah, daû mit »Blut und Eisen« kein Reich auf die Dauer gebaut wird, und hat das auch gesagt. Er schrieb damals ein Buch, das auch heute wieder lesenswert ist: »Die starken Wurzeln unserer Kraft. Betrachtungen

26. R. M. Rilke, Das Stundenbuch. Erstes Buch. Das Buch vom mænchischen Leben, in: R. M. Rilke, Gedichte, Stuttgart 1997, 46. 27. Vgl. M. Kåhler, Theologe und Christ, 252 f.

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çber die Begrçndung des deutschen Kaiserreiches« (1872). Er sah, wie er schon damals sagte, daû der Boden, auf dem wir leben, mit Vælkerleichen gedçngt ist. Er sah auch in dem Erbauer dieses Reiches einen Mann, der mehr und mehr die religiæsen Bindungen seiner Jugend- und Manneszeit hinter sich lieû. Und so schreibt er, als er die »Gedanken und Erinnerungen« Bismarcks in die Hand nimmt, jene groûartige Kritik, die sich auch nicht blenden låût durch den Stil Bismarckscher Diktion: »der fahle, widerwårtige Eindruck des Ganzen bleibt«. Was rçgt er eigentlich an Bismarck? Zwei Dinge, die fçr Kåhler so bezeichnend sind: Einmal rçgt er die Anbetung des Erfolges. Er, dessen letzter Vortrag den Titel trug »Die Erfolge Gottes unter der Erfolglosigkeit seiner Diener« (1912) 28 , haûte das Trachten nach Erfolg und sah, daû der Erfolg jeden, dem er zuteil wird, in die Fesseln der Sorge legt. »Nur um den Erfolg handelt es sich ihm; ± das groûe Zauberwort des ­Erreichbaren¬ deckt dieses Ziel. Und der Erfolg ist nicht ausgeblieben. Allein er ist kein erfreuender Besitz, sondern ein fortlastender Sorgenstein, und um die Kosten kçmmert sich der Strebende nicht viel.« 29 »Der politische Erfolg ist sein Gætze; er muû ihn knechten, und darum bringt er ihn um alle Freude des Lebens und um alle Freundlichkeit gegen die Mitlebenden.« 30 Wir haben inzwischen mit noch viel grausamerer Klarheit sehen mçssen, was es heiût, an Erfolge glauben! Es ist gewiû der schlechteste Glaube, den es gibt, und nicht umsonst steht als Mahnung wider diesen »Realismus« das passus sub Pontio Pilato (Gelitten unter Pontius Pilatus) im Apostolikum. Aber es ist noch etwas anderes, was Kåhler hellhærig macht. Dieser Bismarck am Ende seines Lebens ist ganz allein, er schweigt von allen, die ihm beistanden, ihm halfen. Er zeichnet sich wie einen Riesen, ganz allein, nur Hemmungen rings umher, keine Færderungen! So etwas gibt es nicht, meint Kåhler ± und immer wieder nennt er den Namen Roon. »Er hat den Strich unter die Multiplikanden der Politik des Jahrhunderts gemacht und das Fazit gezogen. Er hat die Volksformen gestaltet, in denen sich das nåchste Leben vollziehen wird. Aber er hat an dem groûen Problem des Jahrhunderts keinen entscheidenden Ruck getan. Den Inhalt hat er nicht

28. Der Vortrag war frçher: Die Erfolge Gottes unter der Erfolglosigkeit seiner Diener. Konferenzandacht am Donnerstage nach Misericordias çber Johannes 12,23-26, Kirchliche Monatsschrift 11 (1891) 73-83. 29. M. Kåhler, Aphorismen und Maximen, in: M. Kåhler, Theologe und Christ, 324. 30. Ebd., 326.

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geboten. Sonst wåre er siegesgewiû wie Luther und Stein gewesen. Und sein Testament wåre nicht eine verårgerte Kritik und Selbstrechtfertigung und ein Stein im Wege derer, die eben ohne ihn weiter machen mçssen.« 31 Das gab es also auch im 19. bzw. im beginnenden 20. Jahrhundert. Es gab Theologen, die nicht nur an ihrem System feilten und bauten, die nicht nur theoretisch interessiert waren. Es gab also noch so etwas wie echte Prophetie, und das sogar auf einem Katheder! Kåhler hat den Bruch im Deutschen Reich nur zu genau gesehen, er hat gesagt: »Unser arbeitseifriges und arbeitsstolzes Geschlecht schmilzt den Adel der Menschheit in die Kette um, mit der es sich selbst dem Diesseits verknechtet.« 32 Er hat das in direkter Beziehung auf die damals hochstrebende Industrie an der Ruhr und die Firma Krupp gesagt, gegen die Trennung von Arbeit und Gebet und die Phrase, daû Arbeit selbst Segen und Gebet sei! So sehen wir ihn lebendig in den Bezçgen seiner Zeit, meist leidend unter ihnen, meist ± wie es Propheten nun einmal geht ± darin von seinen engsten Mitarbeitern und Freunden nicht begriffen. Immerhin, ein Mann, der es wagte, bis ans Ende die Kraft nicht in sich, sondern extra se (auûer sich) zu suchen, in sich aber immer wieder das Widerstreben bekannte: »Oft sage ich mir: er ist Mensch geworden, also ist's der Mçhe wert, Mensch zu sein; er ist zum Leiden und zur Erfolglosigkeit gekommen, also mçssen wir uns darein finden; er ist begraben, so braucht des Grabes Rand nicht sein immer ± fçr mich wenigstens ± vorhandenes ­Schauderhaft¬ zu behalten; er ist auferstanden, und wir durch ihn wiedergeboren zu lebendiger Hoffnung. Das ist so unsichtbar, so unspçrbar, wie Gott selbst. Auf ihn hin muû das Glauben gewagt sein. Ich wollte wohl, ich kænnte all mein Bitten abmachen wie der alte Bengel, der bloû sprach: ­Vater, es bleibt bei der Abmachung!¬ Wie entfernt von solcher Sicherheit und Einfalt ist unsereins noch. Ich brauche mehr Zeit fçr den Widerspenstigen in mir als sonst wohl.« 33 Oder: »Wie kommt man dann immer tiefer in die terrores conscientiae 34 hinein, je nåher man sich vor den Heiland gestellt spçrt?« 35

31. 32. 33. 34. 35.

M. Kåhler, Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen«, 328. Vgl. FO 48. M. Kåhler, Einleitung zur Ethik, in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen, Bd. III, 115. M. Kåhler, Theologe und Christ, 344 f. Gewissensångste. M. Kåhler, a. a. O., 347.

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2.4 Hauptthemen der Theologie Kåhlers Martin Kåhler ist 1835 in Ostpreuûen geboren, wo sein Vater Pfarrer war. Er studiert in Heidelberg und Halle, wird Amanuensis bei Tholuck, spåter habilitiert er sich (Gewissen 36 ), geht kurze Zeit nach Bonn und kehrt dann nach Halle zurçck, um dort das Schlesische Stift zu çbernehmen. Endlich wird er Ordinarius (fçr Julius Mçller) und bald der Mittelpunkt der Fakultåt. Seine bedeutendsten Arbeiten sind die drei Bånde »Angewandte Dogmen«, »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus«, »Die Versæhnung durch Christum in ihrer Bedeutung fçr das christliche Glauben und Leben«, Predigten etc. Martin Kåhlers theologische Arbeit konzentriert sich um drei Hauptpunkte, die wie die Punkte eines Dreiecks miteinander zusammenhången und das Feld dessen abstecken, was er wohl »Offenbarung« genannt haben wçrde. Das ist erstens die Bibel, die ganze Bibel, wie er gern sagt. Die Bibel ist die Urkunde der die Kirche begrçndenden Predigt. 37 Das ist seine berçhmte Formulierung. Zweitens der biblische, geschichtliche Christus. Er meint damit den Christus, den die Zeugen der Schrift bezeugen und der sich ± durch den Geist ± darin und durch die Schrift dann auch uns selbst bezeugt. Er, Kåhler, streitet darum, daû dieser biblische Christus, der gepredigte Christus, wie er auch gern sagt, nicht in der Menschen Hånde ausgeliefert wird. Wenn das Bild des Jesus von Nazareth, das uns den Glauben abgewinnt, nicht mehr das biblische Bild sein darf, sondern von den Historikern erst auf seine Glaubwçrdigkeit hin retouchiert wird, dann 36. 1860 erhielt Kåhler mit seiner 1859 erschienenen Arbeit »Die christliche Lehre vom Gewissen« den Titel candidatus pro lic. conc. (Sententiarum qua de conscientia ediderint theologi per secula florentes brevis enarratio. Fasc. 1 [mehr nicht erschienen], Halle 1860; vgl. M. Kåhler, a. a. O., 183). Die hallische Fakultåt hat das nicht der Promotion gleichgestellt, und um eine ordentliche Professur zu erreichen muûte Kåhler seine Lizentiatenarbeit fortfçhren. Das gelang ihm erst 1877 (Das Gewissen. Erster Theil: Die Entwicklung seiner Namen und seines Begriffes. Geschichtliche Untersuchung zur Lehre von der Begrçndung der sittlichen Erkenntniû. Erste Hålfte: Alterthum und neues Testament, Halle a. d. Saale 1878 [= Das Gewissen. Ethische Untersuchung. Erster, geschichtlicher Theil, Darmstadt 1967]. Daraufhin »entschloû sich auch die hallische Fakultåt, ihn zum Doktor der Theologie zu ernennen.« (M. Kåhler, a. a. O., 261; vgl. 251) 37. Die Bibel ist die »Urkunde fçr den Vollzug der kirchengrçndenden Predigt« (M. Kåhler, Besteht der Wert der Bibel fçr den Christen hauptsåchlich darin, daû sie geschichtliche Urkunden enthålt? [1896], in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen, Erster Band, 23; auch in: M. Kåhler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Mçnchen 19613 , 103 [dort steht auch die Seitenzahl des ersten Abdrucks angegeben]).

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ist Christus preisgegeben. Der historische Jesus ist dann eingetauscht fçr den biblischen, den lebendigen Christus. »Der geschichtliche Christus ist der gepredigte Gekreuzigte und Auferstandene.« 38 Er, Kåhler, ist einer der wenigen, die der Predigt eine unveråuûerliche Stelle in der Geschichte der Christenheit zuerkannt haben! Und der dritte Punkt ist die Eschatologie. Kåhler hat einen lesenswerten Vortrag gehalten: »Die Bedeutung, welche den ­letzten Dingen¬ fçr Theologie und Kirche zukommt«. »Mit dem getrosten Blick auf die çberweltliche Vollendung sind die ersten Glåubigen an die Eroberung der Welt gegangen.« 39 Hier findet sich der bekannte Satz, daû nur der Christ in der Gegenwart leben kann, denn ihm ist die Vergangenheit durchgestrichen und die Zukunft gewiû. 40 Eschatologie und Evolution ± das sind ihm die Gegensåtze, zwischen denen die Entscheidung fallen muû, sei es zugunsten eines geschichtsmåchtigen, jenseitsgewissen Christusglaubens oder einer abstrakten, fortschrittsseligen, aber doch verblendeten Idee immanenter Erlæsung. Eins scheint allerdings Tatsache zu sein, daû sich in der Eschatologie jede Theologie letzten Endes decouvriert. Die Theologen, die etwas festgehalten haben von der echten biblischen Eschatologie ± also von der Auferstehung und der damit gesetzten Nåhe des Reiches Gottes ±, haben seltsamerweise immer offene Augen fçr die Geschichte 41 ; sie leben in der sie umgebenden Wirklichkeit, in der Gegenwart, wåhrend die anderen, die einer zeitlosen Wahrheit nachgehen und unvermeidlich in Abstraktionen ± Prinzipien oder Ideen ± enden, irgendwie blind werden fçr die sie umgebende Welt, so blind wie der ins Unendliche strebende Faust, der nicht sieht, daû er nur noch das Grab vor sich hat. 42 Kåhler hat demgegençber 38. M. Kåhler, Jesus und das Alte Testament (1896), in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen, Erster Band, 164 f. (auch in: M. Kåhler, Jesus und das Alte Testament, Biblische Studien 45, Neukirchen-Vluyn 1965, 75 [dort steht auch die Seitenzahl des ersten Abdrucks angegeben]): »Der geschichtliche Christus ist der gepredigte Jesus Christus.« In einer Anmerkung bemerkt Kåhler, seine Schrift »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« diene dem Erweis dieses Satzes (vgl. a. a. O., 40 ff.). 39. »Mit diesem Blick auf den unausbleiblichen Sieg des verborgenen wiederkommenden Herrn (¼) sind seine Zeugen an die Eroberung der Welt gegangen« (M. Kåhler, »Die Bedeutung der ­letzten Dinge¬ fçr Theologie und Kirche«, in: M. Kåhler, Angewandte Dogmen. Dogmatische Zeitfragen. Bd. 2, 509). 40. »¼ nur der Christ kann ganz in der Gegenwart leben, denn ihm ist die Vergangenheit durchgestrichen und die Zukunft gewiû« (ebd.). Der Ausdruck stammt ursprçnglich von Tholuck. 41. »Erst die Eschatologie erschlieût der Theologie den Sinn fçr die Geschichte« (M. Kåhler, ebd., 497). 42. J. W. Goethe, Faust II, V. 11505.

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immer Reichsgottestheologie getrieben und hat sich nicht gescheut, zu schreiben: »Zum kommenden Weltalter gehæren wir, weil zum himmlischen Jerusalem.« 43 Es sind schon drei starke Pflæcke, die er ± vor nun fast 70 Jahren ± einrammt, um mit ihnen sein Arbeitsfeld abzustecken ± und wir sind ja bis heute noch nicht aus diesem Felde heraus ±: die Bibel, der gepredigte Christus und die eschatologische Perspektive des Ganzen.

2.4.1 Die Bibel ± das in der Christenheit fortdauernde Pfingstwunder

Gehen wir die drei Punkte durch! Was schon Bengel gesagt hat: »Die Schrift erhålt die Kirche und die Kirche behçtet die Schrift. Blçht die Kirche auf, dann leuchtet die Schrift. Ist die Kirche krank, dann verstaubt die Schrift. So kommt es, daû das Angesicht der Kirche und das der Schrift immer zugleich entweder die Spuren der Gesundheit oder der Krankheit zu zeigen pflegt, und der Schriftgebrauch entspricht immer wieder dem Zustand der Kirche« 44 ± eben das nimmt Kåhler auf: die Bibel ist der Kirche Buch und durch sie das Buch der Menschheit. Gerade diesen letzten Gedanken hat er immer wieder neu zu erlåutern gesucht. Er hat geradezu behauptet, daû erst durch die Bibel die Menschheit ihre einheitliche, die Vælker umspannende Geschichte bekommen habe. Erst und nur durch die Bibel ist die Menschheit eine Realitåt, und daû sie das werde, was sie ist, dazu dient die Mission. Darum ist aus Kåhlers Theologie die Mission als Lebensåuûerung der ± eben damit sich immer wieder aufgebenden, den Vælkeregoismus çberwindenden ± Kirche nicht wegdenkbar. Aber das Wesentliche hångt doch daran, was die Bibel nun eigentlich sei. Und Kåhler hat hier einen Zweifrontenkrieg gefçhrt; er hat statt zwischen Wilhelm Kælling und William Wrede zu wåhlen, gegen beide Front gemacht. Er hat sich also im rechten Moment daran erinnert, daû der Angriff die beste Verteidigung ist und hat nun ± nach rechts ± die Inspirationstheorie als eine falsche Sicherheit und ± nach links ± die Verwandlung des christlichen Glaubens in eine »Weltanschauung« bekåmpft. »Der ­biblische Christus¬ ist heute noch der Stein, an dem sich die Leute scheiden«, so ist denn »die Bibel das Buch ohnegleichen, weil sie eben ­Christum treibt¬« 45 . 43. M. Kåhler, a. a. O., 521. 44. »Scriptura ecclesiam sustentat: ecclesia Scripturam custodit. Quando viget ecclesia, Scriptura splendet: quando ecclesia aegrotat, Scriptura situm contrahit. Itaque Ecclesiae Scripturaeque facies simul vel sana solet apparere vel morbida: et ecclesiae constitutioni subinde respondet tractatio Scripturae.« J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, ed. VIII. P. Steudel, Stuttgart 1887, Praefatio § 5, XIX. Ûbersetzung nach Iwand PM I, 94; auch zitiert ebd., 354; 530. 45. M. Kåhler, Besteht der Wert der Bibel fçr den Christen hauptsåchlich darin, daû sie geschichtliche Urkunden enthålt? (1896), 20 f.

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Kapitel 1: Der »lebendige Christus«

Hinter diesem Kampfziel steht aber ein Wissen um die uns heute gebotene Freiheit des Christenmenschen. Kåhler sieht diese Freiheit, die evangelische Freiheit, bedroht ± und zwar gerade dadurch, daû der Glaube nicht mehr den Christus in der Schrift finden soll, sondern erst die Forschung feststellen will, was echt sei. Sie will ein »zuverlåssiges Minimum« 46 aus den Quellen herausarbeiten. Damit aber bringt man den »Christen in schlechte Abhångigkeit von der Theologie«. Das »­Minimum¬-Gespenst lebt ebenso von der Fçlle der Ûberlieferung, wie es das Gespenst des abstrakten Dogma getan hat.« 47 Nein, das Datum (des Glaubens!) muû unmittelbar erreichbar sein. Die protestantische Selbståndigkeit des Christen gegençber der Schulbevormundung ist nicht mæglich ohne den besonderen Wert der Bibel. Zu dem Christus der ganzen Bibel muû ein verlåûlicher Weg fçr jeden fçhren. So fassen sich die Forderungen zusammen, um die es den »­Bibelverehrern¬ nach Menkens Art« 48 geht: »1. Die Bibel als den Rechtsgrund unseres evangelischen Bekenntnisses wider die Priesterkirche, aber auch wider die Schwårmer; »2. die Bibel als Maûstab und Quell der æffentlichen Verkçndigung; »3. die Unabhångigkeit jedes Christen in seinem Gebrauche der Heiligen Schrift, sofern sie das Gnadenmittel des Wortes darbietet; »4. die Bibel als Tat- und Sachbeweis fçr die geschichtliche Offenbarung Gottes.« 49 Zwei Themen hat Kåhler speziell herausgegriffen: das des Alten Testaments und das der Geschichte der Bibel 50 . Denn das Alte Testament ist nicht nur bedeutsam als ein Zwischenglied in der Vorgeschichte des Christentums, es kommt »durch Jesus (¼) an jeden Menschen heran, der unter den Schall der christlichen Predigt geråt« 51 ± seit Jesus sind Millionen in ihrem Bewuûtsein an den Zehn Geboten gebildet, und auch der Psalter als Gebet steht am Himmel mit seinen strahlenden Sternen çber den Nåchten der Kranken und çber den Totenbetten. »Wir sind alle semitisiert und wir mçûten unser religiæses, auch unser ås-

46. 47. 48. 49.

»­Minimum¬ des geschichtlich Feststellbaren« (ebd., 38). Ebd., 19. Ebd., 36. M. Kåhler, Unser Streit um die Bibel, in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen, Erster Band, 53 f. (auch in: M. Kåhler, Aufsåtze zur Bibelfrage, 28). 50. M. Kåhler, Geschichte der Bibel in ihrer Wirkung auf die Kirche, in: M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen, Erster Band, 266-435 (auch in: M. Kåhler, Aufsåtze zur Bibelfrage, 131-288). 51. M. Kåhler, Jesus und das Alte Testament (1896), 127. Seitenangaben im Text.

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thetisches Denken auflæsen, wenn wir diese Fasern semitischen Denkens herausziehen wollten« (127). Das Alte Testament war die Bibel Jesu bis ans Kreuz. 52 »Weil sie bis in den Tod und die Auferstehung hinein seine Bibel war, darum ist sie auch die Bibel seiner Apostel, seiner Schçler geblieben und durch die Apostel zur Bibel der Christenheit geworden. Denn zuerst nahm die alttestamentliche Sammlung diese Stelle ein; erst im zweiten und dritten Jahrhundert kam die neutestamentliche Sammlung dazu« (129). Immer wieder ist es der Kampf gegen die Abstraktion, den Kåhler fçhrt: »Stellen Sie sich vor, Jesus wåre auf der Agora in Athen oder auf dem Forum in Rom aufgetreten; es wåre ihm gegangen, wie dem Paulus in Athen« (134) ± denn in Jesus geht es um die Menschheit, und mit »seinem Glauben an die einheitliche Menschheit steht Israel nicht bloû einzig unter den Vælkern da, die einander Barbaren schelten; seinen Schriften verdankt auch die neue Menschheit diese Anschauung« (134). Irrtumsfåhigkeit Jesu? Benutzung des Alten Testaments? Der Geist Jesu und die Schrift ± [das sind Fragen, die er betont.] Aber immer auch die andere Betonung: Die historisch-kritische Arbeit an der Bibel zerstært unerbittlich das Vorurteil, daû in ihr ein Wunderbuchstabe fçr die Offenbarung bçrge. Kampf gegen die Verbalinspiration. Kåhler und die Bibelfrage: das ist einzig in seiner Art. Die Frage nach dem vormundlosen Umgang mit ihr, die Stellung der Forschung: »Es ist der tiefste Pulsschlag in meinem eigentlichen theologischen Leben, wenn ich hier davon rede, wie man gegençber der Heiligen Schrift, zu der das Alte Testament wesentlich gehært, eine feste Stellung haben kann, ohne wegen der Entdeckungen, Zweifel und Beweise geschichtlicher Forschung in fortwåhrender Besorgnis zu sein« (117)! Er sieht hier das Grundproblem des geschichtlichen Christentums ± des Christentums, das aus der Offenbarung in der Geschichte stammt! [Kurze Notizen, die andeuten was Iwand zu den beiden anderen angekçndigten Punkten bringen wollte:]

2.4.2 Der »gepredigte Christus«

Der »historische Jesus« ± ein Holzweg! Das Evangelium ist nicht der Einbruch einer Idee in das Denken der Menschen, es ist selbst etwas Geschichtliches. ± Jesus selbst ist sein Evangelium. Kein Es ± sondern Er. Das Bekenntnnis zum Geiste Christi! Christus als der Lebendige. 52. Vgl. M. Kåhler, ebd., 128: »¼ dieser Kanon die Bibel Jesu bis an das Kreuz hinan und nach seiner Auferstehung war«.

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Kapitel 1: Der »lebendige Christus«

2.4.3 Die »letzten Dinge«

Eschatologie: Gottes Gang durch die Geschichte! »Der Jahrtausende geht seinen stillen Gang, Gemçter durchweht die Geschlechter entlang, in Gerichten wettert zerstærenden Flugs, jåh niederschmettert, was çppig wuchs, der Leben spendet, Gedeihen und Frucht, die Herzen wendet, daû man dich sucht, Verborgner, Offenbarer, so nah und so fern, du einiger wahrer Herr aller Herrn, hilf aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dein eigen zu sein.« 53

53. M. Kåhler, Theologe und Christ, 304.

Kapitel 2: Die Religionssoziologie und das Ende des Neuprotestantismus

1. Ernst Troeltsch 1.1 Der letzte Vertreter des Neuprotestantismus Ernst Peter Wilhelm Troeltsch (1865-1923), aus einem Mçnchener Arzthaus stammend, erst Theologe in Heidelberg, dann in Berlin, zum Schluû ganz in die philosophische Fakultåt çbergehend, ist der letzte Vertreter dessen, was man den Neuprotestantismus nennen kann. Das heiût: Troeltsch ist von frçh an davon çberzeugt und durchdrungen, daû die Reformation nur ein Anfang war, daû erst durch die Aufklårung jenes gelåuterte Christentum geschaffen ist, das der Glaube, die Religion von morgen sein wird. Troeltsch hat eigentlich nur eine Frage, die er in seinem Vortrage çber die Absolutheit des Christentums formuliert hat: Worin grçndet dieser Absolutheitsanspruch? Das bewegt ihn, und das bewegt diese Zeit. Warum soll es nicht prinzipiell mæglich sein, daû wir eine neue Religion bekommen? Troeltsch lebt in den Jahren des anbrechenden 20. Jahrhunderts, in denen der Monistenbund so etwas versucht: eine Religion, die auf der modernen wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen Erkenntnis beruht, eine »atheistische Ethik«. Also im Grunde genommen die Frage: Was wird aus der Ethik, aus dieser doch wohl fçr die Gemeinschaft und das persænliche Leben unentbehrlichen Wissenschaft, wenn es keinen Gott gibt? Und was wird aus dem Christentum, wenn es nur noch als geschichtliche Tradition fortlebt? Kann es das? Troeltsch war offenbar der Meinung, daû es das kann. Daû nicht mehr die Wahrheitsfrage, sondern die Frage des Wertes herangezogen werden muû, um hier die rechte Entscheidung zu fållen. Von der Wahrheitsfrage aus mçssen wir zugeben, daû das Christentum ± gerade als geschichtliche Erscheinung ± damit auch den Gesetzen alles geschichlichen Lebens unterliegt, und diese lauten nun einmal auf Analogie, auf Kausalitåt und Relativitåt. Es ist also denkbar, daû eine neue Religion, daû ein neuer Religionsstifter kommt ± aber es ist nicht wahrscheinlich. Und zwar darum nicht, weil es schwer ist, sich eine

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Kapitel 2: Die Religionssoziologie und das Ende des Neuprotestantismus

reichere und tiefere Religion vorzustellen als das Christentum. Auch der Religion des Buddhismus gegençber ± der damaligen Zeit galt diese Mæglichkeit als die ernsteste Rivalitåt ± wçrde das Christentum wegen seines ethisch-aktiven Charakters immer çberlegen sein. Das muû man hinter Troeltsch sehen ± diese Sorge. Das treibt ihn um. Er kommt von historischen Studien her, er hat Theologie studiert, weil hier die tiefsten und feinsten historischen Fragen aufbrechen. Er sieht das Christentum im Zusammenhange der historischen Entwicklung, er riecht es færmlich, daû mit der modernen Historie eine entscheidend groûe Frage dem Christentum, der Offenbarung gegençber aufgebrochen ist. Wenn die Geschichtswissenschaft ± der moderne Historismus ± seinen absoluten, durchgångigen, alles seinen Kategorien unterziehenden Anspruch geltend macht, wo bleibt dann die Offenbarung? Das sieht Troeltsch ± er sieht, daû sich die Theologie, indem sie sich als Geschichtswissenschaft fçhlt, damit selbst aufhebt. Nicht die Naturwissenschaften, sondern die moderne Geschichtswissenschaft, der Historismus ± wie Troeltsch sagt ±, wird das ernsthafte Problem, wird die Unmæglichkeit einer Offenbarungstheologie sein.

1.1.1 Der moderne Atheismus und der Zwiespalt des Christentums

Troeltsch ahnt ± und er ringt verzweifelt mit dieser Ahnung, sein ganzes Leben ist dieses Ringen ±, daû wir als moderne, historisch denkende Menschen nicht mehr glauben kænnen. Nicht die Naturwissenschaft ± nein, die Geschichtswissenschaft ist der Stein, der auf dem Grabe des toten Gottes liegt. »Das græûte neuere Ereignis ± daû ­Gott tot ist¬, daû der Glaube an den christlichen Gott unglaubwçrdig geworden ist ± beginnt bereits seine ersten Schatten çber Europa zu werfen«, heiût es in Nietzsches »Fræhlicher Wissenschaft«. »Fçr die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug fçr dieses Schauspiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muû unsere alte Welt tåglich (¼) miûtrauischer, fremder, ­ålter¬ scheinen.« 1 Das ist es, was Troeltsch umtreibt. Der Argwohn in seinen Augen ist in der Tat stark genug, um zu sehen, was geschehen muû, wenn das Christentum fållt, wenn es aufhært, nicht etwa persænlicher Glaube, sondern Basis, allgemeine Norm unserer modernen, abendlåndischen Kultur zu sein. Er weiû, daû dann unsere ganze europåische Moral zusammenbricht. So erscheint ihm der moderne Mensch als einer, der zwischen zwei Ungeheuern schwebt: hinter ihm ein dogmatisches mythologi1.

F. Nietzsche, Die fræhliche Wissenschaft. Fçnftes Buch, Aphorismus 343, Kræner / Naumann Taschenausgabe Bd. 5, 271 (= Schlechta II, 205; KSA 3, 573).

1. Ernst Troeltsch

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sches Christentum, vor dem ihm graust, das ihn um seine eben erworbene Freiheit wieder bringen mæchte, und vor ihm ein leerer abgrçndiger Nihilismus ± er hålt sich noch an einem dçnnen Strang çber dem Nichts, das ist die Geschichte, aber er sieht mit Schrecken, wie die Wurzeln dieses Gebildes ± Geschichte genannt ± mehr und mehr angenagt werden, so daû auch dieser letzte Halt des glåubig-unglåubigen Europåers von Tag zu Tag brçchiger, dçnner, haltloser wird. Das ist die Lage, in der Troeltsch die Moderne sieht. Er sieht sie ebenso wie seine beiden groûen Freunde Wilhelm Dilthey und Max Weber, aber er hat weder den geistesgeschichtlichen Optimismus des ersten ± noch den kalten, areligiæsen Positivismus des letzteren. Troeltsch ist eben doch mehr, er ist Christ, er weiû etwas um Jesus von Nazareth, er weiû und sieht, daû wenn diese Wurzel herausgerissen wird aus dem Gebilde, das wir Kultur nennen, daû dann alles ringsumher veræden muû. Troeltsch glaubt, aber er weiû nicht, wie er mit diesem Glauben in wissenschaftlicher Rechtschaffenheit vor der modernen Welt bestehen soll. Das treibt ihn um. Eben jene Kapitalfrage, die Heim in dem treffenden Bilde wiedergab: Alle Einzelfragen sind im Moment çberholt, eine neue, eine zentrale Frage ist aufgebrochen 2 ± es geht darum, ob Europa weiter christlich bleiben wird und kann und ob es bleibt, wenn es nicht christlich bleibt. Darum årgern ihn die Theologen, die sich noch unbekçmmert um dieses drohende Verhångnis in ihren alten spinnwebumhangenen Denkråumen bewegen, die nicht sehen, daû hier ± hier im Christentum und in der Kirche ± die Wende anbrechen mçûte. Troeltsch hat nie gepredigt, er hat nur von auûen her, mit dem Auge des besorgten Liebenden die Kirche gesehen. Aber er hat schon etwas gesehen. Sobald ihm etwas Sorge macht, sobald ihn etwas unmittelbar existentiell bedrångt, flçchtet er in die Geschichte. Hier kommt er zur Besinnung, hier ruht er aus. Hier darf sein Auge mit dem langen, weiten Blick çber die ganze historische Genesis ausruhen, hier kann man Verstehen lernen. Die Geschichte ist ± wenn auch nicht der Friedhof ± so doch der Frieden und die Freiheit fçr diesen die ganze Enge und Dçsternis des Europåertums empfindenden Geist. Und so sieht er auch etwas Besonderes an der Kirche. Er macht die Feststellung ± eine ihn immer wieder aufregende Feststellung ±, daû die Kirche bestimmt ist durch ein soziales und politisches Bçndnis mit den konservativen und reaktionåren Kråften. Er sieht das Verhångnisvolle, das sich daraus ergeben muû. Er sieht es bis hinein in die Alltåglichkeiten der Poli-

2.

Vgl. K. Heim, Das Weltbild der Zukunft, Berlin 19041 , Wuppertal 19802 , 16 f.

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Kapitel 2: Die Religionssoziologie und das Ende des Neuprotestantismus

tik, der kirchlichen Presse, der geheimen und æffentlichen Machenschaften. Er sieht, wie die Welt immer moderner wird und die Kirche sich demgegençber auf die Restauration çberlebter mythischer Bilder und Vorstellungen stçtzt. Und er sieht nun plætzlich ± wie durch eine Erleuchtung ± noch etwas anderes: daû eben das, was man Fortschritt nennt, was der Welt einen Ruck nach vorn gibt, was sich nicht zufrieden gibt mit dem Satz von der ewigen Unabånderlichkeit ±, daû dies auch aus dem Christentum stammt. Daû sich also in diesen vor Augen liegenden Kåmpfen etwas fortsetzt, was uralt ist, was von Hause aus christlich ist ± ein tiefer Gegensatz zwischen dem eschatologisch ausgerichteten Evangelium des Jesus von Nazareth und einem schon mit Paulus anhebenden konservativen Dogmatismus, einem das Christentum dogmatisch konservierenden und nun auch politisch und soziologisch erstarrenden Prozeû. Er sieht, daû die nach vorn gehende Bewegung von den »Sekten« ausgeht, daû diese aber das eigentlich Echte, Ûberweltliche am Christentum meinen und erst durch die Groûkirche ausgeschieden werden, die mit der Welt Frieden macht.

1.1.2 Das Gegençber von Kirche und Sekte und die Problematik der Moderne

Nun hat Troeltsch diese Frage nach zwei Seiten hin ausgebaut: Er hat einmal das Phånomen Kirche nåher untersucht, und er hat zweitens zu bestimmen versucht, was der »moderne Mensch« ist. Beides sind zwei hochinteressante Themen. Die erste Untersuchung trågt den Titel »Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen«. 3 Auch hier liegt etwas in der Luft. Man merkt um die Jahrhundertwende, daû sich in den alten herkæmmlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat etwas, wenn nicht alles zu wandeln beginnt. Man merkt, daû unsere Ethik nicht eine absolute Setzung ist, sondern zum mindesten eine gesellschaftliche Relation hat. Man merkt aber weiter, daû mit der »Bergpredigt« ± es ist die Zeit, da man Tolstoi in Deutschland liest und die Religiæs-Sozialen, der junge Ragaz etwa, beginnen ± ein Ethos gegeben ist, welches die Innerweltlichkeit sprengt. Man fragt sich: Was will eigentlich das »Christentum« in dieser Welt? Hebt es nicht die Welt auf? Ist es nicht dadurch matt geworden, daû es »verweltlichte«? Und so macht sich Troeltsch daran, einen ersten groûen Ûberblick zu geben çber die »Soziallehren« des Christentums von den Tagen Jesu an bis ins 18. Jahrhundert. 3.

E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften, Bd. I, Tçbingen 19121 , Aalen 19773 ; Seitenangaben im Text. Vgl. NWN 1, 76-85.

1. Ernst Troeltsch

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Er entdeckt: Durch die ganze Kirchengeschichte geht ein Gegensatz, den wir heute mit Kirche und Sekte bezeichnen, der aber in Wahrheit etwas ganz anderes ist. Die Kirche ist die »Heilsanstalt«, in die man geboren wird, der man angehært, ohne sich persænlich dafçr entscheiden zu mçssen. Die Kirche selbst fçhlt sich ihren Mitgliedern gegençber als Missionskirche, sie will sie gewinnen, sie mæchte alle gewinnen. Aber ihre Mitgliedschaft ist nicht davon abhångig, ob sie sich gewinnen lassen. Die »Sekte« ist nicht eine håretische Gruppe, sondern ist von Hause aus »Freiwilligkeitskirche«, hier muû man den Eintritt vollziehen unter persænlicher Entscheidung, hier muû man ein vollgçltiges ± auûerweltliches ± Ethos als Verpflichtung çbernehmen. »Das Wesen der Kirche ist der objektive, anstaltliche Charakter. In sie wird man hineingeboren und durch die Kindertaufe tritt man in den Bereich ihres Wunderkreises. Das Priestertum und die Hierarchie als Inhaberin der Tradition, der Sakramentalgnade und der Jurisdiktion stellt (¼) den objektiven Gnadenschatz dar (¼). Es ist die Permanenz des Gottmenschen, die Verlångerung der Menschwerdung, die objektive Organisation der Wunderkraft, von der (¼) die subjektiven Wirkungen ausgehen« (371 f.). Von hier ist der Kompromiû mit der Welt mæglich, denn die »Heiligkeit und Gættlichkeit der Anstalt« bleibt unberçhrt. Erst mit dem »Kompromiû« wird der »Universalismus« der Kirche mæglich ± und Troeltsch meint, daû bereits Paulus die Kirche in diesem universalen Sinn verstanden und ihren »Kompromiû« (etwa mit dem Staate) eingeleitet habe. Diese Kirche ist die »groûe Erzieherin der Vælker« (372). Auf der anderen Seite steht in der Sekte die Gemeinschaft der Freiwilligkeit und des bewuûten Anschlusses. »Jeder hat Anteil an der Gemeinschaft als selbståndiges Glied. In die Sekte wird man nicht hineingeboren, sondern ihr tritt man auf Grund bewuûter Bekehrung bei; die in der Tat ja auch spåter aufgekommene Kindertaufe bildet fçr sie fast stets einen Anstoû« (372 f.). Nicht die »objektive Sakramentsversittlichung«, sondern die »persænliche Leistung« ist Kriterium des Frommseins. »Die Sekte erzieht daher nicht Vælker und Massen, sondern sammelt die Elite der Berufenen und stellt sie der Welt schroff gegençber.« Hier bestimmt nicht das »Kulturinteresse« das ethische Denken, sondern die »Eschatologie«. »Wie der Sektentypus in der Predigt Jesu wurzelt, so ist seine Askese auch die des Urchristentums und der Bergpredigt« (373). Das kirchliche Ideal der Askese ist nur bestimmten »Heroen« vorbehalten, das der Sekte ist »ein allen mægliches und fçr alle bestimmtes« (374). Statt Kirche und Sekte sagt Troeltsch »Anstaltskirche« und »Freiwilligkeitskirche«. Er findet den Unterschied bereits im Neuen Testament begrçndet. Es ist dasselbe, was Werner Elert in seinem bedeutenden Buch »Der Kampf um das Christen-

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tum« 4 den Unterschied zwischen Synthese und Diastase nennt. Beide, Kirche wie Sekte, vertreten ein Recht, es sind »zwei verschiedene soziologische Typen«; die Differenz ist bereits mit dem Urchristentum gesetzt und geht durch die ganze Kirchengeschichte. Es ist wieder der Unterschied zwischen dem Evangelium Jesu ± und dem Evangelium von Jesus. Diese Untersuchung wird nun dadurch besonders interessant, daû Troeltsch zeigt, wie beide Typen einen bestimmten Gebrauch vom Naturrecht machen. Und zwar die Sekten einen auch hier wieder revolutionåren, weltumstçrzenden; besonders seit der Reformation, nachdem Luther den Sektentyp als Schwårmer ausgeschieden hat. Und das ist nun der eigentlich interessante Teil des Buches ± drei Hæhepunkte: Thomas, der das Sektenmotiv in temperierter Form (durch das Naturrecht) in die christliche Ethik hineinnimmt, Luther, der die Basis des christlich-konservativen Bçndnisses legt, und Calvin, der wiederum die Ansåtze zur Freiwilligkeitskirche und zum modernen soziologischen Schema (innerweltliche Askese, Berufsethik) gibt. Eindeutig bezieht Troeltsch Stellung gegen Luthers Positionen ± hæren wir etwa folgenden Satz: »In der groûen Angriffsstellung, welche nach der Auswirkung des 18. Jahrhunderts in der franzæsischen Revolution die ålteren Geistesmåchte gegen die moderne Welt wieder einnahmen (¼), ist die Restauration des preuûisch-deutschen Luthertums eines der sozialgeschichtlich wichtigsten Ereignisse. Es verband sich mit der Reaktion des monarchischen Gedankens, des agrarischen Patriarchalismus, der militårischen Machtinstinkte, (¼) heiligte den realistischen Machtsinn und die dem preuûischen Militarismus unentbehrlichen ethischen Tugenden des Gehorsams, der Pietåt und des Autoritåtsgefçhls. 5 So wurden Christentum und konservative Staatsgesinnung identisch, verschwisterten sich Glåubigkeit und realistischer Machtsinn, reine Lehre und Verherrlichung des Krieges und des Herrenstandpunktes. So wurden (¼) die Anhånger der modernen und sozialen Tendenzen in die Kirchenfeindlichkeit getrieben 6 und dem gegençber dann alle christlich und religiæs Fçhlenden fçr den Konservativismus in Beschlag genommen« (603 f.). Nun entfaltet er von hier aus den Unterschied zum Calvinismus, der durch den »Vertragsgedan4. 5.

6.

W. Elert, Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, Mçnchen 1921. In Klammern bemerkt Iwand: Heidelberg 1911 ± Jahr wie Ort bezeichnend! ± Vielleicht spielt er damit darauf an, daû Troeltsch seit 1910 mit Weber dessen Haus in Heidelberg ± die Fallenstein-Villa ± teilte. Webers Haus war ein geistiges Zentrum fçr viele Besucher. Vgl. NWN 1, 76. Iwand: abgedrångt.

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ken« viel offener und bildungsfåhiger ist als der das »biblisch positive« Recht vertretende Patriarchalismus des Luthertums. Um bei dem letzten stehenzubleiben. Es wird jeden, der sich aufmerksam durch dieses Buch von fast tausend Seiten hindurchquålt, çberraschen, wie geradezu prophetisch seine Sicht der deutschen soziologischen Position eingetroffen ist. Irgendwie ist durch die Synthese zwischen dem »Luthertum«, wie es im 19. Jahrhundert geworden ist, und der »Realpolitik« ein Stillhalteabkommen zwischen Kirche und Welt, Kirche und Machtstaat getroffen, das sich als Wurzel eines groûen Verhångnisses erwiesen hat. Die »bæse Welt« wird weder verlassen, noch wird sie etwa zu åndern çbernommen, sondern sie wird geradezu in das christliche System »rezipiert«, als Kontrapunkt zu dem, was man Glauben nennt. Wie der Teufel zu Gott gehært, so gehært die Welt in ihrer Unverbesserlichkeit zum Sein des Christen. Von da aus wird die Gewalt gerechtfertigt, insbesondere gegen jede gewaltsame Verånderung der Zustånde. Es sitzt also hier bereits im Keime ein nihilistischer Zug: das erklårt diesen merkwçrdigen Umstand, daû gerade die konservativen Kreise zu Trågern der nihilistischen Politik werden, daû man von der Kirche aus grundsåtzlich die Diktatur akzeptiert, daû man die Verwandlung durch das Christentum nie als institutionelle, sondern nur als persænliche faût, daû darum der Gemeindeauftrag ganz zurçcktritt. Was aber sollen wir sagen zu der Bestimmung von »Kirche und Sekte«? 1. Die dogmatische Grundlage dieser Unterscheidung ist nicht haltbar. Jesus und Paulus. Das Dogma. 2. Gibt es eine Doppelseitigkeit im Kirchenbegriff, Communio und corpus Christi? Eins gilt jedenfalls: Der Gegensatz ist nicht verbindlich. Man denke an Volkskirche, Freikirche und Bekennende Kirche. Der Weg der Kirche ist ein wandelbarer. 3. Die Kirche und das Naturrecht. Hier bricht die Frage von Kirche und Recht auf und seiner christologischen Beziehung. Der Messias gibt den Heiden das Recht. Schlieûlich zweitens: was ist der moderne Mensch? Das Wesen des modernen Geistes [wird in vier Punkten bestimmt]: a. »Das immer måchtigere Emporsteigen des Staates und der Staatsidee« 7 (Diesseitigkeit [303], modernes Heidentum): »Dieser logisch durchgear7.

E. Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, in: E. Troeltsch, Aufsåtze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. von Hans Baron, Tçbingen 1925, Teil IV Die moderne Welt, 302. Seitenangaben im Text.

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beitete Machtcharakter der modernen Staatsidee ist an und fçr sich gleichgçltig gegen die Staatsform.« (305) b. »Die Gleichheitsdemokratie macht den Staat zum Exekutor und Tråger aller Lebenswerte çberhaupt (¼), und damit reiût sie den Staat in immer neue Krisen«. (307) c. »Das unpersænliche Abstraktum ­Kapital¬ (¼) wåchst (¼) zu einem ungeheuren, alles verschlingenden Riesen an, arbeitet mit dem Eigentum unbekannter Besitzer fçr unbekannte Abnehmer rein nach der Kalkulation technischer Ergiebigkeit und gçnstiger Absatzmæglichkeit.« (»Arbeitsteilung«. »Ungeheure Steigerung des Erwerbssinnes«.) Ein »Wunderbau, der keine Risse bekommen darf« und doch »beståndig von Krisen bedroht«, ein »kolossaler, praktischer Materialismus«. (309) d. »Die moderne Welt ist eine schwere Religionskrisis«. Die Læsung ist »das Christentum in seiner doppelten Gestalt, in der Gestalt des kirchlichen Glaubens und in der freien Verbindung mit modernen Lebenselementen«. »Es ist keine andere Zukunftsentwicklung denkbar, als daû beide sich nebeneinander einrichten.« (329) Hier erhebt sich die letzte Frage an Troeltsch: Ist der Mensch wirklich der moderne Mensch? Hat er recht, wenn er die Fragen nach dem Menschen in dieser Weise zuspitzt? Schieûlich ist der moderne Mensch doch nur ein Akzidenz zum Menschen, und wenn wir vor Gott stehen, stehen wir als Menschen vor ihm ± nicht als moderne Menschen.

1.2 Troeltsch und die Theologie Man kann gegen Ernst Troeltsch mancherlei sagen. Man kann erstens sagen, daû seine groûen umfassenden Arbeiten letzten Endes alles nur Vorarbeiten geblieben sind, Materialaufarbeitung zu einem ± dann eben doch nicht zustande gekommenen ± Ganzen eines modernen christlichen Weltbildes. Wenn man sich den Grundriû seiner Glaubenslehre ansieht oder die Positionen aus seinen Schriften extrahiert, die zu den entscheidenden Fragen des christlichen Bekenntnisses Stellung nehmen ± also etwa: Wie ist seine Gotteslehre? Was denkt er von Jesus? Wie steht er zur Frage der Erwåhlung, des ewigen Lebens? Was denkt er çber die Sçnde? Was çber die Kirche? Ûber die Sakramente? ±, dann wird man vielleicht entsetzt sein, wie dçnn, wie wenig substantiell dies alles ist. Dieser riesige Berg von historischer, philosophischer und soziologischer Arbeit, der der eigentlichen theologischen Arbeit vorgelagert ist ± und dann dieses Ergebnis, das niemanden aufregt und wohl auch die Menschen, die vor dem ersten Welt-

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krieg lebten, nicht getroffen hat. Die Berge bewegen sich, aber es wird nur eine låcherliche Maus geboren. 8 Wenn man erst einmal so, wie Troeltsch, den Abgrund des Zweifels und der historischen Relativitåt aller Erscheinungen aufgedeckt und die Menschen schonungslos dahinein hat sehen lassen, dann kann man eben doch nicht in die lieblichen, aber etwas abgegrasten Gefilde des Liberalismus zurçckkehren und meinen, hier vergessen zu kænnen, was man eben an Gesichten und Erscheinungen an seinem geistigen Auge vorçberziehen lieû. Auch darin ist Troeltsch ein Sohn seiner Zeit gewesen, die es fertigbrachte, im Denken so radikal und in der Existenz ± in der politischen, bçrgerlichen, religiæsen Existenz ± so kompromiûfreudig und traditionell zu sein. Wie jemand, der das Haus ansteckt, aber dann doch hofft, mit der Feuerspritze sein eigenes Zimmer retten zu kænnen. Oder man kann zweitens gegen Troeltsch sagen, daû er der Gefahr der Geisteswissenschaften 9 erlegen ist. Vielleicht gerade darum, weil er, wie sein groûer Vorgånger in Berlin, Wilhelm Dilthey, von der Theologie herkommt. Gerade wenn man von der Theologie herkommt, geråt man leicht dahin, aus der Geistesgeschichte eine Art profaner Dogmengeschichte zu machen, wobei die Menschen, die einen bestimmten Gedanken gedacht haben, nur noch Gehirne sind, die in einer spezifischen Weise eine Mannigfaltigkeit von Ideen kombinieren und variieren. Der besondere Mensch und die besondere Zeit treten fçr Troeltsch zurçck, Menschen sind nur Funktionen, denkende Funktionen gewiû, aber alles Zufållige, Kontingente, Einmalige tritt dahinter zurçck, wird aufgezehrt. Die Geistesgeschichte der abendlåndischen Welt ± wie sie sich in den mannigfachen Untersuchungen bei Troeltsch, insbesondere çber die Aufklårung und das 19. Jahrhundert, darbietet ± gleicht einem Eisenbahnplan, bei dem alle Linien, Kreuzungen, Haupt- und Nebenstrecken çbersichtlich eingezeichnet sind ± aber man sieht keinen Zug wirklich fahren, und vor allem sieht man den denkenden, dies alles çberdenkenden Ernst Troeltsch in keinen Zug einsteigen. Es bleibt die Frage, die freilich an das ganze Gelehrtengeschlecht dieser Epoche zu richten wåre, ob diese Art von Geistesgeschichte nicht dem Schatten im Totenreiche åhnlich ist, ob hier nicht eine der Wurzeln liegt fçr den nun auch ethischen, auch auf die Frage von Gut und Bæse, von Recht und Unrecht çbergreifenden Relativismus, der diese ganze Generation dann so wehrlos machte, als sich allen ihren Erwartungen zum Trotz nun mitten aus dieser geistigen Welt ein sehr un8. 9.

»Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus.« Horaz, Ars poetica, Oden I, 19, 139. Von Iwand korrigiert: ursprçnglich stand Geistesgeschichte geschrieben.

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geistiger, barbarischer Typ erhob, der diesen Skeptizismus wie Spinnengewebe zerriû. 10 Man kann drittens gegen ihn einwenden, daû er zwar als Christ redet ± und eigentlich immer wieder, wo man auf die tiefsten Motive seines Denkens stæût, sich eben als solcher offenbart und auch bekennt ±, aber als ein Christ, der kirchlich heimatlos ist. Er will weder zur offiziellen, zur bekenntnismåûig gebundenen Kirche gehæren ± deren innere Zwiespåltigkeit ihn anwidert, weil sie einerseits mitten in der modernen Welt steht, ihre politischen, finanziellen, militårischen, vælkisch-nationalen Praktiken und Ideologien mitmacht und sanktioniert und daneben in zeitloser Gçltigkeit ein Dogma konserviert, das mit einem »noli me tangere« (»rçhre mich nicht an« Joh 20,17) umgeben ist und so den immer wieder unzerbeiûbaren und unbekæmmlichen Kern in der Verkçndigung und Pådagogik dieses Zwitterwesens der modernen Volks- und Staatskirche bildet. Aber so stark sein Herz fçr den Impuls schlågt, der durch die Sekten geht, so stark er in ihnen den eigentlich urchristlichen, eschatologischen, auf Weltverneinung und Brçderlichkeitsethik aufgebauten echten Geist des Christentums findet, so wenig hat er den Mut, nun seinerseits ins Konventikel zu gehen mit all seiner Enge, seiner Stagnation, seiner Stubenluft, wo das Fenster nach der Welt nicht aufgemacht wird und ein biblischer Supranaturalismus herrscht, der wie das Bild von Philemon und Baucis im letzten Akt des Faust wirkt. 11 Diese Hçtte paût nicht mehr in die moderne Landschaft und muû ± so bedauerlich das ist ± verschwinden. So steht Troeltsch, wie viele Menschen seiner Geistesart, seiner ethischen Tiefe und humanen Weite, zwischen den Zeiten. Er mæchte seine geistige, kulturelle, humane und auch glaubensmåûige Herkunft aus dem Christentum nicht missen, Jesus ist ihm der Prophet, der die »hæchste çber das ewige Schicksal entscheidende Wahrheit verkçndet« 12 . Aber die »absolute Religion hat auch er, und gerade er, dem Jenseits der Historie vorbehalten« (97). Denn das »Absolute in der Geschichte auf absolute Weise an einem einzelnen Punkt haben zu wollen, ist ein Wahn, der nicht bloû an seiner Un-

10. Von Iwand gestrichener Passus: Diese Art von Geistesgeschichte, wie sie uns bei Troeltsch begegnet, ist durch die inzwischen eingetretenen Ereignisse zur Revision gerufen (ursprçnglich, von Iwand korrigiert: »in der Wurzel getroffen«). 11. J. W. Goethe, Faust II, V. 11043-11142. 12. E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tçbingen 1902. Zitiert nach: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie, Tçbingen 1929, Mçnchen und Hamburg 1969, 97. Seitenangaben im Text.

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durchfçhrbarkeit scheitert, sondern auch an seinem eigenen inneren Widerspruch gegen das Wesen aller historischen Religiositåt« (96). So steht Troeltsch zwischen den Zeiten, hinter ihm die Kirche, die sich identisch sieht mit der einen Kirche, die in dem hereinbrechenden Gottesreich in der Erscheinung Jesu ihren Anfang nahm, und vor sich eine neue, von ihm immer wieder anvisierte Glaubensform 13 , die die Darstellung des modernen, durch Geschichtswissenschaft und religionsgeschichtliche Methode ernçchterten 14 , entmythologisierten Christentums sein wird. Er steht aber wirklich nur zwischen den Zeiten, zwischen einem von ihm immer wieder durchforschten Gestern und einem immer wieder angedeuteten, merkwçrdig schemenhaft konstruierten Morgen. Es gab einmal eine christliche Kirche, es gab einmal eine universale Geltung der christlichen Heilsidee, und es wird wieder einmal eine solche umspannende Geistkirche geben ± das etwa ist der Horizont jener »Gegenwart« 15 , in der Troeltsch ruhelos denkt, in der er die Manen der Geister von Gestern auf das hin vernimmt, was der Geist von Morgen sein wird. Am Schluû seiner umfassenden Untersuchung çber die »Soziallehren der kirchlichen Kirchen und Gruppen« hat Troeltsch niedergeschrieben, wie er sich das »Kirchentum« von morgen denkt. Es wird »ein Minimum von Kirche« 16 sein. Aber es wird vor allem ein undogmatisches, ein freies Christentum sein mçssen. »Es ist eine immer zunehmende Durchdringung der Lebensgehalte des Kirchentypus mit denen der Sekte und der Mystik, die uns die Geschichte des Protestantismus gezeigt hat. (¼) In der gegenseitigen Durchdringung der drei soziologischen Grundformen und ihrer Vereinigung zu einem all diese Motive versæhnenden Gebilde liegen seine [des Protestantismus!] Zukunftsaufgaben, Aufgaben soziologisch-organisatorischer Natur, die dringender sind als alle Aufgaben der Dogmatik. (¼) Es gibt keine ­protestantisch-kirchliche Dogmatik¬ mehr.« 17 Troeltsch meint auch, es kann sie nicht mehr geben, und es gibt sie nicht, weil es sie von der historischen Religion aus nicht geben darf 18 . »So wird auch Einigung und Zusammenhalt auf einem anderen Boden als dem der Dogmatik gesucht werden mçssen. Es wird nur mæglich sein unter der Voraussetzung, daû die von 13. Ursprçnglich, von Iwand durchgestrichen: angedeuteten Kirche. 14. Ursprçnglich, von Iwand durchgestrichen: die die Kirche des modernen, des durch Geschichtswissenschaft und historische Betrachtung ernçchterten. 15. Ursprçnglich, von Iwand durchgestrichen: ist die gestalt- und gehaltlose Mitte. 16. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 983. Der Ausdruck steht bei Troeltsch zwischen Anfçhrungszeichen, mit Verweis nach R. Rothe. 17. E. Troeltsch, ebd., 982. 18. Ursprçnglich, von Iwand durchgestrichen: kann.

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Zwang, Gewalt, Staatsreligion und Konformitåt geschaffenen Kirchen zu Gehåusen werden, in denen jetzt friedlich die verschiedenen christlichen Geister wohnen und wirken kænnen.« 19 Die ækumenische Gemeinschaft christlicher Freiheit ± das ist es eigentlich, das ist der kommende Tag, nach dem das Gesicht dieses Mannes Ausschau hålt, das unaufhærlich auf die Zukunft des Christentums in der modernen Welt gerichtet ist.

1.2.1 Die Frage der Bildung

Alles das kann man also einwenden und geltend machen, vielleicht auch die Tatsache, daû Troeltsch ± etwa im Unterschied zu Adolf von Harnack und Karl Holl, vor allem aber auch im Unterschied zu seinem groûen Vorlåufer im neunzehnten Jahrhundert Ferdinand Christian Baur ± im wesentlichen aus Quellen zweiter Hand schæpft und so die Zeugnisse der Vergangenheit immer schon in einer gewissen Ûbermalung zu Gesicht bekommt. Aber eins wird man fçr ihn geltend machen dçrfen: daû er ein gebildeter Mann war. Bildung meine ich hier nicht im Sinne einer Ansammlung von Wissensstoff, sondern als Ringen um einen Charakter im gleichzeitigen Offenstehen fçr die Mannigfaltigkeit der geistigen Welt verstanden. Es geht eben doch durch das Ganze seines Forschens dieses Ringen, dieser Kampf um das Christsein in der und gegen die moderne Welt. Troeltsch will sein Christentum nicht billiger haben, als es fçr einen Menschen dieser historisch-såkularen Epoche nun einmal zu haben ist. Er will die Tçren nicht mit hæherer Autoritåt zuschlagen, wenn Fragen von drauûen sich melden, aus der Religionsgeschichte, aus der Soziologie, aus dem Deismus und der Aufklårung, die die Offenbarung antasten. Er will alle diese Stimmen mit einbeziehen in das groûe und im letzten Grunde eben doch hoffnungsvolle Suchen und Fragen nach Gott als der letzten Wahrheit ± von dem er die ganze Moderne bewegt sieht. Er ist nicht ein gebildeter Mensch auf das Wissen gesehen, sondern mehr: auf das Offensein, auf das Fragen, auf das Bereitsein gesehen, alte und obsolet gewordene Positionen zu verlassen und den universalen Bezug der christlichen Wahrheit ernst zu nehmen. Etwas vom Persænlichsten, was er geschrieben hat, ist die Einleitung zum dritten Band seiner »Gesammelten Schriften«, der wohl seine bedeutendste Leistung ist und die Probleme der Geschichtswissenschaft behandelt und analysiert. Noch einmal reckt er sich gewaltig auf, seine Zeit davon zurçckzureiûen, in die Geschichtslosigkeit und das heiût eben, in die Barbarei und Bildungslosigkeit sozusagen mit klingendem Spiel hineinE. Troeltsch, ebd., 982 f.

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zumarschieren. »Die Vernichtung der historischen Bildung und des historischen Wissens selbst wåre nur zu begreifen als Entschluû zur Barbarei und nur durchfçhrbar bei der Rçckkehr zur Barbarei auch auf allen anderen Lebensgebieten. So etwas kann man aber çberhaupt gar nicht einfach wollen und sich vornehmen (¼). Die Barbarisierung, die heute fçr viele als drohendes Gespenst oder als lockende Erlæsung umgeht, ist, wo sie eintritt, Folge allgemeiner Weltumwålzungen, nicht Entschluû einer in der Bçchermasse erstickenden Jugend.« 20 Troeltsch sieht hinter der scheinbaren Erlæsung zu Kraft und Frische, die die Jugendbewegung vor und nach dem ersten Kriege widerzuspiegeln scheint, das »Ende çberalterter Kulturen«. Er verspricht sich nichts davon, daû wir das Wissen abwerfen, um frei zu sein zum Glauben, zu geistiger Entscheidung ± er ist weder Barthianer noch Georgiast 21 ± aber dann folgt wieder das matte, resignierte: »Wir mçssen schon unser Bçndel weiter tragen« (4). Die Wissenschaft, so meinte er, sei »in der Hauptsache (¼) gesund«, freilich das »ganze Lebensgefçhl« mache eine Umwålzung, einen »Drang zum Vollen und Ganzen durch, der uns (¼) unentbehrlich ist« (7). Aber das habe nichts zu tun mit der Methode der Forschung. Hier ± in der Methode ± verteidigt er sein Bildungsideal. »Der Ernst und die Sachlichkeit, die Grçndlichkeit und Ehrlichkeit der deutschen Wissenschaft wird dauernd einer der Pfeiler unserer geistigen Weltstellung und ein Ausdruck unserer Art sein« (7). Wenn Troeltsch den zweiten, nun erst ganz in die Tiefe »unserer Art« gehenden Stoû noch erlebt håtte, dann håtte er diesen Satz nicht mehr geschrieben. Damals ± 1922 ± waren seine Augen noch gehalten, und doch ± er hat jene Katastrophe kommen sehen, die uns zur geschichtslosen, zur rein ideologischen, zur lediglich doktrinåren Existenz verdammen wird. Er hat das Mephistophelische an dem Satz: »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft« 22 , so klar und versucherisch herausgehært wie nur wenige, welche damals den ersten groûen Riû innerhalb der europåischen Solidaritåt erlebten. Darum untersucht er das »Problem des sogenannten Historismus«. Er meint, daû hier die Bildung als solche geschlagen wird. Er bezieht diese Position, um hier den Feind zu erwarten und zu bestehen. Es geht ihm um die Klarstellung der »Vorteile und Nachteile«, die sich aus der grundsåtzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens fçr die Bildung eines persænlichen geistigen Lebens ergeben. Also um diese Bildung 20. E. Troeltsch, Das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie, in: E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Bd. I. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften Bd. 3, Tçbingen 1922, 4; Seitenangaben im Text. 21. Mitglied des Kreises um Stefan George (1868-1933). 22. J. W. Goethe, Faust I, V. 1851.

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geht es, um das, was die Romantik, die Entdeckerin der Geschichte und die Feindin der Abstraktion, das Individuelle, den Reichtum des Mannigfaltigen mit der verborgenen Mitte des Lebens genannt hatte. Bildung ist fçr Troeltsch Mæglichkeit. Mæglichkeit des Verstehens und Sich-Versetzens in andere geistige und seelische Bildungen. Er kåmpft um die Geschichte als den unerschæpflichen Quellort originaler Bildungen ± er sieht die Nacht, die Wçste, die Bildungslosigkeit aufsteigen aus den dunklen Abgrçnden des Krieges und der Revolution ± und er ruft das Christentum zu Hilfe gegen die Barbarei. Es geht ihm also ± darin ist er Schleiermachers Jçnger ± um Kulturtheologie, um die Einheit von Glauben und Bildung, um Vernunft und Offenbarung ± gerade um dieses Und ± um das Christentum als die fçr uns Abendlånder, fçr unser Ethos und unsere Metaphysik grundlegende Weltanschauung. Ehe wir aber davon sprechen, welche Hemmungen Troeltsch hier sieht ± und welche Reformen des christlichen Denkens er fçr unvermeidlich hålt, mçssen wir uns selbst einen Augenblick darauf besinnen, was Bildung im Zusammenhange des Christentums bedeutet. Troeltsch wird recht haben, wenn er unermçdlich darum ringt, den Bildungshorizont so weit wie mæglich zu fassen. Er wird auch darin recht haben, daû Glaubensçberzeugung nicht auf Nicht-Wissen oder Nicht-zu-Ende-Denken ruhen darf. Das wåre ein schwankender Boden. »Nur die oberflåchlich getriebene Wissenschaft entfernt von Gott, und nur die oberflåchlich çberschaute Geschichte glaubt die Religion in den Widersprçchen ihrer verschiedenen Absolutheiten zerreiben zu mçssen«, kann er sagen. 23 Das ist sein Glaube, den er mit den Idealisten teilt. Und doch ± wir sollten nicht vergessen, daû sich hier eine groûe Zuversicht ausspricht, die vor dem Geist der Bibel eher Gnade finden dçrfte als ihr Gegenteil. Denn die Weisheit gehært doch eben zu Gott, gehært an den Anfang, ist etwas Ursprçngliches und nur als solches uns Erneuerndes und Erleuchtendes. Troeltsch redet vom Weltlogos wie die frçhen christlichen Apologeten. Er sieht im Christentum die Beståtigung, daû die Welt eine geistige Realitåt ist. Aber er sieht das Bildungsproblem aber als den idealistischen Gegensatz zwischen Geist und Natur. Dazu ist er der Weggenosse Rickerts und der Neukantianer. Wenn wir auch diesen Ansatz nicht mitmachen werden ± hært damit das Wort Bildung auf, fçr uns verpflichtend zu sein? Warum wird denn jene Wirklichkeit, aus der wir durch Gottes Gnade herausgenommen sind, Finsternis genannt? Warum nennt sich Christus selbst das Licht der Welt (Joh 23. E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie, 127.

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8,12)? Was heiût denn Erleuchtung? Wenn nicht eben dies, daû uns die Wahrheit zugånglich geworden ist, daû wir mit »erleuchteten« Augen (Eph 1,18) in Gottes Wahrheit hineinschauen dçrfen? In der alten ordo salutis (Heilsordnung) folgte auf die vocatio (Berufung) die illuminatio (Erleuchtung) ± wissend um Gottes Úkonomie, wissend aber auch um des Menschen Elend und Grenze ± soll die conversio (Bekehrung) erfolgen. Nur so ist sie meine, mich in meiner ignorantia (Unwissenheit) treffende und daraus befreiende »Bekehrung«. Troeltsch bringt meine bzw. unsere todbegrenzte und todbestimmte Menschengeschichte und Gottes eigene, mitten unter uns spielende, aber eben doch zu Tod und Leben anders stehende Geschichte auf einen Nenner. Das ist sein Geschichtsmonismus. Das ist die Unkråftigkeit seiner so oft von ihm zitierten Eschatologie. Darum ist ihm die Existenz des Menschen als eines geschichtlichen Wesens eben doch eine solche »zwischen den Zeiten«, eine solche, die lediglich im Kontrast von Entwicklungen, von zeitgeschichtlichen Perioden gesehen ist. Das Ewige ist ± seiner Meinung nach ± jeder Zeit gleich nahe und gleich fern. Es ist das Rankesche Theorem, daû jede Zeit »unmittelbar zu Gott« ist. 24 Darum ist ihm Religion eigentlich nicht selbst ein Faktor der Bildung. Darum sieht er auch nicht, daû aller Weisheit Anfang die Furcht Gottes ist (Sprçche 1,7). Er trennt eben Dogmatik und Ethik. Er weiû nicht, daû Dogmatik, recht betrieben, Ethik ist. Er wçrde sich entsetzt haben, wenn man Dogmatik als vornehmliches Gebiet der Bildung (eben jener illuminatio, jener echten »Aufklårung«) bezeichnet håtte ± wie verkçmmert und unentwickelt ist bei Troeltsch selbst dieses Gebiet. Das dogmatische Christentum ist fçr ihn geradezu das Stichwort fçr alles bildungsfeindliche, unkritische Denken. Er kann sich keine Vermittlung denken zwischen der dogmatischen und der religionsgeschichtlichen Methode. Sollte es das geben, sollte wirklich das Dogma noch einmal in den Umkreis dessen rçcken, was Bildung heiût, dann wçrde zwar das System des Neuprotestantismus in seinen Fundamenten erschçttert sein ± aber vielleicht wçrde es erst dann und erst so in seiner letzten und eigentlichen Frage, in seiner tiefsten Bewegtheit verstanden und positiv aufgenommen sein. Fçr Troeltsch ist das Dogma nicht nur geschichtslos, sondern sogar geschichtsfeindlich. Wie, wenn das Dogma auf Gottes Geschichte mit uns zurçckverwiese ± auf das So-und-nicht-anders, auf das Ein-fçr-allemal, auf das Endgçltige dieser Geschichte ± und Religion und Geist und Gedanke wåren der Inbegriff unserer Geschichte mit Gott? Denn Religion und

24. Vgl. oben S. 51, Anm. 50.

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Geist und Gedanke kænnten ja das Zeichen dessen sein, daû das Gegençber zu Gott in dieser Geschichte Mensch heiût, daû dieser Mensch aus seiner Religion und seinem Geist kein Dogma aufrichten sollte ± kein Dogma gegen Gott; daû hier alles Frage, Irrtum, auch Irrtum mitten im Wissen, Frage mitten in Behauptungen ist und bleiben muû, daû das Beste an unserer Bildung die Bewegtheit, das Nicht-Stillstehen, das Weiter-Fragen und Weiter-Suchen ist, wåhrend nun in der Tat das Dogma antworten sollte, und so umfassend, so tief und so lebendig, daû es immer noch weiter reichte als unsere Fragen und wir uns mit allen unseren Zweifeln immer wieder aufgefangen und getragen wçûten von der Tiefe des Reichtums und Erbarmens Gottes. Weil Troeltsch das Dogma ablehnt, weil er ein protestantisches dogmatisches Christentum fçr ein hælzernes Schçreisen erklårt ± darum bleibt sein Bildungsideal an der Grenze der Theologie stehen. Er hat aber an diese Tçr gepocht, und gerade indem er dem Dogma den Bildungswert absprach, hat er die tiefste Not und die entscheidende Wende dieser Not fixiert: Es gilt nicht nur einen halben, es gilt einen ganzen Schritt nach vorn zu tun, es gilt zu fragen, ob nicht auch das Grundschema des neuprotestantischen Verståndnisses von Gott und Mensch, von Freiheit und Gesetz, von Natur und Geist eine Wandlung durchmachen mçûte, wenn anders wir wieder die Botschaft von Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, vernehmen sollen. Denn alles, was wir Dogma nennen, dogmatisches Christentum, dogmatisches Denken, hångt unzertrennlich damit zusammen, daû uns Jesus Christus als der Gekreuzigte und Auferstandene verkçndigt wird und daû wir hinter diesen gepredigten Christus auf einen bloû historischen Jesus nicht zurçckgehen kænnen, ohne aus dem Christus Gottes einen Christus der Menschen zu machen. Man kann auch des Menschen Sohn mit einem Kuû verraten (Lk 22,48)!

1.2.2 Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte

Damit sind wir nun aber unmittelbar an dem Zentralproblem angelangt, das Troeltsch sich und uns gestellt sieht: die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Der Vortrag trågt den Untertitel: »Gehalten auf der Versammlung der Freunde der christlichen Welt zu Mçhlacker am 3. Oktober 1901«. Nicht nur das Jahr 1901 ist interessant ± im selben Jahre erscheinen Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung 25 25. Iwand meint hier A. Schweitzer, Das Abendmahl im Zusammenhang mit dem Leben Jesu und der Geschichte des Urchristentums, Heft 1 und 2, Tçbingen und Leipzig 1901. Der Titel des zweiten Heftes lautet: Das Messianitåts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu.

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und William Wredes »Messiasgeheimnis« 26 , beides unçberhærbare Signale! ±, interessant ist nicht minder der Kreis, in dem der Vortrag gehalten ist: die Freunde der Christlichen Welt! Im Vorwort steht ein Zitat aus Kants Schriften: »Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, daû kritische Kenntnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundveste ausmacht, auf die sie durch alle Zeitalter und in allen Vælkern erbaut sein muû, so schleppt der, welcher im Griechischen, Hebråischen, Syrischen, Arabischen usw., ingleichen in den Archiven des Altertums am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mægen so sauer sehen als sie wollen, als Kinder wohin er will; sie dçrfen nicht muchsen, denn sie kænnen in dem, was nach ihrem eigenen Geståndnisse die Beweiskraft bei sich fçhrt, sich mit ihm nicht messen, und sehen schçchtern einen Michaelis ihren vieljåhrigen Schatz umschmelzen und mit ganz anderem Gepråge versehen.« 27 Eben das meint Troeltsch hier zu vollziehen: einen Umschmelzungsprozeû, der zwar die alten Substanzen hineinnimmt, aber ihnen doch ein ganz neues, ein von der Geschichte und ihren Gesetzen her gewonnenes Gepråge gibt. Troeltsch sieht unsere geistige Welt als durch drei relativ selbståndige Epochen geformt an: die Weltkultur der Antike, die Kultur der katholischen Kirche und drittens die im 18. Jahrhundert erstehende moderne Welt, deren Geburtstag die Aufklårung ist. »Einer der wichtigsten Grundzçge dieser neueren Welt ist die Ausbildung einer restlos historischen Anschauung aller menschlichen Dinge. Die moderne Historie ist ein Prinzip der Gesamtanschauung alles Menschlichen.« Sie ist der »Zentralherd der Bildung aller Weltanschauung« (29). Anders als die pragmatische, als Geschichte einzelner Staaten aufgefaûte antike Historie, anders auch als die katholisch-kirchliche Geschichtsschreibung, die mit dogmatisch festgelegten Maûståben arbeitet und die christlich-katholische Kultur als Ziel und Gipfel aller Menschheitsentfaltung ansieht, ist die moderne Historie aufgebaut auf »kritische Quellenanalyse und psychologische Analogieschlçsse«, sie læst alle Dogmen auf in den »Fluû des Geschehens« und miût »alle Erscheinungen zunåchst an ihrem eigenen Maûe«, um sie dann in einem Gesamtbilde zu vereinigen. Dieses freilich immer im Fluû befindliche, aber doch in seiner Intention gegebene Ge26. W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verståndnis des Markusevangeliums, Gættingen 1901. 27. Zitiert wird nach der Neuausgabe: E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie, 23. Seitenangaben im Text. Es handelt sich um ein Zitat aus einem Brief Kants an J. G. Hamann, in: I. Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 10, 1900, 153. J. D. Michaelis (1717-1791) war Gættinger Orientalist und Wegbereiter einer kritischen Bibelerklårung

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samtbild ist die »Voraussetzung aller Urteile çber Normen und Ideale der Menschheit«. »Deshalb ist die Historie nicht mehr bloû eine Seite der Betrachtung der Dinge oder eine partielle Befriedigung des Wissenstriebes, sondern die Grundlage alles Denkens çber Werte und Normen, das Mittel der Selbstbesinnung der Gattung çber ihr Wesen, ihre Ursprçnge und ihre Hoffnungen«. Von hier aus ist die Voraussetzung gefallen, die die kirchliche Geschichtsschreibung gemacht hat: die Kirche als ein »çbernatçrliches Institut (¼), das in der Geschichte steht, aber nicht aus der Geschichte stammt« (31). Die moderne Historie hat nicht nur die Scheidewand zwischen christlichen und auûerchristlichen Wundern niedergerissen, sondern auch die zwischen åuûeren und inneren Wundern abgetragen; »es gibt kein Mittel, die Erhebung der Christen çber die Sinnlichkeit als çbernatçrlich und die Platons oder Epiktets als natçrlich zu konstruieren« (32). Aber auch der Weg, den nun die christliche Apologetik einschlug, um die Absolutheit des Christentums zu retten, erweist sich als nicht haltbar. Diese neue Methode geht nach der Meinung von Troeltsch so vor, daû sie das Ergebnis der modernen Universalgeschichte vorwegnimmt: die Menschheitsgeschichte wird als »ein Ganzes« betrachtet, »innerhalb dessen das Ideal religiæser Wahrheit sich stufenweise durchsetzt«. Das Christentum ist das Ende und Ziel dieses Prozesses, »der realisierte Begriff der Religion«. »Es gibt (¼) nur eine Religion.« Dieser Begriff und dieses Wesen der wahren Religion ist in allen geschichtlichen Religionen latent. »Im Christentum aber ist dieses in anderen Religionen latente und durch Vermittlungen gebundene Wesen frei vollendet und erschæpfend« (33) hervorgebracht.

1.2.3 Das Christentum als die Religion des abendlåndischen Menschen

»Ist das Christentum identisch mit dem çberall eingeschlossenen Begriff der Religion (¼), dann ist es selbstverståndlich die normative religiæse Wahrheit.« So ist die alte Apologetik, die »wider die Historie war, ersetzt durch eine neue, die mit der Historie ist« (33). Der ganze historisch erfaûte und eben nun als Einheit erfaûte Entwicklungsprozeû der Menschheit involviert als seine ureigenste Idee das Christentum. War bei der alten kirchlichen Methode der Gegensatz menschlich und gættlich, irdisch und supranatural maûgebend, so ist es nun der Zusammenhang von menschlich und gættlich, der bei diesen Entwicklungsgedanken der Menschheitsgeschichte fundamental ist: jedes menschliche Ereignis hat seine çber den Menschen hinaus, auf die Idee hin verweisende theologische Seite. Die Methode ist ausgewechselt, aber der Grundgedanke von der Absolutheit des Christen-

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tums ist noch einmal gerettet. Troeltsch nennt dies ± besonders die zweite Form ± die »Anspruchstheologie« (41): das Christentum erhebe nun einmal den »Anspruch« auf Alleinwahrheit und insofern mçsse man diesen Anspruch zu seinem Wesen rechnen. Aber Troeltsch fragt mit Recht, warum man sich denn um die Ansprçche der anderen Religionen von dieser »Anspruchstheologie« her keine Sorgen mache. Er ist der Meinung, daû die Absolutheit des Christentums vom Standpunkt der modernen Geschichtsforschung (die fçr ihn ja eine Weltanschauung impliziert) nicht zu halten ist, daû aber ± und dies ist das Ûberraschende und der eigentliche Zweck dieses Vortrages ± die »normative Geltung« des Christentums fçr uns dennoch erhalten bleibt, denn sie sei etwas anderes als »çbernatçrliche Geoffenbartheit« und »absolute Vollendung des Begriffs«. Mit anderen Worten: Nur solange man meine, mit der Absolutheit des Christentums falle auch die normative Geltung seiner religiæsen und sittlichen Werte dahin, wird man sich gegen den »Historismus« stråuben. In Wahrheit fallen nur die Begriffe der çbernatçrlichen Geoffenbartheit und der absoluten Vollendung, aber die normative Geltung des Christentums als religiæser Erscheinung bleibt. Sie bleibt nicht nur, sie wird neu fundiert. Troeltsch stellt also die Frage, ob wir entschlossen sind, auf die Absolutheit des Christentums als Offenbarung zu verzichten und dennoch ± Christen zu bleiben. Wir mçssen wissen, was das beides in sich schlieût. Was versteht er unter dem, wie er meint, notwendig gewordenen Verzicht auf den Absolutheitsanspruch des Christentums? Er versteht darunter die Tatsache, daû wir mit der Mæglichkeit einer hæheren Religion rechnen mçssen. Denn die çbliche Trennung von Wesen und Erscheinung låût sich gegençber der historischen Wissenschaft nicht aufrechterhalten. Man kann nicht zeigen, wo die Grenze zwischen geschichtlich bedingten Lebensformen und einem unbedingten Offenbarungsinhalt låuft. »Historisch und relativ ist identisch« (65). Man wird also nicht sagen kænnen, daû man Kern und Schale, Gemeintes und Ausdrucksformen von einander abheben kænne. Beides geht ineinander çber. Aber jede geschichtliche Erscheinung ist auf ein Unbedingtes bezogen. »Die Geschichte schlieût die Normen nicht aus, sondern ihr wesentlichstes Werk ist gerade die Hervorbringung der Normen.« Geschichte ist eine »Mischung« von Relativismus und Absolutem, »das Herauswachsen von Richtungen auf absolute Ziele aus dem Relativen«. Es vollziehen sich immer wieder »neue schæpferische Synthesen«, durch die dem »Absoluten die im Moment mægliche Gestalt« (69) gegeben wird. Und doch bleibt immer die Grenze zwischen dem Absoluten selbst und seiner jeweiligen geschichtlichen Realisierung sichtbar. Das gilt eben auch von Jesus. Wenn es heiût, daû »es nur die hæchste, letzte, blei-

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bende Wahrheit ist, die Jesus bringt, und die von ihm aus die die ganze Seele ergreifende Macht empfångt«, dann wird das »nur« in diesem Satz sofort verståndlich, weil es unmittelbar darauf heiût: aber die absolute Wahrheit hat auch er, gerade er dem Jenseits der Historie vorbehalten. Auch das kænnte noch angehen ± dann aber folgt ein Satz, der auf einmal blitzlichtartig erhellt, daû man schon eine bestimmte Retusche der Verkçndigung vornehmen muû, um dies alles sagen zu kænnen: »auch die Bindung [der Zukunft] an seine Person hat wiederum gerade er nur in der Gestalt der Glaubenszuversicht ausgesprochen, daû Wille und Verheiûung des Vaters in seiner Verkçndigung ihre ganze Tiefe offenbaren.« Das bedeutet doch wohl, daû »nicht der Sohn, sondern allein der Vater« ins Evangelium gehært, daû also ± wie man das damals bereits in Harnacks »Das Wesen des Christentums« lesen konnte 28 ± das Evangelium Jesu durch die Gemeinde zu einem Evangelium von Jesus geworden ist. Gott ist das Ûberweltliche ± und Jesus ist nur sein, wenn auch bisher unçberbotener, wenn auch fçr uns letztgçltiger, aber doch nach seiner geschichtlichen Stellung irdisch-menschlich bedingter »Prophet«. Das sagt Troeltsch zwar nicht, aber das ist das unvermeidliche Resultat, das der Historismus uns modernen Menschen aufnætigt. Mehr behalten wir nicht ± aber das ist noch immer genug fçr den nach Gott fragenden, ihn suchenden und durch die Vermittlung Jesu seiner gewiû werdenden Menschen. Jedes Mehr wåre ein Weniger. Wenn Jesus in der Bibel als die einzige und endgçltige Offenbarung erscheint, so ist das bereits Apologetik der »åltesten Gemeinde«. Sie hat »alle anderen Lichter ausgelæscht, um das Licht Jesu allein leuchten zu lassen, und hat die vollendete Erlæsung der Zukunft hineinverlegt in seine Todesleiden, um so alles schlechthin zu binden an den Glauben an Jesus« (97). Gerade das also, was uns jede Zeile des Neuen Testaments so schwer lesbar macht, gerade dies Nadelæhr, durch das kein Kamel hindurchkommt (Mk 11,25) ± hier wird es entfernt. Jesus ist nicht der Sohn 29 , ist nicht der Weg (Joh 14,6), ist nicht das Licht (Joh 8,12), sondern ist ein Sohn, ein Weg, ein Licht, freilich ein sehr helles, ein fçr uns unersetzliches, wir kænnen uns kein besseres, schæneres, erleuchtenderes denken ± wir wåhlen ihn, nicht er uns. Denn daû das Wort, das ewige Wort Fleisch wçrde (Joh 1,14), das wåre ja die Aufhebung gerade dessen, was diesen modernen Historismus ermæglicht: daû wir in der Geschichte çberall dem Menschen, uns selbst, Spielarten, Mæglichkeiten, existentiellen Entfaltungsweisen unser selbst ± 28. A. Harnack, Das Wesen des Christentums, 86. 29. Handschriftliche Randnotiz Iwands: Herr!

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aber niemals und nirgends Gott begegnen und daû wir in der Hinsicht ganz sicher sind. Die Geschichte bleibt das verlorene Paradies ± mit dem Unterschied, daû nur der Mensch, aber nicht Gott sich hier bewegen darf, daû wir ganz sicher sind, nirgends auf Gott selbst zu stoûen. Freilich bleibt alles gott-bezogen, freilich ist alles ± gerade in den lebendigsten Brennpunkten von Geschichte ± nach oben lodernde Flamme, und Jesus ist ein besonders helles Feuer, das immer noch wårmt und immer noch unseren Weg erleuchtet, aber das »Absolute« bleibt auch hier, gerade hier jenseitig. Setzen wir einmal fçr das »Absolute« Gott ein ± denn das ist doch wohl gemeint ±, Gott in seinem So-und-nicht-anders, Gott als der »erste« und der »letzte« (Jes 44,6), so heiût das doch: Auch bei Jesus dçrfen wir nicht sagen: hier und heute, sondern wir mçûten ± wenn wir ihn recht verstçnden ± sagen: hier noch nicht, heute noch nicht. Solange die Erde steht, darf es nicht heiûen: hier und jetzt. So lange muû Gott der ganz Andere, der Unbegriffene und Unbegreifliche sein. Und was ergibt das nun fçr ein Christentum? Auch darçber låût uns Troeltsch nicht im unklaren. Zunåchst ± was ist denn die Gewiûheit dieses Christentums? Sie ist etwas sehr Bescheidenes: Es gençgt, zu wissen, daû wir eine hæhere Offenbarung »sonst nirgends« finden kænnen. Freilich ± denkbar ist ein Darçberhinaus, aber es ist nicht wahrscheinlich. Und im Vergleich zu allem sonst in der Geschichte Gegebenen ist doch das Christentum das Hæchste. »Das Christentum bleibt die groûe Offenbarung Gottes (¼), auch wenn die anderen Religionen mit aller çber Erde, Leid und Schuld erhebenden Kraft, die sie besitzen, gleichfalls Offenbarungen Gottes sind« (99). Es wird darum auch »Boden und Voraussetzung jeder kråftigen und klaren Religiositåt der Zukunft« (102) sein. »Der Fromme bedarf des Absoluten, des Hereinragens [einer Welt] unendlicher Kråfte und letzter Werte, und das heiût nichts anderes, als er bedarf Gottes. Nur in Gott, der Quelle alles geschichtlichen Lebens, und nicht in einer einzelnen geschichtlichen Erscheinung hat er das Absolute« (96). Die auf Jesus bezogene Religion aber ist unter den groûen Religionen die stårkste und gesammeltste Offenbarung der personalistischen Religiositåt. Das Christentum nimmt durchaus eine »einzigartige Stellung ein«, und nun kommt eine Bestimmung dessen, die so rund, so vollkommen, so durchsichtig und so total ist, daû man sie geradezu als den Spiegel des christlichen Selbstverståndnisses ansehen kann, wie es um die Jahrhundertwende war ± und wie es heute noch und heute wieder da ist. Da heiût es also: »Es nimmt eine durchaus einzigartige Stellung ein, indem es allein den çberall empfundenen Bruch der hæheren und der niederen Welt radikal vollzogen hat, die dingliche, tatsåchlich gegebene und mitgebrachte

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Wirklichkeit durch eine aus Tat und innerer Notwendigkeit stammende hæhere Welt çberbaut, verwandelt und schlieûlich aufhebt und zu diesem Werk befåhigt durch die erlæsende Verbindung der in Welt und Schuld verstrickten Seelen mit der entgegenkommenden ergreifenden Liebe Gottes. Es ist der einzige vollkommene Bruch mit den Grenzen und Bedingungen der Naturreligion und die Darbietung der hæheren Welt als unendlich wertvollen, alles andere erst bedingenden und gestaltenden persænlichen Lebens. Es verneint die Welt, aber nur sofern der oberflåchliche natçrliche Sinn an ihr haftet und als das Bæse in ihr måchtig geworden ist. Es bejaht die Welt, sofern sie von Gott ist und von den Frommen als aus Gott stammend und zu Gott fçhrend empfunden wird. Und Verneinung und Bejahung zusammen bringen die wahre hæhere Welt hervor in einer Kraft und Selbståndigkeit, wie sie nirgends sonst erlebt wird« (88). Das ist die Enthçllung der letzten Positionen, die Troeltsch (und seine Zeit) bewegen. Das so verstandene Christentum ist die Religion, die das Abendland, der moderne Mensch, die in allen Fugen auseinandergehende moderne Kultur braucht. Sie ist Bejahung des Idealismus, »Ûberbau« ± das Wort, das so gut katholisch ist, und das Stichwort, worauf der Marxismus ja nur wartet. O wie recht haben doch beide ± der eine, der darauf wartet, daû diese moderne Welt nach Rom, der andere, daû sie nach Moskau sich wende. Das Christentum die rechte Mischung von Weltverneinung (sofern es sich um das materialistische Weltverståndnis handelt) und Weltbejahung (sofern es sich um den Idealismus, um das Dennoch einer personalistischen Religion, um das geistige Zentrum handelt). Das ist Troeltsch. Er macht vor der letzten Stufe halt. Er geht ganz nahe in der Kritik an den Abgrund, er kritisiert alles, was sich nur denken låût, er macht ganz Ernst mit der Relativitåt des Christentums ± aber nur, um seine Religion, um die Religion des abendlåndischen Menschen zu retten.

1.2.4 Die Kritik Karl Heims

Troeltsch hat mit seinem Vortrage die Theologie seiner Epoche an ihrem schwåchsten Punkte offenbart. Diese Epoche macht etwas Merkwçrdiges: Sie wendet Methoden eines von Hause aus gott-losen Weltbildes (nåmlich des modernen) auf die Zeugnisse der Offenbarung des lebendigen Gottes an, sie nimmt also bereits methodisch in die Voraussetzung das Ergebnis hinein: daû es unmæglich ist, hier ± also innerhalb dessen, was wir Geschichte nennen ± Gott selbst zu sehen, zu hæren, zu finden! Sie verlegt dann die Frage aus der Entscheidung des Glaubens in die einer Wertung. Bei Abschåtzung unserer Bedçrfnisse und des vorliegenden Angebots zeigt sich, daû das Christentum die geeignetste und tiefste Religion ist.

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Das gençgt. Gençgt das wirklich? Ludwig Ihmels, ein Leipziger Dogmatiker, hat gesagt: es sei nicht die Frage, ob »Supranaturalismus oder religionswissenschaftlicher Ausgangspunkt, sondern: Entsteht die religiæse Gewiûheit auf dem Wege religiæsen Erlebens oder wissenschaftlicher Untersuchung?« 30 Gibt es eine in sich selbst ruhende, unmittelbare religiæse Gewiûheit um das Christentum oder nicht? ± Und der junge Karl Heim formuliert glånzend: »Wie verhålt sich die Tatsache der Relativitåt aller [religiæsen] Erscheinungen zu der anderen Tatsache, daû wir wollen mçssen? Wie verhålt sich der Verhåltnischarakter der Wirklichkeit zur Notwendigkeit der absoluten Stellungnahme? In dieser Verallgemeinerung verliert die Frage den Zauber (¼), den ihr Troeltsch in der Einleitung seines Vortrages zu verleihen sucht« (292). Dieser moderne Streit çber die Absolutheit des Christentums »ist ein altes Stçck, das hier in neuer Ausstattung und Kostçmierung wieder einmal çber die Bçhne geht. Als Zeno sein Buch çber Bewegung, Vielheit und Empfindung auf den Panathenåen vorlas, da ging dieses Stçck wie eine attische Komædie voll Witz und diabolischer Sophistik zum ersten Mal çber die Bretter. Kant fçhrte es in seinem Abschnitt çber die Antinomien zum zweiten Mal auf, aber mit einer so chinesischen Feierlichkeit, daû das 19. Jahrhundert gar nicht [einmal] merkte, was fçr ein Mordanschlag gegen seinen ­gesunden Menschenverstand¬ und seinen ganzen Wissenschaftsbetrieb in diesen scholastischen Såtzen gemacht wird. (¼) Und nun geht es als Grenzstreit zwischen Dogmatikern und Religionshistorikern zum drittenmal in Szene. Bei uns Kindern eines spåten Zeitalters, die dieses Stçck schon æfter gesehen haben, ­zieht¬ es nicht mehr so, wie es bei seiner ersten Auffçhrung (¼) zog. Wir haben (¼) fçr derartige Schauspiele (¼) des Geistes den naiven Kinderblick verloren und haben gelernt, sie mit dem Blick des Naturforschers zu betrachten. Uns interessiert das Gesetz, nach dem sie sich vollziehen. (¼) Jedesmal fçhrt die Antinomie zwischen der Relativitåt aller Verhåltnisse und dem Bedçrfnis nach Absolutheit zu einem hoffnungslosen Todesringen zwischen zwei gleich starken Gegnern, die zwei Hirschen gleichen, die sich mit ihren Geweihen ineinander verfangen haben. Und jedesmal erscheint im hoffnungslosesten Augenblick durch irgendeine Hintertçr ein deus ex machina, der alles zum guten Ende fçhrt. Bei Zeno ist es das eleatische Sein, das von seinem gættlichen Sitze aus zuschaut (¼). Bei Kant ist es der Gegensatz zwischen der empirischen und der intelligiblen Welt, der als rettender Engel alles wieder in Harmonie auflæst. Bei den heutigen Theologen ist es das ­Werturteil¬ des religiæsen 30. Wiedergabe nach K. Heim, Das Weltbild der Zukunft, 292. Seitenangaben im Text.

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Subjekts oder das religiæse Erleben in den Tiefen der Menschenseele, das rechtzeitig mit Ûbermacht aus dem Hinterhalt hervorbricht, um dem Streit ein Ende zu machen. Jedesmal bringt also die Intervention einer dritten Instanz, an die man gar nicht gedacht hatte, die beiden unglçcklich Verliebten, an deren Vereinigung nach den vier ersten Akten kein Mensch mehr denken konnte, im fçnften Akt doch noch zusammen. Ob diese Læsung (¼) aus metaphysischen Wolken herabfållt oder aus den Tiefen der menschlichen Innerlichkeit wie aus einem Wunderbrunnen herausquillt, bleibt der Sache nach dasselbe. Jedenfalls mçssen wir Heutigen gestehen, daû uns diese Læsung durch einen deus ex machina etwas zu schnell geht und unserem verwæhnten Kunstgeschmack nicht mehr gençgt« (293 f.). Das ist der junge Heim. Er meint, es mag »im gewæhnlichen Leben« mæglich sein, »zwei Streithåhne durch ein eisernes Gitter schiedlich, friedlich voneinander abzusperren, daû es zu keinen Tåtlichkeiten zwischen ihnen kommen kann.« Aber der »hæchsten Antinomie des Daseins låût sich nicht mit so einfachen Hausmitteln beikommen« (294). Heim fragt, ob wir hier nicht mit einem vorgefaûten Denkschema, einem »Postulat«, an die Wirklichkeit herantreten. Es fragt sich, ob es Sinn hat, eine so sinnlose Frage çberhaupt zu stellen. »Wer fragt denn eigentlich nach Grçnden fçr die religiæse Stellungnahme?« (295) »Unser Verstand« ± aber, so heiût es nun weiter: »Was wir Verstand nennen, ist (¼) nicht ein isolierbarer Mechanismus im Kopf des Menschen, sondern eine bestimmte Seite des Wirklichkeitsablaufs« ± das Wollen ist die »andere Seite« (296). Heim hebt also die Fragestellung als solche auf. Das Problem der Religionsgeschichte und des Christentums, das heute in neuer Fassung als Problem der »Entmythologisierung« çber die theologischen Bretter låuft, ist damit gegeben, daû wir Verstand und Wille in unserer Seele wie zwei verschiedene Gebiete einteilen, wie Ministerium des Inneren und des Øuûeren ± aber der Glaube an ein derart isoliertes Dasein eines »theoretischen Daseins« ist der letzte und heute zum Fallen reife Mythos, den uns unsere Våter mitgegeben haben. Es muû beides sein. Anders kann es keinen Glauben geben. Nur aus der Antinomie heraus wåchst Glaube, und die Antinomie ist jeweils das »theoretische« Gegenbild des Glaubens. Man kann also jederzeit ein Ereignis religionsgeschichtlich »betrachten«, auch »Jesus«. Dann zerfållt die Einheit und Gewiûheit, mit der es von sich aus auf uns zukommt ± aber sie zerfållt nicht an sich, sondern darum, weil wir aus dem Mittelpunkt des »Glaubens« herausgetreten sind, weil wir »dahinterkommen« wollten.

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2. Max Weber 2.1 Der Protestantismus und der »Geist« des Kapitalismus Im Jahre 1920 erschien ein Buch, das bei den Kennern sofort das græûte Interesse und die nachhaltigste Wirkung erregte: Max Webers »Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie«. 31 Der Verfasser ist Nationalækonom und Kulturphilosoph in Heidelberg, bis dahin nur einem engen Kreis von Fachkollegen bekannt, aber unter diesen ± hier sind etwa Ernst Troeltsch, Paul Hensel, Georg Jellinek, Heinrich Rickert, Werner Sombart zu nennen ± hochgeachtet und in seiner genialen Begabung långst erkannt. Er ist 56 Jahre alt, als er dieses Werk veræffentlicht. In den beiden nåchsten Jahren folgen die Bånde çber Hinduismus, Buddhismus 32 und schlieûlich çber das Judentum 33 . Im ersten Band aber, und zwar als voranstehender Aufsatz stehen jene Aufsehen erregenden Abhandlungen çber die »Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus«. Hier findet sich jene These çber den inneren, aus religiæser Wurzel kommenden Bezug zwischen der Gnadenwahllehre, dem Berufsgedanken und der kapitalistischen, das heiût auf rationaler Kalkulation und Trennung von Haushalt und Betrieb ruhenden Wirtschaftsfçhrung. »Diese Rationalisierung der Lebensfçhrung innerhalb der Welt im Hinblick auf das Jenseits war die Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus« (163). Man bedenke, was das heiût! Wieviel aufregende Paradoxa stehen allein in diesem Satz! Allein das Wort »asketischer Protestantismus«, also Protestantismus als »innerweltliche« Askese gesehen! Der Erwerb ist »Heilspråmie«, von Gott dem Frommen zum Leben gegebener »Besitz«. Er gehært nicht dem einzelnen, er gehært Gott und ist bestimmt, der Ausbreitung seines Reiches zu dienen. Wir werden noch sehen, wie Max Weber (1864-1920) zu dieser aufregenden, weil offenbar so unwiderleglich richtigen These kommt. Aber lassen Sie mich statt alles anderen ein Beispiel aus dem Lande erzåhlen, in dem Max Weber zum ersten Mal ± bei seinem Besuch 1902 in Chikago ± diese Art, zum Besitz Stellung zu nehmen, auffiel. 34 Ich las die Predigt aus Amerika, die in einem streng lutherischen Gottesdienst zum Jahrestage des Sieges im ersten Weltkriege gehalten wurde. Sie wurde im Luthe31. M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie I, Tçbingen 19201 , 19889 . Seitenangaben im Text. 32. M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie II, Tçbingen 19211 , 19887 . 33. M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie III, Tçbingen 19211 , 19888 . 34. Vgl. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tçbingen 1926, 301.

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raner, einem populåren Gemeindeblatt, das deutsch gedruckt ist, veræffentlicht. Der Redner befaût sich mit der Frage des wachsenden Reichtums Amerikas in diesen beiden Kriegen. Er erærtert die Frage, ob man darin eine besondere Auszeichnung durch Gott sehen dçrfe, ohne stolz zu werden. Er bejaht diese Frage, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daû Amerika heute die græûten materiellen Mittel fçr die Mission des Christentums erhalten habe und nur, wenn es den Gewinn der beiden Kriege in diesem Sinne verwende, werde es den wachsenden Reichtum ohne Gefahr fçr seine Seele verwalten. Genau das meint Max Weber. Zwischen das Geld und den Eigentçmer tritt als eine qualifizierte Reserve der Berufsgedanke. Das Geld ist »heilig«, es ist Gottes Zwecken zugeordnet, und darum ist der Besitzer nur »Haushalter«. Anders als im Feudalismus, wo der Grandseigneur seinen Besitz zur Erhæhung seiner Lebensfreude, seines Ansehens und auch des Wohlergehens seiner Kolonen verwendet ± wie etwa in der lutherisch-agrarischen Lebens- und Weltauffassung des preuûischen Ostens ±, hat hier das Bçrgertum eine spezifisch protestantische Ethik herausgebildet, die sich als innerweltliche Askese fçhlt ± im Unterschied zu der mænchisch-spiritualistischen des Mittelalters. Der Geist des Kapitalismus, sagt Weber. Danach fragt er. Genauso wie Oswald Spengler nach der »Seele«, der morphologischen Grundstruktur einer »Epoche« fragt. Er sieht in der Moderne eine durch geistige Entscheidung gegebene Gestalt von Welt. Troeltsch hat immer wieder von neuem versucht, zu definieren, was der moderne Mensch sei. Er hat ihn aus der Aufklårung und ihrem Ideengehalt zu begreifen versucht, er hat sorgfåltig alle Ingredienzien untersucht, die in der »Retorte« der Geistesgeschichte dieses Gebilde der Moderne hervorbringen. Darin etwa ist Troeltsch eben doch ein romantischer, vielleicht auch ein theologisch zu stark affizierter Mensch. Er theoretisiert çber den modernen Menschen ± aber Max Weber ist dieser moderne Mensch. Er ist es, wenn je einer ihn repråsentiert hat, und die kçhle, erbarmungslose Art, wie er die Weltreligionen ins Netzwerk der Soziologie einfångt, wie er sie pragmatistisch wertet, die soziologischen Strukturen des modernen Lebens wie Versteinerungen einstiger Religionen untersucht und analysiert, hat etwas Unentrinnbares an sich. Er hat das Wort von der »Entzauberung der Welt« (94) wenn nicht erfunden so doch mindestens als Programmpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis gehandhabt. Und er, der eigentlich vællig unmarxistisch ± ja, in Umkehrung der marxistischen Formel von der Bedingtheit aller geistigen Vorgånge durch materielle und ækonomische die Religion als eine der unveråuûerlichen Komponenten fçr moderne gesellschaftliche Strukturen ansieht ±, sitzt doch daran wie ein Forscher, der Ernst, vollen Ernst damit

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gemacht hat, daû Gott tot ist und wir es eigentlich nur mit den Gottesvorstellungen der Menschen, mit deren nicht wegdenkbarer Bedeutung fçr die Gestalt der modernen Welt zu tun haben. Wir leben ± mit anderen Worten ± in einem Weltgefçge, das in seinem besonderen abendlåndischen Gewordensein durch die besondere Religion des Protestantismus, insonderheit den Calvinismus, geformt ist. Wie wenn man etwa Ausgrabungen macht und entdeckt noch die Formen und Mauern einer långst versunkenen Stadt als Untergrund des modernen Daseins. Christentum ist fçr ihn dabei im wesentlichen bestimmt durch eine grundsåtzliche Weltverneinung. Nur Weltverneinung bringt es zur Weltbeherrschung. Und die Geschichte des Christentums ist ihm von da aus der Wandel in der Idee der christlichen Askese. »Die christliche Askese, anfangs aus der Welt in die Einsamkeit flçchtend, hatte bereits aus dem Kloster heraus, indem sie der Welt entsagte, die Welt kirchlich beherrscht. Aber dabei hatte sie im Ganzen dem weltlichen Alltagsleben seinen natçrlich unbefangenen Charakter gelassen. Jetzt trat sie auf den Markt des Lebens, schlug die Tçr des Klosters hinter sich zu und unternahm es, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihren Methoden zu durchtrånken, es zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder fçr diese Welt umzugestalten« (163). Das ist die alte These, mit der Sebastian Franck bereits Luther zu treffen versuchte, er habe das Kloster verlassen und dafçr die ganze Welt in ein solches verwandelt. 35 Aber diese These wird nun in groûartigster Weise ± ækonomisch, soziologisch, an der ehernen Wirklichkeit der modernen Welt ± erhårtet und erwiesen und gewinnt damit ungeheure Ausmaûe. Zwei Erscheinungen des modernen Lebens, seine rationale Gestaltung und seine kapitalistische Wirtschaftsform werden als Frucht, als Schicksal dieser in ihrer Art ursprçnglichen Entscheidung analysiert. Das entschied sich, als Luther das Kloster verlieû. Das war der groûe Ruck, der damit die ganze Welt herumriû. Das war und ist das unausweichliche Schicksal, welches uns mit der såkularen Fassung des Wortes Beruf allesamt umschlieût und beherrscht. War es das allein? mæchten wir fragen: Sicher nicht, antwortet Max Weber. Sicher hat das Ganze noch einen spezifisch religiæsen, prophetischen, mythologischen Hintergrund und Urgrund. Darçber etwas zu sagen ver-

35. Vgl. M. Weber, a. a. O., 119: »Es traf fçr dessen (sc. des Calvinismus) Art von Religiæsitåt in der Tat den Kern der Sache, wenn schon Sebastian Franck die Bedeutung der Reformation darin fand, daû nun jeder Christ ein Mænch sein mçsse sein Leben lang.«

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bietet sich dem Forscher. Das ist die Welt des Religionsstifters, die Welt bestimmter, axiomatisch gewåhlter Werte und die Verwerfung der ihnen entgegengesetzten Lebensformen. Wer sich der christlichen Asketik und Bruderschaftsethik verschreibt, sagt damit eo ipso nein zu allen orgiastischen, erotischen und hier die Mitte, das Zentrum findenden Lebensdeutungen. Aber die Wissenschaft hat nicht zu wåhlen, sie hat nicht zu predigen, sie ist keine Setzung oder Aufhebung von Werten. Das vollzieht sich nicht im Hærsaal, das zerstært geradezu das Ethos des wissenschaftlichen Forschers. Es ist geradezu die Aufhebung der Grundlagen der abendlåndischen Wissenschaft. Denn diese ist allen derartigen Wertwelten gegençber frei. Sie ist der zum Grundsatz erhobene Relativismus des modernen Menschen. Sie beobachtet, konstatiert, so auch die Wirkungen der Religionen ± aber sie wird sich hçten mçssen, eine Aussage darçber zu machen, was Religion ist. Mag sie sein, was sie will, mag in ihr die Skala vom Wahnsinn bis zur rationalsten Ernçchterung ablaufen ± wissenschaftlich faûbar sind nur die Wirkungen. Und in diesem Bereich ist auch der Wahnsinn eine Realitåt. Er ist eben auch ein Sein des Menschen ± in einer spezifischen Verhaltensweise zur Welt. Kann man so denken, kann man so leben? fragen wir. Kann man nun auch den letzten und geriebensten Kniff vollziehen, die Religion aufheben, indem man sie in den Formationen soziologischer Gesetzmåûigkeiten einfångt, sie hierin aufgehen und ersterben låût? Eine raffinierte Methode, der gegençber der Psychologismus und der so entsetzlich pathetische Nietzschianismus (der ja viel zuviel ausplaudert) harmlos ist. Hier, bei Max Weber, bekommt die Religion ihren Rang, ihren geschichtlichen, kulturellen, maûgeblichen Rang. Aber in ihren Wirkungen ist sie aufgehoben, hat sie sich erschæpft. Fçr uns gibt es kein Zurçck mehr dahin. Wir haben ihr Erbe anzutreten, und ihr Erbe ist die rationale Welt.

2.2 Die Macht der Erotik als Erlæsung von der Rationalitåt Wir haben das groûe Glçck, eine Biographie von Max Weber zu besitzen, die in gewisser Weise etwas Einzigartiges in dieser unserer Zeit darstellt: die Biographie seiner Frau çber ihn, nun aber eben doch so geschrieben, daû sie nicht nur berichtet, sondern aus ihr etwas ausgeht von dem, was zwischen diesen beiden und dann ± von dieser einen Mitte aus ± im Ganzen ihres Schaffens geschieht. Man hat den Eindruck: Das ist die Mitte. Zwei Gefåhrten, die unverbrçchlich zusammenhalten ± »bis ins pianissimo des hæchsten Alters« heiût die Widmung, die 1920 seiner Frau mit der »Re-

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ligionssoziologie« gemacht wird 36 . Hier ist die furchtbare Einsamkeit durchbrochen, die in der modernen, in der durch und durch rationalen Welt den Menschen wie eine Wçste umgibt. Max Weber hat in der Macht, die die Erotik in der modernen Welt als »Erlæsung« von dieser Rationalitåt besitzt, den groûen Kontrapart zu den Erlæsungsreligionen gesehen. Hier ist etwas Letztes geblieben, das noch Natur ist, an das sich der Mensch gewiesen weiû wie an jene aller Zersetzung und Zerfaserung unzugångliche Mitte des Lebens. In den »Zwischenbetrachtungen«, die im ersten Band der »Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie« zu finden sind, heiût es: »Allem Sachlichen, Rationalen, Allgemeinen so radikal wie mæglich entgegensetzt, gilt die Grenzenlosigkeit der Hingabe hier dem einzigartigen Sinn, welchen dies Einzelwesen in seiner Irrationalitåt fçr dieses und nur dieses andere Einzelwesen hat. Dieser Sinn und damit der Wertgehalt der Beziehung selbst aber liegt, von der Erotik aus gesehen, in der Mæglichkeit einer Gemeinschaft, welche als volle Einswerdung, als ein Schwinden des ­Du¬ gefçhlt wird und so çberwåltigend ist, daû sie ­symbolisch¬ : ± sakramental ± gedeutet wird. Gerade darin, in der Unbegrçndbarkeit und Unausschæpfbarkeit des eigenen, durch kein Mittel kommunikablen, darin dem mystischen ­Haben¬ gleichartigen Erlebnisses, und nicht nur vermæge der Intensitåt seines Erlebens, sondern der unmittelbar besessenen Realitåt nach, weiû sich der Liebende in den jedem rationalen Bemçhen ewig unzugånglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthånden rationaler Ordnung ebenso vællig entronnen wie der Stumpfheit des Alltags. Den (fçr ihn) objektlosen Erlebnissen des Mystikers steht er, der ­das Lebendigste¬ mit sich verbunden weiû, wie einem fahlen hinterweltlichen Reich gegençber. Wie die wissende Liebe des reifen Mannes zu der leidenschaftlichen Schwårmerei des jugendlichen Menschen verhålt sich der Todesernst dieser Erotik des Intellektualismus zur ritterlichen Minne, der gegençber sie gerade das Naturhafte der Geschlechtssphåre wieder, aber: bewuût, als leibgewordene Schæpfermacht, bejaht« (560 f.). Und sofort der Zusatz: »Eine konsequente religiæse Brçderlichkeitsethik steht dem allem radikal feindlich gegençber. (¼) Die erotische Beziehung muû, von jeder religiæsen Brçderlichkeitsethik aus angesehen, je sublimierter sie ist nur desto mehr, der Brutalitåt in ganz

36. Die Widmung in Webers »Gesammelten Aufsåtzen zur Religionssoziologie I« lautet: Marianne Weber 1893 »bis ins Pianissimo des hæchsten Alters«, 7. Juni 1920. Vgl. NWN 1, 174.

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spezifisch raffiniertem Maûe verhaftet bleiben.« (561) Hier spçrt man bei Weber (und eigentlich allein hier) etwas von einer letzten Spannung, hier stæût man mitten in seiner die Person seiner selbst ganz aufzehrenden Leistung auf einmal auf einen weichen Kern, auf eine bewegte vulkanische Mitte, auf einen innersten Prozeû, der zugleich den tiefsten Gegensatz, die eigentliche Spannung zwischen der »Gemeinde« und dieser »Selbsterlæsung« der Liebenden offenbar macht. »Keine volle erotische Gemeinschaft wird sich selbst anders als durch geheimnisvolle Bestimmung fçr einander, Schicksal in diesem hæchsten Sinne des Wortes, gestiftet und dadurch (in einem gånzlich unethischen Sinne) ­legitimiert¬ wissen. Aber fçr die Erlæsungreligion ist dies ­Schicksal¬ nichts anderes als der reine Zufall des Entbrennens der Leidenschaft.« (562) Man merkt, wenn man erst einmal ein wenig von Max Weber gelesen hat, daû jeder Satz, jede Zeile, die er schreibt, einen ihr sozusagen immanenten Stil hat. Man kænnte irgendwo einen Zettel von ihm finden, ein herausgefetztes Stçck aus einem seiner Bçcher, man kænnte eine Kritik lesen, die er schreibt ± çber irgendein Buch; man kænnte nicht mehr zu packen bekommen als etwa eine Beschreibung einer Baptistentaufe, die er in Amerika erlebt ± und man wird sofort wissen: Das ist Max Weber. Es ist merkwçrdig, wie bedeutsam auch der Stil seiner Schriftstellerei der Sache dessen, was er beschreiben will, angepaût ist. Er ist so modern, wie etwa der Stil eines Hochhauses in einer Groûstadt, so kunstreich und doch immer pråzise wie die Bewegung einer neuzeitlichen hochentwickelten Maschine. Hier schreibt wirklich ein Mensch, der mit allen seinen Fasern in diese Welt von heute gehært, der weiû, aus Erfahrung weiû, wo ihre wahre Mitte, ihre »innerweltliche« Erlæsung, ihre »Freiheit« und darum auch ihre »Bindung« liegt. Und dieser Mensch macht sich auf und schreibt çber Religion. Es ist so mit seinen Schriften wie mit Bildern groûer Maler, man erkennt sie sofort, sie verraten den Griffel dieses einzigen. Max Weber wåchst auf in der Luft der »Religion« eines freiheitlichen Christentums der Welt, aus der seine Mutter Helene kommt, die in Heidelberg zu Hause ist, eines Christentums, das sich frei gemacht hat vom Dogma der Satisfaktion, der Gottessohnschaft, der Kirche, eines aber dennoch innigen, nur in der Geborgenheit des Glaubens lebenden Christentums. Sein Vater stammt aus Westfalen und lebt spåter in Berlin, wo auch der Knabe aufwåchst. Das Seltsame in dem Schaffen Max Webers ist aber die Periodizitåt der Krankheit vor seinen groûen geistigen Leistungen. Jahrelang kann er nichts arbeiten, unendlich ermçdet erscheint er von einem Satz, den er durchdenken will. Was fçr Mçhe macht ihm die Besprechung von Karl Knies' »Die politische Úkonomie vom Standpunkt der geschicht-

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lichen Methode« 37 ± und dann glånzt und funkelt diese so gelungene Kritik doch in einer Weise, daû sie heute noch ihr Leuchten nicht verloren hat.

2.3 Religionssoziologie 38 Ehe wir Max Webers groûen Wurf im einzelnen kennenlernen, lassen Sie uns kurz eins klarstellen: Was heiût Religionssoziologie? Es handelt sich natçrlich auch hier um eine jener Verbindungen zwischen der Religion und einem anderen, mit ihr nicht identischen, aber doch in Wechselwirkung zu ihr stehenden Gebiet. So gibt es ± wir werden das bei Max Scheler sehen ± eine durchaus legitime Religionspsychologie, denn alles, was Psyche heiût, wird ja aufs innigste durch Religion betroffen. Und ebenso gibt es eine durchaus legitime Religionsphilosophie, denn wer will schieûlich den Philosophen verbieten, mit uns, den Theologen, sozusagen in eine echte Konkurrenz im Nachdenken çber Gott einzutreten; wer will dem Denken verbieten, hier, bei dem Sein Gottes, anzuheben? Daû das keine Theologie ergibt, ist eine andere Sache. Aber die Theologie wird nicht einfach Descartes, Leibniz, Kant und Hegel verbieten kænnen, daû sie nun eben auch von ihrem Ansatz her Gott irgendwie in Rechnung stellen, ihn irgendwie zu begreifen suchen. Die Theologie wird sich im Gegenteil dadurch gefragt wissen, ob sie wirklich etwas anderes und mehr tut, als dort getan wird. Und so steht es auch mit der Religionssoziologie. Wir werden etwas erschrecken, wenn wir uns da von einer Seite beleuchtet sehen, die wir zwar nicht leugnen kænnen, die aber doch meist unbeleuchtet oder in irgendeinem zu unserer Grundposition passenden Sinne verklårt erscheint. Die Religionssoziologie ist ± von der rein wissenschaftlichen Seite her gesehen ± dasselbe, was wir etwa Ekklesiologie nennen wçrden, also die Lehre von der Kirche. Die Religionssoziologie legt also den Finger auf den Tatbestand, daû die Kirche auch eine ganz bestimmte Realitåt innerhalb der Gesellschaft ist. Daû sie bestimmte Urteile fållt und einbçrgert çber Stand und Beruf, çber Arbeit und Meditation, çber aktives und kontemplatives Leben, çber Krieg, Eid, Geld, Bildung, çber auûerweltliche mænchische Askese oder innerweltliche ± also im Prinzip weltbejahende, aber doch weltçberwindende ± Erwåhlung. Wir mæchten vielleicht sagen: Kirche hat mit diesen, doch sehr irdi37. M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Wissenschaftslehre, Tçbingen 19221 / 19887 , 42 ff. 38. Ûberschrift Iwands.

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schen, politischen, mitten in das ækonomische und gesellschaftliche Dasein eingreifenden Realitåten nichts zu tun. Kirche ist ein »geistlicher« Verband, der sich mit allen Formen weltlicher Gesellschaftssysteme verbinden kann, der allein ein bestimmtes Ethos gewåhrleistet sehen will. Aber bleiben wir einmal kurz bei dieser Sache stehen: Kåmpft die Kirche, wenn sie sich gegen die Gesellschaftsreform des Kommunismus wehrt, fçr ein religiæses Ziel? Ist eine neutrale Basis in dem Gegeneinander zweier Gesellschaftsformen, der demokratisch-kapitalistischen und der hierarchischkommunistischen, denkbar? Und wenn, ist dann die Kirche ± gerade um ihrer Neutralitåt willen ± nicht nur ein in dem jeweiligen Gesellschaftssystem auf- und darum auch in ihm untergehender »Apparat«, eine von diesen jeweiligen Systemen gebrauchte, fçr ihre Zwecke ge- und miûbrauchte Institution? »Ich kann im Westen ebensogut als Christ leben wie im Osten« ± heiût das nicht: Ich habe es aufgegeben, in dieser Welt einen ganz bestimmten Raum zu behaupten, mich als Christ hier in einem sehr konkreten Sinne (der Heiligung) zu bewåhren? Man kann zwar strikte Neutralitåt der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung gegençber einnehmen ± so tut das ja der Konfuzianismus und nicht viel anders der ins Mystische abgedrångte Taoismus, ich kann mich einfach positivistisch auf die gegebenen Ordnungen einstellen und kann mich umgekehrt mystisch grundsåtzlich auûerweltlich wissen und darum ± im Prinzip ± den Schlachten entnommen sein, die um Recht und Freiheit, um Gesellschaft und Wirtschaft in dieser Welt im Gange sind. Aber die Frage ist eben die, ob das Christentum das kann und getan hat. Mit dieser Frage sind wir unmittelbar beim Thema Max Webers ± nur daû er auf derselben Straûe von der anderen Seite her anmarschiert. Er geht aus von Fragen der Kultur, von Fragen der Gesellschaft. Ihm geht es um »universalgeschichtliche Probleme«, also um die Einsicht und Durchsicht eines Ganzen. Er kann nicht dabei stehenbleiben, daû er eine Erscheinung ± etwa die des modernen Kapitalismus, die ihn besonders reizt, weil er meint, daû sie das abendlåndische Schicksal in sich schlieût ± einfach darstellt, beurteilt, pro oder contra dazu Stellung nimmt, wie das seine beiden groûen Partner Lujo Brentano und Werner Sombart tun ± sondern er will wissen, warum das so ist. Man muû eigentlich als Vorbereitung fçr Max Webers historische Methode Nietzsches »Vom Nutzen und Nachteil der Historie« lesen. »Nur aus der hæchsten Kraft der Gegenwart dçrft ihr das Vergangene deuten.« 39 »Als Richter 39. F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie fçr das Leben, Abschnitt 6, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 2, 160 (= Schlechta I, 250; KSA 1, 293 f.). Bei Nietzsche ist der ganze Satz gesperrt.

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mçûtet ihr hæher stehen als der zu Richtende; wåhrend ihr nur spåter gekommen seid«. 40 Weber hat begriffen und will begreiflich machen, daû »das Unhistorische und das Ûberhistorische (¼) die natçrlichen Gegenmittel gegen die Ûberwucherung des Lebens durch das Historische (¼) sind (¼), gegen die historische Krankheit« 41 . Er will Universalgeschichte neu geschrieben wissen, er will ± von seiner Frage, dem Rationalismus des okzidentalen Geistes herkommend ± einen Beitrag dazu liefern, wie die scheinbar so diesseitigen, so geistlos fix gewordenen Gegebenheiten eben auch einmal aus Geist und Wirklichkeit, aus Unhistorischem und Historischem zugleich geworden sind. »­Entwicklung¬ ist (¼) der eigentlich deutsche Fund und Wurf im groûen Reich philosophischer Formeln.« 42 Ich darf also nicht Kulturen als ± ja fast mæchte man sagen ± determinierte, so und nicht anders mægliche Gegebenheiten ansehen, sondern ich muû, um sie zu verstehen, zurçckgehen auf die Knoten- und Wendepunkte, an denen Entscheidungen fallen. Geschichte ist Geworden-Sein! Mit jeder Wahl wird eine Mæglichkeit ausgeschieden. Hat nicht Asien einmal eine Mæglichkeit ausgeschieden, als es das wurde ± gesellschaftlich, kulturell, ethisch ±, was es ist: deisidåmonologisch, achrematistisch ± im Magischen eben doch steckenbleibend und, wo es der Aufklårung zufiel, sich auf die Gebildeten, auf den Literaten- oder auch Brahmanenstand beschrånkend? Wåhrend das Abendland, und zwar die alte wie die neue Phase desselben, die kontinentale wie die angloamerikanische, immer in einer Richtung fortgeschritten ist: in der Entzauberung der Welt, in der strengsten Absetzung von aller Kreaturvergætterung, nach dem ethischen Leitsatz des prophetischen Judentums und des ± Calvinismus. Aber Max Weber fragt. Er hat den Mut, zu fragen. Er nimmt die Geschichte nicht hin in ihrem Sosein, um sie zu schulmeistern, sei es zu rechtfertigen oder zu richten ± er fragt. Er geht den Fluû des Gewordenen zurçck bis zu den Punkten, wo, wie er meint, die geistige Determination offengeblieben ist. Wo ± phantastisch geredet ± in Asien eben das håtte werden kænnen, was im Okzident wurde, und umgekehrt. Warum ist, was ist ± das fragt Max Weber, und er fragt nicht umsonst! Er meint mit dieser nun wirklich ins Universelle gehenden Frage die Linie auszuziehen, die die unermeûliche Arbeit moderner Historie angebahnt hat. Wozu reichen wir sonst mit unserem Wissen zurçck in die ersten Anfånge der Kulturen? Wozu rollt sonst 40. Ebd. 41. Ebd., Abschnitt 10, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 1, 204 (= Schlechta I, 282; KSA 1, 331). 42. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bæse, Aphorismus 244, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 210 (= Schlechta II, 710; KSA 5, 185).

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das groûe und çppige Drama einer als Ganzes begriffenen menschlichen Geschichte vor uns ab? Schieûlich mçssen wir doch etwas anzufangen wissen mit dem einzelnen, was wir analysieren, etwa mit dem Dionysoskult und seiner Aufhebung im platonisch-aristotelischen Ethos oder mit der Tatsache, daû der Bettel im Mittelalter sozusagen kirchlich privilegiert gewesen ist (wie heute die von oben, dem Staat bzw. dem Unternehmertum, erzwungene Arbeitslosigkeit) ± wåhrend mit der Reformation die Arbeit eine geradezu religiæs akzentuierte, neu er- und begriffene Wertung erhålt. Das sind die Punkte, die Max Weber bloûlegt, wie wenn man die Gelenke bloûlegt, in denen sich die Bewegung vollzieht. Und wenn man eine Formel sucht, unter die Max Weber die gesamte Geschichte okzidentaler Kultur bringt, so ist es die der Entzauberung der Welt. Sie ist die Voraussetzung rationaler Weltdurchdringung und Beherrschung. Es handelt sich fçr ihn um »einen spezifisch gearteten ­Rationalismus¬ der okzidentalen Kultur« 43 . Rationalismus im Sinne einer bestimmten Methodik (etwa der mystischen Kontemplation, des gesellschaftlichen Zeremoniells, der wissenschaftlichen Arbeit) gibt es çberall. Es geht nicht um den Rationalismus im Unterschied zu irgendwelchen irrationalen Mæglichkeiten, sondern es geht um die Herauspråparierung des spezifisch abendlåndischen, okzidentalen, vom Griechentum çber das Mittelalter bis in die Neuzeit reichenden und immer mehr darin zu universeller Bedeutung kommenden Rationalismus. Er ist fçr Weber eine »aus der Historie« zu verstehende Græûe. Der Rationalismus ± in einem spezifischen Sinne ± ist abendlåndisches Lebens- und Wesensgesetz geworden. Und von da aus muû dann auch eine so interessante und måchtige, heute so problematische Græûe wie der moderne Kapitalismus begriffen werden. »Es kommt (¼) zunåchst wieder darauf an: die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen Rationalismus zu erkennen und in ihrer Entstehung zu erklåren. Jeder solche Erklårungsversuch muû, der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft entsprechend, vor allem die ækonomischen Bedingungen berçcksichtigen. Aber [und in diesem Aber liegt nun der neue, der besondere Blick Max Webers] es darf auch der umgekehrte Kausalzusammenhang darçber nicht unbeachtet bleiben. Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ækonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fåhigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensfçhrung çberhaupt abhångig. Wo diese durch Hemmungen see43. M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie I, 11. Seitenangaben im Text.

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lischer Art obstruiert war, da stieû auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensfçhrung auf schwere innere Widerstånde. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensfçhrung nun gehærten in der Vergangenheit çberall die magischen und religiæsen Måchte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.« (12) Kultur ist also immer ± in ihrer Herkunft ± Seele. Das haben auch andere gesagt. Aber Max Weber, indem er eben nicht nur Seele sagt, sondern von »magischen und religiæsen Måchten« (12) spricht und von dem das Handeln bestimmenden Glauben, geht noch einen Schritt weiter. Er sieht, daû Ethik ± als Verhåltnis des Menschen zur Welt genommen ± immer schon Dogmatik inkludiert, daû jener Traum von einer »ethischen Autonomie« eben ein Traum ist, daû auch fçr die moderne Welt das nicht stimmt. Auch ihr Ethos hatte einmal eine dogmatische Wurzel ± nåmlich die innerweltliche Bewåhrungslehre der mit dem Protestantismus allein auf Gott (ohne kirchliche Vermittlung) zurçckgehenden Gnadenlehre. Alle Dogmatik ist zugleich Ethik ± darum Religionssoziologie! Hier, im dogmatischen Raum, fallen die letzten Entscheidungen ± oder fielen sie wenigstens! Sie erscheinen als etwas Unableitbares, wie Entscheidungen, die aus einer hæheren Dimension fallen.

2.4 Kapitalismus 44 Machen wir uns einmal deutlich, mit welchen Empfindungen wir heute diesen Grundriû der Soziologie lesen. Das Problem des Kapitalismus: Weber nennt ihn die »schicksalvollste Macht unseres modernen Lebens«. Er grenzt »Kapitalismus« ab gegençber einem çberall auftretenden Erwerbsstreben ± »die kapitalistischen Abenteurer hat es in aller Welt gegeben« (7). Wenn Kapitalismus nur vom »Erwerbsstreben« her zu verstehen wåre, so wåre das keine spezifische, den abendlåndischen »Kapitalismus« als solchen treffende Definition. Denn dieses »­Streben nach Gewinn¬ (¼) fand und findet sich bei Kellnern, Aerzten, Kutschern, Kçnstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Råubern, Kreuzfahrern, Spielhællenbesuchern, Bettlern: ± man kann sagen, bei ­all sorts and conditions of man¬ (¼). Es gehært in die kulturgeschichtliche Kinderstube, daû man diese naive Begriffsbestimmung ein fçr allemal aufgibt.« (4) Denn der »Kapitalismus« kann geradezu identisch sein mit Båndigung dieses irrationalen Triebes. Freilich ist er stets angewiesen auf immer erneuten Gewinn, im Sinne 44. Ûberschrift Iwands.

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der Rentabilitåt. Das setzt voraus, daû das wirtschaftliche Handeln orientiert ist an Kapitalrechnung, an genauester Kalkulation und Bilanz. Auch das hat es freilich immer wieder in aller Welt gegeben. Aber der Okzident kennt in der Neuzeit eine andere, nirgends sonst in der Welt entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. 45 »Eine exakte Kalkulation (¼) ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit mæglich.« Da eine solche »rationale Arbeitsorganisation« sonst nirgends vorkommt, »hat die Welt auûerhalb des modernen Okzidents auch keinen rationalen Sozialismus gekannt« (9). Es fehlte woanders nicht nur der Begriff des Bçrgers, sondern auch der des »Proletariats« als Klasse. Und er muûte fehlen, weil eben die rationale Organisation freier Arbeit als Betrieb fehlte. Dies also ist es, was Max Weber herausstellen mæchte: Der Kapitalismus im okzidentalen Sinne ist eine Sache sui generis; er setzt die abendlåndische Wissenschaft, das Bçrgertum und insofern auch eine bestimmte, auf Freiheit beruhende »Arbeitsorganisation« voraus. Weber verlangt also ± im Gegensatz zum dogmatischen Urteil des Marxismus ± eine historische Beurteilung der Græûe Kapitalismus. Er sieht ihn wachsen im Zusammenhang mit dem okzidentalen Rationalismus und versteht ihn geradezu als das okzidentale Schicksal. Er gewinnt damit die Mæglichkeit, gewisse dogmatische Gegensåtze in Relationen aufzulæsen, etwa so, daû Kapitalismus und Sozialismus sich gegenseitig bedingen und die Aufhebung des einen die des anderen nach sich ziehen wçrde. Wenn wir heute ± dreiûig Jahre spåter ± diese Ausfçhrungen lesen, so kann man nur sagen, daû die geschichtliche Entwicklung diese Auffassung beståtigt hat. Wir sehen heute, wie sich tatsåchlich beide Græûen ± eine bestimmte Form der betriebswirtschaftlichen Geldwirtschaft und der westliche Sozialismus ± so aufeinander angewiesen sehen, daû keiner ohne den anderen existieren kann. Denn die Freiheit ± der eigentlich gesellschaftliche Gewinn der bçrgerlichen Welt ± ist auch die Voraussetzung jedes okzidentalen Sozialismus, und wenn auch beide Græûen, Kapitalismus und Sozialismus, antithetisch zueinander stehen und wohl immer stehen werden, so gibt es offenbar eine Grenze, die beide respektieren mçssen, damit nicht die Voraussetzung beider, die Voraussetzung ihres Kampfes, aufgehoben und dafçr nun eben ± nicht-okzidentale, nicht mehr rationale, sondern rein gewaltmåûige, an die asiatischen Formen des Erwerbslebens erinnernde Wirtschaftsmethoden eintreten mçssen (Beutekrieg, Ergasterien, Sklavenarbeit, Staat als Eigentçmer etc.). Mehr will Max Weber nicht 45. Weber hat: »kapitalistisch-rationale Arbeitsorganisation« (9).

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sagen. Er will nicht »predigen« und keine »Schau«, keine »Intuition« bieten. Er will die Geschichte durch wissenschaftliche Befragung und vergleichende Analyse zum Reden bringen. Er will zeigen, daû der moderne Kapitalismus nicht wegdenkbar ist aus den Gesellschafts- und Wirtschaftsformen des Abendlandes. So wie umgekehrt auch das Ethos des Abendlandes, insbesondere das des Protestantismus, nicht wegdenkbar ist aus der Formgebung dieses »Kapitalismus«. Dabei ist sich Max Weber darçber klar, daû der Kapitalismus heute långst çber diese seine eigentlichen Wurzeln hinausgewachsen ist und daû er darum ± aber eben darum in eine tiefe und schwere Krise geraten kænnte: Er hat seinen »Geist« verloren. »Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser [aus dem Puritanismus und dem protestantischen Berufsgedanken kommenden] Stçtze nicht mehr. Auch die rosige Stimmung ihrer lachenden Erbin: der Aufklårung, scheint endgçltig im Verbleichen und als ein Gespenst ehemaliger religiæser Glaubensinhalte geht der Gedanke der ­Berufspflicht¬ in unserm Leben um. Wo die ­Berufserfçllung¬ nicht direkt zu den hæchsten geistigen Kulturwerten in Beziehung gesetzt werden kann (¼), da verzichtet der einzelne heute meist auf ihre Ausdeutung çberhaupt. Auf dem Gebiet seiner hæchsten Entfesselung, in den Vereinigten Staaten, neigt das seines religiæs-ethischen Sinnes entkleidete Erwerbsstreben heute dazu, sich mit rein agonalen Leidenschaften zu assoziieren, die ihm nicht selten gerade den Charakter des Sports aufprågen. Niemand weiû noch, wer kçnftig in jenem Gehåuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine måchtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber ± wenn keins von beiden ± mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbråmt. Dann allerdings kænnte fçr die ­letzten Menschen¬ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ­Fachmenschen ohne Geist, Genuûmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben¬.« (204).

2.5 Glaube und Wissenschaft 46 2.5.1 Die moderne Welt als Schæpfung des Alten Testaments

Max Weber bedeutet mit seiner Religionssoziologie fçr die Theologie eine hæchst bedeutsame Frage. Hier untersucht ein vællig unvoreingenomme46. Ûberschrift Iwands.

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ner »Rationalist«, freilich ein moderner, ein mit der Leidenschaft, zu erkennen, was ist, begabter Rationalist, die Phånomene der Religion. Und er versteht sie! Er tritt unter ihre Wirkung, viel stårker, als es den mit dem »religiæsen« oder auch »christlichen« Selbstverståndnis begabten Forschern gelingt. Ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, der persænlich, auch in den dunkelsten Phasen seines Lebens, ein Skeptiker bleibt, der noch mit der kçhlen Frage: »Wir werden ja sehen, was dort ist«, aus der Zeit in die Ewigkeit hinçbergeht, eine an die Ungebrochenheit des alten Faust erinnernde Natur, vermag die Spuren des immer mit einem Fragezeichen versehenen »Gottes« nun doch nicht zu eliminieren. Er meint, wenn man die dçnne Decke, die wir »Moderne« nennen, einmal wegnimmt und den Untergrund studiert, auf dem dieses ephemåre Gebilde, Moderne genannt, ruht, dann stæût man auf religiæse, besser noch: auf dogmatische Grundstrukturen. Solche religiæsen, dogmatischen Grundkonzeptionen stehen hinter dem Abendland wie hinter dem Morgenland, und daû sie hier wie dort verschieden sind, daû sie anders sind, das erst bedingt auch das Anderssein von heute! Ja, wenn man Max Webers Endergebnis in einen Satz zusammenfassen wollte, so mçûte man schon sagen: Ohne das Alte Testament, ohne diese spezifisch innerweltlich denkende, hier das Gericht Gottes ankçndigende Prophetie wåre Europa heute nicht Europa, und mit dieser Wendung, mit dieser prophetischen Revolution, wçrde Asien eben nicht bei Konfuzius und der brahmanischen Karmanlehre jenen seltsamen Stillstand erreicht haben, von dem man nicht weiû, ob er ewige Passivitåt ist oder doch einmal aufs neue durchbrochen wird. Wir kænnen heute ± nach dreiûig Jahren und nachdem wir bereits den zweiten oder dritten Akt des europåischen Dramas vor uns haben abspielen sehen ± schon mit græûerer Leichtigkeit feststellen, was seinerzeit nur die Eingeweihten wuûten: daû Max Weber einer der modernen Propheten gewesen ist! Einer von denen, die begriffen haben, daû ohne Soziologie die Wissenschaft von heute in leere Abstraktionen verfållt, der aber auch ± und das ist eben das Ungeheure ± begriff, daû die Wurzeln dieser Soziologie dogmatische sind! Er, der Rationalist, hat hier das System des Rationalismus in sich selbst gesprengt. Er hat aber noch etwas anderes annulliert: eben jenes Urteil, daû ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, nichts von den Taten Gottes begreifen kann. Er hat eben mit dem Ergebnis seiner Religionssoziologie jenes Getto gesprengt, in dem sich Kirche und Welt gegenseitig voreinander verbarrikadieren. Und hat er nicht recht? Denkt die Bibel nicht genauso? Er findet ja geradezu das als Erklårung der spezifisch abendlåndischen Kultur, daû sie eine biblische Basis hat (dasselbe hatte der ganz von der anderen Seite

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herkommende Martin Kåhler schon gesagt 47 ). Das Verhåltnis von Gemeinde Gottes und Welt ist in der Bibel ein toto coelo anderes als etwa das einer buddhistischen Mænchsgruppe, die der Welt gegençber die Freiheit von der Begierde, die Erlæsung durch Ertætung der Begierde demonstriert, es ist ebenso ein toto coelo anderes als etwa das »Ich hasse den gemeinen Pæbel« 48 , das mit allen seinen guten wie auch bedenklichen Seiten die chinesische Gelehrtenrepublik als Tråger der Staatsautoritåt kennzeichnet. Und insofern ist Max Weber doch ein peinliches Phånomen in der theologischen Gesellschaft unseres ersten halben Jahrhunderts, denn diese Gesellschaft ist (trotz aller in ihr spielenden Differenzen und Parteiungen) von dem einen çberzeugt: Ein Mensch, der so grundsåtzlich und methodisch rational forscht und auch persænlich so denkt, kann das Christentum, kann die Offenbarung nicht verstehen. Das kann nicht sein, weil es nicht sein darf. Sonst wçrde ja unser ganzes System, das insulare Prinzip der splendid isolation, das uns als Theologen so sicher und çberlegen macht, ins Wanken geraten. Aber ist das wirklich biblisch? Wozu geschehen denn Wunder und Zeichen? Kænnten nicht die Phånomene, auf die Max Weber bei seiner Untersuchung der modernen soziologischen Strukturen gestoûen ist, noch Rudimente solcher »terata« und »semeia« sein? Es kænnte doch sein, daû die Gesellschaft mit allen ihren Funktionen, etwa mit dem Begriff von Arbeit, von Lohn und Freiheit, von Geld und Vertrag (als gerade die jedem Partner seine Freiheit gewåhrende Vertragsidee!) noch die Spuren jener christlichen Mission an sich und in sich trågt, die einmal hier die ethne (Heidenvælker) erzog und christianisierte! Es kænnte doch sein, daû der Paganismus, auch der gebildete, nun eben doch auch soziologisch ein ganz anderes Gesicht haben wird und muû, daû dort Arbeit, Ehe, Stand, Staat etwas absolut anderes sind, daû ± mægen auch die Christen einer pietistisch auf sich selbst und ihre persænlichste Erfahrung bezogenen Gewiûheit die Kraft verloren haben, die Welt in die Gottesherrschaft einzubeziehen ± Gott nun doch in einer solchen Sprache redet, daû ihn jedermann verstehen kann. »Wenn nicht, so glaubt mir doch um der Werke willen« (Joh 14,11) ± oder Joh 5,36: »Ich habe ein græûeres Zeugnis als das des Johannes; (¼) die Werke, die mir der Vater gegeben hat, damit ich sie vollende.« Es gibt eine »Sprache« des Christentums, die »jedermann« versteht. Max Weber wird ein Zeuge dieses ± von ihm selbst nun eben nicht gedeuteten ±, von ihm selbst grundsåtzlich immer wieder verneinten Tatbestandes. 47. Vgl. M. Kåhler, Dogmatische Zeitfragen. Bd. 1. Zur Bibelfrage, 127. 48. »Odi profanum vulgus«. Horaz, Oden III, 1,1.

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Noch ein Zweites ist im hæchsten Maûe signifikativ bei Max Webers Untersuchungen. Er ist, sehr im Unterschied zu Theologen wie Troeltsch, aber auch Rothe, im Unterschied zu den Liberalen, viel zurçckhaltender, viel ehrfçrchtiger der eigentlichen Mitte gegençber! Jesus bleibt auûerhalb der religionssoziologischen Untersuchungen. Warum? Das wird nirgends gesagt. Die Ebene, auf der die Analogien und Vergleiche vorgenommen werden, ist vielmehr so gelegt, daû eher Laotse oder Konfuzius oder Mose oder Calvin oder Luther einander korrespondieren ± aber es gibt keine Soziologie çber die Ursprçnge des Christentums! Ja, Troeltsch, Georg Wçnsch, die »Religiæs-Sozialen« beginnen bei ihrer Gesellschaftslehre mit Jesus. Max Weber, der »Proselyt vor den Toren«, låût diese Stelle frei. Er steht nun wirklich von »ferne« und respektiert, ob bewuût oder unbewuût ± wer vermag das zu sagen ±, eine bestimmte Grenze. Die Forschung spielt sich fçr ihn da ab, wo keine »Werturteile« gefållt werden mçssen. Also gerade das Gegenteil von dem, was Fichte in die Worte faûte: »Was fçr eine Philosophie einer hat, richtet sich danach, was er fçr ein Mensch ist.« 49 Fichte war ein von der Theologie herkommender Denker. Der Theologe wird immer wieder versuchen, aus der jeweiligen »Weltanschauung« auf das »Menschenbild« zu rekurrieren, objektive Ergebnisse zu »subjektivieren«, den »Menschen« hinter all den »Vorstellungen« zu entdecken. Also die Wissenschaft nur als formale Angelegenheit, als Methode anzusehen, aber den Inhalt des Glaubens ihr nicht auszuliefern. Max Weber tut dasselbe, aber jetzt von der umgekehrten Seite. Er respektiert die Grenze ± nicht um des Glaubens, sondern um des Forschens willen. Die Forschung gehe bei derartiger Grenzçberschreitung entzwei. Sie gehe çber in Dichtung, in Mythologie, in eine Art Kathederprophetie, der »schlimmsten, die es gibt«. Also auch hier wieder eine hæchst merkwçrdige Sache: Das, was wir positiv bei Max Weber feststellen mçssen, daû er die Grenze respektiert, und zwar die Grenze gegençber den Realitåten, die weltanschauliche Ûberzeugungen involvieren, hångt nicht an seinem Glauben, sondern an seinem Unglauben. Es ist etwas von jenem spåtantiken Skeptizismus in seiner Art, Forschung zu treiben. In seinem Ideal von Wissenschaft. So etwa, wenn er seine Untersuchung çber das Judentum beginnt mit dem lapidaren Satz: »Was waren, soziologisch angesehen, die Juden? Ein Pariavolk! Das heiût wie wir aus Indien wissen: ein rituell, formell oder faktisch von der sozialen Umwelt geschiedenes Gastvolk« ± nur mit dem Unterschied: »fçr den Juden war (¼) die Sozialordnung der Welt (¼) in das Gegenteil dessen verkehrt, was fçr die Zukunft verheiûen war und sollte 49. J. G. Fichte. Siehe oben S. 183, Anm. 8.

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kçnftig wieder umgestçrzt werden.« 50 Gerade dieser tiefe Skeptizismus låût ihn ganz neue Dinge sehen! Wie aber ± kann man mit so verschiedenen Motiven einen gemeinsam verbindlichen Begriff von Wissenschaft halten? Ist dieser auf der Skepsis beruhende Begriff von Wissenschaft in der Lage, Norm zu sein und die verschiedensten »Weltanschauungen« zu zwingen, sich alle vor seinem Forum auszuweisen? Das glaubt Max Weber allerdings! Und hier vollzieht sich nun die Katastrophe ± als er den Versuch macht, diesen seinen formalen Wissenschaftsbegriff zu verteidigen gegençber einer neuen Zeit und einer neuen Generation, der er sich nach Geist und Leben so verwandt fçhlen muûte, wie etwa Goethe in den Romantikern seine eigene Jugend (aber nun eben in der Wiederholung) vor sich sah und darum mit einem so leidenschaftlichen Nein reagierte. So verteidigt Max Weber, indem er nun seiner eigenen Mæglichkeit gegençbersteht, einer in ihm eben nicht verwirklichten, aber doch ureigensten Mæglichkeit gegençber seinen Weg. Er verteidigt das Recht der in seinem Weg gefallenen Entscheidung, wenn er nun den Neuansatz zu einer wissenschaftlichen Existenz mit der ganzen Kçhle eines reifen Mannes radikal zerbricht! So hatte einmal Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff den jungen Nietzsche »unmæglich« gemacht 51 , jetzt wiederholt sich ± in sehr anderen Regionen ± dasselbe, als Max Weber die »Revolution in der Wissenschaft« in seinem bekannten Mçnchener Vortrage niederschlågt. 52 Er, der Revolutionår gegençber der alten bçrgerlichen Ordnung ± er, der sich nicht gescheut hat, die Ehe seiner Eltern, weil er sie fçr keine wahre, freie, gute hielt, zu zerbrechen; er, der jenem wilhelminischen Berlin, in dem er als Knabe groû geworden ist, so tief fremd war, weil ihm jene bigotte Verbindung von modernstem Realismus und religiæs-gebundenem Konservativismus in den Tod zuwider war: er wird jetzt der Sprecher formaler wissenschaftlicher wertfreier Forschung. Er proklamiert diese reinste Methodik rationaler Skepsis als abendlåndisches Schicksal! Er låût das ganze Gelåchter der Geschichte aufbrechen çber die Toren, die auf Erden je etwas anderes erwarteten als ± nun eben das Alte! »Schwårmer schlagt mir ans Kreuz im dreiûigsten Jahre.« 53 50. M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Religionssoziologie III, 2 f., 6. 51. U. von Wilamowitz-Moellendorff hatte in seinem Pamphlet »Zukunftsphilologie« das Buch »Die Geburt der Tragædie« seines ålteren Schulkameraden F. Nietzsche scharf angegriffen. 52. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: M. Weber, Gesammelte Aufsåtze zur Wissenschaftslehre, 582-613. 53. J. W. Goethe, Venezianische Epigramme Nr. 53: »Jeglichen Schwårmer schlagt mir ans Kreuz im dreiûigsten Jahre; Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogne der Schelm.«

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2.5.2 Die Kehrseite der Rationalisierung

Was war denn geschehen? Worin bestand die Revolution der Wissenschaft? Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Es gehært zu den lehrreichsten Beobachtungen, daû seit dem 19. Jahrhundert alles Revolutionåre sich auf dem a- bzw. antichristlichen Felde abspielt! In den modernen Gesellschaftslehren ist das offenbar. Rçckwårts gesehen gilt sogar die Reformation jetzt, im Lager des Protestantismus selbst, als verdåchtig. Kant ist der letzte Aufklårer, der noch glauben kann, eben darin auch ein guter Christ zu sein. Was sich aber in den Gesellschaftslehren des 19. Jahrhunderts vollzieht, das setzt sich nun im Wissenschaftsbegriff fort. Nietzsche gilt als der Anfånger einer notwendigen, einer vom Leben her gefordeten Revolution der Wissenschaft! »Und die Erkenntnis selber: mag sie fçr andere etwas anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett (¼), oder eine Unterhaltung, oder ein Mçûiggang ± fçr mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefçhle ihre Tanz- und Tummelplåtze haben. ­Das Leben ein Mittel der Erkenntnis¬ ± mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fræhlich leben und fræhlich lachen.« 54 »In media vita« (mitten im Leben) heiût die Ûberschrift zu allem, was Nietzsche die Deutschen lehrte ± der Mensch, frçher »gutartig«, ist jetzt ein »miûtrauisches Tier geworden, ja, der Mensch ist jetzt bæser als je.« Und der Beweis? »Weil er jetzt eine Wissenschaft hat ± nætig hat«. 55 Der Mensch hat den Instinkt verloren, den jedes Tier hat, solange es gesund ist, fçr das, was sein Leben gefåhrdet oder es steigert; der moderne Mensch hingegen hat nun ± statt des Instinkts ± die »Wissenschaft« als Mittel zur Orientierung gemacht. Er ist in Gefahr, instinktlos zu werden. Er ist in Gefahr, nicht mehr zu leben! Das einzige, was die Wissenschaft gebracht hat, ist etwas Negatives, die Erkenntnis, daû Gott tot ist; »das græûte neuere Ereignis ± daû ­Gott tot ist¬, daû der Glaube an den christlichen Gott unglaubwçrig geworden ist ± beginnt bereits seine ersten Schatten çber Europa zu werfen«. Nun ist »jedes Wagnis des Erkennenden (¼) wieder erlaubt, das Meer, unser Meer, liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ­offenes Meer¬«. 56 Das ist der Tenor, der jetzt die Goethes Werke, Bd. I, 179. Vgl. PM I, 633; GA I, 187; NW 2, 149.304 und an mehreren unveræffentlichten Stellen. 54. F. Nietzsche, Die fræhliche Wissenschaft, Aph. 324, Naumann / Kræner, Taschenausgabe Bd. 5, 245 (= Schlechta II, 187 f.; KSA 3, 552 f.). 55. F. Nietzsche, ebd., Aph. 33, Naumann / Kræner, Taschenausgabe Bd. 5, 73 (= Schlechta II, 62; KSA 3, 404). 56. F. Nietzsche, ebd., Aph. 343, Naumann / Kræner, Taschenausgabe Bd. 5, 272 (= Schlechta II, 205 f.; KSA 3, 573 f.).

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Generation beherrscht, die mit dem Zarathustra im Tornister in den Weltkrieg zieht, die dort den ihr vorausgesagten Kontakt mit dem Leben wiederfindet, und zwar einem Leben, das insofern neu ist, als çber ihm nun erst ganz wahr und mitleidlos jene helle Sonne der Erkenntnis aufgeht, »daû Gott tot ist«. Jetzt erst, dadurch, durch diesen radikalen Atheismus, wird der Wert des Lebens freigesetzt! Noch ein Schritt ± und das andere Ufer ist erreicht: das neue Leben, das ohne Gewissen, ohne schlechtes Gewissen sein wird, weil es endlich mit dem bæsen Traum Gott fertig ist. Das ist die Front, der sich Max Weber auf einmal ± als wåre sie çber Nacht aus den Schçtzengråben des Weltkriegs geboren ± gegençbersieht. Eine Schar der Toten und der Lebendigen ± wie es sie so (abgesehen vielleicht von den Studenten nach den Freiheitskriegen) noch nie in Europa gegeben hat. Erich von Kahler hat in seiner Schrift »Der Beruf der Wissenschaft«diese Position herausgestellt. 57 Sie låût sich etwa so charakterisieren: Es gab einmal ein wahrhaft einheitliches Menschenbild im Sinne der geistigen Existenz. Das ist die einmalige Leistung des Griechentums. Die »platonische Idee (¼) bedeutet (¼) nichts anderes (¼) als die Ewigkeit oder Gættlichkeit des Lebendigen oder besser noch das Lebendige selbst in seiner tiefsten Tiefe, seiner Gættlichkeit« (12 f.). »Ursache und Urgrund sind eins«, und die dialektische Methode stæût die »lebendigen Dinge durch Umstellen, Umzirken, Einzwången allmåhlich in ihre eigene Tiefe und Einzigkeit, in ihren spezifischen Grundsinn.« Das bedeutet also, wenn ich die Sinnhaftigkeit entdecke, dann habe ich damit auch die Frage beantwortet: Warum ist das Sein und nicht vielmehr das Nichtsein. 58 Die Frage nach dem Sinn des Daseins ist zugleich die Frage nach seiner »Ursache«. Und gerade auch die Methode, das »erotische Gespråch« (13), also jenes gemeinsame Ausgerichtetsein von Menschen auf das çber sie Hinausliegende, das EinsWerden im Eros, also im Streben nach diesem Jenseits, gehært als Weg zum Finden hinzu. Vergleichen wir etwa mit der Szenerie in Platons Phaidros ± dem Gang des Sokrates mit Phaidros vor die Stadt hinaus ± die kçhle, sachliche und bewuût unpersænliche Sphåre in einem medizinischen Institut. Oder (um ein nåherliegendes Beispiel zu nehmen) vergleichen wir ein neutestamentliches Seminar çber das Abendmahl ± mit genauer Quellenscheidung, philologisch exakter Vergleichung der Ûberlieferungen, der inneren Tendenz der Texte ± mit dem »Abendmahlsgespråch« selbst, mit diesem nun in der Tat wiederum dialektischen Pro57. E. von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920. Seitenangaben im Text. 58. Siehe S. 237, Anm. 21.

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zeû, dieses Mysterium kundzumachen, dann erschlieût sich uns in einem Moment die ganze Problematik jener jungen Generation. Wo ist der Sitz im Leben? So hatten schon Bergson, Dilthey und vor allem Schopenhauer gefragt. Jetzt aber læst der Weltkrieg eine Krise aus, die auch auf dem Gebiet der Wissenschaft zur »Revolution« wird. Wåhrend das Mittelalter und auch die groûen rationalistischen Systeme 59 noch jenen Zusammenhang von Sein und Idee wahren, vollzieht sich mit Kant der verhångnisvolle Umschwung. Kant vernichtet den »letzten (¼) Rest« intuitiven, das heiût aber ganzheitlichen Denkens, er vernichtet »die metaphysische Grundsubstanz« (15). Nunmehr gehen die beiden Urfragen: Ursache und Urgrund ± auseinander, die Frage nach der Ursache fçhrt in die Richtung der unendlichen Zeit, die nach dem Urgrund in die ebenso unendliche des reinen Raumes. Die Folge ist die »immer wachsende Bevælkerung (¼) von (¼) zuchtlosen (¼) Begriffen«, die nun zur »unendlichen Zerspaltung und Spezialisierung« fçhren, das heiût aber zu dem Prozeû der »Intellektualisierung des Lebenswillens« 60 (16). Typisch dafçr ist »der moderne Begriff«. Aber wåhrend in der Antike die »Generalisierung«, das heiût Rçckbesinnung auf den gættlichen Urgrund zur »Spezifikation« fçhrt, fçhrt »die moderne ­Spezialisierung¬« zur Abstraktion. (18) Der Begriff ist lebensfeindlich geworden. Darum muû die »alte Wissenschaft« mit jeder Bewegung, die sie auf ihr »Ziel« hin tut, nåmlich einer begrifflichen Gesamterfassung der Welt, sich »mehr und mehr davon (¼) entfern(en)«. Das »Leben« drångt chaotisch herauf, wåhrend die »begriffliche Systematik« (21) dahinwelkt. Max Weber geht philosophisch immer noch von der Trennung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften aus! Aber diese Trennung von Geist und Natur 61 wird gerade angezweifelt. Sie ist der im Prinzip gesetzte Zerfall der Einheit. Wer die Welt wieder als Organismus sieht, kann im Natçrlichen nichts Ungeistiges und im Geistigen nichts Abstraktes sehen. »Vernunft (¼) ist (¼) keine Feindin der Natur (¼), sondern die verdichtete Natur selbst.« 62 Die græûte Schæpfung des Geistes aber ist der Staat, er mçûte neu begriffen werden als das Symbol der lebendigen Ganzheit, und zwar eben der vælkische Staat, der seine Norm gewinnt, indem er die »Entartung« als Verfall begreift. »Der Kampf gegen [die Entartung] (¼) ist (¼) nur dem Staat mæglich (¼), aber auch nur dem Staat von besonderen und festzustellenden Bedingungen« (12). Gemeint ist der Staat, der wieder Wil59. 60. 61. 62.

Iwand schreibt: Probleme. Kahler schreibt: »Lebensstoffs«. Handschriftliche Randnotiz: »Schelling«. K. Hildebrandt, Norm und Verfall des Staates, Dresden 19201 , 108. Seitenangaben im Text.

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len des »einen« ist. Aber demgegençber wird der moderne Staat schon mehr und mehr »verantwortungslos«. »Die Aktivitåt des Staates wird (¼) mehr in die Maschine hineingeschoben.« Gerade dieser »Staat als Maschine« wird immer »vollkommener«, je mehr zu ihrer »Bedienung (¼) pflichttreue, wenn auch gering begabte Angestellte (¼) gençgen. (¼) Gleichzeitig wird der Bedarf und der Andrang von Angestellten immer græûer. So wird das System und das entsprechende Erziehungswesen durch ein mechanisches Aussiebungsverfahren ergånzt, welches nur solches ­Material¬ durchlåût, das in selbstloser Wissensstopfung seine Eignung zum mechanischen Rådchen der Maschine erweist« (176). Mit dem »Mit dem Pæbel der Gegenwart mçsse irgendeine Napoleonische oder sonstige Weltkrise aufråumen.« 63 Das sind nur ein paar Beispiele jener Situation, der sich Max Weber gegençbersieht. Denn diese Art von neu heraufziehender »Wissenschaft« ist zugleich Glaube und Politik. Dahinter steht ± wie bei Plato ± eine neue, wenn auch verånderte, vom Organismusgedanken ausgehende Metaphysik und ebenso der Anspruch, daû jede geistige Entscheidung eine politische involviert, insofern als aus diesen geistigen Zentren die neuen Kader der den Staat formenden »rassisch fçhrenden« Menschen hervorgehen werden.

2.5.3 Wissenschaft als Beruf

Max Weber hat seinen Vortrag: »Wissenschaft als Beruf« 1919 im Mçnchen der ersten Revolutionszeit gehalten. Er sieht den modernen åuûeren Vorgang wissenschaftlicher Existenz in einer schweren Krise begriffen. Der »Geist«, der in den »kapitalistischen und zugleich bçrokratisierten« Universitåten Amerikas herrscht 64 , ist ein anderer als bei uns. Geblieben ist hier wie da der Hazard, ob es einem Dozenten gelingt, die Stelle eines Ordinarius zu erlangen. Daran liegt es dann auch, daû »so viele Mittelmåûigkeiten an den Universitåten eine hervorragende Rolle spielen« (585). Hæchst bedenklich wird die Sache aber erst dann, wenn »Parlamente oder (¼) revolutionåre Gewalthaber aus politischen Grçnden eingreifen« (586). Das Hauptproblem heiût: Lehre und Forschung! Noch viel problematischer liegt es aber auf der inneren Seite: Die Wissenschaft ist »in ein Stadium der Spezialisierung eingetreten (¼), wie es frçher unbekannt war«, und das »in alle Zukunft so bleiben wird. Nicht nur 63. Wiedergabe der Position Hildebrandts durch E. Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, in: ders., Aufsåtze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Gesammelte Schriften, Band IV, hg. von H. Baron, Tçbingen 19251 , 660. 64. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsåtze zur Wissenschaftslehre, 585. Seitenangaben im Text.

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åuûerlich, nein (¼) innerlich liegt die Sache so: daû der Einzelne das sichere Bewuûtsein, etwas (¼) ganz Vollkommenes auf wissenschaftlichem Gebiet zu leisten, nur im Falle strengster Spezialisierung sich verschaffen kann« (588; Hervorhebung von Iwand). Nur so kann er das Bewuûtsein haben: Hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird! Ohne diesen »Rausch«: »Jahrtausende muûten vergehen, ehe du ins Leben tratest und andere Jahrtausende warten schweigend« (589) ± daû nun eben gerade eine bestimmte Formel, eine bestimmte Konjektur gefunden wird ±, ist der »Beruf« der Wissenschaft, diese eigentçmliche, uns verzehrende Leidenschaft der reinen Hingabe an die Sache, nicht zu erfassen. Man darf darum nicht die Wissenschaft als eine »geistlose« Sache ansehen, wo es wie in einer »Fabrik« zugeht, denn ohne daû uns etwas »einfållt«, ohne Intuition, gibt es auch keine Forschung. »Der Dilettant unterscheidet sich vom Fachmann (¼) nur dadurch, daû ihm die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt« (590). Qualitativ sind die Eingebungen des Kçnstlers und des Wissenschaftlers nicht verschieden, beide sind »Rausch« (Mania) und »Eingebung«. Weil dem so ist, hat nun »ganz begreiflicherweise gerade bei der Jugend« eine »Einstellung« eingesetzt, die die Wissenschaft »in den Dienst« zweier »Gætzen« stellen mæchte: der »Persænlichkeit« und des »Erlebens«. Persænlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat aber nur der, »der rein der Sache dient« (591). Jeder Versuch, Erkenntnisse durch »Erleben« zu ersetzen, ist Zerstærung wissenschaftlicher Strenge. Wissenschaft hat etwas Tragisches an sich (im Unterschied zur Kunst), die Persænlichkeit muû zurçcktreten, ihre Leistung sich çberflçssig machen, das ist der Sinn des Fortschritts in der Wissenschaft. Dieser wissenschaftliche Fortschritt ist nur ein »Bruchteil (¼) jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen, und zu dem heute (¼) in so (¼) negativer Art Stellung genommen wird« (593). Max Weber weiû, daû zunehmende Intellektualisierung »nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen (¼) bedeutet« (594). Es bedeutet, daû, wenn man nur wissen wollte, es auch wissen kænnte. Daû es keine »geheimen Måchte« gibt, die sich nicht ergrçnden lassen, daû man »im Prinzip alle Dingen beherrschen kann« (594). 65 Das aber bedeutet: »Entzauberung der Welt«. Diese fortschrittsglåubige Welt kann mir nun ± das ist Tolstois Frage ± eine Sache nicht beantworten: den Sinn des Todes. Es gibt in ihr zwar le65. Weber schreibt: »¼ daû man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren kænnte, daû es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Måchte gebe, die da hineinspielen, daû man vielmehr alle Dinge ± im Prinzip ± durch Berechnen beherrschen kænne«.

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bensmçde, aber nie lebensgesåttigte Menschen. Die Wissenschaft kann die vom Tode heraufsteigende Frage nach dem rechten Ethos nicht læsen. Sie liegt auûerhalb ihrer. Frçher ± im Griechentum ± war allerdings die ethische Frage eine solche des Wissens. Heute ist es umgekehrt: »Die Gedankengebilde der Wissenschaft sind ein hinterweltliches Reich von kçnstlichen Abstraktionen, die mit ihren dçrren Hånden Blut und Saft des wirklichen Lebens einzufangen trachten (¼). Hier im Leben aber, in dem, was fçr Platon das Schattenspiel (¼) war, pulsiert die wirkliche Realitåt« 66 (596 f.). Grund dafçr sind der Begriff (Sokrates) und das Experiment (Lionardo). Zunåchst steht noch dahinter der Glaube, hier den Weg zu Gott zu finden. Das ist heute endgçltig gewichen. »Wer ± auûer einigen groûen Kindern, (¼) glaubt heute noch, daû Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik (¼) uns etwas çber den Sinn der Welt (¼) lehren kænnten«? (597) Und vollends »die Wissenschaft als Weg ­zu Gott¬? Sie, die spezifisch gottfremde Macht? Daû sie das ist, darçber wird (¼) in seinem (¼) Inneren heute niemand im Zweifel sein« (598). Weber meint durchaus, daû »Erlæsung vom Intellektualismus« (597) der Wissenschaft Grundvoraussetzung ist fçr die Gemeinschaft mit dem Gættlichen, aber ± nicht auf dem Wege, das Irrationale nun in die Wissenschaft als Faktor einzusetzen. Weber verteidigt grundsåtzlich die Normblindheit der Fachwissenschaft: Medizin erhålt das Leben, aber ob sie es erhalten soll, das sagt sie nicht! Technik ist angelegt auf Beherrschung der Welt ± aber ob wir sie beherrschen sollen, das bleibt eine offene Frage. Ob das Reich der Kunst nicht vielleicht ein Reich diabolischer Herrlichkeit sei ± das wird nicht gefragt! Die Sinnfrage ist immer schon als positiv beantwortet vorausgesetzt. Ob das Dasein als solches Sinn hat, darauf antwortet die Wissenschaft nicht (und kann sie nicht antworten). Verlangen kann man vom akademischen Lehrer nur »intellektuelle Rechtschaffenheit« (613). Das bedeutet Einsicht, daû »Tatsachenfeststellung, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte (¼) einerseits, und anderseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte (¼) ± daû dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind. Fragt er dann weiter, warum er nicht beide im Hærsaal behandeln solle, so ist darauf zu antworten: weil der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines Hærsaals gehæren. (¼) Wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, (¼) hært (¼) das volle Verstehen der Tatsachen auf« (601 f.). Wissenschaft ist also der neutrale Boden, auf dem sich Glåubige verschiedenster Art bewegen 66. Iwand notiert in Klammern im Text: »Hæhlengleichnis.«

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kænnen. »Wenn der Hergang ohne (¼) çbernatçrliche (¼) Eingriffe erklårt werden solle«, dann »mçsse (¼) er so, wie sie es versucht, erklårt werden« (603). Max Weber verteidigt also die wertfreie Wissenschaft, die »Unmæglichkeit ­wissenschaftlicher¬ Vertretung von praktischen Stellungnahmen« (603). Sie ist damit fçr ihn gegeben, daû »die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlæslichem Kampf untereinander stehen« (603). »Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Gættern und Dåmonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem Apollon und vor allem jeder den Gættern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. Und çber diesen Gættern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiû keine ­Wissenschaft¬. (¼) Andere Måchte als die Katheder der Universitåten haben da das Wort.« (604) Die Entscheidung, wer Gott und wer Teufel ist, liegt beim Einzelnen, »und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches fçr ihn der Gott und welches der Teufel ist« (604) Lange Zeit ist diese »Vielheit der Werte« verdeckt worden; »der groûartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensfçhrung, der aus jeder religiæsen Prophetie quillt, hatte diese Vielgætterei entthront zugunsten des ­Einen, das not tut¬ (¼). Heute aber ist es religiæser ­Alltag¬. Die alten vielen Gætter, entzaubert und daher in Gestalt unpersænlicher Måchte, entsteigen ihren Gråbern, streben nach Gewalt çber unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein« (604 f.). Aber es ist unser Schicksal, daû wir uns dessen wieder deutlicher bewuût werden, »nachdem durch ein Jahrtausend die angeblich oder vermeintlich ausschlieûliche Orientierung an dem groûartigen Pathos der christlichen Ethik die Augen dafçr geblendet hatte« (605). Max Weber sieht also zwei Grenzen der modernen Wissenschaft: Einmal das Christentum mit seiner Læsung der Normfrage ± aber diese Zeit ist dahin. Auf der anderen Seite den Versuch, die Wissenschaft als Antwort auf die neue Form der »Lebensfrage« zu benutzen ± das wåre das Ende der Wissenschaft. Zwischen Scylla und Charybdis muû diese »Skepsis« ertragen werden. Die Wissenschaft kann nur bewuût machen, daû das Leben Entscheidung ist, weil die letzten Standpunkte unausgleichbar sind! »Bedenkt: der Teufel, der ist alt. So werdet alt, ihn zu verstehen!« (609) 67 Noch einmal Tolstoi: »Wer beantwortet (¼) die Frage: was sollen wir 67. J. W. Goethe, Faust II, V. 6817 f.

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denn tun?« (609; vgl. 594 f., 598), also welchem Gott wir dienen und welchen wir verwerfen sollen? Nur »ein Prophet oder ein Heiland«. »Wenn der nicht da ist oder wenn seiner Verkçndigung nicht mehr geglaubt wird, dann werden Sie ihn ganz gewiû nicht dadurch auf die Erde zwingen, daû Tausende von Professoren als staatlich besoldete oder privilegierte kleine Propheten in ihren Hærsålen ihm seine Rolle abzunehmen versuchen.« Es wird damit nur ein Tatbestand verschleiert, der nicht verschleiert werden dçrfte: daû »der Prophet, nach dem sich so viele unserer jçngsten Generation sehnen, (¼) nicht da (¼) ist« (609). Daû wir in einer »gottfremden, prophetenlosen Zeit« leben, kann und soll nicht durch solche »Surrogate« çberdeckt werden. Auch die Theologie ist kein Ersatz. Denn alle Theologie »ist intellektuelle Rationalisierung religiæsen Heilsbesitzes« (610), im Westen dank des Hellenentums, im Osten durch das indische Denken. Jede Theologie geht von einem ihr vorausgehenden Haben oder Sein von Offenbarung aus. Trotz oder vielmehr infolge der Theologie ist die Spannung zwischen der Wertsphåre »Wissenschaft« und der des religiæsen Heils unçberbrçckbar. Nun ist aber noch nie »eine neue Prophetie dadurch entstanden (¼), daû manche moderne Intellektuelle das Bedçrfnis haben, sich in ihrer Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumæblieren, und sich dabei dann noch daran erinnern, daû dazu auch die Religion gehært hat. (¼) Das ist einfach: Schwindel oder Selbstbetrug« (611). Wer das will, »wer dies Schicksal der Zeit nicht månnlich ertragen kann, dem muû man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die çbliche æffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geæffneten Arme der alten Kirchen zurçck. Sie machen es ihm ja nicht schwer.« (612) Aus dem Jesaja-Orakel (Jes 21,11 f.) wird der Schluû gezogen: »daû es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist«, laût es uns »anders machen: an unsere Arbeit gehen und der ­Forderung des Tages¬ gerecht werden ± menschlich sowohl wie beruflich« (613). Wohl nirgend sonst sind die entscheidenden Fragen, auch die theologisch-dogmatischen, so klar in dieser Epoche aufgezeigt wie in diesem Vortrage. Auf der einen Seite der Ruf nach Revolution der Wissenschaft: sie muû wieder Antwort sein auf letzte Fragen, sie muû wieder Sinngebung des Lebens sein. Und demgegençber ein kçhles, ein kaltes Nein. Wer es anders will, gehe in die Kirche. Entzauberung der Welt ist unser Schicksal, wer es nicht ertragen kann, versuche es sich nicht zu verdecken durch die Flucht in den Mythos. Max Weber hat in gewisser Weise recht gehabt. Die deutsche Jugend hat gegen ihn optiert. Sie hat den Fçhrer gesucht und gefunden, sie hat eine

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neue Religion kreiert, eine grausame, tief heidnische, aber sie hat diesem Glauben letzte Opfer gebracht. Es ist mehr als eine theoretische Debatte gewesen, was sich hier vollzog. Es fiel eine geistige Entscheidung von noch nicht abzusehenden Ausmaûen. Und uns bleibt die peinliche Frage, ob das, was sich heute vollzieht, nicht umschrieben sein kænnte mit den Worten: »Wer dies Schicksal unserer Zeit nicht (¼) ertragen kann«, der »kehre lieber (¼) in die weit und erbarmend geæffneten Arme der alten Kirchen zurçck« (612)! Letzte Phase dieses ± nun eben verlorenen Kampfes. Aber ± konnte Max Weber hoffen, zu bestehen? Kann man mit dem Hinweis auf die Entzauberung der Welt den neu erstandenen Kampf der Werte eliminieren? Wo bleibt diese ganze Seite der Sache, die er doch sieht? Was heiût hier Schicksal? Ist die Wissenschaft diesem Schicksal entnommen? Kann sie in der neutralen Sphåre jener intellektuellen Rechtschaffenheit existieren, die Max Weber ihr freikåmpfen mæchte? Wo bleibt jene intellektuelle Rechtschaffenheit, wenn sich einer jener Werte nun eben doch durchsetzt und nun die Wissenschaft bzw. deren Tråger zwingt, nicht nur ja zu sagen, sondern ihn als den hæchsten zu beweisen? Kann man wirklich so einfach çber jene Epoche hinweggehen, da eine »ethisch-religiæse Lebensfçhrung« das »eine, das not tut« (604 f.), herausstellte? Max Weber kommt nicht weiter als bis dahin, daû die Wissenschaft, um Wissenschaft zu bleiben, sich darauf beschrånken mçsse, dem einzelnen die Entscheidung zu çberlassen und sie ihm frei zu halten. Aber hatte jene junge Generation, die von den Schlachtfeldern Europas heimkehrte, nicht recht, wenn sie darin nur eine »Privatisierung« jener Entscheidung sah, gerade also das jeweilige »Hinterherkommen« das bloûe »Rechtfertigen schon ± auûerhalb der Wissenschaft ± gefallener Entscheidungen«? Wie, wenn jene Nçchternheit der ratio, die Weber intellektuelle Rechtschaffenheit nennt, bereits schon selbst eine bestimmte »Entzauberung der Welt« im Sinne des ersten Gebotes voraussetzte? Wie, wenn ohne den Glauben an den Gott dieses Gebotes die ratio ihre eigene Rechtschaffenheit und Nçchternheit eben nicht behalten kann, sondern »besessen« wird? Der Wahn, die ratio kænnte selbst und aus sich selbst das sein und bleiben, was sie ist, ist zerbrochen! Es gehært auch zur einfachsten Wissenschaft ein Wahrheitsbegriff, der nicht ein intellektuelles, sondern mehr: ein existentielles Opfer fordert. Der einfachste Satz gilt nicht per se, sondern er gilt nur, sofern ich mich auch zu ihm bekenne. Nicht Propheten auf dem Katheder sind erforderlich, wohl aber solche Professoren, die entschlossen sind, von dem als richtig Erkannten nicht zu weichen, es notfalls auch zu bekennen. Dazu aber mçûte der Sinn des wissenschaftlichen Berufs weiter reichen als nur bis zur intellektuellen Rechtschaffenheit! Es muû doch

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deutlich sein, wieweit die ratio selbst sachbezogen ist! Letzte, freie und absolute Werte zu setzen, die sich gegenseitig aufheben, das eben heiût ja einen irrationalen und im letzten Grunde dann doch immer wieder anziehenden Bezirk zu schaffen, der nicht nur die Grenze, sondern mehr: die Sinnlosigkeit von ratio als solcher bedeutet.

Kapitel 3: Die Krise der Wissenschaft und das »Weltbild der Zukunft« 1

1. Karl Heim 1.1 Die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft 1.1.1 Max Webers rationales Wissenschaftsbild und die Frage nach Lebensnåhe

Geistig sieht die Welt ± zum mindesten in Deutschland ± nach dem ersten Weltkrieg in einem solchen Maûe anders aus, als sie sich heute pråsentiert, daû es schwer ist, sich in die Fçlle geistiger Bewegungen, revolutionårer Durchbrçche und jener Einbrçche von Outsidern zu versetzen, die unmittelbar, nachdem die Waffen ruhen, auf dem Plan sind. Es gibt kein Problem der »Reaktion« oder gar der »Restauration«, die Gefahr liegt auf der anderen Seite: sie liegt darin, daû revolutionåre, grundstçrzende Tendenzen in Wissenschaft und Kunst ± dort ist es die Lebensphilosophie, hier ist es die Auswirkung des Expressionismus ± alle gewordenen Formen zerbrechen und formlos, wie wenn eine riesige Springflut çber die Landschaft flutet, erst einmal alle gezogenen Gråben und Dåmme einebnen und nivellieren. Alles Chaotische birgt zweierlei in sich, Untergang und Neuwerdung, Niederreiûen und Aufbauen. Nur wo das erste gewagt wird, kann das zweite getan werden. Die Generation, die wachen Sinnes den ersten Weltkrieg durchlebte, deren bçrgerliche Lebens- und Denkformen durch die Begegnung mit dem Tode, durch den Zwang zur primitiven Existenz, durch das Einbrechen letzter Fragen und Næte, die sonst abgedåmmt erschienen, zersplitterten, um einer groûen Aporie, einer tiefen Ratlosigkeit zu weichen, fing nun in der Tat »von vorne« an. Sie war sich zudem bewuût, daû irgendwie das vorangegangene Jahrhundert »zu Ende«, daû der Krieg wie eine Erlæsung aus der zunehmenden Langeweile war, die sich um die Jahrhundertwende in alle geistigen Bezirke ausdehnte ± endlich kommt es zur 1.

Ûberschrift Iwands.

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Begegnung mit dem Leben. Sie hat keine Vorbilder heroischen Kriegserlebens wie die Generation, die 1939 hinauszog, gehabt, sie ist nicht am Beispiel der »Weltkriegssoldaten« und unter den Klången leerer Nationalhymnen erzogen worden ± sie ist in einem bestimmten Sinne noch »unschuldig« dem Krieg und seinem furchtbaren Geschåft gegençber. Sie »erlebt« ihn noch, zum mindesten zuerst, ehe er sein »modernes«, sein »technisches«, sein »amerikanisches« Gesicht enthçllt. Es kontrahiert sich das Leben im Moment, wenn es sozusagen zwischen Tod und Leben hångt, jeder Tag nach der Schlacht ist gedrångt mit neuer Lebensfçlle, und die »Kameradschaft«, die Gemeinschaft junger Månner, die dieses Erleben zusammen durchmachen, erschlieût långst nicht mehr gekannte Kråfte des »gefåhrlichen Lebens«. Von daher ergibt sich ± wie schon gesagt ± die »Krise der Wissenschaft«. 2 Man empfindet auf einmal ± was nur wenige vorher gesehen haben ±, daû die Wissenschaft den Kontakt verloren hat mit dem Leben. Daû sie ihr eigentliches, ihr griechisches Ideal an das Fachwissen verraten hat: Weisheit als Lebensnåhe! Als einzige Lebensnåhe ± denn nur der Erkennende ist dem Sein nahe, wåhrend der bloû sinnliche Kontakt mit der Wirklichkeit im Schein verharrt. Jetzt, mit dem durch den Tod geschårften Blick fragt die Generation nach dem bleibenden Sein, nach dem, was wirklich den Namen Sein verdient (on ontos on!). Eine junge Generation bezieht die Universitåt, die etwas davon gerochen hat, daû die Wurzel aller Wissenschaft die Metaphysik ist, also jene sowohl universale als auch radikale Fragestellung an das Sein, die seine Erscheinungen transzendiert, um die Einheit zu entdecken. Vielleicht liegt es auch daran, daû der Weg der abendlåndischen Philosophie ans Ende gekommen scheint. Die Philosophie hat alle qualitativen Bestimmungen des Seins auf quantitative zurçckgefçhrt, Ton, Farbe, Licht, Wårme ± alles sind berechenbare, auf mathematische Formeln zu bringende Wellenbewegungen. Selbst das letzte Feste, das Atom, Grundposition des Materialismus, wird als Energie verstanden und aufgelæst. Die Empiriokritizisten Ernst Mach, Richard Avenarius und Wilhelm Ostwald ziehen die letzten Schleier von dem Geheimnis der »Materie«, an die sich die Aufklårung des 19. Jahrhunderts, an die sich Karl Marx und Ernst Håckel, Ludwig Feuerbach und August Strindberg, noch klammerten. Man hat aufgehært, Idealist zu sein, aber auch der andere Felsen, auf den man gesprungen ist, der scheinbar sichere Grund des Materialismus, gibt nach, weicht, schmilzt, wie eine Scholle im 2.

Vgl. H. J. Iwands Aufsatz: Die Krisis des Wissenschaftsbegriffs und die Theologie, GA I, 62-74.

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Treibeis; es bleibt nichts anderes als das Leben selbst. Oder ± anders gesagt ± der Mythos, die Vorform jeder neuen Metaphysik. Und hier sehen wir nun noch einmal Max Weber ± sich gewaltig dagegen anstemmend, sein rationales Wissenschaftsbild dagegen verteidigend. Denn Abkehr von der ratio ± das hieûe nach seiner gerade in der Soziologie entwickelten Gesamtschau: Flucht vor dem uns aufgetragenen Beruf, Flucht vor unserer ureigensten Bestimmung. Und so kommt es zu jenem berçhmten Vortrage, der den Titel trågt »Wissenschaft als Beruf« und der als solcher ein Dokument der Zeit geworden ist. Ihm gegençber steht ein Sprecher der jungen Generation, aus dem George-Kreis kommend, Erich von Kahler mit »Der Beruf der Wissenschaft«. 3 Man muû in ein paar Såtzen die »Gegenposition« zu Max Weber aufzeich nen: »Der besondere Geist des Deutschen mçsse von dem lebendigen Fçhrer gezeigt werden als die Norm und die Richtung, wåhrend das richtungslose Getobe der heutigen Phantasten noch schlimmer sei als die alte Wissenschaft« (gemeint ist Kant). 4 Oder: »Lebendig einen Zusammenhang und lebendig ein Gesetz zu suchen, ist die Aufgabe«. 5 Im Unterschied zum Griechentum kann die Aufgabe der deutschen Bildungsreform nicht mehr gesehen werden im Bezug »auf die eindeutig ruhende Einheit des Demiurgen, sondern (¼) auf die flieûendruhende Einheit des Lebens«. 6 Es gilt damit Ernst zu machen, daû die Periode des Kapitalismus und des Sozialismus abgelaufen ist. Alles ist erfçllt von Durst »nach Einheit der Weltanschauung und nach Einheit eines lebendigen Geistes.« 7

1.1.2 Heims seherische Frçhschrift: »Das Weltbild der Zukunft«

In diese Fragestellung gehært nun ein Theologe hinein, der wie kein zweiter dieses Thema zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, so weitgehend, daû er wie einer, der ins Meer springt, um einen Ertrinkenden zu retten, sich fast allzu weit vom Festlande jeder Theologie und theologischen Wissenschaft entfernt ± aber er hat es gewagt, der Frage nach dem Sinn der modernen, der abendlåndischen Wissenschaft bis in die letzten Schlupfwinkel nachzugehen: das ist der Tçbinger Theologe Karl Heim (1874-1958). Alles, 3. 4.

5. 6. 7.

E. von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920. Wiedergabe der Position Kahlers durch E. Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, in: ders., Aufsåtze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Gesammelte Schriften, Band IV, Hg. von H. Baron, Tçbingen 19251 , 670. Troeltsch schreibt: »Das besondere Gesetz«. Kahler, a. a. O., 35. Zitiert nach Troeltsch, a. a. O., 670. Kahler, a. a. O., 45. Zitiert nach Troeltsch, a. a. O., 670. Troeltsch, a. a. O., 669 f. Troeltsch schreibt: »eines lebendigen Gesetzes«.

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was er in seinem langen, arbeitsreichen Leben geleistet hat, ist in seiner ersten Konzeption beschlossen: dem »Weltbild der Zukunft«, einem heute fast vergessenen Buch, das Heim im Jahre 1904 erscheinen låût. 8 Wenn man so will, ein von Visionen erfçlltes und darum eben nicht wirksames Buch. Aber heute lesen wir es mit anderen Augen. Heim nennt es »eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie«. Es trågt ein Motto aus den Upanischaden: »Seele nur ist dieses Weltall«. Es kçndigt damit bereits sein tiefstes Thema an: Alle vermeintlichen Gegensåtze sind nur Umtauschverhåltnisse, sie sind erstarrt, bringt man sie wieder in Fluû ± und das eben ist die Aufgabe des Denkens ± so zerstært man den Mythos, als ob wir es irgendwo und irgendwie mit Gegebenem zu tun håtten, dann wird es mit der ganzen abendlåndischen Welt zugehen wie in einem Frçhling, das Eis schmilzt und alles beginnt wieder zu flieûen. Der grauenvolle Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, der uns fast wahnsinnig macht und an allem zweifeln låût, was ist, ist selbst reif, bezweifelt zu werden. Er ist selbst nur ein Mythos. Denn »Seele nur ist dieses Weltall«. Wir stehen also keinem »seelenlosen« Sein von Welt gegençber, sondern wenn es uns seelenlos ansieht, dann darum, weil wir selbst seelenlos sind! Alles ist nur Spiegel ± daû uns die Welt gottlos erscheint, ist nur so, weil wir gottlos sind! Wagt wieder, zu dem »groûen Wurfe Gott Ja zu sagen« (300), und alle Schæpfung wird aufjauchzen, und es wird sein wie an einem neuen Tage, wenn der Mensch in neu gewonnener Unschuld den Zweifel erwçrgt, der ihn an Gott irre machte! Das ist Heims erste Konzeption. Das Weltbild, in dem wir leben, ist verkehrt (wie Hegel schon sagte). Es ist darum verkehrt, weil wir eine Ichsubstanz ± eine denkende, bewuûte ± einem Ding-an-sich, einem vernunftlosen, unbewuûten Sein, gegençbersetzen. Hebt diesen Unterschied auf, der der letzte und schlimmste Mythos ist ± und die Welt wird sich euch in einem Nu verwandeln. Heim nennt vier Faktoren, die seinen Ansatz berechtigt scheinen lassen, einen ganz unerhærten Wandel des Weltbildes in unmittelbarer Nåhe zu vermuten: 1. Reinigung des Kantischen Systems von allen scholastischen Elementen (Ding-an-sich: Ichbegriff); 2. Zersetzung des Ich-Mythos (Avenarius; Psychologie: heute etwa Freud!); 8.

K. Heim, Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, Berlin 19041 , Wuppertal 19802 . Seitenangaben im Text nach der zweiten Auflage.

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3. die Auflæsung der atomistischen Grundlage der bisherigen Physik; 4. das Suchen nach einer von aller Metaphysik und von allen philosophischen Begrçndungen unabhångigen, in sich ruhenden Glaubensposition (Luther: Glaubstu, so hastu). (5 f.)

1.2 Das Weltbild 9 1.2.1 Die »Hinterwelt« 10

Karl Heim weiû, daû er mit seinem Versuch eines neuen Weltbildes die Tradition des abendlåndischen Denkens in der Wurzel abschneidet. Aber er sieht die Neuzeit in »eine Denkmçdigkeit« hineintreiben, »die in keinem Zeitalter græûer gewesen ist als in dem unsrigen«. Jeglicher Theorie begegnet man mit Skepsis, an Stelle dessen bricht ein »Drang« auf, »sich ins volle Menschenleben zu stçrzen, sich an der Wirklichkeit zu berauschen, nur um alle Fragen zu vergessen. Und doch kænnen wir sie nicht vergessen. Denn hinter allem, was uns erschçttert und entzçckt, lauern sie wie Gespenster, die alten Fragen nach dem Sinn des Seins und dem Urgrund der Wirklichkeit, verfolgen uns wie Furien, låhmen unsern Mut zur Tat.« (16) Also schon 1904 redet man so, nicht erst 1945! Zwei entscheidende Momente haben die Skepsis so groû, so çbermåchtig werden lassen: einmal die Ablæsung der Philosophie durch die Geschichte der Philosophie! Man sieht die Systeme vor sich, die die Menschheit versucht hat, um den Sinn des Lebens zu erfassen, und sieht, wie eins das andere ablæst. »Wir haben keinen Mut, diesen Weg noch einmal zu gehen, der schon so oft gegangen worden ist« (16). Der andere Grund ist ± daû wir leben mçssen. Daû uns die Wirklichkeit nicht loslåût. Aber was ist die Wirklichkeit? Wir kænnen es nicht mehr »ertragen, daû die Welt ein Haufen von Vorstellungs- und Empfindungsknåueln sein soll, die im Menschenschådel eingeschlossen sind, eine traurige Versammlung von Gehirnkapseln und Geistergehåusen, die wie Leuchtbojen im finstern Meer der Wirklichkeit schwimmen« (15). Was meint Heim damit? Er sieht, daû die Welt der Qualitåten immer mehr aufgelæst und çbergefçhrt wird in eine solche der Quantitåten, etwa ein Ton in Schwingungen, eine Farbe in Wellenbewegungen, Sinneswahrnehmungen in bloûe berechenbare Reize etc. Die ganze schillernde, lebendige, wunderbare Wirklichkeit, die uns entgegentritt und bezaubert, wenn wir als Kind ± unbefangen ± in sie eintreten, von der her wir noch leben, wenn 9. Ûberschrift Iwands. 10. Ûberschrift Iwands.

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wir wie der Dichter einen Abend oder einen Morgen besingen oder den ganzen Zauber ihrer Schænheit oder ihres Schreckens erleben ± diese ganze Wirklichkeit verwandelt sich unter den Hånden der modernen Wissenschaft in ein mathematisch-physikalisches System berechenbarer Kråfte und Bewegungen. Und es tritt ein tiefer bæser Schatten zwischen die Sinnenwelt, in der wir zunåchst unbefangen leben, und die Welt des Bewuûtseins, die wir in einem Ich, einem Gehirn lokalisieren. Die Welt fållt auseinander in eine res cogitans (ein denkendes Etwas) und eine res extensa (ein ausgedehntes Etwas, also Materie, Kærper, Raum); beide Welten, die materielle und die bewuûte, geistig sie begreifende fallen auseinander. Die gewisse, reale Welt wird die berechenbare, wissenschaftlich faûbare, rationale ± und dahinter ± fçr immer verloren, aber doch fçr immer Land unserer Sehnsucht ± liegt die Wirklichkeit, die wir in allen sinnlichen Erlebnissen kosten und die wir doch nicht halten kænnen, nach der wir dçrsten, aber die unseren Durst nie stillt; denn wenn wir versuchen, ihrer habhaft zu werden, weicht sie zurçck wie die Welle vor dem sich nach ihr beugenden Tantalus. Das sind die Qualen des modernen Menschen ± die Wirklichkeit ist ihm zur Hinterwelt geworden! Subjekt und Objekt fallen auseinander! Erst hat dieser Mensch gemeint: Wirklich ist die Welt nur so weit, als sie Maû und Zahl ist. Dann aber hat er sehen mçssen, daû Maû und Zahl vielleicht nur im denkenden Ich liegen, dann hat er gemeint, nur dieses, das denkende Ich, das Bewuûtsein, sei Wirklichkeit und alle Welt rings umher nur licht und lebendig, soweit von hier aus ± von diesem Ichbewuûtsein aus ± ein Licht darauf fållt ± und schlieûlich hat er begonnen, auch daran zu zweifeln, denn er hat entdecken mçssen, daû dieses Bewuûtsein vielleicht nur Funktion von unterbewuûten, viel weiter reichenden Reizen und Tendenzen ist. Die alte idealistische These: Bewuûtsein = Wirklichkeit, ist ins Wanken geraten ± und damit die letzten Voraussetzungen, an die sich der Mensch noch halten konnte. Der letzte Mythos læst sich auf ± wie soll der Mensch noch einmal den Weg nach drauûen finden, nachdem er dieses Drauûen gerade (in der idealistischen Philosophie) geleugnet hat? Nur so, sagt Heim, daû man die Frage selbst, die uns Not macht, daû man die Frage, die die ganze abendlåndische Philosophie in Gang gebracht hat, bezweifelt. Daû man den Sinn einer dreitausendjåhrigen Entwicklung selbst als »Erkrankung« erkennen lernt und hier nach Heilung, nach dem Gesundwerden verlangt! Die Philosophie ist fçr ihn eine Erkrankung des abendlåndischen Menschengeistes, denn sie hat uns um die Wirklichkeit betrogen. Sie lebt vom Zweifel, davon, daû wir dahinterkommen mæchten, wie es um die Wirklichkeit bestellt ist. Sie hat uns das Miûtrauen gelehrt in

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die Welt, wie sie uns, wie sie dem Dichter, dem Kind, dem Liebenden erscheint, in die unmittelbar erlebte Welt. Sie hat ein bæses, immer wieder auftauchendes Fragezeichen hinter das Lebendigste gesetzt und hat damit die ganze schæne Welt, in der wir leben, in ein graues Spinnennetz von Funktionen und Relationen verwandelt, das der Mensch wie ein Zauberkçnstler in seinem geheimnisvollen Laboratorium ± genannt Wissenschaft ± »am Finger laufen lieûe«. 11 Daher die Macht der Skepsis: Die Welt ist unsere Welt geworden, aber damit hat sie aufgehært, die Wirklichkeit zu sein, die uns groû und måchtig, lebendig und farbig umfångt und trågt. Heim hat dafçr ein Bild geprågt: »In 1000 Jahren, wenn die Menschheit der Philosophie entwachsen sein wird, da wird man sich vielleicht diese merkwçrdige Geschichte von der Selbsteinkerkerung und Wiederbefreiung des Menschengeistes, die wir jetzt als die Geschichte des menschlichen Tiefsinns bewundern, wie ein unglaubliches Mårchen erzåhlen« (25). Es ist ein unvergeûliches Bild, das den Menschen zeichnete in seinem Versuch, »dahinter« zu kommen. Die Meinung, es gebe solch ein Hinterland, ist die metaphysische Krankheit des Menschen, sein mehr als tausendjåhriges Erkranktsein an der Philosophie. Dadurch hat der Mensch die reale Welt verloren, die »Wirklichkeit«, und dafçr Zahlen, nichts als Zahlen und Relationen in seiner Hand behalten, Quantitåten statt Qualitåten, bis ihn graut vor der furchtbaren Ich-Einsamkeit, in die er durch sein Denken verfallen ist. Das Denken erscheint Heim immer von neuem als die groûe Verirrung des Menschen, nicht einzelne bestimmte Gedanken, nicht das Denken der Moderne, nicht ihr spezifisches Weltbild, sondern das Denken in dieser seiner Funktion, ein »Dahinter« zur Wirklichkeit hinzuzufçgen, sie dadurch »unsicher« zu machen. Nun begegnen wir in der Tat dieser Frage nach dem »Dahinter« an mehr als einer Stelle, sobald wir es mit der Gewiûheit im christlichen Glauben zu tun haben. Es ist ohne Zweifel richtig gesehen, das der Glaube das Dahinter aufhebt, aber nicht etwa eine Hinterwelt, ein Traumjenseits schafft! Gott ist nicht das, was »hinter« diesem Jesus von Nazareth steht (bzw. stand), sondern er ist »in Christo«! Er handelt in seinem Kreuz wie in seiner Auferstehung. So wie auch die Erscheinungen des Auferstandenen nichts sind, wo man dahinterkommen kænnte, ein »Geist ohne Fleisch und Bein« 12 (Lk 24,39), sondern er ist der Gårtner im Garten (Joh 20,15), er ist der Wanderer auf dem Wege nach Emmaus (Lk 24,13-35), er ist der Fremdling am 11. Vgl. J. W. Goethe, Spruch-Abteilung »Gott, Gemçt und Welt« (1815), Vers 1 und Proæmion von »Gott und Welt« (1827), Vers 1, Goethes Werke Bd. I, 357. 12. Vgl. M. Luther, WA 23,261,35 f. Vgl. GA II, 248.

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Strande von Genezareth (Joh 21,4). Denken wir nur an Luthers Est im Abendmahlstreit! Und das Est Luthers war das der Abendmahlsworte: nicht eine spirituell-magische Hinterwelt, sondern »dies ist mein Leib«. Heim hat hier ein Problem fixiert, das aufs engste mit dem Glauben zusammenhångt. Jesus bedeutet eben dies, daû Gott aufhært, das Dahinter hinter den Dingen zu sein!

1.2.2 Die Weltformel 13

Das zweite, was das »Weltbild« Heims charakterisiert, ist die »Weltformel«. Denken heiût fçr Heim »Unterscheiden« (definire), »schæpferisches Setzen von Mauern und Ziehen von Grenzlinien« (32). Sobald wir denkend an eine Gegebenheit herangehen, verwandelt sie sich in ein »Unendliches«. Denn Denken heiût ja, ein Verhåltnis setzen. Man kann gar nicht eine Gegebenheit »denken«, als wåre sie etwas »Letztes«. »Wir haben es çberall in der Welt, soweit wir sehen kænnen, immer nur mit Verhåltnissen zu tun und niemals mit letzten Gegebenheiten, die sich nicht wieder in Verhåltnisse auseinanderfalten lieûen. Alle Einheiten, von denen wir sprechen, sind nur latente, mægliche Verhåltnisse, wie Knospen mægliche Blumen sind und der Sonne harren, die ihre bunte Mannigfaltigkeit erschlieût.« Das heiût also: »Jeder Tropfen, den wir mit der Hand herausschæpfen, verwandelt sich in unserer Hand wieder in ein Meer, das wieder eine neue Unendlichkeit vor uns aufschlieût« (32). Es ist klar, daû Heim, wenn er so redet, im wesentlichen von der modernen Naturwissenschaft herkommt. Er ist darum ein so moderner Denker, weil er der Naturwissenschaft eben nicht den Rang abspricht, den sie im modernen Denken einnimmt. Er reserviert sich nicht ein Rçckzugsgebiet, genannt Personalismus, um dort wie auf einer Insel der Seligen alten Erinnerungen nachzuhången, die in der realen Welt um uns her nicht mehr statthaft wåren. Denn was ist schlieûlich die Person, ist sie etwas Letztes, ein in Menschenleib wie in einem »Fetisch« eingeschlossenes »Ich«? Alle jene Denker, auch die Theologen, die seit Schleiermacher der Meinung sind, im Rçckgang auf das Ich den festen Punkt zu haben, an den man sich halten kænnte, haben noch nicht begriffen, daû auch dies Ich nichts Letztes, sondern nur ein Verhåltnisglied ist ± wenn man nur den Mut hat, sich ein çbergeordnetes Bewuûtsein zu denken, fçr das die verschiedenen Iche nur momentane »Jetzt-Punkte« sind, um von da aus eine Mannigfaltigkeit in einer bestimmten Bewuûtseinswelt zu ordnen! Die Auflæsung aller »Gegebenheiten« in Verhåltnisse nannte Heim die 13. Ûberschrift Iwands.

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»Weltformel«. Bezeichnend dafçr ist die Erkenntnis der Relativitåt der Bewegung bzw. das Unvermægen, einen absoluten Unterschied zwischen Bewegung und Ruhe anzugeben (Beispiel der Zug, der in 15 Minuten von Gæschenen nach Airolo durch den Gotthardtunnel fåhrt! 39) Es ergeben sich fçr Heim drei Verhåltnisse. 1. Das erste nennt er das Grundverhåltnis, es besagt: Jedes Verhåltnis kann, indem es selbst Verhåltnisglied eineren hæheren Einheit wird, als Einheit betrachtet werden. Jede Einheit låût sich als Verhåltnis zwischen niederen Einheiten ansehen, die in ihr selbst enthalten sind. Das Grundverhåltnis ist die Logik des Denkens als solche. Es ist damit gegeben, daû wir zwischen Verhåltnis und Verhåltnisglied unterscheiden. Es ist also nichts anderes als das logische Vermægen der Definition. 2. Die Verhåltnisse, die uns zunåchst entgegentreten, sind solche, die sich als arithmetische Proportionen darstellen lassen (1:2; 3:4). Dies Verhåltnis ist die Konstante. Ihre Glieder sind nicht vertauschbar. 3. Und schieûlich gibt es ± im Unterschied zu den unter (2) erwåhnten »starren« Verhåltnissen ± »lebendige« oder Umtauschverhåltnisse, bei denen wir nicht sagen kænnen, warum das eine so oder so gefaût ist (rechtslinks; oben-unten). Dies sind Verhåltnisse, deren Glieder vertauschbar sind, ohne daû sich das Verhåltnis selbst åndert (43 f.). Das Grundverhåltnis (Verhåltnis zwischen Relation und Relationsglied) kann ebenso als Umtauschverhåltnis auf Grund von Proportionsverhåltnissen verstanden werden wie auch als Proportionsverhåltnis auf Grund des Umtauschverhåltnisses. Das besagt aber zunåchst, daû die sogenannten »Quantitåten« ± die Zahl ± sich als relative Græûen erweisen! Verwandlungen im Ganzen sind nicht mehr feststellbar! »Haben aber (¼) alle unsere råumlichen und zeitlichen Maûe den Charakter von Verhåltnissen oder Proportionen, die sich gleichbleiben, wenn man ihre Glieder mit denselben Zahlen multipliziert oder dividiert, so wird damit unsere ganze Naturwissenschaft zu einer Wissenschaft von Verhåltnissen.« (34) Das heiût: Jene Ding-an-sich-Vorstellung, die als mythischer Rest im Kantianismus çbriggeblieben war, ist durch diese naturwissenschaftliche Vorstellung aufgehoben. Die Mathematik muû ein neues Weltbild erzeugen, in welchem das Atom keine letzte »Gegebenheit« mehr ist, sondern die »kleinste Gegebenheit«, die ebenso eine »unendliche Welt« enthçllt wie das All selbst! »Im Innern ist ein Universum auch«! 14

14. Vgl. oben S. 70, Anm. 11.

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Damit vollzieht sich aber etwas hæchst Ûberraschendes. Die Weltformel wird eine mathematische Formel sein. Der letzte Sinn der Philosophie wird die mathesis universalis (universale Erkenntnis), wie das Husserl damals bereits lehrte. Man vergleiche die groûe Bedeutung der Mathematik fçr die Philosophie çberhaupt! Mathematisch gesehen werden wir dann also nach der Formel fragen. Was bedeutet die Formel çberhaupt! Mit der Formel dringen wir in die letzten Grçnde des Seins ein. Die drei Verhåltnisse: das Grundverhåltnis, das Proportions- und das Umtauschverhåltnis, sind relativ zum Standpunkt dessen, der die Bewuûtseinsmitte bildet. Mit jeder Standpunktsverlagerung (Giordano Bruno ± »Mårtyrer des Sonnenglaubens«; Entthronung des »Sohnes des Himmels« aus dem »Reich der Mitte« 15 ) verwandeln sich die Maûe und Erkenntnisse! Aber wo liegt die Begrçndung fçr eine solche Verlagerung des Standpunkts? Wir verlegen sie in den Willen, das heiût, wir erfinden eine neue Græûe, Wille genannt, um damit etwas zu erklåren, was sich sonst (aus dem rein Theoretischen) nicht erklåren låût. Wir verlagern das Problem in eine neue mythische Welt, eine besondere Funktion (voluntas [Wille] im Unterschied zur ratio [Vernunft]). Aber wie, wenn Denken und Wollen selbst ein Umtauschverhåltnis auf hæchster Ebene wåre, wenn sich hier der Umtausch von Reflexion und Erleben vollzæge? Im Erleben sind wir selbst unbekçmmert Mitte, und damit bekommt die Welt um uns her ihr Jetzt und Hier. Aber jedes Erlebnis, auch das hæchste, wird abgelæst von der Reflexion, man kann aufhæren, Mitte zu sein, man kann seinem eigenen Erleben gegençbertreten, damit ist daraus ein »Glied« in der Reihe vieler »Erlebnisse« geworden. Wir sind aus einem »lebendigen« in ein »starres« Verhåltnis çbergegangen. Aus diesem Ûbergang, der sich nun auch umgekehrt vollziehen kann, also in der steten Verwandlung von »starren Verhåltnissen« in »lebendige«, in »Umtauschverhåltnisse«, besteht das, was man das Weltbild nennt, und zwar in seinen niedrigsten wie in seinen hæchsten Funktionen. Es ist eine Formel, die etwa den Zeitbegriff oder das Raumproblem oder die ethische 15. Giordano Bruno (1548-1600), Renaissancephilosoph. Bis 1576 Mænch, danach ausgetreten und dauernd auf der Flucht. Nach seiner Rçckkehr 1592 in die italienische Heimat festgenommen und schlieûlich nach einem sechs Jahre lang hinausgezogenen Prozeû am 17. Februar 1600 in Rom verbrannt. Er soll sich als »Mårtyrer fçr die Wahrheit« betrachtet haben. Unter dem Eindruck des neuen kopernikanischen Weltbildes behauptete Bruno nicht nur, daû der Unterschied der Erde und der Gestirne bedingt ist durch unseren Standort, sondern er verabschiedete sich auch vom christlichen Glauben und wurde Pantheist. Er dachte sich das Weltall als ein unbegrenztes physisches Kontinuum, das aus alle Kærper durchdringendem gættlichem Feuer (Øther) besteht, wobei er die Welt als eine Art Emanation der Gottheit betrachtete.

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Frage (die Tolstoische Frage: Was sollen wir tun?) oder die Glaubensfrage (Ist dieser irdische Jesus der Sohn Gottes?) beherrscht. Es ist eine Krankheit und darum auch eine Heilung. So wie die Krankheit der Zweifel ist, so ist die Heilung der Glaube. Wie die Begegnung mit Jesus unsere ethische Unentschiedenheit aufhebt und uns zur Begegnung mit unserem ethischen Schicksal wird, so hebt sie auch die Relativitåt des gesamten Weltbildes auf, und wir wissen uns durch den Akt des Schæpfers in unser Hier und Jetzt, in unser Ich und unser Dasein gesetzt. Wir kænnen jetzt ja sagen! In Jesus Christus finden wir so nicht nur unsere ethische, sondern unsere geschæpfliche Existenz. Der Glaube ist die universale Læsung des ganzen Weltbildes! Aber nun die Weltformel. Die Welt ist niemals in einem Aspekt zu fassen, sondern nur in dieser Antithese. Das »Sein« ist keine in sich identische Græûe, sondern es ist geboren aus dem Gegensatz, aus der Antinomie. »Wirklichkeit und Vorstellung, Wachen und Traum, Ruhe und Bewegung, Raumverhåltnisse und Zeitverhåltnisse, kurz, alle Elemente des Geschehens sind (¼) lauter Variationen derselben Melodie, die uns unmelodisch vorkommt.« Wir kænnen uns schlechterdings keine Welt denken, die von dieser Antinomie frei wåre. Und »es stellt sich (¼) heraus, daû wir mit unserem Wunsch nach Beseitigung der Antinomie des Daseins çberhaupt gar keinen vernçnftigen Sinn verbinden. (¼) Der Vorwurf der Sinnlosigkeit, den wir gegen das Weltall schleudern, (¼) fållt (¼) auf uns selbst zurçck. (¼) Wer fragt (¼) nach Grçnden fçr die religiæse Stellungnahme?« ± »Unser Verstand« (295)! Verstand nennen wir ja nur jenes »Stadium des [Erlebnis]vorgangs, in welchem die Entscheidung noch nicht getroffen ist« (296). Verstand heiût: Ich stehe vor einer unendlichen Reihe von Mæglichkeiten. Aber wenn die Wahl einer der vielen fallen wird, dann verwandelt sich diese »gedachte« in eine »wirkliche« Welt! Diese Wandlung, diese Wahl nimmt mir niemand mehr ab. Heim nennt die Weltformel die »Antinomie«, Luther nannte sie den »unfreien Willen«, die Unableitbarkeit der Glaubensentscheidung selbst, Calvin nannte sie die Prådestination. Man kænnte Heims Theologie (vielleicht wçrde er dagegen protestieren) als das System bezeichnen, das die Lehre von der praedestinatio (Erwåhlung) als das letzte Welt- und Denkgeheimnis faût. Und zwar muû den Verlorenen die Welt als ewige Antinomie erscheinen, wåhrend den Erlæsten sie in den Hånden der Gnade Gottes ruht. Die Entscheidung selbst aber ist wieder sola gratia! Machen wir uns kurz klar, was Heim damit sagt: etwas im tiefsten Sinne Durchschlagendes! Es ist durch den Gang der Philosophie dahin gekommen, daû das Gleichgewicht zwischen theoretischer Betrachtung und willensmåûiger Entscheidung aufgehoben wurde. Man meint, es gåbe ein

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theoretisches Bild der Wirklichkeit, innerhalb dessen wir uns dann ± so oder so ± zu entscheiden håtten. Dieses »es gibt« ist aber der schlimmste Mythos, den man sich denken kann, und die Aufhebung dieser theoretischen Neutralitåt, genannt »Wissenschaft«, die Wiederherstellung der echten Antinomie zwischen Vorstellung und Wille ist der letzte Akt, auf den die Geschichte des modernen Denkens hinauslåuft! »Glaubstu, so hastu«! Wille und Vorstellung sind beide nur ein Umtauschverhåltnis und bedingen einander gegenseitig! »Es fragt sich jetzt nicht mehr, ob es Sinn hat, von jemand eine absolute Auswahl aus theoretischen gleichberechtigten Mæglichkeiten zu verlangen«, sondern »es fragt sich vielmehr, ob es Sinn hat, eine so sinnlose Frage zu stellen« (295)! Die Welt als »Vorstellung« erfassen heiût also, im Stadium der »Unentschiedenheit« sich bewegen. Dieses ist aber selbst nur mæglich durch »Entscheidung« in einem hæheren Sinne. Mit anderen Worten: Die letzte Frage, ob Sein oder Bewegung das Woher aller Dinge ist, låût sich theoretisch nicht mehr entscheiden. Sie kann nur entschieden werden im Akt des Erkennens selbst. Die Wirklichkeit ist antinomisch, und dieser Antinomie verdankt sie ihre Existenz. Damit geben wir der Skepsis ihre Frage zurçck und heben sie damit auf. Man kann die Antinomie nicht auf »zwei Welten« verteilen und zu der »ersten Welt« eine »zweite«, zu der »relativen« eine »absolute« hinzudichten. Der »Vorwurf der Sinnlosigkeit, den wir gegen das Weltall schleudern, (¼) fållt (¼) in seiner ganzen Wucht auf uns selbst zurçck« (295). »Der ganze Mythos von dem Gerichtshof der reinen Vernunft, der hoch çber allem Erdenhader in neutraler Gerechtigkeit thront« (296), læst sich von selbst auf. Hierdurch »erklårt sich (¼) der Haû aller Wollenden, Vorwårtsstçrmenden, Religiæsen gegen (¼) die ganze Unnatçrlichkeit des rein theoretischen Standpunkts« (297). Wir kennen bereits von Max Weber her die Frage Tolstois: Ob mir die Wissenschaft auf die ethische Frage antwortet? Heim sagt nicht rundweg nein, wie Max Weber, Heim ist philosophisch viel tiefer durchgebildet. Er sagt zugleich, warum die Wissenschaft nicht darauf antworten kann, warum sie stumm bleibt, warum sie wie die Sphinx jeden, der sie daraufhin befragt, ohne eindeutige Antwort entlassen muû: weil so fragen heiût, die Antinomie zerstæren, die die Weltformel selbst ist; die Entscheidung, die niemals »gegenståndlich« werden kann, auf die Theorie, auf den Verstand »abschieben« wollen! Die Wissenschaft hat recht, wenn sie den mçden Wanderer nicht entlåût, damit er bei ihr Ruhe findet, wenn sie im Gegenteil seine Unruhe aufs hæchste steigert, denn die Entscheidung auf die Frage, was soll ich tun, fållt hæheren Orts als im Bereiche der theoretischen Er-

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kenntnis. Es gibt keine theoretische Begrçndung dieses letzten Aktes ± da er selbst die Begrçndung jedes theoretischen Aktes ist. Er ist Akt reinen Glaubens.

1.2.3 Die Geschichte der Philosophie

Das Dritte Moment ist Heims Geschichte der Philosophie! Er nennt es auch die »Geschichte des Denkens«. Er ist einer der letzten unter den Theologen (seit Schleiermacher), der das Nebeneinander von Philosophie und Theologie ernst nimmt, der also die damit gegebene Aufgabe der Apologetik nicht links liegen låût, um sich auf sein theologisches »Spezialfeld« zurçckzuziehen. »Der quantitative Unterschied« zwischen der »groûen Entscheidung« (der religiæsen) und den »kleineren [philosophischen] und kleinsten (¼) darf uns nicht dazu verfçhren, einen spezifischen Unterschied zwischen dieser græûten Entscheidung und allen anderen zu machen, das Gebiet der Religion wie eine Oase voll Palmen und rauschender Wunderquellen von der Sandwçste der çbrigen Wirklichkeit abzusondern« (197). Die çbliche Gepflogenheit, die »Religion« mit ihren Dogmen und dem »schwårzlichen Gewimmel« (196) ihrer Vorstellungen zu isolieren, »hat eine merkwçrdige Øhnlichkeit mit der Selbstabsonderung orientalischer Herrscher, die sich mit einem Hofzeremoniell wie mit einem Zaun umgaben, um ihrer Umgebung die Vorstellung von ihrer Ûbermacht zu suggerieren. Die Selbstabsonderung ist eine Kriegslist, auf die sich von jeher alle Herrschsçchtigen verstanden haben« (197). Das heiût also, Heim meint, daû die Frage nach der Gewiûheit der christlichen Offenbarung nicht abseits von der philosophischen Frage entschieden werden kann. Zu jeder Religion gehært, »daû man eine Gottheit setzt, das heiût die Durchfçhrung eines Weltziels allen Widerstånden zum Trotz, daû man diese Widerstånde zu einer konzentrierten Gegenmacht zusammenfaût, die im Prinzip schon çberwunden ist, daû man an eine Sittlichkeit glaubt, d. h. an ein Tun, das dem Weltziel gemåû ist, das alles ist zunåchst nur eine Form aus Lehm gebrannt, die des glçhenden Gusses harrt«. Dieser besondere Inhalt »kommt erst, wenn ein bestimmtes Zukunftsbild von konkreten Farben auftaucht als Inhalt des weltçberwindenden Gotteswillens, dessen Gegensatz sich zu einem ebenso konkreten Inhalt des Bæsen zusammenballt« (198). Man ermesse das Glånzende dieser Formel an der gegenwårtigen geistigen Lage, in der wir ja doch auch keine Abgrenzung des »Religiæsen« vom »Weltanschaulichen«, »Politischen«, »Ethischen« mehr vornehmen. Was aber ist das Geheimnis aller Philosophie? Heim meint jedenfalls, daû sie ein Thema hat, daû Philosophie nicht nur darum da ist, weil es Philosophen gibt, sondern daû es diese gibt, weil wir

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denken mçssen. Und zwar ist das Thema der Philosophie das hen (das Eine)! Philosophie ist »inhaltliche Antezipation des Weltzieles« (199), ist vom Menschen vorweggenommene Antwort auf die ± eben nie offenbleiben dçrfende ± Frage: »Was muû ich tun, daû ich gerettet werde?« (Apg 16,30). Bleiben wir einmal dabei stehen! Genau das sagen die Reformatoren. Auch sie meinen, daû diese Frage etwas Letztes sei (seitdem der Mensch gefallen ist). Genau so sagen sie auch, daû der Mensch versucht, sich selbst eine Antwort darauf zu geben, und daû aus dem Versuch, diese Frage zum Schweigen zu bringen, ihr den Mund zu stopfen, alle Religionen entstanden ± und daran wieder zerbrochen sind, weil die Frage immer wieder »aufbricht«, im Zusammenbruch der Religionen immer wieder von neuem wie ein brçllender Læwe auf dem Plan ist, wie der »siedende Kessel« von Norden her (Jer 1,13), wie die Frage auf den Gassen von Jerusalem: »Liebe Brçder, was sollen wir tun?« (Apg 2,37). Philosophie ist der Versuch des Menschen (und damit die ganze Geschichte seines Denkens), sich selbst von dieser Frage zu befreien, sich die Unschuld des Lebens wiederzugeben! Alles andere Verståndnis der Philosophie ist »Kårrnerarbeit«. Philosophie ist die geheime Geschichte unserer menschlichen Not und ihrer ± fast immer wieder geglçckten ± Ûberwindung. Mit der Philosophie der Griechen ist eine »Nachblçte« dessen entstanden, was 2000 vor Christus in Indien geschehen ist! Der Henismus stellt die Frage nach dem Einen! Plato ist ganz nahe daran, aber dann tritt im Aristotelismus eine Erstarrung ein. Plato ist der letzte groûe Geist der Griechen, einem Kranich gleich, der nach Sçden fliegt, dem Land der Sonne, der aber mitten im Fluge ins Meer sinkt! Hier »ringt (¼) die Gedankenwelt Griechenlands mit dem Tode« (225). Dieser Tod ist Aristoteles: »Wenn wir durch die Labyrinthgånge dieses monumentalen Systems gehen, so ist uns, als ob wir in einer toten Stadt wanderten, auf die einst an einem Sommerabend, wåhrend auf Markt und Straûen das Leben flutete, plætzlich ein Lavaregen niederging, so daû die Menschengruppen auf dem Markte und der Opferzug auf den Tempelstufen und der tanzende Chor im Theater mitten in ihren augenblicklichen Stellungen und Bewegungen, von der Glutmasse verschçttet, zu Bildsåulen erstarren. Alle lebendigen Prozesse des griechischen Denkens sind hier in einem bestimmten Stadium ihres Verlaufs wie in glçhender Lava erstickt« (224). Hat Heim nicht recht? Man denke nur an die Geschichte, die Plato und Aristoteles ± jeder fçr sich ± in der Welt des Abendlandes gespielt haben: der eine in Augustin, der andere in Thomas, der eine in der Renaissance und in Descartes, der andere in dem heute wieder heraufziehenden Neuthomismus! Geschichte der Philosophie ± Heim meint, sie auf eine Formel bringen zu

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kænnen: er nennt sie Introjektion des Ich! Kant ist vielleicht dem Durchbruch zur Freiheit am nåchsten gewesen, er hat den Griff nach drauûen getan, aber auch er »introjeziert« das Sittengesetz wieder in ein »Menschenich«. Wenn man aber Gott und Mensch als starre Græûen im Gegençber setzt, dann ist das Gewiûheitsproblem nicht zur Ruhe gekommen. Es kommt erst da zur Ruhe, wo wie bei »dem elementaren Ausbruch der Jesus-Religion im Neuen Testament aufs neue (¼) Erde und Himmel und alles ineinander auf(geht), um Bahn frei zu machen fçr die Gewiûheit: ­So lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir¬ [Gal 2,20]. Alle Mauern, die die Introjektion zwischen den eingekerkerten Einzelseelen aufgerichtet hatte, wurden zertrçmmert, um diese Verschmelzung mit der einen Person zu ermæglichen, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinander aufging, in der die ganze weithin zerstreute Gemeinde von Lebenden und Toten zu Einem Leib mit Einem Ich zusammengefaût wurde. Die Weltvernunft zerbrach ihren transzendenten Palast und fuhr, in einen Personwillen verwandelt, wie ein Sturm durch die Geschichte (ho logos sarx egeneto [»Das Wort ward Fleisch« (Joh 1,14)]). Alle Trçmmer der griechischen und der orientalischen Gedankenwelt wurden bei diesem Erdbeben des Geistes in prachtvoller Verwirrung durcheinandergeworfen. Die Felsen zerrissen, und die Gråber taten sich auf. Alle Tåler wurden voll und alle Hçgel erniedrigt. Aber das alles war nur eine vorçbergehende Erschçtterung des Aristotelismus« (226). Das System des Aristotelismus erholte sich schnell wieder, es erfand eine Selbsthilfe, indem es diesem neuen Phånomen eine »Provinz« im ganzen zuwies, einen »sechsten Sinn«, dieses Phånomen »einkapselte«, es die »mystische Intuition« nannte. »Die Seelen konnten ihre Gemåcher wieder beziehen. Und der gættliche Hausherr zog wieder in das obere Stockwerk« (228). Der Cartesianismus unterscheidet: verkærperlichte Auûenwelt ± extensio: und die introjizierte Innenwelt der cogitatio! Hat Heim nicht recht, daû mit Jesus Christus (Inkarnation) die Geschichte der Philosophie zu Ende ist, daû wir sie wirklich nur noch als »Geschichte des Ringens des Menschen mit Gott« sehen kænnen? Jesus das Ende der Philosophie ± darum Theologie! So kommt Heim viertens zur Frage der Glaubensgewiûheit.

1.2.4 Die Glaubengewiûheit 16

Alles, was im »Weltbild der Zukunft« gesagt und an neuen Perspektiven geschaut ist, ist auf eine Frage zugespitzt, mit der auch das Erstlingswerk

16. Ûberschrift Iwands.

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Karl Heims ausgeht, die Frage der Glaubensgewiûheit. 17 »Wir haben also gar nichts anderes zu tun, als die atheistischen Formen zu sprengen, in die die Religion schon so lange eingezwångt war« (262). Das Schiff der Theologie ist »leck«, und durch diese Læcher »stræmen die Wogen des Atheismus unaufhærlich in ihre unteren Schiffsråume, und das Todesgurgeln der eindringenden Wassermassen steigt jede Minute hæher herauf, wåhrend die Schiffsmannschaft in anscheinend sorgloser Stimmung sich auf Deck tummelt und bald blutige Håndel çber den einzuschlagenden Fahrkurs ausficht, bald erhebende Versæhnungsfeste feiert« (261). Immer wieder kehrt Heim zu dieser Behauptung zurçck: Eins ist not! Alle anderen Fragen kommen hernach. Er nennt diese Frage, um die es ihm zu tun ist, die »Existenzfrage der sittlich-religiæsen Ûberzeugung çberhaupt«. 18 Es geht um die eine Frage, ob die Theologie es bei ihren Aussagen mit einer Wirklichkeit zu tun hat oder »ob die Theologie eine rçhrende und herzbewegende Dichtung çber das ewig Unbekannte ist«. Da Heim die Frage so stellt, also die Fragestellung universal faût ± ob der sittlich-religiæsen Ûberzeugung eine Wirklichkeit entspricht ± ist die Gewiûheitsfrage bei ihm noch ganz gelæst von jedem bestimmten Inhalt. »So wichtig diese mannigfaltigen Bestimmungen des Inhalts sind, auf dessen Gewiûheit alles ankommt, und die Kåmpfe um diese Inhaltsbestimmung, und so sehr wir mit unserer persænlichen Leidenschaft gerade jetzt in sie verwickelt sind, sie erscheinen zunåchst nebensåchlich, solange die Elementarfrage ungelæst ist, ob es çberhaupt mæglich ist, çber derartige Dinge gewiû zu werden, ob also die Kåmpfe çberhaupt ernst zu nehmen sind.« (35 f.) In dem Moment, wo die Existenz eines Parlamentes durch den Aufstand der Straûe bedroht ist, haben die Redeschlachten zwischen den einzelnen Parteien ihren Sinn verloren. Hier wåre nun die erste Frage ± und zwar die grundsåtzliche Frage ± zu stellen, die nicht nur Heim, sondern die ganze theologische Methode seit Schleiermacher betrifft: Kann man die Gewiûheitsfrage von den inhaltlichen, also dogmatischen Entscheidungen læsen? Nehmen wir einmal an, es lieûe sich bewerkstelligen, worin bestçnde dann die Gefåhrdung der Gewiûheit? Doch wohl darin, daû der geistigen Welt als solcher vom Standpunkt der empirisch-materialistischen Weltanschauung aus keine Realitåt zuerkannt wird. Das nennt Heim die »atheistischen Formen« des modernen Weltbildes, die gesprengt werden mçssen, wenn anders die Auseinandersetzung çber die inhaltlichen Fra17. Vgl. H. J. Iwand, NW 1, 106-112. 18. K. Heim, Glaubensgewiûheit. Eine Untersuchung çber die Lebensfrage der Religion, Leipzig 19202 , 35. Seitenangaben im Text.

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gen wieder sinnvoll werden soll. Und Heim ist freilich der Meinung, daû nur Jesus und der Glaube an ihn dies fertigbringt. Er ist also der Meinung, daû das Christentum der eigentliche Gegenspieler des modernen kausalen und materialistischen Weltbildes ist, so daû in Jesus Christus zugleich ein Doppeltes geschieht: die Erlæsung des Menschen zum persænlichen Glauben ± und die (gleichzeitige!) Sprengung des materialistischen Weltbildes, das die moderne Philosophie (auf Grund ihrer atheistischen Voraussetzungen) uns vermacht hat. Aber (da ja alle inhaltlichen, also dogmatischen Bestimmungen zunåchst eingeklammert werden und die Existenzfrage als solche voransteht): Dieser Jesus Christus kann infolgedessen nicht im Zusammenhange mit einer bestimmten Lehre vor uns hintreten, es muû also der »undogmatisch« verstandene, es muû das »Christuserlebnis« sein, welches den Durchbruch erzielt! Und das ist nun die grundlegende Wendung, die sich zwischen diesem Ansatz Heims und dem der reformatorisch-biblischen Theologie vollziehen wird, daû die letztere eine solche Læsung der inhaltlichen Aussage von der formalen nicht mehr vorzunehmen vermag. 19 Denn wenn diese Theologie von der Verkçndigung herkommt, dann kommt sie ja von der Proklamation sehr bestimmter, sehr realer Inhalte her, verkçndigt wird ja nicht die Existenz Gottes, sondern verkçndigt wird die Vergebung der Sçnden in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, durch die Gnade Gottes! Darf ich ± der Gewiûheitsfrage zuliebe ± etwa den inhaltlichen Unterschied zwischen Judaismus und Glaubensgerechtigkeit relativieren? Ist der Atheismus wirklich das Problem? Begreifen wir nicht erst auf Grund der neutestamentlichen Verkçndigung des Heils, daû wir ± obschon wir die Existenz Gottes nicht leugnen ± nun eben doch gottlos sind? Was anders bedeutet denn die Tatsache, daû Heiden und Juden unter einer Verdammnis stehen? Was bedeutet denn das Nebeneinander von Ræmer 1 und Ræmer 2? Wir sind mit dieser grundsåtzlichen Frage unmittelbar in die gegenwårtige Situation hineingestellt. Sollen wir heute alle inhaltlichen Unterscheidungen erst einmal »ausklammern«, um grundsåtzlich die materialistische, das heiût atheistische Weltanschauung zu çberwinden? Haben wir dazu eine Verheiûung? Wie kommt es denn, daû weder das Neue Testament noch die Reformation so fragen? Wenn die Reformatoren nach Gott fragen, so fragen sie nach dem gnådigen Gott. Sie setzen die Existenz Gottes voraus. Sie wissen, daû nur die Toren in ihren Herzen sagen: »Es ist kein 19. Vgl. H. J. Iwand, Wider den Miûbrauch des »pro me« als methodisches Prinzip in der Theologie, EvTh 14 (1954) 120-125, und NW 1.

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Gott« (Ps 14,1; Ps 53,2). Sie lassen sich mit dieser Vorfrage nach dem Sinn der Rede von Gott eben nicht aufhalten. Sie wissen offenbar, daû, wenn man erst dieser Vorfrage Gehær verleiht, man nie mehr zu den eigentlichen Fragen kommt. Sie wissen, daû das Neue Testament nicht im Atheismus, sondern in einem frommen Tun, das eben darin Gott nicht die Ehre gibt, sondern sich die Ehre nimmt, den Hauptverfall sieht! Das Neue Testament sieht den Glauben immer von zwei Seiten her gefåhrdet, wåhrend Heim die Gefåhrdung zu einer einseitigen macht! Die Frommen und die Gottlosen sind zugleich zur Umkehr gerufen ± aber nicht etwa so, daû sich die Gottlosen zur Gottlosigkeit der Selbstgerechten (das heiût zur Heuchelei) bekehren sollten! Die Gewiûheit ist ± da es um Gott geht ± immer zu prçfen, ob es sich um certitudo (Gewiûheit) oder um securitas (Sicherheit) handelt! Nur indem die securitas gerichtet wird, wird die certitudo fidei greifbar. Das wåre also das erste und Grundlegende: Jede Læsung der Gewiûheitsfrage von der inhaltlichen Bestimmtheit muû diese ihrer kerygmatischen Substanz berauben! Der Zweifel am Dasein Gottes ist nicht die Wurzel der Gewiûheitsfrage, sondern ihre Wurzel liegt in der Verzweiflung! Wie wenn der Mensch das Dasein Gottes einfach leugnen mçûte (sei es direkt oder indirekt), weil beide ± dieser Mensch und dieser Gott ± es nicht in einer Wirklichkeit aushalten, weil einer sterben muû, damit der andere leben kann?! Wenn also hinter allen theoretischen Argumenten dieser schreckliche Tatbestand stçnde, wenn das der Sinn des Atheismus wåre: »Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, daû Gott Gott ist« 20 , wenn also die Sache (wie das Schopenhauer und Nietzsche gesehen haben) am Willen hinge und nicht am Denken? Wenn also der Mensch, der meint, er mçsse verzweifeln, weil er die Existenz Gottes nicht begreifen kann, noch viel mehr verzweifeln wçrde, wenn nun Gott wirklich existierte? Wenn wir also noch in der Gewiûheitsfrage uns belçgen wçrden, weil wir ja im Ernst schon vorher entschlossen sind, daû, sollte Gott wirklich leben, wir ihn nicht anerkennen wçrden? Trotzdem kænnte nun Heim uns doch mit seiner so tief eindringenden Arbeit in die Gewiûheitsfrage einen unschåtzbaren Dienst geleistet haben: Er hat nåmlich gezeigt, daû das Weltbild, in dem wir leben, doch der Existenz entspricht, die wir fçhren. »Die Ich-Introjektion und die alte Kausalitåtstheorie« sind mit dem Gottesglauben unvereinbar. Denn erstens: Wenn wir von diesem isolierten Ich ausgehen, sind alle Aussagen çber Gott »zweifelhafte Schlçsse einer subjektiven Logik auf eine trans20. »Homo non potest velle, Deum esse Deum«. M. Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), WA 1, 225.

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subjektive terra incognita [unbekannte Welt]«. Zweitens: Die Religion ist dann eingekapselt in »Gefçhle und Willensakte«, es besteht keine Mæglichkeit, aus den »Werturteilen eines innermenschlichen Ich theologische Såtze çber den Kosmos abzuleiten«. Drittens: Da das Ichgebilde im Gehirn »lokalisiert« wird, hålt dieses »das Monopol auf ­Bewuûtsein¬ (¼). Will man also Gott nicht ein Gehirn zuschreiben«, so wird er zum »blinden Fatum« (257) herabsinken. Viertens: Die »Ich-Umkreise der einzelnen Menschen« werden »zu Welten, die exklusiv gegeneinander abgegrenzt sind« (257 f.). Es gibt kein »Ûbergreifen eines Bewuûtseins«. »Sobald man dieses starre Ichverhåltnis konsequent durchfçhrt, erfriert die Religion« (258). Dazu kommt fçnftens: »Der Kausalitåtsfetisch ist (¼) ein gefåhrlicher Konkurrent des persænlichen Gottes«. Gott hat hier nur noch seinen Platz als »Ausnahme« (258 f.) von der Regel. Damit hat Heim gezeigt, daû unser Weltbild ohne Frage bestimmte dogmatische Setzungen enthålt, von denen nicht gesagt ist, daû sie gelten. Sie gelten sozusagen nur unter der Voraussetzung, daû Gott »tot ist«. Darum wird nun der ungeheure Unterschied faûbar, der zwischen unserem »Weltbild« und dem »Weltbild« der Bibel besteht. Denn dieses ist eben dadurch von allen anderen Weltbildern unterschieden und ausgezeichnet, daû seine Mitte der »lebendige Gott« ist. Darum kennt die Bibel keine »metaphysische Hinterwelt«, sie kennt weiter keine Trennung zwischen Seins- und Werturteilen! Atheismus als Weltanschauung ist »Finsternis«, »Verblendung«, ignorantia invincibilis (unçberwindliche Unkenntnis)! Glauben und Sehen, Unglauben und Blindheit gehæren zusammen. Drittens gilt von Gott: Er versteht, was er will (scit quod vult)! Sein Wille ist immer zugleich sein Ratschluû, den wir erst hinterher erkennen. Was uns als »blindes fatum erscheint«, ist »tiefste Weisheit und Verstand«. Genauso gibt es ein die individuelle Verschiedenheit çberwindendes »Bewuûtsein«, in Christo sind wir alle »eins«, daher auch von hier aus die Aufhebung der Zeiten, die neue Fassung der Ich-Du-Frage! Und schlieûlich, ist die Kausalitåtsformel nicht die Folge der Trennung zwischen Geschichte und Natur? Zwischen personaler und apersonaler Welt? Und ist Gott nicht die Aufhebung dieses furchtbaren Dualismus, jenseits von Idealismus und Materialismus? Hat also Heim nicht doch etwas sehr Groûartiges gesehen, wenn er sagte: »Noch steht das religiæse Denken mit seiner eigentçmlichen Erkenntnistheorie und Naturphilosophie mitten in der Welt der Wissenschaften wie ein weltscheuer Fremdling, der mit tiefen, seelenvollen Augen in alle Menschen und Dinge hineinsieht. Einst wird es ­das Erdreich besitzen¬« (Mt 5,5; Ps 37,11) (262). Die Illusion, vielleicht eine verzeihliche, wenn auch

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folgenreiche Illusion, ist nur die, daû hier ein eschatologisches Ziel (daû Gott alles in allem ist; 1 Kor 15,28) im Bereiche einer erkenntnistheoretischen Entwicklung gesehen wird. Daû von diesem Ziel gesprochen wird, ohne daû die Bibel und die Kirche dabei als wesentlich erwåhnt werden. Der Glaube ist die »verkehrte Welt«, die eben darum die recht verstandene, die von Gott her neu gesehene Welt ist. Das Problem, das Heims Ansatz uns aufgibt, kann man etwa in die Frage fassen: Ist die Antwort nicht frçher als die Frage ± ist die Frage nicht erst an der Antwort entstanden ± und ist das nicht das Besondere am Denken der Bibel, daû Gottes Wahrheit immer unserer Problematik vorausgeht und çberlegen bleibt?!

1.3 Dogma und Weltbild Karl Heim hat eins gesehen: Das moderne Weltbild ist wieder in Fluû geraten. Hier, in diesem modernen Weltbild, zeigen bestimmte Risse und Sprçnge ein Erdbeben an, dessen Ausmaûe und Auswirkungen noch kaum jemand von uns zu çbersehen vermag. Die »alte Sehnsucht nach Erlæsung von der Theorie« 21 scheint wieder aufzubrechen wie eine vernarbte Wunde. Die »Sonnenwelt des wachen Lebens« trotzt dem »Mondreich der Tråume«. Auf allen elementaren Lebensgebieten ist ein Aufbruch zu verzeichnen ± »nur auf dem hæchsten Gebiete hat uns ein langes theoretisches Siechtum das Wollen abgewæhnt«. Aber »einst wird auch auf dem hæchsten Gebiet wieder der Mut zur Entscheidung erwachen, der in der lauen Luft des philosophischen Zeitalters verweichlichte und erschlaffte. Da werden wir von der Schwermut des Gedankens geheilt sein und von dem Grçbeln nach Grçnden, das unseren Mut fçr so viele Jahrhunderte brach« (300). Man fragt sich heute, wenn man das liest: Wer redet hier, und wer redet so? Wer wagt es, die Jahrhunderte so in die Schranken zu fordern und die Philosophie als ganze anzuklagen, daû sie jene Hinterwelt erfunden håtte, die uns um das Leben, um die Wirklichkeit, das Hier und Jetzt, das Gott und Mensch gebracht hat? Ist das vielleicht die Stimme Schopenhauers, der als einer der ersten die Basis der gesamten abendlåndischen Wissenschaft erschçttert, indem er die ganze Frage nach dem Sein (von Indien her) als einen Mythos sieht ± der erste, der nicht mehr platonisch denkt? Oder hæren wir hier denselben Klang, der mit Nietzsche in die Moderne hineintrifft: daû das Denken nur so weit sinnvoll ist, als es uns von sich selbst erlæst, als es den Willen als Urgrund alles Daseins und aller Systeme 21. K. Heim, Das Weltbild der Zukunft, 299. Seitenangaben im Text.

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enthålt, und zwar den Willen zum Leben als letzte, absolute, keiner Reflexion mehr unterliegende Græûe? Wird nicht ± fçnfzehn Jahre spåter ± der junge Friedrich Gogarten das nåmliche proklamieren: »Es kommt hier nur auf ein Einziges an, auf die ruhige, klare, sachliche Erkenntnis, daû diese Frage ­Gott¬ uns alles unter den Fçûen fortzieht, auf dem wir bis dahin standen; daû sie uns darum in eine andere Sphåre stellt, aus der Sphåre der Bedingtheiten in die Sphåre der Unbedingtheiten, das heiût: aus der Sphåre, wo so gut wie alles zwischen uns und Gott steht, nicht nur die Religion, sondern wo im Zusammenhang mit der Religion so gut wie alles, Kunst, Kirche, Familie, Krieg, Schicksal, Staat, Volkstum und was man sonst will, uns Mittel werden soll, zu Gott zu finden, aus dieser Sphåre stellt sie uns in die andere, in der wir nackt und bloû, ohne Hilfe, ohne Werke, ohne Mittel, ohne Bedingung vor Gott stehen«? 22 Meinte nicht Heim bereits Øhnliches, wenn er davon redet, daû wir alle »Grçnde« und »Gegengrçnde« wie Schlangen niedertreten und zu dem »groûen Wurfe Gottes jauchzend ja sagen« werden (300)!? Das Weltbild mit allem, was es an Werten und Mythen bietet, steht zwischen uns und Gott. Gott ist die letzte und darum auch die erste und einzige Wirklichkeit; wenn sich vorletzte, abgeleitete, in Vorstellungen erstarrte Bilder zwischen Gott und uns schieben, wenn sie damit Gott in eine sei es nun ethische, sei es metaphysische Hinterwelt abschieben, dann bringen sie uns um das Leben. Um seinen Ursprung und seine Mitte! Die Mitte des Lebens heiût nicht Gedanke, sondern Entscheidung! Glaube ist Entscheidung! Das ist das Thema in Karl Heims Theologie. Und wenn wir von diesem Aspekt her die Breite der Diskussion um das von Bultmann aufgeworfene Thema der »Entmythologisierung« ansehen, dann werden wir sofort merken, daû wir es hier mit einem besonders ernsten und interessanten, aber eben doch mit einem Spezialfall dieses umfassenden Themas zu tun haben. Auch hier geht es um das Weltbild, auch hier darum, daû Glaube Entscheidung ist. Nicht Entscheidung fçr ein »Bild« der Welt, nicht Entscheidung fçr eine Vorstellung von Welt, wie sie frçheren Epochen gelåufig war ± sei es Himmel oder Hælle, seien es Dåmonen oder Zwischenmåchte ± hier fållt keine Glaubensentscheidung, sondern im Gegenteil, diese Vorstellungen mçssen fallen, damit die Entscheidung fallen kann, die mit Recht eine Entscheidung des Glaubens ist, weil sie uns vor Gott stellt! Mægen auch die Kampfabschnitte, in denen diese verschiedenen Theologen ihre Positionen beziehen, verschieden liegen, 22. F. Gogarten, Religion und Volkstum?, in: ders., Die religiæse Entscheidung, Jena 1921, 25.

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mægen sie selbst ± vielleicht in gewisser Verkennung ihrer Herkunft und im Eifer der Schlacht ± aufeinander schieûen, von einer hæheren Ebene her gesehen, wenn wir etwa als Flugzeugbeobachter çber dieses Schlachtfeld uns erheben und eine Aufnahme vom Ganzen machen wçrden, wçrden wir mit græûtem Erstaunen entdecken, daû diese verschiedensten philosophischen und theologischen Debatten alle dem einen gelten: der Auflæsung des idealistischen Weltbildes und der Verlagerung der Glaubensfrage in eine jenseits aller Vorstellungen von Welt gelegene, nicht mehr allgemein faûbare Entscheidung. »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne«! 23 Oder wenn wir noch einen anderen zitieren wollen, der vielleicht als erster das Signal zu diesem Vormarsch und Durchbruch gegeben hat, Særen Kierkegaard: »Da wird es also heiûen: siehe, alles ist bereit, siehe, die Grausamkeit der Abstraktion macht die Endlichkeit in ihrer Tåuschung als solcher offenbar, siehe, der Unendlichkeit Abgrund æffnet sich, der Nivellierung scharfe Sense låût alle, jeden besonders, çber die Klinge springen ± siehe, Gott wartet! So spring zu in Gottes Arme.« 24 Der erste, der nun wirklich Ernst machte mit dem Abbau der Metaphysik, nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie und Naturwissenschaft, der die »Entmythologisierung« nicht nur als theologisches oder gar nur hermeneutisches Thema aufgriff, sondern als Generalthema der gegenwårtigen Weltepoche, ist der junge Heim. Er sieht sie çberall im Zuge! Er stæût weiter vor, als wir das heute tun. Er wird auch die ratio als solche entmythologisieren. Fçr ihn sind alle fçr sich genommenen, alle absolut gesetzten Græûen ± ob das nun Zeit oder Raum, Ich oder Du, Bewuûtsein oder Wille sind ± mythische Gebilde. Selbst die Lokalisierung des »cogito« (»Ich denke«), des Bewuûtseins eines Lebenswesens in einem Ich, ist fçr ihn ein magischer Traum. Um noch einmal im Bilde der Schlacht zu bleiben: So gleichen die heutigen im Kampf um die Entmythologisierung bezogenen Standpunkte einem Stellungskrieg. Wir haben uns eingegraben, wir haben wenigstens die ethischen Positionen wieder als ein Fixum erklårt, wir haben die personalistische Existenz des Menschen in einem sacrificium intellectus (Opfer des Verstandes) den biologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gegençber, doch nun als etwas Letztes wieder statuiert, wir haben damit das Gegençber von Mensch und Gott wieder als den einen Nagel in die Wand eingeschlagen, an dem wir alles andere aufhången ± auch Karl Heim wird hier einmal vor Anker gehen (in 23. F. Schiller, Wallenstein, II.6, 962. 24. F. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitåten, Innsbruck 19211 , zitiert nach der Neuausgabe Frankfurt a. M. 1980, 271 f.

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seiner »Glaubensgewiûheit«). Aber als er zum ersten Mal auf das hohe Meer hinausstrebt mit seinen Visionen und revolutionåren Gedanken, ist er noch nicht entschlossen umzukehren, sondern meint vielmehr, alles mçsse zerbrochen werden, alles muû in Fluû geraten, die ganze Schlacht um das Weltbild der Zukunft muû als ein reiner Bewegungskrieg gefçhrt werden, wenn wir wieder mit gutem Gewissen »Gott« sagen wollen. Er sieht ± wenn man ihn einmal so interpretieren darf ± aus dem Untergang des gegenwårtigen, des philosophischen Weltbildes ein anderes, neues, und doch wiederum altes Weltbild heraufsteigen: das Weltbild der Bibel! Das Weltbild, bei welchem Gott Mitte ist, so Mitte, daû von daher Zeit und Raum, Ich und Du, Vergangenheit und Zukunft ihre starre, tote, leere Form verlieren und von ihm her und auf ihn hin sind, was sie sind! Also nicht vom modernen Weltbild her wird hier das Weltbild der Bibel »entmythologisiert«, auch nicht etwa umgekehrt, wie es die Orthodoxie mæchte, vom Weltbild der Bibel her wird das moderne Weltbild kritisiert (wie das Schlatter in seiner Schrift gegen die moderne Philosophie versucht hat 25 ), sondern fçr Heim ist das moderne Weltbild durch die Naturwissenschaften und die Logik in einer unaufhaltsamen Auflæsung begriffen, und nach dem Wort: »Was fållt, das soll man auch noch stoûen« 26 , læst er die letzten »Dogmen« dieses Weltbildes auf, vor allem die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, von Ich und Gegenstand. Er sieht darin den Vollzug der Kantischen Wendung, den eigentlichen revolutionåren Akt eines von scholastischen Mythen gereinigten Kantianismus und meint, daû, wenn dieser Schleier zerreiût, wir wie Kinder wieder eintreten werden in das Land der Bibel; denn das ist das eigentliche Kinderland, das wir verloren haben! Mit der Umkehr des verlorenen Sohnes und seiner Heimkehr ins Vaterhaus (Lk 15,11-32) muû sich auch das Weltbild wandeln, in dem er lebt! Und die Kinder Gottes leben in einem anderen Weltbild als die, welche Gott nur noch ± bestenfalls noch ± fçr einen Gedanken halten. Darum kann der durch alle Tiefen des intellektuellen Zweifels, durch alle Mæglichkeiten des Atheismus und Nihilismus hindurchgegangene Theologe Karl Heim dann so »kindlich« predigen, so einfåltig, daû man sich fast fragen mæchte: ob das denn echt ist, was er da sagt! Daû man sich fragt, wo denn hier die Theologie, die Lehre, die Dogmatik bleibt. Sie liegt in Wahrheit hinter ihm. Glauben heiût eintreten in das »Kinderland«, wo alle »Grçnde« und »Gegengrçnde« wie Schlangen niedergetreten 25. A. Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Cartesius nach ihrem ethischen und religiæsen Ertrag, Gçtersloh 19061 . 26. Vgl. oben S. 22, Anm. 16.

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werden. Wo wir mit Jesus durch diese zerrissenen und zerstampften Gefilde eines von Blut und Trånen, von Haû und Gemeinheit verwçsteten Øons wandeln und sehen, wie sich unter seiner heilenden Hand alles aufrichtet, wie die Toten zu leben beginnen, wie die Zeit stillsteht und der Raum seine Ferne verliert, wie die Engel Gottes hinauf- und herniedersteigen (Gen 28,12; Joh 1,51) und der bæse Zauber von Teufeleien und dåmonischen Måchten zerspringt, eben damit, daû der Erlæser mitten hineintritt in unseren Kerker und Licht hineinstræmt in das Dunkel der Zellen, in denen die Gebundenen sich an ihren Ketten wund reiben. Verkçndigung ist Vollzug solchen neuen Lebens! Die Theologie von heute hat die Aufgabe, »unsere letzten Denkvoraussetzungen« einer Revision zu unterziehen, denn sie, nicht die Sache, um die es im Glauben geht, sind das eigentliche Hindernis. »Wie, wenn der Fehler nicht in der Sache, sondern auf seiten unseres Erkenntnisorgans låge? Wie, wenn es notwendig wåre, unsere letzten Denkvoraussetzungen einer Revision zu unterziehen, weil die allgewaltige Christuswirklichkeit, wenn wir sie in Begriffe fassen wollen, diese Begriffe einfach auseinandersprengt? Diese Frage kommt uns natçrlich nur dann, wenn uns ganz unabhångig von aller Philosophie Christus zu stark geworden ist, als daû wir noch imstande wåren, seiner unsichtbaren Gegenwart auszuweichen. Wenn das nicht der Fall ist, werden wir immer den bequemeren Weg gehen und die Glaubenszeugnisse der Urgemeinde nach unserem Weltverståndnis umdeuten.« 27 Wir werden also dann die Glaubensfrage als eine solche der Interpretation, der Hermeneutik der Schriftaussagen verstehen. Aber in solchen Fållen haben wir Christus nicht in der Schrift gefunden. Das Christuserlebnis liegt hier in einer anderen Ebene, als ± sogar noch die Schrift! Die Schrift ist selbst bereits dadurch entstanden, daû er (im Alten Testament wie im Neuen Testament) die Menschen zu jenem Prozeû der metanoia (des Umdenkens) zwang! Daû vor dem Kreuz alle Weltweisheit als Torheit erschien (1Kor 1,18-25)! So werden wir durch die Begegnung mit ihm in dieselbe Bewegung versetzt, in der alle stehen, die in der Schrift reden und ihre Gedanken festlegen. Wir schwimmen dann mit diesem Strom, oder besser, wir beginnen wie sie alle, die jemals ihren Anker in Jesus Christus geworfen haben, auch gegen den Strom zu schwimmen, es muû sich dann mitten in unserem Weltbild das nåmliche vollziehen, was sich bei Abraham oder bei Jesaja, bei Petrus und Paulus ereignet, als sie der »allgewaltigen Christuswirklichkeit« begegnen. »Unser Denken sucht nach einer neuen Kategorie, um den unbedingten Anspruch zu fassen, mit dem 27. K. Heim, Glaube und Leben. Gesammelte Aufsåtze und Vortråge, Berlin 1926, 25.

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Christus als eine zeitliche und doch allgegenwårtige Græûe der Welt gegençbertritt, und um diesen Anspruch zu fassen, allen Einwånden des Denkens und allen Måchten der Natur und der Geschichte gegençber geltend zu machen. So entsteht die ruhelose Denkbewegung, in der der Strom durch das Urgestein des Gebirges zu brechen sucht, eine Denkbewegung, die zu immer neuen Læsungsversuchen fçhren muû, ohne jemals ganz zur Ruhe zu kommen. Dabei werden uns naturgemåû die Geister am meisten beeinflussen und befruchten, die gleichfalls, wenn auch zum Teil in entgegengesetzter Richtung, die Grundlagen unseres çberkommenen Weltbildes in Frage stellen, also zunåchst die radikalen Empiristen Avenarius und Mach, dann G. Th. Fechner, dann O. Spengler, dann Einstein, und zuletzt K. Barth und E. Brunner.« 28 Es wåre ja zu fragen, ob nicht in der ± nach diesen Jahren einsetzenden ± dogmatischen Arbeit Barths eben das geleistet wurde, was der alte Karl Heim hier sieht, als das gelobte Land, dem er in seiner ganzen Lebensarbeit entgegengearbeitet hat: dem nun auch im Blick auf das Weltbild gerecht zu werden, daû Christus als eine »zeitliche und doch allgegenwårtige Græûe« der Welt entgegentritt! Also jene apologetische Arbeit zu leisten, zu der Heim mehr negative Voraussetzungen schuf, Schutt wegråumte und den Platz leer machte, als daû er anfangen konnte zu bauen. Es wåre zu fragen, ob nicht jenes von Tholuck çber Kåhler zu Heim laufende Thema: das Weltbild der Bibel, hier seine vorlåufig beste Erfassung gefunden hat. Und es wåre schlieûlich zu fragen (was ein Mann wie E. Schaeder in seiner Kritik an Heim eben nicht sieht 29 ), ob nicht zum Glauben an diesen Jesus von Nazareth eben auch ein Weltbild gehært und ob das Weltbild der Bibel nicht eine åhnliche Konstante in sich hat wie eben der, welcher die Mitte dieses Weltbildes ist, der, in dem das Wort gegenwårtig unter uns lebte! Mit dieser positiven Wertung des Weltbildes der Bibel, sehr im Unterschied zu der ± auf Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann und den modernen Existentialismus zurçckgehenden ± Methode Bultmanns, hångt aufs engste die dogmatische Arbeit zusammen, und darum ist es eine der seltsamsten, in gewisser Hinsicht paradoxen Phånomene, daû gerade diese dogmatische Arbeit bei unseren modernen Biblizisten so schmal ausgefallen ist. Sie haben sich in jener negativen Form der Apologetik erschæpft, die abbaut, ohne nun jetzt in dogmatischen Såtzen (von der Situation her, in der wir 28. A. a. O., 25 f. 29. E. Schaeder, Theozentrische Theologie II, Leipzig 1914, 139-143. Iwand hatte 1922 eine Seminar-Arbeit çber »Glaube und Schicksal (In der Glaubensgewiûheit von Karl Heim)« bei Schaeder geschrieben (vgl. J. Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gçtersloh 19992 , 32).

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geistig nun einmal stehen) das Weltbild der Bibel uns zur geistigen Heimat zu machen! Das Christuserlebnis sollte alles leisten ± zu ihm hinzufçhren schien genug! Alles abzubauen, was dabei hinderte, schien Aufgabe der Theologie und Verkçndigung. Indem dieser Biblizismus hinter jener Grenze nur noch Rçckfall in Orthodoxie zu sehen vermochte und es auf dem Berge der Verklårung sich wohl sein lieû und Hçtten baute (Mk 9,5), hat er mit dazu beigetragen, daû ein verhångnisvoller Stillstand in einer so verheiûungsvollen Bewegung einsetzte! Denn wie und wo anders als im Dogma sollten wir jenes Weltbild der Bibel als dem zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus gehærigen Welt bejahen kænnen? Es werden Erkenntnissåtze sein, hinter denen ein Ist steht, das so keinem anderen Weltbild entspricht: jenes Ist, das damit gegeben ist, daû Jesus der Christus ist! Daû also Gott lebt und daû er treu ist. Nicht unsere eigene Wahrheit und Wahrhaftigkeit wird in diesem Ist stecken, nicht unsere philosophische oder auch theologische oder auch konfessionelle Rechthaberei, sondern eben dies mçûte darin bezeugt sein, daû Gott recht hat und daû wir ihn in diesen unseren Aussagen rechtfertigen, daû er dieses sein Recht nun auch in unserem Denken, in dem, was wir sagen, bekommt. Hat Heim nicht darin etwas Richtiges gesehen, daû wir nun tatsåchlich çberall in der Offenbarung gefragt sind, was Zeit und Raum, was Ich und Du, was Leben und Tod denn sind? Daû wir uns, sobald wir da stehen, wo die Offenbarung Gottes aufbricht, durchaus noch immer in der Welt befinden, aber in einer durchaus verånderten, durchaus anderen Welt. Nicht etwa in einer »christlichen«, das sagen die Katholiken, sondern eben in der »Welt der Bibel«.

Kapitel 4: Ende und Neuanfang im Zuge der Leben-Jesu-Forschung

1. Albert Schweitzer und die Christologie 1 1.1 Der Abschied vom »historischen Jesus« Es geht einem hæchst merkwçrdig, wenn man heute ± vierundvierzig Jahre nach dem Erscheinen ± das erste groûe Werk Albert Schweitzers wieder zur Hand nimmt, »Von Reimarus zu Wrede, die Geschichte der Leben-JesuForschung«. 2 Bis zum Erscheinen von Karl Barths Geschichte des Protestantismus im 19. Jahrhundert 3 ist solch ein Buch nicht mehr geschrieben worden. Diese beiden Bçcher, ein Menschenalter voneinander geschieden, haben doch etwas Gemeinsames. Sie sind beide ein Abschied. Und sie sind zugleich ein Denkmal. Sie sind wie der Abschied des Sohnes vom Vaterhaus, sie verleugnen nicht, daû sie von daher kommen, daû sie von da Bestes empfangen haben. Insofern sind sie ein Denkmal. Aber sie machen zugleich handgreiflich, daû dies Vaterhaus fçr sie keine Bleibe mehr ist, daû sie hinaus mçssen, ganz gleich, wie das Drauûen beschaffen sein mæge. Sie sehen die Risse im Gemåuer, sie schreiben ihr Buch, um allen deutlich zu machen, daû es Zeit ist, nach neuen Gestaden aufzubrechen. Sie stehen selbst bereits auf einer hæheren Warte, sie sind herausgetreten aus den Streitfragen, die unter ihren Fçûen noch hin- und herwogen, sie haben gesehen, daû eine Epoche zu Ende geht, und haben daraus die Konsequenzen gezogen. Barths Buch ist der Abschied vom Absolutismus, von jener Zeit des sich absolut setzenden Menschen, der eben darum zur Offenbarung nicht mehr ja sagen kann. Dessen Theologie zur Philosophie werden muû, weil es fçr ihn sonst keine Gewiûheit gibt. Denn alle Gewiûheit muû selbst absolut 1. 2. 3.

Ûberschrift Iwands. A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tçbingen 1906. Iwand benutzte die erste Auflage; Seitenangaben im Text nach dieser. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zçrich 1947.

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sein, evident, umittelbar. Es ist unmæglich, von einem »historischen Ereignis« in seinem Glauben abhångig zu sein. »Auf diesen Schlamm, auf diesen Schlamm, groûer Gott! wenn auch einige Goldkærner darunter wåren, versetzt trotzig und keck mein Nachbar das vollendete Gebåude seines Glaubens!« 4 Weil es das Zeitalter des Absolutismus ist, muû es alles Historische aus der Offenbarung vernichten. »Ein Andres sind erfçllte Weissagungen, die ich selbst erlebe, ein andres erfçllte Weissagungen, von denen ich nur historisch weiû.« 5 Wenn »keine historische Wahrheit demonstriret werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheit demonstriret werden.« 6 Albert Schweitzer (1875-1965) hat dies an einem Punkte erwiesen, freilich an einem auûerordentlich bedeutsamen, entscheidenden: am historischen Jesus! Es ist merkwçrdig, Barth scheidet als ein Mann in voller Reife von jener Epoche, die der sich absolut setzende Mensch bedeutet ± er hat bereits den Fuû auf einem festen Land, als er den Nachen, der ihn dahin getragen, von sich stæût. Schweitzer schreibt sein Buch in ganz anderer Bedrångnis. Er sieht, daû die Zeit der »historischen Leben-Jesu-Forschung« zu Ende geht, aber er weiû nicht, was nun kommen soll, bzw. wo er davon redet, erinnert er uns an Nietzsche: das Negative ist deutlich und ansprechend, das Positive bleibt im Leeren. Wie im Faust die Szene mit der Sorge 7 das einzige ist, was wirklich haftet ± das andere ist dazugesetzt, damit das Stçck ein versæhnliches Ende hat. Was dieser junge Straûburger Privatdozent mit seinem Buch eigentlich meint ± dieses Buch, mit dem er ebenfalls als eine »unzeitige Geburt« (1Kor 15,8) mitten unter seine Zunftgenossen tritt, sie alle çberragend, darum auch von ihnen grundsåtzlich ignoriert ±, das findet man an jener unvergeûlichen Stelle, wo Schweitzer çber die Eschatologie redet. Denn er ist der Meinung, daû die historische Leben-Jesu-Forschung damit zu Ende geht, daû sie in historischen Relativismus einerseits und konsequente Eschatologie andererseits zerfållt. Schweitzer sieht, daû die eschatologische Situation, die Johannes der Tåufer und Jesus herbeifçhren, sich von der bisherigen jçdischen Eschatologie in einem grundsåtzlich unterscheiden: Alle anderen apokalyptischen Bewegungen sind durch historische Ereignisse hervorgerufen, aber »der Tåufer und Jesus treten nicht im Verlauf einer allgemeinen eschatologi4. 5. 6. 7.

G. E. Lessing, Eine Duplik, Schluûabschnitt, in: Lessings theologische Schriften, hg. von Chr. Groû, III, 89 f. (zitiert in K. Barth, a. a. O., 222 f.). G. E. Lessing, Ûber den Beweis des Geistes und der Kraft, a. a. O., 9 f. (zitiert in K. Barth, a. a. O., 224). G. E. Lessing, ebd., 11 f. (zitiert in K. Barth, a. a. O., 224). J. W. Goethe, Faust II, V. 11389 ff.

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Kapitel 4: Ende und Neuanfang im Zuge der Leben-Jesu-Forschung

schen Bewegung auf. Die Zeit bietet ihnen auch keine Ereignisse, welche die Eschatologie in Gang zu setzen scheinen. Sie selber bringen die Zeit in Bewegung, indem sie handeln, eschatologische Tatsachen schaffen. Dieses gewaltsam Schæpferische ist das historisch Unbegreifliche der Eschatologie des Tåufers und Jesu. An Stelle der Schriftstellerei, die aus einer feinen erdachten Vergangenheit redet, treten Menschen, lebendige Menschen, in der Eschatologie auf. Es war das einzige Mal in der jçdischen Eschatologie. Stille ringsum. Da erscheint der Tåufer und ruft: Tuet Buûe! das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! Kurz darauf greift Jesus, als der, welcher sich als den kommenden Menschensohn weiû, in die Speichen des Weltrades, daû es in Bewegung komme, die letzte Drehung mache und die natçrliche Geschichte der Welt zu Ende bringe. Da es nicht geht, hångt er sich dran. Es dreht sich und zermalmt ihn. Statt die Eschatologie zu bringen, hat er sie vernichtet. Das Weltrad dreht sich weiter und die Fetzen des Leichnams des einzig unermeûlich groûen Menschen, der gewaltig genug war, um sich als den geistigen Herrscher der Menschheit zu erfassen und die Geschichte zu vergewaltigen, hången noch immer daran. Das ist sein Siegen und Herrschen« (367). Das also ist das Letzte, was die historische Forschung feststellen kann: das Ende, der Versuch Jesu, die Parusie des Gottesreiches durch seine Tat herbeizuzwingen ± und der Griff ins Leere. Aber seitdem dreht sich das Rad. Seitdem geht eine Bewegung durch die Menschheit, die ohne jene Drehung nicht denkbar wåre, seitdem gibt es »Geschichte«, Nåhe des Gottesreiches zu uns. Seitdem hat das Reich Gottes seine starre Ferne verloren und ist mitten unter uns getreten. Jesus greift in die Speichen des eschatologischen Rades ± und indem es in Bewegung geråt, bringt er die Liebe vom Himmel auf die Erde! Seitdem ist die Welt verwandelt und wird fortgehend verwandelt. »Jesus ist unserer Welt etwas, weil eine gewaltige geistige Stræmung von ihm ausgegangen ist und auch unsere Zeit durchflutet. Die Tatsache wird durch eine historische Kenntnis weder erschçttert noch gefestigt. Sie ist der Realgrund des Christentums« (397). Nur wçrde man Schweitzer miûverstehen, wenn man annåhme, er habe etwa çber die historische Leben-Jesu-Forschung so gedacht wie wir heute ± oder wie Martin Kåhler, der sie einen »Holzweg« nannte. 8 Nein, Schweitzer nennt sie »die græûte Tat der deutschen Theologie. (¼) Was hier geschaffen ist, ist fçr das religiæse Denken der Zukunft grundlegend und verbindlich« (1). »Sie stellt das Gewaltigste dar, was die religiæse Selbst8.

M. Kåhler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892), Mçnchen 19613 , 18.

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besinnung je gewagt und getan hat.« In der modernen Dogmengeschichte sind wir »mit der Vergangenheit fertig« geworden; wir haben uns befreit vom »dogmatischen Denken« als einem aus dem Griechischen eingedrungenen fremden Element. In der Dogmatik selbst suchen wir »das religiæse Leben als Erkenntnis fçr die Gegenwart« zu entfalten, aber in der »Erforschung des Lebens Jesu schaffte sie [die deutsche Theologie] fçr die Zukunft, in dem reinen, nicht schauenden Glauben an die Wahrheit«. Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung muû bis zu Paulus selbst zurçck. Zunåchst mag die »absolute Indifferenz des Urchristentums fçr das Leben des historischen Jesus verblçffend« sein, Paulus will »den Christus nach dem Fleisch nicht kennen« (2Kor 5,16), und dies ist »die erste Tat des Selbsterhaltungstriebes, der das junge Christentum dann jahrhundertelang geleitet hat, da es fçhlte, daû mit der Einfçhrung des historischen Jesus in den Glauben etwas Neues sich ereignen wçrde, das in den Gedanken des Herrn selbst nicht vorgesehen war«. Das Urchristentum lebte in der »zukçnftigen Welt [also in der mythologischen] mit dem kommenden Christus«, so »blieb« es »in seiner Anschauung einheitlich« (2). Darum hat es uns »nur Evangelien, nicht Biographien Jesu çberliefert (¼). Aber das Fortbestehen der Welt hob seine Einheit von selbst auf und zwang den çberweltlichen Christus mit dem historischen Jesus von Nazareth zu einer historisch-zeitlosen Persænlichkeit zusammen. Das war die Tat des Gnostizismus und der Logoschristologie« (2 f.). Dabei fiel aber »das Recht und Interesse der Forschung seines Lebens und historischen Wesens« dahin. Die griechische Theologie schuf ein neues »çbernatçrlich-historisches Evangelium, und wir dçrfen von Glçck sagen, daû die Synoptiker damals schon so gefestigt waren, daû sie durch das vierte Evangelium nicht mehr verdrångt werden konnten«. Die Kirche muûte von nun an »zwei gegensåtzliche Evangelien als Einheit nebeneinander stellen«. Die Zweinaturenlehre verriegelte fçr immer die Mæglichkeit, auf den »historischen Jesus zurçckzugehen«. Dieses Dogma muûte erst zum Einsturz gebracht werden, ehe man die Frage nach dem »historischen Jesus« wieder stellen konnte. Das sind die »langen Wehen«, in denen die »historische Anschauung des Lebens Jesu« geboren wurde. »Als er schon zum Leben wiedererweckt war, trug er noch die Binden des Todes wie weiland Lazarus ± die Binden des Zweinaturendogmas« (3). 9 9.

In Stichworten verweist Iwand auf den folgenden Satz bei Schweitzer: »In der Vorrede seines ersten Lebens Jesu (1829) erzåhlt [Karl von] Hase, daû ein guter alter Herr, der von seinem Plane hærte, ihm riet, im ersten Teil von der menschlichen, im andern von der gættlichen Natur Jesu zu handeln. Das war naiv« (3 f.).

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Diese Erforschung des Lebens Jesu »ging nicht von dem rein geschichtlichen Interesse aus, sondern sie suchte den Jesus der Geschichte als Helfer im Befreiungskampf vom Dogma. Dann, als sie vom Pathos befreit war, suchte sie den historischen Jesus, wie er ihrer Zeit verståndlich war. Fçr Bahrdt und Venturini ist er das Werkzeug eines geheimen Ordens. Sie schreiben beide unter dem Eindruck des groûartigen Wirkens des Illuminatenordens am Ende des 18. Jahrhunderts. Fçr Reinhard, Heû, Paulus und die çbrigen rationalistischen Darsteller ist er der wunderbare Offenbarer der Tugend«. »Und nicht nur die Epochen fanden sich in ihm wieder: jeder Einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persænlichkeit. Es gibt kein persænlicheres historisches Unternehmen, als ein Leben-Jesu zu schreiben. (¼) die groûartigsten sind mit Haû geschrieben« (Reimarus, David Friedrich Strauû). Es ist der Haû »gegen den çbernatçrlichen Nimbus«, mit dem sich diese Person »umgeben lieû«. Die groûen Hasser haben die Geschichte am weitesten »vorwårts gebracht« (4). »Es muû ja Ørgernis kommen« (Bahrdt, Bruno Bauer, der Wolfenbçtteler Fragmentist »Vom Zwecke Jesu und seiner Jçnger«, D. F. Strauû). »Ein so schmerzliches und entsagungsvolles Ringen um die Wahrheit, wie es in den Leben Jesu der letzten 100 Jahre beschlossen liegt, hatte die Welt noch nie gesehen und wird es nie mehr sehen.« »Stçck fçr Stçck« wird preisgegeben, wovon man zunåchst geglaubt hatte, sie »niemals (¼) preisgeben zu mçssen.« Das Entscheidende aber ist das »Problem selbst«, es ist »ohne Analogon in der Geschichtswissenschaft« (5). Die çbliche historische Methode reicht nicht aus; »die Forschung des Lebens Jesu hat sich ihre Methode selbst schaffen mçssen« (6). Zwei Schwierigkeiten erheben sich: der Gegensatz zwischen den Synoptikern und Johannes ± man kann nicht zwei Herren dienen ± und die Zusammenhanglosigkeit des Gebotenen. Wie die Lçcken ausfçllen? Mit historischer Phantasie? »Jede Auffassung ist zugleich eine Vergewaltigung des Textes.« Was wir von Jesu Selbstbewuûtsein wissen, ob es darin eine Entwicklung gegeben hat (Petrusbekenntnis! Mt 16,16), beruht auf bloûen Experimenten und stæût auf Widerspruch der Quellen: Jesus fçhlt sich als Messias und doch ist »er niemals wirklich als Messias aufgetreten«. Die Quellen »statuieren also ein Verhalten, welches mit dem von ihnen angenommenen Selbstbewuûtsein absolut nichts zu tun hat«. Ûberall sind wir darauf angewiesen, »durch Experimente zu approximativer Erkenntnis zu kommen« (7). Die letzten Tage in Jerusalem »werden unbegreiflich«, wenn das Volk »nur den Schimmer einer Ahnung« davon hatte, »daû Jesus sich fçr den Messias halten kænnte« (8). Aber »welches war die Vorstellungswelt des damaligen Judentums«? Ist die messianische Erwartung damals »Ge-

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meingut ¼ oder nur Konventikelreligion«? Und »welche Form« nimmt sie »in dem Selbstbewuûtsein« (8) Jesu an? Es gibt zwei Perioden der »Leben-Jesu-Forschung«, »vor Strauû und nach Strauû«. »Die erste wird beherrscht von dem Problem des Wunders« (9). Mit Strauû ist diese Frage gelæst: Wunder sind mythische Bestandteile der Quellen! Die Tçbinger machen die Alternative zwischen Synoptikern und Johannes fest (Holtzmann 10 setzt dazu die Markus-Hypothese ins rechte Verhåltnis). Aber die zweite Entscheidung setzt ein mit der Frage, welche Bedeutung die Eschatologie in der Vorstellungswelt Jesu gehabt hat. Das ist das Problem des »Selbstbewuûtseins Jesu«! Da erneuert Johannes Weiû die These des Reimarus ± »radikale Geltendmachung der Eschatologie« ± und Wrede den Versuch Bruno Bauers, »das Messianische aus dem Leben Jesu zu eliminieren« (10). Die Frage, mit der Schweitzer die Leben-Jesu-Forschung enden sieht, ist: »Liegt das Unbegreifliche der historischen Persænlichkeit Jesu in der Geschichte selbst oder nur in der Darstellung ihrer Quellen« (11)? 11 Lessing kann einmal prophetisch sagen: »Aus ihrer inneren Wahrheit mçssen die christlichen Ûberlieferungen erklårt werden und alle schriftlichen Ûberlieferungen kænnen ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat.« 12 Was uns nun aus diesen »Leben Jesu« entgegenflutet, ist ungeheuer: sei es bei dem alten Reimarus der Schnitt zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium von Jesus (das die Jçnger erfanden), daû Jesus nicht der Anfånger eines neuen, sondern der Vollender »des eschatologisch-apokalyptischen Spåtjudentums« sei (23), sei es bei Herders Auffassung vom vierten Evangelium als »Protest gegen das enge ­palåstinensische Evangelium¬«; nach Herder war »hinter jenen ålteren bloû historischen Evangelien (¼) ein dogmatisch-historisches Evangelium Johannes durchaus nætig« (35). Schweitzer dazu: »Strauû ist Herder, nur mit der kleinen Gråte der konsequenten historischen Wunderverneinung« (37). Oder ich denke an das Aufkommen der Markus-Hypothese (Ch. H. Weiûe), an die Entdeckung, daû die Synoptiker »historisch« unhaltbar sind (Bauer), an die eschatologische Auffassung des »Menschensohnes« im Prozeû Jesu, den konsequenten Skeptizismus und die konsequente Eschatologie (Wrede). »Es ist schwer, die Messianitåt aus dem ­Leben Jesu¬, besonders aus der Leidensgeschichte, zu eliminieren; viel schwerer aber noch, wie schon 10. H. J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, Leipzig 1863. 11. Iwand bemerkt zwischen Klammern: »Gemeindetheorie?«. 12. G. E. Lessing, Axiomata 10 (Lessing schreibt auch das erste Mal: die schriftlichen Ûberlieferungen). Zitiert bei A. Schweitzer, a. a. O., 59.

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Keim gesehen, sie nachher wieder in die Gemeindetheologie hineinzubringen« (341). »Das historische Datum des Messiasglaubens der Jçnger ¼ muû ¼ die Auferstehung Jesu sein. ­Die Datierung der Messianitåt von der Auferstehung ist nun jedenfalls nicht ein Gedanke Jesu, sondern ein Gedanke der Gemeinde. Das Erlebnis der Erscheinung des Auferstandenen ist dabei vorausgesetzt¬« (341 f.). 13 Damit stehen wir unmittelbar vor den Toren der neuen »Christologie«. Die Auferstehung und die Gemeinde ± beide Græûen werden neu fçr die Christologie gesehen werden mçssen. Auferstehung ± und Geschichte! Es wird neu zu fragen sein: Sind die Evangelien von der Auferstehung her geschrieben? Was bedeutet die Einheit des Gestorbenen und Auferstandenen? Welchen Sinn haben die Erscheinungen am Grabe? Aber auch: Wie war die »historische Leben-Jesu-Forschung mæglich« ± und wie kænnen wir ihren Ertrag behalten? Evangelien sind Verkçndigung! Kanon und Kirche ± wieder neue Fragen. Endlich: statt Leben-JesuForschung wieder Christologie (Zweinaturenlehre, Inkarnation! Nur unter Wegfall dieser gibt es den »historischen Jesus«).

1.2 Die Leben-Jesu-Forschung und die Christologie 14 Albert Schweitzer hat zwei sehr kluge Beobachtungen gemacht: einmal, daû der historische Jesus erst sich erheben kann, wenn die Zweinaturenlehre zerbrochen ist. Eins ist sozusagen das Siegel auf dem Grab des anderen! Wenn das eine kommt, geht das andere und umgekehrt: In dem Moment, da der »historische Jesus« wieder zurçcktritt, ist die Zweinaturenlehre wieder da! Wie kommt das? Das liegt an einem einzigen Punkt: an dem Zusammenhang zwischen der Person Jesu und der Auferstehung! War mit der Menschwerdung schon die Auferstehung gesetzt, weil eben der Logos nicht sterben kann (und so denkt die Schrift, vgl. Apg 2,24), so muû der irdische Jesus in jedem Augenblick seines zeitlichen Lebens bereits die Zeit aufgehoben haben, in seiner Person ist ja immer schon die Auferstehung gesetzt! Dann mçssen alle Regeln und Gesetze historischer Erfassung an dieser Person zuschanden werden. Es ist kein Zufall, wenn wir bei Schleiermacher lesen: »Die Thatsachen der Auferstehung und Himmelfahrt Christi, so wie die Vorhersagung seiner Wiederkunft zum Gericht 13. Das Zitat im Zitat stammt von W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verståndnis des Markusevangeliums, Gættingen 1901, 218. 14. Ûberschrift Iwands: Albert Schweitzer und die Christologie II.

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stehen mit der eigentlichen Lehre von seiner Person in keinem umittelbaren und genauen Zusammenhang.« 15 Dieser Zusammenhang muû zerschnitten werden, um çberhaupt von Person in einem uns analogen Sinne bei Jesus reden zu kænnen. Man kann von einem Menschen, der auferstanden ist und zur Rechten Gottes sitzt, nicht sprechen ± wie von einem, der von Erde genommen ist und wieder zu Erde werden muû! In dem Moment also, da wir wieder diesen Zusammenhang herstellen, da der »Menschensohn« unter dem Aspekt der Auferstehung und Wiederkunft auf Erden wandelt, ergeben sich ganz neue, fçr die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts (und zwar fçr die liberale wie fçr die orthodoxe) unerhærte Aufgaben in der Christologie! Aber wenn wir das nicht wollen, dann mçssen wir den historischen Jesus wollen! Nur daû er, der den Theologen vor hundert Jahren so zum Greifen nahe war, heute in die Eschatologie zurçckgetreten zu sein scheint. Er ist uns unendlich ferne gerçckt. Die »LebenJesu-Forschung« hat den historischen Jesus, eben den, den sie entdeckt hat, selbst in eine Illusion verwandeln helfen. Und wir stehen heute da wie jener Hans im Glçck, der seinen Goldklumpen immer weiter eintauschte, bis er nur noch einen Mçhlstein um seinen Hals legen konnte: an dem Gelånder der historischen Leben-Jesu-Forschung hofften wir aus dem Dunkel der dogmatischen Befangenheit ins Freie, ins Helle zu kommen, aber am Ende dieses Weges wartete die absolute Skepsis! Wer war dieser Jesus, mit historischer Unbefangenheit gesehen? Er gehært mitten hinein in die jçdische Apokalyptik, sein Leben und Sterben ist nur zu fassen, wenn man es unmittelbar auf die Erwartung der Endzeit bezieht! Das ungeheure Problem des Christentums, das sich bereits im Neuen Testament niederschlågt, besteht eben darin: die Endzeit kommt nicht! Der Gang Jesu zum Kreuz ist ein Stoû ins Leere! Gott zerreiût die Himmel nicht und enthçllt den Gemarterten nicht als den Messiaskænig! Der historische Jesus endet als eine unheimliche Frage, auf die erst die Theologie der Gemeinde, vornehmlich die des Paulus, antwortet. Aber werden wir je wieder dahin zurçckfinden, woher wir gekommen sind? Wird uns die Lehre von der Inkarnation je wieder faûbar werden? Und kann man sich die Lehre von der Inkarnation denken, ohne daû wir vor der ungeheuren Aufgabe stehen, auch die der Trinitåt wieder in Angriff zu nehmen? Man sieht, wie sich eben mit dem Ende der Leben-Jesu-Forschung eine tiefe, ins dogmatische Zentrum hineinreichende Krise innerhalb der Theologie anbahnen muûte. Das zweite, das Albert Schweitzer uns vermittelt hat, ist ein Einblick in den Zusammenhang und die Bedeutung der Leben-Jesu-Forschung als 15. Vgl. oben S. 90, Anm. 39.

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ganzer. Sie ist unser, der deutschen Theologie, echtestes Schicksal. Vielleicht hångt das damit zusammen, daû nirgends das Ringen zwischen Theologie und Philosophie so umfassend war, daû die Ûbergånge zwischen beiden so zahlreich, die Nåhe zueinander so groû war, wie hier. Denn eben in der Leben-Jesu-Forschung bemåchtigt sich die Philosophie der Person Jesu! »Wer sagen die Leute, daû der Menschensohn sei?« (Mt 16,13) ± der historische Jesus, das ist jener Jesus von Nazareth, der in der ganzen Unbegreiflichkeit seines Redens und Tuns vor uns hintritt, einschlieûlich seines Ganges zum Leiden, und mit dem wir (aus eigener Vernunft und Kraft 16 ) nun irgendwie fertig werden sollen. Die Leben-Jesu-Forschung ist insofern etwas wirklich Ungeheures, als hier ein Forscher nach dem anderen ± aber in seinem Forschen darin immer wieder ein Typ, ein Sprecher von unzåhligen, ungenannten, die dahinterstehen ± sich an dem Råtsel des Jesus von Nazareth versucht! Sozusagen versucht, ohne Brille in die Sonne zu sehen! Versucht, ohne das Seil von oben gefaût zu haben, diese steile Wand zu erklimmen, die mit seiner Geschichte unbezwungen mitten in den Gebirgszçgen unserer Menschheitsgeschichte steht! Blind, mit zerbrochenen Gliedern oder sich irgendwo in halber Hæhe bescheidend ± auf einem liberalen Rasenplåtzchen grasend oder doch noch den Frieden mit der Kirche machend ±, so enden sie schlieûlich alle. Ein erschreckender Zug. Aber werfen wir kurz einen Blick darauf: Es beginnt (wie gesagt) sehr heimlich und anonym. Die Reformation hat keinen historisch-kritischen Geist gegençber der Evangeliençberlieferung aufkommen lassen, sondern alles soweit wie mæglich harmonisiert. Hermann Samuel Reimarus (16941768), ein Professor fçr orientalische Sprachen in Hamburg, låût ein anonymes Manuskript unter seinen Bekannten zirkulieren. 1774 beginnt Lessing mit der Herausgabe der »Fragmente«. Der Grundgedanke des Reimarus ist erstens »dasjenige, was die Apostel in ihren Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben selbst ausgesprochen und gelehrt hat, gånzlich abzusondern« (16). 17 Zweitens muû man »die Katechismusvorstellungen von einer metaphysischen Gottessohnschaft, von der Dreieinigkeit und die sonstigen dogmatischen Begriffe zu Hause lassen und nur auf jçdische Anschauungen ausgehen«. 18 Jesus hat »die jçdische Religion in keinem Stçcke abschaffen und statt derselben eine neue einfçhren wollen« 19 (17). Nur gegençber der Gesetzesgerechtigkeit dringt er auf eine 16. 17. 18. 19.

M. Luther, Kleiner Katechismus, Auslegung des dritten Artikels. Zitat von Reimarus. Zitat von Reimarus. Zitat von Reimarus.

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neue, tiefere Sittlichkeit! Der Bruch mit dem Judentum erfolgt erst, als die Jçnger durch den Ausschluû aus der Synagoge gezwungen sind, eine neue Religion zu grçnden! Der so trockene Reimarus, der nur als Philologe an den Stoff herangeht, der alles andere ist als das, wozu ihn dann Lessing machte, hat eins gesehen: Jesus bringt in der Tat keine neue Religion. Die Verånderung liegt offenbar allein darin, daû mit seiner Person der Messias gekommen ist. Und er nimmt die These zu Hilfe, daû zwei Messiasvorstellungen im Judentum nebeneinander laufen: die davidisch-politische und die danielisch-apokalyptische vom leidenden, erst in Niedrigkeit, dann in Herrlichkeit wiederkehrenden Kænig. Reimarus meint nun, daû die Jçnger Jesu, als die erste Vorstellung am Kreuz zerbricht, sich auf die zweite zurçckziehen und so eine neue Enderwartung, die Wiederkunft des Jesus von Nazareth auf den Wolken des Himmels schaffen! Bis heute ± bis zu der ganzen rabbinistischen Arbeit am Neuen Testament ± sind hier bereits die Fragen gestellt, und sie wurden bisher kaum çberholt! Der »historische Jesus« ± das heiût einfach und zunåchst: gehært er nicht hinein ins Judentum? Ist das Christentum nicht ± geschichtlich gesehen ± nur ein Ableger der endzeitlichen Erwartungen des Judentums? Kein Wunder, daû der Rationalismus daneben nun sofort ein anderes Bild entwerfen muû. Es ist die Zeit der Franzæsischen Revolution. Alles muû zweckmåûig erklårt werden. Denn die moralischen Schriften der Alten geben jetzt das Paradigma ab fçr die Auslegung der Worte Jesu. Die Hauptsache bleibt die Vermåhlung der Religion mit der Vernunft, und eben das ist Jesu eigentliches Werk. Jesus ist ± nach Franz Volkmar Reinhard (1853-1812), Oberhofprediger in Dresden ± der gættliche Lehrer und »verfolgt (¼) mit Ruhe, Nçchternheit und Kaltblçtigkeit« (nur keine Schwårmerei!) »seinen gættlichen Entwurf« (33). 20 Am deutlichsten wird dieser »ausgebildete Rationalismus« klar an Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851 Heidelberg). 21 Entscheidend ist fçr ihn, die religiæse Bedeutungslosigkeit des Wunderglaubens aufzuweisen: »wie leer wåre die Gottandåchtigkeit oder Religion, wenn das Wohl davon abhinge, ob man an Wunder glaubt oder nicht!« (50). 22 Unser Zeitalter ist »vom Wundersamen entfernt« und verlangt Befriedigung der »Verståndigkeit«, wenn die »Gçltigkeit der Sache fortdauern soll« 23 . So hålt er denn auch sein »Leben Jesu« in der Sprache nçchternster Plattheit. Die 20. Zitat von Reinhard. 21. Die Ûberschrift des Kapitels V (48-56) lautet: »Der ausgebildete Rationalismus. Paulus«. 22. Zitat von Paulus. 23. Zitat von Paulus.

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Jçnger werden zu »Lehrschçlern« und der Glaube zur »Ûberzeugungstreue«. Der Satz: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben« (Mk 9,24), nimmt dann die Form an: »Ich bin çberzeugungstreu, hilf auch, wenn ich Mangel in der Ûberzeugungstreue habe.« »Die Szene im Hause zu Bethanien wird çberschrieben: (¼) ­Ein Messias ohne steifes Feierlichtun¬« 24 (55). Die Auferstehung ist Wiederbelebung, weshalb ihn auch die Jçnger an den Någelmalen und der Seitenwunde erkennen (Joh 20,20). Man sieht: Die Auferstehung bleibt Schibboleth der Leben-Jesu-Darstellung, auch bei Schleiermacher und Karl von Hase ist das nicht anders: Auferstehung ist Wiederbelebung! Dann aber kommt David Friedrich Strauû (1808-1874). Was ist das Groûe und bedeutende an seinem »Leben Jesu«? Man kænnte sagen, es ist dies, daû Hegel hinter ihm steht! Daû er ± åhnlich wie der junge Marx ± von ihm das Prinzip der schæpferischen (nicht etwa nur der literarischen) Dialektik çbernimmt. Oder man kann sagen, daû er Schluû macht mit den Anpassungsversuchen in Sprache und theologischen Begriffen, wie das die Vermittlungstheologie Schleiermachers noch geçbt, ja, wie das selbst bei einem so hundertprozentigen Rationalisten wie Paulus noch beibehalten ist. Strauû macht dem ein Ende. Und er macht ein Ende, indem er den Mythos als positive Græûe einfçhrt: das Historische und das Mythische zusammen ± das ergibt die Christusidee! »Der Mythus war, nach Strauûens Worten, das Prachttor, durch das man in die evangelische Geschichte eintrat und durch das man sie wieder verlieû; zwischen den beiden Prachttoren aber lagen die krummen und winkligen Gassen der natçrlichen Erklårung.« (77) Man muû also zwischen die Historizitåt des Tatsåchlichen und den uns çberlieferten Bericht die »Produktivitåt« des Mythischen einschalten. »Die Sage beginnt ihr geschåftiges Werk sogleich nach dem Tode der groûen Persænlichkeiten.« Dabei wird man sich am Begriff des Mythos nicht stæren dçrfen. »Was ist er anderes als die geschichtsartige Einkleidung religiæser Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage und konsolidiert an einer historischen Persænlichkeit?« (77). Wie frei und treffend ist hier der Begriff des Mythos definiert! Gewiû, Sage und Mythos sind nicht unterschieden, aber entscheidend ist doch jene Feststellung: geschichtsartige Einkleidung religiæser Ideen! Im Alten Testament war das seit langem çblich. De Wette, Eichhorn und Gabler hatten den Mythos långst zur Erklårung heiliger Geschichten angewandt, warum sollte es Strauû verwehrt sein, auch das Neue Testament von daher zu lesen? Die Idee, die sich hier 24. Zitat von Paulus.

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realisiert, ist die der Gottmenschlichkeit, die historische Persænlichkeit Jesu ist nur der »zufållige« Tråger dieser Idee in einer vorbildlich-typischen Weise. Die Evangelien sind geschrieben in »schaffender Erinnerung, unter dem Eindruck der Idee, welche jene Persænlichkeit unter der Menschheit zum Leben gerufen hatte«. Also in der Idee selbst lebt die Person fort, ihre geschichtlich relative Verkærperung kann dahintengelassen werden wie die Puppe, wenn der schæne Schmetterling sich zur Sonne erhebt. Nicht der »historische Jesus« ist der Tråger der Idee, sondern diese trågt hinfort ihn, macht seinen Namen zu dem Leib ihrer selbst. »Und die Idee der Gottmenschlichkeit, als des Zieles der Menschheit, das sich in jeder Persænlichkeit verwirklichen soll, ist das Ewig-Wirkliche an der Person Jesu, welches keine Kritik zerstæren kann.« Jesus hat »jene Idee dargestellt und in der Menschheit zum Leben erweckt«. Von da ab lebt sie, »heute und in Ewigkeit« (78). Wir brauchen Strauû nicht weiter zu verfolgen ± sein »Leben Jesu« erscheint erstmalig 1835/36, es ruft etwa 60 Entgegnungen, Bekåmpfungen, gelehrte und ungestçm-laienhafte Polemiken hervor. Es bricht mit ihm zum ersten Mal im ganzen Volk, bei den Gebildeten und in der Gemeinde die Frage nach dem »historischen Jesus«, nach den Wundern, nach dem Wert der Quellen, nach dem Sinn der Bibelkritik auf. Er hat als erster das Problem des Mythischen in die Debatte geworfen. Bis heute sind wir damit nicht fertig geworden, bis heute will beides auseinandergehen, die historische Forschung, die in Relativitåt und Skepsis auslåuft ± und die dogmatische Deutung, die in der fortwirkenden Idee des Christentums meint das Ewige fassen zu kænnen. Strauû hat die Synoptiker »befreit« ± sie waren jetzt nicht mehr çberdeckt von dem Johannesevangelium, denn dieses war nun bereits die fortgeschrittene Station in der Umformung des Historischen in das Ideelle! Die Synoptiker schienen dem nåher zu sein, »was wirklich war«. Und sie schienen als Quelle gçnstig zu liegen, da sie aufeinander verwiesen. So findet Christian Hermann Weiûe 1838 die Markus-Hypothese, die bald von Christian Gottlob Wilke beståtigt wird und die freie Bahn fçr eine evolutionistische Darstellung des Lebens Jesu zu geben scheint: das Besondere an der »Markushypothese«, die çbrigens von einem Philosophen entdeckt wurde, ist eben dies: Nun scheint man dem historisch faûbaren Jesus ganz nahe. Nun ist er gleichsam zum Greifen nahe, man kann sogar eine Entwicklung seines Messiasbewuûtseins feststellen, es zeichnen sich Linien eines inneren Werdens ab, er hært auf, ein dogmatisches Gespenst zu sein und gewinnt Fleisch und Blut. Gerade dazu muû aber auch Markus entmythologisiert werden, ± denn nur diesseits des Mythischen ist das Histori-

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sche zuverlåssig. So prågt Weiûe zur Auferstehung Jesu die Formel: »Geschichtliche Tatsache ist eben nur der Glaube, nicht der mythische Glaube der spåteren christlichen Welt an die leibliche Auferstehung des Herrn, sondern der persænliche Wunderglaube der Apostel und ihrer Gefåhrten« (129). 25 Nur das bleibt bestehen: Die Apostel haben Erscheinungen des Auferstandenen gehabt, in denen sie meinten, seine Gegenwart zu erfahren. Die Frage, ob jene auûerordentlichen Phånomene »auf Wahrheit oder auf Tåuschung beruhen« låût sich »auf historischem Weg nicht mehr beantworten« (129). 26 Wir sehen: Hier wird die Alternative, der die historische Leben-Jesu Forschung zutreibt, immer deutlicher ± wie wenn man das Rauschen eines Kataraktes immer lauter hært, dem man gefåhrlich nahe kommt: Die Auferstehung Jesu und die Geschichte! Wie kann man »historisch« das Leben eines Menschen beschreiben, der den Tod çberwunden hat: »Sitzend zur Rechten Gottes, von dannen er wiederkommen wird«? Und das Ganze so, daû es in einem Menschen die Geschichte nicht nur tangiert, sondern mehr: in ihr rumort, wie wenn ein Sprengstoff in sie hineingekommen wåre, der alles aufreiût, was Form und Gesetz heiût. Die Våter der Markushypothese sehen das: die Auferstehung darf uns nur als Erlebnis der Jçnger begegnen ± sonst wird der Rand zwischen Geschichte und Mythos verwischt. »Sicher ist nur, ­daû die Auferstehung Jesu çberhaupt nur eine dem Gebiete des Geistes- und Seelenlebens, nicht der åuûerlichen Kærperlichkeit angehærende Tatsache sei, daû an ihr der irdische, ins Grab gelegte Leib keinen Anteil gehabt habe.¬« (129) Strauû hat alles Historische mit Mythischem durchsetzt gesehen, Weiûe drångt den Mythos zurçck und schafft die Basis fçr die neue historische Forschung. Hier siedeln sich nun alle jene »Leben Jesu« an, die ausgesprochen uneschatologisch sind: das Reich Gottes wird nun das Reich »in uns«, alles wird auf die Persænlichkeit Jesu zugeschnitten, er ist ± wieder kann man sehen, wie hier die damals herrschende Theologie, der Kantische Ritschlianismus die Farben zu dem Bilde mischt ± das lebendige Beispiel des Gottvaterglaubens, den er seinen Jçngern vorlebt! Aber grundsåtzlich sind wir alle darin gleich: alle sind wir gemeint als Kinder dieses Vaters im Himmel. Und der Gottvaterglaube (jene Generation wuûte noch nicht, daû sie damit ein heidnisches Wort prågte) wurde das eigentliche Thema der gesamten historischen Leben-Jesu-Auffassung. So legten sie seine Worte aus, und Markus erschien als das ganz sichere Gelånde, wo man seine Positionen aufbauen konnte. Aber ± ein Zeichen, wie genau ein hæheres 25. Zitat von Weiûe. 26. Zitat von Weiûe.

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Schicksal in dieser Sache zu verfahren beliebt ± gerade hier erwartete die Leben-Jesu-Forschung die letzte und schwerste Katastrophe! William Wrede (Das Messiasgeheimnis in den Evangelien) låût hier die historische Betrachtung endgçltig scheitern: »Die Messianitåt Jesu, wie wir sie in den Evangelien antreffen, ist ein Produkt der sich die Geschichte zurechtlegenden Gemeindetheologie« (335). Es erweist sich als unmæglich, Jesus und seine Geschichte auseinanderzunehmen. Der historische Skeptizismus und die radikale Eschatologie sind das Ende der Leben-Jesu-Forschung! Es ist noch ein Name zu nennen, der auûerordentlich bedeutsam ist und der durch Schweitzer eine sehr spåte, aber glånzende Rechtfertigung erlebt: Bruno Bauer, der Linkshegelianer! Nach einer Menge kritischer Schriften zu den Evangelien schreibt er zusammenfassend »Christus und die Cåsaren«, Untertitel: »Der Ursprung des Christentums aus dem ræmischen Griechentum« 27 . Bauer hat die Existenz Jesu geleugnet in dem Sinne, daû sie unerheblich sei. Entscheidend sei die Idee. Darin geht er mit Strauû einig. Aber nun zeigt sich etwas hæchst Wunderbares, auch hier ist auf einmal das Skandalon. Fçr Bauer ist alles »Reflexionsarbeit« (139), nicht nur das Johannesevangelium. »Alles ist (¼) literarische Fortbildung gewisser Grundgedanken und Motive jenes ersten Schriftstellers [gemeint ist Markus]« (141). Zunåchst geht Bauer noch in Hegelschen Bahnen, das Messiasbewuûtsein der Urgemeinde ist Ansatz zur Christologie ± spåter wendet er sich gegen dieses seltsame »Ich«. »Es war (¼) verhångnisvoll, daû die Gestalt, welche die erste Befreiung des Selbstbewuûtseins verkærperte, am Leben blieb.« »Das Selbstbewuûtsein hatte es in den Evangelien mit sich selbst wenn auch mit sich selbst in seiner Entfremdung, also mit einer fçrchterlichen Parodie seiner selbst, aber doch mit sich selbst zu tun: daher jener Zauber, der die Menschheit anzog, fesselte und sie so lange, als sie sich noch nicht selbst gefunden hatte, zwang alles aufzubieten, um ihr Abbild sich zu erhalten, ja es allen anderen vorzuziehen und alles andere, wie der Apostel tat, im Vergleich mit ihm ­Dreck¬, zu nennen.« Dieses »Ich«, dieser »Christus« wollte nicht sterben. »Er wurde der Vampyr der geistigen Abstraktion, der Vernichter der Welt. Saft und Kraft, Blut und Leben, bis auf den letzten Blutstropfen saugte er der Menschheit aus. Natur und Kunst, Familie, Volk und Staat wurden aufgelæst; und auf den Trçmmern der untergegangen Welt blieb das ausgemergelte Ich sich selbst als die einzige Macht çbrig« (155). Es ist Zeit, die Selbstentfremdung zu çberwinden und Natur und Welt nicht durch 27. B. Bauer, Christus und die Cåsaren. Der Ursprung des Christentums aus dem ræmischen Griechentum, Berlin 1877.

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Entfremdung, sondern durch Versæhnung zu adeln. Der Christus-Jesus ist, weil Gemeindeschæpfung, unser eigenstes Produkt: Produkt des »menschlichen« Geistes in dem Prozeû der Selbstbefreiung aus der Dualitåt zwischen Gott und Mensch. Es ist stehengebliebener Mythos, der nun die Natur zu vernichten droht. Erkennen wir in dieser Idee unser eigenes Werk ± und sie fållt in sich zusammen. Die Christusidee hat mit dem Menschen, »der einer wirklichen Welt angehært«, nichts zu tun! »Die Welt ist jetzt frei und reif fçr jene hæhere Religion, wo das Ich die Natur nicht durch Selbstentfremdung çberwindet, sondern dadurch, daû es sie durchdringt und adelt. Dem Theologen aber wirft man die Lumpen seiner Wissenschaft, wenn man sie zerrisen hat, als Geschenk und zur Beschåftigung zu, damit ihm in der neuen, immer nåher kommenden Welt die Zeit nicht lang werde« (156). Wir sehen, wie Bauer in seinen Lenden schon das Ecce homo trågt, das einer, der nach ihm kommt, in die sogenannte christliche Welt des Abendlandes schleudern wird. Das Christentum ist die unterirdischste Verschwærung gegen alles Edle, Reine, Natçrliche! 28 Nicht nur um des Kreuzes willen, sondern um dieser Messias-Idee willen. So erlæst man die Welt nicht. Ein neuer, besserer, nicht aus Selbstentfremdung, sondern in Selbstversæhnung erwachsener Messias muû kommen, ein Jasager, kein Neinsager, damit wir endlich »zu uns selbst finden«. Denn auch der Christus ist eine Epoche des menschlichen Selbstbewuûtseins. Man erschrickt: In der Leben-Jesu-Forschung (das hat Schweitzer noch nicht gesehen) ist der Schatten des Antichrist gewachsen, groû und tief und bewegend ± wann wird er sich wie eine Nacht çber das geistige Gelånde legen, in dem wir uns bewegen?! Bruno Bauer hat ihn entdeckt ± er hat den Optimismus Strauûens zerschlagen, er hat in der Christusidee den Gegenspieler des Jesus Christus erkannt. Hier hieû es nicht mehr: Der Logos (das Wort) wurde sarx (Fleisch) (Joh 1,14), sondern umgekehrt: Die sarx wurde Logos, wurde Geist! ± Was sollen wir dazu sagen? Die Leben-Jesu-Forschung hat eins gezeigt: Der Mensch Jesus Christus ist nicht minder ein Glaubensartikel, als daû er wahrer Gott ist, die zweite Person der Trinitåt. Das 19. Jahrhundert irrte, wenn es meinte, an der Menschheit Jesu kænnte es mit seiner »geschichtlichen«, seiner »historischen« Untersuchung einsetzen. Auch diese Mensch28. Vgl. F. Nietzsche, Der Antichrist, Aphorismus 62, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 10, 455 (= Schlechta II, 1235; KSA 6, 371 ff.) und: Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, Aphorismus 7 f., Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 10, 455 (= Schlechta II, 1257 ff.; KSA 6, 252 f.).

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heit widersetzt sich dem. »Dies Fleisch fleischert nicht!« 29 Die Zwei-Naturen-Lehre meldet sich wieder. Aber es ist zugleich deutlich geworden, daû sie selbst einer Korrektur bedarf: Sie hat sich zu einseitig dem theotokos zugewandt. 30 Sie hat selbst Schuld daran, daû die Grenze zum ldeellen und somit Antichristlichen nicht streng beachtet wurde. Man muû Christus »ins Fleisch« ziehen. Er offenbart nicht nur Gott, sondern auch den Menschen. So werden wir vor einer neuen Epoche der Christologie stehen, in der nun der Mensch Jesus ein neues theologisches Problem bildet.

2. Rudolf Bultmann: Jesus 31 2.1 Jesus: Urheber des urchristlichen Kerygmas Etwa im Jahre 1927 erschien ein in seiner Art neues Jesus-Buch, Bultmanns »Jesus«, No. 1 in der Sammlung »Die Unsterblichen. Die geistigen Heroen der Menschheit in ihrem Leben und Wirken«. Es ist bis heute ein unerreichtes Buch. Es ist der Schluûstein auf der Leben-Jesu-Forschung. Ein erstaunliches Buch, von dem man nur bedauern kann, daû es heute nicht mehr so wie damals in der Hand jedes Studierenden ist. Vielleicht die geschlossenste und in ihrer Art schænste Leistung, die Rudolf Bultmann (1884-1976) vorgelegt hat. Auch in ihrem kritischen Radikalismus das Øuûerste, was gewagt werden konnte. Jedenfalls, solange man Jesus in historisch gçltiger Weise darstellt. Es ist nåmlich ein im tiefen Glauben an Jesus geschriebenes Buch, dennoch so gehalten, daû es in dieser seltsamen Reihe der »Unsterblichen« zunåchst nicht auffållt. Es hålt sich an die dort gçltigen Regeln strengster historischer Kritik. Jesus als Person innerhalb der Geschichte, in der auch ich lebe, das ist laut Einleitung das metho29. M. Luther, zu Joh. 6,5, WA 33,188,32; 190,41; 191,39. 30. »Theotokos« war ein Stichwort in der dogmatischen Auseinandersetzungen in der alten Kirche, von Cyrill von Alexandrien als entscheidendes Kennzeichen angegeben: Es bezeichnet die Jungfrau Maria als Gottesgebårerin, um auszudrçcken, daû es der fleischgewordene Logos ist, den sie dem Fleische nach gebar. Die Gegenseite befçrchtete, daû mit dieser Ausdruckweise behauptet wurde, der Logos selbst sei ins Fleisch verwandelt worden. Iwand begnçgt sich hier mit der Andeutung dieses Stichwortes. 31. Ûberschrift Iwands.

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dische Ziel der Darstellung. Bultmann muû ± da er den dogmatischen Weg vermeiden will ± die Grenze respektieren, die die Leben-Jesu-Forschung bis hin zu Bauer gezogen hat. Nicht einmal, daû Jesus gelebt hat, ist wesentlich. Es ist der Versuch, im Rahmen der Geschichte von Jesus zu berichten, nicht etwa von ihm als dem Heiland der Welt zu zeugen! Es ist in einer einzig dastehenden Asketik geschrieben ± es vermeidet jede Erbaulichkeit, jede dogmatische Hilfskonstruktion; es will Jesus nur nach seiner geschichtlichen Wirksamkeit unter Benutzung der Quellen darstellen; es låût seinen Tod, also den ganzen Prozeû weg; es låût Jesus nur zu Worte kommen in seinen Logien und Parabeln. Mehr nicht! »Man kommt (¼) mittels der kritischen Analyse zu einer åltesten Schicht, auch wenn man diese nur mit relativer Sicherheit abgrenzen kann. Natçrlich hat man erst recht keine Sicherheit, daû diese Worte der åltesten Schicht wirklich von Jesus gesprochen sind«, aber es ist »deutlich (¼), daû er als Urheber hinter der geschichtlichen Bewegung steht, deren erstes greifbares Stadium die ålteste palåstinensische Gemeinde darstellt.« 32 Wieweit die Gemeinde das Bild »von ihm und seiner Verkçndigung objektiv treu bewahrt hat«, ist fraglich. Aber fçr unsere Zwecke bedeutet das nichts. Denn es geht um den »Komplex von Gedanken, der in jener åltesten Schicht der Ûberlieferung vorliegt«. Indem wir diesen Komplex »befragen«, »suchen wir die Begegnung mit der Geschichte«. »Als der Tråger dieser Gedanken wird uns von der Ûberlieferung Jesus genannt; nach çberwiegender Wahrscheinlichkeit war er es wirklich. Sollte es anders gewesen sein, so åndert sich damit das, was in dieser Ûberlieferung gesagt ist, in keiner Weise. (¼) Wer dieses ­Jesus¬ fçr sich immer in Anfçhrungsstriche setzen und nur als abkçrzende Bezeichnung fçr das geschichtliche Phånomen gelten lassen will, (¼) dem ist es unbenommen« (14).

2.2 Jesus: lebendig pråsent im Wort Man sieht, Bultmann setzt sein »Leben Jesu« da an, wo Albert Schweitzer, wo die konsequente Skepsis stehenblieb: auch wenn Jesus nie gelebt håtte (was historisch so gut wie ausgeschlossen ist), bleibt doch ein Traditionsgut der åltesten palåstinensischen Gemeinde ± und dieses redet uns an! Jesus begegnet uns hier (mag er es sein oder nicht) in seinem Wort. Und 32. R. Bultmann, Jesus (Die Unsterblichen. Die geistigen Heroen der Menschheit in ihrem Leben und Wirken, Bd. I), Berlin o. J. (19261 ), Mçnchen und Hamburg 19673 , 13 f. Seitenangaben nach dieser Ausgabe im Text.

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diese Begegnung ereignet sich als eine geschichtliche Entscheidung. Machen wir uns in einem Bild klar, was Bultmann damit sagen will. Nehmen wir an, wir sitzen im Theater und »erleben« Kleists »Hermannsschlacht«. Wir fçhlen das Auf und Ab des Kampfes, die Sorge um den Bestand der Nation, ergrimmen beim Auftreten des Verråters und jubeln, wenn die fremden Eroberer weichen mçssen. Aber wir sind nicht dabei. Es ist nicht unsere Geschichte! Anders wenn wir selbst in einem solchen Geschehen mitspielen, wenn wir keine Mæglichkeit haben, vom Gættersitze einer Proszeniumsloge aus das Kåmpfen, Ringen, Sterben der Menschen mitanzusehen und hernach doch so hinauszugehen, daû eben meine Geschichte, meine Existenz davon nicht berçhrt wurde, sondern wenn wir selbst im Entweder-Oder stehen. Wenn wir fallen oder siegen mçssen, wenn wir keine Mæglichkeit haben, in das Zuschauerfeld der Betrachter auszuweichen, sondern auf dem endlichen Feld der menschlichen Geschichte zu dieser Begegnung gezwungen sind! So mæchte Bultmann seinen Jesus mitten unter uns auftreten lassen, auf der schmalen Brçcke dessen, was wir unsere Existenz nennen: die je meinige, auf der es kein Ausweichen gibt, wenn ein anderer mir hier entgegenkommt. Also eben keine Flucht in die distanzierte, objektivierte Form einer sei es nun historischen, sei es çbergeschichtlichen »Betrachtung«. Darum kann man auch den historischen Jesus »preisgeben«, in Wahrheit ist er damit von dieser Ebene nur gestrichen, um dafçr sehr viel unausweichlicher, sehr viel nåher und unmittelbarer uns zu begegnen: in seinem Wort. Bultmann sagt, es handle sich ihm »darum, jedes Jenseits der Geschichte gegençber zu vermeiden und innerhalb der Geschichte Platz zu finden« (10). Bultmann versteht unter Geschichte nicht »das, was passiert ist«. Er meint im Gegenteil und mit Recht, daû eine derartige Fassung von Geschichte schon voraussetzt, daû der Betrachtende auûerhalb der Geschichte steht und nun fçr ihn die Einheit geschichtlicher Realitåt in ein Doppelbild zerfållt: einmal die objektive neutrale Feststellung, »was war«, und zweitens die Wertung dessen aus irgendwelchen »çbergeschichtlichen« Axiomen heraus. Gerade dadurch betrçgt sich der Mensch um echte geschichtliche Begegnung. Er geht schon mit einem ± jenseits und abseits von dieser Begegnung gefundenen ± Maûstab an die Wirklichkeit heran, die ihm da entgegentritt. Er »weiû schon vorher«, was er damit anfangen wird. Er existiert also in Wahrheit selbst nicht als ein Glied der Geschichte, sondern steht neben ihr. Dabei ist es ganz gleich, ob wir mit einem vorgefaûten Dogma oder einem historisch-liberalen Urteil çber Jesus in die Geschichte eintreten ± wir wissen immer schon, wie wir mit ihm fertig werden. Wir sollten ihm aber begegnen, so daû er ungedeutet, er als der andere, er als wirklich geschichtliche Græûe uns begegnen

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kann. Es kænnte also sein, daû einer, der gar nicht an Jesus glaubt, ja sogar seine Existenz leugnet, viel besser zu dieser Begegnung prådestiniert ist als die, welche bereits wissen, wie sie sich ihm gegençber zu stellen haben! Bultmann mæchte also die Gleichzeitigkeit wiederherstellen zwischen Jesus und uns! Es sollte etwas von dem geschehen, was seinerzeit geschehen ist, als er in Palåstina auftrat. Erst wenn er uns so begegnet, in der Weise des Dialogs, wird die Begegnung mit ihm Ereignis sein kænnen auch fçr unsere Geschichte.

2.3 Geschichte und Eschatologie als hermeneutische Fragen Wir sehen also: Wo Albert Schweitzer ein Ende konstatiert hat, wo die radikale Skepsis und die radikale Eschatologie in der Leben-Jesu-Forschung ihn wieder ± wie ein Geheimnis ± zurçcktreten lassen aus der Geschichte, findet Bultmann einen neuen Weg. In dem von der Gemeinde gesammelten und çberlieferten Zeugnis existiert dieser geheimnisvolle Jesus von Nazareth. Hier kænnte es zur Begegnung mit ihm kommen. Begegnung heiût Dialog, und das heiût wiederum: Es kommt zu einem wirklichen Befragen der Geschichte, bei dem der Geschichtsschreiber gerade seine Subjektivitåt in Frage stellt und bereit ist, die Geschichte als Autoritåt zu hæren. Nehmen wir an, wir begegnen einem Menschen, der uns irgendwie Eindruck macht, den wir nicht einfach in der Schablone unterbringen, die wir fçr Menschen bereithalten. In solcher Begegnung wird unsere eigene Subjektivitåt in Frage gestellt, wir beginnen auf den anderen zu hæren. Es begegnet uns in seinem Wort ein anderer Mensch, und wir beginnen im Gegençber zu ihm neu zu leben. Das ist der Sinn jener Bultmannschen Methode (und Entdeckung), die nun doch noch einen Schritt weiter geht ± wo schon alles zu Ende zu sein scheint! Es gilt ein Leben Jesu zu schreiben, das ihn in seinen Worten uns gegençbertreten låût und uns so dazu verhilft, daû wir selbst wieder ihm gegençber zu einer echten geschichtlichen Existenz finden! An die Stelle der historischen Betrachtung tritt die geschichtliche Begegnung. Und deren Sinn ist die »Auslegung« bzw. das Gespråch. Darum verlagert sich das Gewicht von der historischen Forschung auf die Exegese, Geschichtsforschung wird mehr und mehr, wie das schon bei Wilhelm Dilthey geschehen ist, ein hermeneutisches Problem. »Nur wenn man sich selbst bewegt weiû von den geschichtlichen Måchten, nicht als neutraler Beobachter, und nur wenn man bereit ist, den Anspruch der Geschichte zu hæren, versteht man çberhaupt, worum es sich in der Geschichte handelt« (7). Bult-

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mann ist offenbar der Meinung, daû dies eine allgemeine Regel ist, also jegliche Art von geschichtlicher Begegnung betrifft. Gleichzeitig werde ich mit einer Græûe der Vergangenheit nur insofern und insoweit, als ich mit meinen eigenen Fragen ihr begegne. An die Stelle der historischen Beobachtung, die aus der Geschichte ein Stçck fremder Gegebenheit macht (wie etwa die Natur), tritt jetzt das existentielle Befragen, der Dialog. Und Bultmann ist weiter der Meinung, daû gerade in dem Dialog mit »Jesus«, jedenfalls mit den von ihm çberlieferten Worten, ich in einer unentrinnbaren Weise auf meine Existenz angesprochen bin. Jesus nagelt mich fest auf mein Jetzt und Hier. Jesus verlegt uns in seiner Verkçndigung die Flucht aus der Geschichte. Es wçrde also beides zusammentreffen: einmal, daû wir nur in der echten geschichtlichen Begegnung zum Verstehen geschichtlicher Wirklichkeit kommen ± und daû in der Begegnung mit Jesus sich uns diese unsere geschichtliche Wirklichkeit in einer ausgezeichneten Weise erschlieût; ausgezeichnet in dem Sinne, daû Jesus den Willen Gottes mir im Sinne einer jetzt zu fållenden freien Entscheidung nahebringt. »Die Gottesherrschaft (¼) ist (¼) eine Macht, die die Gegenwart vællig bestimmt, obwohl sie ganz Zukunft ist. Sie bestimmt die Gegenwart dadurch, das sie den Menschen in die Entscheidung zwingt; er ist so oder so, als Erwåhlter oder als Verworfener, in seiner ganzen gegenwårtigen Existenz durch sie bestimmt« (38). Dabei versteht Bultmann unter Zukunft nicht ein Phantasiebild eines kommenden Zeitalters, sondern »das auf den Menschen Zukommende, das ihn in die Entscheidung stellt. Ehe man Stellung nimmt, ist man bereits gezeichnet, und nur darum kann es sich handeln, daû der Mensch dies als sein eigentliches Wesen erfasse, in der Entscheidung zu stehen«. Es ist »immer letzte Stunde«, und so wird es begreiflich, daû »fçr Jesus die ganze zeitgeschichtliche Mythologie in den Dienst dieser Erfassung der menschlichen Existenz tritt und er in ihrem Lichte seine Stunde als die letzte erfaûte und verkçndigte« (39). Wir mçssen also unterscheiden: Es gibt ein existentielles und ein mythologisches Verståndnis von Eschatologie. Das eine muû um des anderen willen weichen: das eine (das mythologische) betrifft die vorgestellte Welt, ist Bild und Phantasie, das andere (das existentielle) betrifft meine geschichtliche Existenz. Hier werde ich in meiner Jemeinigkeit, in meinem »Dieser-eine-Sein« gestellt. Hier ist die Zukunft nicht mehr etwas Jenseitiges, sondern etwas mein Jetzt Bestimmendes, mich auf dieses Jetzt und Hier Festlegendes (vgl. Lazarus!). »Diese Situation der Entscheidung erwåchst fçr den Menschen daraus, daû auf ihn die Zukunft der Gottesherrschaft trifft« (40). So wie in der natçrlichen Existenz das »Wesen des Menschen dadurch charakterisiert« ist, »daû ihm Schicksal und Tod verhångt

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sind«, so ist auch die Gottesherrschaft »echte Zukunft«, als durch sie der Mensch »in seiner Gegenwart bestimmt ist« (40 f.). Nur soweit es sich also um ein existentielles Verstehen handelt, also um die Frage, »welche Auffassung vom Menschen ihr letztlich zugrunde liegt«, ist die Eschatologie Verkçndigung. Das Gegenstçck dazu ist die Mythologie. Sie »gleitet (¼) ab von der groûen Grundanschauung« (41). Hier kçndigt sich bereits jene Antithese an, die Bultmanns Namen spåter in soviel Streit verwickeln sollte: echte oder unechte Eschatologie, Eschatologie im Sinne der Entscheidung oder Eschatologie im Sinne eines Weltbildes. Kommt Jesus, um den Menschen in die Entscheidung zu stellen ± oder kommt er, um ihm bestimmte Vorstellungen çber Gott, Welt, Teufel, Sçnde, Endgericht usw. zu bringen? Bultmanns Jesus-Buch steht ganz unter dieser Antithese. Darum kçndigt sich hier bereits das kçnftige methodische Programm an: Entmythologisierung der neutestamentlichen Botschaft im Sinne jener existentiellen Entscheidung! Aber hier erhebt sich die Frage: Was bedeutet Entscheidung in diesem Sinne? Bedeutet sie vielleicht nur dies, daû wir unsere geschichtliche Existenz gewinnen? Daû uns Jesus zum echten Existieren vor Gott verhilft? Daû er uns herausholt aus dem, wie »man lebt«, aus dem Verfallensein unseres Daseins an seine Zeitlichkeit, d. h. an sein naturhaftes Vegetieren? Bedeutet Jesus vielleicht nur dies, daû in der Begegnung mit ihm der Ernst der Ewigkeit groû wird çber unserem Leben? Daû wir uns im Gewissen getroffen wissen? Das wåre freilich schon sehr viel! Und wir wçrden damit einen ganzen Kreis dessen erfaût haben, was seine Verkçndigung enthålt (vgl. das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus Lk 16,19-31). Aber kåme er damit hinaus çber das, was bereits die prophetische Verkçndigung tat? Es fehlt doch offenbar darin eben das (und es muû ja fehlen), daû Jesus die Gottesherrschaft in Person ist (Origenes). Darum fehlt auch die Freude (der Begriff der »Freudenbotschaft« tritt ganz zurçck: Evangelium!). Es fehlt das Gegençber von »Gerechten« und »Sçndern«; wenn es lediglich darum geht, den Menschen im Verfallensein ihres Daseins zum Verstehen ihrer Existenz zu verhelfen, so sind eben doch beide, »Gerechte« und »Sçnder«, in gleicher Weise getroffen. Es fehlt das Was der Entscheidung! Daû sie sich an der Freudenbotschaft entscheiden, an der Vergebung der Sçnden, tritt nicht heraus. Der formale Begriff der existentiellen Entscheidung regiert, und darum kann der inhaltliche des (von Gott her proklamierten) Entschiedenseins nicht das A und O der Verkçndigung Jesu bilden. Aber trotz allem bleibt das eine das groûe Verdienst dieses Jesus-Buches, daû Jesus von der Verkçndigung her verstanden ist. Wçrde es reziprok geschehen sein, also die Verkçndigung auch von Jesus her (der Name ist entscheidend), dann wçrde das

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Messiasgeheimnis deutlicher herausgetreten sein. So droht sich alles auf das Geheimnis meiner Existenz zuzuspitzen, wåhrend doch offenbar alle Jesus-Worte und seine ganze Verkçndigung auf das Geheimnis seiner Existenz, seines Unter-uns-Seins angelegt ist! Hier råcht sich die Tatsache, daû Bultmann Jesus ganz aufgehen låût in seiner Verkçndigung ± man sieht, die eigentliche Christologie ist noch ein leerer Fleck! Aber ungeachtet dieser Grenze gehært nun das, was çber die Verkçndigung Jesu hier zu lesen ist, zum Besten, was neuerdings geschrieben wurde. Denn durchgehend wird das Wort Jesu als ein solches erfaût, das uns zum Umdenken zwingt. Der Mensch in seinem natçrlichen, und das heiût griechisch-idealistischen Verståndnis begegnet hier dem eschatologischen Wort.

2.4 Die drei Kreise der Verkçndigung Jesu Bultmann hat dies in drei Kreisen gezeigt, die sich immer mehr verengen, um schieûlich ganz auf das Wort von der Vergebung herauszukommen: »Eine andere Mæglichkeit, daû die Vergebung Gottes fçr den Menschen Wirklichkeit werde, als das Wort, gibt es nicht« (148). Im Worte und nicht anders bringt Jesus die Vergebung, denn er ist »Tråger des Wortes und im Worte sichert er den Menschen die Vergebung Gottes zu« (147). Wir werden sehen: Die Theologie konnte (notwendigerweise) nicht stehenbleiben bei dem Satz: Er ist Tråger des Wortes, sie muûte den nåchsten Schritt machen und den Begriff Tråger (Instrument) ausschlieûen. Sie muûte wieder nachzudenken wagen, was es heiût: Er ist ± das Wort! So steht Bultmann an der Schwelle, er bleibt der ernste Mahner, die eschatologische Botschaft Jesu auf die Existenz zu beziehen. In ihm lebt Kierkegaard fort und macht seinen Ruf geltend in einer selbstvergessenen und selbstverlorenen Zeit. Aber das eigentliche Problem der Christologie bleibt noch ungelæst. Was wçrde geschehen, wenn wir wieder sagen wçrden: Er ist das Wort! Wenn also das Wort in seiner Person eine ± geschichtlich so nie dagewesene und nie wieder zu erwartende ± Existenz gewånne! Es ist gar nicht anders mæglich ± der Existentialismus konnte nur ein Ûbergang sein, um von da aus neu die dogmatische Basis der Christologie in Angriff zu nehmen! Aber sehen wir uns die drei Kreise der Verkçndigung Jesu noch kurz an.

2.4.1 Das Kommen der Gottesherrschaft

Die Gottesherrschaft ist das Heil, »das allem irdischen Wesen ein Ende macht«. Sie ist »als eschatologisches (¼) Heil (¼) allen relativen Gçtern diametral entgegengesetzt«. Sie ist also nicht ein »­hæchstes Gut¬ im Sinne

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der Ethik« (28). Vielmehr ist alles auf den Willen abgestellt. »Jesus kennt Gott gegençber nur die Haltung des Gehorsams. Da er den Menschen in der Entscheidung sieht, so liegt fçr ihn das Wesen des Menschen im Willen, in der freien Tat, und demgegençber hat die dualistische Anthropologie, die zwei Wesenheiten im Menschen wirksam sieht, Geist und Fleisch, keinen Sinn. (¼) Der ganze Mensch ist schlecht, wenn sein Wille schlecht ist« (36 f.). Alles das ist richtig. Und doch werden wir ein Aber anmelden mçssen. Dieses Aber betrifft einen einzigen Satz aus dem ganzen Abschnitt, aber dieser Satz durchzieht das Ganze wie ein roter Faden, er gibt dem Ganzen seinen Geschmack ± und wir wissen nicht, ob das neutestamentlich ist: »Das Heil steht vor dem Menschen als ein Entweder-Oder« (28). Wirklich? Hat Kierkegaard recht gehabt, wenn er »Entweder-Oder« in unsere Zeit hineinrief? Ist das der Ruf der Botschaft Jesu? Ist das die Freiheit, die er bringt und auf die hin er uns anspricht? Ist das das Heil? Das Entweder-Oder heiût nicht, daû wir zu den Sçndern uns zu rechnen haben, wenn wir das Heil fassen sollen. Jesus bringt das Heil den Sçndern ± das ist die der »Entscheidung« vorausgehende Botschaft! Die Entscheidung Gottes fçr uns geht unserer Entscheidung fçr Gott voraus und macht sie allererst mæglich. Wie kann ich mich çberhaupt »fçr oder gegen« Gott entscheiden? Ist das nicht gerade die Situation der Verzweiflung, daû ich meine, das zu kænnen? Ist das nicht gerade das Miûverståndnis der Gerechten, daû sie das Gesetz in diesem Sinne verstehen? Und nun kommt Jesus und sagt: Gott hat sich fçr euch entschieden ± das ist das Heil der Welt! Jesus entlastet gerade die menschliche Existenz von der Last einer ± unmæglichen, darum die Menschen zu Heuchlern machenden ± Entscheidung! Er bindet keine neuen Lasten, um sie uns aufzulegen. Er lådt die Mçhseligen und Beladenen ein. Er geht an den Gerechten vorçber und wendet sich ± das ist das Paradox ± den Sçndern zu!

2.4.2 Der Wille Gottes

Wir fragen: Was ist Gottes Wille? Zunåchst wird der Wille Gottes wieder abgegrenzt gegençber allem idealistischen und auch asketischen Verståndnis. »Der Wille Gottes ist also fçr Jesus sowenig ein soziales oder politisches Programm wie ein ethisches System, das von einem Idealbild des Menschen und der Menschheit ausgeht. Er kennt nicht den Begriff der Persænlichkeit oder der Tugend (¼); und wie er keine Tugendlehre hat, so auch keine Pflichtenlehre, keine Gçterlehre. Es gençgt, daû der Mensch wisse, daû Gott ihn in seiner konkreten Situation, im Hier und Jetzt, in die Entscheidung gestellt hat. (¼) Keine Autoritåt und keine Theorie (¼) kann (¼) ihm (¼) diese Verantwortung abnehmen« (76 f.). In diesem Sinne

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der Freiheit und der Verantwortung analysiert Bultmann das Doppelgebot der Liebe. Aber das ist zu beachten: Das sittliche Gebot bekommt nun seine eschatologische Beziehung; die eschatologische Botschaft und der Wille Gottes gehæren in eins zusammen. Bultmann hat gesehen, daû das Ethos der Verkçndigung Jesu von der Zukunft her (vom Reich her) bestimmt ist. »Die Gottesherrschaft bleibt solange ein dunkles und schweigendes Etwas wie der Tod, solange nicht klar wird, daû die Forderung der Entscheidung fçr den Menschen einen klaren, verståndlichen Sinn hat. Nur dann ist die Bestimmtheit der Gegenwart durch die Zukunft der Gottesherrschaft nicht eine Vernichtung der Gegenwart, sondern ihre Erfçllung; nur so gibt die Zukunft dem Menschen wirklich seine Existenz im Jetzt.« Ebenso wird der Mensch »durch die Entscheidung« seinerseits »zum Sçnder oder zum Gerechten«, er tritt entweder »unter die Herrschaft des richtenden Gottes oder des begnadigenden Gottes« (91). Es geht also in der Begegnung mit dem Willen Gottes um die Zukunft des Menschen. Das ist richtig! Unser ganzes Leben kommt in den Blick (¼ wenn er die ganze Welt gewænne! Fçrchtet euch nicht vor den Menschen!). Aber ± wieder mçssen wir eine Frage anmelden, immer dieselbe Frage. Hier heiût es: entweder der richtende oder der begnadigende Gott. Ist das ein Entweder-Oder? Hier heiût es: entweder Sçnder oder Gerechter. Ist das ein Entweder-Oder? Wie, wenn der Sçnder der Gerechtfertigte wåre und der Zçrnende eben der Begnadigende, nicht »in uns«, nicht auf unsere Existenz bezogen, sondern auf Ihn, auf unser Sein zu ihm bezogen! In ihm ist Gott der immer zugleich Zçrnende und Begnadigende. Es geht also nicht nur um die Gleichzeitigkeit zwischen uns (heute) und ihm (Jesus von damals), sondern es geht um das simul von iustus und peccator (Zugleich von Sçnder und Gerechter)! Kænnte das nicht der tiefere Sinn der Eschatologie sein, daû wir vor Gott beides zugleich sind? Denn das bedeutet eben die Nåhe und der Einbruch der Gottesherrschaft, daû der Sçnder gerecht ist, das ist Evangelium! Unerhærteste Paradoxie! Das ist so, weil es Gottes Gnadenwille, Spruch Gottes ist.

2.4.3 Der ferne und der nahe Gott

Mit dieser Ûberschrift ist natçrlich das Thema Gesetz und Evangelium gemeint. Gemeint ist, daû Gottes Nåhe Vergebung heiût. »Der Mensch kann sich in (¼) seinem eigentlichen Sein getroffen, beansprucht wissen von einem Du. Ja in Wahrheit gibt ihm dieser Anspruch erst seine Existenz als Ich. Und daû er, zum Ich erwachend, sich durch ein unausweichliches Du beansprucht weiû, das bedeutet es, daû er von Gott redet, und zwar von Gott als Person, die als Du zum Ich redet« (141). Von daher gesehen kann

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er dann sagen: »So fern der Sçnder der Gnade ist, und so sehr ihn die Vergebung verwandelt und erneut ± so ist doch die Verzeihung fçr ihn das Verståndlichste von der Welt, so verståndlich wie ein Wort der Liebe und des Verstehens zwischen Mensch und Mensch« (143). Im Wort der Vergebung kommt es also zur Begegnung zwischen Ich und Du, dem Ich Gottes und dem Du des Menschen. Ob Bultmann meint, daû darum, weil diese Begegnung die Personalitåt setzt (also erst schafft), auch das Wort der Vergebung erst echte Geschichte setzt und so in der Vergebung das eigentliche Geheimnis aller echten Geschichte, d. h. menschlichen Beziehung im Sinne von Ich und Du sich ereignet? Hier begegnet uns nun zum dritten und letzten Mal das Problem des Entweder-Oder: es ist das Gegençber von Ich und Du. Vielleicht ist das çberhaupt sein letzter Sinn! Das heiût also, es geht darum, den Menschen in dieses persænliche Gegençber zu versetzen. Aber wie, wenn auch dieses Gegençber sich als gefåhrlich erwiese? Wenn es gerade im Blick auf die Vergebung umgekehrt heiûen mçûte: »Ich bin dein, du bist mein, niemand kann uns scheiden« 33 ? Wie, wenn Vergebung und Genugtuung (satisfactio) untrennbar miteinander zusammenhingen?

33. »Warum sollt ich mich denn gråmen?« (Paul Gerhardt), EG 370,11.

Kapitel 5: Die Christologie und die Frage der Humanitåt

1. Emil Brunner 1 1.1 Die neue Begegnung mit der reformatorischen Theologie Luthers 1.1.1 Vernunft und Offenbarung

Emil Brunner (1889-1966) ist derjenige unter den Theologen unserer Zeit, der am stårksten den Unterschied zwischen der reformatorischen Theologie und der seit Schleiermacher geçbten Methode zum Ausdruck bringt. Bei ihm kann man mehr als bei allen anderen begreifen lernen, was fçr ein Ereignis die Begegnung mit der reformatorischen, in Sonderheit mit der Theologie Luthers im Raum der gesamten Dogmatik gewesen ist. Schon in jener ersten, mit groûem Schwung geschriebenen Schrift »Erlebnis, Erkenntnis und Glaube« 2 wird die Absage des Glaubens an jede auûerhalb seiner selbst liegende Stçtze deutlich. Hat Schleiermacher den Glauben auf die Erfahrung, Hegel ihn auf die Erkenntnis bezogen, so stellt Brunner in dieser Programmschrift die reformatorische Souverånitåt des Glaubens (fides) wieder her. Weil der Glaube alles begrçndet, ist er selbst durch nichts begrçndet, ist er Anfang und Ende, der alles umspannt. Es gibt weder die Frage, wie ich zum Glauben komme, noch die andere, welcher allgemeinen Norm der Glaube unterliegt, wohl aber komme ich vom Glauben her zu einer neuen Sinngebung des Daseins, zu einem echten Verstehen und Begreifen des Zusammenhanges aller Dinge. Es ist bezeichnend fçr Brunner, daû er von Anbeginn Wort und Sinn als eins ansieht, der Logos ist beides in einem, und so ist mit der Theologie auch zugleich die christliche Philosophie hier gesetzt. Brunner hat dann mit einer umfassenden Arbeit der Revision auf den beiden entscheidenden Gebieten der Dogmatik eingesetzt: einmal in jenem Lehrkreis, den man Apologetik nennen kænnte und der das groûe Thema Vernunft und Offenbarung umspannt. Das andere Gebiet ist die Christolo1. 2.

Vgl. NWN 2, 100 ff.; 270 ff. Siehe dort auch das Namenregister. E. Brunner, Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, Tçbingen 19211 .

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Kapitel 5: Die Christologie und die Frage der Humanitåt

gie. Zunåchst das Thema Vernunft und Offenbarung. 3 In der Reformation war es Melanchthon zugefallen, die Rolle der Vernunft (ratio) zu entfalten. Er war der Systematiker und Lehrer der Reformation darin geworden und hatte hier den Zusammenhang mit dem Humanismus gewahrt. Dies sein Thema nimmt Brunner auf, aber er stellt es um: es heiût nun Offenbarung und Vernunft. Brunner tut zweierlei: Er kehrt das Verhåltnis um ± wenn die Aufklårung die Vernunft als die allgemeine Wahrheit ansieht, hingegen die christliche Offenbarung als die besondere, und nun die Frage nicht mehr stille werden will, wie ich vom Allgemeinen zum Besonderen komme, warum also gerade dieser Jesus die Wahreit ist, so sagt Brunner nun: Die Christusoffenbarung ist das Universale, alles Umfassende; wenn das Wort Fleisch wird (Joh 1,14), so ist dies Besondere zugleich der Zugang in das Universale, in den Logos, den Sinn des Ganzen. Der »imposanten Synthese« von Vernunft und Offenbarung »hat die Reformation einen gewaltigen Stoû versetzt, indem sie nicht nur Kirche und Staat, Kirche und Welt auseinanderriû, sondern auch das gedankliche Fundament dieser Einheit, die Synthese von Philosophie und Theologie, von Vernunft und Offenbarung zerstærte und ihren Gegensatz geltend machte. Aber schon in der ersten Generation des Reformationszeitalters fand sich Melanchthon als Lehrer der Sprachen und Lehrer der Lehrer genætigt, die zerstærte Verbindung wiederherzustellen. Seitdem hat die Frage, inwieweit zwischen Vernunft und Offenbarung Krieg oder Frieden bestehen soll, die protestantische Theologie nicht mehr losgelassen« (306). Und weiter heiût es: »Je græûer die gedanklichen Mittel sind, mit denen die Theologie arbeitet, desto unmæglicher erweist sich eine rein negative, antithetische Auffassung des Verhåltnisses zwischen Offenbarung und Vernunft. Theologie als Wissenschaft betreiben heiût, Vernunft in den Dienst des Gotteswortes stellen (¼). Darum kann die Frage niemals lauten: ob, sondern nur inwieweit und in welchem Sinne Vernunft und Offenbarung, Glaube und vernunftmåûiges Denken miteinander verbunden werden kænnen« (307). Das Kapitel ist çberschrieben: Der Logos der Offenbarung und der Logos der Vernunft. 4 Brunner meint nåmlich, daû die Lehre von der Offenbarung nicht mit der bloûen Begrçndung der Schriftautoritåt anheben sollte, sondern ± im Unterschied zur Orthodoxie ± eine Lehre von der Offenbarung der Lehre von der Schrift als dem verbum Dei (Wort Gottes) vorgeordnet 3. 4.

E. Brunner, Offenbarung und Vernunft. Die Lehre von der christlichen Glaubenserkenntnis, Zçrich 19411 . Seitenangaben im Text. Kapitel 20, S. 305-317.

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werden muû, insofern Christus der rex scripturae (Herr der Schrift) ist. Wohin das weist, ergibt folgender Satz: »Die Idee der Wahrheit, die wir als Philosophen erkennen, wenn wir uns çber das Wesen des Geistes Rechenschaft geben, bezeichnet den Ort, an dem fçr die Glaubenserkenntnis der ewige Sohn Gottes, der in Jesus Christus Mensch wurde, steht.« Man beachte also: Brunner redet hier bereits von dem ewigen Sohn Gottes und sieht in ihm, in der zweiten Person der Trinitåt, eben das gefunden, was die Philosophie sucht, wenn sie von ewiger Wahrheit redet. »Alle Wahrheit kommt von Jesus Christus« sagt Brunner. Alle Wahrheitserkenntnis ist also christusbezogen! Aber die »Idee des Logos«, von dem der Glaube spricht, ist immer die »Idee einer Person«. »Abgesehen von dieser seiner Offenbarung kennen wir den Logos Gottes nicht.« Also: Kein allgemeiner Wahrheitsbegriff, der als solcher den Ausgangspunkt bildete; der Satz, daû Gott die Wahrheit ist, kann nur richtig gemeint sein, wenn wir die Wahrheit, die Gott ist, in seinem Sohn finden! Insofern ist Christus der Mittler. Der Begriff des Mittlers ist Zentralbegriff der Offenbarung, denn nur in der Person Jesu Christi ist Gott erkennbar, ist çberhaupt alles, was Anspruch erhebt, Wahrheit zu sein, gegeben! »Auch die Erkenntnis der einfachsten mathematischen Wahrheit ist nur mæglich durch einen Strahl aus dem Lichte Gottes« (314). Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daû die ratio in sich die Mæglichkeit håtte, Gott zu erkennen, daû sie »itinerarium mentis in Deum« (»den Reisebericht der Seele zu Gott« 5 ) vollziehen kænnte. Brunner bejaht mit Karl Barth und ± wie er meint ± mit den Reformatoren die strikte Ablehnung der aus der Schæpfungsoffenbarung abgeleiteten analogia entis (Seinsanalogie). »Die Sçnde (¼) hat (¼) die Vernunft pervertiert (¼). Im gegenwårtigen Zusammenhang heiût diese Perversion genauer: die Abstraktion. Das abstrakt-spekulative Denken (¼) fçhrt nicht zum wahren Gott, sondern in die merae tenebrae rationis (Luther). 6 (¼) Der wahre Gott kann nur erkannt werden in seinem Abstieg zu uns.« (315) Die ratio hat also eine besondere, eigene Funktion ± obschon die Erkenntnis Gottes ihr nicht zusteht. Und hier kænnen wir die Besonderheit Brunners im Unterschied zu Barth leicht begreifen: Das Wirken Gottes reicht weiter als das regnum Christi (Reich Christi)! »Er wirkt in den Ordnungen der Natur, in den ­Erhaltungsordnungen¬ der menschlichen Gesellschaft, auch da, wo man nichts von ihm weiû« (315). »Dieses verborgene, 5. 6.

Bonaventura. Die vollkommene Finsternis der Vernunft. Vgl. M. Luther, WA 40-III, 613,13: »Estque revera ad coelestem illam lucem collata ratio nihil aliud quam merae tenebrae et caligo densissima« (zu Jes 9,1).

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nicht durch Offenbarung und Glauben geschehende, dieses ­fremde¬ Wirken Gottes, das opus alienum Dei, bezeichnet die Heilige Schrift nie als Wirken Christi ± sonst håtte ja Christus dem Pilatus die Macht verliehen, Christus zu tæten. (¼) Denn von Jesus Christus wird nur da gesprochen, wo es um das opus proprium Dei, um sein Offenbarungs- und Erlæsungshandeln geht. (¼) Jesus Christus ist der incarnatus (fleischgewordene) Logos, nicht der Logos incarnandus (der noch Fleisch werden soll). Der Christusname bleibt der geschichtlichen Offenbarung Gottes vorbehalten, trotzdem es kein anderer als eben der ewige Logos Gottes ist, der in Jesus Christus Mensch wurde. (¼) Der ewige Logos ist wirksam, wo irgend etwas Wahres erkannt wird; Jesus Christus aber ist am Werk, wo auf Grund seiner geschichtlichen Offenbarung an ihn geglaubt wird. Er ist das Haupt der Gemeinde.« Sein Wirken ist »erlæsend«, also streng soteriologisch. »Dazu aber gehært die Veritas-Idee der Philosophie nicht« (316). Der Vernunftlogos ist nicht jener »Sohn der Liebe« (317), von dem das Neue Testament redet. Also: Das Mittlertum Jesu Christi ist konstitutiv fçr die Unterscheidung zwischen dem Vernunft-Logos und dem Sohn selbst (der Person). In der abstrakten Erkenntnis wird das Mittlertum nicht aktuell (etwa in der Mathematik), hier befinden wir uns also im Raum der »abstrakten«, weil »allgemeinen Offenbarung«. Was Brunner damit sagen will, ist die Unterscheidung zwischen dem opus proprium (dem eigentlichen Werk) und opus alienum (dem fremden Werk) in Gott! Zwischen dem regnum Dei (Reich Gottes) und dem regnum Christi (Reich Christi). Die Mittlerschaft Christi wird nur da sinnvoll, wo wir Gott als Person begegnen und die Frage von Sçnde und Gnade aktuell wird, wo wir also Gott in seinem Gebot konfrontiert werden. Mit dem »Mittler« will Brunner also die streng soteriologische Linie in der Christologie innegehalten wissen, will er die Trennung wahren zwischen einer spekulativen und einer praktischen Wahrheit, zwischen dem Gesetz der Vernunft und dem Gebot Gottes, zwischen dem Gesetz als solchem und dem Evangelium. Man muû, wenn man Brunner verstehen will, eins ins Auge fassen. Man sollte ihn nicht von vornherein an Barth und an dem messen, was Barth gegen ihn in dem Heft »Nein« der »Theologische Existenz heute« çber die theologia naturalis geschrieben hat. 7 So wird man ihm nicht gerecht. 7.

K. Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, TEH Heft 14, Mçnchen 1934. Die Diskussion ist dokumentiert in: »Dialektische Theologie« in Scheidung und Bewåhrung 1933-1936, Aufsåtze, Gutachten und Erklårungen, hg. von W. Fçrst, Theologische Bçcherei 34, Mçnchen 1966, 169-258.

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Brunner versteht man nur, wenn man eins begreift, was in der gesamten protestantischen Theologie damit einbricht: die Begegnung mit der Theologie der Reformatoren. Und hier ist eine Lçcke in dieser Darstellung. Eigentlich håtte zwischen Bultmann und Brunner ein Kapitel stehen mçssen: Der Einbruch der reformatorischen Theologie! Das ist zunåchst ein Moment, das sich von der Kirchengeschichte her vollzieht, aber doch von hæchstem Einfluû auf die gesamte Theologie. Wir kænnen das leicht an einem einzigen Beispiel sehen: Keine der entscheidenden Dogmatiken des 19. Jahrhunderts kennt auch nur von ferne das Problem von Gesetz und Evangelium. Auch Kåhler kennt es nicht. 8 Darum sprechen sie alle so harmlos naiv von der religiæs-sittlichen Anlage des Menschen, darum kænnen sie Kant und das Evangelium in ein System fassen, darum kænnen sie aus dem Gewissen ein positives Faktum machen (»ich habe zwei Teufel, die Sçnde und das Gewissen« 9 ). Niemand von ihnen sieht auch nur von ferne, daû das Thema Gesetz und Evangelium das entscheidende Thema der Reformation gewesen ist. Øhnliches kænnte man vom unfreien Willen sagen, der von den Systematikern als ein mittelalterliches Requisit angesehen wird, åhnliches von der Prådestination usw. Was vollzieht sich denn nun in der Begegnung mit der echten wiederentdeckten Theologie Luthers?

1.1.2 Die Wiederentdeckung der Theologie Luthers

Es ist natçrlich nicht so gewesen, als ob Luther bis dahin ohne namhaften Einfluû in der Theologie gewesen wåre. Gerade Albrecht Ritschl hat das Verdienst, die Christologie wieder als Soteriologie in den Mittelpunkt gerçckt zu haben. Das Gleiche tun Martin Kåhler und Wilhelm Herrmann. Das heiût also: Man låût sich von Luther daran erinnern, daû Christus nur erkannt wird, wenn wir in ihm den Erlæser von unserer Sçnde und Schuld erkennen! »Christum erkennen heiût, seine Wohltaten erkennen«! 10 Diese Linie hat die evangelische Theologie nie ganz verlassen. Aber nun geschieht etwas Neues: In der Begegnung mit den Reformatoren zeigt sich, daû wir in der Anthropologie ± also in der Lehre vom Menschen ± inzwischen aus ganz anderen Quellen getrunken haben, daû die Christologie in Gefahr ist, ein Stçck innerhalb der Anthropologie zu werden! Daû unter Umstånden in dem, was er von Christus glaubt, der Mensch nur das sucht, was er von sich glauben mæchte. Also Christus als die gættliche Sanktio8. Vgl. NW 4, 256; GA I, 227. 9. »Habeo duos diabolos, peccatum et conscientiam«. M. Luther, WA 40, I, 73, 2 /11. 10. »Christum cognoscere est beneficia eius cognoscere«! Vgl. oben S. 281, Anm. 11.

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nierung des Menschenbildes, das wir in uns tragen und das durch die Welt bedroht ist! In unserem Christusglauben gåbe dann Gott uns recht in unserem Glauben an uns, nicht so, daû wir erst einmal Gott recht geben! Wo bleibt in alledem das Deum iustificare (Gott recht geben)? Der Mensch bekommt recht, der Mensch in seinem Glauben an seine hæhere ethische Bestimmung! Der Mensch findet die Idee des Menschen in Christus gerettet! Er wåre dann der Mittler zwischen dem Menschen, wie er ist, und seiner ihm eingepflanzten Idee! Ohne ihn kann der Mensch nicht zum wahren Menschen werden! Diese Soteriologie zerbricht in der Begegnung mit den Reformatoren. Hier ist ja Christus wirklich nur legislator (Gesetzgeber)! Vielleicht darf man noch ± der Vollståndigkeit halber ± auf einige Momente hinweisen, die die Entdeckung Luthers auszeichnen. Erstens die kritische Ausgabe seiner Werke: Wieder einmal spielen Quellen eine entscheidende Rolle. Dazu kommt die Entdeckung der bisher fehlenden Zwischenstçcke, die Theologie des jungen Luther betreffend. Sie wird zum ersten Mal faûbar in den Luther-Aufsåtzen von Karl Holl. 11 Zweitens die Polemik. 1904 erfolgt der entscheidende Angriff Heinrich Denifles gegen »Luther und das Luthertum«. 12 Denifle kennt Vorlesungen des jungen Luther, die sonst nicht zugånglich sind. Aus ihnen konstruiert er die »Entwicklung« des abtrçnnigen Mænchs. Luther sei damals, als er 1517 gegen den Ablaû auftritt, bereits ein innerlich Gescheiterter gewesen. Seine Lehre sei nichts als der Ausdruck seiner Erfahrung. Er habe dabei die ganze Scholastik verzeichnet. Der Grundfehler liege in seiner Lehre von der unçberwindlichen concupiscentia (Begierde) und dem vermeintlich juridischen Verståndnis der iustitia Dei (Gerechtigkeit Gottes). Ein drittes Moment liegt in dem Machtgewinnen der Paulinischen Theologie. Noch Adolf von Harnack und Albert Schweitzer sehen in Paulus ein sekundåres Ereignis. Das Zentrum der christologischen Bemçhungen liegt bei dem »historischen Jesus«. Je mehr sich dieser aber in etwas Ungreifbares auflæst, je mehr erkannt wird, daû auch die Evangelien schon von der Gemeindetheologie her geschrieben sind, desto mehr verschiebt sich das Bild. Paulus beginnt neu in den Vordergrund zu treten. Die Trennung zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium von Jesus fållt weg. Die Frage bricht auf: Was heiût Evangelium? Hat der Gegensatz von Ge11. K. Holl, Gesammelte Aufsåtze zur Kirchengeschichte. Bd. I Luther, Tçbingen 19211 , 19326 . 12. H. S. Denifle OP, Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung, ergånzt von A. M. Weiû OP, Zwei Bde. u. Ergånzungsbd. (in 4 Bånden), Mainz 1904-1909. Vgl. NW 5, 55-57.

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setz und Evangelium eine mehr als zeitgeschichtlich-jçdische Bedeutung? Gehært er hinein in die theologische Existenz? Dazu kommt etwas Letztes: Es gibt eine wunderbare Nåhe der Zeiten! Auf einmal ist eine Zeit, die långst vergangen scheint, zu der man nur noch ein historisches, ein traditionelles Verhåltnis hat, unmittelbar gegenwårtig und andere, von denen man bisher lebte, sind versunken. Wie wenn bei einem Erdbeben Inseln versinken und andere wieder nach oben kommen. Es ist eine besondere Nåhe konstatierbar zur Theologie der Reformatoren, sie ist die Theologie schlechthin. Es ergeht dieser Generation so, als ob sie noch gar keine Theologie geschmeckt habe, als ob alles, was man ihr bisher geboten hat, von Schleiermacher bis Troeltsch und Heim und Wobbermin und wie sie immer heiûen, im Grunde alles nur ein Surrogat gewesen sei. Jetzt erst begreift man wieder Theologie! Nicht eine besondere Linie oder Richtung, sondern Theologie çberhaupt! Theologie der Offenbarung im Unterschied zu jener Theologie, die das Selbstbewuûtsein des Menschen zum Ansatzpunkt hat. Nun geht von daher eine stçrmische und bewegte Umkehr durch das ganze Lehrgebåude der Theologie. Und das ist der wesentliche Unterschied zum traditionellen Luthertum, das ± wie der Sohn, der immer im Hause blieb (Lk 15,29) ± den Sinn und die groûe Freude dieser Umkehr gar nicht zu fassen vermag. Unter Umkehr kann man dort nur sehen: Umkehr zu ihnen, Umkehr zu dem, was Frank und Thomasius, was Seeberg und Elert långst schon gesagt haben: daû diese ganze Schleiermachersche idealistische Wendung in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in der Theologie der Union eine tiefe Verirrung war. Wenn jetzt der verlorene Sohn zurçckkehrt (Lk 15,20 ff.), sollte man davon nicht soviel Aufhebens machen! Wir haben es immer gewuût, daû dieser Weg in die Welt ein Irrweg war! Und weiter ± nun gerade der junge Luther! Entscheidend ist gerade er nicht, entscheidend ist çberhaupt nicht Luther als Person, sondern Luther, soweit er in die Bekenntnisse eingegangen ist. Der Luther der Kirche, der Abendmahlslehre, der Luther, der bestimmte Ansåtze seiner eigenen Jugend revidiert! So fållt also von vornherein auch hier ein Reif in der Frçhlingsnacht des theologischen Aufbruchs und der theologischen Umkehr. Man will nicht sehen, daû die dialektische Theologie sich genuin ± und wie seit 400 Jahren nicht mehr ± auf die Theologie der Reformatoren bezieht; daû in ihr diese Theologie neu auflebt, nun aber so, daû die 400 Jahre, die dazwischenliegen, nicht çbersprungen sind; daû die evangelische Kirche nach all ihren Wegen und Irrwegen hier neu vor ihrem Ursprung steht. Es gibt Begegnungen mit der geschichtlichen Quelle im Sinne der Tradition und solche im Sinne der Umkehr! Brunner ist der unter den fçhrenden Theologen jener Zeit, in

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dem diese Umkehr vielleicht am sichtbarsten und konservativsten vollzogen wurde. Diesen Zwischenakt muû man hineinnehmen, wenn man nun alles Weitere verstehen will, vor allem auch den Riû, der seither mitten durch das »konfessionelle« Lager geht. Und zwar bei beiden reformatorischen Konfessionen! Es ist die Geschichte von den beiden Sæhnen, die sich jetzt an uns wiederholt. Der immer im Hause war, kann sich nicht freuen (Lk 15,29-32)! Alles aber, was auf der anderen Seite geschieht, ist durchzogen von der groûen Freude! »Ich habe meinen Silbergroschen gefunden« (Lk 15,9)! Und nun darf man wohl sagen, daû jene neue, als erste auf den Plan tretende Christologie Brunners unter dem Begriff der »Mittler« etwas von dieser groûen Freude des Fundes atmet. Mit diesem Begriff ist das gefunden, was so lange verloren schien (çbrigens am wenigsten bei Schleiermacher!). »Die Anerkennung des Offenbarungsfaktums, des Mittlers, schlieût die vællige persænliche Kapitulation vor Gott in sich. Erst in dieser Anerkennung kapituliert der Mensch wirklich (¼). Es ist die innerste Linie der Selbstverteidigung, die hier aufgegeben werden muû; hier ± und hier allein ± gibt es keine Rçckzugslinie mehr.« 13 Das ist jenes Paulinische: Ich erachte alles fçr Kot, wenn ich Christus gewinne (vgl. Phil 3,8).

1.1.3 Brunners Aufsatz »Die Frage nach dem Anknçpfungspunkt als Problem der Theologie« 14 (1932)

Emil Brunner gehært zu den ersten und begabtesten Mitstreitern der neuen Theologie. Er nimmt nun auch ± in jenen kritischen Jahren der dialektischen Theologie ± zu der Frage nach dem Vorverståndnis Stellung. Und zwar verdichtet sich ihm die Frage zu der nach dem Anknçpfungspunkt. Denn der Mensch ist ja nicht ± wie die Formula Concordiae schon sagt ± lapis et truncus (Stein und Strunk) 15 . Der Mensch ist ja Gegenstand der rettenden Gnade, und zwar darum, weil er imago Dei (Bild Gottes) ist. Wo bleibt bei einer alles in das Wort und nichts in die Existenz verlegenden Theologie der Mensch ± der Mensch als Ebenbild Gottes? Die theologische Frage nach dem Anknçpfungspunkt, die so wesentlich fçr die theologische 13. E. Brunner, Der Mittler. Zur Besinnung çber den Christusglauben, Tçbingen 19271 , 23. 14. Ûberschrift Iwands. E. Brunner, Die Frage nach dem »Anknçpfungspunkt« als Problem der Theologie, Zwischen den Zeiten 10 (1932) 505-532. Seitenangaben im Text. 15. Formula Concordiae, Solida Declaratio II, 19-24 (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 19635 , 879-882).

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und die homiletische Methode ist, geht zurçck auf dieses eindeutige und wichtige theologische Problem. »Zunåchst aber haben wir die theologische Aufgabe, denjenigen Begriff, in dem das ganze Problem des Anknçpfungspunktes zusammengefaût ist, genauer zu explizieren, nåmlich jenen Begriff, in dem das Formale wie das Inhaltliche des gottgeschaffenen aber sçndig gewordenen Personseins zum Ausdruck gebracht ist: den Begriff der imago Dei«. Er sei »Gemeingut aller christlichen Theologie«, Brunner fragt nun, »wie das auch durch die åuûerste Sçnde nicht aufgehobene Menschsein, die auch dem Sçnder nicht abhanden gekommene humanitas (Menschlichkeit) im Unterschied zur animalitas (Tierheit), mit der Tatsache jenes Verlustes (der iustitia originalis [ursprçnglichen Gerechtigkeit]) zusammengedacht werden kænne« (520). Also mit der Lehre von der imago Dei 16 steht und fållt die Frage nach dem Sinn der Humanitåt im protestantischen Lehrgebåude. Und Brunner entdeckt nun, daû die Reformatoren von einem »Rest« dieser Gottebenbildlichkeit sprechen, und zwar »ein nicht genauer bestimmtes Wissen um das Gesetz und Gott« unterstreichen. Keinem christlichen Theologen ist es bisher eingefallen, das zu bestreiten. Aber nun soll plætzlich eine so radikale Entgegensetzung von Natur und Gnade vollzogen werden, daû auch dieser Anknçpfungspunkt aufgehoben wird. »Man will reformatorischer sein als die Reformatoren.« (520) Wir fragen nur dazwischen hinein: Ist das wirklich so? Wer hat denn den Satz ± als These ± formuliert: »Die beste und unfehlbare Vorbereitung auf die Gnade und die einzige Hinordnung ist die ewige Erwåhlung und Vorherbestimmung Gottes. Auf der Seite der Menschen hingegen gibt es nichts als Unmæglichkeit, ja es geht der Aufstand gegen die Gnade der Gnade voran.« 17 Oder: »Die Unkenntnis çber Gott und sich selbst und çber das Gute, das zu tun ist, ist der Natur immer unçberwindlich. Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, daû Gott Gott ist, vielmehr will er, daû er Gott sei und Gott nicht Gott ist.« 18 16. Brunner verweist auf F. K. Schumann, Imago Dei, Beitråge zur theologischen Anthropologie, Gustav Krçger zum 70. Geburtstag, hg. von H. Bornkamm, Gieûen 1932, 167-180. 17. »Optima et infallibilis ad gratiam praeparatio et unica dispositio est aeterna Dei electio et praedestinatio. Ex parte autem hominis nihil nisi indispositio, immo rebellio gratiae gratiam praecedit.« M. Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), Thesen 29 u. 30, (WA 1, 225-226). 18. »Ignorantia Dei et sui et boni operis est naturae semper invincibilis.«

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1.2 Der Mittler 19 1.2.1 Christologie nach der Aufklårung

Wir haben im Laufe unserer Darstellung eins gesehen: Die Bodenlosigkeit, die der Begriff des »historischen Jesus« in dogmatischer Hinsicht bedeutet, muûte eines Tages offenbar werden. Sie muûte einen Abgrund in der protestantischen Theologie aufbrechen lassen, çber den schlieûlich nur noch der Mythos ± das heiût aber fçr uns moderne Menschen: die Flucht in die Welt der Tråume ± hinweghelfen konnte. Historische Skepsis und religiæse Mythologie warteten am Ende dieses Weges darauf, um Glaube und Denken sozusagen in einem einzigen Akt zu verschlingen! Es ist das Ende der Aufklårung und der von ihr ertråumten Læsung in der Frage der Offenbarung, so daû Hegel nahezu buchståblich recht bekommt, wenn er 1802 in seinem berçhmten Aufsatz çber Glauben und Wissen schreibt: »Der glorreiche Sieg, welchen die aufklårende Vernunft çber das, was sie nach dem geringen Maûe ihres religiæsen Begreifens als Glauben sich entgegengesetzt betrachtete, davon getragen hat, ist, beim Lichte besehen, kein anderer, als daû weder das Positive, mit dem sie sich zu kåmpfen machte, Religion, noch daû sie, die gesiegt hat, Vernunft blieb; und die Geburt, welche auf diesen Leichnamen triumphirend, als das gemeinschaftliche beide vereinigende Kind des Friedens schwebt, eben so wenig von Vernunft als åchtem Glauben an sich hat.« 20 Das »Nichtsseyn der Aufklårung ist durch das Bewuûtwerden çber dasselbe zum System geworden« 21 ± das heiût also: Glauben und Wissen fçhren schlieûlich dahin, daû die Nichtigkeit dieses Glaubens festzustellen zum System des Wissens wird! Und in der Tat ist der Zerfall der Christologie in zwei leere Schatten, in ihr ebionitisches und ihr doketisches Konterfei ein nahezu gesetzmåûiges Geschehen, das sich abwickelt »nach dem Gesetz, wonach du angetreten«! 22 Diesen historischen Jesus, den bloûen Menschen, zum Tråger der Offen-

19. 20.

21. 22.

»Non potest homo naturaliter velle Deum esse Deum, immo vellet se esse Deum et Deum non esse Deum.« Ebd., Thesen 36 u.17. Ûberschrift Iwands. G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivitåt, in der Vollståndigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Aufsåtze aus dem kritischen Journal der Philosophie und andere Schriften aus der Jenenser Zeit, SW Bd. 1, 279 f. (= Theorie-Werkausgabe Bd. 2, 288). Ebenda, 281 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 2, 289). J. W. Goethe, Urworte. Orphisch, Erste Strophe, Daimon, V. 4, Goethes Werke, Bd. I, 359.

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barung machen zu wollen, das muûte mit Notwendigkeit zur Kreaturvergætterung fçhren: Jesus wurde zu dem »historischen Individuum«, an dem die Idee der Wahlverwandtschaft von Gott und Mensch am deutlichsten greifbar wurde! »Der ­historische Jesus¬, ohne den Gehalt der gættlichen Autusie: der ­schænste Herr Jesus¬ der Mystik und des Pietismus, der Weisheitslehrer und Menschenfreund der Aufklårung, der Inbegriff erhæhter Menschlichkeit Schleiermachers usf. ± er ist ein leerer Thron ohne Kænig, dessen noch so warme und aufrichtige Verehrung Kreaturvergætterung und nichts sonst bedeutet. Der im ganzen zunehmende Christozentrismus der neueren Theologie ist ein Zeichen des schlechten Gewissens, das man in bezug auf jene verloren gegangene Grundeinsicht haben muûte. Gott allein offenbart sich, oder er offenbart sich gar nicht. Nur in der Kraft seiner monarchischen Person und ihrer Tat gibt es Offenbarung.« 23 Man erkennt also: Der Zerfall des biblischen Offenbarungsbegriffs und der Rçckzug auf den historischen Jesus ± beides hångt offenbar miteinander zusammen. Was kann, wird und muû nicht jetzt alles als Offenbarung angesprochen werden: Jesus wird geradezu zum Paradigma, daû das Endliche offenbarenden Charakter des Unendlichen haben kann! Natur und Geschichte, Geist und Seele, das Selbst in seinem Verhåltnis zu sich wie das Ich im Verhåltnis zum Du, alles wird jetzt offenbarungshaltig, alles wird »verklårt«. Und fçr alles dies muû nun Jesus selbst als Typ herhalten, die einen finden hier den Menschen, der das Gættliche in sich verkærpert, die anderen das Ich, das die vællige Hingabe an das Du vollzieht. Jesus ist jedenfalls, indem man ihn historisiert, in der Menschen Hånde geraten, und sie haben den Platz bereits ausgewåhlt, den er in ihrem System, in der Welt ihrer Wçnsche und Hoffnungen, ihrer Satzungen und Autoritåten einzunehmen hat. Man begreift jetzt, was eigentlich in der Theologie passieren mçûte, wenn man diese Erkenntnis zu Ende denken wçrde ± es wçrde sich hier nicht nur eine neue und andere Christologie ergeben, sondern die Wendung an diesem Punkte mçûte wie eine Drehung in der Mitte des ganzen Rades auch dieses bis in seine åuûerste Peripherie in Schwung versetzen. Die Christologie ist die Mitte ± wenn hier an die Stelle des echten Bekenntnisses ein Bekenntnis des Menschen zu sich selbst, eine Rechtfertigung des verlorenen Menschen im Sinne seiner ± nun eben doch echt gebliebenen Idee eingetreten wåre, dann wçrde es ja begreiflich sein, daû jener falsche Zug in das ganze Getriebe hineingekommen wåre, der sich çberall stærend bemerkbar macht. Das Bekenntnis zu Jesus als dem »Offen23. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, 135 (= Karl Barth Gesamtausgabe, 176 f.). Hervorhebung von Barth.

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barer« wåre gar nicht echt gewesen, es wåre so, daû man schon im geheimen vorher gewuût håtte, was er offenbaren wird, darf und soll; ein theologisches Zauberkunststçck, bei welchem man vorher bereits das Goldstçck unter die Decke legt, das hernach entdeckt werden soll! Wenn es aber in Jesus nicht zur Begegnung mit Gott kommt, wenn Jesus das totaliter aliter des Wortes Gottes in eine Offenbarung im Sinne einer analogia entis umgewandelt håtte, also in ein »uns Gemåûes«, dann wåre er nun in der Tat gerade in seiner Mittlerschaft eben das, was auch die Mittler der Heiden waren ± die, welche Gott nicht Gott sein lieûen! Der Mittler mçûte also, wenn man diesen Begriff beibehielte, selbst auûerhalb aller Analogie stehen, das heiût: Nur so, daû Gott in ihm sich offenbart (und damit auch zugleich verhçllt), wåre Jesus der, von dem mit Recht gelten kænnte: Ziehe deine Schuhe aus, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land (Ex 3,5)! Jesus hebt als der Mittler nicht den Unterschied zwischen Gott und Mensch auf, sondern er stellt ihn erst einmal wieder her! Es ist ja gar nicht so, daû Gott und Mensch getrennt sind und Jesus diese Trennung aufzuheben gekommen ist, sondern beides ist falsch: die Trennung wie die Einheit! Beides wird durch Jesus gerichtet: da, wo wir uns eins wåhnen, setzt er die Trennung (sonst mçûte er nicht Mensch werden), und wo wir uns getrennt meinen, setzt er die Einheit. Die Tatsache, daû sich die dogmatische Arbeit in der Theologie auf die Revision der Christologie zuspitzt, muû also die weittragendsten Folgen haben. Und umgekehrt, wer nicht begreift, daû hier die eigentliche Håresie der modernen Theologie sitzt, der vermag die groûen und einschneidenden Bewegungen innerhalb von Theologie und Kirche, in denen wir doch mitten drinstehen, nicht zu begreifen. Machen wir uns das Ganze an einem Beispiel klar: Die Reformation entdeckt, daû innerhalb der Lehre von der Rechtfertigung und vom Glauben ein wichtiger Punkt falsch ist. Dieser Punkt betrifft das Verhåltnis von Glaube und Werk. Man geht daran, diesen Punkt zu revidieren. Aber sobald man darangeht, diesen Punkt einer entscheidenden Revision zu unterziehen, merkt man, daû man viel mehr Dinge tangiert, als man zunåchst angenommen hat. Nicht nur eine ganze Reihe von Lehrstçcken, die unmittelbar mit dem articulus iustificationis (Artikel von der Rechtfertigung) zusammenhången, sondern darçber hinaus sehr entscheidende Grundpositionen der Kirche, ihren Gottesdienst, das Verhåltnis von Kirche und Welt, die Stellung zu Staat und Beruf. Man hatte, ohne es zu wissen, den Nerv der Dinge getroffen, so tief und einschneidend, daû bis weit ins Mittelalter, also in die Tradition hinein, diese Operation eingriff! Eine åhnliche Rolle scheint mehr und mehr der dogmatischen Arbeit an der Christologie zuzufallen. Es ist nicht nur ein Lehr-

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stçck, das revidiert wird, es handelt sich nicht nur darum, daû der Liberalismus ausgeschieden wird, sondern wenn dieser Punkt wieder in Ordnung kåme, dann kænnte Øhnliches geschehen, wie seinerzeit an und durch den articulus iustificationis geschehen ist. Es werden Kirche und Welt, Theologie und Philosophie von dieser Drehung um 180 Grad in gleicher Weise betroffen werden, es kænnte sich unter Umstånden hier eine neue Scheidelinie zwischen wahrer und falscher Kirche auftun, der gegençber alle bisher çberlieferten Konfessionsgrenzen hinfielen.

1.2.2 Das Geheimnis der Person Jesu Christi

Emil Brunners Buch »Der Mittler« (1927), das etwa gleichzeitig mit Bultmanns »Jesus« erschienen ist, vollzieht nun zum ersten Mal den Durchbruch in die Christologie im eigentlich dogmatisch strengen Sinne. Es ist bezeichnend, daû Brunner dies unter dem Titel »Der Mittler« tut. Denn an sich kommt der Begriff mesites (Mittler) selten im Neuen Testament vor (1Tim 2,5; Hebr 8,6; 9,15); er ist eigentlich kein spezifisch christlicher, sondern eher ein heidnischer Terminus. Was meint Brunner aber damit? Brunner sieht im Gedanken des Mittlers das entscheidende Kennzeichen christlichen Glaubens. »Er« ± der christliche Glaube ± »besteht in der Gebundenheit an ein zufålliges Geschichtsfaktum, an ein wirkliches raumzeitliches Ereignis, von dem er behauptet, es sei die einmalige Entscheidung fçr Zeit und Ewigkeit und alle Welt. Er ist darum grundsåtzlich nicht ein unmittelbares Verhalten zu Gott, sondern ein mittelbares. Zwischen der Seele und Gott, zwischen der Menschheit und Gott, zwischen der Welt und Gott steht ein Drittes, vielmehr ein Dritter, der beide Teile ebenso auseinanderhålt als er sie verbindet, (¼) der Mittler. Dort die grundsåtzliche Unmittelbarkeit, hier die grundsåtzliche Mittelbarkeit«. 24 Die Christologie des 19. Jahrhunderts hat diesen Gegensatz »verwischt«, sie hat ihm eine »Vorzugsstellung« (20) gegeben, hat behauptet, Jesus habe »im Unterschied zu den Propheten die Probe bestanden, ­selbst das Exempel seiner Botschaft zu sein¬« (44). 25 Im Unterschied zum 19. Jahrhundert sieht Brunner das Einmalige als das eigentliche Thema der Christologie (7 f.; 270). »Die gættliche Wahrheit ist nicht die letzte Voraussetzung des Gegebenen, sondern liegt mit ihm im Kampfe. Als ein Fremdes tritt sie hinein« (83). Brunner meint, daû der eigentliche Gegensatz zwischen der Offenbarung Gottes und dem menschlichen Selbstverståndnis darin liegt, daû dieses die »Kontinuitåt mit dem Gættlichen« (91) bewahrt wissen will. Darum fållt die 24. E. Brunner, Der Mittler, 11. Seitenangaben im Text. 25. Zitat aus: A. Harnack, Das Wesen des Christentums, 78.

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Entscheidung erst am »Verståndnis des Bæsen« (98). Denn »die gute Schæpfung liegt jenseits der Sichtbarkeit. Die ganze Schæpfung ist sçndig vergiftet« (122). Erst mit der Erkenntnis der Sçnde ist die Voraussetzung fçr den Glauben an den Mittler gegeben. Beides ist fçr Brunner eine Korrelation: Vællige Erkenntnis der Sçnde gibt es nur im Mittler, und umgekehrt gibt es nur von der Sçnde aus die Erkenntnis des Mittlers fçr den »selbstsicheren Menschen« (125). »Nur der Verzweifelte weiû vom Glauben und recht verzweifeln lehrt nur der Glaube« (126). Machen wir uns das Ganze zusammenfassend klar: Die Christologie hångt mit dem Existenzverståndnis des Menschen untrennbar zusammen. So hat Brunner zu zeigen versucht, daû wir eines Mittlers bedçrfen. Er muû nun zweitens zeigen, wie der Mittler beschaffen ist. Brunner geht aus vom Gegensatz zwischen Idee und Wort. Die Idee hat kein eigentliches »Kommen« in sich, sie ist, aber sie kommt nicht zu mir wie das Wort und wie im Wort ein Du zu mir kommt. »Das Wahrsein und das von Gott Gekommensein des Wortes ist fçr uns ununterscheidbar« (192). Dies Kommen des Wortes zu uns von Gott ist das Prophetische. Im Propheten ergeht das Wort Gottes mit Autoritåt (190). Insofern ist der Prophet der Mittler zwischen Gott und den Menschen (195). 26 Aber insofern als der Prophet nur der Mund Gottes ist, kann die prophetische Offenbarung nicht das Letzte sein. »Der Prophet hat das Wort, bloû er ist es nicht« (197). »Die Person, die hier ist und die Sache, fçr die sie hier ist, ist zweierlei, darum ist also in ihm das Wort noch nicht wirklich da. Der Prophet ist also nicht Mittler in Person. Von da aus kann man sagen, daû das Wort »als Offenbarungswort dort erst vællig Wort Gottes (¼) ist, wo es vællig Person ist« (199). Und darin, daû das Wort nur in dieser Person ist und diese Person nur das Wort Gottes fçr uns ist, liegt der Begriff des Mittlers. Zentrum und Grund alles christlichen Glaubens ist die »Christologie«, der Glaube an Jesus Christus, den Mittler. »Die Frage ­Was dçnket dich um Christum?¬ ist (¼) keine Abirrung«, sie »ist die Zentralfrage innerhalb der christlichen Gemeinde« (205). Weil dieses Geheimnis durch keine Analogie faûbar ist, darum ist diese Frage so entscheidend. Die Christologie ist sozusagen das ståndige Offenhalten dieser Frage. Die Frage, wer er ist, meint dasselbe wie die andere: Was hat uns Gott in ihm zu sagen? (Wort!) Aber auch das andere ist wahr: Gott hat uns eben das zu sagen, wer er ist. In der Auslegung dieser Antwort entfaltet nun 26. In Klammern: Sinaigesetzgebung. Vgl. E. Brunner, a. a. O., 196: »In unvergleichbarer Groûartigkeit ist diese Mittlerstellung des Propheten in der Erzåhlung von der Sinaigesetzgebung ausgedrçckt.«

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Brunner die gættliche und die menschliche Natur. Hier also taucht zum ersten Mal wieder die Lehre von den beiden Naturen in legitimer dogmatischer Fassung auf, und ich wçrde sagen: Brunner hat eins gesehen, daû man nicht von der Mittlerschaft Jesu Christi reden kann, ohne die Lehre von den beiden Naturen neu durchdenken zu mçssen. Erst so steht Jesus als der Einmalige in der Geschichte. Was versteht nun Brunner unter der gættlichen Natur? Er nimmt den Begriff Natur auf im Sinne des Seins. Um das Sein geht es hier, nicht um den Wert. »Es handelt sich durchaus um das Gottsein des Christus, nicht bloû um seine ethisch zu beurteilende gottentsprechende Gesinnung.« (214) Brunner weiû, daû es sich hier um Offenbarung handelt. »Das Wort, das Sichmitteilen ist ewig in Gott selbst. (¼) Darum besteht auch dieses Verhåltnis zwischen dem Offenbarer und dem Offenbarten in ihm selbst von Ewigkeit, als das gættliche An-sich. Der ewige Logos ist das, worin Gott sich selbst ausspricht. Das ist das Gemeinsame der philosophischen und der christlichen Logoslehre. Aber der entscheidende Unterschied ist der, daû dieses Aussprechen philosophisch nur uneigentlich, nicht als wirkliche, persænliche Mitteilung, nicht als Fleischwerden des Logos gemeint ist, und daû darum auch der ausgesprochene Logos nicht der persænliche, sondern eine Idee ist« (249). Nur der dreieinige Gott ist sich selbst mitteilend, und darum in sich selbst Liebe und Persænlichkeit. Nun behauptet die Bibel, daû dieser Gott kommt. Brunner spricht von der »gættlichen Selbstbewegung« (253), Offenbarung ist das Kommen Gottes im Wort. Dies Kommen ist als Herabkommen Gemeinschaftsstiftung Gottes, Bundesstiftung, gættliches Suchen dessen, was er doch nicht braucht. »Weil das Kommen Gottes ein wirkliches Selberkommen ist, weil also wirklich ­der Himmel bewegt¬ wird, kann dies Kommen kein anderes als ein darauf Zurçckkommen sein. Der Bruch gehært nicht zur ursprçnglichen Schæpfung. Er ist vielmehr der Abfall von ihr [wirklich?]. Das Kommen Gottes, dessen Zweck die Ûberwindung dieser Kluft ist, ist also ein wiederherstellendes Handeln. (¼) Nicht die Schæpfung als solche ist der Erlæsung bedçrftig, sondern die gefallene Schæpfung. Darum ist das Werk des Mittlers die Versæhnung. Offenbarung und Versæhnung sind durch die ganze Bibel hindurch eins. Daû auch die Schæpfung als solche, als gute Schæpfung, eines Mittlers bedçrfte, davon kann keine Rede sein« (280). Es ist das Geheimnis der Person Jesu Christi, daû er an dem Ort, wo wir diese sçndige Person haben, die gættliche Logosperson hat oder ist. Christus hat wohl die menschliche Natur, aber nicht die menschliche Person angenommen. »Er hat (¼) wohl die Versuchlichkeit ± die mit der geschichtlichen Person verbundene Mæglichkeit der Sçnde ±, nicht aber die erbsçndig ver-

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derbte Person, d. h. die Notwendigkeit in der Versuchung zu fallen, angenommen« (285). Brunner sieht, daû die schwerste Bestimmung in der Menschwerdung das »ohne Sçnde« ist. Er sieht aber auch, daû darin nicht das Menschengeheimnis der Person, wohl aber das Gottesgeheimnis liegt. Hier bleibt freilich eine Frage: Wird damit nicht wieder der Glaube gånzlich auf die Gottheit in Jesus bezogen? Und auf die Menschheit nur, insofern sie eben an der Gottheit, d. h. sçndlos ist. Aber offenbart nicht auch Gott den Menschen in dieser Person, nicht nur sich selbst? Was heiût denn »wahrer Mensch«? Das fehlt neben dem »wahren Gott« bei Brunner. Die »perverserweise erstrebte Gottheit« und die »Menschlichkeit«. 27

1.2.3 Zwischenbilanz

Immerhin werden wir einige Punkte aus Brunners »Mittler« als unverlierbar fçr jede Christologie mitnehmen dçrfen. 1. »So wie das christliche Zeugnis von der Person Jesu spricht, ist diese Exclusivitåt mit ihm identisch. In dieser Eigenschaft heiût die Person der Mittler.« (444) Brunner meint also: Wenn im Zentrum der Offenbarung Gottes eine Person steht, dann bedeutet das gar nichts; wesentlich ist, daû »diese Person absolut allein im Mittelpunkt steht« (443). Diese Exklusivitåt des einen Menschen Jesus meint der Begriff des Mittlers. Es soll also das solus Christus (Christus allein) darin liegen ± der eine Name, der den Menschen gegeben ist. Nur in diesem einen Namen will Gott angerufen und bekannt sein. Gott ist also nichts, was hinter dieser Person und ihrem Tun stçnde, sondern er handelt in dem Tun und Reden, dem Leiden und Sterben dieses einen Jesus von Nazareth. Zu fragen wåre nur, woher wir das wissen? Ob wir das an ihm immer neu erleben mçssen? Oder ob nicht die auf ihn bezogene Verkçndigung dies jeweils offenbart? Daû Jesus Christus der Mittler ist bzw. daû Jesus der Christus ist, denn beides ist wohl dasselbe, ist Inhalt der Botschaft Gottes! Darum wird gepredigt! Er ist es nicht abgesehen von der Verkçndigung, sondern sein Mittlersein hat die Verkçndigung, die Proklamation dieser Freudenbotschaft so bei sich wie die Sonne den Schein! Natçrlich kann man sich auch das An-sich-Sein der Sonne denken. Es muû ein Stern gegeben sein, damit er leuchtet. Aber erst im Leuchten ist der Stern uns nahe, empfangen wir von seinem Leuchten 27. Die »Deitas perverse petita« und die »humanitas«. Iwand spielt damit in Stichworten an auf Luthers Auslegung von Psalm 5,2: »Das ist das Reich des Glaubens, in dem das Kreuz Christi regiert, welches die Gottheit, die wir perverserweise erstrebten, zunichte macht und die Menschlichkeit und verachtete Schwachheit des Fleisches, die wir perverserweise verlassen haben, wieder zurçckbringt« (WA 5,129; vgl. GA II, 48.156.192 f. und NWN 2, 459).

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das Licht! So kænnen wir nicht das An-sich-Sein des Jesus von Nazareth als einer Figur der Dogmatik »beschreiben« und ihn dann sozusagen von uns aus »aufleuchten lassen«, in einer Art kçnstlicher Beleuchtung, die wir jeweils in Gang setzen, sondern in seinem Leuchten ist er. Das ist denn auch der rechte Sinn jener Melanchthonianischen Worte: »Christum erkennen heiût, seine Wohltaten erkennen« 28 ! Weil Person und Werk in ihm eins sind, darum begegnet er uns nur in der Verkçndigung. 2. Wenn es aber nur den Christus praedicatus (gepredigten Christus) gibt und kein Rçckgang hinter ihn ± sei es nun auf einen dogmatischen Gottessohn an sich, sei es auf einen historischen Jesus ± mæglich ist, ohne daû wir damit eben aufheben, was mit dem Wort Jesus Christus gesagt ist, so ergibt sich hieraus das Weitere: Die Einheit von Person und Werk muû allein dem Glauben zugånglich sein. Brunner betont mit vollem Recht diese Einheit von Person und Werk in der Christologie. Darum ist der Mittler auch der Versæhner. Wir wissen, daû wir hier dem tiefsten Gehalt des Wortes Mittler nahe sind. Versæhnung heiût, daû die Schuld vergeben und Friede gemacht ist zwischen Gott und Mensch. Das gerade ist das durchgehende Thema der ganzen biblischen Botschaft. Und weil diese Versæhnung nicht vom Menschen ausgehen kann, da dieser die Sçhne nicht leisten kann, obwohl er ståndig die Gætter mit Opfern und Taten der Buûe zu versæhnen sucht, so haben wir sie nur in dem einen, der Gott und Mensch zugleich ist! Die Alleinheit dieser Person grçndet also auch darin, daû nur er uns sçhnen kann, der selbst vom Vater kommt. Das voll Gençgende seines Werkes wird bezeugt in der Besonderheit der Person. Wer die Zweinaturenlehre ablehnt, muû wohl auch das Werk Christi als genugtuendes ablehnen oder einschrånken. Wir anerkennen also mit der Lehre von den »beiden Naturen« die in Jesus geschehene Versæhnung: das sola gratia (allein durch Gnade!). Nun kann freilich die Einheit von Person und Werk auch bei dem natçrlichen Menschen gegeben sein, denken wir etwa an Sokrates, an Paulus und andere. Einheit von Person und Werk bedeutet gemeinhin: Sachlichkeit, Ûberzeugungstreue, ethische Vollkommenheit. Diese Einheit ist hier nicht gemeint, sondern hier ist gemeint, daû das Werk der Erlæsung der Menschheit in dieser einen Person zu finden, daû es hier ein fçr allemal (satis! [genug]) geleistet worden ist. Es ist der Zusammenhang von satis und gratis, der damit gemeint ist. 3. Hier handelt es sich um den Gedanken der Stellvertretung: »Als der Stellvertreter ist er der Mittler« (447). Ûber diesen so wichtigen Punkt wçrden wir gern noch etwas mehr erfahren. Denn es fragt sich eben, ob 28. »Christum cognoscere est beneficia eius cognoscere«. Siehe oben S. 281, Anm. 11.

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nicht diese Funktion des »stellvertretenden Handelns« (448) den bei Brunner so uneingeschrånkt gehandhabten Personbegriff wesentlich einschrånkt. Bei Jesus selbst hat Brunner es durchaus gesehen. Jesus hat zwar die »Versuchlichkeit« angenommen, die »mit der geschichtlichen Persænlichkeit verbundene Mæglichkeit der Sçnde ±, nicht aber die (¼) Notwendigkeit in der Versuchung zu fallen« (285). Das ist nun eine hæchst bedenkliche Aussage. Richtig ist, daû fçr die Christologie das »versucht (¼) wie wir, doch ohne Sçnde« (Hebr 4,15) von entscheidender Bedeutung ist. Aber heiût das nicht, daû wir ± wie Schleiermacher noch gesehen hat und Brunner eben nicht mehr sieht ± die Jungfrauengeburt behaupten mçssen?! Die Unterscheidung zwischen Mæglichkeit und Notwendigkeit der Sçnde ist bei Jesus wie beim Menschen bedenklich! Das Nicht-Sçndigen des Herrn ist mehr als das Negativum einer nicht verwirklichten Mæglichkeit. Die Versuchung kommt ihm von auûen, weil er an unsere Stelle tritt; sie ist der Schatten, den unser Leben auf ihn wirft, und zwar darum, weil er uns liebt. In der Liebe verwandelt sich die Sçnde des Geliebten fçr den Liebenden in Leid und Schmerz! Und erst indem wir unser Leben so in seinem Leben geliebt und enthçllt und in seiner ganzen Falschheit offenbar sehen, lehrt er uns ± als der gættliche Lehrer ± uns zu detestari (verleugnen) und ihn zu lieben! Jesus ist, weil er stellvertretend handelt, eben nicht die andere Person, das Du, das uns gegençbersteht, sondern der, in dem wir das sind, was wir in uns nicht zu sein vermægen. Es muûte eben schon Gott kommen und uns lieben und diese seine Liebe zu uns in seiner Geschichte auf Erden gestalten, damit wir loskommen von uns selbst! Die Liebe ist des Gesetzes Erfçllung ± das heiût Stellvertretung, katallage! Dreierlei bedeutet also vornehmlich die Mittlerschaft: (1) der Name Jesus, (2) die Einheit von Person und Werk im Sinne der Untrennbarkeit von gratis und satis, und (3) die Stellvertretung in der Ûbernahme der Rolle des anderen, nicht im Sinne des Theaters, sondern des wirklichen Lebens. Indem Er meine Rolle çbernimmt in meinem Dasein vor Gott, wird mein irdisches Dasein, soweit ich es nicht in ihm lebe, zum Theater, zum Schein und Spiel vor den Menschen und vor mir selbst (iustitia civilis [gesetzliche Gerechtigkeit im bçrgerlichen Sinn] = Spiel und Heuchelei). Es sei hier abschlieûend noch ein Gedanke zur Christologie angefçgt. Wenn das stellvertretende Handeln Christi grundlegende Bedeutung haben soll, dann kann die von Brunner immer wieder herausgestellte Einheit der Person nicht bleiben. Denn dann heiût es ja nicht mehr: ich = ich, sondern heiût ich = nicht ich! Dann ist unser Leben in ihm verborgen, dann ist das das Geheimnis des Menschen, nicht daû er Sçnder ist (wie Brunner meint), sondern daû unser Leben verborgen ist mit Christus in Gott! (Kol 3,3) Daû

1. Emil Brunner

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Gott mir in Jesus Christus meine Gerechtigkeit, Heiligkeit, mein Leben gibt und vorhålt; also nicht so, daû er es in mich verlegt durch ihn, sondern daû er es in ihn verlegt und mich so »extra me« zieht! So tritt er jetzt schon an meine Stelle, habe ich jetzt schon in ihm mein Leben, kann ich jetzt schon nur in ihm leben (in ihm = extra me [auûer mir])! Nehmen wir ein Bild fçr diese Sache: Ein Mensch bekommt fçr eine Wçstenwanderung einen Schlauch mit Wasser auf den Weg, den er sorgfåltig bewahren soll, weil er fçr ihn das Leben bedeutet. Er geht aber unachtsam mit ihm um, låût ihn schadhaft werden, und das Wasser verrinnt im Sande. Der ihm diesen Schlauch gegeben hat, findet ihn und rettet ihn, aber er flickt ihm nicht seinen Schlauch und fçllt ihn von neuem, er fçhrt ihn nicht mehr in Versuchung, noch einmal untreu zu werden, sondern er sendet einen Diener mit, der ihm allezeit nahe sein soll; ihm ± dem treuen Knecht ± gibt er das Wasser, aber mit dem Befehl, es jederzeit zur Verfçgung zu halten, wenn der Wanderer trinken will. Er soll das Wasser des Lebens umsonst erhalten (Jes 55,1), aber er soll es nicht in seinen Hånden haben. Es soll allezeit eine aliena iustitia (fremde Gerechtigkeit) fçr ihn bleiben. So kommt dieser Knecht als Begleiter des Menschen auf allen seinen Wegen, er kommt, »daû er diene und sein Leben gebe als Læsegeld« (Mk 10,45). Ohne Bild gesprochen: Weil der Mensch nicht das Leben, das Gute, das Wahre, »in sich« bewahren kann, darum sucht Gott ein anderes »Gefåû«, um es darin »fçr uns« zu bewahren! Er stellt es neben uns, als unser »fremdes Ich«, daû uns das Leben, die Gerechtigkeit, der Friede, die Freude und Gewiûheit allezeit greifbar sei, aber unter einer Bedingung: daû wir sie in ihm suchen und nehmen! Sie kann und soll nicht unser werden, sondern wir wollen sein werden! In seiner Person finden wir ± nun eben nicht sein, sondern unser Leben! Zwischen Jesus Christus und uns herrscht also ein »fræhlicher Wechsel«, hier ist eine Brçcke von Gott geschlagen, auf der wir ståndig in ihn »entweichen kænnen«, so wie er dadurch uns »nahe ist« im Glauben! »Du bist mein, ich bin dein, niemand kann uns scheiden.« 29 Alles, was wir im Glauben sind, sind wir also nur mittelbar, nur in Hoffnung! Der Fortschritt unseres Lebens besteht nicht darin, daû wir mehr und mehr in uns verwirklichen, was wir vor Gott sind, sondern daû wir mehr und mehr auûer uns, in Jesus Christus, verwirklicht finden, was wir in uns nicht sind und nicht sein kænnen! Wenn der Glaube an ihn jener »fræhliche Wechsel« ist, dann kænnen wir ja gar nicht mehr leben ohne sein Wort und sein Bild, dann brauchen wir keine Sorge zu haben, was hernach geschieht! Denn wenn wir glaubten, wåre damit alles andere gelæst! 29. »Warum sollt ich mich denn gråmen?« (Paul Gerhardt), EG 370,11.

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1.2.4 Thesen

1. Der Mittler bedeutet die »Alleinheit«, die Exklusivitåt: nur Er. Darum sind die Person und das Werk des Mittlers ein und dasselbe. Er selbst ist, weil er dieser ist, die Offenbarung und die Versæhnung. 2. Er ist der Mittler, weil er in seiner Person die menschliche und die gættliche Natur vereinigt: das wirklich Menschliche und das wirklich Gættliche. Dieses Mittler-Sein ist unablæsbar von seinem Mittler-Tun: Als der Stellvertreter ist er der Mittler! 3. Er handelt solidarisch mit Gott, als Messias. »So mit der Menschheit sich zusammenzuschlieûen vermag kein Mensch, der bloû Mensch ist; das kann nur der Mensch, der Gott ist.« 30 4. Darum ist sein Tod von ihm selbst gebrachtes Opfer. Es ist messianisches Leiden. Stellvertretung ist das ganz Persænliche, das Doppelpersænliche, das die Persænlichkeit des Mittlers entscheidend charakterisiert. 5. Was in Christus geschehen ist, ist Sçhne, nicht Geschichte. Es ist Urgeschichte oder Endgeschichte. Es liegt in der Dimension, die kein Historiker kennt, sofern er bloû Historiker ist. 6. Es ist Christus als Faktum, als das Einmalige, es ist der Mittler der Versæhnung, das Geschehnis als Offenbarung und Versæhnung, das im Alten Testament nicht bloû im Prophetismus, sondern auch im Mosaischen Kult wie das Morgenrot der kommenden Sonne voranleuchtet. 7. Das Leiden des Heilands ist Entsagung: keine Verneinung der Kultur, sondern Ignorierung.

2. Heinrich Vogel 31 2.1 Ecce homo 2.1.1 Divinitåt und Humanitåt

Zum Reformationsfest 1947, mitten in den schwersten Notzeiten, die wir nach dem Zusammenbruch durchschritten, legte uns Heinrich Vogel (1902-1989) eine neue »Christologie« vor, zwanzig Jahre nach Brunners »Der Mittler«! Brunners Werk war fast ausschlieûlich gegen den Idealismus 30. E. Brunner, a. a. O., 452. 31. Vgl. NWN 2, 119 f.;273 ff. Siehe dort auch das Namenregister.

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gerichtet, ihm kam es darauf an, das Schiff der Theologie wieder flottzumachen, und darum kappte er alle Seile, mit denen der Neuprotestantismus die Christologie an das idealistische Menschenbild gefesselt hatte. Die einfache Antithese beherrscht Brunners Buch, man braucht eigentlich nur immer das Gegenteil zu sagen von dem, was Schleiermacher oder Hegel oder Goethe vom Menschen gesagt oder gedacht haben, dann trifft man die christliche Position. Das ist als Moment der Umkehr durchaus richtig, die Wendung um 180 Grad war unvermeidlich; aber aus dieser Wendung darf nun nicht ein »Kreisen« werden, der Punkt darf nicht zum Standpunkt werden, sondern von ihm aus muû man nun gehen! Wer also bei Brunner stehenbleiben und sich nur ståndig um sich und gegen sich »drehen« wollte, der håtte ihn schlecht begriffen. Die Antithese gegen den Idealismus erschæpft sich auch einmal, und wenn man nichts anderes zu tun weiû, als dieses Gegeneinander immer neu zu entwickeln, dann wird man heimlich den Gegner immer wieder von neuem leben lassen (wie die Katze die Maus), damit man seine Antithese nicht verliert. Tatsåchlich ist das bei Brunner so. Der Idealismus bekommt immer wieder sein heimliches Recht (in einer gewissen Wiederbelebung der natçrlichen Theologie), um ihn freilich dann immer wieder aufheben zu kænnen! Es zeigt sich nåmlich bei Brunner, daû çber den Kampf gegen den Humanismus das Humanum selbst ganz in den Hintergrund getreten ist. Und so ergibt sich ein neues Thema: Bezieht sich das Mittlertum Jesu Christi auch auf das Menschsein? Vermittelt er uns nicht nur die Nåhe zu Gott, sondern auch die zu den Menschen? Bei Brunner hat es manchmal den Anschein, als ob die Menschheit nur einen instrumentalen Sinn håtte, der Logos muû die menschliche Natur annehmen, um sterben zu kænnen! Aller Akzent liegt auf dem Subjekt: ho Logos (das Wort; Joh 1,1-14)! ± das Prådikat ist demgegençber kein Inhalt theologischen Nachdenkens. Es ist bezeichnend, wie wenig Phil 2 bei Brunner bedeutet! Nun kænnte ja aber auch diese Seite von hæchster Wichtigkeit sein; es kænnte vielleicht sogar so sein, daû hier der tatsåchliche Defekt der altkirchlichen Christologie lag, daû sie nicht zu zeigen vermochte, was denn der Mensch Jesus bedeutete! Etwa in dem Sinne eines Lutherwortes, das man durchaus çber Vogels Arbeit setzen kænnte: »Weil wir nåmlich in Adam zur Ebenbildlichkeit mit Gott aufgestiegen sind, deshalb ist er in die Ebenbildlichkeit mit uns herabgestiegen, um uns zur Erkenntnis unserer selbst zurçckzufçhren.« 32 Das 32. »Quia enim ascendimus in Adam ad similitudinem dei, ideo descendit ille in similitudinem nostram, ut reduceret nos ad nostri cognitionem.« M. Luther, Operationes in Psalmos, zu Psalm 5,2, WA 5, 128,39-129,1.

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heiût also, nicht nur die Gottheit offenbart sich uns in Jesus Christus, sondern ebenso die Menschheit. Wir streben einem Bild dessen zu, was wir nicht sind (nåmlich Gottes), wir mæchten frei sein von den irdischen Bedingtheiten unseres Lebens, stark und grenzenlos und måchtig und wissend und sogar gut wie Gott. Dadurch werden wir un-menschlich! Unsere Religion macht uns un-menschlich; das ist der Vorwurf gegen das Mittelalter. Er kænnte ebensogut gegen den Idealismus gemacht werden. Die Unmenschlichkeit, die wir heute feststellen, ist die Kehrseite der Gottbezogenheit unseres Daseins! »Sein wollen wie Gott« (Gen 3,5) heiût immer un-menschlich sein! 33 Wie weit sind in erster Linie wir Christen an dieser Unmenschlichkeit beteiligt? Darum muû Gott stellvertretend ± wir begreifen das jetzt ± Mensch werden; er muû das von uns verachtete Menschsein auf sich nehmen, um es nun wirklich ± wenigstens einmal ± auf der Bçhne der Weltgeschichte zu leben! Wo das Subjekt wahrer Gott ist, da ist das Prådikat wahrer Mensch! Wo ich dem wahren Menschen begegne, da begegne ich Gott! Nur da! Damit ergibt sich ein Weiteres. Der Mensch ist abgesehen von diesem einen und wahren Menschen ein leerer, genereller Begriff! Wo finde ich den Menschen? Es gilt also nicht nur, frei zu werden von der »Humanitåt«, sondern ebenso von der »Divinitåt«. Wir kennen das Herdersche Wort, daû Humanitåt ohne Divinitåt Bestialitåt sei 34 ± was aber ist Divinitåt ohne Humanitåt? Das ist Vogels Frage, und er nennt sich darum mit Recht in diesem Buch einen lutherischen Theologen; denn hier kommt das eigentliche Recht der Lutherischen Theologie und der Lehre von der communicatio idiomatum (Idiomenkommunikation) 35 zu Worte. Im Incognito des Menschen begegnet uns Gott! ± das gerade ist seine Barmherzigkeit. In der humilitas (Niedrigkeit) liegt die humanitas (Menschlichkeit). 36 Noch einen Satz Luthers dazu: »Das vollzieht sich durch das Sakrament der Inkarnation. Das ist das Reich des Glaubens, in dem das Kreuz Christi regiert, welches die Gottheit, die wir perverserweise erstrebten, zunichte macht und die Menschlichkeit und verachtete Schwachheit des Fleisches, die wir perverserweise verlassen haben, wieder zurçckbringt.« 37 Und dann 33. Randnotiz Iwands: Barth. Menschlichkeit = Zweisamkeit! Mann und Frau. Auf der Rçckseite des Blattes notiert Iwand: Freiheit und Gleichheit auf einer Ebene! Das ist der Fehler! 34. Siehe oben S. 235, Anm. 18. 35. Gemeinschaft bzw. Austausch der gættlichen und der menschlichen Natur in der einen Person Christi. 36. Randnotiz Iwands: Kierkegaards »Incognito«. 37. »Hoc agitur sacramento incarnationis. Hoc est regnum fidei, in quo crux Christi

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weiter: »Christus soll eher als Mensch, denn als Gott aufgefaût werden, eher soll das Kreuz seiner Menschheit als die Herrlichkeit seiner Gottheit gesucht werden. Christus fçhrt als Mensch von sich aus zu Christus als Gott.« 38 Die Humanitåt, die wir verloren haben, ist uns im Kreuz wiedergewonnen. Hier kænnten wir wahre Menschen werden! Hier kænnten wir entgættert werden. Wir hærten eingangs von seiten der reformierten Theologie den Warnungsruf gegen die Kreaturvergætterung in der Glorifizierung des »historischen Jesus«. Wir stoûen jetzt auf eine andere Gefahr, die darin besteht, daû wir auf dem Berge der Verklårung mit Christus bleiben (Mk 9,2-13) und nicht mit ihm zum Kreuz gehen; daû wir die verklårte, aber nicht die gekreuzigte Menschheit ernst nehmen; daû wir die Reihenfolge von Kreuz und Verklårung umstellen: »prior sit Christus homo apprehendendus«! Also gerade in dem tiefsten Leiden wird Gott am greifbarsten. Das ist die theologia crucis (Kreuzestheologie) und ihre Verheiûung! Vogels Christologie ist der Versuch, die theologia crucis zum Ausgangspunkt zu nehmen.

2.1.2 Die trinitarische Form des neuen Lebens 39

Vogel macht drei Teile: der Name, die Person und der Mittler. Wieder låuft also alles zu auf den Mittler, aber nun so, daû die »Aussage von der wahren Menschheit Jesu Christi als Glaubensaussage verstanden wird«. Jesus Christus wird als der »zweite Mensch« gefaût (also nicht ur-bildlich, sondern end-geschichtlich und darin vor-bildlich), und zwar so, daû er (a) der erwåhlte ist, (b) der Mensch, der Gott Gott sein låût, (c) der Mensch, der den Menschen Mensch sein låût und (d) der wiederhergestellte Mensch. Diese in Jesus Christus vorgezeichnete wahre Menschlichkeit verwirklicht sich nun in drei Gestalten: im einzelnen, im Nåchsten und in der Gemeinde. Eigentlich ist nur das an dem Buche von Vogel wirklich entscheidend, alles andere ist Vorbereitung, Stufengang dahinauf oder auch dahinab. Er stellt die Menschheit des Gottessohnes (nicht die Gottheit des Menschensohnes) ins Zentrum der dogmatischen Frage und unterscheidet zwischen der wirklichen und der wahren Menschheit Jesu Christi. »Die Wirklichkeit der Menschheit Jesu Christi ist die von Gott selbst angenommene und getradominatur, divinitatem perverse petitam deiiciens et humanitatem carnisque contemptam infirmitatem perverse desertam revocans.« M. Luther, Operationes in Psalmos, zu Psalm 5,2, WA 5, 129,1-4. Randnotiz Iwands: Nur Christus. 38. »Prior sit Christus homo, quam Deus apprehendendus, prior humanitatis eius crux, quam divinitatis eius gloria petenda. Christus homo habitus Christum Deum sponte sua adducet.« Ebd., Z. 9-11. 39. Vgl. NWN 2, 124.

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gene Menschheit des Menschen, der als der dem Fluch der Unmenschlichkeit und der Gottlosigkeit verfallene Mensch der in seinem Menschsein unkenntliche Mensch geworden ist.« 40 Voransteht das Ecce homo (Joh 19,5). In dieser Gestalt wird die Unmenschlichkeit des Menschen aufgedeckt! Es werden aber auch die Gottlosigkeit und das Leiden aufgedeckt. Das Sein des Menschen wird hier erlitten und eben darin kundgemacht, denn das Leiden gehært zum Menschen.

2.2 Theologie und Christologie 2.2.1 Jesus Christus als Auslegung des Namens Gottes

Vogel nimmt seinen Ausgangsort vom Petrusbekenntnis (Mt 16,16) bzw. von der von Jesus selbst an uns gerichteten Frage (Mt 16,13): die Christologie ist also Antwort auf eine unumgångliche Fragestellung ± und zwar so, daû die Antwort in der Frage selbst liegt (Geist ist Offenbarer). Der Name Jesus Christus ± der »zweifache Name« ± ist der aussprechbar gewordene Name Gottes. »Daû der pråexistente Christus in Jesus von Nazareth unserer von dem Todesfluch unseres Abfalls gezeichneten Existenz inexistent wird, daû er den Weg von der Krippe zum Kreuz geht, ja, daû er, der von den Toten auferweckte, den Weg zur Rechten Gottes geht, das ist der in diesem Namen vorgezeichnete Weg« (77). Vogel meint also mit dem Namen ein Geschehen, das zugleich in einer bestimmten historischen Einmaligkeit festliegt, das aber auch diese Einmaligkeit in einem mehr als historischen Sinne festlegt. Das Einmal ist ja gegeben durch die Bindung Gottes an diesen Namen, nicht nur an die geschichtliche Individualitåt und Einmaligkeit alles Historischen! Es ist gegeben mit der Einzigkeit des Erlæsungswerkes, so daû Vogel sagen kann: »So befaût die Erkenntnis dieses Werkes, dieses einen mit keinem Menschenwerk in einem Atem zu nennenden Gotteswerkes die Erkenntnis dieses Weges in sich« (77) ± die »Theologie wird ihm zur Christologie« 41 . Das Werk »grçndet (¼) in der Person dessen, der es vollbringt« (77). Vogel entfaltet also die Trinitåt nicht aus dem Deus dixit (Gott spricht) ± sondern findet es im »Geheimnis der Menschwerdung Gottes« (239).

40. H. Vogel, Christologie I, Mçnchen 1949, 248 (Titel des Paragraphen: »Ecce homo«). Seitenangaben im Text. 41. Vgl. Par. 5 der Einfçhrung (»Eingang: die Frage«), ebd., 15-29 (vor allem die Seiten 16 und 19).

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So ergibt sich die Dreiteilung: Person ± Weg (Wirklichkeit) ± Werk (Wahrheit der Menschheit Jesu).

2.2.2 Grçnde der Menschwerdung Gottes

Die Menschwerdung hat zwei Grçnde: erstens den absoluten, er besteht »in dem ewigen Ratschluû des grundlosen Erbarmens Gottes« (79). Weder in der Lage des Menschen noch im Wesen Gottes ist die Menschwerdung »angelegt« ± die Christologie baut weder auf der Anthropologie auf noch auf der Theosophie (Gott ± Teufel). »Wçrde Gott etwa mit Hegel als der absolute Geist verstanden, der in seiner Selbstentåuûerung in die Welt und ihre Geschichte sich gegençbertritt, um in dem erkennenden Geist des Menschen seine Heimkehr zu sich selbst zu vollziehen, so wçrde die Menschwerdung Gottes freilich als ein dialektisch notwendiger Durchgang in der Geistesgeschichte Gottes gesetzt sein.« Hier kåme es nicht zur »wirklichen Menschwerdung«, sondern nur zu der »Exemplifikation der Idee einer Einheit von Gættlichem und Menschlichem« (83)! Aber uns geht es um die Wirklichkeit der Menschwerdung Gottes. »Kænnen wir eine gættliche Tatsache construieren, dann kænnen wir auch Gott construieren, und kænnen wir das, dann sind wir diejenige Welterscheinung, durch welche Gott erst zum Bewuûtsein seiner selbst kommt, durch welche Gott erst wirklich wird.« 42 Darum beginnt die Offenbarung mit einer Nicht-Notwendigkeit, mit der Freiheit der Liebe! Daneben steht der relative Grund der Menschwerdung. Dieser liegt »in dem Elend des zur Gottesgemeinschaft geschaffenen und bestimmten, von Gott abgefallenen und dem Todesfluch seines Zornes verfallenen Menschen, dessen sich Gott erbarmt, indem er an seine Stelle tritt« (89). »Indem er sich selbst an Stelle der Sçnder dem Gericht çber die von ihm gehaûte Sçnde preisgibt, offenbart er seine (¼) Liebe als die ewige Tiefe gættlichen Erbarmens« (90). Wir wissen also von keinem gættlichen Grund der Menschwerdung in abstracto (in Abstraktion von unserem Elend), sondern der relative Grund liegt in dem »um unsretwillen«. Die relative Notwendigkeit wird a posteriori erkannt! Hier wåre die theologische Ahnenreihe Vogels zu nennen: Anselm ± Athanasius ± Luther ± Martin Chemnitz ± Kierkegaard. »Gott muûte Mensch werden, weil der Mensch schuldig wurde an Gott« (97). Fleischwerdung heiût also Eintritt in den Widerspruch, der zwischen Gott und Mensch klafft, vollste Ûbernahme dieses Widerspruchs! Darum ist sie nur im Glauben erkennbar. Das Problem der Methode Kier42. A. F. C. Vilmar, Dogmatik. Akademische Vorlesungen II, Gçtersloh 19372 , 37 f. Zitiert bei Vogel, 85.

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kegaards ist, daû sie çber die Existenz verfåhrt, weil nur so den Widerspruch in die eigene Existenz çbernehmend. Die Einheit der Wahrheit Gottes als des Herrn çber den Widerspruch wird von uns nur dort erkannt, wo der Widerspruch als der von Gott in seiner Selbstauslieferung gerichtete und versæhnte Widerspruch im Glauben bekannt und anerkannt wird! Einheit ist gleich Wahrheit, und Wahrheit nur in der Dialektik ± aber keine Dialektik in Gott! Die Wahrheit Gottes ist keine Idee unseres Geistes! Die Vereinigung des Widerspruchs, die den Widerspruch fçr die Wahrheit erklårt (theologia crucis [Kreuzestheologie]!), ist die positive und gleichsam starke Form des Widerspruchs. So kommt es auch zur Beantwortung der »formaldialektischen Fragen [in der Rechenschafstablegung] çber den Charakter der theologischen Erkenntnis« (201). Der Gegenstand bestimmt die Methode, und das Paradox als solches ist weder als noetisches noch als ontisches zu bestimmen vom Gegenstand her 43.

43. Vgl. H. Vogel, a. a. O., 165, 169, 173, 202.

Kapitel 6: Die Wiederherstellung des Gegençbers von Gott und Mensch im Wort

1. Karl Barth als Dogmatiker 1 1.1 Noch einmal: Die moderne Gefangenschaft im Bewuûtsein Alles, was wir bisher an einzelnen Bewegungen innerhalb der Theologie der letzten fçnfzig Jahre feststellen konnten, zeigt, daû wir offenbar groûen und tief einschneidenden Wandlungen innerhalb der Theologie entgegengehen. Das Zeitalter der Aufklårung und die von ihm geprågten Erwåhlungs- und Verwerfungsurteile, seine Sicht der Probleme und seine Sicherheit in den Antworten, ist dahin. Ein Land versinkt, in dem wir bisher meinten, den entscheidenden Anstoû zur neuen Zeit zu finden ± diese »neue« Zeit und mit ihr der »moderne« Mensch: sie erweisen sich als ebenso vergånglich wie alles, was vom Fleisch geboren (Jes 40,6; Hiob 14,1). Der um sich selbst bemçhte, an sich selbst interessierte moderne Mensch sieht, nachdem er zunåchst gemeint hat, im Abbau aller Dogmatik und in der reinen Verklårung des Menschlichen den entscheidenden Fortschritt erzielen zu kænnen, daû er mit diesem »Menschen«, den er zu entdecken glaubte, eine Art von trojanischem Pferd in die Mauern seiner Stadt hineingenommen hat, aus dem bei Nacht unheimliche Gestalten herausklettern, und ist nun bereit, eben dies, was er zuvor noch anbetete, zu verbrennen! Der Mensch, eben noch die Geburtsståtte der hæchsten Ideen, in dessen Geist sich das All spiegelte, dessen Vernunft sich unmittelbar mit der absoluten Vernunft zu vermåhlen schien, ein Abglanz jener hæchsten Wahrheit ± er wird nun auf einmal zum Sitz aller Dåmonen erklårt und wie ein vom Himmel gestçrzter Ikarus sinkt er mit gelæsten Schwingen in eine abgrçndige Tiefe. Aber was in jenem strahlenden Zeitalter des anbrechenden Morgens der Vernunft sein Ethos war, dies »in deiner Brust sind deines Schicksals Sterne« 2 , das ist nun in der Abenddåmmerung noch sein tragi1. 2.

Ûberschrift Iwands. F. Schiller, Wallenstein, II.6, V. 962.

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Kapitel 6: Die Wiederherstellung des Gegençbers von Gott und Mensch im Wort

sches Pathos. Er kann von sich nicht los und so kreist er heute noch um seine Existenz, immer noch meinend, sie sei das einzige Feste, was ein Gott ihm in die Hånde gegeben habe. Und wenn er nun auf seinem Gesicht auch nicht mehr jene Frische entdecken kann, die er damals entdeckt zu haben meinte, als er die Schminke eines mittelalterlichen Dogmas von der natçrlichen Vernunft abkratzte, die das Christentum bzw. die Theologie darauf gelegt hatte, wenn also der Optimismus gewichen ist, so ist dafçr nun jener Pessimismus eingezogen, der an eben diesem Gesicht die Krankheit zum Tode studiert, der sich meint im Spiegel der Wahrheit sehen zu kænnen und in diesem Sich-selber-Sehen die Schule der Verzweiflung çbt. Auch das nennt er Einçbung ins Christentum. 3 Eine Gestalt der Welt ist wieder einmal alt geworden, wie das schon Hegel sah 4 , und sie mæchte nun wieder ± anders als in ihrer Jugend ± fromm werden. Aber eins mæchte sie doch unter keinen Umstånden: loskommen von der Existenz, von der Absolutheit eben dieser menschlichen Existenz, die in Glçck und Unglçck so interessant, so liebens- und bedauernswert ist. Und wenn man einstmals getråumt hatte, der Mensch sei Gottes Spiegel und man mçsse nur in sein unverdorbenes Angesicht schauen, um das Gættliche ± »wohnt er nicht in Dir, in mir« ± zu erfassen und zu fçhlen, wenn man definiert hatte: »In unsers Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Hæhern, Reinern, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Entråtselnd sich den ewig Ungenannten; Wir heiûen's: fromm sein« 5

± so gilt nun auf einmal eben dieser selbe Mensch sich selbst als von sieben Teufeln besessen (Mt 12,45), und er spricht nicht mehr von seines Busens Reine, sondern von der Tiefe, der jenseits des Bewuûtseins liegenden Tiefenschicht, in der er eben alles andere als das »Reine« entdeckt zu haben meint, und hofft nun, spåt heimkehrend zu dem Christentum, hier Heilung zu finden. Ja, man kann leider nicht leugnen, daû die Ecce-homo-Christologie, die wir als letzte kennenlernten, gewisse fatale Zçge dieses Menschlich-Allzumenschlichen trågt, als ob der homo desperatus (verzweifelte 3. 4. 5.

Anspielung auf Schriften Kierkegaards: »Die Krankheit zum Tode« und »Einçbung ins Christentum«. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, SW Bd. 7, 36 f. (= Theorie-Werkausgabe Bd. 7, 28). J. W. Goethe, Trilogie der Leidenschaft, »Elegie« (1823), 14. Strophe, Goethes Werke, Bd. I, 384.

1. Karl Barth als Dogmatiker

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Mensch), als den wir uns erkannt zu haben meinen, am Kreuz sein Gegenbild entdeckt håtte. Wirklich? Auch der Gekreuzigte nur ein Spiegel? Alles nur Spiegel, wohin wir auch schauen? Alles zerfressen von jener Methode, mit der der Mensch der Aufklårung begann, daû er in sich den Ansatz letzter Gewiûheit zu finden meinte, und alles andere nun darauf zu basieren meinte? Auch wenn Heidegger kommt und Descartes' These: cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich), umdreht ± es ist doch nur das Kreisen eben um diesen Mittelpunkt; ob ich nun vom Denken zum Sein oder vom Sein zum Denken gehe, immer heiût es cogito und immer heiût es sum ± wo bleibt das Est? Wo bleibt der unabhångig vom cogitare (Denken) gegebene Inhalt des cogito (Ich denke)? Oder fållt er zusammen, wenn das cogitare an sein Ende kommt? Ist Bewuûtsein letztes Fundament alles Seins? Ist das Sein nur ein Traum unseres Bewuûtseins, so daû, wenn die Nacht kommt, da niemand denken kann (vgl. Joh 9,4), auch das Sein, in dem wir zu leben meinen, zusammenfållt wie eine Fata morgana, der wir entgegenwandern, die aber nur die Luftspiegelung unseres eigenen Auges war?

1.2 Die Felsplatte des Glaubens 6 »Wenn ich sterbe ± ich sterbe aber nicht mehr ± und es findet jemand meinen Schådel, so predige es ihm dieser Schådel noch: ich habe keine Augen, dennoch schaue ich Ihn; ich habe kein Gehirn noch Verstand, dennoch umfasse ich Ihn; ich habe keine Lippen, dennoch kçsse ich Ihn; ich habe keine Zunge, dennoch lobsinge ich Ihm mit euch allen, die ihr Seinen Namen anruft. Ich bin ein harter Schådel, dennoch bin ich ganz erweicht und zerschmolzen in Seiner Liebe; ich liege hier drauûen im Gottesacker, dennoch bin ich drinnen im Paradies! Alles Leiden ist vergessen! Das hat uns Seine groûe Liebe getan, da er fçr uns Sein Kreuz trug und hinausging nach Golgotha.« 7 Was ist das fçr ein Ton? Paût der noch hinein in jenes bewuûtseinsimmanente Schema des in Lust oder Leid um sich selbst schwingenden Menschen? Hier ist offenbar der gebrechliche Nachen der Existenz verlassen, in dem wir çber das aufgeregte Wasser treiben, und der Sprung, der Sprung auf die Felsplatte des Glaubens gelungen, ± hier heiût es: dennoch! 6. 7.

Die Paragraphen 1.2, 1.3 und der græûte Teil von 1.4 sind unter dem Titel »Die Proklamation der Offenbarung gegençber der Religion« veræffentlicht in KidZ 21 (1966) 207 f. H. F. Kohlbrçgge, zitiert in: K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, 110; jetzt auch in: Karl Barth Gesamtausgabe, 147 f.; Barth zitiert dieses Kohlbrçgge-Wort auch in KD I.1, 234.

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Was hier gesagt wird, ist keine einfache Rede, kein Schluû von hier nach drçben oder von drçben nach hier, es heiût nicht: Da ich Ihn schauen werde, muû etwas Gættliches in mir sein, oder da nichts Gættliches in mir ist, werde ich Ihn nicht schauen, es sei denn, es werde in mir geboren; weder auf die Geburt noch auf die Wiedergeburt wird hier der Glaube gegrçndet, sondern der Glaube sagt, neu und souverån, was beide sind, wie beide im Dennoch zusammenhången. Der Glaube sagt und wagt das extra nos (auûer uns) zu denken und reiût gerade damit das Denken selbst heraus, los von dem Kreisen um das »Ich bin«, um das »homo sum«, entdeckt ein Geheimnis, ein Råtsel, græûer als alle bisher bekannten, im Bewuûtsein oder im Unterbewuûtsein entdeckten und vermuteten Geheimnisse, ein Råtsel, das græûer ist als alle Vernunft (Phil 4,7): »Ich habe kein Gehirn noch Verstand, dennoch umfasse ich Ihn.« Jawohl, ich Ihn ± wenn man den Nerv des Ansatzes finden will, der Barth wieder Dogmatik mæglich macht, kænnte man ihn gerade in diesem Kohlbrçgge-Zitat finden. »Nicht nur Gott, sondern Gott und der Mensch zusammen bilden ja den Inhalt des in der Schrift bezeugten Wortes Gottes, nur daû das Verhåltnis zwischen beiden eben kein gleichmåûiges, kein umkehrbares ist, kein solches, in welchem der Mensch nun eben doch so etwas wie der Partner und Werkgenosse Gottes wåre, kein solches, das es uns erlaubte, an Stelle des biblischen Menschen uns selbst einzuschalten mit unserem Nachdenken und Befinden çber uns selbst, mit den Gesichtspunkten und Grundsåtzen, nach denen wir uns zu entscheiden pflegen. Sondern Gott und der biblische Mensch stehen sich gegençber als der Herr dem Knecht, als der Schæpfer dem Geschæpf, als der Versæhner dem begnadigten Sçnder, als der Erlæser dem seiner Erlæsung immer noch Wartenden, wie der Heilige Geist der Jungfrau Maria. Dieser Mensch bildet mit Gott ± mit diesem Gott ± zusammen den Inhalt des von der Schrift bezeugten Wortes Gottes. (¼) Wir dçrfen also nicht erwarten, çber die Wirklichkeit des Offenbarwerdens Gottes an und unter den Menschen etwas in Erfahrung zu bringen aus einer von der Heiligen Schrift verschiedenen Erkenntnisquelle. Wir haben vielmehr einzusehen die Suffizienz der Heiligen Schrift als Erkenntnisquelle auch in dieser Hinsicht. (¼) Wir sind von ihr auch nach dieser, nach der subjektiven Seite, tatsåchlich keineswegs allein und unserer eigenen Problematik und damit den Entdeckungen einer religiæsen Anthropologie çberlassen: auch nicht denen einer christlichen Anthropologie, die etwas anderes sagen wollte, als was ihr tatsåchlich vorgesagt ist.« 8

8.

K. Barth, KD I.2, 226 f.

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1.3 Die Lehre vom Heiligen Geist als der subjektiven Wirklichkeit der Offenbarung Das nennt Barth »die Lehre vom Heiligen Geist als der subjektiven Wirklichkeit der Offenbarung«. Die »objektive Wirklichkeit der Offenbarung« ist das fleischgewordene Wort, ist Jesus Christus. Hier kann man sagen: Kommet und sehet! Hier ist das Eine und Einmalige mitten in der Zeit, mitten im Flieûenden das Stehende. Darauf kann man hinzeigen und sagen: »Siehe, das ist Gottes Lamm« (Joh 1,36)! Aber beim Menschen kann man nicht sagen: »Sehet!« Er ist nicht etwas Greifbares, etwas, woran wir »anknçpfen« kænnten. Er ist nicht der Ûbergang, um aus dem, was wir sehen, wissen und fçhlen, also aus dem »Gewissen«, den Aufstieg ins »Ungewisse« zu unternehmen. Die Lehre vom Geist Gottes schlieût die Tçre zu, die hier die Aufklårung in ihrer achristlichen wie in ihrer christlichen, in ihrer rationalistisch-deistischen wie in ihrer pietistisch-romantischen Gestalt meinte gefunden zu haben. Ich glaube an den Heiligen Geist ± auch das muû, so meint Barth, nun ganz ernst genommen werden, wenn wir Offenbarung und Erlæsung, wenn wir das, was die Reformation gefunden hat, nicht gerade umgekehrt verlieren wollen ± wenn wir den Menschen immer schon und immer noch in der Kirche sehen wollen. »In welcher Christenheit er mir samt allen Glåubigen tåglich und reichlich alle meine Sçnden vergibt ¼« 9 ± dies Wort zitiert Barth ausdrçcklich. Wir kommen nicht erst »in die Kirche hinein«, wir haben also nicht den Ûbergang zu untersuchen, wie der homo naturalis (natçrliche Mensch) mit seinem Selbstverståndnis, seiner Weltangst und vielleicht auch Weltlust, seinem Sein unter dem nomos (Gesetz) oder seinem Fernsein vom Nomos in die »Kirche« bzw. in den Bannkreis der Offenbarung tritt, sondern dies ist Gottes Geheimnis, das eben weder fçr die wissenschaftliche noch fçr die praktische Theologie ein faûbares, ein in seiner ganzen Tiefe und Hæhe anfaûbares Thema ist. Wie komme ich zu Jesus Christus? ± Antwort: Der Heilige Geist hat mich berufen! Es ist Gottes eigenes Werk und Geheimnis. Niemand kann diese Mitte erfassen, in der ich erfaût bin, ich kenne nur das Woher und Wohin, ich kann nur wie der »Reiter çber den Bodensee« davon reden und mit Schaudern feststellen, çber welche Tiefen mich das Tier, auf dem ich reite, getragen hat, und werde das erst einmal ganz und vællig feststellen kænnen, wenn wirklich das feste Land unter meinen Fçûen sein wird. Jetzt aber bin ich eben noch in Bewegung, und diese Bewegung in der ich mich da befinde, die Kraft, die mein Gesicht nach vorn richtet, so daû ich ver9.

M. Luther, Kleiner Katechismus, Auslegung des dritten Artikels.

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gesse, was dahinten ist, und mich strecke nach dem, was (immer noch) vor mir ist (Phil 3,14), die nennt sich eben jenes »unaussprechliche Seufzen« (Ræm 8,26), in dem ich bekenne, daû die Rechtfertigung noch nicht die Erlæsung ist, daû das Fleisch nicht vergeistigt wird, sondern das eine sterben muû, damit das andere ganz Wirklichkeit werde. Weil eben der Mensch in Bewegung ist, darum kann er nicht der »Anknçpfungspunkt« oder »feststehende Punkt« sein, darum ist alles, was heute an ihm so ist, morgen anders; darum ist auch das scheinbar Festeste an seiner Existenz doch nur ein Aggregatzustand, der sich çber Nacht in einen flieûenden, wandelbaren auflæsen kann, und sei es Tod oder Sçnde oder auch das Nichts. Der Tod kann seine Schrecken verlieren, und die Sçnde kann aufhæren, uns von Gott wegzutreiben, und das Nichts kann geradezu das Wort werden, das wir brauchen, um Gott zu finden! Das »sein eigenes Nichts«, wie Luther es nannte! 10 Indem ich den Menschen und also mich so in Bewegung sehe, sehe ich ihn als Glied jenes Volkes, des alttestamentlichen wie des neutestamentlichen Bundesvolks, das »herausgerufen« und »auf dem Wege« ist. Der Mensch in dieser Besonderheit des NochNicht und des Schon, des Herausgerufenseins aus seinem »Vaterlande« und des In-Marsch-Gesetztseins auf das Land der Verheiûung hin, ist der erwåhlte, der in Jesus Christus erwåhlte und so der Kirche eingegliederte Mensch. Das ist das Groûe an Karl Barths Dogmatik, daû sie die Tçre im dritten Artikel zumacht 11 , die die alte Kirche im ersten, die Reformation im zweiten bereits geschlossen hat; daû nun auch im dritten Artikel Gott die Ehre gegeben wird. Oder sagen wir genauer: Gott innerhalb der Theologie, in der Lehre, die Ehre gegeben wird. Die Aufklårung hatte hier ein Loch gegraben, um Gott sozusagen von hinten her nun eben doch natçrlich zu erkennen; um eine Stelle zu finden, wo es nicht mehr heiût: Hære, Israel (Dtn 6,4), dein Gott redet, sondern wo es heiût: Hære, Mensch, in dich selbst, da ist die offene Tçr! Vor dieses Paradies, das eben ein verlorenes Paradies ist, stellt Barth den Engel mit dem gezogenen Schwert (Gen 3,24). Hier sagt er jenes absolute Nein, das er dann Brunner so bedingungslos

10. »Suum nihil«. M. Luther zu Psalm 25,2, WA 31-I, 479, 25. 11. Vgl. Iwands Brief an R. Hermann vom 22. Juli 1937 (in: Luther [Zeitschrift der Luther-Gesellschaft] 66 [1995] Heft 2, 59; auch in: A. Wiebel, Rudolf Hermann (18871962), Unio et Confessio Bd. 21, Bielefeld 1998, 244); H. J. Iwand, Vom Primat der Christologie, in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1966, (herausgegeben von E. Wolf / Ch. von Kirschbaum / R. Frey), Zçrich 1966, 179; H. J. Iwand, Zur Entstehung von Luthers Kirchenbegriff. Ein kritischer Beitrag zu dem gleichnamigen Aufsatz von Karl Holl, GA II, 209.

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entgegenschleuderte. 12 Hier setzt er jene Erwåhlung in Jesus Christus, die allen Menschen gilt, wenn anders wir sie im Glauben sehen. Darum nennt er seine Dogmatik kirchliche Dogmatik; er ist der Meinung, daû er den Artikel von der Kirche (in seiner Sprache: vom Gnadenbund Gottes in Jesus Christus) als Ergånzung und Erfçllung durchzufçhren berufen ist. »Es gibt Jesus Christus gegençber nicht zuerst Glåubige und dann, aus diesen gebildet, die Kirche, sondern: zuerst gibt es die Kirche und dann, durch sie und in ihr, die Glåubigen. Ist Gott gewiû an die Kirche so wenig gebunden wie an die Synagoge, so sind es doch die Empfånger seiner Offenbarung: sie sind, was sie sind, indem Kirche ist und indem sie in der Kirche sind, nicht ohne die Kirche und nicht auûer der Kirche. Wobei unter ­Kirche¬ nicht nur zu verstehen ist die innere und unsichtbare Zusammengehærigkeit derer, die Gott in Christus die Seinigen nennt, sondern auch die åuûere und sichtbare Zusammengehærigkeit derer, die, daû sie in Christus Gottes sind, in der Zeit gehært und sich zu diesem Hæren bekannt haben. Das Empfangen der Offenbarung geschieht innerhalb, nicht auûerhalb dieser doppelten Zusammengehærigkeit.« 13 An diesem Punkt, an der Lehre vom Heiligen Geist als der subjektiven Mæglichkeit der Offenbarung und der von da gegebenen Lehre von der Kirche als dem »auserwåhlten« und insofern eben »erwåhlten« Volk liegt das inhaltlich Entscheidende in Barths dogmatischem Ansatz. Gott und Mensch sind auch bei ihm ± natçrlich ± zwei, aber sie sind innerhalb des einen Wortes Gottes, ihr Gegençber ist geradezu durch das verbum (Wort) konstituiert, so wie in Gott durch das Wort das Gegençber von Vater und Sohn konstituiert ist. Die Dogmatik hat es also nicht zu tun mit einem vorausgesetzten Sein des Menschen zu Gott oder zu sich oder Gottes zu ihm, sondern mit dem im Wort der Offenbarung gesetzten Sein des Menschen zu Gott und Gottes zu ihm. Abgesehen vom Wort, und zwar bis hin zu dem in der Verkçndigung der empirischen (evangelischen, katholischen, freikirchlichen, jedenfalls irgendwie noch biblisch redenden) Kirche, gibt es dies Sein der Menschen zu Gott oder Gottes zu uns zwar (wie sollte Gott in seiner Freiheit nicht auch das in der Hand haben), aber es gibt dies nicht fçr uns! Es ist potentia absoluta (unbedingte Macht), nicht potentia ordinata (geordnete Macht). Die Kirche ist das besondere, das heilvolle, das den Menschen in ein besonderes Werden, Neuwerden, Sich-selbst-Loswerden frei machende Sein des Menschen coram Deo (vor dem Angesicht Gottes)! 12. K. Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, TEH Heft 14, Mçnchen 1934. Vgl oben S. 404, Anm. 7. 13. K. Barth, KD I.2, 230 f.

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»Gott ist heiliger, das heiût abgesonderter und abgesondert bleibender Geist, (¼) der actus purus des Geistes. Er ist auch in seinem unbegreiflich unmittelbaren Nahesein als der Geist des Sohnes der unbegreiflich ferne Geist des Vaters. Gerade en pneumati [im Geiste], in wirklicher Gemeinschaft mit Gott, kann man zu Gott nur beten. Beten heiût aber: bei Gott Alles suchen mçssen, darum und daraufhin, daû man von Gott gånzlich gefunden worden ist. Beten kann man nur makrothen hestos [von ferne stehend] wie der Zællner im Tempel (Lk 18,13). Gerade en pneumati bekennt man sich zu seiner vælligen Armut, zu seinem gebrochenen Gewissen, zu seiner Weltlichkeit, zu seinem ­geångsteten und zerschlagenen Herzen¬ [Ps 51,19].« 14

1.4 Proklamation der Offenbarung gegençber der Religion So unternimmt nun Barth die gewaltige Leistung eines Neubaus der kirchlichen Dogmatik, von dem nun schon sieben Bånde vorliegen. 15 Mitten in einer Zeit, die von den furchtbarsten Erschçtterungen bewegt wird, vollzieht sich hier in einer einzigartigen Konzentration, in einer bewunderungswçrdigen Verbindung von Genie und Arbeit in zwanzig Jahren ein Geschehen, das an innerer Bedeutung dem, was wir heute um uns her erleben, gleichkommen dçrfte. Vergessen wir nicht, alles, was geschieht, ist irgendwie geistig bedingt. Das ist die tiefe Wahrheit der Ideologien, die die Menschen gebrauchen, um Geschichte zu machen. Menschen sind nun einmal geistige, sie sind auch unvermeidlich religiæse Wesen. Sie kænnen nicht anders. Ihr Dasein und folglich auch ihre Geschichte ist immer Geistes-, ist immer Religionsgeschichte. Auch ihr Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9), auch das Weib auf dem Tier (Offb 12,14) und das Tier aus dem Abgrund (Offb 20,1-10) mit seinem falschen Propheten sind Religionsgeschichte. Die Aufklårung hat geirrt, wenn sie meinte, zwischen Religion und Alltag, zwischen religiæser und vernçnftiger Wirklichkeit scheiden zu mçssen. Darum verstehen die Menschen auch nicht mehr, was um sie und mit ihnen geschieht, daû alles Geschehen eben doch in der Religion ± im Glauben ± seine Wurzeln hat, das offenbare wie das gottabgewandte. Barths Dogmatik ist ein unermçdliches Gegen-diesen-Strom-Schwimmen, ist die Proklamation der Offenbarung gegençber der Religion. »Daû die 14. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, 208 (= Gesamtausgabe, 278 f.). Seitenangaben im Text nach der ersten Fassung. 15. K. Barth, KD III.3, erschien 1950 in erster Auflage.

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Wirklichkeit der Religion und die subjektive Mæglichkeit der Offenbarung eins und dasselbe seien, das ist die Lehre Schleiermachers und der vielen, die so oder so in seinen Spuren gehen.« (306) »Der Schleiermachersche Mensch steht zum vornherein und immer vor Gott. Er braucht Gott nicht, um vor Gott mæglich zu werden.« (308) Dabei kann es sein, daû Religion nicht Gætzendienst, nicht Rebellion, sondern wirklicher Gottesdienst ist. »Diese gættliche Mæglichkeit, nicht die Wirklichkeit der Religion als solche, ist die subjektive Mæglichkeit der Offenbarung, aber um dieser gættlichen Mæglichkeit willen ist die Religion nicht nur das letzte Phånomen der Ûberheblichkeit und des Elends des Menschen, sondern auch der Hinweis auf die Gnade, die gerade dem ganz groûen Sçnder verheiûen ist, auf den Heiligen Geist, der gerade auf alles Fleisch ausgegossen werden soll« (318).

1.5 Aufbau und Bedeutung der »Kirchlichen Dogmatik« Barth behandelt zunåchst die Lehre vom Worte Gottes, hernach die Offenbarung Gottes, d. h. die Lehre von der Trinitåt, es folgen (I.2) die Fleischwerdung des Wortes Gottes und schlieûlich die Ausgieûung des Heiligen Geistes (also die Einteilung des Credo), um von da zur Lehre von der Heiligen Schrift und der Verkçndigung der Kirche çberzugehen. Dann folgt die Lehre von Gott, von seiner Erkennbarkeit, der Gnadenwahl und dem Gebot Gottes, schlieûlich in III.1-3 die Lehre von der Schæpfung, vom Menschen als Gottes Bundesgenossen und vom Himmelreich als dem hereinbrechenden Sieg Gottes çber das Nichtige. Zum Ganzen: (1) Barths Dogmatik ist Wiederentdeckung der Fçlle des dogmatischen Denkens, Wiederherstellung des Ganzen als Gegenstand des Glaubens. Wie wenn einer durch lauter verfallene Råume geht und sie neu baut, zusammengestçrztes Gemåuer, das wiederaufgerichtet wird. Oder wie wenn Licht in dunkle Råumen fållt. Aber wie? Durch den Verkçndigungscharakter des Dogmas ± es fångt alles an zu leben, zu reden, zu zeugen. Im Gespåch innerhalb der Kirche: die Kirchengeschichte wird lebendig, die Wolke von Zeugen (Hebr 12,1)! »Alles ist euer, ihr aber seid Christi« (1Kor 3,23) ± der Konfessionalismus ist nur »Denkregel«, nicht Theologie einer Sonderkirche. (2) Barths Dogmatik ist die græûte moderne Apologetik, die seit Pascal geschrieben wurde ± Apologetik als Rechenschaft von der Hoffnung, die in uns ist (1Petr 3,15). Das bedeutet einen Wandel zwischen Theologie und Philosophie. Prima scientia: Letzte Fragen sind hier allein zu stellen und

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zu beantworten. Nicht vorbeigehen an Leibniz und Descartes, an Spinoza und Nietzsche, sondern im Ja und Nein mit ihnen sprechen. Denn auch unser Leben ist durch ihr Denken bestimmt. So ist die Dogmatik zugleich ± nicht in erster Linie, aber in zweiter ± Ringen um christliche »Weltanschauung«. (3) Sie ist Wiederherstellung des biblischen Weltbildes. Darin gilt fçr Barth eine andere Lage als in der Reformation: dort Abbau der Dogmatik und Hinwendung zur Exegese, hier Wendung zur Dogmatik, in echter Erkenntnis, daû Exegese allein nicht gençgt. Darum das Entsetzen seiner Begleiter. 1927 tritt der Bruch ein. Nicht mehr »Negation der Negation«, nicht mehr »Hohlraum« und »das bisschen Zimt zur Speise« 16 , sondern Position ± Dogma und Dogmatik, reine Lehre und Kirche. (4) Die Kritiker kommen von rechts und links. Sie finden hier die groûe Stærung fçr die Fachwissenschaft ± darum ein eifriges Kleben an der Methode. 17 Aber Barth ist inhaltlich! Alles ist zeugnishaft ausgerichtet. Entscheidungen, die andere fordern, fallen hier (konfessionelle Theologie). Luther und Calvin sind kein Vergleichspunkt, der Gegensatz ist der Neuprotestantismus. (5) Der Kirchenkampf. Die Bekennende Kirche. Die natçrliche Theologie als Gegner. Letzte Schlacht.

2. Erik Petersons Generalangriff auf die dialektische Theologie 18 2.1 Die Offenbarung als das Jenseits aller Religion Das Thema, das uns bisher beschåftigt hat und das in gewissem Sinne das Thema geworden ist, welches eine so grundlegende Ønderung in allen unseren wissenschaftlichen und kirchlichen Fragen hervorgerufen hat, ist 16. Charakteristische Ausdrçcke in Barths Frçhzeit. 17. Vgl. H. J. Iwand, Ûber den Verlust der theologischen Existenz heute, JK 14 (1953) 509-517 und H. J. Iwand, Wider den Miûbrauch des »pro me« als methodisches Prinzip in der Theologie, EvTh 14 (1954) 120-125 (auch in: ThLZ 79 [1954] 454458). 18. Ûberschrift Iwands. Der folgende Absatz von Iwands Vorlesung ist unter dem Titel »Die Proklamation der Offenbarung gegençber der Religion« veræffentlicht in KidZ 21 (1966) 206 Sp. 1.

2. Erik Petersons Generalangriff auf die dialektische Theologie

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beschlossen in der Frage: Was ist Theologie? Die Theologie hat anders, als das im neunzehnten Jahrhundert der Fall war, eine zentrale Bedeutung erhalten. Wenn man Schleiermacher als einen der typischen Vertreter dieses Jahrhunderts ins Auge faût, dann wird man sagen dçrfen, ihm ist die Theologie ein unentbehrliches Moment im Rahmen der gesamten Kultur der Menschheit. Oder auch der Herdersche Satz, wonach Humanitåt ohne Religion nicht denkbar sei 19 , gehært hierher. Und darum, weil der Mensch, die Gesellschaft, und zwar gerade die auf Humanitåt ausgerichtete Gesellschaft im Zentrum des philosophischen und spekulativen Interesses steht, ist die Religion, die Erfassung des Phånomens der Religion in allen ihren seelischen und geschichtlichen Auswirkungen das zentrale Problem, welches nun dieses Jahrhundert beschåftigt. Nur insofern als sie Religionswissenschaft ist, treibt man Theologie. Theologie ist nicht die prima scientia (erste Wissenschaft), denn das Primåre ist das Leben, insonderheit das fromme Leben. Hier zeigen sich die echten Phånomene, die Theologie ist demgegençber, wie alle Wissenschaft dem Leben gegençber, sekundår, ist Reflexion, ist Ordnung, Systematik dieser Lebensvorgånge. Das Leben selbst, hier also das Gotterleben, ist letztlich etwas Irrationales, etwas, worauf wir nur hindeuten kænnen, ein ineffabile (Unsagbares), ein mysterium tremendum (erschauerndes Geheimnis) 20 , demgegençber wir nur ehrfurchtsvoll den Finger auf den Mund legen kænnen. 21 Auf einmal vollzieht sich eine Wende. Woher sie kommt, wer will das sagen? Jedenfalls hångt sie damit zusammen, daû wir auf einmal die Bibel mit neuen Augen lesen, daû die eschatologische Komponente sichtbar wird, die »dritte Dimension«, wie Barth in seiner Auseinandersetzung mit 19. Siehe oben S. 235, Anm. 8. 20. Handschriftliche Randnotiz Iwands: Otto. ± Verweis auf Rudolf Otto, Das Heilige. Ûber das Irrationale in der Idee des Gættlichen und sein Verhåltnis zum Rationalen, Breslau 19171 . 21. Gestrichener Passus: Was bedeutet es nun, daû auf einmal nicht mehr die Religion zentrales Problem ist, sondern die Offenbarung, das Wort Gottes? Die Theologie ist von daher neu konzi[piert worden.] ± Eins dçrfte in den bisher verhandelten Stoffen deutlich geworden sein, daû die Theologie, anders als frçher, eine zentrale, eine so bisher seit langem nicht mehr innegehabte Bedeutung gewinnt. Fçr die mit Schleiermacher inaugurierte Epoche war bezeichnend, daû der Begriff der Religion maûgeblich wurde. Theologie wurde einbezogen in die Religionswissenschaft als ganze, das Christentum war eine besondere, eine besonders hohe und qualifizierte, Schleiermacher sagte »ethisch-theologische« Religion. Die Theologie ist primår Reflexion, ist wissenschaftliche Erfassung des Phånomens der Religion, also der in den einzelnen Religionen vorkommenden Erlebnisse, Erfahrungen, Lehren und Erkenntnisse. Die Theologie ist sekundår, primår ist das Leben, primår ist das fromme Leben.

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Niebuhr gesagt hat. 22 Sie hångt weiter damit zusammen, daû wir die Reformatoren neu verstehen, daû sie uns nåher gerçckt sind als die Theologie des 19. Jahrhunderts, als die Theologie unserer Våter. Ja, wir mçssen zu unserem groûen Entsetzen ± oder soll ich sagen zu unserer Freude ± bemerken, daû sich zwischen dem Neuprotestantismus und dem von der Reformation bekåmpften scholastischen System merkwçrdige Zçge der gegenseitigen Annåherung finden: beide bauen auf dem Begriff der natçrlichen Gotteserkenntnis auf, beide verteidigen den freien Willen des Menschen in Sachen der Glaubensentscheidung, beide wollen nichts mehr wissen von der freien Gnade und bauen den Begriff der Prådestination so vorsichtig wie mæglich in das System der Dogmatik ein. Ich sage, wir bemerken das zu unserem Erschrecken ± wir sehen, daû die scheinbar noch so starke Opposition gegen den Katholizismus, die dieses liberal-neuprotestantische Zeitalter, das von einer Reformationsfeier zur anderen schreitet, æffentlich an den Tag legt, theologisch kein Fundament mehr hat. Was die immer wieder gefeierten Bekenntnisschriften eigentlich sagen, was sie uns, den Enkeln der Reformatoren, uns, die wir von Friedrich Schleiermacher, von Albrecht Ritschl, von Rudolf Otto und Ernst Troeltsch, von Albert Schweitzer und Karl Heim beeinfluût sind ± was sie uns sagen kænnten, das wird nicht mehr gehært. Aber wir begreifen es, wir begreifen, daû die theologische Leidenschaft, die Leidenschaft zur Theologie, die diese Zeugnisse bewegt und erfçllt, dem Neuprotestantismus und seinen kirchlichen Repråsentanten verlorengegangen ist. 23 Was ist Religion im Lichte der reformatorischen Theologie ± Religion ist nomos (Gesetz), der religiæse Mensch ist der Mensch unter dem Gesetz und der areligiæse Mensch ist der Mensch »ferne vom Gesetz«, Religion ist natçrliche Theologie ± nach der Meinung der Reformatoren ist die tiefe und bewegende Kluft zwischen Gesetz und Evangelium eben das, was wir Religion und Offenbarung nennen. Denn Offenbarung ist das Jenseits aller Religion, ist Gottes Wort und Gottes Gegenwart, ist die Pråsenz des neuen Øons mitten in der alten vergehenden Welt.

22. Barth in seiner Auseinandersetzung mit Niebuhr: K. Barth, Pråliminåre Gedanken zu Reinhold Niebuhrs Darlegung çber die »kontinentale« Theologie, in: K. Barth / J. Danilou / R. Niebuhr, Amsterdamer Fragen und Antworten, TEH Neue Folge 15, Mçnchen 1949, 34 f. 23. Der folgende Schluûteil von Paragraph 2.1 und der ganze Paragraph 2.2 sind unter dem Titel »Die Proklamation der Offenbarung gegençber der Religion« veræffentlicht in KidZ 21 (1966) 206 f.

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2.2 Das Wort Gottes als Gegner Lex (Gesetz), religio (Religion), peccatum (Sçnde), ira Dei (Zorn Gottes) ± das steht alles auf einem Nenner, auf der anderen Seite aber stehen gratia (Gnade), verbum Dei (Wort Gottes), promissio (Verheiûung), fides (Glaube). Das ist der groûe Erfolg von Karl Barths Ræmerbrief, daû er die Paulinische Theologie nun auf einmal mit den Augen der Reformatoren liest; daû Ræmer 7 der Schrei des unerlæsten, des religiæsen Menschen ist, daû das Beste aller natçrlichen Religion die Frage ist; daû uns, wenn wir ehrlich sind, nichts anderes çbrigbleibt, als dem »unbekannten Gott« einen Sockel zu errichten (Apg 17,23), als mitten unter diesem Synkretismus modernheidnischen Gætzendienstes die erschçtternde Erkenntnis einzusetzen, daû wir nichts wissen, daû alles, was man da Gott nennt, ein Menschengott ist, daû hier Feuerbach gesiegt hat oder noch siegen wird, weil es hier ± im Zuge der Religionswissenschaft ± nicht um Theologie, sondern um Anthropologie geht. Aber so erschreckend diese Bestandsaufnahme ist, so groû ist doch die unter diesem Erschrecken verborgene Freude, die geheime Hoffnung, die diese Erkenntnis in sich birgt. Denn wenn es so ist, wenn die Offenbarung jenseits dieses Gebietes liegt, das mit dem Namen Religion umschrieben ist, dann bedeutet ja der Einbruch des Gegners in dieses Feld, dann bedeuten die moderne Såkularisation und die Skepsis, dann bedeutet all das, was man Nihilismus nennt, gar nichts. Dann ist der Sieg, den die moderne Wissenschaft mit dem Sturz dieser Gætter errungen zu haben glaubt, nur ein Scheinsieg; dann ist in Wahrheit die Schlacht noch gar nicht in das Zentrum, in die Schlçsselstellung der eigentlichen Position des Glaubens vorgedrungen, dann hat Gott nun doch noch Seine Position verborgen gehalten, und wer weiû, was geschehen wird, was geschehen kænnte, wenn Er von dort aus gegen die allzu sicheren, allzu çbermçtig ihren Sieg feiernden Menschen seinen Gegenangriff startet. Das Evangelium ist frei, es hat seine eigene Strategie behalten. Mag sich der moderne Mensch darin, daû er der moderne Mensch sei, noch so sehr verfestigen und behaupten, mag er noch so sicher darin sein, daû er die Welt entzaubert habe und damit nun auch den Mythos der Offenbarung des Christengottes aufgedeckt, zunichte gemacht habe: er hat seine ganze Sicherheit auf der These aufgebaut, daû Religion das Ganze sei, daû der Mensch, nicht Gott, das A und O sei, daû der fromme, der religiæse Mensch nun durch den gottlosen, den aufgeklårten Menschen abgelæst sei, der begriffen hat, daû Gott tot ist ± diese These des modernen Menschen ist seine tiefste, ureigenste Blindheit. Evangelium heiût, daû es eine Botschaft gibt, die in »keines

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Menschen Herz gekommen ist« (1Kor 2,9), daû auch all dies besorgte, geschåftige und ziellose Bemçhen der Theologen und Kirchenmånner, sich apologetisch mit diesem »modernen Menschen« auseinanderzusetzen, verlorene Mçhe ist. Man sollte dieses groûe Heer von fragwçrdigen Soldaten nach Hause schicken; denn wenn Gott seine Schlachten schlågt, dann macht er das mit seinem Gideon und jener kleinen Schar, die mit Gottes Macht und seinem Feldruf ins Lager der Feinde einbricht (Ri 7). Freude bedeutet diese Erkenntnis darum, weil sie uns den Blick auf die Mæglichkeiten Gottes auftut ± die totaliter aliter (ganz anders) sind als das, was in diesem Øon und von diesem von Tod und Blindheit und Sçnde her gezeichneten Menschen als Mæglichkeit einsichtig ist. An die Stelle des religiæsen Erlebens tritt ein anderes »Ereignis«, dem nun die theologische Existenz zugeordnet wird ± die Verkçndigung. Verkçndigung in jenem biblischen Sinne, daû Gott redet und geredet hat und nun Zeugen dieser seiner Botschaft auftreten. Die Theologie hat es also mit einem solchen Einbruch mitten in unsere menschliche Existenz, mit dem Einbruch des Gegners mitten in unsere Reihen zu tun. Ganz im Sinne des Satzes Luthers: »Gottes Wort kommt, wenn es wirklich zu uns kommt, immer als Gegner« 24 , ist Offenbarung hier als Angriff verstanden und Glaube wåre dann nichts anderes als der Sieg des Angreifers. Es gibt ein glånzendes Bild dieser Wendung in der Fassung der Theologie çberhaupt, das aus jenen Vortrågen stammt, die Barth 1934 in Paris gehalten hat. In diesem Bilde ist in geradezu klassischer Form der gesamte Tenor der theologischen Entscheidung enthalten, wobei die alte Auffassung jeweilig in Klammern erscheint.25

2.3 Der »Realcharakter der Offenbarung« als Absage an jede »Dialektische Theologie« Es gibt, soweit ich sehe, nur einen wirklich ernst zu nehmenden Angriff gegen diesen Ansatz in der neueren Theologie. Alles, was sonst gegen die dialektische Theologie gesagt wurde, basierte letztlich auf den Fundamen24. »Verbum Dei, quoties venit, venit adversarius hominis.« Iwand zitiert hier wie andernorts frei und verkçrzt ein Wort aus M. Luther, Vorlesung çber den Ræmerbrief: »Verbum Dei, quoties venit, venit in spetie contraria menti nostre, que sibi vera sapere videtur; ideo verbum contrarium sibi mendacium iudicat adeo, ut Christus verbum suum apellaverit adversarium nostrum« (Scholie zu Ræm 12,2 [Rm II, 270 f. = WA 56, 446 f.]). Vgl. oben S. 128, Anm. 25. 25. K. Barth, Offenbarung, Kirche, Theologie, TEH Heft 9, Mçnchen 1934, 15-17 (Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vortråge. 3. Bd., Zçrich 1957, 158160): »Auf dem Schlachtfeld (¼ nicht in der Studierstube ¼) hat es sich ereignet ¼«.

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ten, die gerade von ihr ± und zwar mit einem geradezu reformatorischen Schwung und einem biblischen Recht ± in Frage gestellt wurden. Es waren die Wut- und Schmerzensschreie der von diesem Einbruch Betroffenen, und sie konnten darum ebensowenig çberzeugende Kraft haben wie die Proteste der rationalistischen Dogmatiker gegen Kants kopernikanische Wendung. Aber eine Schrift ist nun doch geschrieben, die immer noch wie ein aufgerichtetes Warnungszeichen mitten in diesem neuen Strom der dialektischen Theologie steht ± ganz anders noch, als etwa die von Eberhard Grisebach ausgehende Kritik es tut. Das ist Erik Petersons kleine Schrift »Was ist Theologie?«, vor etwa fçnfundzwanzig Jahren in Bonn erschienen. 26 Was hier auf zwanzig Seiten steht und zumal das in den Anmerkungen noch Hinzugefçgte, das das Groûgedruckte unterstreicht, ist echte Kritik. Darum besonders echt, weil man spçrt, daû hinter diesem Protest ein Mann steht, der entschlossen ist, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben, der Amt und åuûere Sicherheit darangeben wird, um den Weg, der sich ihm hier auftut, ganz zu Ende zu gehen ± den Weg in die katholische Kirche. Peterson sagt, die dialektische Form der Theologie gehært in die Zeit der Verfçhrung, in die Zeit zwischen Adam und Christus. In Wahrheit ist Dialektik der schlechthinnige Gegensatz zur Theologie, denn sie ist ein Denken, bei dem der Denker sich seine Freiheit vorbehålt. Sie ist Ausdruck der »Zuchtlosigkeit anarchischen Ungehorsams«. Das Urbild alles dialektischen Fragens ist die Frage der Schlange im Paradiese: Sollte Gott gesagt haben (Gen 3,1)? (9) Darum muû der Dialektiker alle konkreten Fragen und ebenso alle konkreten Antworten vermeiden. »Die Theologie von Barth scheint damit viel ernster zu sein, als alle Theologie, die es jemals gegeben hat, denn sie macht sich ja gar nicht erst die Mçhe, noch konkret zu fragen und konkret zu antworten, sondern sie verweist uns vielmehr von vornherein in jeder Frage und in jeder Antwort sofort dialektisch auf Gott und indem sie solches tut, fragt sie dann und antwortet sie dann.« (6) Peterson meint also, daû die Mæglichkeit, von Gott »çberhaupt« zu reden, so problematisch gemacht wird, daû von da ein tiefer Schatten auf alle konkreten theologischen Fragen und Antworten fallen muû. »Alle Dialektik gelangt zu keinem hæheren Ernst als zu dem eines dialektischen Ernstes, als zu dem eines mæglichen Ernstnehmens« (7). Das bedeutet also, daû man vor lauter Ernstnehmen nicht zu konkretem Gehorsam, zu konkretem Tun und Erkennen kommt, daû die Krise in der Theologie in Permanenz erklårt wird 26. E. Peterson, Was ist Theologie?, Bonn 1925, 18 ff. (auch abgedruckt in: G. Sauter [Hg.], Theologie als Wissenschaft, 132-151). Seitenangaben im Text.

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und jeder, der nicht in ihr verharrt, schon als einer gilt, der den absoluten Ernst hinter sich gelassen hat. Gilt also mit gewissem Recht von der Zeit zwischen Adam und Christus, daû der Mensch in seiner dialektischen Hintergrçndigkeit alle Wahrheit in Mythen verwandelt ± so gilt nun von der Zeit zwischen Christi erster und zweiter Ankunft, daû diese Mæglichkeit des Dialektischen ausgeschlossen ist, und zwar durch das »Gesetz des Glaubens«. »An die Stelle alles dialektischen Fragens (¼) ist (¼) das Punktum des Glaubens getreten.« Denn dem »Akt des Glaubens« ist ein »Akt des Gehorsams metaphysisch-ontisch zugeordnet« (8). Erst damit ist die Scheidegrenze zwischen dem Mythos und der Theologie gegeben, daû »dreierlei in ihr vorausgesetzt (¼) [wird]: daû es Offenbarung, daû es Glaube, daû es Gehorsam gibt«. Damit soll nun aber zugleich gesagt sein, daû es »Theologie in der Form der Dialektik« gar nicht geben kann, daû der dialektische Hinweis auf Gott wohl zum Unverbindlichen einer mythischen Erzåhlung, aber nicht zur Theologie fçhrt. Im Mythos wird alles offengelassen, in der Theologie hingegen ist »die Mæglichkeit eines wirklichen ± wenn auch limitierten ± Erkennens vorausgesetzt« (9). Solange man noch Gotteserkenntnis in der Form der Paradoxie entfaltet, befindet man sich im Bereiche mythischer Mæglichkeiten, denn mit dem »Realcharakter der Offenbarung« ist dann auch »der realistische Charakter der theologischen Erkenntnis gegeben« (10). Man sieht also, Peterson meint, daû Theologie als konkrete Form der Gotteserkenntnis nicht losgelæst gedacht werden darf von der Zeit bzw. dem Ereignis der Offenbarung. »Glaube ist (¼) darum auch ein Erkennen, weil er im Bereich der Offenbarung des Logos Gottes da ist« (11). Offenbarung aber ist »konkrete Autoritåt« (12). Diese Autoritåt wird çbersehen, (a) wenn man meint, unsere Aufgabe sei, das Wort Gottes zu sagen ± das haben die Propheten getan, (b) wenn man meint, unsere Aufgabe sei, von Gott zu reden ± das ist allein in Christus so geschehen, daû sein Reden von Gott zugleich sein Reden von ihm selbst war. »Theologie gibt es [darum] nur unter der Voraussetzung der Autoritåt der Propheten und der Autoritåt Christi ± (¼) die in der Theologie sich manifestierende Autoritåt ist also abgeleitete Autoritåt« (16). Nun geht aber Peterson noch viel weiter, er sieht die alttestamentliche Verkçndigung sich fortsetzen in der »pneumatischen Exegese und einer Art charismatischer Predigtverkçndigung« (18), die er aber nicht zur Theologie, sondern zum Kultus rechnet. Theologie im echten Sinne gibt es nur, »seitdem der Menschgewordene von Gott geredet hat« (18 f.). Weder die Propheten und Exegeten, noch die Apostel und Mårtyrer sind Theologen,

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denn Theologie ist keine Prophetie, keine Exegese, keine Verkçndigung, keine Bezeugung, keine Lehre ± was ist sie dann? Sie ist die »in Formen konkreter Argumentation sich vollziehende Fortsetzung dessen, daû der Logos Gottes (¼) konkret von Gott geredet hat«, sie liegt in der »Elongatur der Logosoffenbarung«, wie die Predigt in der »Elongatur des Prophetischen« (19) liegt. Denn das Evangelium ist »positiver Rechtsanspruch, der in dem faktischen Vollzug von Christi Tod und Auferstehung grçndet und der sich in Dogma und Sakrament hinein fortsetzt«. Im Dogma ist dieser Anspruch Gottes auf Gehorsam den Menschen »auf den Leib gerçckt« (20). Denn »Dogma und Sakrament sind (¼) Fortsetzung der Inkarnation« (21). Das Dogma liegt in der Verlångerung des Redens Christi von Gott und darum hat es wesenhaft nichts mit dem Bekenntnis, dem menschlichen Glaubensakt zu tun. Seine Autoritåt ist nicht die eines menschlichen Bekenntnisses, auch nicht die einer soziologischen Gestaltung, die bekennt, sondern es ist die »Autoritåt Christi, die sich hier ­aus-spricht¬«. Nun aber nicht so, daû Christus selbst redet, sondern so, daû »es eine von Christus der Kirche çbertragene Lehrgewalt gibt, in der das Dogma vorkommt«. Insofern ist es »abgeleitete Autoritåt«. Denn seit der Himmelfahrt hat die Kirche »Christus zu repråsentieren«, denn er hat »seine Gewalt der Kirche verliehen« (22). Theologie ist also damit gegeben, daû (a) das Wort Gottes Fleisch geworden und damit alle Dialektik und Paradoxie aufgehoben ist, (b) daû Christus zum Himmel gefahren ist und es von da an das Dogma gibt. »Erst durch das Dogma wird die Theologie (¼) in eine Sphåre erhoben, in der ein Mann leben kann. Erst durch das Dogma aber wird es auch sichtbar, daû zur Offenbarung der Gehorsam gehært. Denn in dem Gehorsam, den das Dogma fordert, vollendet sich der Gehorsam gegen Christus« (23 f.). In den Anmerkungen lesen wir dann noch: »Nicht zufållig sind Dogma und Sakrament Termini aus der juristischen Sprache. (¼) Das muû (¼) mit einem Wesenszug im Charakter der neutestamentlichen Offenbarung zusammenhången« (21, Anm. 21). Nur das Dogma ist »eindeutig«, so eindeutig, wie die Logosoffenbarung selbst, im Unterschied zum Prophetischen. Auch der andere verråterische Satz findet sich dort: »Die Kirche kann [nur] darum Christus repråsentieren, weil Christus abwesend ist und weil die Kirche ± ihrem Wesen nach ± sichtbar ist« (22, Anm. 24). Und schieûlich der letzte: »Wenn (¼) alle Glåubigen Priester sind, dann sind auch alle Glåubigen Theologen. Wenn Theologie nicht mehr Aufgabe eines Standes ist, fållt sie der Mannigfaltigkeit menschlicher ­Berufe¬ anheim« (24, Anm. 25).

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3. Karl Barths »Kirchliche Dogmatik« 3.1 Der Dienstcharakter der dogmatischen Arbeit Wir haben gesehen: Barth gibt der Dogmatik einen neuen Ansatz. Er reduziert die groûe Aufgabe der gesamten Dogmatik auf einen ganz einfachen Punkt: sie hat weniger zu sein, als sie bisher sein wollte ± in dieser Begrenzung aber wird sie wieder das in der alten Fçlle und Weite sein und leisten kænnen, was sie ehemals war. Weniger, das heiût, sie muû die Verkçndigung als ihre eigene Voraussetzung und als ihr Ziel anerkennen: es hat frçher sozusagen in der Welt »gepredigt«, ehe denn Theologie da war; nun ist Theologie dazu da, damit es wieder neu und besser »predigt«. Das heiût etwas Grundsåtzliches: Dogmatik bedarf, um selbst mæglich und sinnvoll zu sein, der Kirche: sie hat nicht den Glauben des Menschen zum Gegenstand, nicht seinen »Verkehr mit Gott« 27 ; sie hat die Autoritåt und Prioritåt des Kerygmas zu respektieren! Der Glaube kommt aus der Predigt (Ræm 10,17) ± in dieses Geheimnis der Zeugung des Glaubens durch das Wort Gottes hat sich die Dogmatik nicht einzudrången! Weder lehrhaft noch psychologisch, denn dies geschieht durch den Geist Gottes, »wo und wann Gott sich offenbart«. 28 Unterhalb dieses Ereignisses, auûerhalb seiner, sozusagen im Vorhof des Heiligtums hat die Dogmatik ihre Aufgabe. Sie ist damit gegeben, daû diese Verkçndigung menschliche Rede ist, daû sie eine menschlich-fehlsame Seite hat. Hier setzt nun das Bemçhen um die rechte Lehre an, welches immer ein unvollendetes bleibt. Das Dogma im Vollsinne des Wortes ist ein eschatologisches Ziel, das in aller kirchlichen Dogmenbildung angestrebt und gemeint ist, aber nie erreicht wird. Das heiût: Das Dogma hat niemals den Rang von Gottes Wort, und das Werk der Verkçndigung der Kirche bleibt immer dem Bemçhen eben dieser Kirche um die »rechte Lehre« untergeordnet. So stellt Barth den Dienstcharakter der dogmatischen Arbeit als erstes heraus. Die Dogmatik hat also keine Lehren zu entwickeln, nach denen sich die Verkçndigung zu richten håtte, sondern sie hat in ihren Lehren zu entwickeln, wie sich unsere Verkçndigung nach Gottes Wort zu richten hat!

27. Anspielung auf W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschluû an Luther dargestellt. 28. »Ubi et quando Deo visum est«. Confessio Augustana, Art. 5.

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3.2 Der Verkçndigungscharakter des Dogmas Daraus ergibt sich ein zweites. Barth gelingt dadurch etwas bisher kaum Erreichtes: er entdeckt den Verkçndigungscharakter des Dogmas! Das Dogma gehært nicht hinein in den Bewuûtseinszusammenhang des christlichen Selbstbewuûtseins, wie das Hegel meinte und wie es auch Schleiermacher verstand. Im Dogma finden wir nicht das christliche Selbstbewuûtsein in seiner objektiven, normativen Geltung. Sondern das Dogma gibt die Ausrichtung der Verkçndigung an! Wie wenn ein Schiff zwischen den Bojen hindurch seinen Kurs nehmen muû, so gibt das Dogma die Richtung an, in der sich das Schiff der Kirche zu bewegen hat! Das Dogma ist also nur begriffen, wenn es in Bezug gesetzt wird zu einer Bewegung, die sich auf einer hæheren Ebene und aus einer anderen Kraft heraus vollzieht. Der Gang des Reiches Gottes durch die Welt ± die geistige und geschichtliche Welt unserer Zeit ± wird durch das Dogma fixiert, und zwar so, daû die Bewegung selbst der Freiheit Gottes çberlassen ist, daû das Loch in der Mitte offenbleibt, durch das Gott selbst sich offenbart ± daû also Gottes Wort Grenze und Ziel aller dogmatischen Bemçhung ist. Auûerhalb dieses Ereignisses findet die dogmatische Bemçhung statt ± indirekt, çber die Verkçndigung von morgen, sucht die Dogmatik den Glauben zu erwecken. Sie schaltet also zwischen das Dogma und den Glauben die Verkçndigung ein. Insofern hat alles, was sie entfaltet, grundsåtzlich Verkçndigungscharakter. Oder anders gesagt: Nur in der Kirche und zur Erbauung der Kirche hat das Dogma seine Funktion. Es ist kein Gegenstand einer apriori einsetzenden Spekulation çber Gott oder die Seele oder die hæheren Welten, sondern es ist grundsåtzlich Nachdenken. Im Unterschied zur Philosophie, die a priori einsetzt, ist Dogmatik immer a posteriori. Gott hat geredet, und zwar vielfåltig und nicht nur so, sondern er hat auch endgçltig und ein fçr allemal geredet: das ist Voraussetzung in seinen drei Gestalten: (a) daû Gott redet, (b) daû er zu uns geredet hat in seinem Sohn; und (c) daû er noch heute durch die Verkçndigung der Kirche zu uns redet. Das Wort Gottes ist also insofern Autoritåt, als es Autor ist, als die Offenbarung Gottes in dieser dreifachen Gestalt, die immer zusammen geschieht, vorausgesetzt ist, wenn dogmatisch gelehrt und gearbeitet wird. Insofern behauptet nun Barth, daû Gottes Wort nicht nur zu uns geschieht, sondern als actus purus zunåchst selbst Geschehen ist. Er weiû, daû es zu uns kommt, aber es kommt, es ist Subjekt in diesem Kommen und hat insofern eine auch abgesehen von unserem Hæren und Verstehen gesetzte Wirklichkeit in sich. Es ist verbum Dei intrinsece (Wort Gottes in sich selbst) und erst so und darum auch verbum Dei extrinsece

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(Wort Gottes auûerhalb). Es ist der Punkt, der jenseits von Sein und NichtSein liegt ± darum ist nicht die Existenz, weder die Gottes noch des Menschen, Ausgangspunkt der Besinnung, sondern das Wort Gottes. Daû Gott, der in sich selbst das Wort ist, nun auch sich uns offenbart, ist Gnade. Das Hæren des Wortes ist also ein freies, gnadenvolles Hineinnehmen des Menschen in Gott. So stiftet Gott in seiner Offenbarung den Bund zwischen sich und dem Menschen ± das Wort ist der Bundesschluû, nicht das Sein. Das Sein und Dasein ist nur Zeichen dieses von Gott her erfolgten freien Gnadenbundes.

3.3 Die apologetische Aufgabe der Dogmatik Insofern nun als das Wort eine Wirklichkeit an sich ist und insofern dann auch eine solche, die uns in sich einbezieht, hat es sozusagen seine eigene Welt. Barth setzt sich die Aufgabe, den Glauben wieder vertraut zu machen mit dem Weltbild, das dem Worte Gottes selbst entstammt und das er in der Schrift wiederfindet. Er entmythologisiert nicht die Schrift vom Standpunkt des modernen Menschen aus ± seine Auseinandersetzung mit Bultmann in Band III.2 ist knapp, aber deutlich ±, sondern er entmythologisiert die Weltanschauungen des »modernen« Menschen ± in der Kritik an der Religion als dem Gætzendienst ± um des Weltbildes der Bibel willen. So wird nun Barths Dogmatik die græûte apologetische Leistung der Neuzeit. Apologetik heiût, daû wir vor der Welt Rechenschaft ablegen çber die Hoffnung, die in uns ist (1Petr 3,15). Die Welt aber spricht sich ja aus in ihren Philosophen und Dichtern. Es ist wunderbar zu sehen, wie Barth die Philosophie nicht auf ein sozusagen punktuelles Selbstverståndnis des homo coram se (des Menschen vor sich selbst) zurçckfçhrt, sondern im Gegenteil dieses unser menschliches Selbstverståndnis ausweitet in ein fluktuierendes, welches nun teilnimmt an allem Himmelhochjauchzendem und Zutodebetrçbtem, das sprechen und sich auseinandersetzen kann mit dem Optimismus Leibnizens wie mit dem Pessimismus Schopenhauers; er kann wirklich fræhlich sein mit den Fræhlichen und weinen mit den Weinenden (Ræm 12,15), fragen mit den Fragenden und auch mit den Verzagten und Verzweifelten bis in die Tiefe ihrer Not gehen, ohne sie doch da nun allein zu lassen. Kein ångstliches Festhalten an bestimmten christlichen »Grundgedanken«, keine Furcht, die Philosophen kænnten uns verfçhren, sondern eine menschlich ihnen ebenso nahe wie christlich çberlegene Haltung zeichnet alle diese »Gespråche« aus. »Der christliche Glaube sieht und weiû, woran er sich hålt. (¼) Er hat mit einem krampfhaften Fest-

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halten an den Konsequenzen irgend eines Gedankens, mit dem mçhsamen Durchfçhren eines Gottesbegriffs nichts zu tun. (¼) Daû er nun doch von jener Grundlage [± des Ja Gottes ±] her ein wirkliches Hindurchsehen sein darf und kann, das macht ihn zu einem freien und fræhlichen, von aller Willkçr und Mçhsal befreiten Kampf. Er kann das aber darum sein, weil er seinen Anfang und seinen Gegenstand in Gottes Selbstkundgebung hat (¼). Das ­Dennoch¬ ist schon gesprochen. Gott hat es gesprochen.« Es ist das »gættliche Dennoch«, das der Mensch aufnehmen darf, in welchem »er selbst zu einem Spiegel des gættlichen Wohlgefallens wird«. 29 Hin und wieder aber erfolgt gerade innerhalb dieser verstehenden Apologetik ein scharfes Nein. Auch das Nein gehært zum Gespråch. Aber es erfolgt nicht nach dem Maûstab der antiidealistischen Grundhaltung; nicht Christentum und Idealismus ist die Antithese, mit der das Gespråch mit der »Welt« bestritten wird, sondern es ist die »Un-menschlichkeit«. Und hat Barth nicht recht, wenn er die Menschlichkeit in allen ihren Hæhen und Tiefen ± gerade aus der Schæpfergçte Gottes verstanden ± zum Thema des Gespråchs macht, aber dieses da abbricht, wo die Gçte Gottes im Begriff der Humanitåt grundsåtzlich verlassen ist? Der Punkt, an dem das geschieht, ist Nietzsche: »Das Neue bei Nietzsche war eben wirklich dies, daû die Entwicklung der Humanitåt ohne den Mitmenschen ± die heimlich schon die Humanitåt des Olympiers Goethe, auch die Humanitåt der anderen Klassiker und dann auch die jener Mittelmåûigen gewesen war ± bei ihm in ein ungleich fortgeschritteneres, reizbareres, gefåhrlicheres und doch auch gefåhrdeteres ± sollen wir sagen: in ihr letztes? ± Stadium getreten war. Das Neue bei Nietzsche war der Mensch der ­azurnen Einsamkeit¬, sechstausend Fuû hoch çber der Zeit und den Menschen, der Mensch, dem die an derselben Quelle trinkende menschliche Mitkreatur einfach peinlich, einfach schrecklich, der fçr diese Mitkreatur einfach unerreichbar geworden ist, der keine Freunde mehr haben kann und der die Frau nur noch verachten kann ± der Mensch, der es nur noch in der Nachbarschaft der Adler und der starken Winde aushålt ± der Mensch, um den herum nur noch Wçste und Winterlandschaft mæglich ist, der selbst nur noch als verzehrende Flamme existieren kann, der Mensch jenseits von Gut und Bæse.« 30 Hier, in Nietzsche, kommt es zur unausweichlichen Konfrontierung zwischen dem Ûbermenschen und dem Menschen, der uns in Jesus Christus

29. KD III.1, 435 f. 30. K. Barth, KD III.2, 287.

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und durch ihn und mit ihm in unzåhligen anderen begegnet ± der Mensch, an dem der Ûbermensch krank ist, bis zum Ekel leidet, der gebrochene Mensch, der zerschlagen ist vor Gott und auf ihn angewiesen. Hier geht dann die Apologetik wie von selbst in die Entscheidung çber, aber erst hier ± nicht um ein Prinzip zu retten, sondern um Jesus zu bezeugen und ihn als den Gekreuzigten! 31

3.4 Der theologiegeschichtliche Horizont der Dogmatik Aber nicht nur als Apologetik ist Barths Dogmatik ein so seit zweihundert Jahren nicht mehr dagewesenes Phånomen, sondern auch noch in einer zweiten Hinsicht. Da ja die Verkçndigung eine selbståndige Bedeutung neben der Schrift hat und ohne sie auch die Schrift uns nicht erreicht, so muû die Dogmatik gerade in ihrer steten Auslegung der Schrift zugleich ein Stçck Theologiegeschichte sein ± oder man kann es auch anders sagen: Die Zeugen ± die Wolke der Zeugen (Hebr 12,1) wird jeden umgeben, der in rechter Weise ± in der Kirche stehend ± die Lehre der Zeugen bearbeitet, hilfreich auch da, wo sie irrten, aber vor allem hilfreich in dem, was sie vor uns erkannt und geleistet haben. Es ist einfach so, als ob auf einmal, nachdem Barth wieder begriffen hat, was die Kirche und das Bekenntnis zu ihr der Theologie bedeutet, der ganze Reichtum der Våter wie ein offenes Schatzhaus zur Verfçgung der bedrångten, suchenden und nicht vergeblich suchenden Gegenwart steht. Barth verbindet in ganz eigener Weise ein restauratives mit einem reformatorischen Anliegen, restaurativ insofern, als er meint, daû der Neuprotestantismus, von dem wir herkommen, den Reichtum dogmatischer Erkenntnis einfach abgebaut hat und verkçmmern gelassen hat. 32 Was wird aus einem so verfallenen Stçck der Dogmatik wie den »Eigenschaften Gottes«, wenn Barth darçberkommt? Es ist, wie wenn ein Acker lange Zeit nicht bebaut wurde und nun Dornen und Disteln dort wuchern, Barth unternimmt die ungeheure Arbeit, erst einmal das Feld zu reinigen und dann es neu zu bestellen ± und dabei entdeckt er, daû er in einer Linie mit dem geht, was die Våter einmal hier geleistet haben. Er ist ihr Sohn und sie sind seine Våter. Etwas von der Weissagung, mit der das Alte Testament schlieût, liegt çber dem Ganzen (Mal 3,24)! Aber doch nicht, ohne zugleich ihr Richter zu sein. Es gibt keine tradi31. Vgl. K. Barth, a. a. O., 288. 32. Vgl. H. J. Iwand, Wider den Miûbrauch des »pro me« als methodisches Prinzip in der Theologie (siehe oben S. 366, Anm. 19).

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tionelle Bindung, die scheinbar heiligsten Loci 33 und Schematismen werden umgestellt, so etwa die Lehre von Gesetz und Evangelium ± die Ethik schlieût sich unmittelbar an Gottes Gnadenwahl an ±, oder die Beseitigung des decretum Dei in der Gnadenwahllehre Gottes, oder die Aufhebung der christologischen Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten in der Abendmahlslehre, die hier ein und dieselbe Wahrheit von zwei Seiten gesehen haben sollen. Barth entzweit nicht nur, sondern versæhnt. Er entzweit da, wo man versucht hat, eine Synthese zwischen Offenbarung und natçrlicher Theologie zu setzen, und er versæhnt, wo die Einheit der Kirche çber Schulgegensåtzen zu zerbrechen droht. Denn ± das darf man nie çbersehen ± Barth bleibt bei allem in dem Rahmen, den er sich gesteckt hat, es bleibt kirchliche Dogmatik, und die Kirche ± das auf sie bezogene Credo ± durchzieht das Ganze. »Wir sind von der Herrlichkeit Gottes schon jetzt und hier nicht ausgeschlossen. Es ist aber die Gestalt, in der wir von ihr umschlossen sind, in der wir an ihr Anteil haben, die Gestalt der Kirche, der Verkçndigung, des Glaubens, des Bekenntnisses, der Theologie, des Gebetes. Es ist also die zeitliche Gestalt der Verherrlichung Gottes durch die Kreatur die Gestalt dieses besonderen Bereichs. So und nur so kann jener Lebensgehorsam, der der Sinn aller Verherrlichung Gottes ist, jetzt und hier Gestalt haben. (¼) Die ganze Energie der Erweckung und des Aufrufs der Kreatur zu ihrer Bestimmung, Gott die Ehre zu geben, wirkt sich jetzt und hier schlechterdings darin aus: Es darf Kirche sein!« 34 Sie ist also das Gnadengeschenk Gottes, seine herrliche und uns beseligende Stiftung, die Form, in der wir teilhaben dçrfen an dem Werk seiner Errettung in Jesus Christus. »Es darf aber, eben damit alles Andere, eben damit Alles zur Ehre Gottes geschehe, Kirche sein: es darf gepredigt und geglaubt, bekannt und gelehrt und gebetet werden. Das Wort Gottes darf laufen zu denen, die es noch nicht gehært haben, und immer aufs Neue unter denen, die es schon gehært haben.« 35 Kirche ist also gesichtet als das Neue, je schon Alte und doch immer wieder sich Ereignende, das, was wir als das Ereignis und die Entscheidung unserer Tage, unseres Abfalls und unserer Erneuerung suchen und bauen und gewinnen sollen. Das sieht Barth, und das sieht so wie er keiner neben ihm. Er sieht die Kirche in seiner Dogmatik wie den Ritter zwischen Tod und Teufel, der der Stadt, die auf dem Berge liegt (Mt 5, 14), entgegenreitet, zwischen dem Tod, der die Sanduhr in der Hand hålt ± »es kommt die Nacht, da niemand wirken kann« (Joh 9,4) ± 33. Dogmatische Grundpositionen und Lehrsåtze. 34. K. Barth, KD II.1, 762 f. 35. K. Barth, ebd., 763.

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und dem Teufel, der den Menschen aufhalten will vor dem Ziel seiner Bestimmung.

3.5 Das innerste Thema von Barths Dogmatik: das »Christus allein« Und hier nun liegt das, was ich das Reformierende an Barths Dogmatik nennen mæchte: Barth meint, wir mçûten ± um die Geister besser als bisher zu unterscheiden und Gott allein Herr sein zu lassen ± die theologia naturalis mitsamt ihrer analogia entis und auch mitsamt dem von der Existenz des Menschen anhebenden Einsatzes verlassen, wenn anders die Kirche mit ihrer Verkçndigung und die Schrift als einzige Quelle der Offenbarung wieder jene gnadenvolle Nåhe Gottes bedeuten soll, wozu sie gesetzt sind. Er meint, daû wir hier weitergehen mçûten, als es die Reformatoren taten; er tut bewuût ± wenn auch gerade stets unter der Leitung ihrer Theologie und in Hinsicht auf die Bekenntnisse der evangelischen Kirchen ± den, wie er meint, notwendigen Schritt çber sie hinaus, er schreibt die Dogmatik der Kirche, die nicht mit der Reformation beginnt, sondern die gesetzt ist mit dem Bund Gottes, da er sprach: Es werde (Gen 1,3). Dieser Kirche dient er in einem Hause mit den Aposteln und Propheten, Reformatoren und Lehrern an seinem Platz, an seiner Stelle. Die Aufhebung der theologia naturalis, die den Neuprotestantismus auszeichnet, bedeutet aber das innerste Thema seiner Dogmatik: das »solus Christus« (»Christus allein«). Daher die verschiedenen Merkmale der Christologie: (1) Deus dixit, Gott redet ± eben damit setzt er den Sohn. Es ergibt sich ein neues Verståndnis des Wortes ± als der Essenz und Existenz Gottes. Die Trinitåtslehre ist hier sozusagen von der Reformation her neu ausgelegt. Barth çbt Kritik an Augustins vestigia trinitatis (Spuren der Trinitåt in der irdischen Wirklichkeit). (2) Das Wunder der Weihnacht ± es ist das theotokos 36 , die Geburt ohne den Mann, das zeugende Prinzip. Da liegt die Rolle der Frau in der Erlæsung der Menschheit: Maria und die Engel! Damit ist die Fremdheit Jesu gesetzt. Er ist wirklich der ganz andere, sein Dasein ist stellvertretend unser Dasein. (3) Das kommt zum Ausdruck in der Erwåhlungslehre. Christus ist der erwåhlte Mensch, in dem wir alle erwåhlt sind. Darum kein geheimes decretum Dei (Ratschluû Gottes), sondern Jesus Christus ist das Geheimnis und die Offenbarung unserer Erwåhlung zugleich. Die Offenbarung ± das 36. Siehe oben S. 391, Anm. 30.

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heiût, in ihm sind wir ohne Verdienst und Zutun aus Gnaden angenommen, er ist der Vollzug des Gnadenbundes Gottes, auf den die Schæpfung bereits angelegt ist (darum Zeichen, nicht im platonischen, sondern im Verheiûungssinne) ± er ist aber auch der fçr uns Verdammte. »Er ist der verworfene Einzelne. Gibt es Andere, die das auch sind, dann nur in jener bæsartigen, lebensgefåhrlichen und ohnmåchtigen Verkennung und Miûachtung dessen, daû er es allein wirklich ist: dann nur in der Gottlosigkeit, die das Recht, das er Allen erworben hat, nicht Recht bleiben låût.« 37 Es gibt also seit Golgatha keinen sinnvollen Atheismus. Von daher muû man Barths Stellung zu der Frage Ost-West begreifen. Aber man hat ihm fålschlich die apokatastasis panton (Wiederherstellung aller Dinge) vorgeworfen, der Teufel wird nicht erlæst! (4) Jesus Christus ist aber zugleich der wahre Mensch. Nicht nur in dem Sinne, daû er der Mitmensch und insofern die rechte Menschlichkeit ist, sondern auch in dem Sinne, daû er durch die Menschwerdung und Auferstehung das Gleichgewicht von Leib und Seele fçr unsere Lehre vom Menschen als solchem wiederhergestellt hat. Die Lehre vom Menschen, die Barth vertritt, liegt sozusagen jenseits von Idealismus und Materialismus, indem er das Wahrheitsmoment beider çbernimmt und den einen Menschen sieht, die Einheit in dem Geist Gottes, der Leib und Seele heiligt.

3.6 Der Weg nach vorn Wir sind am Ende. Ich habe versucht, ein wenig den schweren und zerklçfteten Weg entlangzufçhren, den die Theologie in den letzten fçnfzig Jahren gegangen ist, den sie wie ein blinder Gaul gefçhrt wurde. 38 Wir selbst haben uns als Theologen entschlossen, nun auch ein Stçck auf diesem Wege zu wandern. Es wird darauf ankommen, daû wir begreifen, wo die Front liegt, daû wir nicht abwårts, sondern aufwårts, nicht rçckwårts, sondern vorwårts gehen; daû wir daran denken: Es gibt auch in der Theologie eine enge Pforte und einen breiten Weg (Mt 7,13 f.), es gibt auch hier und gilt auch hier, den Weg zu finden, der eben damit gebahnt ist, daû Jesus Christus der Weg und die Wahrheit und das Leben ist (Joh 14,6), das eine Wort Gottes, wie es die Barmer Theologische Erklårung gesagt hat. 37. K. Barth, KD II.2, 388. 38. Luther meinte, er sei beim Werk der Reformation getrieben worden wie ein »geblendeter Gaul« (vgl. H. J. Iwand, Martin Luther ± der Kampf um die rechte Lehre, in: H. J. Kraus u. A., Im Kampf um die Erneuerung der Kirche, Bekennen und Bekenntnis Heft 6, Neukirchen-Vluyn 1959, 20).

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Kapitel 6: Die Wiederherstellung des Gegençbers von Gott und Mensch im Wort

Alle kirchlichen Kåmpfe, Siege und Niederlagen sind undenkbar ohne die Vor- und Geheimgeschichte der Theologie dieser entscheidenden Jahrzehnte. Und so wie die Kirche das Geheimnis, die Verheiûung und Not unserer Gesellschaft ist, weil in ihr das Humanum um Jesu Christi willen gegeben ist, so ist die Theologie das Geheimnis, die Hoffnung und unter Umstånden auch die Gefahr der Universitåt; denn der Geist Gottes allein wird jene Geistigkeit schaffen, in der auch der geschaffene Geist wieder erkennen, fragen, suchen und finden kann.

ANHANG Ausgewåhlte Texte Hans Joachim Iwands zu Themen der Vorlesungen

A. Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert Geistige Voraussetzungen 1

1. Die Nåhe zum 19. Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg Am liebsten wçrde ich mein Thema formulieren: Das 19. Jahrhundert und wir. Es ist dies ja auch das geheime Thema dieser ganzen Vorlesungsreihe. Freilich soll dieses Thema hier abgehandelt werden unter dem Gesichtspunkt der besonderen Bedeutung, die dieses Jahrhundert fçr Kirche und Theologie bedeutet hat ± man mçûte jedoch die Theologie voranstellen; denn die Bewegungen, die konstruktiven wie die zersetzenden, die positiven wie die auflæsenden auf dem Boden der Theologie, sind das eigentlich Interessante und Entscheidende, sie sind das bis heute im Weltmaûstab Fortwirkende, wåhrend sich kirchlich wenig regt und bewegt, es sei denn auf dem Gebiet der sozialen Arbeit und der Inneren Mission. Aber ist es nicht seltsam und ein bedenkliches Zeichen, daû dieses Jahrhundert keinen spezifisch christlichen Typ hervorbringt, wie etwa das 18. Jahrhundert den Typ des Pietisten oder das Zeitalter der Reformation den Typ des allgemeinen Priestertums und des christlichen Bçrgers? Die Romantik, die religiæs an der Schwelle des neuen Jahrhunderts stand, mçndete aus in den Katholizismus, und der liberale Protestant, eine Schæpfung des ausgehenden Jahrhunderts, das den Kulturkampf fçhrte, ging in den Nationalismus çber, bis aus ihm in erschreckender und verhångnisvoller Weise der sogenannte »Deutsche Christ« geboren wurde, das peinliche kirchliche Gegenstçck zu der Verwandlung des preuûischen Geistes von einst in den Nationalismus Hitlers. Ich sehe diese Entwicklung, diesen Ausgang des 19. Jahrhunderts, dessen Zeuge wir geworden sind, als ein Ende an ± und zwar irreparabel. Was wir aus dem Schiffbruch unseres Staates und der evangelischen Kirche gerettet haben, sind nichts als zusammenhanglose Trçmmer, die kein Ganzes mehr ergeben und die zunåchst dazu gefçhrt haben, daû wir geschichtlich und auch geistig auf den Vormårz zurçckgeworfen sind. 1.

Ûberschrift Iwands. Handschriftliche Notiz ± nicht von Iwand selber ±: Vortrag in Beienrode und Cottbus, 1959/1960.

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A. Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert

Darum plætzlich diese neue, nicht etwa willkçrlich erdachte, sondern uns schicksalhaft zuteil gewordene Nåhe zum 19. Jahrhundert. Eine Nåhe, die anders ist als wir sie vor der nationalsozialistischen Revolution und vor dem zweiten Weltkrieg und vor dem Untergang Preuûens in unserem Bewuûtsein hatten. Eine noch nicht klar bestimmbare Nåhe, wenn auch einige bedeutsame Versuche gemacht worden sind, eben jenes 19. Jahrhundert vor unseren Blick zu rçcken, dem wir auf einmal ± hinter die Bismarcksche Reichsgrçndung zurçckgeworfen ± so nahe gekommen sind.

2. Die Nåhe zum 19. Jahrhundert nach dem ersten Weltkrieg Nach dem ersten Weltkriege fçhlten wir uns im allgemeinen dem 19. Jahrhundert in anderer Weise nahe. Sein Geistesleben erschien uns wie ein breiter und fruchtbarer Strom, der, von den idealistischen Gipfeln herabquellend fruchtbar durch die Gefilde stræmte, Kunst und Wissenschaft, Staat und Gesellschaft befruchtend, an dem wir uns regenerieren konnten, nachdem der Krieg, der so lange nicht erfahrene, der, als wir ihn erfuhren, in seinem Verhångnis von uns nicht begriffene Krieg, den langen europåischen Frieden zerbrochen hatte. Freilich in der Theologie war im Unterschied zu den anderen Geisteswissenschaften eine gewisse Verhaltenheit dem 19. Jahrhundert gegençber zu spçren. In der Theologie war das Vertrauen zur bçrgerlichen Gesellschaft, wie dieses noch den Kirchenbegriff Schleiermachers und seine »Christliche Sittenlehre« erfçllte, nicht mehr anzutreffen, von Albrecht Ritschls Sekuritåt in dieser Hinsicht ganz zu schweigen. Die Theologie war an die Todeslinie herangefçhrt, das in dem friedlichen 19. Jahrhundert so weit aus dem Blick gekommene Problem des Todes ± damit aber auch die Botschaft von der Auferstehung! ± meldete sich neu und unausweichlich. Es stand vor unserer Jugend ± und wir standen vor ihm, ohne recht zu wissen, wie wir ihm begegnen sollten, es sei denn in der griechischen Haltung Stefan Georgescher Verse oder angestammter, aber nicht mehr durchlebter und weithin nicht mehr geglaubter christlicher Tradition. Wir spçrten, das 19. Jahrhundert mçûte hier etwas versåumt haben, es håtte sich in seinem Unsterblichkeitsglauben die Unsicherheit der Existenz, die tiefe Erschçtterung durch den Tod verdeckt. Nun aber blitzte etwas auf von dem tiefen Zusammenhang von Sçnde und Tod, und wir ahnten, daû auch die Sçnde einen anderen und tieferen Bezirk unseres Lebens meinte und meinen muûte als den des moralischen Ver-

2. Die Nåhe zum 19. Jahrhundert nach dem ersten Weltkrieg

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falls, als welchen die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts Sçnde zu begreifen und einzudåmmen versucht hatte. Und um noch ein Weiteres zu sagen: Wir sahen, daû der Mensch nicht so frei ist, wie wir gelehrt waren, und die These von der Unfreiheit des Willens, die im 19. Jahrhundert mit Ausnahme des einen Schopenhauer verpænt war, gewann fçr uns Realitåt und Ansehen. Wir waren, ohne zu wissen, wie, dem Denken des Neuen Testaments und der Reformation nåher gekommen. Wir begannen etwas von den Abwegen zu ahnen, auf denen sich die Theologie und der Protestantismus des 19. Jahrhunderts verirrt haben muûten. Wir sahen das Licht, auf das wir hinsteuerten, jenseits und abseits des Weges aufleuchten, auf dem wir uns befanden. Wir erschraken, wir begriffen: Wir muûten umkehren, aber wie? ± das wurde nicht gesagt und wohl auch nicht gewuût. So stand es aber keineswegs im Ganzen unseres geistigen Lebens. Die maûgeblichen Månner, die es trugen und die sich die Erschçtterungen des Krieges in ihrer wissenschaftlichen Lebensauffassung vom Halse bzw. von ihrer Seele fernzuhalten wuûten ± die Wissenschaft muû objektiv bleiben und ihre Bahn ziehen wie die Sterne, in unerreichbarer Hæhe çber uns, ferne von Schmerz und Schuld ± gerade sie lieûen sich in ihrem Glauben an den Fortschritt des mehr und mehr sich ausbreitenden wissenschaftlichen und humanen Geistes nicht irremachen. Ihnen erschien das 19. Jahrhundert immer noch als geradliniger Aufstieg, trotz Krieg und russischer Revolution, sie sahen nicht die Klimax dieses Jahrhunderts, seinen furchtbaren Zusammenbruch nach glånzendem Aufstieg, sie hatten keinen Blick fçr die Tragædien dieses Jahrhunderts, in welchem zunåchst noch einmal angesichts der gewandelten Zeit der Versuch unternommen wurde, Glaube und Vernunft miteinander zu versæhnen ± eben darin hatte Schleiermacher mit seinen »Reden çber die Religion an die Gebildeten unter ihren Veråchtern« 1799 den Auftakt gegeben ±, um dann in einer furchtbaren Entzweiung auseinanderzubrechen, und ein Nein gegen Gott, Theologie und Kirche vernehmbar werden zu lassen, wie es so noch nie in Deutschland und schon gar nicht anderswo gehært worden war. Nein, dieses innerlich so zerrissene 19. Jahrhundert erschien den Wilhelm Dilthey und Ernst Troeltsch, erschien Adolf von Harnack und Karl Holl, aber auch Historikern wie Friedrich Meinecke und Benedetto Croce als ein harmonisches Zeitalter. Des zum Zeichen gab Ernst Troeltsch 1923 das groûe Werk çber den »Historismus« des 19. Jahrhundert heraus 2 , in dem er die jçngere Generation noch einmal beschwor, die Last der Geschichte auf sich zu neh2.

E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Bd. I. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften Bd. 3, Tçbingen 1922.

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A. Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert

men ± aber wuûte er wirklich, was die Last der Geschichte war? Ahnte er, daû man damals auch als Liberaler restaurativ sein konnte?

3. Der Schnitt im 19. Jahrhundert Anders liegen die Dinge bereits in dem vierbåndigen Werk von Franz Schnabel, dessen erster Band 1929 erschien und das sich bewuût als ein katholisches und sçddeutsches Gegenstçck zu Heinrich von Treitschkes »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« ausgibt, das den tragenden religiæsen Kråften und dem Nebeneinander der beiden Konfessionen ungleich mehr Bedeutung zuerkennt, und zwar aus innerstem Verstehen heraus, als der liberale Wahlpreuûe, der Historiker der Bismarckzeit. Aber auch hier fehlt noch das, was wir erst heute deutlich wahrzunehmen vermægen: die Einsicht in den tiefen Schnitt, der diesem Zeitalter des deutschen Idealismus und der christlichen Romantik folgt und der ± wie uns Karl Læwith in seinem groûartigen Lebensbuche gezeigt hat 3 ± mit dem Tode Goethes und Hegels und seltsamerweise mit dem Ausbruch der franzæsichen Julirevolution als dem Sieg der industriellen Gesellschaft erfolgt. Die darauf folgenden Jahre, also die Jahre bis zum Zusammenbruch der 1848er Bewegung in Deutschland sind die Jahre der Auflæsung dessen, was der Idealismus geschaffen hat, sie sind ein leidenschaftlicher Protest ± verbunden mit dem aufsteigenden Sozialismus ± gegen Theologie und Kirche, gegen Gott und gegen jegliche Art von Metaphysik. Goethe hat gesehen, daû hier etwas Furchtbares, Unbegreifliches anbricht ± man denke nur an das Ende des Faust, wie er beim Spatenklang der Lemuren von dem Glçck des »hæchsten Augenblicks« zu tråumen meint. 4 Die Welt der Arbeit hat begonnen, die Welt des Menschen zu werden, und zwar seine ganze, seine alleinige Welt, und der Mensch wiederum beginnt, sich als Arbeiter, als der homo faber zu verstehen. Das Ende des faustischen Menschen ist gekommen. 5 Man versteht von hier aus, daû Goethe seinen Faust II nicht noch zu seinen Lebzeiten erscheinen lassen wollte. Es war in ihm 3. 4. 5.

K. Læwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionåre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Zçrich 19411 , Hamburg 19787 . J. W. Goethe, Faust II, V. 11585. Der Ausdruck stammt aus O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, der die »apollinische« und die »faustische Seele« kontrastierte. Die »faustische Seele« symbolisierte die ganze abendlåndische Kultur in ihrem Streben nach unendlichen

3. Der Schnitt im 19. Jahrhundert

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zu vieles von dem verschlçsselt, was erst die Zukunft dem kurzsichtigen Auge enthçllen werde. Erst sie wird erkennen, daû das Zeitalter der Arbeit und des technischen Menschen das Grab des Faust bedeutet, ein Zeitalter, das dieser, der faustische Mensch, selbst herauffçhren half, das er aber nicht çberlebte. Fçnf Tage vor seinem Tode schreibt Goethe an Wilhelm von Humboldt: »Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daû ich mich çberzeuge, meine redlichen, langverfolgten Bemçhungen um dieses seltsame Gebåu wçrden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trçmmern daliegen und von dem Dçnenschutt der Stunden zunåchst çberschçttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet çber die Welt« 6 . Nicht anders steht es bei dem alten Hegel zu lesen, wenn er seine Vorlesung çber Religionsphilosophie mit åhnlicher tiefer Resignation schlieût: »Wenn die Zeit erfçllet ist, daû die Rechtfertigung durch den Begriff Bedçrfniû ist, dann ist im unmittelbaren Bewuûtseyn, in der Wirklichkeit die Einheit des Innern und Aeuûern nicht mehr vorhanden und ist im Glauben nichts gerechtfertigt. Die Hårte eines objectiven Befehls, ein åuûerliches Daraufhalten, die Macht des Staates kann hier nichts ausrichten; dazu hat der Verfall zu tief eingegriffen. Wenn den Armen nicht mehr das Evangelium gepredigt wird, wenn das Salz dumm geworden und alle Grundfesten stillschweigend hinweggenommen sind, dann weiû das Volk, fçr dessen gedrungen bleibende Vernunft die Wahrheit nur in der Vorstellung seyn kann, dem Drange seines Innern nicht mehr zu helfen. Es steht dem unendlichen Schmerze noch am nåchsten; aber da die Liebe zu einer Liebe und zu einem Genuû ohne allen Schmerz verkehrt ist, so sieht es sich von seinen Lehrern verlassen; diese haben sich zwar durch Reflexion geholfen und in der Endlichkeit, in der Subjectivitåt (¼) und eben damit im Eitlen ihre Befriedigung gefunden, aber darin kann jener substantielle Kern des Volks die seinige nicht finden.« 7 Was Hegel sah, erfçllte sich gerade damals, und die Worte Reflexion und Subjektivitåt treffen Schleiermacher. Der Rçckzug auf das Selbstbewuûtsein des Glaubenden in der Theologie und die Zufriedenheit mit dem Genusse seines eigenen christlichen Erregtseins hat eingesetzt. Was Hegel gesehen hat, ist tief genug, um sich uns einzuprågen. Die theologia crucis ist ausge-

6. 7.

Kenntnissen und ihrem rastlosen Suchen nach dem Unerreichbaren und der Selbstvervollkommung. Zitat bei K. Læwith, a. a. O., 42. G. W. F. Hegel, Vorlesungen çber die Philosophie der Religion II, SW Bd. 16, Stuttgart 1928, 355 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 17, 343). Hervorhebung zum Teil von Iwand.

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A. Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert

schieden und eben damit der Schmerz in der Liebe, der Durchbruch durch das Nein zum Ja, durch das opus alienum zum opus proprium Gottes. Damit bricht die groûe Verlassenheit des Volkes von seinen Lehrern an. Eine Herde ohne Hirte! Fast ist man versucht, an das Bild zu denken, das Jesus Matthåus 9,36 von seinem Volk gebraucht: »Sie waren zerschlagen und zerschunden wie Schafe, die keinen Hirten haben.« Die von der bçrgerlichen Welt und ihrem Selbstverståndnis beschlagnahmte Religion lieû keinen Raum fçr das Volk, das im Begriffe war, ein Industrievolk, und das hieû damals Industrieproletariat zu werden. Darum Hegels Sorge: »Es ± das Volk ± sieht sich von seinen Lehrern verlassen.« Er hatte noch nicht ahnen kænnen, daû einer seiner Schçler, der mehr als ein Schçler war, diesem verlassenen Volk ein neuer, ein mit allen bçrgerlichen Ideen, auch mit der Religion, radikal brechender Lehrer werden sollte. 1848 erscheint das Kommunistische Manifest. Darin steht der Satz: »Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, daû sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben, daû mit der Auflæsung der alten Lebensverhåltnisse die Auflæsung der alten Idee gleichen Schritt hålt.« 8 Die »alte Idee« aber ist Gott selbst. Der Mensch wird den Menschen wiederentdecken, der ihm durch die Religion entfremdet war. Das ist der Bruch im 19. Jahrhundert, den es selbst zu realisieren nicht den Mut hatte.

4. Gestalten des 19. Jahrhunderts: Hegel, Marx und Kierkegaard Im wesentlichen vollzieht sich der weltgeschichtlich so bedeutsame Umschwung innerhalb der geistigen Entwicklung des 19. Jahrhunderts durch jene Månner, die man die Linkshegelianer nennt: Arnold Ruge, der seit 1837 die Halleschen Jahrbçcher fçr Wissenschaft und Kunst herausbrachte, ein Freund von Karl Marx, 1841 durch die preuûische Regierung ausgewiesen, Ludwig Feuerbach, ursprçnglich Theologe, dann aber freier Philosoph, der einsam auf dem Rechenberg bei Nçrnberg lebt. Von ihm erscheint 1841 »Das Wesen des Christentums«, 1843 »Philosophie der Zukunft« und 1851 »Das Wesen der Religion«, das sind Vorlesungen, in Hei8.

»Manifest der kommunistischen Partei«, Abschnitt II, in: K. Marx, Die Frçhschriften, 546.

4. Gestalten des 19. Jahrhunderts: Hegel, Marx und Kierkegaard

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delberg gehalten. Man weiû, daû Feuerbachs Thesen zur Religion ein zunåchst mit græûter Begeisterung von Friedrich Engels aufgenommener Beitrag fçr die Begrçndung des Atheismus gewesen sind. Als zweiter Theologe muû David Friedrich Strauû genannt werden, dessen »Leben Jesu« 1835/36 erscheint. Nach ihm ist der Mythos »das Prachttor, durch das man in die evangelische Geschichte eintrat und durch das man sie wieder verlieû; zwischen den beiden Prachttoren aber lagen die krummen und winkligen Gassen der natçrlichen Erklårung« 9 . Dann verdient natçrlich hier genannt zu werden Karl Marx, dessen Wirksamwerden erst jetzt mit dem Zusammenbruch des europåischen Staatensystems nach dem ersten Weltkrieg einsetzt. 1867 erscheint der erste Band des »Kapital«, an dem Marx von 1851 an in asketischer Einsamkeit gearbeitet hat. 1917 (50 Jahre spåter!) erfolgt die Grçndung der russischen Råterepublik und seither beherrscht das von Marx angeschlagene Thema die Spalten unserer Zeitungen und den blutigen revolutionåren Gang der Weltgeschichte. Aber man vergesse darçber nicht: Marx kommt von Hegel her, er hat Hegels Diktum aufgenommen, die Vernunft in der Wirklichkeit und nicht mehr jenseits ihrer zu suchen. 10 Das ist sein Atheismus, es ist der Atheismus einer eschatologisch verstandenen Diesseitigkeit. Es ist ein Atheismus der Praxis, nicht der Theorie, es ist nicht die Diskussion, »an deus sit« (»ob Gott ist«) (Thomas) 11 , sondern es ist die Abschaffung Gottes dadurch, daû der Mensch mit der Umgestaltung seiner Welt befaût ist, um ganz und ausschlieûlich in ihr heimisch zu werden. Aber dieser Atheismus ist die Kehrseite des Gottsuchens und der Gleichsetzung Gottes mit dem »Absoluten«, wie sie als reifste Frucht des Idealismus in Hegels Phånomenologie erscheint. Warum wandelt sich dieses eben entdeckte und im wissenschaftlichen Erkennen begriffene Absolute unter den Jçngern Hegels ins Nichts? Die schreckliche These: »Gott ist tot«, die den jungen Hegel zum Philosophieren treibt, taucht wieder und in ungebrochener Schårfe auf ± sie wird ein Menschenalter spåter von Nietzsche in seine neue Moral eingebaut werden, sie wird es sein, die das »Jenseits von Gut und Bæse« zum Maûstab seines Handelns fçr den Ûbermenschen macht. Der einzige unter den Jçngern Hegels, der sich gegen diese Wendung zum Atheismus auflehnte, war Særen Kierkegaard. Aber auch er vermag 9. D. F. Strauû in der Wiedergabe bei A. Schweitzer (vgl. oben S. 386). 10. Iwand verweist mehrmals auf die Vorrede von G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, SW Bd. 7, 33 (= Theorie-Werkausgabe Bd. 7, 24). 11. Vgl. NW 1, 112 ff.; GA I, 254.

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nichts anderes als Christ dagegen zu tun, als sich von seiner Zeit zu læsen, um als der »einzelne« in ihr zu existieren. Er will, »anstatt mit im Geschlecht zu sein und zu sagen: ­wir, unsere Zeit, das neunzehnte Jahrhundert¬, ein einzelner existierender Mensch werden. Ich leugne nicht, daû dies åuûerst schwierig sei, darum gehært groûe Resignation dazu, es nicht zu verschmåhen. Was ist doch ein einzelner existierender Mensch? ± Ja, unsere Zeit weiû nur allzugut, wie wenig er ist, aber darin liegt eben die besondere Unsittlichkeit des Zeitalters.« 12 Der Rçckzug in die Einzelzelle der Zeit und Endlichkeit entrçckten Existenz ist die moderne mænchische Bewegung im protestantischen Felde, die Kierkegaard erwåhlt und deren Herold er wird. Er sieht das »diabolische Prinzip der Nivellierung« 13 in Europa heraufziehen, aber er sieht, daû auch dieses wider seinen Willen in den Dienst des Geistes und der geistigen Entscheidung treten muû, wenn wir ihm nicht ausweichen: »Da wird es also heiûen: siehe, alles ist bereit, siehe die Grausamkeit der Abstraktion macht die Endlichkeit in ihrer Tåuschung als solcher offenbar, siehe der Unendlichkeit Abgrund æffnet sich, der Nivellierung scharfe Sense låût alle, jeden besonders, çber die Klinge springen ± siehe, Gott wartet! so spring zu in Gottes Arme.« 14 Hier wird die Wendung sichtbar, die sich im Begriff der christlichen Existenz von Hegel zu Kierkegaard vollzieht. Dort ist sie noch begrçndet im Wissen, im Allgemeinen, dementsprechend daû Gott das Absolute ist 15 und insofern Wissen und Glauben eins sind. Jetzt wird das Allgemeine ± die Abstraktion sagt Kierkegaard ± als das Unwirkliche verstanden und der Glaube als Paradox in der Ûbernahme der Existenz gesehen; Glaube ist unableitbare persænliche Entscheidung. Freilich eine solche, die die Selbstentfremdung des Menschen in der Zeit, in der Masse, in der Úffentlichkeit immer als ihr dialektisches Gegençber hat. Aber wie dem auch sei ± Christen und Atheisten jener aufregenden Epoche um die Jahrhundertmitte gilt die Gegenwart als Tåuschung und Verfall, beide erwarten die Umkehr. Die einen erwarten sie in der Weise der vom einzelnen zu vollziehenden religiæsen Entscheidung. Sozialisten und Christen ± wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen ± sehen die Gegenwart als eine solche der Selbstentfremdung des Geistes (des radikalen Verfalls), die einen, weil die Tåuschung der Religion noch besteht, die anderen, weil ihnen die bestehende Religion als eine Tåuschung çber die wahre Religion gilt. Der deutsche 12. 13. 14. 15.

S. Kierkegaard, zitiert bei K. Læwith, a. a. O., 127. F. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitåten, 271 f. Ebd. In einer Randnotiz fçgt Iwand hinzu: »in dem sich Denken und Sein decken«.

5. Ausblick

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Idealismus hat in Bezug auf die religiæse Frage eine Krise ausgelæst, wie sie tiefer und einschneidender nicht zu denken ist und wie wir sie jetzt erst ± nachdem wir fast hundert Jahre an ihr praktisch vorbeigelebt haben ± unerbittlich und ausweglos zu Gesicht bekommen. Hier liegen die Voraussetzungen fçr das geistige Leben im 19. Jahrhundert, sie mçssen wir untersuchen, wenn wir wirklich ± das heiût von jener Drehung aus, die unsere Geschichte im 20. Jahrhundert im Kampf zwischen Nationalsozialismus und Marxismus gemacht hat ± das 19. Jahrhundert mit seinen offenkundigen religiæsen und seinen verdeckten, aber keimartig wirksamen antireligiæsen Voraussetzungen begreifen und çberwinden wollen. Die Wilhelminische Øra hat das nicht gewollt und nicht vermocht, daran ist sie gescheitert. Man wird die innerhalb der Geschichte liegenden, einmal denkerisch zum Bewuûtsein gebrachten Entscheidungen nicht los, hier gilt kein Ausweichen. In der »Deutschen Ideologie« beginnt Marx seine Kritik an Feuerbach: »Wie deutsche Ideologen melden, hat Deutschland in den letzten Jahren eine Umwålzung ohne Gleichen durchgemacht. Der Verwesungsprozeû des Hegelschen Systems, der mit Strauû begann, hat sich zu einer Weltgårung entwickelt, in welche alle ­Måchte der Vergangenheit¬ hineingerissen sind. In dem allgemeinen Chaos haben sich gewaltige Reiche gebildet, um alsbald wieder unterzugehen, sind Heroen momentan aufgetaucht, um von kçhneren und måchtigeren Nebenbuhlern wieder in die Finsternis zurçckgeschleudert zu werden. Es war eine Revolution, wogegen die franzæsische ein Kinderspiel ist, ein Weltkampf, vor dem die Kåmpfe der Diadochen kleinlich erscheinen. (¼) in den wenigen Jahren 1842-1845 wurde in Deutschland mehr aufgeråumt als sonst in drei Jahrhunderten«. 16

5. Ausblick Das also sollte in dem ersten Stçck dieser Vorlesung deutlich werden: Wir kænnen den geistigen Aufbruch des 19. Jahrhunderts nicht ohne seinen Niedergang ins Auge fassen, den ungeheuren Schwung und Optimismus des Anfangs, zumal in der Fichteschen Zeit, nicht ohne dieses zu ihm gehærige, wenn auch nicht aus ihm erwachsene Zerbrechen. Weil die meisten uns bisher bekannten und erzieherisch an uns wirksamen Darstellun16. K. Marx, Die Deutsche Ideologie (1845/46), a. a. O., 342 f.

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A. Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert

gen des 19. Jahrhunderts nur den Idealismus sehen ± allenfalls mit dem Protest des Pietismus, der aber leer ist! ±, sich aber bisher an jenen Abgrund nicht herantrauen, der durch die Namen Marx, Feuerbach, Strauû, Ruge, Stirner, Engels, Lassalle bezeichnet wird, darum ist uns das wirkliche 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des deutschen Idealismus und Positivismus, der Industrialisierung und der Bismarckschen Reichsgrçndung fremd geblieben und sein Ende ist so tragisch und geistlos çber uns gekommen, wie es bei diesem Mangel an Bewuûtsein nicht anders sein konnte.

B. Geistige Grundlagen des 19. Jahrhunderts 1

1. Das 19. Jahrhundert und wir Das ungeheure und bis heute nicht begriffene Schicksal, das unsere Generation erlebt und erlitten hat: die revolutionåren Wandlungen, die sich in den beiden letzten Kriegen, den Weltkriegen, vollzogen haben, die Landung der Amerikaner in Europa und der Zusammenbruch des alten Ruûlands, der konservativsten Macht, die weder Reformation noch Renaissance in ihren Bereich eindringen lieû, der Sieg der marxistischen Philosophie und die damit verbundene Ablæsung der kolonialen Vorherrschaft des weiûen Mannes ± das alles muû mit empfunden, mit gesehen, als tiefe und schwere Anfechtung erfaût sein, wenn wir heute unseren Blick auf das neunzehnte Jahrhundert richten. Das neunzehnte Jahrhundert, dieses Idyll des Friedens im Vergleich mit dem Jahrhundert, das aus seinem Schoûe entsprang. Wie konnte ein so erregtes, ein so nihilistisches und sozialistisches Gebilde wie das Jahrhundert der groûen Kriege und Revolutionen aus dem scheinbar so artigen, wohltemperierten, bçrgerlichen 19. Jahrhundert hervorgehen? Hatte man es nicht gerade in Europa erst durch Metternichs, dann durch Bismarcks Staatskunst geschafft, die Gegensåtze zum Ausgleich zu bringen, dem Einbruch der Demokratie und des damals von Westen her drohenden gefåhrlichen Geistes zu wehren, in einer Revolution von oben die Dynastien zu retten, Gewinn, Geldaristokratie und Christentum in schænstem Verein miteinander zu verbinden, wo das Nationale zum mindesten im Reich der Mitte die unangefochtene Basis abgab, durch den Protestantismus in fast rçckhaltloser Weise geheiligt und mit dem Segen der Kirche versehen? Was fçr eine Sicherheit erfçllt die Darstellungen dieses Jahrhunderts, die auf seinem Gipfel, vom Zenit der Bismarckschen Reichsgrçndung aus geschrieben sind! Und wie glånzend sind diese Darstellungen ± immer noch. Wir haben nicht ihresgleichen. Aber kænnten wir heute noch so auf das verflossene 19. Jahrhundert zurçcksehen? Es gab gewisse Deutungen, die gerade der Sçûe des Herbstes abschmeckten, daû ein Jahrhundert mit seiner Herrlichkeit zur Neige ging, das irgendwo und irgendwie leer geblieben war. Da war ± um ein wirklich 1.

Ûberschrift Iwands.

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B. Geistige Grundlagen des 19. Jahrhunderts

groûes Buch zu nennen ± Albert Schweitzers »Von Reimarus zu Wrede«! Man muû es in seiner ersten Auflage lesen. Da war ± ein ganz vergessenes ± das erste Buch des seherischen Karl Heim: »Das Weltbild der Zukunft«. Darin war das Ende der Philosophie vorweggenomen. »Wenn die Zeit kommen wird, da die Philosophie zu Ende sein wird und wir wieder zu dem groûen Wurfe Gott jauchzend Ja sagen«, konnte man da lesen. 2 Da war begriffen, daû die Relativitåtstheorie die Philosophie aufheben muû, weil die Wahrheit nicht vertrågt, als ein Relatives angesehen zu werden. Da war die Rolle geahnt, die die moderne Naturwissenschaft einmal der Philosophie gegençber, sozusagen nicht mehr als ihr Freund und ihre Ausgangsposition wie bei Descartes und Kant, sondern als ihr Feind, ihr Totengråber, spielen wçrde. Da war aber vor allem die Stimme Schopenhauers, der nie einen philosophischen Lehrstuhl innehatte und der doch als Erzieher, der weltanschaulich als der einzige in der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts gewirkt hat; der den Geist der Zeit bestimmte und jenen Pessimismus und Willen zum Leiden prågte, der hinter den Siegen und Paraden, hinter dem ganzen Flimmer und Flitter der Reichsgrçndung die wirkliche, die geistige Substanz des Ganzen war; und die umzuprågen in einem neuen, çber die Scheingegenwart und den Scheinglanz weit, weit hinausreichenden Sinne Nietzsche unternahm.

2. Nietzsche und das ausgehende 19. Jahrhundert Nietzsche wollte aus dem Willen zum Leiden einen Willen zum Leben, einen Willen zur Macht bilden. Er wollte Menschen schaffen, die ja zum Leben sagen, die endgçltig mit der Wahrheit rechnen, der einzigen Wahrheit, die ihm, Nietzsche, absolut schien, daû Gott tot ist. Es war kein Zufall, daû damit alle anderen Wahrheiten zu historischen, das heiût, zu relativen absanken. In der »Fræhlichen Wissenschaft« hat Nietzsche diese drei Punkte der Entwicklung des 19. Jahrhunderts sehr treffend herausgehoben. Erst Hegel: »Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben håtte.« 3 Mit Hegel bringt Nietzsche dann auch Darwin und den auf 2. 3.

K. Heim, Das Weltbild der Zukunft, 300. F. Nietzsche, Die fræhliche Wissenschaft, Aphorismus 357, Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Band 5, 300 (= Schlechta II, 226; KSA 3, 599). Vgl. oben S. 178, Anmerkung 4.

2. Nietzsche und das ausgehende 19. Jahrhundert

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dem Entwicklungsgedanken und dem Kampf ums Dasein beruhenden Darwinismus zusammen. Und in der Tat: Das ausgehende 19. Jahrhundert huldigt rechts und links, in der Kreuzzeitung wie bei den Sozialisten dem Darwinismus. Aber dann Schopenhauer. Warum ist Schopenhauer so bedeutsam? Was an ihm ist das Anti-Hegelianische? »Schopenhauer war als Philosoph der erste eingeståndige und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben: seine Feindschaft gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund.« 4 Damit wird etwas spçrbar von der ungeheuren Peripetie des 19. Jahrhunderts. 1830 stirbt Hegel. Jetzt erst macht Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung« von sich reden. Ich »habe die Befriedigung, am Ende meiner Laufbahn den Anfang meiner Wirksamkeit zu sehn« 5 , heiût es im Vorwort zur dritten Auflage 1859. Schopenhauer versucht, den leeren Fleck in der Kantischen Philosophie, welcher die Bahn der idealistischen Denker nach ihm abzeichnet, das »Ding an sich«, neu und antiidealistisch, nicht mehr vom Objekt her, sondern so zu bestimmen, daû das Subjekt das, was auûen zu sein scheint, in sich selbst findet: im principium individuationis. Das Gegençber zu jenem Ding-an-sich, das ja doch den Hintergrund zu Kants ± darin eben positiv gemeinter ± Erkenntnistheorie bildete, fållt dahin. Es fållt aber auch nicht einfach mit dem Ich zusammen. Sondern es geht weit çber dieses hinaus, ist aber nur hier lebendig und nur hier zu çberwinden. »Weil der Wille, als das wahre Ding an sich, ein wirklich Ursprçngliches und Unabhångiges ist« (342). Schopenhauer nimmt das Sein in den Willen als solchen zurçck, nicht in den subjektiven Willen, der scheinbar heute dies und morgen jenes will, sondern in ein çber uns allen stehendes Wollen, in den »Willen zum Leben«, der das Leben erzeugt. Daher Wille und Vorstellung. Die Vorstellung des Daseins und der Welt sinkt in sich zusammen, sobald der Wille zum Leben »çberwunden« wird. Dann enthçllt sich das Dasein mit seinen Gençssen, Leidenschaften und Schmerzen als ein Schein, der wie ein Schleier zergeht, um uns mit ewiger Ruhe durchblickender Betrachtung zu erfçllen. »Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. Aber das, was sich gegen das Nichts stråubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist« 6 (486, Hervorhebung von Iwand). Schopenhauer weiû sich darin der indischen Philosophie sehr na4. 5. 6.

Ebd., 5, 301 (= Schlechta II, 227; KSA 3, 599). A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, Såmtliche Werke. Bd. 2, Wiesbaden 1965, XXXI. Seitenangaben im Text. Iwand schrieb statt »gegen dieses Zerflieûen ins Nichts stråubt«: »gegen das Nichts stråubt«.

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B. Geistige Grundlagen des 19. Jahrhunderts

he. Er spricht von denen, die die Welt çberwanden in biblischen Ausdrçcken und preist die Verneinung des Willens. Indem der Mensch das Nichts bejaht, indem er den Willen, er selbst zu sein, preisgibt, erfçllt ihn »jene Meeresstille des Gemçths, jene tiefe Ruhe, unerschçtterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloûer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raffael und Corregio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist« (486). »Diese unsere (¼) reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraûen ± Nichts« (487). Damit endet das IV. Buch der »Welt als Wille und Vorstellung«. Was demgegençber die Kathederphilosophie vertritt, fållt fçr das Lebens- und Seinsverståndnis der Zeit kaum ins Gewicht. Hier aber ist die Konsequenz gezogen ± eigentlich schon sehr frçh, denn die erste Auflage erscheint 1818 ±, die die Welt als Schæpfung negiert. Sie ist ohne Gott. Den letzten radikalen Schritt in dieser Richtung tut Friedrich Wilhelm Nietzsche. Er ist dieser letzte Schritt. Es ist bedeutsam zu sehen, daû den entscheidenden Schritt im Ergreifen des Atheismus ± als der letzten und befreienden Stufe zur Geburt des neuen Menschen ± bei uns nicht die Naturwissenschaft tut. Atheist zu sein aus naturwissenschaftlichen Grçnden ist westlich; wir in Deutschland stoûen hundert Jahre spåter auf diesen Gipfel vor, stehen verspåtet, aufgehalten durch irgend etwas vor diesem Abgrund der Moderne. Wir werden zu spåt modern. Aber dafçr werden wir es grçndlicher. Nicht Marx und nicht Feuerbach prågen die Absage gegen Gott bei den Gebildeten des 19. Jahrhunderts ± sie entwickeln kein Pathos, ihre Zeit ist noch nicht gekommen, sie steht noch vor der Tçr. Sondern diese Bourgeoisie, die åuûerlich noch die christlichen Institutionen beibehålt, die noch innerhalb der zwar bereits gånzlich hohlen, aber doch noch sanktionierten christlichen Tugendbegriffe und moralistischen Moral lebt, erlebt in Nietzsches Auflehnung gegen die christliche Moral, gegen Liebe und Mitleid, gegen die Fçrsorge fçr die Schwachen und die christliche Asketik bereits jenen Aufbruch zu neuen Gestaden, den sie selbst bald antreten wird in gewaltigen Kriegen und in unnachahmlichen Grausamkeiten. In Nietzsches Absage an das Christentum ist die neue Zeit dieser Gesellschaft bereits pråsent. Er ist ihr wahrer Interpret. Kein Wunder, daû der »Zarathustra« die jungen deutschen Soldaten ins Feld begleitet. Was Nietzsche versucht und gemacht hat, wird nur auf dem Hintergrund der theologischen Situation verståndlich, wie sie seit der Mitte des Jahrhunderts ± man kænnte freilich auch sagen: seit Kants Zertrçmmerung der ontologischen Metaphysik bei uns vorherrscht. Und hier lohnt es sich, eine Bemerkung einzuschieben, die ich, nicht aus prinzipieller Voreingenommenheit, sondern viel eher aus ehrlicher und nçchterner Beobachtung gemacht habe und die jeder machen wird, der

2. Nietzsche und das ausgehende 19. Jahrhundert

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genau hinsieht: Es war der Fehler Diltheys und Troeltschs, daû ihr Lebensoptimismus, ihr Wertglaube, sie hinderte, genau hinzusehen. Ich meine folgendes: Das Ereignis kommt hinterher. Ob es immer so ist, will ich hier nicht gleich behaupten. Man soll seine Behauptungen nicht çbertreiben. Vielleicht liegen die Gesetze in den Epochen der dcadence anders als in denen des Aufstiegs. Aber Denken heiût immer oder hieû jedenfalls im 19. Jahrhundert bei den tiefsten Denkern: Vorwegnehmen. Prudentia ist providentia (Einsicht ist Voraussicht). Hitler wåre ohne Nietzsche undenkbar, vielleicht auch Bismarck ohne Hegel. Es ist das das Groûe und Aufregende fçr uns Nachgeborene, die wir den Untergang dieses Jahrhunderts am eigenen Leibe nicht nur erlebt, sondern vollzogen haben ± und ihn vollzogen haben, weil wir noch diesen Gedanken verhaftet waren, uns nicht von ihnen rechtzeitig und grçndlich getrennt hatten ±, diesen Zusammenhang von Geist und Geschichte zu sehen. Es ist zuvor gedacht, es ist in der Idee, im Entwurf kçhnster und verwegenster Gedanken das geschaffen worden, was hernach kam und wurde. Es konnte danach auch nichts anderes mehr kommen. Das entsprach der ungeheuren Verlogenheit, der objektiven Verlogenheit, der als Verlogenheit institutionalisierten Daseins- und Lebensform dieses sterbenden Europas des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nur noch in der Antithese zum Christentum und seiner Moral kann man denken. »Wir Europåer« ± so sagt Nietzsche im 5. Buche der »Fræhlichen Wissenschaft«, das er 1887 der ersten Auflage beifçgte ± »befinden uns im Anblick einer ungeheueren Trçmmerwelt, wo einiges noch hoch ragt, wo vieles morsch und unheimlich dasteht, das meiste aber schon am Boden liegt (¼). Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen die religiæse Gesellschaft des Christentums bis in die untersten Fundamente erschçttert ± der Glaube an Gott ist umgestçrtzt, der Glaube an das christlich-asketische Ideal kåmpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und grçndlich gebautes Werk wie das Christentum ± es war der letzte Ræmerbau! ± konnte freilich nicht mit einem Male zerstært werden; alle Art Erdbeben hat da rçtteln, alle Art Geist, die anbohrt, gråbt, nagt, feuchtet, hat da helfen mçssen.« 7 Nietzsche hat eins gesehen, das ging weit çber Schopenhauer hinaus: daû es darauf ankomme, die Moral in ihrer Substanz frei zu machen von den christlichen Werten. Das Christentum erscheint ihm als der »Sklavenaufstand in der Moral«, und dieser beginnt damit, daû das »Ressentiment schæpferisch wird und Werte ge-

7.

F. Nietzsche, Die fræhliche Wissenschaft, Aphorismus 358, Naumann / Kræner, Taschenausgabe, Band 5, 304 (= Schlechta II, 229 f.; KSA 3, 602).

470

B. Geistige Grundlagen des 19. Jahrhunderts

biert« 8 . Die Umkehrung des »werte-setzenden Blickes« gehært eben zum Ressentiment. Es gilt, den Blick wieder nach auûen zu richten, die Selbstzerfleischung, die das Christentum dem Menschen, diesem hæheren Tier beigebracht hat, aufzulæsen. Der Freudianische Griff nach der Beseitigung der Introvertiertheit ist ± methodisch, moralisch ± långst vor Freud von Nietzsche vorweggenommen. Damit gedachte er das 19. Jahrhundert von seiner »Vergiftung« zur erlæsen. Die Aufklårung hatte sozusagen in der Nachernte der Reformation ± so sahen diese die Gebildeten um 1900! ± das Christentum dogmenfrei gemacht, aber es war doch ein Punkt geblieben, an dem Christentum und modernes Menschenverståndnis noch untrennbar aneinander haftenblieben. Ja, gerade das ausgehende 19. Jahrhundert, gerade die Albrecht Ritschl, Richard Rothe, Ernst Troeltsch, Wilhelm Herrmann, auch Adolf von Harnack sahen diese Ablæsung vom Dogma ± insbesondere von dem der Zweinaturenlehre ± als eine Vereinfachung und echte Verknçpfung von Christentum und moderner Lebensauffassung an. Der Existentialismus von heute ruht immer noch auf diesem Grund, auf dieser Ausflucht, die das 19. Jahrhundert vor dem zunehmenden Anschwellen des Atheismus und des Antichristentums suchte. Man ging davon aus, daû die Moral ohne Versæhnung und Erlæsung, ohne Ûberwindung des Schuldbewuûtseins nicht denkbar wåre. Eben diese bçrgerlich-christliche Moral. Man drehte die Sache um: Erst kommt die Moral ± und dann der Glaube. Und so auf Grund eines schon im voraus gewuûten defectus iustitiae civilis (Mangel der bçrgerlichen Gerechtigkeit) glaubte man doch noch einen gewissen Bedarf fçr die christlichen Erlæsungslehren, einen totsicheren, mit einem Defekt in der moralischen Existenz des Menschen gegebenen Bedarf nach christlicher Theologie voraussetzen zu dçrfen. Hier setzt Nietzsche ein. Hier wird er der groûe und unerbittliche Hasser. Von hier aus versteht er sich rçckblickend im »Ecce homo«. Er meint ± und er hat damit richtig gesehen ±, daû der Mensch unter einer solchen christlichen Pråmisse ± nicht mehr Mensch sein kann. Er will den Menschen befreien zu dem, was im Menschen angelegt ist, wie er sein kænnte ± er will die Geburt des neuen Menschen aus dem alten, aus dem verdorbenen, gegenwårtigen, aus diesem Typ des verkrçppelten Moralisten freilegen. Darum læst er das Scharnier, mit dem die groûen Geister des beginnenden 19. Jahrhunderts noch Christentum und Moral verbunden hatten, mit dem sie zwar das objektive Christentum, seine dogmatische Wahrheit fallenlieûen (immer mit 8.

F. Nietzsche, Zur Genealoge der Moral, 1. Abhandlung, Aphorismus 10, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 8, 317 (= Schlechta II, 782; KSA 5, 270).

2. Nietzsche und das ausgehende 19. Jahrhundert

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Ausnahme von Hegel, der die Gefahr gesehen hat), aber es dann eben doch Kantisch oder auch pietistisch oder auch Ritschlianisch im Subjekt verankerten. Denn die Moral zum Anknçpfungspunkt zu erheben oder ± was dasselbe ist ± vom Schuldbewuûtsein auszugehen, das hieû eben den christlichen Glauben im Subjekt und in dessen Existenzverståndnis verankern. Erst rçckblickend vermægen wir zu sehen, wie harmlos die Kåmpfe sind, die sich innerhalb der protestantischen Theologie um Ritschls Theologie erhoben; es ist ein Familienzwist, der im Grunde genommen fçr die geistige Signatur des 19. Jahrhunderts herzlich wenig bedeutet. Entscheidend ist, daû sich die Theologie genau an den Punkt zurçckzieht, auf welchen Nietzsche mit dem Scharfblick seines Theologenhasses die treffsicheren Pfeile seiner Kritik, die Pfeile seiner antichristlichen Eschatologie richtet. Læst diese Kopula, so ruft Nietzsche es nahezu auf jeder Zeile seinen Zeitgenossen zu, und ihr befreit das moderne Zeitalter zur Geburt des Menschen, auf den alles wartet. Die neue Moral wird der lebenbejahende Wert sein, alle vornehme Moral ist auf Lebensbejahung aufgebaut. Und das Kreuz und Paulus als der Prediger des Gekreuzigten sind die letzten, die unbedingt auszurottenden Feinde. Die Ûberwindung der christlichen Moral ist ihm die Umwertung aller Werte. Humanitas und Christentum dçnken ihm unvereinbar. Das Christentum und der Sozialismus stehen auf einer, der untersten Stufe, von der neuen Moral her gesehen, auf deren einsamer ± dem Wahn verwandter Hæhe er sich bewegt. So wird der Antichrist sein Vermåchtnis, das erst nach seinem Tode veræffentlich wird. »Das Kreuz als Erkennungszeichen fçr die unterirdischste Verschwærung, die es je gegeben hat, ± gegen Gesundheit, Schænheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Gçte der Seele, gegen das Leben selbst.« 9 So schlieût diese seine schreckliche, seine letzte Schrift. Sie ist eine låsterliche Anklage gegen das Christentum, das Låsterlichste, was in der Moderne je gewagt und gesagt wurde. Aber diese Front gegen Christus, gegen den Gekreuzigten, ist das Pathos seiner ganzen Wirksamkeit. »Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wånde schreiben, wo es nur Wånde gibt ± ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen ¼ (¼) Man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus, mit dem dies Verhångnis anhob ± nach dem ersten Tag des Christentums! ± Warum nicht lieber nach seinem letzten? ± Nach heute? ± Umwertung aller Werte!« (Ende des »Antichrist«) 10 . 9. F. Nietzsche, Der Antichrist 62, Naumann / Kræner Taschenausgabe, Bd. 10, 455 f. (= Schlechta II, 1235; KSA 6, 252 f.). 10. Ebd.

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B. Geistige Grundlagen des 19. Jahrhunderts

Im Vergleich damit sind die antichristlichen Anklagen, die von der anderen Seite, vom Sozialismus her, laut werden, ist auch die Religionskritik, die Karl Marx vollzieht, harmlos. Sie entbehrt der ungeheuren, schrecklichen Wucht, die dieser Pfaffensohn aus Ræcken wie eine Sprengkammer in dem Gebåude des neuen deutschen, des Bismarckschen Reiches anlegt. Sie wird zur Entzçndung gebracht, und sie vernichtet das Erbe dieses ganzen Jahrhunderts, jedenfalls soweit es sich um Deutschland und seine geistige Erbschaft handelt. Denn der Nationalsozialismus wåre als Theorie und als politische Konstruktion mitsamt seiner Verherrlichung und Verwirklichung des Krieges und der Zçchtung des neuen Menschen nicht denkbar, wenn diese Mæglichkeiten nicht im 19. Jahrhundert vorbereitet und uns sozusagen als etwas Unausweichliches mit auf den Weg gegeben wåren. So geht das Jahrhundert an dem zugrunde, was es selbst gesåt hat ± es geht an seiner Antithese zum Christentum zugrunde und daran, daû dieser Feuerbrand gençgend trockenes Holz findet, um in unseren Herzen zu zçnden. Daû Theologie und Kirche bis zum Ende nicht begriffen, was sich innerhalb ihrer vorbereitete und ankçndigte; daû sie sogar noch versuchte, eine christliche Synthese mit dem Geschehen zu suchen, das sich aus diesem Programm der Umwertung aller Werte ergab und aus seinen infernalischen Kråften speiste: das ist die eigentliche Nemesis, die çber dem Untergang dieser Epoche steht. Und es ist ein Untergang ± das sollten wir wissen ±, der endgçltig sein wird.

C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts 1

1. Die Suche eines Zugangs zum 19. Jahrhundert Es ist nicht ganz leicht, von heute rçckblickend çber die geistigen Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts zu sprechen. Es ist nur ein tastender Versuch, dem andere werden folgen mçssen, aber wir werden nicht darum herumkommen, einen solchen Versuch zu machen und diese unsere nåchste Vergangenheit in einer, dessen bin ich gewiû, neuen Weise zu durchdenken. Wir kænnen nicht mehr so vom 19. Jahrhundert sprechen, wie das vor einem Menschenalter noch mæglich war, wie es in den groûartigen Untersuchungen Wilhelm Diltheys oder in den åhnlichen, mehr auf die ethischen und religiæsen Fragen zugespitzten Aufsåtzen von Ernst Troeltsch geschieht. Oder wo wåre ein Historiker, der die »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« so schreiben kænnte, wie das Heinrich von Treitschke tat, der in der Bismarckschen Reichsgrçndung die endliche Erfçllung eines Zieles sah, das mit den Freiheitskriegen zum ersten Male den Deutschen vor Augen trat, um dann ± da es auf dem Wege der liberalen Erhebung in der 1848er Revolution nicht gelang ± mit »Blut und Eisen« und der »Kaiserkrænung« in der Hauptstadt eines fremden, besiegten Landes von einem groûen Staatsmanne vollzogen zu werden. Unser Blick auf das 19. Jahrhundert ist weithin durch das Bismarcksche Reich und das Hochgefçhl bestimmt, welches damals Wissenschaft und Wirtschaft erfçllte. Weniger freilich die Kunst, am allerwenigsten die Philosophie, wenn man von bedeutungslosen Kathederphilosophen absieht. Unter den protestantischen Theologen gab es im preuûischen Raum nicht viele, die das Brçchige dieser Reichsgrçndung sahen und darunter litten. Martin Kåhler ist mit seiner scharfen Kritik einer der wenigen, die dem Aufschwung miûtrauten. 2 In den besiegten Staaten Hannover, Hessen-Kassel ± ich denke etwa an August Vilmar ± gab es deren mehr. Sie sahen in der »Revolution von oben«,

1. 2.

Ûberschrift Iwands: Die geistigen Voraussetzungen. Vgl. FO, 48 und oben S. 291 f.

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C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts

als deren Exponent ihnen Bismarck erschien, den Anbeginn eines unaufhaltsamen Abstiegs. Wir sehen heute in Trçmmern liegen, was damals fçr lange Zeiten gesichert schien, und ahnen, warum die Fundamente, auf denen das »Reich« gebaut war und die den ersten Weltkrieg noch einigermaûen çberstanden hatten, die Stçrme, die nach dem Sturz der Monarchie darçber einbrachen, nicht aushielten. Helmuth Plessner hat in einem erleuchtenden, von vornehmer Gesinnung beseelten Buch »Die verspåtere Nation« 3 mit einem uns heute frappierenden Tiefblick ± es handelt sich um Vortråge, die er, aus der Heimat vertrieben, 1935 in Groningen hielt ± gesehen, daû diesem deutschen Reich eine wahrhaft groûe und tragende Idee, die auch seine Machtpolitik håtte vergeistigen und begrenzen kænnen, fehlte. So wurde der deutsche Nationalismus brutal, biologisch, mythisch und geistfeindlich. Das war im Beginn des 19. Jahrhunderts nicht gewesen. Aber wenn man etwa daran denkt, wie blind bedeutende Geister dem Nationalismus gegençber beim Ausbruch des ersten Weltkrieges waren ± ich denke hier an Natorp und auch an Scheler ±, dann begreift man erst, daû wir in ein Schicksal hineintaumelten, das zu erkennen uns die echten Maûståbe gefehlt haben. Wir wollen uns hier bemçhen, diese Entwicklung als Ganzes zu sehen, und zwar von der Mitte der theologischen Entwicklung und der kirchlichen Wandlungen aus. Wir mçssen ein neues Bild des 19. Jahrhunderts von der verwandelten Gegenwart her zu gewinnen versuchen. Es gibt im geschichtlichen Bewuûtsein nicht nur jenen Weg, der von der Vergangenheit zur Gegenwart fçhrt, sondern diese beiden Græûen, Vergangenheit und Gegenwart, verhalten sich geistesgeschichtlich gesehen reziprok zueinander, sie sind eins ohne das andere nicht zu denken. Die Vergangenheit steht nicht still, wie man uns lehren mæchte und gelehrt hat 4 , man kann sie nicht so objektiv darstellen und untersuchen, wie man eine Leiche seziert, sondern gerade der sich wandelnden Gegenwart erscheint sie in neuen Lichtern und Gesichten. Das ist das Wunderbare an allem geschichtlichen Wesen, daû auch das Vergangene nicht vergangen ist, sondern mit uns lebt. Wenn wir heute auf das 19. Jahrhundert zurçckblicken, werden wir dort Kråfte wirksam und lebendig sehen, die wir ± jedenfalls in unserem bçrgerlichen Bildungsleben, zumal in seinem christlichen Zuschnitt ± 3. 4.

H. Plessner, Die verspåtete Nation. Ûber die politische Verfçhrbarkeit bçrgerlichen Geistes, Stuttgart 1959. Das Buch war schon 1935 unter dem Titel: »Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bçrgerlichen Epoche« in Zçrich erschienen. »Ewig still steht die Vergangenheit« (F. Schiller, Spruch des Confucius. Musen-Almanach fçr das Jahr 1800). Vgl. GA II, 143; PM II, 115; NW 2, 233; FO 157.

1. Die Suche eines Zugangs zum 19. Jahrhundert

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kaum beachtet haben, deren Tråger uns als Auûenseiter galten und deren Ideen wir als erledigt ansahen. Oder hat sich etwa die Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ernsthaft um jene beiden groûen Stræmungen gekçmmert, die an die Namen Marx und Nietzsche anknçpfen und deren Antagonismus dann im Nationalsozialismus und im Kommunismus das Schicksal nicht nur unserer deutschen Geschichte und bçrgerlichen Welt, sondern auch sehr einschneidend das der Kirche und unserer Weltanschauung bestimmten? Weithin waren und weithin sind wir als Christen demgegençber immer noch rat- und machtlos. Es ist hier nicht der Ort, zu fragen, ob die Entwicklung in anderen Låndern besser gelaufen ist und warum in den angelsåchsischen Låndern das soziale Problem klçger und weitschauender ± wenn man an das England des 20. Jahrhunderts denkt ± auch von konservativer Seite aus angefaût wurde. Woran mag das liegen? Hångt es wirklich damit zusammen, daû der Calvinismus und die englischen Revolutionskirchen einen besseren Grund fçr die gesellschaftliche Entwicklung gelegt haben als das Luthertum mit seinem stationåren Begriff von den Schæpfungsordnungen und seiner Abscheu vor jeglicher Revolution, die »Ursçnde« hat sie Friedrich Julius Stahl, der bedeutende protestantische Rechtsphilosoph und Fçhrer der Konservativen, genannt? 5 Wahrscheinlich ist hier etwas Wahres dran, Max Weber und Ernst Troeltsch, Max Scheler und neuerdings Helmuth Plessner haben nicht umsonst den Finger auf diese wunde Stelle gelegt. Die lutherische Reformation war keine Reform der Gesellschaft und trug dazu auch kaum geeignete Ansåtze in sich. Dazu war Wittenberg, das Ackerstådtchen am Ende der Welt, nicht bestimmt und nicht geeignet. Es war kein Genf und kein Straûburg. Im lutherischen Bereich hat man die sozialen Fragen an den Staat delegiert und ihm die Gestaltung der æffentlichen Ordnung çberlassen, selbst der Gegensatz von Marx und Lassalle dçrfte noch von daher bestimmt sein. England und Frankreich haben die Fragen der modernen Gesellschaft frçher und grçndlicher durchdenken mçssen und durchdacht als wir. Ihre Staatsformen waren in Revolutionen gebildet worden, die auf geistige Bewegungen, religiæse wie rationale, zurçckgingen. Was wir Deutschen machten, waren Konterrevolutionen, die Hitlersche war die schlimmste, schrecklichste und verhångnisvollste von allen. Konterrevolutionen versuchen, alte verbrauchte Ordnungen mit gewaltsamen Mitteln aufrechtzuerhalten, auch wenn der Geist långst aus ihnen gewichen ist, der sie einmal aufgebaut und erfçllt hat. Fçr Theo-

5.

Vgl. fçr Iwands Auseinandersetzung mit F. J. Stahl: NW 2, 155 ff.; 194 f.

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C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts

logie und Kirche im 19. Jahrhundert ist das eine Versuchung geworden, der sie nicht widerstehen konnte, insbesondere im Protestantismus. Es ist eine der verhångnisvollsten Folgen dieses 19. Jahrhunderts, besonders seit jener Zeit, da die »heilige Allianz« gegen das Eindringen der Ideen der Franzæsischen Revolution zustande kam, daû seitdem die offizielle Kirche meist auf der Seite der Konterrevolutionen zu finden ist. 6 In der Aufklårungszeit und in der Frçhe der Reformation war das anders. Aber die Erinnerung daran versinkt, und nicht nur bei uns, in fast allen kontinentalen Låndern versteht sich die christliche Kirche im 19. Jahrhundert als Stçtze der bestehenden Gesellschaft und ihrer Ordnungen. Die Blumhardts, Vater und Sohn, sind eine in die Augen fallende Ausnahme, die die Regel nur beståtigen. Seit 1830 sind Theologie und Kirche im protestantischen Deutschland antidemokratisch und etatistisch. Bis dahin war das nicht so. Hier wåre vor allen anderen der Name Schleiermacher ehrend zu nennen, der auch dann, als man ihn in dem Berlin der politischen Reaktion der Unzuverlåssigkeit verdåchtigte und jede seiner Predigten, aber auch seine Trinksprçche bei den Studentenzusammenkçnften çberwachte, nicht einen Augenblick in seiner Bahn wankend wurde und erst da seine groûen Leistungen vollbracht, seine Glaubenslehre ediert und seine bedeutenden Akademievortråge çber ethische Fragen gehalten hat. Aber die 1809 mit Fichte als erstem Rektor gegrçndete Universitåt Berlin war ein Hort der Freiheit geblieben und pflegte eine aus der Tiefe des Idealismus gespeiste, ins Universale gehende Wissenschaft auf allen Gebieten des neu erschlossenen Lebens.

2. Das neunzehnte Jahrhundert als Produkt der Freiheitskriege Vielleicht ist es nicht falsch, wenn wir sagen, der Protestantismus im 19. Jahrhundert ist nicht denkbar ohne den Einfluû, der durch die Freiheitskriege auf Fræmmigkeit und Weltanschauung ausgegangen ist. Sowohl durch das, was ihnen voranging ± ich denke hier besonders an Schiller, an Fichte und nicht zuletzt eben auch an Schleiermacher als patriotischen Prediger ±, wie durch das, was ihnen folgte. Hier wurde der Krieg als Volkskrieg gefçhrt und als Volkskrieg gefeiert, das Kreuz wurde 6.

Iwand verweist dafçr oft auf G. Ferrero, Macht, Bern 1944. Vgl. NWN I, 235.267.

2. Das neunzehnte Jahrhundert als Produkt der Freiheitskriege

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als Kriegsorden, als Zeichen des Lebenseinsatzes fçr das Vaterland geschaffen. Seit den Freiheitskriegen finden wir die Ehrentafeln der Gefallenen in den Kirchen. Jetzt verbindet sich die Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts mit dem nationalen Gefçhl 7 , und es sind nicht etwa nur die Preuûen, die sich dabei hervortaten. Man lese des Bremer Gottfried Menkens Aufsatz çber das Monarchienbild 8 oder bedenke, was der Reichsfreiherr vom Stein, der seinen Stammsitz im Hessenlande hat und dessen Geschlecht unter den Oraniern diente, mit seiner klaren und tatbestimmten Fræmmigkeit fçr einen bildenden Einfluû ausçbte. Die Franzæsische Revolution ist diesen frommen, an Gott gebundenen Christen der Ausfluû einer menschenverachtenden Gottlosigkeit. Sie sehen eine leere, rein ideologische Aufklårung, die man zu çberwinden trachtete, von neuem und in besonders schrecklicher Weise ihr Haupt erheben. Die Vergætzung der Vernunft und die Entschrånkung des Menschen zu willkçrlicher Freiheit erfçllt die Deutschen mit Entsetzen. 9 Die Hinrichtung des Kænigs Ludwig XVI. auf der Place de la Concorde ist ein Fanal. Man lese nach, was Hegel in seiner 1820 in Berlin edierten Rechtsphilosophie darçber sagt. 10 In den lutherischen Kreisen greift man in Abwehr der Revolution auf die Begrçndungen zurçck, die der Reformator den Schwårmern gegençber geltend zu machen wuûte. Der alte Gegensatz zu den Reformierten mit ihrer kritischen Haltung bricht von neuem auf. Wer das Sakrament verachtet, wird auch bald die Obrigkeit nicht mehr gelten lassen. 11 Wer sagt, das Element im Sakrament sei lediglich ein Naturding, Wasser, Brot, Wein, der wird auch bald Stånde und Autoritåten ihrer gættlichen Hoheit entkleiden 7. Vgl. H. J. Iwand, Die Gegenwartslage des Protestantismus im æstlichen Raum (1933), FO 15. 8. G. Menken, Das Monarchienbild, Schriften Bd. VII, Bremen 1858. 9. Loses Blatt zu »Geistige Grundlagen des 19. Jahrhunderts«, das da nicht hingehært: Øhnlich wie der Englånder Burke empfindet, sind auch die Christen in Deutschland abgestoûen von dem Treiben der entfesselten Massen. Dazu kommt, daû die Månner der Freiheitskriege, voran ein so edler und frommer Charakter wie der Freiherr vom Stein, im Innersten von dem gættlichen Recht ihrer Sache çberzeugt waren und çberzeugt sein durften. Mægen andere kçhler in diesem ganzen Geschehen gedacht haben, mægen sie nçchterner kalkuliert haben, der eigentliche Tiefgang jener Bewegung und jener Befreiung wurzelte in dem Ineinander von politischem und religiæsem Empfinden. Das zeigt gerade die Erweckung in diesem Jahrhundert; wie anders dachten doch die Pietisten des 18. Jahrhunderts in dieser Sache! 10. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1821, SW Bd. 7. Das Buch war schon im Oktober 1820 erschienen (vgl. die Anmerkung der Redaktion in der Theorie-Werkausgabe Bd. 7, 525). 11. Vgl. H. J. Iwand, Stand und Sakrament, GA II, 240-264.

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C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts

und sagen: Kænige und Fçrsten sind nichts anderes als gewæhnliche sterbliche, irrende Menschen. So kommt es bei den Erweckten aufs neue zu jenem Bunde von Thron und Altar, der etwas Neues, weltanschaulich Getrånktes und Erfçlltes ist gegençber dem, was er unter dem Absolutismus gewesen war. Die Institutionen als solche sind durch die Revolution gefåhrdet, sie sind gefåhrdet in ihrer metaphysisch-gættlichen Begrçndung. Darum rçcken jetzt Staat und Kirche nåher aneinander in der Abwehr der demokratischen Såkularisierung, die von der Franzæsischen Revolution her Deutschland bedroht. Will man ein freilich verspåtetes, aber typisches Dokument dieser Verzahnung von Kænigsgnade und Bischofsgnade vor sich sehen, so lese man jene acht Bçcher çber die Kirche, die Mecklenburgs Oberkirchenratspråsident Theodor Kliefoth verfaûte. 12 Aber wenn andere auch nicht so weit gingen wie er, die Verschmelzung von Nationalbewuûtsein und christlicher Erweckung ist allgemein im Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland, und wåhrend sich in Frankreich und England eine Reform des æffentlichen Lebens auf der Basis moderner sozialer ratio vollzieht, einer bestimmten Humanisierung und Sozialisierung abgesehen von der Kirche, verharrt Deutschland bei seiner These, daû nur aus dem Christentum eine wirkliche Regeneration der Nation erwachsen kann. Die These, von Wichern in der Inneren Mission, von Stoecker als antisemitische Parole vertreten, sollte sich furchtbar råchen. Sie fçhrte nicht nur zur vælligen Verkennung der Leistung der Sozialdemokratie ± erst Golo Mann hat von bçrgerlicher Seite her in seiner »Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« 13 deren Bedeutung fçr die Demokratie voll zu wçrdigen gewagt und gewuût ±, sie wurde auch das Einfallstor fçr die groûen propagandistischen Erfolge der nationalsozialistischen Bewegung innerhalb des Protestantismus nach dem ersten Weltkrieg. Die Synthese von Evangelium und Volkstum gab die Parole ab, unter der auch die scheinbar nçchternsten Theologen Hitler ihren Weihrauch streuten und sich von der nazistischen Erhebung des Volkes und der Vernichtung der marxistischen Parteien die sittliche Rettung und den politischen Wiederaufstieg des Vaterlandes nach der Niederlage von 1918 erhofften. Denn nicht die Marxisten, die Christen haben den Nazis zur Macht verholfen und dabei in erster Linie wir Protestanten. Das liegt am Nationalismus, der im 19. Jahrhundert in der Mythologie von Volkstum und Sprache, von der Leiblichkeit der geschichtlichen Existenz geboren und in der Theologie rezipiert wurde. 12. Th. Kliefoth, Acht Bçcher von der Kirche, Schwerin / Rostock I, 1854. 13. G. Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 19581 .

3. Das neunzehnte Jahrhundert als protestantisches Jahrhundert

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3. Das neunzehnte Jahrhundert als protestantisches Jahrhundert 3.1 Der Anfang des Jahrhunderts Das 19. Jahrhundert war ± und das ist als zweites zu sagen ± das protestantische Jahrhundert. Daû es das war, verdanken wir in erster Linie den groûen Leistungen der Philosophie, die an seinem Anfang standen. Die Begrçnder der kritischen Philosophie von Kant bis Hegel und Fries, sind so nur auf dem Boden des Protestantismus mæglich. Mit gutem Recht hat sie Karl Barth in seiner »Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert« an die erste Stelle gesetzt. Sie tragen alles Weitere. Diese Philosophen waren irgendwie der Theologie verpflichtet geblieben; das hat man ihnen, als der Weg sich abwårts neigte und die Leugnung Gottes zu den ersten Voraussetzungen eines guten Philosophen gehærte, vorgeworfen und hat darin ihre Schranke gesehen. Aber ihre Systeme sind ohne den Bezug auf die Realitåt Gottes gar nicht zu denken. Sie gehen von der Gottesfrage aus und lenken alle wieder zu ihr hin. Ihr ganzes Denken ist durchtrånkt mit Theologie. Sie haben alle als Theologen angefangen, nur einer ihrer Groûen ist im Dienst der Kirche geblieben, Friedrich Schleiermacher, die anderen stehen neben dem offiziellen Christentum und sehen mit Schmerz, wie der alte Hegel, daû das Christentum leer wird und sie auf dem Grund ihrer philosophischen Existenz diese Entleerung durch »die Virtuosen der Religiositåt« 14 nicht verhindern kænnen. Aber Protestanten sind sie alle. 1830 hålt Hegel die Festrede zur Dreihundertjahrfeier der Augustana in Berlin. 15 Und er feiert sie als Dokument der Freiheit. Freiheit ist ihnen der Inbegriff ihrer ganzen Philosophie, von da aus verstehen sie sich als Nachfahren Luthers. Die Reformation ist ihnen ± insofern wandelt noch Dilthey in ihren Spuren ± der Beginn der Neuzeit und damit der Freiheit. Der Katholizismus liegt jenseits ihres Blickes. Erst den Romantikern erschlieût er sich in einem ursprçnglichen und echten Erleben, und das långst versunkene Mittelalter als christlich geordneter Kosmos tritt wieder in ihren Blick. Aber die Lage der katholischen Kirche ist klåglich. Man hat es erfahren, als Napoleon den Papst nach Paris holte und 14. »Virtuosen in der Religion«: F. Schleiermacher, Reden çber die Religion, 146 ff. 15. Am 25. Juni 1830 hielt Hegel im Auftrag des Akademischen Senats der Universitåt von Berlin eine »Rede bei der dritten Såkular-Feier der Uebergabe der Augsburger Konfession«, die die christliche Freiheit als Wesen des Protestantismus zum Thema hatte (G. W. F. Hegel, SW Bd. 20, 532-544).

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ihn fçr seine Krænung miûbrauchte. Theologisch ist der Katholizismus durch die Aufklårung bis ins Innerste gelåhmt. Erst mit Mæhler und Baader bricht auch hier eine neue Entwicklung an. Aber noch auf dem Wiener Kongreû wird von maûgeblicher katholischer Seite der Vorschlag der Grçndung einer katholischen Nationalkirche Deutschlands gemacht. Erst als der Kirchenstaat im Verfolg der Befreiung Italiens, des Risorgimento, fållt und das Papsttum wieder zum rein geistlichen Instrument wird, erleben wir jene Kråftigung und Festigung der påpstlich zentralisierten ræmisch-katholischen Kirche, die als die Frucht der Romantik und ihres neu erwachten Geschichtsbewuûtseins gelten darf und politisch gesehen Tråger des Sieges wird, den der Katholizismus im Kulturkampf gegen den Bismarckschen Staat davontrågt. Gleichwohl bleibt das 19. Jahrhundert in Deutschland theologisch und kirchlich gesehen ausgesprochen protestantisch geformt. An seinem Anfang bedeutet das die Herrschaft der idealistischen Philosophie und ihrer von Schleiermacher, Dorner und auch von den Erlangern vorgenommenen groûartigen Einschmelzung in das çberlieferte christliche Denken und das kirchliche Lehrsystem.

3.2 Die Mitte des Jahrhunderts In der Mitte des Jahrhunderts åndert sich das, und diese Ønderung ist vielleicht die interessanteste, aber zugleich verhångnisvollste Wandlung in der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Jetzt ersteht deutlicher als je in den letzten dreihundert Jahren ein Bewuûtsein des reformatorischen Erbes, und man macht einen grçndlich durchdachten und historisch weit ausholenden Versuch, es mit dem Idealismus, besonders mit dem Moralismus Kants zu versæhnen. Der Meister dieser Schule, die das Christentum als religiæs-sittliche Græûe sieht, wird Albrecht Ritschl, der den fatalen, von Schleiermacher wohlweislich vermiedenen Schritt macht, die reformatorische Rechtfertigungslehre mit dem ethischen Dualismus Kants zusammenzunehmen, und sich dabei vor allem auf Melanchthon bezieht. Nun entsteht die Theologie des bçrgerlichen, des wilhelminischen Deutschlands, ganz eingeschrånkt auf die private Existenz, das Reich Gottes wird endgçltig und unrettbar såkularisiert ± es ist das »sittliche Reich« ±, und die Prådestination, die gættliche Bestimmung meines Lebens, findet sich im bçrgerlichen Beruf und Stand wieder. Das beredteste Dokument dieser Epoche ist vielleicht Harnacks »Wesen des Christentums«, das die Wende zum 20. Jahrhundert begleitet, wie einstmals Schleiermachers »Reden çber die Religion« theologisch das 19. Jahrhundert herauffçhren halfen. Aber

3. Das neunzehnte Jahrhundert als protestantisches Jahrhundert

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çber Harnacks »Wesen des Christentums«, trotz manches Tiefen und Guten, das dort zu finden ist, liegen die matten, wenn auch klaren Strahlen der untergehenden Sonne, wåhrend Schleiermachers Reden ein Aufgang, ein Morgen, ein hingerissener und hinreiûender Anfang geblieben sind. Hier wird etwas entdeckt, gefunden, und dieser Fund wird, dem verlorenen Groschen gleich, in çberschwenglicher Freude den Nachbarn kundgetan. Die Religion wird entdeckt, als Sache sui generis, als eigene Provinz im Gemçte 16 , als Jenseits von Wissenschaft und Moral, aber doch nicht ohne heilsamste und wohltåtigste Wirkung auf beide. Kein Bewuûtsein echter Wirklichkeit ohne Religion ± das ist die Quintessenz der »Reden«. In jenen Vorlesungen aber, die der gelehrte, auf der Hæhe seiner Forschung stehende Adolf Harnack im Wintersemester 1899/1900 çber das Wesen des Christentums in Berlin hålt, kåmpft jener Glaube an das Evangelium von Jesus Christus mit dem Historiker und dem, was dieser zu Wunder und Dogma, insbesondere zu der Logostheologie und der Zweinaturenlehre zu sagen hat. Harnack hofft noch, durch den Rçckgang hinter das Dogma das reine und wahre Evangelium des Jesus von Nazareth zu finden, und stellt bereits jene Frage, die uns heute noch nicht freizulassen scheint, wo der Unterschied liege zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium von Jesus. Das Unvermægen einer an den Historismus verfallenen Zeit, der die Dinge auseinanderfallen, die man im Anfang des Jahrhunderts unter dem Einfluû der groûen spekulativen Systeme noch zusammenzusehen vermochte, spricht sich in hoffnungslosen Antinomien aus. Man sieht noch nicht, was man tat, als man sich vom Idealismus in den Historismus rettete.

3.3 Der Ausgang des Jahrhunderts Es kommt ± mit der Jahrhundertwende ± die dritte und letzte Periode. Diese ist die prinzipiell skeptische, die relativistische. Man kænnte sie auch nennen: die religionsgeschichtliche. Hier wird das Christentum selbst, gerade auch in seinen frçhesten Stadien und Dokumenten, in das Aufblçhen und Vergehen der Religionen einbezogen; das gilt fçr den Orient wie fçr den Hellenismus. Das Christentum erscheint als eine synkretistische Religion, die im Wandel der Zeit immer wieder neue Kråfte und Vorstellungen in sich aufnahm, diese sich amalgamierte und sterbend und auferstehend das Alte abwarf, um in neuer Form seine Absolutheit zu bewåhren. Die restaurativen Erlanger hatten die Formel von der »alten Wahrheit in neuen 16. Vgl oben S. 61, Anm. 63.

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C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts

Formen« geprågt ± eine geschichtlich gesehen verfehlte Formel! ±, aber erst innerhalb der religionsgeschichtlichen Schule wird diese These zur rettenden Tellsplatte, auf der man im Sprung des Glaubens sich allen Stçrmen entzieht. Denn die Absolutheit des Christentums steht auch dieser Schule von vornherein fest. Aber was ist aus dem bei Hegel noch so groûartig behandelten Thema von der Absolutheit der Offenbarung des dreieinigen Gottes geworden! Das Selbstbewuûtsein des europåischen Geistes ist an seine Stelle getreten, hier spricht es sich aus, hier weiû es sich çberlegen gegençber Buddhismus und Judentum. Das Christentum wird nach seinem Kulturwert taxiert und geht, da Europåer und Christen die einzigen Vertreter in dieser Jury sind, als erster und absoluter Wert daraus hervor. Das Abendland fçhlt sich in seinem Christentum, ungeachtet alles religionsgeschichtlichen Skeptizismus, sicher. Es fçhlt sich sicher, weil man dieses Christentum mit Werten fçllen kann, die uns die hæchsten dçnken. Insbesondere mit dem Wert der sittlichen Persænlichkeit. Das ist die letzte Phase des 19. Jahrhunderts, der Troeltsch mit seiner Schrift çber die »Absolutheit des Christentums« exemplarisch Ausdruck verlieh. Das sind, wenn ich recht sehe, die drei Phasen des Protestantismus im 19. Jahrhundert, Phasen, die eine von einer groûen Hæhe absteigende Linie bedeuten. Der Abstieg ist in die Augen fallend und die innere Entleerung dieser Entwicklung zum Neuprotestantismus hin so entsetzlich, daû der groûe geschichtliche Sturm, der dann praktisch den Schluûstrich unter dieses Jahrhundert europåischer Geschichte setzt, der erste Weltkrieg, die Hohlheit dieser neuprotestantischen Position offenbar machen und den Raum freilegen muûte fçr das, was jetzt kam: die radikale Krise des Glaubens und die Wiederentdeckung des Wortes in der Theologie und der Eschatologie in der Geschichte. Aber davon haben wir hier nicht mehr zu reden. Deutlich sollte nur sein, daû die protestantische Entwicklung im 19. Jahrhundert ein Abstieg ist ± und kein Fortschritt, daû es uns gegangen ist wie Hans im Glçck und wir schlieûlich mit dem Mçhlstein des absoluten Skeptizismus um den Hals am Ende dastanden, als der bçrgerliche Rahmen zerbrach, in den dieses Christentum des ausgehenden Jahrhunderts gefaût war, und die nackte, ungeschminkte Realitåt aus Krieg und Revolution uns anstarrte. Die unverbesserlichen Erben dieser Entwicklung, ihr Produkt sozusagen, waren die Deutschen Christen, sie vollzogen die Auflæsung der christlichen in die vælkische Existenz. Damit wurde eine Tatsache offenkundig, die Wissende schon lange vorher mit Sorge gesehen hatten: daû die Existenz der Gemeinde und eben damit auch die christliche Existenz sich auflæste in kulturelle Bestrebungen. Das, was »man« Kultur nannte, bestimmte das Christentum, nicht umgekehrt. Damit ging es und geht es

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dem Ende zu. Die Reformation hat noch deutlich zu machen verstanden, was es heiût, einer zu sein, der an das Evangelium von Jesus Christus glaubt. Man hat dies der herkæmmlichen Fræmmigkeit gegençber nun auch existentiell gelebt. Auch der Pietismus hat sich darauf verstanden und den Hiatus von Rechtfertigung und Heiligung, den die Orthodoxie offen gelassen hatte, geschlossen. Er hat im Gegensatz zur çberlieferten und entleerten Form eine neue Existenz der Christen in der Welt hervorgebracht bzw. trat mit dieser selbst ans Licht. Aber was ist im 19. Jahrhundert an christlicher Existenz herausgekommen? ± im letzten Grunde als Typus eben doch der »deutsche Christ«. Erst wenn wir vor diesem Ergebnis nicht den Blick verschlieûen, werden wir weiterkommen. Das »deutsche Christentum« war im Protestantismus aller Schattierungen seit langem angelegt wie eine fressende innere Krankheit. Daher erlagen ihr so viele Theologen und Pfarrer. Die, welche sich dieser Entwicklung entgegenstemmten und den Rçckgriff auf das Wort Gottes vollzogen ± auf das Wort in seiner dreifachen Gestalt, auf das ewige Wort bei Gott, auf die Schrift und auf die Predigt ±, waren eine kleine unbekannte, meist jugendliche Schar, sie waren hæchstens ein Anfang und eine Verheiûung, und noch kann niemand sagen, ob der Abstieg des neuprotestantischen Jahrhunderts an ihnen seine Peripetie erfahren wird.

4. Das neunzehnte Jahrhundert als sozialistisches Jahrhundert Das dritte Kennzeichen dieses 19. Jahrhunderts ist der Sozialismus. Dieses Jahrhundert ist ± geistig gesehen ± das sozialistische. Daû die protestantische Theologie das nicht begriffen hat, ist ihr Elend; daû sie geglaubt hat ± ich denke hier an Månner wie Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann ±, den Sozialismus auf dem Wege der liberalen Demokratie çberwinden zu kænnen, ist ihr Blindsein. Im Grunde hat die Theologie die ganze Tiefe und Furchtbarkeit des modernen Gegensatzes von Kapitalismus und Sozialismus kaum gesehen. Nichts ist bezeichnender als die Auseinandersetzung çber das Problem der Sozialdemokratie, wie sie zwischen Hermann Kutter und Adolf Stoecker um 1890 stattfindet. 17 Sie wçrde noch heute 17. Vgl. H. Kutter, Sie mçssen! Ein offenes Wort an die christliche Gesellschaft, Jena 1910, 10 ff., 18 ff., 59-68, 89 ff. und 123 f.

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C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts

nicht anders verlaufen. Sie ist in der berçhmten Debatte zwischen Karl Barth und Otto Dibelius 1928 auf hæherer Ebene fortgesetzt. 18 Wir lernen bei Franz Schnabel in der »Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert« im dritten Bande, wie Technik und Industrie, natçrlich im Zusammenhange mit den modernen Naturwissenschaften, in Deutschland speziell im Rheinland und in Westfalen entstanden. Und Schnabel sagt mit Recht: »Nur weil das Abendland diesen Menschentyp herangebildet hatte, konnte es die moderne Technik und Industrie entwickeln, die von Europa nach Nordamerika und dann çber die ganze Erde getragen wurden und fçr die es in der Weltgeschichte keine Parallele gibt.« 19 Jetzt entsteht die groûe Stadt. Auch das ist ein Novum. Sie, besonders als Hauptstadt, gibt den Ton an. Die Bauern und Landarbeiter verlassen ihre Wohn- und Arbeitsplåtze und werden zum Proletariat. Ihnen gilt ein neues Evangelium, das Kommunistische Manifest, das Marx und Engels 1848 in London verfassen. Es ist unmæglich, die Bedeutung der groûstådtischen und industriellen Entwicklung fçr das Zusammenleben der Menschen, fçr den einzelnen als solchen, aber natçrlich auch fçr die Gemeinde in ein paar Worten hier abzuzeichnen. Aber eins darf grundsåtzlich gesagt werden: Der Sozialismus nimmt sich dieser Fragen an und entfaltet sich in Deutschland grundsåtzlich und praktisch auf der Basis des Atheismus. In England lagen die Dinge anders, dank der Freikirchen und der hingebungsvollen Tåtigkeit John Wesleys. Wahrscheinlich rçhrt das aber nicht an die tiefste Wurzel des Unterschiedes. Nirgends ist der Atheismus so grundsåtzlich, so radikal, so als dynamisches Denken ausgebildet worden wie in Deutschland. Es sind nicht nur Marx und Feuerbach hier zu nennen, es sind auch Schopenhauer und Nietzsche, die die heimliche, aber faktische Weltanschauung der bçrgerlichen Welt liefern, die eine Welt ohne Gott verkçndigen. Und es ist das Bçndnis, welches die Kirche in der Zeit der Restauration mit den konservativen und kapitalistischen Måchten des 19. Jahrhunderts eingeht, dieses Bçndnis, auf Grund dessen sie die gesellschaftliche Ståndelehre als Schæpfungsordnung ausbaut und Pazifismus und Sozialismus als a- und antichristliche Schwårmerei åchtet, wel18. O. Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau und Ziele, Berlin 1926; K. Barth, Quousque tandem ¼?, Zwischen den Zeiten 8 (1930) 1-6 (jetzt zugånglich in K. Barth, Vortråge und kleinere Arbeiten 1925-1930. Karl Barth Gesamtausgabe, Zçrich 1994, 521-535) und K. Barth, »Die Not der evangelischen Kirche«, Zwischen den Zeiten 9 (1931), 89-122 (auch in K. Barth, Der Gætze wackelt. Zeitkritische Aufsåtze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, herausgegeben von K. Kupisch, Berlin 1961, 33-62). Vgl. NW 6, 229 ff. 19. F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3, 244.

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ches den Brand weiter schwelen låût. Seltsamerweise haben in dieser Grundhaltung die westlichen Kirchengebiete den æstlichen nicht sehr nachgestanden. Die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft stæût bei allen durch das Luthertum geprågten Kirchen auf einen leeren Fleck. Denn dieses hatte die Fassung der Kirche als societas (Gemeinschaft) bewuût und absichtlich beiseite gelassen. Es kennt nur das Amt und das Volk. Das Volk aber gilt als schæpfungsgemåû gegebene Græûe. Daneben hat der Begriff und die Realitåt der Gemeinde keinen Sinn. Deutlicher haben die Lutheraner das Problem der Institutionen gesehen, das durch die moderne Entwicklung gegeben war, also dies, daû die sittliche Existenz des einzelnen nicht zu trennen ist von den sozialen und æffentlichen Verhåltnissen und daû darum das Aufkommen der Presse, der Parteien, der Wahlen, die Bildung der groûen Stådte und die damit gegebene kollektive Lenkung neuartige brennende Probleme ethischer Art stellen. Aber sie haben gehofft, durch den Staat das Leben der Gesellschaft regeln zu kænnen und haben ihre Eigengesetzlichkeit, Lohn- und Arbeitsprobleme verkannt und dem »einzelnen« die religiæse Verantwortung zugewiesen. Sie sind ratlos, wenn sie erkennen mçssen, daû die moderne Entwicklung ± in Amerika ist sie seit Lincoln darin perfekt ± den konfessionslosen Staat, den Verwaltungsstaat mit einer wachsenden Selbstverantwortung der Gesellschaft und ihrer Organisationen herauffçhrt. Dadurch ergibt sich eine tiefe Differenz zwischen Kirche und Sozialismus, die im Katholizismus trotz scharfer ideologischer Abgrenzung nicht so unçberbrçckbar erscheint als bei den Protestanten. Ihnen fehlt der Begriff von communio in ihrem Verståndnis von Kirche. Sie sehen in dem modernen gesellschaftlichen Denken Auflæsungserscheinungen, die den ursprçnglichen, den von Gott geschaffenen »syndesmos« zerstæren, wie es der Graf Yorck gegençber Dilthey zum Ausdruck bringt 20 . Daû in der modernen Gesellschaft der Maschinen und der Arbeitsteilung die natçrlichen menschlichen Formen unseres Zusammenseins umgebildet werden mçssen; daû es Paganismus ist, wenn man die »urtçmlichen Bindungen« dagegensetzt und sie religiæs verklårt; daû unser Zusammensein als Mann und Frau, als Herr und Knecht, als Eltern und Kinder nur als ein Sein »en Christo« gerechtfertigt ist, das sahen sie nicht. Sondern sie mæchten gegençber den modernen Gesellschaftsformen, die sie als Auflæsungserscheinungen ansehen und deklarieren, den ersten Artikel geltend machen, und darum 20. Verbindung. Vgl. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg. 1877-1897, hg. von Sigrid v. d. Schulenburg, Halle a. d. Saale 1923, 174 f.

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C. Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts

kænnen sie im Sozialismus gerade das nicht sehen, worauf es diesem bei allem seinem Antagonismus gegen das Bestehende eben doch letztlich ankommt: die Bewahrung des Menschen angesichts der modernen Industrie und der damit unvermeidlichen Kapitalwirtschaft. Aber auch hier liegen, wenn wir nåher zusehen, die Wurzeln im Idealismus. Dort finden wir die ersten Ansåtze zu dieser Neuordnung der modernen Gesellschaft, nicht erst bei Fichte, sondern schon bei Kant, nicht erst bei Hegel, sondern ± wenn auch freilich sehr anders ± bei Schleiermacher. Schleiermacher ist der einzige unter den namhaften Theologen seiner Zeit, der das Moment der Gesellschaft und Geselligkeit in seiner Dogmatik in den grundlegenden Ansatz hineinnimmt. Ritschl folgt ihm spåter darin nach. Hegel vollzieht die Freistellung der Gesellschaft gegençber dem Staat, und Fichte vermag durch die Aufhebung des Individuums in einem Ûber-Ich die arbeitsteilige Gesellschaft als utopisches Ideal erstmalig kollektiv zu entwickeln. Der Sozialismus im Stil des 19. Jahrhunderts, also in seiner klassischen Epoche, ist wohl ohne die erkenntnistheoretische Grundlegung der idealistischen protestantischen Philosophie nicht denkbar. Und es bleibt das innerste Råtsel dieses Jahrhunderts und damit auch seiner Theologie, warum beim Ûbergang zur sozialistischen Weltanschauung Gott, auf den doch im Idealismus alles bezogen war, mit dem Menschen vertauscht wurde. Der Mensch wird vom Glauben an Gott als einem metaphysischen Restbestand seiner bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung erlæst. Es ist die Emanzipation des Menschen von sich selbst, die Erlæsung des Menschen von einem Selbstverståndnis, das immer noch ein Gottesverståndnis impliziert, die am Anfang des sozialistischen Jahrhunderts steht. Gott war nur ein Umweg, den der Mensch machte und machen muûte, um zum Menschen zu kommen. 21 Der Mensch, der immer noch Gott im Sinne hat, bei dem er als Mæglichkeit in seinem Existenzverståndnis noch angelegt ist ± das meinten ja die Idealisten allesamt ±, dieser Mensch von gestern muû verschwinden, damit der Traum von einem Gott endgçltig zu Ende und der Mensch endlich von seinem letzten Woher frei ist. So wie das Tier Gott nicht braucht und doch nach den Gesetzen seines Daseins lebt, so muû auch das »Tier mit dem Vermægen des Bewuûtseins« 22 , der Mensch, dahin kommen, sich in seiner Gesellschaft nach den ihr immanenten Gesetzen zu bewegen und darin die Erfçllung seines gattungsmåûigen Daseins zu finden. Diese Gesetze zu finden, nach denen sich die 21. Vgl. PM I, 88 f. 22. Vielleicht ist dies Iwands Paraphrase der klassischen Definition des Menschen als »animal rationale« (vgl. GA II, 177, Anm. 12).

4. Das neunzehnte Jahrhundert als sozialistisches Jahrhundert

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menschliche Gesellschaft bewegt, denn sie bewegt sich ja sehr lebendig, antagonistisch, und den Menschen diese »seine« Gesetze erkennen und in sich aufnehmen zu lassen, das ist Sozialismus und das ist die vom Himmel auf die Erde gebrachte Eschatologie, die Verwandlung der Welt aus einer Wunde, aus dem »Jammertal« in die wahre Heimat des Menschen.

Gerard C. den Hertog NACHWORT UND EDITIONSBERICHT

Nachwort

I. »Våter und Sæhne« Das Rçckgrat dieses dritten Bandes der NWN bilden zwei Vorlesungen, die Iwand vom WS 1948 bis zum SS 1950 çber je zwei Semester in Folge in Gættingen gehalten hat. Das erste Kolleg, das er selber unter dem Titel »Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert« angezeigt hat, hat er im Wintersemester 1948/1949 und im Sommersemester 1949 gelesen. Als Untertitel hat er auf dem ersten Blatt handschriftlich hinzugefçgt: »Våter und Sæhne!«. Anschlieûend hat er im Wintersemester 1949/1950 das Kolleg »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie«, in dem er sich mit der Theologie der ersten Hålfte dieses Jahrhunderts befaûte, angefangen, um es im Sommersemester 1950 weiterzufçhren und abzurunden. In der Einfçhrung zu diesem Kolleg hat er dargelegt, daû es als Fortsetzung des unmittelbar vorangegangenen Kollegs gemeint war. Diese beiden Vorlesungen sind hier unter der einen Klammer »Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert: ­Våter und Sæhne¬« zusammengefaût. In dem Anhang sind ein Aufsatz von Iwand, der wohl aus der ersten Vorlesung hervorgegangen ist, und drei Entwçrfe zur neueren deutschen protestantischen Theologiegeschichte aus den spåten fçnfziger Jahren aufgenommen. Die beiden Vorlesungen sind im Aufbau und in der Thematik mehr verwandt, als es zunåchst scheinen mag. Das erste Kolleg ist eine Ûbersicht çber die Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert, in dem augenscheinlich vieles fehlt und auch einige Gestalten wenig wichtig erscheinen, aber bei genauerem Zusehen zeigt sich, daû Iwand nicht so sehr einen Ûberblick geben wollte, vielmehr im Zuge der Verarbeitung des Nationalsozialismus eine ganz bestimmte Frage als Leitstern hatte: Wo sind die Våter in die Irre gegangen, und welche falsche Weichenstellung haben sie uns vorgegeben? Hier geht es um die Diagnose. Auch die zweite Vorlesung ist keine ausgewogene Ûbersicht der theologischen Entwicklungen im deutschen Protestantismus wåhrend der ersten Hålfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch in ihr spçrt man ståndig die eine groûe Frage, die Iwand umtreibt: Wie kann man auf der Ebene der Theologie einen wirk-

I. »Våter und Sæhne«

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lichen Neuanfang machen und das Ûbel an der Wurzel fassen? Iwand suchte fçr sich selber Klarheit, er wollte seine Studenten auf diesem Denkweg mitnehmen und so gemeinsam einen Weg nach vorn finden. Hier geht es also um eine Korrektur der falschen theologischen Weichenstellungen. Im Titel dieses Bandes ist die Wendung »Våter und Sæhne« als Untertitel hinzugefçgt, weil es die Klammer ist, die die beiden von Iwand im Anschluû aneinander gehaltenen Kollegs thematisch zusammenhålt. Zwar hat Iwand so nicht selber beide Vorlesungen çberschrieben; aber nicht nur fçgt er sie handschriftlich als Untertitel zur erstgenannten Vorlesung hinzu, sondern er benutzt sie auch gleich am Anfang, um sein tiefstes Anliegen auszudrçcken, und er spielt am Schluû der Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« noch einmal bewuût auf sie an. Daû er sie nicht als Haupttitel wåhlte, kænnte damit zusammenhången, daû eine solche Ûberschrift nicht gerade geeignet war, eine akademische Vorlesung anzukçndigen. Ein handschriftlicher Zettel, der in Stichworten einen Aufriû der Vorlesung »Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert« enthålt, erhellt, was in dem Ausdruck »Våter und Sæhne« vor allem mitschwingt. Iwand hat darauf Mal 3,24 ausgeschrieben: Er soll das Herz der Våter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu den Våtern, daû ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage! 1 In der Vorlesung selbst deutet er sein Anliegen folgendermaûen an: Das Kolleg »Våter und Sæhne« »soll (¼) wie eine Umkehr (¼) gelesen werden. Es ist richtig, wir kommen aus einer anderen Tiefe als unsere Våter.« 2 Dabei gilt: »Gerade wir als Theologen und Christen (¼) sollten wissen, daû wir nun eben doch die Sæhne dieser Våter sind, Fleisch von ihrem Fleisch ± wir sollten freilich auch wissen, daû sie und wir, wir und sie, beide unter der Bitte um Vergebung und um Erleuchtung stehen. Wir sollten nicht uns scheuen, es besser zu sagen und zu wissen, als sie es gesagt und gewuût haben ± nur keine falsche Pietåt ±, aber wir sollten nicht meinen, daû wir darum es besser sagen und wissen kænnten, weil wir nun einmal einen Schritt weiter ins Dunkel und in die Ausweglosigkeit des Daseins getan haben« (25). In diesen Jahren benutzt Iwand den Ausdruck »Våter und Sæhne« æfters, und zwar stets im gleichen Kontext und mit der gleichen Spitze. Im Oktober 1949 ist er in Rom, wo er im Rahmen eines Kongresses zum Thema 1. 2.

Vgl. zu diesem Zettel den Editionsbericht. In diesem Band, S. 24. Weitere Verweise auf Zitate aus den in diesem Band aufgenommenen Texten durch Angabe der Seitenzahl in Klammern im laufenden Text.

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Nachwort

Kirche und Gesellschaft einen Vortrag hålt; darin bemerkt er im Hinblick auf »die notwendige Neuordnung der Gesellschaft«: »Das ist nun allerdings meine Meinung (¼) daû wir bei dieser Frage viel mehr Hilfe und Beistand bei den Theologen und Philosophen um die Wende vom 18. bis 19. Jahrhundert finden werden als bei unseren Våtern. ­Våter und Sæhne¬ sind, wie mir scheinen will, hier in gleicher Verdammnis.« 3 Vor allem dies ist es, was ihm durch den Kopf geht, wenn er den Ausdruck »Våter und Sæhne« benutzt: die Frage der Umkehr und Neuordnung der durch die Nazi-Zeit zerrçtteten Gesellschaft ± und gerade dabei verspricht er sich Hilfe von Theologen und Philosophen aus der Zeit um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Das erhellt den besonderen Stellenwert, den er den »Groûvåtern« Schleiermacher und Hegel in dieser Vorlesung einråumt. Wie steht es aber um die »Våter«, die Theologen aus der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts, bei denen Iwand also gerade nicht viel Hilfe und Beistand gefunden hat? In seinem Aufsatz »Kirche und Gesellschaft« in der Niemæller-Festschrift aus dem Jahre 1952 schreibt Iwand: »¼ in dieser zweiten Hålfte des neunzehnten Jahrhunderts begann die Katastrophe, die uns heute unter sich zu begraben droht. Es gençgt nicht, daû wir uns selbst gegençber kritisch eingestellt sind, wir mçssen es auch dem gegençber werden, was die Våter und die Groûvåter in dieser Hinsicht getan und nicht getan haben.« 4 Dieses Zitat gibt Aufschluû darçber, weshalb Iwand sich in der ersten Vorlesung so intensiv mit lutherischen Theologen aus der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts beschåftigt. Nichts weniger als eine »Katastrophe« hat damals begonnen, denn es ist diese Theologie, die die Nazi-Diktatur ermæglicht hat. Eine solche Einschåtzung wagt man nur dann zu åuûern, wenn man seiner Sache gewiû ist. Und das war Iwand, auch auf Grund der Untersuchungen, die dieser Vorlesung zugrunde liegen. Nicht nur blieb er dabei, er verschårfte ± wie aus den im Anhang aufgenommenen Texten hervorgeht ± diese Sicht noch einmal erheblich am Ende der fçnfziger Jahre. Die zweite Vorlesung ± »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der syste3. 4.

Kirche und Gesellschaft, Die Stimme der Gemeinde 2 (1950) Heft 1, 5 (auch in NWN 1, 191). Vgl. zu diesem Kongreû in Rom J. Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gçtersloh 19992 , 377 f. Kirche und Gesellschaft, in: Bekennende Kirche. Festschrift zum 60. Geburtstag von M. Niemæller, Mçnchen 1952, 101 (= NWN 1, 262 f.). In seiner Erwiderung an W. Kçnneth anlåûlich dessen Angriffs auf das Darmstådter Wort schrieb Iwand, »daû das, was wir erfahren haben, ein Gericht ist ± nicht nur çber unsere eigenen politischen Maximen, sondern auch çber die unserer Våter« (Einleitung zu: Entwurf Darmstådter Wort, FO 20).

I. »Våter und Sæhne«

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matischen Theologie« ± beschåftigt sich mit den »Sæhnen«, oder auch: Iwands eigener Generation, wie sie nach einem kurzen oder långeren Fronterlebnis erschçttert und entwurzelt aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrt war: »Das neunzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der Våter, mutet diese Denkenden, diese mit dem Geist wieder nach Wirklichkeit verlangenden Menschen an wie die Stube der Eltern, in die der Sohn aus der wildbewegten Wahlstatt des Krieges heimkehrt, und die ihm in ihrer Geborgenheit irgendwie irreal vorkommt. Er hat die Realitåt anders gesehen, er findet nicht mehr den Sinn, das Wozu der geistigen Existenz. Das, was dem neunzehnten Jahrhundert noch gesicherte Voraussetzung der Forschung schien ± daû die Welt einem geistigen Gesetz gehorcht, daû es absolute Werte gibt, daû es Tradition gibt, daû das Christentum Inbegriff der sittlichen Werte ist ± das alles leuchtet ihm nicht mehr von selbst ein« (19). Der erste Weltkrieg hatte die Theologie zu einer fundamentalen Neuorientierung veranlaût; auf breiter Front erteilte man dem Kulturprotestantismus den Abschied. Auf einmal war etwas Neues da, »in ein paar Jahren, ohne daû irgend etwas daran ­gemacht¬ worden wåre. Wie aus dem Boden gestampft, so war es da, Verwandtes auf vielen Gebieten.« 5 In diesem Kolleg handelt es sich um die Frage, welche Entwicklung die Theologie der ersten Hålfte des 20. Jahrhunderts aufzeigt, wobei Iwand gezielt in eine Richtung sucht, die das von ihm konstatierte Grundçbel der lutherischen Theologie in der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts korrigiert. Er ist ganz sicher, daû die theologische Diskussion auf eine Entscheidung zugeht: »Wir kænnen gerade die theologische Bewegung, in der wir mitteninne stehen, als eine Bewegung auf einen bestimmten Gegenstand hin erfassen.« (257) Obwohl er zu Beginn seiner Einfçhrung so etwas wie einen Gesamtçberblick çber die Theologie der ersten Hålfte dieses Jahrhunderts in Aussicht stellt, gibt er einen solchen nicht. So fehlen beispielsweise Paul Althaus, Friedrich Gogarten und Paul Tillich, 6 auch çbergeht Iwand wichtige Bewegungen oder referiert sie nur kurz; das gilt vor allem der »Lutherrenaissan5.

6.

Die Liebe als Grund und Grenze der Freiheit, FH 6 (1951) 82 (= NWN 1, 195 f.). Die unmittelbar vorangehenden Zeilen lauten: »Wo ist die Bewegung, die einmal von Barths Ræmerbrief und Thurneysens Dostojewskij ausging? Wer kennt noch Ferdinand Ebner? Wer Eugen Rosenstock? Was haben die Schçler Karl Holls aus seinem vielleicht unter viel Asche dennoch glçhenden Feuer gemacht? Und was ist mit Grisebach und Haecker, und was ist ± auch ± mit Stefan George und seiner Schule? Diese Namen deuten etwas Neues an, das auf einmal da war, in ein paar Jahren, ohne daû irgend etwas daran ­gemacht¬ worden wåre. Wie aus dem Boden gestampft, so war es da, Verwandtes auf vielen Gebieten.« Den beiden letztgenannten råumt er aber eine Stelle in seiner im Sommersemester

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Nachwort

ce« oder ± wie Iwand sie mit Vorliebe nannte ± der »jungreformatorischen Bewegung«. Das mag verwundern, weil Iwand selbst in gewissem Sinne dieser Bewegung zuzurechnen ist und er im Inhaltsverzeichnis und auch in der Vorlesung selber das Erwçnschtsein eines Kapitels çber diesen »anderen Aufbruch« 7 nach dem ersten Weltkrieg ausdrçcklich anerkennt 8 . Er beschrånkt sich strikt auf diejenigen Theologen und Philosophen, mit deren Hilfe er die theologische Bewegung in der ersten Hålfte des 20. Jahrhunderts, die er als eine zielgerichtete Entwicklung wahrnimmt, beschreiben kann. Leitstern fçr Iwands Darstellung ist die Frage, wie sich die theologische Diskussion auf das aus seiner Sicht eigentliche Thema der Zeit ± die Frage des Menschen und damit die Wiederentdeckung des wahren und wirklichen Menschseins Jesu Christi ± hin bewegt. Der Titel der Vorlesung deckt deshalb den Inhalt gut ab: »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie«. Iwand suchte eine Antwort auf die Frage, wie die Theologie weitergehen kann nach der Katastrophe, die sie mit verursacht hat und deren Wurzeln in die lutherische Theologie des 19. Jahrhunderts zurçckreichen.

II. Der Kontext Wie es fçr Iwands ganzes Oeuvre gilt, so war es sicher auch in diesen Jahren: Es ist unerlåûlich, den Kontext, in dem er arbeitete, in Betracht zu ziehen. Iwand hatte 1947 einen Entwurf fçr ein »Wort des Bruderrates der evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes« verfaût, in dem die, die »in die Irre gegangen« sind, dazu aufgerufen werden, sich nach einer »rettenden und befreienden Umkehr« auszustrecken, einer Umkehr, die allein Gott »durch das Evangelium« 9 schenken kann. Daû diese Umkehr »rettend und befreiend« ist, ist eine Erkenntnis, die

7. 8.

9.

1951 gehaltenen Vorlesung »Kirche und Gesellschaft« ein; siehe NWN 1,86-96 (Gogarten) und 126-141 (Tillich). Vgl. H. Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance ± Ursprçnge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch und Rudolf Hermann (1910-1935), Forschungen zur systematischen und ækumenischen Theologie Bd. 72, Gættingen 1994. In dem Paragraphen, der der Besprechung des christologischen Entwurfs von E. Brunner gewidmet ist, bemerkt Iwand: »Eigentlich håtte zwischen Bultmann und Brunner ein Kapitel stehen mçssen: der Einbruch der reformatorischen Theologie!« H. J. Iwand, Entwurf Darmstådter Wort, FO 20 ff.

II. Der Kontext

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einem erst in der Umkehr selber zuteil wird. 10 Da diese Erkenntnis aber Vertiefung, Begrçndung und Zuspitzung verlangt ± auch fçr ihn selbst ±, liest Iwand Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Es sind die Jahre 1948 bis 1950; die ersten Nachkriegsjahre, die »schwersten Notzeiten, die wir nach dem Zusammenbruch durchschritten« (420), die »furchtbarsten Zeiten des Hungers und der Kålte, der Ungewiûheit, ob wir nicht morgen schon weiter çberspçlt sein wçrden von den hochgehenden Wogen des nicht endenwollenden Mordens und der ausschweifenden Grausigkeit« (28), waren inzwischen Vergangenheit. Das will aber nicht sagen, daû die Gefahr gewichen war. Die Grçndung beider deutscher Staaten bildete ja den Auftakt des Kalten Krieges. In der Kirche gab es eine Neigung, die gesellschaftlichen und politischen Fragen den »Sachverståndigen« zu çberlassen. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm wurde heftig diskutiert, und Barth fing an, als »ein Mann von gestern« zu gelten. Der Zeitgeist war auf Restauration eingestellt. Wider den Strom schwimmend, maû Iwand die verschiedenen theologischen Entwçrfe an der Frage ± ein Kriterium, dem er sich auch selber mit seiner ganzen Existenz unterwarf ±, ob sie mit dem Evangelium Jesu Christi im Einklang waren. Bei denen, die einen Restaurationskurs anstrebten, machte er sich damit allerdings nicht beliebt. Seine Vorlesungen waren ± deswegen? ± oft im frçhen Morgen und am Ende eines langen Tages geplant, was aber nicht verhindern konnte, daû er die græûte Zahl der Studierenden unter seinem Katheder hatte. 11 Dieser Kontext ist bei Iwand pråsent, aber nicht in dem Sinn, daû er immer wieder kurzatmig an das Zeitgeschehen erinnerte oder in seinen Vorlesungen im unmittelbaren Sinne Strategien der Ønderung entwickelte. Er ist bei ihm hier wie çberall meistens dem Anschein nach abwesend, 10. »Erst die Bereitschaft zur Umkehr schenkt die sonst uns vorenthaltene Erkenntnis.« (Die Bibel und die soziale Frage, NWN 1, 235) 11. Elisabeth Moltmann-Wendel erinnert sich, wie ± wåhrend der æfters vorkommenden Stromsperren ± Iwands hochgewachsene Gestalt durch die Kerzen spukartig auf die Rçckwand des im dunklen Winter eiskalten Hærsaals projiziert wurde (E. Moltmann-Wendel, Unverzagt und ohne Grauen, EvTh 57 [1997] 39; vgl. auch J. Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt. Beitråge zur æffentlichen Relevanz der Theologie, Gçtersloh 1999, 85 f. und J. Moltmann, Hans Joachim Iwand entdecken, EvTh 60 [2000] 235). D. Schellong, der diese Vorlesungen selber gehært hat, bemerkt dazu: »Theologisch stand Iwand in unçbersehbarer Nåhe zu Karl Barth, und doch zog es manchen von uns im Studium von Barth wieder zu Iwand, weil wir da eben jene geschichtlichen Dimensionen ausgebreitet fanden, mehr: uns selber mit jener Geschichte konfrontiert und durch sie herausgefordert sahen« (D. Schellong, Hans Joachim Iwand ± Die Aktualitåt eines Lebenswerks, Reformatio 28 [1979] 390-401, Zitat 396).

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tritt aber in einzelnen Bemerkungen und Verweisen auf einmal ans Licht. Der Kontext bestimmt gleichwohl die Fragestellung mit. Dabei steht aber nicht stets eine bestimmte fertige Sicht ± eine Ideologie, die »nur« anhand von Fakten und Analysen aus der Vergangenheit illustriert oder »bewiesen« werden sollte ± im Hintergrund; vielmehr findet ein ebenso offenes wie brçderliches, aber auch hartes und ernstes Gespråch mit den Våtern statt. Diese Wahrnehmung der spezifischen Kontextualitåt von Iwands theologischer Existenz wird zudem noch beståtigt und vertieft, wenn man sich seine Vorlesungen aus diesen Jahren anschaut. Es zeigt sich ein gezielter Aufbau. Anschlieûend an die beiden in diesem Band abgedruckten Vorlesungen las er im Wintersemester 1950/1951 çber »Gesetz und Evangelium. Einfçhrung in die Theologie der Reformatoren«, im Sommersemester 1951 çber »Kirche und Gesellschaft« 12 und im Sommersemester 1952 çber Ethik. Das alles war sicher auch Weiterfçhrung des eigenen Denkprozesses. Gezielt war er, der den Entwurf fçr das Darmstådter Wort (1947) angefertigt hatte, auf der Suche nach einer theologisch durchreflektierten Umkehr in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, um auf diese Weise einen ± es ist ein beliebter Ausdruck von ihm ± »Durchbruch nach vorn« zu erzielen. Da die Theologie ja am Leben teilhat und Umkehr sich also auch im Denken vollziehen muû, konnte ein Theologe wie Iwand nicht umhin, sich im Hinblick auf die Frage des Verhåltnisses von Kirche und Gesellschaft intensiv mit der Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert zu beschåftigen. Diese Verflechtung von Wahrnehmung der Geschichte und Suchen eines Durchbruchs nach vorn war kennzeichnend fçr ihn. Ihr liegt seine theologisch begrçndete Einsicht zugrunde, »daû die Vergangenheit sich uns nur soweit und insofern erschlieût, als wir die Zukunft gewinnen wollen, als wir die Vergangenheit dabei zu Hilfe rufen«. 13

12. Diese Vorlesung ist jetzt veræffentlicht in NWN 1, 15-187. 13. H. J. Iwand, Erneuerung unserer Bildung aus dem Evangelium, Der evangelische Erzieher 3 (1951) H. 4, 3 (Hervorhebung von Iwand). In seinem Vortrag Das Christentum und die geistige Krise der Gegenwart bemerkt Iwand: »Erst muû die Umkehr im Heute erfolgen, und nur so, als die Gewandelten und unter Gottes Gnade neu anfangenden, werden wir auch wieder mit neuen Augen und neuen Sinnen das aufnehmen und hæren kænnen, was die Vergangenheit zu sagen hat« (NW 2, 111). Vgl. auch schon Der Kampf um das Erbe der Reformation (1932): »Der Vergangenheit gewachsen zu sein, das allein heiût Zukunft gewinnen« (GA II, 144).

III. Iwands Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert«

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III. Iwands Vorlesung »Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert«: »Våter und Sæhne« (Gættingen WS 1948/1949 und SS 1949) III.1 Inhaltsverzeichnis Wer sich in Iwands Werk ein wenig auskennt, vermiût im Inhaltsverzeichnis dieser Vorlesung viele Namen von Theologen des 19. Jahrhunderts, mit denen er sich intensiv auseinandergesetzt hat. Am meisten wundert wahrscheinlich das Fehlen F. J. Stahls, des bedeutenden konservativ-lutherischen Theologen des 19. Jahrhunderts. 14 Auch çber den Romantiker No14. Vgl. dazu vor allem: H. J. Iwand, Von Ordnung und Revolution. Das Thema in der ersten Hålfte des 19. Jahrhunderts, NW 2, 153-192 (180-192). Vgl. G. C. den Hertog, Befreiende Erkenntnis. Die Lehre vom unfreien Willen in der Theologie Hans Joachim Iwands, Neukirchener Beitråge zur Systematischen Theologie Bd. 16, Neukirchen-Vluyn 1994, 294 ff. In seinem Aufsatz »Ûber den Verlust der theologischen Existenz heute« aus dem Jahre 1953 bemerkt Iwand: »¼ eine fast hundert Jahre vergessene, in einer merkwçrdigen Inkubation ruhende Theologie, eine zu ihrer Zeit ­unzeitgemåûe¬, in ihrer sachlichen Leistung irgendwie groûartig geschlossene, in ihrem Gehalt schon damals bewuût restaurative Theologie trat auf einmal auf den Plan. Zum mindesten mit ihren Grundideen. Ich meine die von Schelling und dem Konvertiten Haller so tief beeinfluûte Erlanger Theologie des frçheren und mittleren 19. Jahrhunderts. Es ist bis heute die Theologie der konfessionellen Lutheraner, die in der Union nur das Werk der alles nivellierenden Aufklårung zu sehen vermochten. Dahin gehært auch die Theologie Fr. J. Stahls, die den Kampf gegen die Ideen der Revolution zum Prinzip erhob, die christlich-konservative Politik als Einheit proklamierte und nicht erst im Sozialismus, sondern (wie Vilmar) bereits in der Demokratie den Beginn aller Ûbel, die ­Øchtung der Autoritåt¬ heraufziehen sah. Durch das Bismarcksche Reich, von den Sçddeutschen als ­Revolution von oben¬ abgelehnt, und die unionistische Theologie Schleiermachers und die ­wilhelminische¬ Ritschls waren diese Tendenzen zunåchst nicht zum Zuge gekommen. Aber jetzt meldeten sie sich. Sie boten sich an als ein System, das zugleich eine gestaltende Kraft fçr die Reorganisation der evangelischen Kirche zu enthalten vorgab. Hier sah man die Katastrophe mit den Vorgången der Bismarckschen Politik und der preuûischen Konsistorialverwaltung im engsten Zusammenhang. Man wåhnte den Moment gekommen, um endlich die Rekonfessionalisierung der evangelischen Kirche, das heiût ihre Ein- und Aufteilung in das ­lutherische¬ und das ­reformierte¬ Bekenntnis vorzunehmen. Die lutherischen Våter hatten es lange genug proklamiert, daû allein die Episkopalordnung die dem lutherischen Bekenntnis gemåûe Kirchenordnung sei, wenn man die Kirche von den weltlichen, insbesondere staatlichen Einflçssen befreien wollte, und es stærte ihre Enkel nicht, daû es gerade Hitler war, der diese Ordnung der evangelischen Kirche aufgezwungen hatte« (H. J. Iwand, Ûber den Verlust der theologischen Existenz heute, JK 14 [1953] 514 f., Hervorhebung von Iwand).

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valis, dem Iwand an anderer Stelle eine Schlçsselstellung am Anfang des 19. Jahrhunderts zuerkennt 15 , erfahren wir in der Vorlesung nichts. Schlieûlich fehlt auch die Entwicklung der von Hegel beeinfluûten Theologie, wie er sie in der Barth-Festschrift 1956 zeichnete, vollståndig. 16 Was mag der Grund gewesen sein? Es bietet sich eine ganz einfache Erklårung an: Zeitmangel. Iwand hatte 1930 in Kænigsberg schon çber Geschichte der Ethik im 19. Jahrhundert gelesen, 17 und das kænnte der einfache Grund sein, warum er ± dem seit 1934 die venia legendi genommen war und der als Pfarrer in Dortmund wåhrend des Krieges kaum Mæglichkeiten hatte, gezielt zu forschen und zu studieren ± zuerst Bekanntes vortrug und erst spåter ± in den fçnfziger Jahren ± die Lçcken fçllte. Gegen diese Sicht spricht aber, daû, als er die Vorlesung Ende der fçnfziger Jahre wiederholen wollte, er zwar einige Ergånzungen vornimmt, aber nicht eine Besprechung von Novalis, Stahl und der Hegelschule in Aussicht stellt und auch den Duktus der Vorlesung nicht wesentlich åndert. 18 Das weist darauf hin, daû Aufbau und Inhalt der Vorlesung schon 1948/1949 bewuût konzipiert waren. Alles in allem tun wir m. E. gut daran, uns nicht Vermutungen und Spekulationen hinzugeben, sondern diese fast vollståndig erhaltenen Vorlesungen zu nehmen, wie sie sind, und nur diese eine Frage im Auge zu behalten: Welcher Einsicht war Iwand auf der Spur, und was wollte er seinen Studenten zeigen?

III.2 Einfçhrung Iwand schickt seiner Vorlesung eine ausfçhrliche Einfçhrung voraus, in der er drei Bçcher vorstellt, die alle in der Zeit unmittelbar vor dem Anbruch des Dritten Reiches entstanden sind, und in denen Ansåtze fçr eine Neuorientierung zu finden sind, die etwas anderes ist als ein einfaches Weitergehen an der Stelle, wo man 1933 stehengeblieben war. Daû er Karl Barths »Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert« (Untertitel: Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte) als erstes bespricht, 15. Warum »Protestantische Monatshefte«?, JK 13 (1952) 354-361; Kirche und Gesellschaft, in: Bekennende Kirche. Festschrift zum 60. Geburtstag von M. Niemæller, Mçnchen 1952, 104 (= NWN 1, 266). 16. Vom Primat der Christologie, in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, (herausgegeben von E. Wolf / Ch. von Kirschbaum / R. Frey), Zçrich 1956, 172-189. 17. NW 6, 206. 18. Vgl. dazu den Editionsbericht.

III. Iwands Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert«

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liegt auf der Hand. Das 1947 erschienene Buch ging ja zurçck auf eine Vorlesung, die dieser zum letzten Mal in Bonn im WS 1932/1933 ± also am Vorabend des Dritten Reiches ± gehalten hatte. Das Buch hatte fçr Iwand etwas Prophetisches an sich. Es sei, als håtte Barth das »Wetterleuchten« der bevorstehenden Zeit schon aus der Ferne wahrgenommen. Das Groûartige an diesem Buch ist nach Iwands Ansicht, daû Barth die Aufklårung nicht als das Grundçbel bezeichnete, als Abfall vom »positiven Glauben« ± so daû die Læsung nur dahin gehen kænnte: reine Absage an die Aufklårung und Restauration einer Synthese von Offenbarung und Vernunft. Nein, Barth ging auf einer tieferen Ebene an die Fragen heran ± einer Ebene, die eine echte theologische Auseinandersetzung verlangte, d. h. nicht von einer mæglichst neutralen Analyse und der darauf beruhenden Skizze der Gedanken her, sondern in Gestalt eines Offenseins fçr die Menschen dieses Zeitalters in ihrem Fragen und Suchen. Der Titel des Buches låût vermuten, daû Barth sich auf die Theologie ± und auf die Theologen ± beschrånkt. Das ist aber keineswegs der Fall. Es ist ausgerechnet das Kapitel çber Rousseau »die Achse, um die das ganze Buch schwingt« (32). In Rousseau ± und auch in Goethe, der nach Iwand bedauerlicherweise bei Barth fehlt ± begegnen wir dem Menschen des 18. Jahrhunderts. Es ist der Mensch, der sich selbst genug ist ± aber sich mit seiner gesellschaftlichen Existenz nicht zufriedengeben kann und will. Dieser Mensch hat sich selbst entdeckt, aber er weiû mit dieser Entdeckung nichts anzufangen, weil er in der Gesellschaft çberall nur Menschenwerk wahrnimmt ± nicht aber das ursprçngliche, wahre Menschsein. Die wahre Existenz des Menschen in der Natur ist eine unerreichbare ± vielleicht hat es sie in Wirklichkeit nie gegeben ±, und der Mensch des 18. Jahrhunderts ist eine ebenso absolute wie einsame Gestalt, dessen Notschrei zum erstenmal in Rousseau laut wird ± der darum auch als der erste moderne Mensch gelten darf. Barths Buch ist ein Abschied von diesem Menschen, aber zugleich eine Wendung ± und als Wendung eine echte Antwort: nicht »zurçck zur ursprçnglichen Existenz«, zur »Natur«, sondern vor uns liegt das wahre, eschatologische Menschsein. Iwand empfing das Buch gleich nach seinem Erscheinen als Geschenk von Barth. In einem undatierten Dankbrief ± wohl vom Juni 1947 ± schreibt er: »Zweitens muû ich Ihnen fçr die Geschichte der Theologie danken, die mich heute Nacht ± Gesternabend bekam ich sie ± fast mein Bett vergessen lieû. Ich las besonders die Eingangspartien und das Kapitel çber Rousseau. Was wçrde es unseren Studikern nçtzen, wenn sie das Buch in den Hånden haben kænnten. So habe ich einmal in meinem ersten Semester Schweitzers Von Reimarus zu Wrede gelesen. Es wåre unbeschreiblich

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schæn, wenn man das in græûeren Partien unseren jungen Theologen zugånglich machen kænnte. Wir sind ja heute in der Lage, die ± so elend sie ist ± eben doch den Makarismus der Armen im Geiste fçr sich hat. Das theologische Ragout ist zuende, das Wenige, was heute wirklich gesåt werden kann, kænnte ganz anders aufgenommen werden als anderswo. Es ist çberhaupt vieles hier trotz allem Elend so voller Verheiûung, wenn wir nur nicht nach den Fleischtæpfen des ­Reiches¬ Gelçst håtten, sondern die Wçstenwanderung noch ein wenig ertrçgen.« 19 Neben Barths »Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert« referiert Iwand auch das »meisterhafte Werk« des franzæsischen Historikers P. Hazard »La crise de la conscience europenne. 1680-1715« 20 . In einem Vortrag aus dem Jahr 1955 bezeichnet Iwand es als »ein universales Buch«, im Unterschied zu Spenglers »Der Untergang des Abendlandes« 21 . Hazard legt 19. Original im Karl Barth-Archiv, Basel. Einige Jahre spåter schrieb Iwand çber dies Buch: »Hier liegt eine in dieser Art wohl kaum erreichte Darstellung des Zeitalters der Aufklårung und des deutschen Idealismus aus der Feder eines offenbarungsglåubigen Theologen vor. Wir werden daran erinnert, daû Lessing und Herder, Kant und Hegel hineingehærten in die Kirche, daû sie nur so recht zu interpretieren sind, nur so uns das ihre zu sagen wissen. Das eben ist protestantisch gedacht. Novalis und Stahl ± um nur diese beiden zu nennen ± håtten das nicht vermocht. Aber Karl Barth schreibt diese Geschichte der protestantischen Theologie nicht unter dem Aspekt einer Befreiung aus der Enge der Orthodoxie oder eines Durchbruchs in das ­freie protestantische Christentum¬, sondern er hat gesehen, daû sie alle, Lessing und Goethe, Herder und Kant nicht denkbar wåren ± ohne die Reformation und daû sie von daher in die Kirche und ihre Geschichte eingeschlossen sind. Das ergibt einen gewandelten Aspekt. Es ist ein neuer und bedeutsamer Kirchenbegriff, der bei dieser Darstellung obwaltet, ein Kirchenbegriff, der in die Zukunft weist, der ± wie alles, was wir Barth auch sonst verdanken ± ganz neue Aspekte, Mæglichkeiten und Fruchtbarkeiten enthålt. Daû die Philosophie des deutschen Idealismus im Grunde genommen Theologie ist, und zwar protestantische Theologie, das eben hat Barth gezeigt und damit eine ganze Generation, die auf dem Wege schien, den Idealismus ­auszurotten¬ (den Weizen mit dem Unkraut!), gewarnt, auf diesem Wege fortzuschreiten.« (Warum »Protestantische Monatshefte«?, JK 13 [1952] 360 f. [Hervorhebung von Iwand]). In einem Brief vom 12. August 1954 an R. Hermann kennzeichnet Iwand dies Buch noch einmal als »ein geniales Buch und wie ein Abschiedsgeschenk ± es ist die 1932 in Bonn gehaltene Vorlesung ± der einstmals so schænen deutschen Universitåtswissenschaft« (in: Luther [Zeitschrift der Luther-Gesellschaft] 66 [1995] Heft 2, 62; auch in: A. Wiebel, Rudolf Hermann [1887-1962], Unio et Confessio Bd. 21, Bielefeld 1998, 247). 20. Es erschien in erster Auflage Paris 1935 (deutsch: Die Krise des europåischen Geistes, Hamburg 1939). 21. Bildung aus christlicher Verantwortung, in: A. Zillien und W. Hollweg (Hg.), Fragen des hæheren Schulwesens in unserer Zeit, Frankfurt a. M. / Berlin / Bonn 1961, 11. Vgl. auch Quousque tandem? Ein Wort wider den Bruderzwist im evangelischen Lager, NW 2, 255.

III. Iwands Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert«

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in diesem Buch dar, daû nicht die Franzæsische Revolution die Mutter des 19. Jahrhunderts ist, sondern daû man ± wenn man das heutige Europa in seinem Werdegang verstehen will ± zur Periode 1680-1715 zurçckgehen sollte, die der Aufklårung unmittelbar vorangeht. Seine These geht dahin, daû die Periode zwischen 1680 und 1715 die Zeit der »entscheidenden Ideenschlacht« (42) gewesen sei, weil sich damals eine Krise des europåischen Geistes anzeigte. Mit anderen Worten: Der Franzæsischen Revolution ist hundert Jahre frçher eine Periode vorangegangen, in der sich in einer ganz kurzen Frist die fçr die Folgezeit bestimmenden Ideen entwickelt haben, und zwar in einer Radikalitåt, wie sie spåter kaum wieder erreicht wurde. Warum damals und in solcher Radikalitåt? Es war die Zeit nach den Religionskriegen, in denen das Christentum, gleich welcher Konfession, nicht imstande war, eine Grundlage fçr ein friedliches Zusammenleben zu bilden. Es ist daher nicht angebracht, mit einem F. J. Stahl vællig geschichtslos zu behaupten, die Revolution sei die Ursçnde, weil man damit das Band mit der Geschichte, mit den Fragen und Næten konkreter Menschen, mit dem Versagen der eigenen Konfession, auûer Betracht låût. Es entstand damals eine neue »Kirche«, denn die Bahnbrecher der neuen Zeit, die fortschrittlichen Gelehrten, wandten sich nicht an die »Fachleute« und »Repråsentanten der Gesellschaft«, sondern sie wandten sich an das Volk, und die frohe Botschaft, die das Europa des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts durchzog, war nicht die christliche, schon gar nicht die theologische, sondern die philosophische. Iwand hebt den Unterschied zu der Zeit, da das Evangelium erstmals als frohe Botschaft durch Europa ging, hervor. Damals standen die Philosophen auf der Seite der Tradition und wuûte die Kirche auf die Fragen der Zeit eine neue, anziehende Antwort zu geben. Im siebzehnten Jahrhundert hingegen verteidigt die Kirche ihre Tradition und çberlåût es den Philosophen, die Kçnder einer neuen Zeit zu werden, den Menschen ein humanistisches, auf der Erleuchtung des Verstandes begrçndetes Evangelium zu predigen. Hier liegen die Wurzeln des Bçndnisses zwischen der Kirche und den konservativen Kråften, wie es im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts in verhångnisvoller Weise gewirkt hat. Gerade deswegen wird die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts von der Hand des sçddeutschen ræmisch-katholischen Historikers Franz Schnabel, mit der Iwand sich schon 1941 eingehend befaût hatte 22 , von ihm als dritte vorgestellt. Schnabel ist in diesem Zusammenhang aber nicht nur wegen der Thematik seines Werkes fçr Iwand interessant, son22. J. Seim, a. a. O., 266.

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dern auch wegen seiner politischen Haltung und seiner konfessionellen Zugehærigkeit. Illustrativ fçr Schnabels Umgang mit dem 19. Jahrhundert ist seine Bemerkung in dem auf den 1. Juni 1933 datierten Vorwort des zweiten Bandes: »Wir haben in den letzten Wochen und Monaten fast physisch fçhlbar es erlebt, wie die Tore des 19. Jahrhunderts endgçltig und vollståndig geschlossen worden sind.« 23 Er, der schon 1932 heftig und æffentlich Protest gegen die Tendenzen in Richtung einer Auflæsung der Weimarer Republik eingelegt hatte, wurde 1936 aus politischen Grçnden zwangsentpflichtet. Es hat dazu beigetragen, daû er nicht mehr als vier Bånde seines groûen ± aber unvollendeten ± opus »Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« zwischen 1929 und 1937 hat veræffentlichen kænnen. Es gelang ihm auch spåter nicht mehr, sein Werk fortzufçhren und fertigzustellen. Schnabel war aber auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil er der ræmisch-katholischen Kirche angehærte und Iwand der Meinung war, daû der Nationalsozialismus vor allem aus dem Protestantismus hervorgegangen war. Mehrmals erinnert Iwand an den Austritt des ebenfalls ræmisch-katholischen Eltz von Rçbenach aus dem Kabinett am 30. Januar 1937, weil er nicht in die NSDAP eintreten wollte und das ihm von Hitler çberreichte goldene Parteiabzeichen anzunehmen sich weigerte. Bezeichnend war in Iwands Augen die Weise wie die anderen Minister darauf reagierten. »Sie achteten es nur als persænliche Tat, als charaktervolle Haltung. Sie haben aber weder begriffen, was dieses Zeugnis eines unbestechlichen christlichen Gewissens politisch bedeuten sollte und konnte, noch haben sie irgendwelche Solidaritåt mit diesem ­Protestanten¬ bezeugt, weil sie einfach die sachliche Bedeutung eines solchen Bekenntnisses ­vor Fçrsten und Kænigen¬ nicht begriffen.« 24 Schnabel schildert die erste Hålfte des neunzehnten Jahrhunderts in ihrem çberwåltigenden Reichtum, zeigt, wie die groûe Zeit dieses Jahrhunderts in dieser Periode liegt, wo noch Ideen entwickelt werden. Der »Angelpunkt« des vierten Bandes ± Die religiæsen Kråfte ± ist die Schilderung des Zerfalls und des Endes der christlich-konservativen Koalition und der »Verweltlichung« die darauf folgte. Dies alles erhellt Iwands Interesse an Schnabels Werk, nåmlich daû er sowohl den Reichtum an Ideen in der ersten Hålfte dieses Jahrhunderts wie auch den reaktionåren Umschlag in der zweiten Hålfte aufarbeitet. 23. F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Monarchie und Volkssouverånitåt, Freiburg i.Br. 19341 / Mçnchen 19872 , V. 24. Das Gewissen und das æffentliche Leben, NW 2, 147 f.; vgl. auch Die Bibel und die soziale Frage, JK 13 (1952) 67 (= NWN 1, 233 f.) und: Ûber das Verhåltnis von Theologie und Kirche, GA I, 208 f.

III. Iwands Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert«

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III.3 Schleiermacher Erstens fållt auf: Schleiermacher steht am Anfang und Hegel am Ausgang der Vorlesung. Schleiermacher ist Theologe, und seine Neuprågung des Begriffs der Religion als Kategorie sui generis hat das 19. Jahrhundert bestimmt. Aber nicht so sehr seine Neufassung der Theologie interessiert Iwand im Rahmen dieser Vorlesung 25 , sondern vielmehr sein ethischer Entwurf. Der Ansatz beim »Problem der Gesellschaft« verråt schon, was Iwand bei seiner Vorlesung vorschwebte, die er unter dem Titel »Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert« anbot, in der er aber vor allem das Verhåltnis von Dogmatik und Ethik anvisierte. Darauf låuft seine Besprechung Schleiermachers hinaus. In seiner Neufassung des Religionsbegriffs versuchte Schleiermacher Kant nicht nur wissenschaftstheoretisch zu çberwinden, sondern auch in ethicis einen anderen Weg zu beschreiten als der Kænigsberger Philosoph in seiner Pflichtethik. In Schleiermachers Ethik stieû Iwand auf Impulse, die im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geraten waren, die er aber gerade fçr wertvoll und aktuell hielt. Schleiermacher hatte die christliche Glaubenslehre auf die Grundlage der »Religion« als dem der Ethik çbergeordneten Begriff gestellt. Damit wollte er einerseits das Anliegen der Aufklårung aufgreifen, andererseits aber wollte er auf diese Weise die kurzatmige ethische Engfçhrung der Aufklårung çber sich hinausfçhren ± und nicht Ethik, sondern wirklich Theologie treiben. Obwohl Schleiermacher zwar »Lehnsåtze aus der Ethik« in seine Glaubenslehre aufnahm und so Ethik und Dogmatik unlæslich miteinander verknçpfte, war die »Religion« ± das »schlechthinige Abhångigkeitsgefçhl« ± der Ethik çbergeordnet. Schleiermachers Theologie bildete einen klaren Neuansatz im Vergleich zu Kant, dadurch daû er versuchte, auf eine andere Weise çber Gott zu sprechen als eingesperrt innerhalb der Koordinaten der praktischen Vernunft. Aus Iwands Beitrag in der Niemæller-Festschrift 1952 stammt folgendes ausfçhrliche Zitat, das den Ertrag seiner Beschåftigung mit Schleiermacher zusammenfaût und zeigt, was ihn an Schleiermacher gereizt hat: »Ihm war die Abstraktheit des kategorischen Imperativs im tiefsten zuwider. Er sah in der ethischen Bildung einen der geschichtlichen Reife einer Zeit entsprechenden Lebensprozeû. Er meinte, daû man ohne Analyse der diesen Prozeû bestimmenden Momente seinen Lauf und Fortgang nicht 25. Das beschåftigte Iwand wåhrend seines Studiums, in seiner Dissertation çber die Antinomien bei Karl Heim (vgl. G. C. den Hertog, a. a. O., 83-99), und auch Ende der fçnfziger Jahre (vgl. H. J. Iwand, Schleiermacher, NW 2, 338-357).

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wçrde lenken kænnen. Er sah ± wie keiner nach ihm unter den Theologen ±, daû der Riû zwischen Geist und Natur, den der Idealismus postuliert hatte, lebensfeindlich ist. Er ahnte, daû ein letzter Zusammenhang bestehen mçsse zwischen Physik und Ethik und keine der beiden Wissensformen vom Leben hæher entwickelt sein kann als die andere. Wahrscheinlich ist es gerade dieser Gegensatz von Geistes- und Naturwissenschaft gewesen, der Philosophen wie Theologen in der Folge gehindert hat, die ins Gigantische anwachsenden Gesellschaftsfragen zu meistern. Man hatte sie ± indem man die Naturwissenschaft aus dem Komplex der ethischen Fragen ausschied ± bereits im Ansatz negiert. Schleiermachers Unglçck war, daû gerade das innerhalb der Theologie spåter eintrat, was er mit allen seinen theologischen Arbeiten zu verhindern versucht hatte: Der Einbruch des ethischen Dualismus in das Christentum, der durch die Rezeption des Kantianismus erfolgte und heute unter der pseudoreformatorischen Formel von ­Gesetz und Evangelium¬ bzw. der Lehre von den ­beiden Reichen¬ zu den leider mit besonderer Leidenschaft verteidigten Fundamentalartikeln der konfessionellen Theologie gehært«. 26 Weil dieser »lebensfeindliche« Riû zwischen »Geist und Natur« in der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts als selbstverståndlich empfunden wurde, konnte sich der »ethische Dualismus« in Theologie und Kirche einnisten und zu einer ungeheuren Aushæhlung der ethischen Verantwortung fçhren. Schleiermacher hatte sich geweigert, Gottes Gebot in seinem tiefsten Wesen zu identifizieren mit Kants »kategorischem Imperativ«. Er hat gewuût, »daû die hæchste Gerechtigkeit, von uns Menschen verwirklicht, nur noch ein engmaschiges System von Gesetzen çber einer zerstærten, in ihrer Freude und Schænheit, in ihrem Leben zerstærten Welt wird«. 27 »Wenn irgendwo, so kann man bei Schleiermacher eins lernen, daû wir durch die Klårung der hæchsten Begriffe uns nicht etwa vom Leben entfernen, sondern jene Hæhen erreichen, von denen aus wir dann besonnen und weise, aber auch in Hoffnung und Liebe herabsteigen, um bis in die trivialsten Fragen des Lebens hinein uns als solche zu bewåhren, die der Vernunft zutrauen, daû sie das Leben gestaltet.« 28 Wåhrend Schleiermachers Religionsbegriff das 19. Jahrhundert weitgehend bestimmte, hat sein ethischer Neuentwurf kaum gewirkt. Gerade in dieser Hinsicht gingen die Theologen des 19. Jahrhunderts andere Wege. Der Religionsbegriff ± Rothe ist hier die Schlçsselfigur ± wurde ethisch 26. Kirche und Gesellschaft, 102 (= NWN 1, 263). 27. H. J. Iwand, Das Gebot Gottes und das Leben, NW 2, 68. 28. H. J. Iwand, Schleiermacher als Ethiker, 60 (in diesem Band, S. 215).

III. Iwands Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert«

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geprågt, womit die Bedeutung der Lehre fçr die ethischen Fragen bedeutungslos wurde. In einem undatierten, aber aus inhaltlichen Grçnden um 1948 zu datierenden Vortrag »Das Gebot Gottes und das Leben« setzt Iwand an bei der schlichten Feststellung, »daû in der Welt des Ethischen das Gesetz das Letzte und Hæchste ist« ± gemeint ist die Welt des Bçrgertums des 19. Jahrhunderts. »Denn« ± so fåhrt er fort ± »wie soll man Gut und Bæse voneinander abheben, wenn nicht so, daû die uralte Weise des ­Du sollst¬ und ­Du sollst nicht¬ angewandt wird. Und wie soll man diesem Gesetz anders Nachdruck verleihen, als so, daû man hinter diese Forderung die Macht stellt. Das Ideal der Welt des Ethizismus mçûte eine solche Verbindung von Macht und Ethos sein, daû die græûte Ansammlung von Macht der hæchsten ethischen Zielsetzung dient. Diese Welt des Ethizismus muû schlieûlich hinauslaufen auf die Totalitåt des Staatlichen ¼« 29 Das hat er 1948 gesehen, und es låût sich nicht anders denken, als daû er vor allem auch das in seiner in diesem Jahr angefangenen Vorlesung ausfçhren und begrçnden wollte.

III.4 Die Auflæsung der Theologie in Ethik Rothe, der Ahnherr des »Kulturprotestantismus« 30 hat nach Iwands Ansicht in der deutschen Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts die Weichen dadurch umgestellt, daû er den Begriff der Religion ethisch geprågt hat. Iwand charakterisierte Rothes Bedeutung in der Vorlesung folgendermaûen: »Richard Rothe ist der Mann gewesen, der den Schritt vollzogen hat, den Troeltsch bei Schleiermacher vermiût, er hat die Theologie gånzlich in die Ethik aufgelæst, er hat sie nur noch als Ethik betrieben, er ist damit der Anfçhrer jenes Liberalismus geworden, der das Christentum nur noch als ethischen Faktor gelten låût und hat so eine Frage an die Theologie und die Kirche gestellt, die geradezu das Problem des modernen Christentums genannt werden kann: kann die christliche Religion gånzlich im System der Ethik gefaût werden? Ist sie nichts anderes als dies? Ist das die Richtung, in die der Reich-Gottes-Gedanke uns weist?« 31 (99). Aber nicht nur Rothe, auch der Restaurationstheologe A. F. C. Vilmar, mit dem Iwand Rothe in 29. Das Gebot Gottes und das Leben, NW 2, 67. 30. Vgl. Cl. Lepp, Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgrçndung und des Kulturkampfes, (Religiæse Kulturen der Moderne Band 3), Gçtersloh 1996, 58-65; 283-294. 31. 1958 sagt Iwand in bezug auf die »Ablæsung der Dogmatik durch die Ethik«: »Der Mann, der das besonders herausgestellt hat, war Ernst Troeltsch, der, der es ihm

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der Vorlesung kontrastiert, sieht »in der Wendung der Theologie zur Ethik die durch die Lage bedingte Aufgabe der Kirche« (101). Merkwçrdig, aber gerade deshalb auch interessant ist die Liste der Denker, die Iwand unter der Aufschrift »Ethik« auffçhrt und bespricht: H. L. Martensen, A. von Harleû, M. Kåhler, F. W. Nietzsche und »den vællig vergessenen, aber hochinteressanten und einzigartigen Alexander von Oettingen« 32 . Was ist der Nenner, der diese Denker zusammenbringt? Es sind ± mit Ausnahme von Nietzsche ± lutherische Theologen, aber sie lassen sich kaum auf einem schmaleren, pråziseren Nenner zusammenbringen. Wenn man den Duktus der Vorlesung verfolgt, stellt sich heraus, daû der Ûbergang von Rothe zu Martensen ± er ist der erste, mit dem Iwand in diesem Abschnitt im Gespråch ist ± flieûend ist. Martensens Ethik ist der Rothes »in gewisser Hinsicht« åhnlich. Dennoch fångt Iwand ein neues Kapitel an: Ethik. Von Rothe an klaffen bei mehreren lutherischen Ethikern »Natur« und »Geist« so sehr auseinander, daû sie wie ein Vogel auf einem gabelfærmigen Ast zwischen dem einen oder dem anderen Zweig wåhlen mçssen ± mit der einzigen Alternative, daû sie zwischen beiden herunterfallen. Ihre Wahl ± das verbindet alle von Iwand besprochenen Ethiker ± gilt dem »Geist«. Ob nun Martensen sich in einer merkwçrdigen, aber nicht nur fçr ihn eigentçmlichen Weise bemçht, lutherische Theologie und Romantik zusammenzubringen, und »jedes, noch nicht der Erlæsung theilhaftig gewordene Menschenleben« als »ein Leben unter dem Gesetze (¼) als eine unerfçllte Forderung« 33 kennzeichnet oder Harleû dem Gewissen seinen Platz vor dem Glauben gibt und darum auch die Wiedergeburt als den Ûbergang aus einem »Leben in der Gottesferne«, das »aufhært«, in ein »Leben der Gottesnåhe und Gottesgegenwart« 34 darstellt, um auf dieser Grundlage seine Ethik aufzubauen, ± es ist stets derselbe Ausgangspunkt: die Identitåt von Sein und Bewuûtsein. Der Mensch, der um sich selbst weiû, der durch das Evangelium zu sich kommen soll ± das ist der archimedische Punkt, der diese ± wesentlich idealistischen ± ethischen Entwçrfe regiert. In gewissem Sinn bildet die Moralstatistik des Alexander von Oettingen eine Ausnahme, weil er sich der moralischen Situation nicht von der ideellen, der rein normativen Seite nåhert, sondern »mit græûter Umvorgemacht hatte, war Rothe.« (Das Liebesgebot und der Wiederaufbau Europas, JK 21 [1960] 530). 32. H. J. Iwand, Kirche und Gesellschaft, 102 (= NWN 1, 263). 33. H. L. Martensen, Die Christliche Ethik. Specieller Theil. Erste Abtheilung. Die individuelle Ethik, Gotha 1878, 1. 34. G. Chr. A. von Harleû, Christliche Ethik, 234.

III. Iwands Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert«

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sicht und Sachkenntnis« untersucht, »welche Bedeutung das Milieu und das Schicksal, welche Einwirkung auch das Schicksal von Institutionen fçr die Ethik hat« 35 . Er hat ± wie Schleiermacher und Rothe ± das Problem der Gesellschaft gesehen, hat die Fassung des Menschen als isoliertes Individuum als die Sçnde betrachtet, und er denkt darum prinzipiell organisch: die Kirche faût die Menschheit als ganze in sich, und in ihr geht die dem Verfall preisgegebene Menschheit der Wiedergeburt entgegen. Aber der Ton ist bei Oettingen, wie bei den anderen, grundsåtzlich harmonisch: nicht der einzelne Mensch, sondern die Kirche ist »hier in ihrem Ethos die wiederhergestellte Schæpfung« (172). Dies eine verbindet also diese lutherischen Ethiker der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts: Axiom ist, daû der Mensch von sich aus weiû, was gut und bæse ist, und man spçrt nicht, wie merkwçrdig, ja von Luther her unmæglich es ist, daû dieser Ausgangspunkt im wesentlichen inhaltlich mit der bçrgerlichen Welt- und Lebensanschauung zusammenfållt. Noch weiû man um die Zweiheit von »Geist« und »Natur«, aber man sieht keine Mæglichkeit mehr, diese beiden wirklich zusammenzubiegen, geschweige denn miteinander zu einer gelebten Einheit zu verbinden. Statt dessen versucht man im menschlichen Selbstbewuûtsein den archimedischen Punkt der christlichen, das heiût der menschlichen, Existenz zu finden. Noch einen Schritt weiter, und A. Ritschl macht »reinen Tisch« durch die Proklamation, »Theologie habe es nur mit Werturteilen zu tun, das heiût, sie sei nur insoweit interessant, wichtig und nætig, als es sich um die ethischen Fragen, um die Freiheit und Zielstrebigkeit des sittlichen Lebens handelt« (173). Zur gleichen Zeit entlarvt F. W. Nietzsche das Gewissen als eine Krankheit, d. h. eine alte, uralte, durch tausendjåhrige Erziehung dem Menschentier eingebrannte Wunde, durch die das Tier im Menschen mit allen seinen Instinkten gebåndigt, gezåhmt wurde und anfångt, sich seiner natçrlichen Raubtierinstinkte zu schåmen, sie zu verbergen. Aber das Aushalten dieser Krankheit des Gewissens bis zuletzt dient dazu, den Menschen jenseits von Gut und Bæse zu gebåren, denn »die Wahrheit und unsere Werte sind einander Feind, darum Umwertung aller Werte. Wahrheit ist kein Wort und Wert ist kein Sein. Es wird auch Ritschl wenig nçtzen, sich in diesem Gericht ± das çber die Theologie und das Christentum von der Wahrheit, der Wissenschaft her, einbricht ± in die Welt der Werte zu flçchten, diese Welt der Werte befindet sich gerade im Zustand der eigentlichen Katastrophe.« (161) Diese in der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts vollzogene Trennung 35. H. J. Iwand, Kirche und Gesellschaft, 102 (= NWN 1, 263).

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von »Geist« und »Natur«, wo Schleiermacher noch von ihrer tiefsten Einheit her dachte, hat Iwands Analyse zufolge fatale Folgen gezeitigt. Die Frage, inwieweit Schleiermacher mit seiner Identifizierung von Sein und Bewuûtsein diese Entwicklung in Gang gesetzt oder wenigstens gefærdert hat, stellt Iwand, aber er beantwortet sie nicht. »Sollen wir sagen, daû mit Recht auf diesen alles Hemmende nur als Reiz zur Ûberwindung aufnehmenden Entwurf jenes Ernstnehmen der Dekadenz unserer Zivilisation, wie es dann Schopenhauer und Nietzsche zum Gemeingefçhl unserer Gebildeten erhoben haben, mit Notwendigkeit folgen muûte?« 36 Er endet ± er will so enden ± bei den positiven Ansåtzen von Schleiermachers ethischem Entwurf, die nach seinem Tode vernachlåssigt wurden. Wesentlich kritischer, als er sich in seinem Aufsatz »Schleiermacher als Ethiker« an Schleiermacher richtete, fragt er deshalb in der Vorlesung, an die Adresse der lutherischen Theologen der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts gewandt: »Was aber wçrde das bedeuten, wenn wir die Identitåt von Sein und Bewuûtsein nicht mehr zur Voraussetzung einer Ethik machen wçrden? Wçrde dann nicht Ethik wieder zurçckbiegen in die rechte Auslegung des Willens Gottes, in ein Fragen danach aus der Tiefe unseres Verlorenseins und aus der Bereitschaft unserer Umkehr? Wçrde nicht auch in der Ethik immer von neuem die Gnade gepriesen werden mçssen ± nicht als Kraft, sondern als Vergebung?!« (134) Das gerade war ± jedenfalls als Mæglichkeit ± bei Schleiermacher da. 37 Auffållig ist, daû Iwand im lutherischen Protestantismus der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts in dieser Hinsicht keine Ausnahme sieht. Die Ethisierung der Theologie haben sie alle nicht als grundfalsch durchschaut und bis in die Wurzel korrigiert. In Iwands Augen ± wie aus dem gesamten Aufriû dieser Vorlesung klar hervorgeht ± ist es merkwçrdig, daû man im 19. Jahrhundert die Sçnde als das Gottgleichseinwollen kennzeichnete, aber nicht durchschaute, daû dieses Gottgleichsein nun gerade darin bestand, daû man sich selber »Erkenntnis von Gut und Bæse« beimaû. Mit anderen Worten: Was man in der Dogmatik entschieden ablehnte, hat man auf dem Feld der Ethik als Tugend betrachtet. »Der Mensch ± wissend um Gut und Bæse, das ist das Thema dieser Ethiken: man beachte wer hier Subjekt und was hier Thema ist. Der Mensch ± der wissende, bewuûte Mensch ± soll Tråger sein der Entscheidung von Gut und Bæse. Wenn das nicht heiût, Gott entthronen, wenn das nicht eben das ist, was Luther in

36. H. J. Iwand, Schleiermacher als Ethiker, 63 (in diesem Band S. 219). 37. Ebd., 64 (in diesem Band, S. 220).

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Erasmus heraufziehen sah 38 und was ihn zu solcher leidenschaftlichen Abwehr bewegte ± was sollte es denn sonst sein?« (162) So hat die Kluft zwischen »Natur« und »Geist« zu einer Trennung von Dogmatik und Ethik gefçhrt, die das Evangelium daran gehindert hat, kritisch und befreiend in der Úffentlichkeit zu wirken 39 . An dieser Stelle sieht Iwand das græûte Hindernis fçr die notwendige Neuorientierung. Mitte der fçnfziger Jahre sagt er es noch mal ganz pointiert: »Vielleicht ist die Entzauberung der Ethik das Schwerere, vielleicht das wurzelhaft Entscheidende, um Gott zu finden.« 40

III.5 Hegel oder: Glauben und Wissen Im Schluûkapitel dieser Vorlesung biegt Iwand zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurçck, um sich nunmehr Hegel und damit der Philosophie zuzuwenden. Fçr sich genommen, håtte es nahegelegen, den chronologischen Aufriû beizubehalten und Hegel zusammen mit Schleiermacher im Eingangskapitel unterzubringen. Der Grund dafçr, daû Iwand Hegel ± und zwar ihm allein ± am Ausgang der Vorlesung einen Platz einråumt, liegt wohl darin, daû dieser das in der Aufklårung ± auch in der Theologie dieser Epoche! ± vernachlåssigte Thema »Glauben und Wissen« wieder in den Mittelpunkt gestellt hat. Iwand nimmt bei ihm einen Ansatz wahr, der der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts, die ja weitgehend innerhalb der Koordinaten Kants dachte, håtte helfen kænnen, von einer Einheit 38. Iwand hat diese Einschåtzung der Bedeutung der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus durch die Jahre hindurch in seinen Lutherstudien æfters wiederholt; vgl. z. B. Erlåuterungen zu: Martin Luther, Vom unfreien Willen, in: Martin Luther, Ausgewåhlte Werke (Hg. von H. H. Borcherdt und G. Merz, 1. Ergånzungsbd.), Mçnchen 19391 , 361 (= Mçnchen 19543 , 306): »Groûartig, mit prophetischem Blick çber Jahrhunderte hinweg eine geistige Entwicklung voraussehend, hålt Luther hier dem Erasmus entgegen: Durch dies sein Dogma wird es dahin kommen, daû der Mensch çber Christus und den Satan weit emporgehoben, daû er der Gott aller Gætter und der Herr aller Herren wird (¼). Luther hat gesehen, daû die Erlæsungslehre des Christentums mit diesem humanistischen Unterbau vom edlen Kern des Menschen die Keimzelle werden muû fçr eine Apotheose des Menschen, die alles Heidentum weit çbertrifft.« 39. »Das hatten sie alle nicht mehr gesehen, weder Schleiermacher noch Ritschl noch Wilhelm Herrmann noch Martin Kåhler, den grundlegenden Unterschied von lex und evangelium ± darum konnten sie die Dogmatik auf die Ethik grçnden« (Der Prinzipienstreit innerhalb der protestantischen Theologie, GA I, 227). Vgl. NW 4, 256: »Auch die Dogmatik Martin Kåhlers (¼) ist doch von einem echten Verståndnis von Gesetz und Evangelium sehr ferne.« 40. NW 1, 124.

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von Glauben und Wissen her an die Gesellschaftsfragen heranzugehen und so denkend sich einen Weg nach vorn zu bahnen. Iwand bedauert es offensichtlich, daû Hegel fçr dieses Anliegen so wenig Unterstçtzung bei den Theologen seiner Zeit fand, daû er sich gezwungen sah, seine Zuflucht zur Philosophie zu nehmen und es nicht geschafft hat, Glauben und Wissen ihr je eigenes Recht und ihren eigenen Platz zurçckzugeben. Diese Annåherung an Hegel ist um so bemerkenswerter, weil Iwand auch wuûte, »daû es nicht ohne Hegels Einfluû geschehen ist, daû der normative Charakter der Vernunft gebrochen, daû die Vernunft um ihr Vertrauen zu sich selbst gebracht wurde«. 41 An anderer Stelle geht er noch weiter und unterstreicht, daû Hegel »schon Nietzsche in seinen Lenden trug, und man sieht die Linie, die von ihm zu Spengler fçhrt. Wir aber stehen heute am Ende dieser Epoche, an ihrem schuldbeladenen Ende.« 42 »Schuldbeladen« ± es ist sicher nicht Iwands Absicht, damit ausschlieûlich oder in erster Linie Hegel fçr die nachfolgende Entwicklung verantwortlich zu machen. Nein, gerade weil die Theologen Hegels Anliegen nicht als genuin christliche Aufgabe annahmen, konnte die Entwicklung so verlaufen, wie Iwand sie in seiner Luther-Vorlesung der fçnfziger Jahre zeichnet: »Es gibt ein Vermægen des Menschen, sich erkennend Gott zu nåhern, welches Gott zunichte macht. Wir haben ein Beispiel dafçr von weltgeschichtlicher Auswirkung: das ist das Ende der Hegelschen Philosophie. Als Friedrich Hegel (1770-1831) starb, erhob sich in der deutschen Philosophie ein Atheismus, wie man ihn so bis dahin noch nicht gekannt hat. Aus dieser Epoche des Umschlags des Hegelschen Versuchs, Gott zu begreifen durch die Kraft der Vernunft, die Vernunft selbst als gættlich anzusprechen, entsteht dann jener radikale Atheismus, der jetzt Gott nur als Hypothese des Menschen versteht, als einen Entwurf des Menschen, um zu sich selbst zu kommen. Der Mensch muûte den Gedanken Gottes denken, um sich seiner gættlichen Vernçnftigkeit bewuût zu werden. Das ist Ludwig Feuerbach (1804-1872), David Friedrich Strauû (1808-1874), Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Nietzsche (1844-1900). Vor diesem Hintergrund mçssen wir unser deutsches Schicksal des letzten Jahrhunderts verstehen.« 43 Wie aus diesem Zitat hervorgeht, stellt der Tod Hegels in Iwands Sicht des 19. Jahrhunderts eine tiefe und entscheidende Zåsur dar, weil in seiner 41. Iwand sagt das im Januar 1952 in seinem Vortrag »Wiedergeburt des Geistes« auf der westdeutschen Kulturtagung. Zitiert nach der stenographischen Wiedergabe (Original im Iwand-Archiv Beienrode), S. 2. 42. Das geschichtliche Phånomen der Atomwaffe und die Angst ± Ein Versuch ihrer Ûberwindung, FO 109. 43. NW 5, 128.

III. Iwands Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert«

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auseinandergefallenen Schule ein Atheismus emporkam, der die Theologie dazu verfçhrte, in Restauration zu flçchten. Das Versagen der Theologen Hegels Herausforderung gegençber hat also eine bestimmte geistesgeschichtliche Entwicklung wenn nicht ausgelæst, so doch auf jeden Fall nicht verhindert. Nun bemerkt Iwand in der Vorlesung ± aber auch an mehreren anderen Stellen ±, er habe das Gefçhl, daû sich in Deutschland die Zeit nach dem Tode Hegels wiederhole. 44 Solche Wahrnehmungen sind bei Iwand theologisch in der Ûberzeugung verwurzelt, daû das Wort Gottes sein eigenes »Heute« setzt, als Tçr zu einer neuen, echten Zukunft. Wo man sich in Kirche und Gesellschaft nicht auf dieses Wort Gottes einlåût, stockt die Geschichte in einer »ewig stillstehenden Vergangenheit«. Von daher ist eine beilåufige Bemerkung in der 1948/1949er Vorlesung zu verstehen: »man begreift, daû Stahls Streitschrift contra Bunsen 45 sich heute in dem Schlachtruf contra Barth der gesamten Restaurationstheologie wiederholt (leider ist mir in den letzten Jahren der Nietzschesatz von der Wiederholung in erschreckender Weise in den Sinn gekommen)« (32). Wo die Theologie resigniert und restauriert und sich nicht dem Worte Gottes in seiner richtenden und befreienden Kraft æffnet und ihm freie Bahn gibt, wird sie ihrer Mitverantwortung fçr den Lauf der Geschichte nicht gerecht. Dieser theologische Umgang mit der Geschichte erklårt, warum Iwand im Rahmen dieser Vorlesung die Wirkungsgeschichte Hegels çbergeht. Es håtte ja auch die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts anders ablaufen kænnen, wenn nåmlich die Theologen Hegels Aufgabenbestimmung positiv aufgegriffen håtten. Es ging Iwand in alledem also nicht um ein ausgewogenes historisches Urteil, sondern um Umkehr im Herzen der Theologie. Eine solche Umkehr war aus seiner Sicht unumgånglich. Es war seine tiefe Ûberzeugung, daû jeder Versuch einer theologischen und gesellschaftlichen Restauration nur einen Stausee bildet, in dem sich die Wassermassen sammeln, die eines Tages den Damm zerbrechen und sich einen verheerenden Weg bahnen wçrden. In der Einfçhrung der Vorlesung hatte er schon dargestellt, wie »das Problem der Gesellschaft« im vergangenen Jahrhundert heranwuchs. Die »Risse im Gebåude« zeigten sich schon damals in Europa. Das »Problem der Gesellschaft« staute sich auf hinter der »Scheidewand zwischen Natur und Geist, zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die zum Axiom im neunzehnten Jahr44. Noch am 9. Januar 1960 schreibt Iwand an H. Mçller und R. Mçller-Streisand, »daû wir heute in die damals nicht bewåltigte Situation nach dem Tode Hegels zurçckgeworfen sind« (BVP 146). 45. F. J. Stahl, Wider Bunsen, Berlin 1856.

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hundert wird«. 46 (¼) Die Theologie ist daher zur Umkehr gerufen, weil das Ausweichen vor den theologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der ersten Hålfte des 19. Jahrhunderts katastrophale Folgen gezeitigt hat. Die seither getrennten Welten des Glaubens und des Wissens sollen wieder aufeinander bezogen werden. Ein Zurçck gibt es zwar nicht, aber unter anderen Verhåltnissen ist die gleiche Herausforderung wieder ± noch immer ± da. Hier sieht Iwand also die Bedeutung des anderen Ansatzes bei Hegel, den die Theologie vom Worte Gottes her håtte aufnehmen sollen. Iwand plådiert fçr ein Erkennen und Wissen, das dem Glauben den Vorrang gibt, weil allein der Glaube auf das »Auûen« des richtenden und befreienden Wortes Gottes und damit auf die Wirklichkeit Gottes bezogen ist. In einem Vortrag »Glauben und Wissen« aus der Gættinger Zeit 47 gibt Iwand an, welche Bedeutung er der Kirchlichen Dogmatik Barths im Hinblick auf die ± auch Hegel gegençber ± notwendige Neufassung des Themas »Glauben und Wissen« als Wiedergewinnung der »theologischen Existenz heute« 48 und so auch eines offenen Verhåltnisses von Kirche und Gesellschaft beimiût: »Die Frage nach dem Thema von Glauben und Wissen stellen, (¼) hieûe sehen und begreifen, was sich faktisch in dem monumentalen Werk der Barthschen ­Kirchlichen Dogmatik¬ vollzieht ± und dessen Vollzug, 46. In einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1954 schreibt Iwand: »Restaurationen sind Anzeichen dafçr, daû die geistige Substanz einer Zeit verbraucht ist, sie vergolden die leeren Schalen einer erledigten Epoche und ersetzen das Thema der Freiheit durch das der Ordnung. (¼) Sie bereiten einen neuen Stoû nach vorn vor, indem sie noch einmal das Erbe der Vergangenheit umfassen und gegen ihren Willen die Unmæglichkeit erweisen, dahin zurçckzukehren« (Restauration, in: Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 1954, 870 f.). 47. Glauben und Wissen (Vortrag 1955), NW 1, 17-26 (vgl. fçr den Schluû dieses Vortrags jetzt die Corrigenda in der Neuauflage Gçtersloh 2000). H. Gollwitzer hat diesen Text als »Vortrag aus der Gættinger Zeit« ± also bis spåtestens 1952 ± vermutet, was darauf hinweist, daû er nicht im Zusammenhang mit der Bonner Vorlesung »Glauben und Wissen« (1955) entstanden ist (und daû also die von Gollwitzer selbst angebrachte Jahreszahl 1955 nicht stimmt). P.-P. Sånger hat die Vermutung geåuûert, dieser Text gehære ursprçnglich ins Hegel-Kapitel der Gættinger Vorlesung Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert hinein (Mitteilungen aus dem Archiv [Iwand-Archiv Beienrode], Nummer 3, Oktober 1993, 2-5). 48. Wie wesentlich dieses Anliegen fçr Iwand von Anfang an war, geht aus folgendem Passus in seinem Brief vom 15. April 1925 an R. Hermann hervor: »Die Vereinigung von Glauben und Wissen kænnte ich mein Berufsziel nennen, wenn man darunter die consequente Durchdringung der Lebensanschauung vom Standpunkt des Glaubens aus versteht, das Ernst-Machen mit der christlichen Verkçndigung fçr das Ganze der Weltanschauung« (NW 6, 93). Vgl. auch: Ûber den Verlust der theologischen Existenz heute, JK 14 (1953) 509-517.

IV. Iwands Vorlesung »Einfçhrung in d. gegenwårtige Lage d. syst. Theologie«

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wenn ich nicht irre, theologisch und wissenschaftlich zu den græûten Ereignissen gehært, die wir als gleichzeitige erleben, (¼) dogmatisches Denken also wird unumgånglich eine Restitution des Und zwischen Glauben und Wissen erforderlich machen, die Wiederherstellung dieser zu frçhzeitig abgebrochenen Brçcke, die Wiederaufnahme der Bewegung, die sich auf ihr vollzogen hat und vollzieht und die nach Maûgabe unseres Glaubens auch uns neu zu vollziehen aufgegeben ist. Man kann das auch so ausdrçcken, daû jene von Troeltsch so gepriesene Vorordnung der Ethik als Wissenschaft vor die Dogmatik ± jener Kunstgriff, den auch Schleiermacher anwandte, dem Richard Rothe und Wilhelm Herrmann fast erlagen ±, daû diese Vorordnung zu Ende ist, daû es darum und insofern auch nicht mehr heiûen darf: Gesetz und Evangelium, sondern beide unter einer Klammer, unter der Klammer der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in Jesus Christus stehen mçssen und werden.« 49

IV. Iwands Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« (Gættingen WS 1949/1950 und SS 1950) IV.1 Einfçhrung Wenn wir davon ausgehen, daû die Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« eine Fortsetzung der Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert« gewesen ist, dçrfen wir erwarten, daû Iwand in der Einfçhrung jener Vorlesung die Problematik, mit der er das vorige Semester beendet hat, wieder aufgreift. Das Kolleg »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert« war ja auf eine Erærterung von G. W. F. Hegel hinausgelaufen, weil dieser ± als einziger im 19. Jahrhundert ± sich geweigert hatte, Glauben und Wissen auf getrennte Welten zu verteilen; seine Auflæsung des Glaubens in ein Wissen bedeutete aber unvermeidlich die Preisgabe der kritischen Kraft des Wortes Gottes. Es verwundert denn auch nicht, daû Iwand in der Einfçhrung der anschlieûenden Vorlesung gerade in dieser Hinsicht die Bedeutung des neuen Ansatzes bei Karl Barth unterstreicht, da dessen Theologie so klar die grund49. NW 1, 22 f.

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legende Bedeutung des Wortes Gottes fçr Kirche und Gesellschaft im Kirchenkampf ± und auch in den Fragen der Umkehr und des Wiederaufbaus nach 1945! ± gezeigt hat. In der Einfçhrung stellt Iwand den spåteren Bultmann neben Barth als dessen negative Folie, um aber in der Vorlesung selbst Bultmanns frçhem Jesus-Buch eine im Grunde positive Besprechung zu widmen. Sicher hångt diese Hinfçhrung zum Thema mit der theologischen Diskussion jener Zeit zusammen, die von Bultmanns Entmythologisierungsprogramm beherrscht wurde. Nicht von ungefåhr wirft Iwand Bultmann eine Auflæsung des Glaubens in ein Verstehen vor 50 ± womit er bei ihm einen åhnlichen theologischen Grundfehler konstatiert wie bei Hegel! Daû Iwand eine Wende zwischen dem »jungen« und dem »alten« Bultmann feststellt, ist kennzeichnend fçr seine Sicht der zwanziger Jahre, seiner eigenen Studienzeit. Wie er diese Jahre nach dem ersten Weltkrieg bewertete, deutet er in der Einfçhrung so an: »Fortsetzung ist es also, was dieses Kolleg bezweckt. Fortsetzung jener ersten, nach dem ersten Weltkrieg unternommenen Bewegung, Wiederaufnahme des Marschtritts, in dem sie geschah, aber hoffentlich ein wenig wachsamer, ein wenig gemeinsamer, kirchlicher, praktischer ± mit denselben Augen, die gesehen haben, was wir nun eben sahen, mit den Ohren, die nicht vergessen haben, was einmal erst begeistert, dann verzweifelt in sie hineingeschrien hat ± Fortsetzung im Sinne dessen, daû eine neue Generation die Fackel çbernimmt, daû sie nicht der trågen und zåhen Restauration nachgibt, die heute als Versuchung çber ganz Europa hingeht, daû sie aber nun ihren Weg nach vorn macht« (230). Iwand hat die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts als eine Zeit groûer geistiger Blçte erlebt. 51 Gemeinsam in den vielen Aufbrçchen in Wissenschaft und Kunst war die Sehnsucht nach Lebensnåhe. Man wollte die in der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts entstandene Kluft zwischen Bewuûtsein und Wirklichkeit çberwinden und versuchte die Verbindung zwischen Leben und Denken, zwischen wissenschaftlicher Existenz und geschichtlichem Dasein, wiederherzustellen. 50. Vgl. auch NW 1, 200 ff. 51. Vgl. Die Liebe als Grund und Grenze der Freiheit, FH 6 (1951) 81 f. (= NWN 1, 195 f.); Ûber den Verlust der theologischen Existenz heute, JK 14 (1953) 510; Ûber das Verhåltnis von Theologie und Kirche, GA I, 202-213; Der Prinzipienstreit innerhalb der protestantischen Theologie, GA I, 222-229; Die Freiheit des Christen und die Unfreiheit des Willens, GA I, 247 f. Kritischer åuûert er sich aber in: Karl Barth zum 70. Geburtstag, JK 17 (1956) 202: Barmen »war die Frucht einer auûerordentlich glçcklichen, vielleicht allzu fræhlichen, allzu unbesorgten Zeit des Ausrottens und Neusåens, des Abreiûens und Neubauens«.

IV. Iwands Vorlesung »Einfçhrung in d. gegenwårtige Lage d. syst. Theologie«

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Was Iwand damals aber nicht durchschaute, war, daû die Lage nicht ohne Gefahr war ± die Lebensphilosophie ebnete nicht nur einem neuen Verhåltnis zur Wirklichkeit den Weg, sondern barg auch destruktive Tendenzen in sich. In der Vorlesung bemerkt Iwand dazu: »Alles Chaotische birgt zweierlei in sich, Untergang und Neuwerdung, Niederreiûen und Aufbauen. Nur wo das erste gewagt wird, kann das zweite getan werden« (350). Ohne Zweifel spiegelt sich in dieser Einschåtzung Iwands seine eigene Einstellung in jenen Jahren. Aber die neuen Ansåtze wurden jåh abgebrochen, und die negativen Tendenzen und Mæglichkeiten erlangten das Ûbergewicht ± »in ebenso kurzer Zeit« wurde dieser Frçhling »zertreten von den Stiefeln marschierender, sich das Denken grçndlich und methodisch abgewæhnender Lebewesen«. 52 Die geistige Situation nach dem ersten Weltkrieg unterscheidet sich also in Iwands Augen tiefgreifend von derjenigen nach dem zweiten Weltkrieg, und zwar so, daû damals in der Wissenschaft reaktionåre und restaurative Tendenzen nicht die Oberhand hatten, sondern alles offen und in Bewegung war ± wåhrend hingegen nach dem zweiten Weltkrieg die Tendenz vorherrschte, lautlos von dem Ort der eigenen Verantwortung davonzulaufen. Die Kluft zwischen Wissenschaft und Leben, die sich im 19. Jahrhundert so verhångnisvoll gezeigt hatte, wurde wiederhergestellt. Das war aber nicht eine Entwicklung, die sich isoliert in der Theologie oder im wissenschaftlichen Betrieb abspielte. Nein, die Trennung der Bereiche von Theologie bzw. Universitåt einerseits und Politik andererseits sollte nicht darçber hinwegtåuschen, daû die Bewegungen parallel verliefen und die stillschweigende Verabredung dahin ging, daû wiederum der Kurs eines Zeitalters abseits der Einheit von Glauben und Wissen ± Glauben, der das Wissen dazu befåhigte, fçr richtige »geistige Entscheidungen« 53 frei zu sein ± ablief. Im Blick auf diesen Zusammenhang bemerkt Iwand in seiner im Wintersemester 1950/1951 in Gættingen gehaltenen Vorlesung »Gesetz und Evangelium. Einfçhrung in die Theologie der Reformatoren«: »Es ist 52. Die Liebe als Grund und Grenze der Freiheit, 82 (= NWN 1, 196). Die Fortsetzung des Zitats lautet: »Es gibt nicht oft Zeiten, die so wie die unsrige handgreiflich und sichtbar durch Entscheidungen geformt sind, die, den sichtbaren vorausgehend, sich im Geistigen ereigneten. Was hernach kam, war alles nur Folge. Man hatte gewåhlt; was daraus folgte, geschah unter der Devise: ­Da habt ihr, was ihr wolltet.¬« 53. Vgl. H. J. Iwand, Geistige Entscheidungen lassen sich nicht vertagen, Blåtter fçr deutsche und internationale Politik 2 (1957) 381-387 (auch in: B. Klappert / U. Weidner, Schritte zum Frieden. Theologische Texte zu Frieden und Abrçstung, Wuppertal und Gladbeck 19831 , 159-166) und H. J. Iwand, Geistige Entscheidungen und die Politik, Blåtter fçr deutsche und internationale Politik 3 (1958) 56-64 (auch in: FO 159-174).

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ohne Frage das Glçck und die geschichtliche Græûe einer Zeit, wenn sie ihr Thema gefunden hat. Dann sind Wirklichkeit und Geist in Kontakt miteinander; es ist nicht mehr blindes Schicksal, was sich vollzieht, sondern die Entscheidungen sind bewuût und gewollt. (¼) Eine Zeit hingegen, die kein eigenes Thema hat, erschæpft sich in Entwçrfen und Reminiszenzen. Sie mag noch so exakt arbeiten, in Wahrheit besteht ihre Exaktheit darin, daû sie am toten Material arbeitet. Es ereignet sich nichts mehr in ihrer Mitte. Die Wissenschaft als solche, die Methode, hat çber den Inhalt, çber die metaphysische Realitåt, gesiegt.« 54 In der Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« fållt auf, daû Iwand sich mit fast jedem, dem er eine Besprechung widmet, wåhrend seines Studiums und der ersten Jahre in Kænigsberg in irgendeiner Weise auseinandergesetzt hat. Das gilt ohne Ausnahme bis hin zu dem Paragraphen çber Rudolf Bultmann; anschlieûend bespricht er dann die Bewegung, die sich nach etwa 1930 bis zu der eigenen Zeit vollzieht, wobei er auf E. Brunner, H. Vogel und K. Barth eingeht. Es fehlen im ersten Teil der Vorlesung aber auch Namen, die man hier sicher erwartet håtte, wobei an erster Stelle Rudolf Hermann zu nennen ist. Die Bedeutung Hermanns fçr Iwands theologische Entwicklung in seiner Studienzeit kann kaum çberschåtzt werden. Sie låût sich leicht dem einzigen bis heute erschienenen Briefband in Iwands Nachgelassenen Werken entnehmen, der ja ausschlieûlich seine Briefe an Rudolf Hermann enthålt. Kennzeichnend fçr das Verhåltnis zwischen diesen beiden ist, was Iwand ihm am 20. September 1926 schreibt, daû nåmlich seine Theologie nicht »zwei Våter« 55 hat. Daû Iwand in der Vorlesung an ihm vorbeigeht, ist um so auffallender, wenn wir in Betracht ziehen, daû er zweimal ein Wort von Hermann zitiert, ohne ihn mit Namen zu nennen. Wahrscheinlich ist diese Lçcke daraus zu erklåren, daû gerade in der Zeit, als im Kirchenkampf die Entscheidungen fielen, sich die Wege Iwands und Hermanns trennten und Iwand im Zusammenhang der Vorlesung aus Respekt vor seinem Lehrer seinen Namen nicht erwåhnt. Wenn wir uns dies alles vor Augen halten, kænnte sich auch hier der Gedanke einstellen, Iwand håtte die Auswahl seiner Gespråchspartner, was dieses Jahrhundert anbelangt, mehr oder weniger durch die Epoche des Dritten Reichs als terminus ad quem bestimmen und begrenzen lassen. Die Zeit von 1933 bis 1945 håtte ihn daran gehindert, gezielt zu forschen, und auch in den Jahren nach dem Krieg håtte sich daran nicht viel geån54. NW 4, 241 (Hervorhebung von Iwand). 55. NW 6, 123; vgl. auch 301 und 313 f., wo Iwand auf seine Studienjahre zurçckblickt.

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dert. Obgleich dies durchaus eine Rolle gespielt haben kann, bin ich dennoch der Auffassung, daû wir hier nicht den ausschlaggebenden Grund fçr die Beschrånkungen, die Iwand im Stoff vornimmt, suchen sollten. Gerade die Thematik »Våter und Sæhne« ± und insbesondere die Art und Weise, wie er mit ihr umgehen wollte ± drångte ihn tatsåchlich dazu, nach seinen eigenen Wurzeln zu fragen und çber den Weg, den er selbst gegangen war, Rechenschaft abzulegen. Wenn sich daher im Aufbau der Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Theologie« unverkennbar Iwands eigener Entwicklungsgang abzeichnet, so ist damit aber keineswegs gemeint, daû der Aufriû dieser Vorlesung durchweg autobiographisch geprågt ist; es sind ± das geht auch aus der ausfçhrlichen Einfçhrung hervor ± die theologischen Fragen, die eine Klårung verlangen. Es kann und darf nicht um eine Rechtfertigung des eigenen Weges gehen, sondern darum, die theologische Diskussion aus der Zeit der Weimarer Republik neu aufzugreifen und angesichts der neuen Fragen und Herausforderungen, vor die der Nationalsozialismus und namentlich die Deutschen Christen die protestantische Theologie gestellt hatten, fundamental korrigierend voranzutreiben. Dieser Aufgabe kann man nicht aus einer gesicherten Position heraus entgegentreten, sondern nur so, daû einer Rechenschaft ablegt çber den Weg, den er selbst im Gespråch mit anderen zurçckgelegt hat. Dieser Weg ± und das ist charakteristisch fçr Iwand ± war nicht einer, auf dem ein Theologe seine Gedanken ruhig entwickelt und ausbaut. Vielmehr suchte er intensiv nach einem »festen Punkt« inmitten der theologischen Diskussion dieser Zeit, und es war bereits die groûe Entdeckung seiner Habilitationsschrift 56 , daû beim jungen Luther Ansåtze zu finden sind, die in der theologischen Diskussion nach dem ersten Weltkrieg einen Weg zeigten. Thema dieses Buches war die Frage nach dem Zusammenhang von Christologie und Rechtfertigungslehre. Im Mittelpunkt stand fçr Iwand die Frage, wo der »neue Mensch« erscheint, weil und insofern das Evangelium den Menschen wirklich, d. h. rettend, erreicht. Das ist die innere Bewegung, die sowohl Iwands Denkweg in den zwanziger Jahren wie auch den Duktus dieser Vorlesung charakterisiert: die Frage nach dem Menschen. Es war eine Frage, die aus den Tiefen des Leidens laut geworden war. Am 22. Februar 1949 hielt Iwand einen Vortrag im Rahmen einer ækumenischen Flçchtlingstagung in Hamburg und bemerkte: »Das Un56. Rechtfertigungslehre und Christusglaube. Eine Untersuchung zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfången, Leipzig 19301 / Theologische Bçcherei 14, Mçnchen 19663 .

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heimliche ist, daû Menschen an Menschen ± Menschen, die im Moment die Macht haben, an Menschen, die ohnmåchtig sind ± so handeln. Der Glaube an Gott wird im Herzen des Menschen zerbrochen, indem der Glaube an den Menschen zerbrochen wird. Man tåusche sich nicht, es kann nur beides zusammen wiederhergestellt werden.« 57 Auf einem Gemeindetag mit Vertriebenen aus Ostpreuûen in Berlin im Jahre 1948 hatte Iwand an solche das Wort zu richten, die dort nach schrecklichen Erfahrungen kurz zuvor vollkommen verzweifelt und hoffnungslos eingetroffen waren. Mitten in der Aussichtslosigkeit stellt er die Frage, ob sie so weiterleben kænnen, ohne Glauben an das Gute im Menschen. »Es ist nicht schwer, zu hoffen, wenn es so aussieht, als ob alles gut wird. Aber das heiût hoffen: wenn nichts mehr zu sehen ist, wenn kein Ausweg mehr sichtbar ist. Ich glaube, Hoffen ist etwas ganz einfaches. Hoffen heiût: Ich rechne damit, daû Gott lebt.« 58 Es ist Luthers theologia crucis, die »erklårt«, wie Gott in der Zerrçttung und dem Zynismus doch die Hoffnung wieder aufflammen låût 59 . Von dieser Hoffnung auf den lebendigen Gott her wagt Iwand dann zu sagen: »Ich glaube an Gott, und ich glaube an das Gute im Menschen.« 60 Ein solcher Satz quillt im Jahre 1948 nicht aus einem natçrlichen Optimismus hervor ± wider besseres Wissen. In einer Weihnachtsmeditation aus dem Jahre 1950 sagt Iwand: »Man kann nicht hinfort an Gott glauben, ohne an die Menschen, an den Menschen im Menschen zu glauben. Wir verlieren unseren Glauben an Gott durch die Menschen (¼). Aber wir gewinnen unseren Glauben an die Menschen wieder durch Gott, durch sein wunderbares Ja zur Menschheit, das er in der Menschwerdung seines Sohnes gesprochen hat.« 61 Der Mensch kann tatsåchlich unmenschlich werden. Aber wer an der Humanitåt verzweifelt, verzweifelt an dem Gott, der Mensch geworden ist, um die Humanitåt zu retten. 62 Der Monolog unserer Existenz ist von Gott aus durchbrochen worden, zur Rettung der Humanitåt: um aus »stolzen Gættern« wahre Menschen zu machen.

57. Die religiæse Lage der Flçchtlinge, in: Nachrichten der Bekennenden Kirche 1949, Nr. 3-4, 13 (= FO 28). Hervorhebung von Iwand. 58. Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein (hg. vom »Hilfskomitee der evangelischen Deutschen aus Ost-Preuûen«), Berlin 1948, 8. 59. Vgl. H. J. Iwand, Theologia crucis, NW 2, 390 f. 60. Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein, 10. 61. Wunder der Weihnacht, Die Zeit V, 1950 (Nr. 51 vom 21. Dezember 1950), S. 1. 62. Vgl. Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein, 13 und: Kirche und Úffentlichkeit, NW 2, 22.

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IV.2 Der »lebendige Christus« und die Frage des Verhåltnisses von Glaube und Geschichte: W. Herrmann und M. Kåhler Nach der Einfçhrung skizziert Iwand zunåchst die Lage, wie wir sie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorfinden. Herrmann und Kåhler stehen als die »Groûvåter« am Eingang. Beide ± so betont Iwand ± stammen aus einem pietistischen Elternhaus, und beide haben in Auseinandersetzung mit der historischen Leben-Jesu-Forschung die Christologie als Soteriologie in den Mittelpunkt gerçckt. Herrmann, der Lehrer sowohl von Karl Barth wie auch von Rudolf Bultmann, zieht sich auf das »innere Leben Jesu« zurçck. Die Geschichte gibt dieser moderne Pietist preis, um sich auf das fçr alle wissenschaftliche Bemçhungen unzugångliche persænliche Angesprochenwerden durch Jesus Christus zu konzentrieren. Daû Herrmann Jesus Christus nicht der wissenschaftlichen Forschung ausliefert, lobt Iwand an ihm; das Problem liegt aber darin, daû er sich innerhalb der Koordinaten, die die Wissenschaft ihm diktiert, hat einsperren lassen. Von Jesus Christus gilt aber, so lautet die Kritik Iwands: »Das ­innere Leben¬ ist er selbst in seiner Freiheit« (282). Bei Kåhler gibt es viele Ansåtze, weswegen Iwand sich mit der Entscheidung schwertat, an welcher Stelle er ihn besprechen sollte. Einige Male stellt er eine Besprechung von Kåhler in Aussicht, ohne aber sein Versprechen einzulæsen. Iwand hatte sich schon vorher ± in der Vorlesung çber das 19. Jahrhundert ± mit ihm auseinandergesetzt, und zwar in dem Abschnitt çber das Gewissen. Nun råumt er ihm seinen Platz am Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Im Vergleich mit anderen Teilen der Vorlesung sind Iwands Ausfçhrungen zu Kåhler bruchstçckhaft; dieser Abschnitt ist kurz und vornehmlich referierend; zur Christologie Kåhlers sind nur Andeutungen in Stichworten erhalten. Grund ist sicher nicht eine Geringschåtzung Kåhlers, denn Iwand schåtzt ihn hoch, als systematischen und biblischen Theologen, als Lehrer auch von R. Hermann und J. Schniewind. Eher ist es die Schwierigkeit, seinen eigenen Ort Kåhler gegençber zu bestimmen, was wohl wieder damit zusammenhångt, daû Iwand sein Verhåltnis zu R. Hermann offenbar nicht thematisieren wollte. Obgleich Kåhler çber den »biblischen, geschichtlichen Christus« ganz anders gesprochen hat als Herrmann, rçcken bei ihm Zeugnis und Ûberzeugung doch auch sehr nahe zusammen, und deswegen kann die Christologie nicht zur Entfaltung kommen, wie es der Bibel und der Reformation gemåû wåre und es das 19. Jahrhundert brauchte. Dennoch bildet Kåhler im Luthertum des 19. Jahrhunderts in politischer Hinsicht in gewissem Sinne eine Ausnahme. Wo Jesus Christus bei W. Herrmann in der Inner-

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lichkeit eingesperrt ist, und ± weil die Ethik bei ihm nicht aus der Kraft des Auferstandenen schæpfen kann ± es seinem Jesusbild an Kraft mangelt, um kritisch in die Geschichte hinein wirken zu kænnen, bietet Kåhler mehr: Jesus Christus ist der Lebendige, der verkçndigt wird und zu einer kritischen, »prophetischen« Haltung im politischem Bereich befåhigt 63 .

IV.3 Die Religionssoziologie und das Ende des Neuprotestantismus Unter dieser Ûberschrift widmet Iwand Ernst Troelsch und Max Weber, die zusammen fçr einen neuen wissenschaftlichen Ansatz in der Behandlung der sozialen Wirklichkeit der Kirche und des Glaubens stehen, eine gleichermaûen ausfçhrliche wie tiefschçrfende Darstellung. Bereits frçh hatte Iwand sich mit diesen beiden intensiv auseinandergesetzt, wie aus seinen Briefen an R. Hermann hervorgeht. Dabei fållt vor allem auf, wie unterschiedlich er sie bewertet. Am 11. Dezember 1924 entfåhrt Iwand ein Stoûseufzer in bezug auf Troeltschs Historismus: »wie mager ist der Gedankeninhalt« 64 . Drei Jahre spåter ± am 21. November 1927 ± schreibt Iwand, er habe Spaû am Kolleglesen, sei aber »leider (¼) noch bei Troeltsch«, und »wunder(e) sich da doch sehr çber die Dçrftigkeit der Theorien« 65 . 1935 bewertet Iwand »Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte« kurz als »Ernst Troeltschs unselige Schrift« 66 . Sein Urteil çber Max Weber fållt von Anfang an vællig anders aus. Am 20. November 1921 schreibt er an R. Hermann: »Auch bekam ich Weber, Religionssoziologie I, aber die Einleitung, die ich las, ist ja schon so phånomenal, daû ich wohl die 2 anderen Bånde nachbestellen werde.« 67 In der Vorlesung ist Iwands unterschiedliche Beurteilung beider Denker wåhrend seiner Studienzeit noch klar wiederzuerkennen. Mit alledem ist aber nicht behauptet, Iwands Urteil çber Troeltsch sei nur abwertend gewesen. In seiner im Sommersemester 1951 gehaltenen Vorlesung »Kirche und Gesellschaft« lobt er »Die Soziallehren der christli63. Vgl. E. Kåhler, Eschatologisches Denken und politisches Urteil bei Martin Kåhler, KidZ 18 (1963) 340-343. E. Kåhler hat darauf hingewiesen, »daû beinahe alle Verantwortlichen der ålteren Generation« auf der Bekenntnissynode von Barmen 1934 Schçler Martin Kåhlers waren (in der Wiedergabe bei H. J. Kraus, Art. M. Kåhler, TRE Bd. 17, Berlin/New York 1988, 514). 64. NW 6, 90. 65. NW 6, 163. 66. Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen. Antwort auf W. Hauers »Deutsche Gottschau«, EvTh 2 (1935) 182. 67. NW 6, 47.

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chen Kirchen und Gruppen« 68 als eine »ungewæhnliche Leistung«, als ein »ungeheuer gedankenreiche(s)«, »groûe(s) und wichtige(s) Buch«, eine »Arbeit von ungeheurer Tragweite«, dessen »Wert (¼) ein auûerordentlicher« sei. 69 Iwands negative Bewertung von Ernst Troeltsch im Rahmen der Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« hångt vor allem damit zusammen, daû dieser sich noch immer innerhalb der Koordinaten bewegte, wie sie das 19. Jahrhundert abgesteckt hatte. Grundzug seines Denkens ist eine groûe »Bejahung des Idealismus«: die Bewegung ist nicht, daû Gott Mensch wird, sondern daû der Mensch in einem von Gott ergriffenen persænlichen Leben sich bemçht, die Kluft zwischen der hæheren und der niederen Welt zu çberbrçcken. In der Geschichte stoûen wir nur auf Menschen, nicht aber auf Gott. »Freilich bleibt alles Gott-bezogen, freilich ist alles ± gerade in den lebendigsten Brennpunkten von Geschichte ± nach oben lodernde Flamme, und Jesus ist ein besonders helles Feuer, das immer noch wårmt und immer noch unseren Weg erleuchtet, aber das ­Absolute¬ bleibt auch hier, gerade hier jenseitig« (319). »Gott ist das Ûberweltliche ± und Jesus ist nur sein, wenn auch bisher unçberbotener, wenn auch fçr uns letztgçltiger, aber doch nach seiner geschichtlichen Stellung irdisch-menschlich bedingter ­Prophet¬. Das sagt Troeltsch zwar nicht, aber das ist das unvermeidliche Resultat, das der Historismus uns modernen Menschen aufnætigt« (318). Troeltsch hatte methodisch ausgeblendet, daû Gott in Christus in diese Geschichte eingeht, daû der Gott dort der Gott hier ist. Troeltsch' Theologie bestimmte seine Annåherung an das 19. Jahrhundert maûgeblich. Bei ihm gleicht die »Geistesgeschichte der abendlåndischen Welt« einem »Eisenbahnplan, bei dem alle Linien, Kreuzungen, Haupt- und Nebenstrecken çbersichtlich eingezeichnet sind ± aber man sieht keinen Zug wirklich fahren, und vor allem man sieht den denkenden, dies alles çberdenkenden Ernst Troeltsch in keinen Zug einsteigen. Es bleibt die Frage, die freilich an das ganze Gelehrtengeschlecht dieser Epoche zu richten wåre, ob diese Art von Geistesgeschichte nicht dem Schatten im Totenreiche åhnlich ist, ob hier nicht eine der Wurzeln liegt fçr den nun auch ethischen, auch auf die Frage von Gut und Bæse, von Recht und Unrecht çbergreifenden Relativismus, der diese ganze Generation dann so wehrlos machte, als sich allen ihren Erwartungen zum Trotz nun mitten aus dieser geistigen Welt ein sehr ungeistiger, barbarischer Typ erhob, der 68. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften, Bd. I, Tçbingen 19121 , Aalen 19773 . 69. NWN 1, 85, 84, 78, 85, 84.

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diesen Skeptizismus wie Spinnengewebe zerriû« (308).Ohne daû Iwand es ausdrçcklich thematisiert, kann man sagen, daû es aus seiner Sicht mit der gegenlåufigen Richtung des Theologisierens von Troeltsch und Barth zusammenhångt, daû ihre Darstellungen des 19. Jahrhunderts in bestimmter Hinsicht Gegenpole sind. Barth ± so hatte Iwand schon vorher betont ± stehe mit innerer Anteilnahme bei den Menschen, in ihrem Suchen und Fragen, weil er von der Menschwerdung Gottes her dachte und von daher einen neuen Weg, einen Weg nach vorn, wies. Die kontråre Bewertung dieser beiden Darstellungen der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts verråt noch einmal, wie sehr die Frage nach einem theologischen Neuanfang von der Umkehr her Iwand in diesen Nachkriegsjahren umtrieb und seine Urteile bestimmte. Max Weber ± »einer der wirklich genialen Menschen unserer Epoche« 70 ± dagegen verabschiedet sich von dem Kulturprotestantismus, betrachtet sich als Agnostiker, und stirbt ohne jegliche Øuûerung von Religiositåt. Wo Troeltsch theoretisiert çber den »modernen Menschen«, ist Weber »einer der modernsten unter den Menschen seiner Zeit, auch darin, daû er sich jeden Sinnes fçr Religion bar wuûte«. Max Weber hat das ethische Christentum »vollendet«, dadurch daû er ohne christliche Hemmungen und Halbheiten den Atheismus der modernen Wissenschaft repråsentiert und befçrwortet. Die Hypothese »Gott« kann gestrichen werden. Weber ist damit der legitime Fortsetzer des ethischen Protestantismus, meint Iwand, und er zieht nur mit intellektueller Redlichkeit diejenigen Konsequenzen aus Nietzsches Satz vom Tode Gottes, vor denen das 19. Jahrhundert zurçckscheute, aber augenscheinlich ohne dessen Leidenschaft. Er hat in seiner wissenschaftlichen Methode vollen Ernst damit gemacht, daû Gott tot ist und daû wir nur die menschlichen Gottesvorstellungen wahrnehmen und untersuchen kænnen. Die Tatsache, daû Weber ein Auge fçr die Einwirkung der Bibel auf unsere Kultur und ein Empfinden fçr den Verlust des »Geistes« in der kapitalistischen Phase hat, steht damit nicht im Widerspruch. Daû Weber eine Ahnung davon hatte, was dies beinhaltet ± und nicht, wie Troeltsch, diesen Verlust dadurch çbertçncht, daû er das Christentum als Kulturprotestantismus, als Bindemittel und Schmierstoff der abendlåndischen Kultur traktiert ±, hångt nach Iwands Auffassung damit zusammen, daû er sich çber Jesus ausschweigt. Jeder glaubt, das Nætige çber das »innere Leben« Jesu zu wissen ± aber Weber schweigt. Iwand be-

70. H. J. Iwand, Der Wandel der Berufsauffassung in der Reformation und in der Neuzeit, JK 14 (1953) 567.

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wertet das positiv, als Zeichen wissenschaftlicher Zurçckhaltung, wie auch aus seiner Besprechung von Bultmanns Jesusbuch hervorgeht. Die Kehrseite zu Webers wissenschaftlicher Zurçckhaltung ist seine Anerkennung, daû die Wurzeln der modernen soziologischen Methode dogmatischer Art sind. Das ist in Iwands Augen kennzeichnend fçr den Unterschied zwischen Weber und Troeltsch. Troeltsch bewegt sich noch im Denken des 19. Jahrhunderts, und das heiût auch: er geht von der traditionellen Folge von Gesetz und Evangelium aus und trennt Dogmatik und Ethik. In ethischer Hinsicht ist er daher Relativist, und das machte seine Generation wehrlos in dem Augenblick, als eine Ideologie auftrat, die keine Neutralitåt duldete. Weber dagegen ist sich bewuût, daû Dogmatik immer Ethik impliziert. Solche Beobachtungen Iwands zeigen, daû das Kernthema seiner Vorlesung »Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert« noch immer pråsent ist. Es ist bedauernswert, daû Weber, als eine neue Zeit ± nach dem ersten Weltkrieg ± eine Neuorientierung verlangte, selber nicht imstande war, darauf einzugehen. Zeigt dies nicht, daû Nçchternheit und intellektuelle Rechtschaffenheit schon eine Entzauberung der Welt im Sinne des ersten Gebots zur Voraussetzung haben mçssen? 71 71. In seinem Vortrag »Das Gewissen und das æffentliche Leben« ± wahrscheinlich auf das Jahr 1948 zu datieren ± bemerkt Iwand: »Max Weber, der groûe Kulturphilosoph und Soziologe, hat das Wort von der Entzauberung der Welt geprågt und darin das Schicksal der modernen Kultur gesehen. Er hat gemeint, daû die Entzauberung der Welt eine Folge der rationalen Kultur sei, daû sie das eigentliche Vermåchtnis des Abendlandes bedeute, daû sowohl Kapitalismus wie Sozialismus Entwicklungsstadien im gesellschaftlichen Prozeû einer solchen Rationalisierung wåren und daû uns nichts anderes çbrig bleibe, als zu diesem Prozeû ja zu sagen und die mythische Welt ± worunter er auch den Glauben an Gott und seine Offenbarung faûte ± wie einen Kindheitstraum zu begraben. Ob er wohl heute noch so denken wçrde? War nicht schon sein letzter Vortrag çber den Beruf der Wissenschaft, in dem er die studentische Jugend zur Forschung aufzurufen sucht ± auf dem Hintergrunde eines metaphysischen Agnostizismus ±, ein verzweifelter Versuch, den Mythos abzuwehren, der nach dem ersten Weltkrieg wie eine neue, unbekannte Græûe Eintritt in den Raum des æffentlichen Lebens verlangte? Ist es nicht eine seltsame Sache, daû eine so durch und durch rationale Zivilisation wie die unsrige auf einmal ± wie çber Nacht ± sich çberdeckt sieht von mythischen Vorstellungen, die sich wie ein Nebel çber die ehedem noch so klare und offene Landschaft legen? Die rationale Kultur schçtzt uns nicht vor derartigen Einbrçchen. Erst wo immer die Offenbarung des lebendigen Gottes zu ihrem æffentlichen Recht gelangt, da vollzieht sich in Wahrheit jene Entzauberung der Welt und hat sie sich vollzogen, långst ehe wir in die Epoche der rationalen Kultur eingetreten sind. Die rationale Kultur ist nicht die Ursache sondern die Folge solcher Entzauberung, sie ist nur mæglich, solange die ratio, die menschliche Vernunft, die ­Entzauberung¬ nicht auf die Offenbarung selbst anwendet, womit sie die Voraussetzung ihrer eigenen Geltung aufhebt. Denn indem die ­Entzauberung¬ auf die Offenbarung des lebendigen Gottes angewandt wird,

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IV.4 Die Krise der Wissenschaft und das »Weltbild der Zukunft« Nachdem Iwand anhand von Max Weber die Herausforderung der modernen Wissenschaft gezeichnet hat, bespricht er diejenigen Bewegungen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg gespçrt haben, wie sehr die Theologie in festgefahrene Gleise geraten war, und zwar an erster Stelle Karl Heim 72 . Heim gehært hierher, wie auch der nahtlose Anschluû an die Behandlung Webers zeigt. Er fasziniert Iwand, weil er nicht auf dem Rçckzug ist, nicht versucht, einen Raum fçr den Glauben auszusparen, sondern sich mitten in die Diskussion der Zeit hineinstellt und ihre innere Problematik aufzeigt ± um dann religionsphilosophisch zu erærtern, ob man die richtigen Fragen stellt. Er ist in seiner frçhen Schrift »Das Weltbild der Zukunft« ein Beispiel dafçr, wie man in »intellektueller Rechtschaffenheit« Theologie treiben kann, weil er nicht bei den Schwachstellen im modernen Denken ansetzt, sondern dieses selbst auf seine Haltbarkeit prçft. Die Flut des wissenschaftlichen Denkens hatte alle idealistisch geprågte Theologie gezwungen, sich auf immer hæhere Ufer zurçckzuziehen. Heim bereitet dem ein Ende und begibt sich mitten in die wissenschaftliche Diskussion hinein, um dort die grundlegenden Fragen zu stellen. Was fçr Weber als modernen Denker par excellence Ausgangspunkt war ± die endgçltige Absage an jedwede idealistische Apologetik ±, findet bei Heim Anklang. Er sieht den Atheismus der modernen Wissenschaft genau wie Weber, und er stellt die berechtigte Frage, ob nicht die Wahl eines anderen Paradigmas fållig ist. Das Problem ist dabei, daû Heim diese Frage formal zu meistern versucht, getrennt von der inhaltlich-dogmatischen Frage, denn das zwingt ihn, an anderer Stelle als in der Theologie vor Anker zu gehen ± und zwar in seinem Fall beim Personalismus. Das ist der Unterschied im Vergleich wird dieser ja im Grunde mit den stummen Gætzen gleichgesetzt und damit wird eben wieder jener Schritt vollzogen, von dem wir bereits sprachen ± wir haben damit den Schlçssel der Erkenntnis preisgegeben, der uns gegeben ist, um den, der wahrhaft Gott ist, zu unterscheiden von den Gætzen, die nichts sind« (NW 2, 150 f.; Hervorhebung von Iwand; vgl. NWN 1, 259). 72. Iwand kann æfters theologische Aufbrçche in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in einem Atemzug erwåhnen, die er als unterschwellig verwandt betrachtet: Karl Heim, Das Weltbild der Zukunft; A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede; und J. Fikkers Veræffentlichung von Luthers Vorlesung çber den Ræmerbrief 1515/1516. So stellt er z. B. in der hier abgedruckten Vorlesung Schweitzer und Heim nebeneinander. Ende der fçnfziger Jahre ± in seinem Vortrag »Der Prinzipienstreit innerhalb der protestantischen Theologie« (GA I, 222-226) ± listet er Schweitzers »Von Reimarus zu Wrede« und Fickers Veræffentlichung von Luthers Ræmerbrief-Vorlesung 1515/1516 als parallele theologische Ereignisse auf.

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zur Reformation. Heim ist ein Beispiel dafçr, daû die Úffnung und das Flottmachen eines festgefahrenen Denkens von auûen her geschehen muû, also nicht von der Wissenschaft, sondern von einer Theologie her, die das erste Gebot anerkennt und sich auf das Auûen des Wortes Gottes bezogen weiû. Auffallend und kennzeichnend ist, daû auch in diesem Buch ± wie bei Max Weber ± Jesus nicht vorkommt. Damit hångt es in Iwands Augen wohl zusammen, daû, wenn Heim den Rubikon zwischen der Philosophie und der Theologie çberschreitet, das nicht eine Theologie ergibt, die ausgestattet ist mit der Kraft, die das 20. Jahrhundert brauchte. Heims theologische Entwicklung zeigt, daû ein Biblizismus oft steckenbleibt in der Erfahrung und nicht zum Dogma als Weltbild vorstæût, als Ausdruck dafçr, daû Jesus Christus in der Gestalt des Wortes unter uns getreten ist. Damit ist Heim fçr Iwand aber nicht erledigt. Typisch fçr Iwands Umgang mit anderen Theologen ± wie fçr denjenigen Barths ± ist der Respekt und auch der immer neue Versuch, andere Mæglichkeiten zu entdecken. So fragt er, ob das, was Heim in einer spåteren Phase in den Mittelpunkt rçckt ± Jesus Christus als eine Gestalt in der Zeit, die sich als alles beherrschendes Geheimnis der Zeit pråsentiert ±, nicht im dogmatischen Werk Karl Barths seine Erfçllung und Darstellung gefunden hat. Liefert dieser ± so fragt Iwand ± nicht die »apologetische« (!) Arbeit, fçr die Heim die negativen Bedingungen geschaffen hat?!

IV.5 Ende und Neuanfang im Zuge der Leben-Jesu-Forschung Von einer ganz anderen Warte her tut Albert Schweitzer auf dem Feld der Theologie ± ungefåhr gleichzeitig mit Heim! ± etwas Øhnliches, wie dieser auf dem Gebiet der Philosophie versucht hat ± wenn auch mit dem Unterschied, daû bei ihm Jesus Christus im Zentrum steht. Schweitzer hat gesehen, daû die ganze Leben-Jesu-Forschung bei all ihrer Kritik an der orthodoxen Theologie diese eine Voraussetzung der Theologie des 19. Jahrhunderts teilte, daû sie nåmlich versuchte, den »historischen Jesus« in den Rahmen ihrer Denk- und Lebenswelt einzupassen. Aus wissenschaftlichen Grçnden erteilt Schweitzer dieser Methode eine Absage und legt so die Sicht auf die Fremdheit des Jesus von Nazareth frei. Einerseits konfrontiert er mit Hilfe einer Methode, die strukturell derjenigen Max Webers verwandt ist, die Leben-Jesu-Forschung mit ihrer Voreingenommenheit, andererseits erinnert er Iwand aber auch an Nietzsche, und zwar in dem Sinne, daû das Negative, der Abbau, bei ihm klarer ist als das, was

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er positiv vor Augen hat. Schweitzer hat aber aus seiner Sicht da aufgehært, wo er theologisch håtte weitergehen mçssen. Denn: »Der Zerfall des biblischen Offenbarungsbegriffs und der Rçckzug auf den historischen Jesus ± beides hångt offenbar miteinander zusammen« (411). Die Leben-Jesu-Forschung hatte sich ja auch erst entfalten kænnen, als der Zwei-Naturen-Lehre der Abschied erteilt worden war. Man strich die Gottheit Jesu, war aber blind dafçr, daû das Mensch-Sein Jesu ebensosehr ein Glaubensartikel ist. 73 So ist »in der Leben-Jesu-Forschung (das hat Schweitzer noch nicht gesehen) (¼) der Schatten des Antichrist gewachsen, groû und tief und bewegend ± wann wird er sich wie eine Nacht çber das geistige Gelånde legen, in dem wir uns bewegen?« (390) Nicht långer hieû es: »Der Logos wurde Fleisch (sarx) (Joh 1,14), sondern umgekehrt: Die Sarx wurde Logos, wurde Geist!« (390) Man spçrt hier wieder, daû Iwand in dieser Vorlesung nach den theologischen Wurzeln der Deutschen Christen auf der Suche war, und wo er sie zu finden meinte! Der Handschuh, den Schweitzer der neutestamentlichen Wissenschaft hingeworfen hatte, ist vom jungen Rudolf Bultmann in seinem Bçchlein »Jesus« ± Iwand hatte seine Vorlesung çber das »Leben Jesu« 1919 in Breslau gehært 74 ± aufgenommen worden. Es ist keine Øuûerung Iwands aus dieser Zeit erhalten geblieben, der man entnehmen kænnte, inwiefern Bult73. Vgl. H. J. Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, NWN 2, 155 f.: »Die bçrgerliche Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts glaubte, unter Preisgabe der christologischen Dogmen Jesus als das Vorbild und Urbild des sittlichen Menschen retten zu kænnen: Jesus sei der gute Mensch! Sie meinte, indem man die Dogmatik preisgab, Jesus im Raume der Ethik vor der Øchtung schçtzen zu kænnen. Sie wuûte nicht, daû er geåchtet werden muû! Sie schåmte sich des Kreuzes, sie meinte, Jesus wenigstens im Ethischen idealisieren zu kænnen. Sie hoffte, die moderne Welt wçrde, wenn man ihr erst einmal das Dogma geopfert håtte, mit der Verfolgung des Jesus von Nazareth da haltmachen, wo es um ihre eigensten Ideale, um das Gute, die Idee des sittlichen Menschen ging. Die ganze liberale Leben-JesuBewegung war, im Zusammenhang mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen, eine Rçckzugsbewegung. Es war ein letzter Versuch, mit der modernen Welt, das heiût ja auch mit der wissenschaftlichen Welt, einen Frieden zu schlieûen unter der Formel, daû das Christentum die hæchsten sittlichen Werte der ganzen Menschheit sicherstelle und daû Jesus der als geschichtliche Person vor uns stehende Garant fçr die Sinnhaftigkeit des sittlichen Denkens sei. Es sind keine historischen Ergebnisse, die diese Forschung dann in ihrer Darstellung des Lebens Jesu zeitigt, sondern die historischen Ergebnisse sind Folgen dieses dogmatischen Vorverståndnisses, dieses Verrats Jesu an der Humanitåt. Die beiden furchtbaren Kriege, die sich zu Weltkriegen auswuchsen, haben den Traum der theologischen Ethizisten zerbrochen. Nicht mehr nur die Idee Gottes, auch die Idee des Menschen wurde ihres Glanzes, ihrer Glaubwçrdigkeit beraubt.« 74. Vgl. J. Seim, a. a. O., 14.

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mann ihn damals beindruckt hat; 1929, als Bultmann unter den Einfluû Martin Heideggers geraten ist und dessen Philosophie als Grundlage fçr die christliche Verkçndigung nimmt, bemerkt Iwand, daû Bultmann in seiner Suche nach dem »historischen Jesus« »immer nur seinem eigenen Schatten« begegnet 75 . Zeitlich dazwischen liegt Bultmanns Jesus-Buch, das wohl aus der von Iwand gehærten Vorlesung hervorgegangen ist. Da war also in Iwands Augen alles noch offen. In seiner Einfçhrung hat Iwand Bultmann vorgeworfen, er lande bei der »natçrlichen Theologie« ± hier greift er çber den »spåteren Bultmann« hin auf den Anfang zurçck, und er ruft ein Bild dessen auf, das auch aus seinem frçhen Entwurf håtte hervorgehen kænnen. Es sind auch hier wieder die zwanziger Jahre, die in seinen Augen in geistiger Hinsicht so fruchtbar und voller Bewegung waren! Trotz seiner Kritik an Bultmann ist dessen »Jesus« nach Iwand »vielleicht die geschlossenste und in ihrer Art schænste Leistung, die Bultmann vorgelegt hat« (391). Es ist das Buch, dessen Verarbeitung in der Theologie nach Iwands Ansicht noch aussteht, weil Bultmann dort ansetzt, wo die radikale Skepsis und auch Albert Schweitzer haltgemacht hatten: beim Traditionsgut der åltesten palåstinischen christlichen Gemeinde. Er versteht Jesus von der Verkçndigung her. Innerhalb dieses Rahmens versucht Bultmann die Gleichzeitigkeit zwischen Jesus und uns wiederherzustellen. Er befragt die Geschichte und ist bereit, auf sie als eine Autoritåt zu hæren. Er konstruiert nicht angeblich voraussetzungslos einen »historischen Jesus«, als Verkærperung unserer theologischen Gedanken oder ethischen Ideale ± ein Bild des Menschen so wie dieser sich zu sein tråumt ±, sondern dieses Buch ist die Anerkennung dessen, daû Jesus der Lebendige ist, der quer durch unsere historistischen Koordinaten hindurch uns zur Entscheidung drångt. Dieser Jesus geht uns unbedingt an, denn wir sind als Menschen schon gezeichnet und bestimmt, ehe wir uns entscheiden. Er nagelt uns fest auf das Jetzt und Hier und stellt uns vor die unentrinnbare Entscheidung, anzuerkennen, daû es die letzte Stunde ist. Die Frage ist aber: Wie sieht die Kategorie der Entscheidung aus? Ist die Verkçndigung Jesu Christi etwa noch mehr und anders als die prophetische Verkçndigung des Alten Testaments? Bultmann spitzt alles auf das Geheimnis meiner Existenz zu und thematisiert nicht das Geheimnis der Existenz Christi. Fehlt bei Bultmann nicht der Inhalt der Entscheidung oder: die Antwort auf die Frage, worauf die Entscheidung bezogen ist? Spielt hier nicht die falsche Antithese zwischen Eschatologie im Sinne einer existentiellen Entscheidung und Eschatologie als inhaltlich gefaûtes 75. NW 6, 183.

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Nachwort

Weltbild eine entscheidende Rolle? »Darum kçndigt sich hier bereits das kçnftige methodische Programm an: Entmythologisierung der neutestamentlichen Botschaft im Sinne jener existentiellen Entscheidung!« (396) Das eigentliche Problem der Christologie bleibt bei Bultmann also ungelæst. Er stellt es so dar, als sei die entscheidende theologische Frage die der Gleichzeitigkeit ± in existentiellem Sinn ± zwischen Christus und uns. Iwand aber meint, daû es so zu formal gedacht sei ± es handelt sich vielmehr um das Zugleich-Sçnder-und-Gerechter-Sein. Zur selben Zeit, als Bultmann sein Buch »Jesus« schrieb, hatte auch Iwand sich mit diesen Fragen beschåftigt und die Gleichzeitigkeit von Christus und den Seinen sachlich und existentiell zugleich in der Reziprozitåt zwischen Rechtfertigungslehre und Christusglaube gefunden. 76 Die zentrale These seiner Habilitationsschrift ging dahin, daû wir mit einer nur formalen Christologie nicht auskommen. Vergebung kann nicht ohne Genugtuung am Kreuz geschehen ± damit schlieût Iwand seine Auseinandersetzung mit diesem Buch ab.

IV.6 Die Christologie und die Frage der Menschwerdung des Menschen Nachdem Iwand im vorigen Kapitel schon çber die Zeit der zwanziger Jahre auf den Bultmann des Entmythologisierungsprogramms hinausgeblickt hat, stæût er in diesem Kapitel hindurch zu der Diskussion, wie sie Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Gange war. Er bezieht sich auf zwei christologische Entwçrfe, die die Herausforderung, wie Albert Schweitzer sie der Theologie aufgegeben hatte, anders zu beantworten versuchten, als es Rudolf Bultmann letztlich getan hatte. Auch hier ist die zentrale und leitende Frage wieder: Inwiefern gelingt es, dem MenschSein Jesu von Nazareth theologisch gerecht zu werden, dadurch daû man anerkennt, daû es nicht weniger ein Glaubensartikel ist als sein Gott-Sein. Jesus Christus ist ja nicht nur die Offenbarung Gottes, sondern auch diejenige des Menschen. 77 Zuerst pråsentiert er Emil Brunners Buch »Der Mittler«, das 1927 in erster Auflage erschienen war und von Iwand gekennzeichnet wird als ein »aufgerichtetes Zeichen« 78 in jener Zeit. Brunner setzt seine Christologie 76. H. J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube (Anm. 55). 77. Das ist auch das zentrale Thema von Iwands Christologie; vgl. Eberhard Lempp und Edgar Thaidigsmann, Nachwort, NWN 2, 503. 78. PM I, 428.

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nicht ± wie die Leben-Jesu-Forschung ± beim Menschen Jesus an, sondern bei der Inkarnation. Er sucht nicht primår das Menschliche im Gættlichen, sondern das Gættliche im Menschlichen. 79 Jesus Christus in seiner analogielosen Einmaligkeit ist der Mittler, den wir unbedingt brauchen, denn es gibt keine unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott. Er verkçndigt nicht nur das Wort Gottes, sondern er ist es als Person. An der Stelle, wo wir die sçndige Person haben, hat Jesus die gættliche Logosperson. Brunner lehrt also, daû Christus wohl die menschliche Natur, aber nicht die menschliche Person angenommen hat. Iwand meint dazu: »Hier bleibt freilich eine Frage: Wird damit nicht wieder der Glaube gånzlich auf die Gottheit in Jesus bezogen? Und auf die Menschheit nur, insofern sie eben an der Gottheit, d. h. sçndlos ist. (¼) Was aber heiût dann: ­wahrer Mensch¬ ??!« (416) Brunner wehrt sich gegen den Humanismus des 19. Jahrhunderts, weil dieser »Humanitåt ohne Divinitåt« war. Wenn er allen Akzent auf das Subjekt ± ho logos ± legt, çbersieht er damit nicht die brennende Frage, ob und wie das Mittlertum Jesu Christi auch auf das Menschsein bezogen ist? Es ist çbrigens nach Iwand auch die Schwåche der altkirchlichen Christologie, daû sie nicht zu artikulieren imstande war, was das Menschsein Jesu Christi bedeutet. Bei Luther ± immer wieder verweist Iwand auf seine Auslegung von Psalm 5! ± war es anders. Nach ihm offenbart sich uns nicht nur die Gottheit in Jesus Christus, sondern auch und ebenso die Menschheit. Es stellt sich in der Begegnung mit den Reformatoren heraus, daû wir in der Anthropologie seit der Reformation aus ganz anderen Quellen getrunken haben ± daû die Christologie in Gefahr ist, ein Teil der Anthropologie zu werden! Bedeutet die neuprotestantische Fassung des Glaubens an Christus nicht etwa, daû Gott uns in unserem Glauben an uns selbst, an unsere »hæhere Bestimmung« recht gibt? War das nicht auch der Idealismus eines Troeltsch?! Die Reformation aber hatte gemeint, es ginge umgekehrt darum, Gott gegen uns selbst recht zu geben. Das zweite Buch ist mehr als zwanzig Jahre nach Brunners »Der Mittler« und nach dem zweiten Weltkrieg erschienen: die Christologie Heinrich Vogels 80 . In Iwands Augen »reicht« dies Buch im Hinblick auf die zentrale theologische Frage »bereits (¼) sehr viel weiter« 81 , weil Vogel hervorhebt, daû das »wirkliche« und das »wahre« Menschsein nur in Jesus Christus zusammenfallen. Er bricht mit dem idealistischen Ansatz, der von einer Idee 79. Vgl. H. J. Iwand, NWN 2, 108. 80. H. Vogel, Christologie. Bd. I, Mçnchen 1949. 81. PM I, 428.

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des Menschen ausgeht, die dann in der historischen Gestalt Jesu Christi mit der Idee Gottes zusammenkommt. Die Wahrheit des Menschen ist keine schwebende Idee, sondern was in uns immer wieder auseinanderklafft ± die Wirklichkeit und die Wahrheit unserer Existenz ± ist in Jesus Christus Wahrheit und Wirklichkeit zugleich, in seiner fleischlichen Existenz. Jesus Christus nimmt stellvertretend das von uns verachtete Menschsein auf sich, und so ist er Gott in unserer Mitte. »Wo ich dem wahren Menschen begegne, da begegne ich Gott! Nur da!« (422) 82 Sowohl in seiner Besprechung von Brunner wie auch von Vogel thematisiert Iwand ausdrçcklich die theologische Methode 83 , wie diese beiden sie verfolgen, weil die Frage der Christologie keine isolierte Frage ist, sondern der Punkt, wo die ganze Diskussion hintreibt und wo es zu Entscheidungen kommen soll. Obzwar er Vogel in die Richtung einer Theologie, die sich auf der Grundlage der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus entfaltet, weiter vorstoûen sieht als Brunner, endet er dennoch nicht zufållig mit der Problematisierung der »Kierkegaardschen Fragestellung« 84 , die auch Vogel nicht losgeworden ist. Die Menschwerdung Christi ± das ist ein zentraler Gesichtspunkt in Iwands Ausfçhrungen zu den Fragen von »Glauben und Wissen« ± ist kein »in Gott selbst liegendes Paradox« 85 , und das Ørgernis »ist nicht aus der bloûen Existenz des Gottmenschen zu erschlieûen, sondern ist Erweis der frohen Botschaft in Jesus Christus« 86 . Vor dem Ørgernis der Menschwerdung steht »die Tatsache, daû die Erscheinung Gottes im Fleisch Freude ist«. 87 Es fållt auf, daû es die beiden selben christologischen Entwçrfe sind, denen Iwand auch in seiner Christologie-Vorlesung 1953/1954 eine Besprechung widmet. 88 Daraus låût sich jedenfalls zweierlei schlieûen. Es zeigt noch einmal, daû es Iwand im Kolleg »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« nicht um eine Ûbersicht ging, sondern in der Tat um eine Einfçhrung in das, was nach seiner Ansicht in der Diskussion der Zeit im Zentrum stand bzw. stehen sollte. Es stellt sich auch heraus, daû Iwand in seinen verschiedenen Vorlesungen auf der Su82. 83. 84. 85. 86. 87. 88.

Vgl. auch H. J. Iwand, NWN 2, 120. Vgl. vor allem NWN 2, 273 f. H. J. Iwand, PM I, 428. Ebd. NWN 2, 274. A. a. O., 275. Auch in der Vorlesung »Kirche und Gesellschaft« (Sommersemester 1951) geht Iwand auf Brunner und Barth ± nicht aber auf Vogel ± ein (siehe NWN 1, 97-108 und 108-126).

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che war nach dem fålligen »Durchbruch nach vorn«, und zwar an dem einen Punkt der Christologie.

IV.7 Karl Barth als Dogmatiker Iwand endet seine Besprechung der »gegenwårtigen Theologie« bei Barth. In einer Predigtmeditation çber Johannes 1,1-14 aus dem Jahre 1954 skizziert er, »wie hier alles im Aufbruch ist, um das Zentrum der Offenbarung nun wirklich auch Zentrum des Glaubens und Bekennens sein zu lassen. Noch ist alles in Bewegung auf diesen Punkt hin, noch scheint der Rubikon nicht endgçltig çberschritten, noch die Entscheidung nicht klar und deutlich ins Bewuûtsein der Gemeinde çbergegangen zu sein, trotz des bedeutenden Ansatzes von ­Barmen¬ These 1! Es ist vor hundert Jahren in Verfolg des Hegelschen Ansatzes schon einmal der Versuch unternommen worden, die im Prolog gezeichnete Mitte neu zu erfassen (Dorner, Chr. Ferd. Baur, Thomasius), er ist gescheitert. Das Ende des 19. Jahrhunderts, der Abfall zum ­historischen Jesus¬ war die unausbleibliche Konsequenz davon. Wir haben neu zum Gipfelanstieg eingesetzt. Ist die Verkçndigung der Kirche sich dessen bewuût, daû es hier um das Ganze der christlichen Botschaft geht, daû auch die Lehre von der Rechtfertigung und Versæhnung leer ist, wenn das Wort nicht Fleisch wurde und das Wort, das Fleisch wurde, nicht das Wort ist, das im Anfang war und das eben der Sohn Gottes selbst ist?!« 89 Am 5. Dezember 1955 schrieb Iwand an Barth: »Ich glaube çberhaupt, daû mit Deiner Auffassung des Menschen Jesus Christus genau das geleistet wird, was nach Schweitzers Leben-Jesu-Buch fållig war, daû der abgebrochene Weg der doch so groûen Leben-Jesu-Forschung hier ± auf einer hæheren Ebene ± wieder aufgenommen wird und weitergeht und eben darum weitergeht, weil nicht nur die Gottheit, sondern auch die Menschheit Jesu Christi endlich, endlich als Themen des Glaubens und Bekennens heraustreten.« 90 Die Fleischwerdung des Wortes in Jesus Christus, die Gottheit und die Menschheit Jesu Christi von daher nicht als Paradox in Gott, sondern als Offenbarung des wahren Gottes und so als Zentrum der Offenbarung, d. h. nun auch wirklich als Zentrum des Glaubens und Bekennens, gelten zu lassen ± das ist die »Entscheidung«, die in Barths Theologie vollzogen wird. Weder Brunner noch Vogel wurden in Iwands Augen der Tatsache, daû es 89. PM I, 429. 90. Zitiert bei J. Seim, a. a. O., 498 f.

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der Heilige Geist ist, der der die Sicht auf Christus freilegt und »unser Erkennen und Anerkennen des Sohnes Gottes in Jesus von Nazareth« 91 hervorbringt, ausreichend gerecht. Barths Wiederentdeckung der Kategorie des Wortes Gottes bezeichnet genau die Grenze, die zum Heidentum hin gezogen werden muû. Im Wort ± im dritten Artikel! ± fallen die Entscheidungen. Hier, in der Gotteserkenntnis, fallen Gott und Mensch nun eben nicht zusammen. »Das ist das Groûe an Karl Barths Dogmatik, daû sie die Tçre im dritten Artikel zumacht, die die alte Kirche im ersten, die Reformation im zweiten bereits geschlossen hat; daû nun auch im dritten Artikel Gott die Ehre gegeben wird. Oder sagen wir genauer: Gott innerhalb der Theologie, in der Lehre, die Ehre gegeben wird. Die Aufklårung hatte hier ein Loch gegraben, um Gott sozusagen von hinten her nun eben doch natçrlich zu erkennen; um eine Stelle zu finden, wo es nicht mehr heiût: Hære, Israel (Dtn 6,4), Dein Gott redet, sondern wo es heiût: Hære, Mensch, in dich selbst, da ist die offene Tçr! Vor dieses Paradies, das eben ein verlorenes Paradies ist, stellt Barth den Engel mit dem gezogenen Schwert (Gen 3,24)« (432). Zur rechten Verarbeitung dieser Entscheidung im Zentrum der Theologie drångt alles hin. Und auf dem Wege dazu gilt es, festzuhalten, was schon errungen worden ist, wie Iwand in seinem Beitrag »Vom Primat der Christologie« in der Barth-Festschrift 1956 unterstreicht: »Auch im geistigen Leben gibt es Entscheidungen, die nicht zurçckgenommen werden. Auch hier gibt es Fortschritte und Durchbrçche, die eine neue Welt herauffçhren. Solche Entscheidungen sind zugleich Entdeckungen. Und es bilden Entdeckungen dieser Art den Kern von allem, was wir irrenden, suchenden und zuweilen auch einmal etwas Neues findenden Menschen Geschichte nennen.« 92

V. Ausblick Ende der fçnfziger Jahre hat Iwand nochmals einige Texte zur Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verfaût. Er plante auch, seine Kollegs zu diesem Thema wieder zu lesen, und sicher ist einer ± oder sogar mehrere ± dieser Texte in diesem Zusammenhang entstanden. Es fållt auf, 91. H. J. Iwand, Vom Primat der Christologie, 179. 92. A. a. O., 187 f.

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daû in allen drei Texten ausdrçcklich die Linie Protestantismus ± Deutsche Christen aufgearbeitet wird. Sie kam auch schon in der Vorlesung selbst vor, aber eher beilåufig und nicht in der Prågnanz, mit der es hier geschieht. Die einzige Bemerkung, die Iwand selber fçr eine Veræffentlichung vorgesehen hatte, finden wir in einer Predigtmeditation zum Reformationsfest im Jahre 1957 çber Joh 8,30-36: »Jetzt muû ich den Leser um Nachsicht bzw. um offenen Widerspruch bitten, aber ich muû es auf eigene Gefahr hin einmal sagen ± in gewisser Hinsicht war der Nationalsozialismus eben doch ein Abkæmmling des bçrgerlichen Protestantismus und damit dessen Ende. (¼) Ein Weg ist zu Ende gegangen und ein neuer muû begonnen werden. (¼) Es ist ein Irrtum, zu meinen, eine Epoche ginge an ihren Fehlern zugrunde. Unsere Reformationsfeiern haben uns den echten Anschluû an die Reformation nicht gebracht, sie haben Gott nicht gefallen«. 93 Schon vorher hatte er in einer Anmerkung in derselben Predigtmeditation bemerkt: »Es wird sich erst in der Folge zeigen, welchen bedeutsamen Abschnitt innerhalb der Geschichte des Prot[estantismus] der Nationalsozialismus gebildet hat, wahrscheinlich den bedeutsamsten und verheerendsten seit der Gegenreformation. Noch wissen wir nicht, wie wir diese Krise çberstehen werden.« 94 Iwands Analyse des Verhåltnisses von Protestantismus und Nationalsozialismus ist alles andere als eine distanzierte Feststellung, sie ist eher eine »Predigt«, die auf Umkehr zielt. Diese Sicht des Verhåltnisses von Protestantismus und Nationalsozialismus treffen wir zum ersten Mal in der kurz zuvor gehaltenen Luthervorlesung an: »Es ist ein geschichtliches Phånomen von besonderer Bedeutung, daû gerade die von Luther herkommende Theologie besonders anfållig war fçr den Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus hat etwas offenbar gemacht, was endgçltig ist. Der Nationalsozialismus ist sicher nicht eine Schæpfung des Katholizismus, auch nicht des Sozialismus gewesen, sondern er war eine Schæpfung des ­Protestantismus¬. Geistig kommt er von dieser Wurzel her, geistig ist er ein wirkliches Ende, so daû wir heute ganz neu gefragt sind: Wer sind die Seinen?« 95 Das also ist fçr Iwand die brennende Frage: »Wer sind die Seinen?« Diese Frage gilt es zu bedenken, nicht zuletzt angesichts des kirchlichen Antijudaismus, der das Volk Israel aus der Gemeinschaft des Volkes Gottes ausschied und dem 93. PM I, 578 f. 94. Ebd., 577. 95. NW 5, 132. Es ist nicht von ungefåhr, daû dieses Zitat den Auftakt bildet eines ausfçhrlichen Paragraphen, in dem zentral diese Frage steht: »Wer sind die Seinen?« (131-176).

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tædlichen Antisemitismus der Nazis schweigend zustimmte, wenn nicht gar ihn aktiv unterstçtzte. In »Geistige Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts« bemerkt Iwand, daû die Reformation noch deutlich zu machen verstanden hat, »was es heiût, einer zu sein, der an das Evangelium von Jesus Christus glaubt. (¼) Aber was ist im 19. Jahrhundert an christlicher Existenz herausgekommen ± im letzten Grunde als Typus eben doch der ­deutsche Christ¬. Erst wenn wir vor diesem Ergebnis nicht den Blick verschlieûen, werden wir weiterkommen. Das ­deutsche Christentum¬ war im Protestantismus aller Schattierungen seit langem angelegt, wie eine fressende innere Krankheit. Daher erlagen ihr so viele Theologen und Pfarrer« (483). Warum sagt Iwand es erst in den spåten fçnfziger Jahren so scharf? Und: warum nur in Vorlesungen und Vortrågen und nicht in Texten, die er selber veræffentlicht? Der Grund kann nur sein, daû es ihm nicht um historische Zusammenhånge ging, sondern um eine eminent theologische Frage: »Wer sind die Seinen?« In seinen Lutherstudien, im Kontext der spåten fçnfziger Jahren, war ihm noch einmal klar geworden, daû die Reformation der »sichtbaren Kirche« mit ihrer Selbstsicherheit und ihren Machtsansprçchen prinzipiell eine Absage erteilt hatte. 96 Diese fçr den Protestantismus grundlegende Einsicht ist aber im 19. und 20. Jahrhundert verlorengegangen ± mit verheerenden Folgen. Die Humanitåt wurde zu einer innerweltlichen Angelegenheit, und das christliche Ethos wurde von seiner Wurzel gelæst, um ± es ist ein beliebtes Bild bei Iwand ± wie eine gepflçckte Blume zu verwelken. Das Grundçbel war, daû das Evangelium Jesu Christi zum Grundbestand des »christlichen Abendlandes« erklårt und damit in seiner verheiûenden Kraft abgeblendet wurde. Die These des inneren Zusammenhangs von Protestantismus und Deutschem Christentum gehært in den Rahmen der Verkçndigung Jesu Christi hinein, sonst treibt sie in Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Wo aber die Umkehr ausbleibt, wird der Appell um so dringlicher. Als Iwand Ende der fçnfziger Jahren plante, das Kolleg noch einmal zu lesen, hat er zwar Ønderungen im Aufbau des Ganzen erwogen ± aber was er in den spåten vierziger Jahren gemeint hatte, das blieb unveråndert: »wie eine Umkehr«. Vielleicht hat sogar gerade diese in der Luther-Vorlesung gewonnene neue Einsicht ihn dazu gebracht, nochmals çber die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lesen zu wollen. So drångte Iwand in seinen Vorlesungen bis zuletzt auf eine »Umkehr 96. Vgl. H. J. Iwand, Zur Entstehung von Luthers Kirchenbegriff. Ein kritischer Beitrag zu dem gleichnamigen Aufsatz von Karl Holl, GA II, 198-239.

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durch das Evangelium«. Da Jesus Christus wirklich unter uns »unselige und stolze Gætter« getreten ist, um uns zu »wahren Menschen« zu machen, ist Umkehr ein reales Angebot Gottes, mitten in den Fragen und Herausforderungen der Nachkriegsgesellschaft. Iwands Vorlesung »Kirche und Gesellschaft« sowie seine sozial-ethischen Texte, die in dieser Zeit entstanden sind, kreisen deshalb um das Evangelium des Gekreuzigten. 97 Dank Jesus Christus haben nicht die Aussichtslosigkeit und deshalb die Verzweiflung und die Resignation das letzte Wort, sondern die Hoffnung. Auch das bleibt çber die Jahre hinweg unveråndert. Nur seinetwegen bleibt es nicht bei der Feststellung, die Våter håtten unreife Trauben gegessen und deshalb seien die Zåhne der Kinder stumpf geworden; vielmehr gibt er uns Grund, in der Gesellschaft nach dem »neuen Menschen« Ausschau zu halten. Von daher konnte Iwand in einer Predigt, die er Ostern 1950 in Beienrode hielt, sagen: »Der Mensch und die Hoffnung sind eins. Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, kann der Mensch nicht seiner Bestimmung inne werden, und die Menschen, die keine Hoffnung mehr haben, hæren auf, Menschen zu sein. Der Mensch (¼) kænnte wie eine lebendige Hoffnung in der Todeswelt stehen. Dann wçrde die Macht nicht mehr so hoffnungslos und das Wissen nicht mehr so unpersænlich und brutal sein. Der Mensch wåre wirklich das Maû aller Dinge, sofern er in der Hoffnung die Wurzeln seines Lebens håtte, das heiût in dem, was er sein wird, nicht in dem, was er ist, in dem, was Gott an ihm tun kann, nicht in dem, was er selber tun kann, in dem, was man nicht sieht und doch glaubt und nicht im Sichtbaren, çber das wir immer nur unseren Namen und unseren Ruhm schreiben. Ist es nicht so, als håtten wir in diesen groûen und bewegten Zeiten der Menschheit, durch die wir augenblicklich schreiten, auf einmal die Wahrheit der Auferstehung ganz nahe vor uns?« 98

97. Vgl. In diesem Zusammenhang vor allem: »Die Bibel und die soziale Frage«, JK 13 (1952) 113-123 (= NWN 1, 247-261). 98. H. J. Iwand, Wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung. Fçnf Predigten, Die Hilfe 1950, Heft 2, 48 (Hervorhebung von Iwand); vgl. auch: Die Gegenwart des Kommenden. Auslegung von Lukas 12, Siegen 1955 (Neuauflage in der Reihe Biblische Studien 50, Neukirchen-Vluyn 1966), 31 f.

Editionsbericht

In Iwands Nachlaû befinden sich zwei ziemlich geschlossen erhalten gebliebene Manuskripte von Vorlesungen çber die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Als der Bearbeiter dieses Bandes die Manuskripte von Helmut Gollwitzer erhielt, um sie dem Iwand-Archiv zu çberreichen, war die Reihenfolge der verschiedenen Teile so, wie sie in diesem Band abgedruckt sind. Daû diese Reihenfolge die ursprçngliche ist, war freilich nicht der Ausgangspunkt, sondern ist Ergebnis eines detaillierten Studiums dieses Materials, wobei Sachgrçnde den Ausschlag geben muûten. Die Begrçndung wird hier im einzelnen dargelegt. Leider war eine einschlågige Kontrolle an Hand von Vorlesungsmitschriften seiner Hærer nicht mæglich: Ein entsprechender Aufruf im Deutschen Pfarrerblatt blieb ohne Widerhall. Die Ûberschriften stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Bearbeiter. Bei der Formulierung bin ich darauf bedacht gewesen, mich so nah wie mæglich Iwands eigenem Wortlaut anzuschlieûen. Wo mit Sicherheit oder groûer Wahrscheinlichkeit festgestellt werden konnte, welche Ausgabe eines Buches Iwand benutzt hat, sind die Belegangaben darauf abgestimmt worden. Wenn es eine gelåufigere vollståndige Edition eines Werkes gibt, ist ein Verweis darauf hinzugefçgt (Hegel und Nietzsche). In den çbrigen Fållen ist nach einer gångigen Edition belegt worden. Die unterschiedliche Abfassungszeit bzw. Art der zitierten Quellen hat auch die Orthographie bestimmt. An einigen Stellen gibt es im Text Anfçhrungszeichen, ohne daû ein Zitat belegt wird. In diesen Fållen handelt es sich um von Iwand in Anfçhrungsstriche gesetzte Wendungen, die wahrscheinlich keine Zitate sind, sondern von Iwand selbst formulierte Zusammenfassungen oder Kennzeichnungen der Position anderer.

I. Das Manuskript von 1948/1949: B II/12

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I. Das Manuskript von 1948/1949: B II/12 Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert: Våter und Sæhne. Vorlesung, Gættingen 1948/1949 Es befindet sich im Iwand-Archiv ein handgeschriebener Zettel, der wohl einen ersten Entwurf Iwands fçr die Vorlesung »Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert« enthålt. Der Text lautet: 1 Die drei Såulen: Religion (Schl[eiermacher].) Dogma (Hegel) Ethos (Kant) Sein u[nd] Sollen! Die personale Diastase! Ritschls Entdeckung! Das einzige, was geblieben ist. Er soll das Herz der Våter bekehren zu den Kindern u[nd] das Herz der Kinder zu den Våtern, dass ich nicht komme u[nd] das Erdreich mit dem Bann schlage! [Mal 3,24, Textrezension 1912 und frçher, frei zitiert.]

Diese Notizen lassen vermuten, was Iwands ursprçngliche Konzeption war, die er so allerdings nicht durchgefçhrt hat. Dennoch ist die Gliederung in drei Teile ± »Religion«, »Dogma« und »Ethos« ± in der Vorlesung beibehalten, nur daû im Kapitel »Ethos« die »Såule« Kant fehlt, dafçr aber die geschichtliche Auswirkung des ethischen Ansatzes des Kænigsberger Philosophen im Protestantismus der zweiten Hålfte des 19. Jahrhunderts ausfçhrlich nachgezeichnet wird. Der ausgeschriebene Bibeltext zeigt deutlich, daû die Vorlesung von Anfang an »wie eine Umkehr« gemeint war. 2 Zeitlich wahrscheinlich viele Jahre von dieser groben Skizze getrennt ist eine Einteilung, die sich im Iwand-Archiv bei dem Manuskript »Geschichte der protestantischen Theologie im neunzehnten Jahrhundert« befindet. Sie 1. 2.

P.-P. Sånger hat den Text dieses Zettels abgedruckt in: »Mitteilungen aus dem Archiv« (Iwand-Archiv Beienrode), Nummer 3, Oktober 1993, 3. In diesem Band, S. 24. Weitere Verweise auf Zitate aus den in diesem Band aufgenommenen Texten durch Angabe der Seitenzahl in Klammern im laufenden Text. P.-P. Sånger bemerkt wohl mit Recht: »Vermutlich handelt es sich um ein Zeugnis vom Finden des Titels ­Vater und Sæhne¬.« (ebd.)

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Editionsbericht

ist ebenfalls von Iwand selbst angefertigt, aber ± so vermutet P.-P. Sånger ± erst 1960, als Iwand vorhatte, wieder çber dieses Thema zu lesen. Ich gebe sie hier wider: Einleitung: Våter und Sæhne Vier Versuche zur Theologie des 19. Jahrhunderts Stellung zu nehmen: Karl Barth, Paul Hazard, Franz Schnabel und Ernst Troeltsch Teil I. Die Religion 1. Schleiermacher 2. Nitzsch 3. Schweizer 4. Richard Rothe Teil II. Die Ethik 1. Kant 2. A. Ritschl 3. W. Herrmann Teil III. Das Dogma 1. Hegel 2. F.Chr. Baur 3. Strauû 4. Feuerbach 5. Hofmann Teil IV. Der Biblizismus 1. Menken 2. M. Kåhler 3. J. T. Beck 4. Vilmar 5. Kohlbrçgge

Diese Einteilung stimmt mit dem Manuskript der 1948/1949er Vorlesung im Aufbau weitgehend çberein. Es lieûe sich also denken, daû die von Iwand angefertigte Einteilung seine ursprçngliche Absicht darstellt. Klarheit kann aber ± wenn schon, dann nur durch Analyse des Vorlesungsmanuskriptes erreicht werden. In der Prçfung des Ganzen waren zwei Richtlinien leitend: erstens, ob und, wenn ja, wie Iwand selber in der Vorlesung den Gesamtplan aufweist, und zweitens, ob das Manuskript eindeutige Lçcken zeigt, vor allem an den Stellen, wo im oben abgedruckten Plan der Vorlesung etwas aufgefçhrt ist. Zum ersten Punkt: In seiner Einfçhrung zu dieser Vorlesung kçndigt Iwand zweimal an, was er sich zu behandeln vorgenommen hat. Das erste

I. Das Manuskript von 1948/1949: B II/12

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Mal stellt er vier Abschnitte in Aussicht, und zwar erstens »Religion« (Schleiermacher und Rothe), dann »Ethik« (Hans Lassen Martensen, Adolf von Harleû, M. Kåhler, F. W. Nietzsche, A. von Oettingen), weiter »Dogma« (Hegel) und schlieûlich »Biblizismus«. Als er aber darauf ± noch in derselben Einfçhrung ± zurçckkommt, erwåhnt er diesen vierten Abschnitt (»Biblizismus«) nicht mehr. Das låût vermuten, daû dieser Teil nicht nur aus Zeitmangel im schriftlichen Nachlaû fehlt, sondern daû Iwand von Anfang an wohl einige Zweifel darçber gehegt hat, ob er diesen Abschnitt auch bringen wçrde ± sei es aus zeitlichen oder aus sachlichen Grçnden. Was den zweiten Punkt betrifft: Wichtiges Argument fçr den unverånderten Abdruck des vorliegenden Manuskripts ist erstens, daû es lçckenlos vorhanden ist: mancher neue Paragraph fångt mit einem Anschluû an den vorigen an, auch greift Iwand mehrmals auf bereits frçher Behandeltes zurçck, wobei er dann mehr oder weniger genau auflistet, was im Vorlesungsmanuskript vorhanden ist. So vermerkt Iwand selber, daû eine Besprechung Kants fehlt, und im ± letzten ± Hegel-Kapitel erwåhnt er, daû es Teil einer Vorlesung ist, in der die Wirkung Schleiermachers im Zentrum steht. Wenn man sich auûerdem den inneren Duktus des Manuskriptes der Vorlesung von 1948/1949 genau ansieht, zeigt sich, daû Iwand eine klare Denklinie verfolgte. Aufgrund dieser Argumente kann mit hæchster Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daû der hier abgedruckte Text Iwands wohl ziemlich vollståndig erhaltene Vorlesung darstellt. Obwohl Iwand in der 1960 verfaûten Einteilung den ursprçnglich geplanten vierten Teil - »Biblizismus« ± wieder auffçhrt, sind die Unterschiede im Vergleich zu dem, was er in der 1948/1949er Vorlesung selber in Aussicht stellt, so groû, daû festgestellt werden muû, Iwand habe eine vællige Neufassung geplant. Es dçrfen aus diesem Blatt auf keinen Fall weitreichende Folgerungen gezogen werden im Hinblick auf sein ursprçngliches Anliegen. Als Anhang zu dieser Vorlesung ist der Vortrag »Schleiermacher als Ethiker« (MS C II/7) aufgenommen, der im Sommersemester 1951 »in einem abendlichen, nicht allein fçr Studierende gedachten, sondern æffentlichen Vortrags-Zyklus in der Aula der gættinger Universitåt gehalten« 3 und in der Evangelischen Theologie 1951/1952 veræffentlicht wurde. Da Iwand im Manuskript der Vorlesung ausdrçcklich auf eine Ausfçhrung çber »Schleiermacher als Ethiker« zurçckverweist, die als einziger Teil dieser Vorlesung nur bruchstçckhaft da ist, liegt die Vermutung nahe, daû er ± wie er æfters tat ± diesen Paragraphen aus dem Vorlesungsmanuskript her3.

J. Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, 420.

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Editionsbericht

ausgenommen und zu dem Vortrag bearbeitet hat, aus dem dann der veræffentlichte Aufsatz hervorgegangen ist.

II. Das Manuskript von 1949/1950: B II/13 Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« (Gættingen 1949/1950) In der Einleitung dieser Vorlesung, die Iwand 1949/1950 in Gættingen hielt, deutet er an, daû sie eine Fortfçhrung der Vorlesung des vorangegangenen Semesters bildet. Da er im Sommersemester 1949 die Vorlesung »Våter und Sæhne« zu Ende gefçhrt hatte, ist die Vorlesung »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« deren Fortsetzung. Sie schlieût sich auch thematisch gut an, und bildet in mehreren Hinsichten die logische und sogar notwendige Fortfçhrung der Suche nach einem theologischen Neuanfang, der unter diesem Gesichtspunkt in der Reihe von Iwands Vorlesungen nicht fehlen durfte. Es gibt im Iwand-Archiv bei dem Manuskript »Einfçhrung in die gegenwårtige Lage der systematischen Theologie« eine von Iwand selber angefertigte Einteilung, die er entweder im voraus gemacht ± und nicht ausgefçhrt ± oder auch Ende der fçnfziger Jahre, als Planung fçr eine neuerliche Vorlesung zu diesem Thema angelegt hat. Daû es sich um eine Planung handelt, entnehme ich der Einteilung in genau dreizehn Semesterwochen und vor allem der Formulierung der elften Stunde. Es ist dabei allerdings noch eine Frage, ob es sich um Iwands ursprçngliches Anliegen handelt oder um eine Einteilung fçr den neuerlichen Vortrag im Kolleg. Auch hier muû eine sachliche Argumentation den Ausschlag geben. Einfçhrung in die systematische Theologie 1) Einleitung: Die systematische Theologie ± Ort der »theologischen Existenz« des Ringens um den Sinn der Theologie 2) Wilhelm Herrmann und die Frage der Ethik 3) Ernst Troeltsch und die Frage der christlichen Gesellschaft 4) Rudolf Otto und das Problem des Heiligen 5) Karl Heim und die Gewiûheitsfrage 6) Albert Schweitzer und die Bedeutung der Eschatologie 7) Rudolf Bultmanns theologischer Existentialismus 8) Die Wiederentdeckung Luthers und der reformatorischen Theologie

II. Das Manuskript von 1949/1950: B II/13

9) 10) 11) 12) 13)

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Die Dialektische Theologie und der Kreis um »Zwischen den Zeiten« Karl Barths Wiederherstellung der christlichen Dogmatik Dasselbe Neuere Versuche zur Christologie Die konfessionelle Theologie

Im Vergleich mit diesem Programm fehlen bestimmte Kapitel, die im Nachlaû der Vorlesung vorhanden sind ± etwa çber Martin Kåhler und Max Weber ±, wåhrend andere (Rudolf Otto; Die konfessionelle Theologie) nicht da sind bzw. nur kurz gestreift werden (Die Wiederentdeckung Luthers und der reformatorischen Theologie). In der Einleitung der Vorlesung selber listet Iwand eine Reihe von Namen auf, die er sich zu besprechen vorgenommen hat: Rudolf Otto, Werner Elert, Karl Heim, Wilhelm Herrmann, Martin Kåhler, Adolf Schlatter ± weiter noch Ernst Troeltsch, Max Weber und Martin Heidegger ± und schlieûlich Karl Barth und Friedrich Gogarten. In einem neuen Anlauf (A III/2) ± vielleicht am Beginn des neuen Semesters gehalten ± fçhrt Iwand wieder andere Namen auf: Albert Schweitzer, Karl Heim, Rudolf Otto ± er vermerkt ausdrçcklich: »vielleicht«! ±, Rudolf Bultmann und die Lutherrenaissance. Dieses Versprechen hat er eingelæst, mit Ausnahme des Mannes, bei dessen Namen er schon ein Fragezeichen gesetzt hatte: Rudolf Otto. Im Paragraphen, den er Max Weber widmet, stellt er eine Besprechung der Religionspsychologie Max Schelers in Aussicht, aber nicht nur fehlt sie, es gibt auch nirgends eine Lçcke, die darauf hinweist, daû es ein solches Kapitel tatsåchlich gegeben hat. Bei genauem Zusehen zeigt sich, daû Iwand in der Vorlesung selber die Ordnung des Ganzen bewuût geåndert hat: wo auf der oben abgedruckten Einteilung die verschiedenen Kapitel einfach hintereinander aufgelistet werden, ist im Vorlesungsmanuskript eine klare Struktur zu erkennen. Das weist darauf hin, daû das oben abgedruckte Programm ein Vorhaben darstellt, das von Iwand noch in der Einleitung geåndert worden ist und auch wåhrend der Vorlesung noch einige Male von ihm korrigiert wurde. Es zeigt sich, daû Iwand kein fertiges Vorlesungskonzept im Kopf hatte, das dann entweder nicht vollståndig bewahrt geblieben ist oder das er nicht so ausgefçhrt hat. Nun haben aber im Archiv die Paragraphen çber Wilhelm Herrmann und Martin Kåhler eine andere Nummer bekommen (A III/4), obwohl sie sich in Iwands Nachlaû an der Stelle im Vorlesungsmanuskript befanden, wo sie auch in diesem Band aufgenommen sind. Folgende Grçnde sprechen dafçr, den Ort im Nachlaû als den richtigen zu betrachten:

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Editionsbericht

1. Iwand hat selber in seiner Planung den Paragraphen »Wilhelm Herrmann und die Frage der Ethik« in Aussicht gestellt. 2. In der Einleitung der Vorlesung sind Wilhelm Herrmann und Martin Kåhler in die Reihe der Namen aufgenommen, die Iwand sich zu besprechen vorgenommen hat, und zwar gerade vor Ernst Troeltsch und Max Weber (wenn auch von diesen getrennt durch den Namen Adolf Schlatters). 3. Die Paragraphen çber Wilhelm Herrmann und Martin Kåhler sind von Iwand engstens miteinander verzahnt und kænnen in dieser Form einfach nicht isoliert vorgetragen worden sein; sie lassen sich also nicht trennen. Da auch an anderen Stellen in diesem Manuskript mehrere neue Paragraphen an den vorigen anknçpfen und Iwand mehrfach auf bereits Behandeltes zurçckgreift, kænnen wir schlieûen, daû die Vorlesung vollståndig vorliegt, zumal die Darstellung inhaltlich eine geschlossene ist und eine klare Linie aufzeigt. Im Nachwort ist versucht, das Gefålle dieser Vorlesung vor Augen zu fçhren. Wenn wir in Betracht ziehen, welche Namen Iwand anfånglich auflistet und wie er in der Vorlesung seine Plåne åndert, kann man sagen, daû die Einteilung wahrscheinlich der 1949/1950er Vorlesung zugrunde liegt und nicht einen Neuansatz aus den spåten fçnfziger Jahren darstellt.

III. Der Anhang Im Anhang sind drei Texte abgedruckt, die wahrscheinlich alle drei in den spåten fçnfziger Jahren geschrieben sind und die wohl im Rahmen von Iwands Plånen, diese Kollegs wieder zu lesen, entstanden sind: A. Theologie und Kirche im neunzehnten Jahrhundert. Geistige Voraussetzungen (B II/12) Auf dem ersten Blatt ist ± wenn auch nicht von Iwand selbst ± vermerkt: Vortrag in Beienrode und Cottbus, 1959/1960. Ob diese Ûberschrift ± vor allem was die Erwåhnung von Beienrode betrifft ± stimmt, ist eine offene Frage. Auf dem Beienroder Konvent 1959 hat Iwand seinen Vortrag »Theologia crucis« gehalten. 4 4.

NW 2, 381-398.

III. Der Anhang

B. Geistige Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (B II/12) C. Geistige Voraussetzungen des neunzehnten Jahrhunderts (B II/12)

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Abkçrzungen

EG EvTh FO GA I GA II JK KidZ KSA NF NW NWN RE SW TEH TRE WA WW ZdZ

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Register

1. Namen Abel, Carl August von 135 d'Alembert, Jean le Ronde 42 Althaus, Paul 493 Anselm von Canterbury 83, 109, 425 Archimedes 227 Aristoteles 19, 211, 217, 251, 363 Arndt, Ernst Moritz 72 f. Assel, Heinrich 494 Auberlen, Carl August 287 Augustin, Aurelius 29, 98, 130, 168, 252, 363, 450 Avenarius, Richard 351, 353, 374 Baader, Benedikt Franz Xaver von 19, 58, 480 Bahrdt, Karl Friedrich 380 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 52, 178 Barth, Karl 27-37, 39 f., 75 ff., 91, 96, 109, 115, 125, 129, 151, 156, 182 f., 225, 228 f., 233-246, 253 f., 270, 272, 374, 376 f., 403 f., 427-452, 479, 484, 493, 495, 498 ff., 511-514, 516, 519, 522, 525, 530 ff., 538, 541 Bauer, Bruno 66, 188 f., 380 f., 389 f., 392 Baur, Ferdinand Christian 28, 49, 66, 87, 188 f., 310, 531, 538 Bayle, Pierre 42, 46 f. Beck, Johann Tobias 27 f., 538 Bengel, Johann Albrecht 26, 138, 287, 292, 295 Bergson, Henri 342 Bertram, Ernst 16 f. Bismarck, Otto Fçrst von 15, 56, 59, 101, 284, 290 ff., 456, 458, 464 f., 469, 472 ff., 480, 497 Blumhardt, Christoph 27, 476 Blumhardt, Johann Christoph 22, 476 Bodelschwing, Friedrich von 22 Bæhme, Jacob 122

Bonwetsch, Nathanael 188 Bossuet, Jacques Bnigne 33, 44 Brentano, Lujo 330 Brunner, Emil 77, 79, 125, 374, 401-421, 432 f., 494, 516, 528-531 Bruno, Giordano 359 Brunstådt, Friedrich 259 Bultmann, Rudolf 224, 246-256, 269, 272, 370, 374, 391-400, 405, 413, 446, 494 f., 514, 516, 519, 523, 526 ff., 540 f. Bunsen, Christian Karl Josias von 32, 99, 511 Burckhardt, Jacob 17, 157 Buû, Fanz Joseph 58 Calvin, Johannes 82, 234, 259, 304, 338, 360, 436 Carlyle, Thomas 19 Chemnitz, Martin 425 Cicero, Marcus Tullius 31 Clmenœeau, Georges 178 Cohen, Hermann 272 f., 282 Croce, Benedetto 188, 457 Cyrill von Alexandria 391 Danilou, Jean 109, 438 Darwin, Charles 466 Deharbe, Joseph 58 Delitzsch, Franz 156 Denifle, Heinrich 406 Descartes, Ren 19, 38, 265, 329, 363, 429, 436, 466 Dibelius, Martin 248 Dibelius, Otto 228, 484 Dilthey, Wilhelm 29, 37, 74, 215, 301, 307, 342, 394, 457, 469, 473, 479, 485 Dællinger, Ignaz von 135 Dohna, Alexander Graf von 71 Dorner, Isaak August 27 f., 46 f., 66, 188 f., 480, 531

Register Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 16, 24, 123, 493 Droste Vischering, Klemens August von 57 Dçrer, Albrecht 142 Ebner, Ferdinand 371, 462, 493 Eichhorn, Johann Gottfried 386 Einstein, Albert 374 Elert, Werner 224, 303 f., 407, 541 Eltz-Rçbenach, Paul Freiherr von 502 Engels, Friedrich 19, 231, 461, 464, 484 Erasmus, Desiderius 162, 505 Fechner, Gustav Theodor 374 Fnlon, Franœois de Salignac de La Mothe 46 Feuerbach, Ludwig 22 f., 49, 63, 66, 188, 191, 255, 351, 439, 460 f., 463 f., 468, 484, 510, 538 Fichte, Johann Gottlieb 31, 177, 182 f., 185, 206, 208, 211, 277, 338, 463, 476, 486 Franck, Sebastian 325 Francke, August Hermann 138 Frank, Franz Hermann Reinhold 29, 407 Franz Joseph, Kaiser von Ústerreich 232 Freud, Sigmund 353, 470 Friedrich II. der Groûe von Preuûen 24, 42 Friedrich Wilhelm III. von Preuûen 57, 136 Friedrich Wilhelm IV. von Preuûen 47, 56, 182 Fries, Jacob Friedrich 475 Fugger, Bankhaus der Familie 142 Gabler, Johann Philipp 386 Gallitzin, Amalie von 58 Gans, Eduard 187 Gauû, Carl Friedrich 53 George, Stefan 15 f., 311, 352, 456, 493 Gerhardt, Paul 116, 400, 419 Gerlach, Ernst Ludwig 59 Ghandi, Mahatma 231 Gobineau, Joseph Arthur de 157 Gærres, Johann Joseph 57, 136 Goethe, Johann Wolfgang von 17, 23, 30 f., 33, 36 f., 52, 54, 70, 126, 131, 162, 185, 204, 219, 285, 294, 308, 311, 339, 346, 356, 358, 377, 410, 421, 428, 447, 458 f., 499 f. Gogarten, Friedrich 228, 233, 370, 493, 541 Gollwitzer, Helmut 512, 536

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Gorki, Maxim 20 Grimm, Wilhelm und Jakob 51 f. Grisebach, Eberhard 441 Guerry, Andr-Michel 167 f. Guyon, Jeanne Bouvier de la Motte 46 Håckel, Ernst 351 Haecker, Theodor 493 Haller, Carl Ludwig von 497 Harleû, Gottlieb Christoph Adolf von 118, 134-147, 149, 151-154, 161, 187, 506, 539 Harms, Claus 138 Harnack, Adolf von 21, 49, 310, 318, 406, 413, 457, 470, 480 f. Harnack, Theodosius 134, 138 Hartmann, Nicolai 118 Hase, Karl August von 386 Hassenpflug, Hans Daniel 101 Hauptmann, Gerhart 20 Hausrath, Adolf Hazard, Paul 33, 40-50, 500, 538 Heckel, Theodor 139-142 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 19, 26, 28 f., 31 f., 43 f., 48, 51 f., 57, 62, 64 f., 67, 87, 94 f., 99, 111, 120, 122, 124, 134, 136, 143, 151, 156, 160 ff., 176-200, 205, 220, 248, 304, 329, 353, 386, 389, 401, 410, 421, 425, 428, 445, 458-463, 466 f., 469, 471, 477, 479, 482, 486, 492, 498, 500, 503, 509-514, 531, 536-539 Heidegger, Martin 187 f., 225, 248, 251, 429, 527, 541 Heim, Karl 27, 38 f., 179, 225, 259 ff., 269, 272, 301, 320 ff., 350-374, 407, 438, 466, 503, 524 f., 540 f. Hengstenberg, Ernst Wilhelm 59 Hensel, Paul 323 Herder, Johann Gottfried 31, 51 f., 103, 235, 381, 422, 437, 500 Hermann, Nikolaus 114 Hermann, Rudolf 226, 231, 432, 494, 500, 512, 516, 519 f. Hermes, Georg 57 Herrmann, Johann Wilhelm 63, 90, 225, 241, 246, 255, 272-283, 287, 374, 405, 444, 470, 509, 513, 519, 538, 540 ff. Hertog, Gerard Cornelis den 497, 503 Herz, Henriette 71 Herz, Marcus 71

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Register

Herzen, Alexander 52, 178 Heû, Wilhelm 380 Hildebrandt, Kurt 342 f. Hirsch, Emanuel 494 Hirscher, Johann Baptist 58, 156 Hitler, Adolf 455, 469, 475, 478 Hofmann, Johann Christian Konrad von 91, 112, 134, 137, 173, 188, 247, 287, 538 Hæfling, Johann Wilhelm Friedrich 134, 137 Hælderlin, Friedrich 186 Holl, Karl 269, 310, 406, 432, 457, 493 f., 534 Holtzmann, Heinrich Julius 381 Humboldt, Alexander von 52, 56 Humboldt, Wilhelm von 51, 74, 459 Husserl, Edmund 118, 181, 210, 359 Ibsen, Henrik 20 Ihmels, Ludwig 321 Jarcke, Carl Ernst 56 Jean Paul 285 Jellinek, Georg 323 Kåhler, Ernst 520 Kåhler, Martin 22, 27, 30, 39, 89, 154 ff., 161, 190, 225, 272, 274, 283, 298, 337, 374, 378, 405, 473, 506, 509, 519 f., 538 f., 541 f. Kahler, Erich von 341 f., 352 Kant, Immanuel 18, 26, 31 f., 38, 64 f., 70, 74, 94, 118, 146, 154, 162, 165, 178, 180-183, 185, 188, 199, 202, 205 f., 208, 210, 217, 219, 275-278, 285, 315, 321, 329, 340, 342, 352 f., 364, 372, 405, 441, 466 ff., 471, 479 f., 486, 500, 503 f., 509, 537 ff. Katkow, Michail 52, 178 Kierkegaard, Sùren Aabye 16, 19, 21, 49, 64, 120 f., 131, 140, 174, 194, 228, 244, 252, 267, 371, 397 f., 425, 460 ff., 530 Kleist, Heinrich von 393 Kliefoth, Theodor Friedrich Dethlef 478 Knies, Karl 328 Kælling, Wilhelm 295 Kohlbrçgge, Hermann Friedrich 27, 429 f., 538 Konfuzius 336, 338

Kottwitz, Hans Ernst Freiherr von 9 Kçnneth, Walter 492 Kutter, Hermann 20, 483 Lachmann, Karl Konrad Friedrich Wilhelm 51 Laotse 338 Lassalle, Ferdinand 19, 464, 475 Lasswitz, Kurt 38 Leibniz, Gottfried Wilhelm 19, 26, 32, 40, 43, 46, 70, 87, 160, 178, 186, 329, 436, 446 Lempp, Eberhard 528 Lepp, Claudia 509 Lessing, Gotthold Ephraim 31 f., 60, 178, 381, 384 f., 500 Liebermann, Bruno Franz Leopold 56 Liebig, Justus 52 Lionardo 345 List, Friedrich 55 Locke, John 42, 46, 64 Læhe, Wilhelm 135, 138, 140 f. Læwith, Karl 458 f., 462 Ludwig XVI. von Frankreich 477 Lçcke, Friedrich 79, 87, 90, 258 Lçtgert, Wilhelm 31 Luther, Martin 23, 29, 48 f., 59, 62, 82, 88 f., 93, 108 ff., 124, 128 ff., 133, 138, 142, 144 f., 148 f., 151-154, 162, 177, 203, 209, 218, 234, 240, 245, 252 f., 256, 265, 269 f., 276 f., 283 f., 292, 304, 325, 338, 354, 356 f., 360, 367, 384, 391, 401, 403, 405 ff., 409, 416, 421 f., 425, 431 f., 436, 440, 444, 451, 479, 507 ff., 517 f., 524, 529, 533 f., 540 f. Mach, Ernst 351, 374 Malthus, Thomas Robert 55 Mann, Golo 478 Marheineke, Philipp Konrad 67 Martensen, Hans Lassen 21, 112, 120-133, 140, 151, 187, 506, 539 Marx, Karl 19 f., 22, 43, 55, 64, 80, 178, 189, 191, 231, 351, 386, 460 f., 463 f., 468, 472, 475, 484, 510 Max II. 136 Meinecke, Friedrich 457 Meinong, Alexius von 118 Melanchthon, Philipp 54, 124, 211, 281, 402, 417, 480

Register Menken, Gottfried 27, 296, 477, 538 Metternich, Clemens Wenzel Fçrst von 72, 465 Michaelis, Johann David 315 Michelet, Carl Ludwig 187 Mæhler, Johann Adam 58, 480 Moltmann-Wendel, Elisabeth 495 Moltmann, Jçrgen 495 Mozart, Wolfgang Amadeus 30 Mçller, Johannes 21, 53 Mçller, Hanfried 511 Mçller, Julius 293 Mçller, Ludwig 139 Mçller-Streisand, Rosemarie 511 Mynster, Jakob Peter 120 Napoleon, Bonaparte 479 Natorp, Paul 272, 282, 474 Naumann, Friedrich 21, 483 Neander, Johann August Wilhelm 67 Newton, Sir Isaac 46 Niebuhr, Barthold Georg 51 Niebuhr, Reinhold 438 Niemæller, Martin 492 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 16 f., 22 f., 32, 49, 63, 109, 111, 145, 149 f., 152, 157-163, 174, 178, 188, 194, 219, 244, 300, 330 f., 339 f., 367, 369, 377, 390, 436, 447, 461, 466, 468-472, 475, 484, 506 ff., 510 f., 522, 525, 536, 539 Nitzsch, Carl Immanuel 91, 103, 538 Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg) 30, 46, 48, 61, 81, 129, 178, 497 f., 500 Nygren, Anders 216 Oetinger, Friedrich Christoph 138 Oettingen, Alexander Konstantin von 164-172, 187, 506 f., 539 Ostwald, Wilhelm 351 Otto, Rudolf 224, 269, 272, 438, 540 f. Overbeck, Franz Camille 238 f. Overberg, Bernard 58 Pascal, Blaise 435 Paulsen, Friedrich 283 f. Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 380, 385 f. Peterson, Erik 189, 436, 441 f. Pirkheimer, Willibald 142

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Plato 19, 31, 75, 202, 316, 341, 343, 345, 363 Plessner, Helmuth 474 f. Pythagoras 227 Qutelet, Adolphe 167 Radowitz, Joseph Maria von 56, 58 Råû, Andreas 56 Ragaz, Leonhard 20, 302 Ranke, Leopold von 17, 44, 51, 56, 72, 313 Reimarus, Hermann Samuel 376, 380 f., 384 f., 466 Reimer, Georg 72 Reinhard, Franz Volkmar 380, 385 Richter, Jean Paul Friedrich gen. Jean Paul 285 Rickert, Heinrich 312, 323 Rilke, Rainer Maria 290 Ritschl, Albrecht Benjamin 34, 44, 49, 94, 129, 161, 173, 276, 282, 374, 405, 438, 456, 470 f., 480, 486, 497, 507, 509, 537 f. Ritter, Karl 51, 56 Roon, Graf Albrecht von 291 Rosenstock-Huessy, Eugen 493 Roscher, Wilhelm 54 Rothe, Richard 21, 28, 63 f., 76, 84, 95, 99-118, 120, 122, 124, 140, 164, 187, 285, 338, 470, 504-507, 513, 538 f. Rousseau, Jean Jacques 19, 32-36, 63, 129, 150, 174, 499 Ruge, Arnold 20, 460, 464 Sånger, Peter-Paul 512, 537 f. Sailer, Johann Michael 58 Savigny, Friedrich Carl von 50 f., 56 Schaeder, Erich 374 Scheler, Max 118, 163, 231, 329, 474 f., 541 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 31, 61, 120, 134, 143, 178, 182 f., 186, 208, 497 Schellong, Dieter 495 Scheurl, Christoph Gottlieb Adolf von 142 Schiller, Friedrich von 60, 71, 130, 160, 167, 185, 285, 371, 427, 474, 476 Schlatter, Adolf 51, 225, 372, 541 f. Schlegel, August Wilhelm 46

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Register

Schlegel, Friedrich Wilhelm 61, 71, 81 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 28 f., 33 f., 36, 49, 52 ff., 61-65, 67-101, 110 ff., 117, 120, 124, 139, 156 f., 164, 176, 178, 187 f., 191, 194, 201-220, 233 ff., 237, 239, 258 f., 262, 277, 279, 312, 357, 362, 365, 382, 386, 401, 407 f., 411, 418, 421, 435, 437 f., 445, 456 f., 459, 476, 479 ff., 486, 492, 497, 503 ff., 507 ff., 513, 538 f. Schmidt, Karl Ludwig 119 Schnabel, Franz 50-59, 136, 458, 484, 501 f., 538 Schniewind, Julius 272, 519 Schopenhauer, Arthur 19, 147, 219, 342, 367, 369, 446, 457, 466 f., 469, 484, 508 Schumann, Friedrich Karl 409 Schweitzer, Albert 37 f., 224, 259, 269, 314, 376-392, 394, 406, 438, 461, 466, 499, 524-528, 531, 540 f. Schweizer, Alexander 67 Seeberg, Reinhold 188, 407 Seim, Jçrgen 492, 501, 526, 531, 539 Seneca 288 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 63 Shakespeare, William 145, 147 Siger van Brabant 237 Smith, Adam 53 Sokrates 341, 345, 417 Sombart, Werner 323, 330 Spener, Philipp Jakob 46, 138 Spengler, Oswald Arnold Gottfried 16-19, 22 f., 188, 225, 231, 324, 374, 458, 500, 510 Spinoza, Baruch de 17, 42, 46, 74, 143, 190, 202, 208, 436 Stahl, Friedrich Julius 32, 47, 134, 138, 190, 479, 497 f., 500 f., 511 Steffens, Henrik 123 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 51, 72, 292, 477 Stephenson, George 53 Steudel, Johann Christian Stirner, Max 464 Stoecker, Adolf 478, 483 Stoû, Veit 142 Strauû, David Friedrich 21, 66, 188 f., 191, 380 f., 386-390, 461, 463 f., 510, 538

Strindberg, Johann August 351 Stupperich, Robert 281 Sudermann, Hermann 20 Sçûmilch, Johann Peter 166 Tacitus 195 Tersteegen, Gerhard 37 Tertullian 124 Thaidigsmann, Edgar 528 Tholuck, Friedrich August Gottreu 81, 139, 143, 225, 272, 274, 285 f., 293, 374 Thomas von Aquin 29, 122, 182, 251 f., 258, 304, 363, 461 Thomasius, Gottfried 136 f., 188, 407, 531 Thurneysen, Eduard 493 Tillich, Paul 271, 493 Toland, John 42 Tolstoi, Leo 20 f., 231, 302, 344, 346, 360 f. Treitschke, Heinrich von 44, 50, 55 f., 458, 473 Troeltsch, Ernst Peter Wilhelm 21, 25, 29, 37, 63, 74 ff., 83, 99, 101, 129, 224 f., 259, 269, 299-324, 338, 343, 352, 407, 438, 457, 469 f., 473, 475, 482 f., 505, 513, 520-523, 529, 538, 540 ff. Venturini, Karl Heinrich Georg 380 Vilmar, August Friedrich Christian 29, 53 f., 99-104, 107, 109, 138, 173, 473, 497, 505, 538 Vischer, Wilhelm 89 Vogel, Heinrich 227, 420-426, 516, 529 ff. Voltaire, Franœois Marie (Arouet) 33, 42-45 Wagner, Adolf 169 f. Wagner, Richard 158 Watt, James 53 Weber, Hans Emil 272 Weber, Helene (Mutter) 339 Weber, Marianne 323, 326 f. Weber, Max (Vater) 328, 339 Weber, Max 25, 225, 266, 269, 301, 304, 323-350, 352, 361, 475, 520, 522-525, 541 f. Weiû, Johannes 381 Weiûe, Christian Hermann 381, 387 f. Wellhausen, Julius 246

Register Wesley, John 46, 138, 484 Wessenberg, Heinrich Ignaz von 56 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 28, 73, 104, 386 Whitefield, George 46 Wichern, Johann Hinrich 22, 478 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 339 Wilhelm II. 232 Wilke, Christian Gottlob 387 Willich, Henriette von 72 Wobberminn, Georg 407

557

Wolf, Ernst 142 Wolff, Christian 211 Wrede, William 38, 246, 295, 315, 376, 381 f., 389, 466 Wçnsch, Georg 338 Yorck von Wartenburg, Graf Paul 485 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 26, 46, 138 Zola, Emile 20 Zwingli, Huldreich 31

558

Register

2. Bibelstellen

Genesis 1,3 3,1 3,5 3,8 3,24 9 11,1-9 19,24 28,12 32,22-32 32,31 f.

450 161, 441 162, 422 228 432, 532 232 434 227 373 242 186

Exodus 3,5 3,14 33,19

412 174 174

Levitikus 19,18

21

Numeri 21,8 f.

284

Deuteronomium 6,4 432, 532 Richter 7 16,26 16,29 f.

440 264 158

Hiob 14,1

427

Psalm 5 14,1 19,2 19,13 25,2 37,11 51,19 53,2 68,36

529 367 214 133 432 368 434 367 253

Sprçche 1,7 20,27

313 146

Jesaja 6 9,1 9,16 21,11 f. 40,6 44,6 49,11 54,10 55,1

197 403 227 347 427 319 232 232, 271 240, 419

Jeremia 1,13

363

Amos 3,7 7,10-17

122 121

Maleachi 3,24

448, 487, 537

Matthåus 3,10 5,5 5,14 6,10 6,25 7,13 f. 10,22 11,27 12,33 12,45 16,13 16,16 16,17 22,14

34 368 449 173 209 451 21 200, 257 212 428 384, 424 380, 424 282 80

Markus 2,1-12 2,22 3,4

281 41 281

559

Register 9,2-13 9,5 9,24 10,45 11,25 12,27

423 375 245, 386 419 318 29

Lukas 13,23 f. 14,28 15,9 15,11-32 15,17 15,20 ff. 15,29 15,29-32 16,19-31 18,9-14 18,13 22,48 24,13-35 24,39

80 238 408 372 278 407 407 408 396 210, 263 434 314 356 356

Johannes 1,1-14 1,14 1,17 1,36 1,51 3,14 3,30 5,36 6,5 8,12 8,30-36 8,36 9,4 10,1-16 14,6 14,11 16,8 f. 19,5 20,1-18 20,15 20,17 20,19-29 20,20 21,4

421, 531 91, 318, 364, 390, 402, 526 175 431 273 284 101, 245, 281 337 391 312, 318 533 164 429, 449 267 318, 451 337 232 424 282 356 308 282 386 357

Apostelgeschichte 2,24 382 2,37 363 16,30 363 17,23 439 Ræmer 1 1,1 1,16 1,24 2 2,14 3 3,9-20 3,20 3,28 5 5,14 5,12-21 5,20 7 7,9 7,13 7,24 8,21 8,26 8,33 f. 10,17 12,2 12,15 14,23

366, 370 109 92 278 366, 370 276 227 264 200 62 115 f., 167 108 107, 113 174 f. 220, 439 129 f.,148 49 220 254 432 148 444 128 446 64

1. Korinther 1,18 1,18-25 1,25 2,9 2,11 3,23 8,1 9,16 10,17 13,12 15 15,3 15,8 15,17 15,28

200 373 232 440 200 435 200 254 444 200 87 87 377 126 123, 369

560

Register

2. Korinther 1,19 f. 1,20 1,24 5,14 5,16 5,17

89 245 216 79 379 25

Galater 2,20 4,4 5,19-24 6,14

364 39 119 285

Epheser 1,4-8 1,18 5,14 6,1 6,12

154 313 226 25 132

Philipper 2 3,8 3,14 3,20 4,7

425 408 432 22 430

Kolosser 3,3 3,20

108, 418 25

1. Thessalonicher 5,21 230 1. Timotheus 2,5 413 Hebråer 4,15 8,6 9,15 12,1 13,14

85, 418 413 413 435, 448 242

1. Petrus 1,3 3,15 4,17

220 435, 446 228

1. Johannes 3,20

148

Offenbarung 3,18 5 5,3 12,14 20,1-10 21,22

144 89 186 434 434 99